Rotwelsch: Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden [2 ed.] 9783205785484, 9783205783688, 9783205776109, 9783205777649, 3205785487

Von Aasgeier bis Zylindervergolder: die überarbeitete und erweiterte Neuauflage von Roland Girtlers Standardwerk zur Gau

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German Pages 278 [464] Year 2010

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Rotwelsch: Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden [2 ed.]
 9783205785484, 9783205783688, 9783205776109, 9783205777649, 3205785487

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Roland Girtler

Eigenwillige Leute Wer seinen eigenen Weg geht, kann nicht überholt werden

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Coverabbildung: Detail aus der Grottenbahn im Wiener Prater. Foto: Milan Brantusa Übrige Abbildungen: Archiv des Autors

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3­-205­-78644-3 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf f­ otomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, ­vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Druck: CPI Moravia

Wer seinen eigenen Weg geht, muss nicht befürchten, überholt zu werden.

Inhalt

Einleitende Worte . . . . . . . . . . . . .

9

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer – Vorträge und Buffets . . . . . . . . . . 11 2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter aus Spital am Pyhrn . . . . . 44 3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger . . . . . . . . . . . 73 4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter und Kolumnist Alfred Neuhser . . . . . 104 5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer . . . . . . . . . . . . . 149 6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident .

171

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg . . 208 8. Rotlichtkönig und Bauer – Ederl Höbaus . . . . . . . . . . . . . . 250 9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol . . . . . . . . . . 270 10. Musikant und Strassner Pascher – Franz Egger . . . . . . . . . . . . . . . 285 7

inhalt

11. Anneliese Pitter vom Warech – Landlerin und Kleinbäuerin in Siebenbürgen . . . . . . . . . . . .

313

12. Freund des Fahrrades und Höhlenforscher – Werner Hollender .

331

13. Die Lieblingsschwägerin des Wildschützen – Edith Walder . . . . 348 14. Harald Thallinger – der „Hochschul­ direktor“ von Mitterweng . . . . . . . 362 15. Der Mann, der die Grottenbahn rettete – Milan Brantusa . . . . . . . . 385 16. Schweizerhaus-Wirt Karl Jan Kolarik – Gastfreundschaft im Wiener Prater . . . 407 17. Der Herr, der tausend Leute unter sich hat – Totengräber Sepp Rappold . . . . . 434

8

Einleitende Worte Mit den 17 hier präsentierten Personen, ihren Lebensbildern und ihren vielfältigen Aktivitäten stelle ich ein buntes Völkchen vor: darunter einen Privatgelehrten, der zum Spezialisten für Buffets wurde, einen Bergrettungsmann, eine rebellische Wirtin, einen Lehrer an einer Bergschule, den Retter der Grottenbahn im Wiener Prater, eine Puppenspielerin, einen Urenkel von Kaiser Franz Joseph, einen König am Wiener Strich, der zum Bauern wurde, einen Universitätsprofessor und einen Totengräber. Jede dieser Personen hat mein Interesse als Kulturwissenschafter erweckt, denn sie alle verbindet eines: Sie sind eigenwillige Leute, die ihre eigenen Wege gegangen sind und auch noch gehen. Sie haben sich nicht beeinflussen lassen durch Vorstellungen oder Bedrängnisse anderer. Ich habe versucht, spannende Einblicke in das Leben von interessanten Leuten zu geben. Ich hoffe, mir ist dies gelungen.

Methodische Gedanken Die Darstellung „meiner“ eigenwilligen Leute beruht auf Gesprächen, die ich mit ihnen geführt habe. Ich ließ sie sprechen und habe mich selbst auch eingebracht. Ich sehe mich hier in der Tradition der Antike. Die Ausführungen des Philosophen und Schriftstellers Platon bauen grundsätzlich auf Gesprächen auf, die der Leser nachvollziehen kann. Sokrates entwickelt seine Gespräche, indem er einem seiner Freunde etwas erzählt, dieser antwortet und Sokrates daraufhin wieder etwas erzählt. So setzt sich das Gespräch fort. Schlussendlich entsteht ein philosophisches Gedankengebäude. Typisch für diese Art des Fragens ist übrigens Platons Symposion – das kommt von „gemeinsam trinken“. Es beginnt mit der Zubereitung des Weines, erst dann wird über ein tiefgreifendes Thema gesprochen. Ähnlich versuche ich, im Gespräch das Leben „meiner“ eigenwilligen Leute darzulegen und zu interpretieren. 9

Einleitende Worte

Dank Mein Dank gilt den „eigenwilligen Leuten“, die mir ihr Vertrauen schenkten, um über sie schreiben zu können. Ein besonderer Dank gebührt meiner lieben Frau Birgitt, die sich die Mühe machte, die Manuskripte durchzulesen, und mit mir über die Inhalte diskutierte.

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1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer – Vorträge und Buffets Vorgeschichte Am 11. Mai 2009 ist mein alter Freund und Gönner Ioannes Wohlmeyer im Alter von 78 Jahren in St. Pölten in selbst gewählter Einsamkeit gestorben. Am gleichen Maientag, dem 11., wurde Ioannes 1931 in St. Pölten geboren. Er bezeichnete sich als Kind in stolzem Selbstbewusstsein selbst als „Maienwunder“. Es war auch ein Maientag, an dem wir Ioannes auf dem Stadtfriedhof von St. Pölten zu Grabe trugen. Nach der Beerdigung saß ich mit seinem Bruder, Universitätsprofessor Heinrich Wohlmeyer, und dessen Familie sowie alten Freunden von Ioannes, zu denen auch Frau Christine Marschall und Herr Ingenieur Klaus Astl gehörten, in einem Gasthaus bei guter Speise und gutem Trank beisammen. Wir gedachten dabei traurig und heiter, wie es bei solchen Gelegenheiten üblich ist, des Ioannes, der auf diese Schreibweise seines Namens sehr bedacht war, vor allem gegenüber Amtspersonen. Leute, die ihn mit Johannes ansprachen oder anschrieben, machte er höflich darauf aufmerksam, dass er Ioannes – ausgesprochen I-o-annes – heiße und nicht Johannes. Ihm, der für Latein und Altgriechisch schwärmte, ging es also um die alte lateinische Form seines Vornamens. Ioannes war für mich der klassische Privatgelehrte, der sich für vieles interessierte und historischen Zusammenhängen auf den Grund ging, ohne damit ein Geschäft zu machen oder davon zu leben. Dies erwähnte ich auch, als wir Ioannes in der gastlichen Stätte gedachten. Gemeinsam waren wir sicher, dass er nun beim ewigen Gastmahl, zu dem Christus uns alle einmal einladen werde, wie er versprochen hat (siehe Matthäusevangelium Mt 22,1-14), sich bei göttlichen Speisen und göttlichem Wein guttue und lächelnd auf uns herunterschaue. Im Gespräch über Ioannes fasste 11

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

ich den Entschluss, einen kulturwissenschaftlichen Essay über ihn zu schreiben, schließlich passe er bestens zum Plan des vorliegenden Buches. Alle drei – der Bruder, Frau Marschall und Herr Astl – erklärten sich bereit, mir entweder etwas aus den Erinnerungen zu erzählen oder zu schreiben, wie es der Bruder in Briefen an mich tat. Vorab sei festgehalten, dass das Leben von Ioannes sehr bunt war, in seiner Eigenwilligkeit faszinierend und vom Typus her das eines ständig Reisenden. Ioannes fuhr fast jeden Tag von St. Pölten nach Wien und zurück. Und im Gespräch mit Menschen reiste er ebenso durch die halbe Welt. In diesem Sinn ähnelte er den fahrenden Scholaren des Mittelalters. Verbunden mit diesem ständigen Überschreiten von Grenzen ist auch eine gewisse Großzügigkeit. Ioannes war ein Mann mit weitem Geist und einem großen Herzen. Er war ungemein gebildet und in jeder Hinsicht ein Menschenfreund. Ob er jemals gearbeitet hat, weiß ich nicht. Gelebt hat er von der Verpachtung geerbter Grundstücke. Er hat nicht schlecht gelebt, er war jedoch sparsam.

Zugang Mit Frau Christine Marschall und auch mit Herrn Ingenieur Klaus Astl traf ich mich einige Monate nach dem Begräbnis von Ioannes im Café Landtmann in Wien, nicht weit von der Wiener Universität. Dort erzählten sie mir Spannendes über ihre Erlebnisse mit Ioannes. Diese Tonbandaufzeichnungen, die Briefe von Professor Heinrich Wohlmeyer und meine eigenen Erinnerungen liegen den folgenden Betrachtungen zugrunde.

Der erste Kontakt Kennengelernt habe ich Ioannes als Student – es muss im Jahr 1967 gewesen sein – bei einer Tagung der Urgeschichte in Graz. Neben

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

ausgebildeten Urgeschichtlern und Studenten – ich studierte damals neben Kulturanthropologie auch dieses Fach – nahmen interessierte Laien daran teil. Zu diesen zählte ein Brüderpaar, das auffiel, es waren dies Ioannes und Ferdinand Wohlmeyer. Der eine war damals ein Herr im besten Alter und von kräftiger Statur. Er zeigte im Anschluss an die Vorträge durch allerhand Fragen sein Interesse an dem Gegenstand und war ungemein kontaktfreudig. Sein Bruder, der ihm nicht von der Seite zu weichen schien, war eher scheu und schweigsam. Er machte den Eindruck, dass er den Älteren bewunderte. Untergebracht waren die beiden im selben Nebengebäude der Universität wie wir Studenten. Darunter waren zwei oder drei, die Freude daran hatten, die Brüder zu necken. So versteckten sie ihre Pyjamas, was die beiden sehr ärgerte. Da ich sofort Sympathie für die Brüder empfunden hatte, sagte ich den Scherzbolden meine Meinung und wies sie mit Erfolg zurecht. Jedenfalls war dies der Beginn einer jahrzehntelangen, spannenden Freundschaft, für die ich sehr dankbar bin. Der Kontakt zu den Brüdern und vor allem zu Ioannes riss nicht mehr ab. Ich konnte mit seiner Gunst rechnen, regelmäßig von ihm mit Telefonanrufen bedacht zu werden.

Freundschaft Wenn Ioannes einen Freund hatte, setzte er sich für diesen ein. Eine kleine Geschichte möchte ich dazu aus meinem Leben erzählen, die wesentlich mit Ioannes zusammenhängt. Ich war gerade aus Indien nach Wien zurückgekehrt und suchte eine Anstellung als Kulturanthropologe oder Kultursoziologe, am besten an der Universität, in die zu gelangen nicht unbedingt einfach war. Mein Aufenthalt in Indien hatte vom Herbst 1971 bis Frühjahr 1972 gedauert. Ich war zunächst in Bombay, heute Mumbai, bei Pater Stephen Fuchs von den Steyler Missionaren. Dieser wohnte idyllisch in Mount Mary direkt am Meer im Stadtteil Bandra. Pater Fuchs, der aus Mürzzuschlag in der Steiermark stammte, war ein gelehrter 13

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Herr, der Feldforschungen in Indien durchgeführt hatte. Von ihm habe ich einige Weisheiten, die für meine Feldforschung wichtig sind. Er meinte, ich solle lieber eine kleine Studie machen, aber die genau, als eine große und die oberflächlich. Auf diesen Rat hin konzentrierte ich mich auf eine alte Dorfinstitution in Indien, auf den „Panchayat“, was so viel heißt wie „Rat der der fünf Männer“. Ich fuhr nach Gujarat und hielt mich dort bei Missionaren auf, die mir rührend halfen, diesen Dorfrat zu ergründen. Mit ihnen nahm ich auch an dessen Sitzungen teil. Auch beobachtete ich in den Dörfern, dass die Bauern von Großgrundbesitzern und Steuereinnehmern, die von den Engländern eingesetzt worden waren, gewaltig ausgebeutet wurden. Die verarmten Bauern verließen ihre Dörfer und zogen in die Städte. Übrigens erhielt vor nicht allzu langer Zeit ein gescheiter Mann den Nobelpreis, weil er Banken für Bauern einrichtete, in denen sie Kleinkredite erhalten. So haben die Bauern die Chance, auf ihren Gütern zu bleiben. Dieses Problem der Bauern wurde mir bereits 1971 bewusst. Über die Probleme der Bauern und den alten Dorfrat, den Panchayat, schrieb ich nach meiner Rückkunft in Wien ein Buch. Mit Pater Fuchs blieb ich in Kontakt. In einem Brief schrieb er mir über meine Art der Feldforschung (siehe dazu mein Buch: Methoden der Feldforschung, Böhlau Verlag) Folgendes: „Der Völkerkundler (und auch der Soziologe) soll mehr ein Dichter sein als ein Statistiker. Er müsse mehr mit Intuition arbeiten als mit Zahlen. Ich habe daher Sympathien für Ihre unorthodoxen Methoden.“ Damit wollte der geistliche Feldforscher wohl ausdrücken, dass erst, wenn die Seele des Forschers, also seine ganze Person, sich in die Forschung einlässt, die Chance besteht, darüber spannend berichten zu können. Diese Weisheit nahm ich aus Indien mit nach Wien, sie nützt mir heute noch. Mein Buch über den Panchayat wurde übrigens von meinem Freund und großartigen Ethnologen Engelbert Stiglmayr, der auch ein Freund von Pater Stephen Fuchs war, in einer von ihm betreuten wissenschaftlichen Buchreihe herausgebracht. Dafür sei ihm, der bereits in der Ewigkeit angelangt ist, gedankt. 14

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Ioannes Wohlmeyer, der zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre mein Freund war, erzählte ich von meinen Forschungen bei den indischen Bauern. Ich schenkte ihm auch mein Buch. Ihm gefiel offensichtlich, was ich mir in Gujarat erarbeitet hatte. Als er hörte, dass ich eine Anstellung als Wissenschafter anstrebte, idealerweise an der Universität, machte er sich große Gedanken. Er dachte gleich an das Institut für Soziologie. Neue Professoren wurden eingestellt und man benötigte auch gute Assistenten. Das war mein Glück. Ioannes schickte mich zu einem hohen Herrn, der mit der UNO zu tun hatte, den er von früher kannte. Ich richtete Grüße von Ioannes aus, der bereits angerufen hatte. Der Herr dachte nicht lange nach und verwies mich an Professor Robert Reichardt. Außerdem wendete ich mich auf den Vorschlag von Ioannes an seinen Freund Professor Erich Bodzenta. Damals gab es zwei Institute für Soziologie, eines an der Fakultät der Juristen und eines an der damaligen Fakultät der Philosophen. Bodzenta gehörte zu den Philosophen und Reichardt zu den Juristen. 1972 war die Soziologie als eigenes Fach erst im Aufbau, bis dahin nebenbei den Staatswissenschaften zugeordnet. Bei den Juristen hatte ich eine Prüfung in Soziologie und Sozialphilosophie bei Professor August Maria Knoll abgelegt, wofür ich sogar ein Zeugnis erhielt. Doch die für mich wichtigen Bereiche der Soziologie lernte ich mehr bei den Ethnologen, wo es das Fach Ethnosoziologie gab. Meine Arbeit über Indien gefiel auch dem damaligen Assistenten von Professor Bodzenta, Herrn Klaus Zapotocky, der für mich ein gutes Wort einlegte. Mir kam zugute, dass ein neuer Professor eingestellt wurde, Horst Jürgen Helle hieß er, der offensichtlich Interesse an meinem kulturanthropologischen bzw. ethnologischen Zugang zur Soziologie hatte. Bei ihm wurde ich Assistent, was ich – mit einer zweijährigen Unterbrechung als Assistent an der Universität München – am Institut für Soziologie an der Universität Wien bisher bin. Einmal jedoch bestand die Gefahr, dass mein Vertrag nicht mehr weiter verlängert würde, da ein neuer Professor, den meine Forschungen nicht interessierten, mein Chef wurde. Deswegen rief ich Ioannes an und teilte ihm mein Problem 15

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

mit. Dieser wendete sich an den berühmten Professor Günther Winkler, Verfassungsrechtler an der juristischen Fakultät, und bat ihn inständig, mir zu helfen, da ich gute Forschungsarbeit leiste. Der Professor legte ein gutes Wort für mich ein. Schließlich hatte ich keine Probleme mehr an der Universität. Bis heute bin ich Herrn Professor Winkler, der mir später das Du-Wort angeboten hat, freundschaftlich verbunden. Ich verdanke Ioannes also einiges, sicherlich meine Existenz an der Universität. Ioannes setzte sich auch für eine geschiedene St. Pöltnerin ein, die ihn schließlich bei seinen kulturellen Aktivitäten unterstützte. Darüber erzählte mir Frau Christine Marschall: „Sein Onkel war der frühere Bundeskanzler Julius Raab, von dem er liebevoll als Onkel Julius sprach. Ioannes hat mir immer geholfen, vielleicht weil ich ihn geachtet habe und nicht runtergemacht wie andere, die sich über ihn belustigt haben. Er war ein guter Bekannter meiner Mutter, sie haben sich in St. Pölten bei Vernissagen kennengelernt. Sie waren eine gute Symbiose, sie hatten gleiche Interessen, immer haben sie ihre Gemeinsamkeiten betont. Meine Eltern waren geschieden, meine Mutter war eine Vorkämpferin für das Eherechtsänderungsgesetz. Sie hat keine Krankenversicherung gehabt, die Nachzahlung für die Pension habe ich in der Verlassenschaft gehabt. In dieser Situation hat der Ioannes ihr viel geholfen. Leopoldtschina oder Bea hat er sie genannt. Er hat zu ihr gesagt: ‚Ich habe eine leere Wohnung in St. Pölten, du kannst dort einziehen, sie liegt neben meiner.‘ Sie hat gesagt: ‚Nein, unmöglich.‘ Telefoniert haben sie aber stundenlang miteinander. Sie haben sich auch in Wien getroffen, ich kann mich genau daran erinnern. Meine Mutter wollte mir den Ioannes lange nicht vorstellen. Sie hat gesagt, sie hätte ihn sehr gern in seiner Art, sie ergänzten sich. Sie waren nicht intim und sie haben auch nie zusammengewohnt. Heiraten wollte meine Mutter ihn nicht, aber circa zehn Jahre waren sie in engem Kontakt, das war das Schöne. Er war ein Kavalier ihr gegenüber, das war moralisch einwandfrei. Nie etwas fordernd, immer demütig war er. Der Ioannes hat auf sie geschaut, er war da sehr wertschätzend. Er war eine eigene Per16

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

sönlichkeit, er hatte ein geniales Wissen. Er hat auch immer gut formulieren können. Fünf Jahre vor ihrem Tod, das war um 1995, hat die Mutter mir Ioannes vorgestellt. Wie ich ihn kennengelernt habe, war ich 30 Jahre alt, ich bin ein 1965er-Jahrgang. Am Anfang habe ich ihn nicht so oft gesehen, immer nur so nebenbei. Die Mutter hat sich mir gegenüber bedeckt gehalten. Sie wollte wahrscheinlich wegen ihres geschiedenen Mannes nicht, dass man von ihrem Kontakt zu Ioannes weiß. Meine Mutter war unversorgt nach der Scheidung, mit drei Kindern ist es ihr nicht gut gegangen. Sie hat eine Kaffeehäferlscheidung gehabt: Um jedes Kaffeehäferl ist gestritten worden. Mein Vater, er war Elektroingenieur, hat sie delogieren lassen. Sie hat gesagt, sie geht nur tot aus dem Haus. So war es auch, den Stress mit der Scheidung hat sie nicht überwunden. Sie hatte einen Herzinfarkt, als sie gestorben ist, war sie 60 Jahre alt.“ Zu ihrer Mutter und ihrem Kontakt zu Ioannes führt Christine noch weiter aus: „Es war ein gutes freundschaftliches Interesse von ihr an ihm. Meine Mutter war sehr an Kultur interessiert. Sie war geprüfte Reiseleiterin und ist mit ihm viel fortgefahren. Wenn es geheißen hat, es geht auf die Schallaburg, ist sie schon mit dem Auto dagestanden. Das Benzingeld hat er immer gezahlt. Er hat sich nicht lumpen lassen. Wegen der Zeit haben sie sich zusammengeredet, es ist immer gegangen. Sie hat ja auch wollen. Wenn sie etwas gewusst hat über Vernissagen oder Buchpräsentationen, so hat sie ihn angerufen. Wenn er etwas gewusst hat über solche Veranstaltungen, hat er sie angerufen. Die Mutter war ihm wichtig, weil sie ihn mit dem Auto überall hingeführt hat, wohin er wollte. Durch ihren Tod hat es ihm die Füße weggerissen, weil er von heute auf morgen sein Taxi verloren hatte. Wie sich meine Mutter nicht mehr gemeldet hat, ist er draufgekommen, dass sie gestorben ist. Der Tod meiner Mutter hat ihn sehr mitgenommen.“ In der Folge kümmerte sich Ioannes vermehrt um die Tochter, der er zu helfen versucht hat, wo immer es ging. Die liebenswürdige Frau Christine Marschall, die im Gespräch mit mir ihre große Sympathie gegenüber Ioannes bekundete, 17

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

meinte, es war nicht immer leicht mit ihm, denn er konnte einen Schützling vollkommen vereinnahmen: „Wie die Mutter gestorben ist, habe ich ihre Position bei Ioannes übernommen. Am Anfang war ich sehr reserviert ihm gegenüber. Ich war überfordert. Ioannes hat einem alles wie einen großen Rucksack draufgehängt. Man ist gar nicht zum Luftholen gekommen. Das soll ich machen und das soll ich holen usw. Er hat keinen Widerspruch geduldet. Er wollte mir helfen und hat mir auch geholfen. Der Ioannes war ein Kavalier der alten Schule. Er hat geschaut, dass ich ordentlich heimkomme. Richtig mit Handkuss, er war sehr höflich: erst die Dame, dann der Herr. Er hat die Tür aufgehalten. Er war nicht aufdringlich, sondern wertschätzend. Ich habe einmal zu ihm gesagt: ‚Du brauchst ja selbst einen Sitzplatz.‘ Sagt er: ‚Nein, ich bin immer ein Herr.‘ Ioannes hat immer auf die anderen geschaut. Und nicht auf sich. Hart konnte er auch sein, er war ein richtiger Stier vom Sternbild. Durch und durch! Und ich bin ein Widder. Da sind manchmal die Fetzen geflogen. Ein paar Mal ist er aufgestanden und hat gesagt: ‚Jetzt rede ich.‘ So war es auch am Telefon. Er war ein charismatischer, sehr religiöser, herzensguter, offener Mensch, der keine Vorurteile hatte. Hauptsache, der Mensch ist in Ordnung.“ Interessant ist die Reaktion von Ioannes, als er mit einem Räuber in Kontakt kam, wie Frau Christine schildert, sie geht aber auch auf seine Beziehung zu Bettlern ein: „Einmal habe ich ihn zum Zug begleitet, nach einer Vernissage. Wir waren in der Stadt drinnen. Ich bin in Wien geblieben. Wir haben uns also verabschiedet. Ich drehe mich um und will die Rolltreppe hinunterfahren. In diesem Moment werde ich überfallen. Ich schrei: ‚Ioannes!‘ Der Mann war mit Hund unterwegs und wollte mir die Handtasche wegnehmen. Der Ioannes ist uns nach und hat zu dem Räuber gesagt: ‚Lassen Sie die Dame in Ruh.‘ Er hat gesagt, er gibt ihm sogar einen Obolus. Der Räuber war immer freundlich zu Ioannes, wenn er ihn gesehen hat. Er war ungefähr 40 Jahre alt, ein armer Typ vom Westbahnhof. Ioannes hat ihm immer etwas gegeben. Er konnte an keinem Bettler vorbeigehen. Er hat immer gespendet. 18

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Er hat über die Bettler gesagt, sie sind so arm, dass sie sich so erniedrigen müssen. Einmal habe ich gesagt, wie er bei einem Bettler stehen geblieben ist, er soll weitergehen, wir haben keine Zeit. Er hat sich aber Zeit gelassen.“ Man konnte sich auf Ioannes verlassen, wenn man ihn zum Freund hatte und in Not war. Dies weiß ich nicht nur aus meinen Erfahrungen, sondern auch von Frau Christine Marschall, mit der ich über Ioannes sehr intensiv gesprochen habe: „Er war immer solidarisch, er hat die Menschen nicht verurteilt, sondern sie immer gestützt. Das hat er mich gelehrt. Ich habe durch ihn einen Wertewandel mitgemacht. Ich selbst bin wegen der Wirbelsäule behindert. Mein Dienstgeber hat gegen mich Unterschriften sammeln lassen, weil ich mich für Benachteiligte eingesetzt habe. Dem Ioannes hat gefallen, dass ich den Mut dazu aufgebracht habe. Die Betriebsratswahl ist durch mich vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben worden. Ich bin mit diesem Urteil vorangegangen. Ioannes hat den Grundstein für dieses Urteil gelegt. Er hat mir die Klage diktiert. Eine solche Hilfe geht mir heute ab. Alleine die Rücksprache mit Ioannes war für mich wichtig. Ich wusste, dass er es gut meinte. Er musste immer darüber schlafen. Ihm ist immer noch etwas zu der Sache eingefallen.“ Gekränkt hat Ioannes, dass sich manche ihm gegenüber eher unschön verhalten haben, als er schon alt und etwas behindert war. „Zum Schluss hat er es schwer gehabt. Manche haben kein Verständnis für ihn gehabt. Er war stark sehbehindert. Für alle hat er Ratschläge gehabt, auf sich selber hat er nicht geschaut. Er hatte nur mehr das Radio, er war nur mehr zu Hause. Einige haben ihn deswegen fallen gelassen.“ Ioannes suchte gegen Ende seines Lebens keinen Kontakt zu seinen alten Freunden. Ich machte mir Sorgen um ihn. Ich rief ihn oft an, er hob aber nicht ab. Ich schickte schließlich jemanden von der St. Pöltner Fürsorge zu ihm. Er wollte sich aber nicht helfen lassen. Großartig geholfen haben ihm bis zum Schluss sein Bruder Heinrich und dessen Frau, die sich um seine Wäsche in bewundernswerter Weise gekümmert hat. 19

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Lebenslauf des Ioannes Über Ioannes sprach ich auch mit seinem Bruder Heinrich Wohlmeyer, er ist der Jüngste der Geschwister. Auf meine Bitte hin schickte er mir den Lebenslauf von Ioannes, geschrieben aus seinen Erinnerungen. Ich habe diesen im Sinne dieses Kapitels etwas verändert: „Ioannes, unser Erstgeborener, war ein besonderes Kind. Er war überdurchschnittlich intelligent und wissbegierig. Er hatte ein phänomenales Auffassungsvermögen und Gedächtnis. Deshalb wurde er vor allem nach dem Tod unseres Vaters, Dr. Johann Wohlmeyer, Rat des Bundesgerichtshofes, geradezu vergöttert. Unser Vater kam aus einer alten katholischen St. Pöltner Bürgerfamilie, die den Nationalsozialismus ablehnte. Er wurde daher von den Nazis sofort entlassen und starb am 17. März 1939. Ein paar Tage später hätte man ihn in ein KZ gebracht. Der Vater hat, bevor die Nazis die Macht übernommen haben, noch den Mittelluster für die Kirche gekauft. Er tat dies, um kein konfiszierbares Bargeld mehr zu haben. Auch versteckte er die wertvolle Dornbusch-Mostranz der Franziskaner, damit sie nicht als ‚Kulturgut‘ von den Nazis in ‚Sicherheit‘ gebracht werden konnte. Auch Ioannes war der Franziskanerkirche immer verbunden, er war als Bub sogar Ministrant bei den Franziskanern. Im Umgang mit den Nazis war er äußerst schlau. Er führte sie durch Scheinkooperation an der Nase herum, in der Schule glänzte er mit Geschichtskenntnissen, die allerdings nicht der Parteilinie entsprachen. 1945 hatte er ‚im Endkampf‘ schon mit 14 Jahren den Einberufungsbefehl erhalten. Diesem entzog er sich, indem er von einem Luftschutzkeller oder Splittergraben zum anderen wanderte. Alle glaubten, er sei im Bombenhagel umgekommen, denn unser Elternhaus lag in der Nähe des schwerstens bombardierten Bahnhofs. Am Ostermontag 1945 wurde die Familie vollständig ausgebombt. Ioannes half, die Phosphorbrandsätze abzukratzen und in Blechkübeln ausbrennen zu lassen. So konnte die sogenannte ‚Waffengarderobe‘, in der die gesamte Ausrüstung der Sappeur20

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

oder Pioniertruppe von Onkel Julius Raab, dem späteren Bundeskanzler, lagerte, und ein Zimmer, in dem wir übernachteten, gerettet werden. (R. G.: Über Onkel Julius Raab ist im Anschluss an den Lebenslauf noch etwas anzufügen.) Wir machten jedoch eine für die Franziskaner traurige Entdeckung: Die vom Vater versteckte Dornbusch-Monstranz war zerdrückt und angeschmolzen. Ein Betonboden war durch einen unglaublich Hitze entwickelnden Phosphorbrand durchschlagen worden, sodass die Monstranz in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ioannes brachte diese Klumpen in einem Jutesack ins Franziskanerkloster. Ioannes kümmerte sich als Bub um alles, so auch um seine beiden kleinen Schwestern, die er nach Türnitz in die Weide- und Forstgenossenschaft Weidenau brachte, wo sie bei Margarete und Karl Ebner in Sicherheit und auch sonst gut aufgehoben waren. Als die Front schon vor St. Pölten stand, fuhren wir mit dem letzten Molkerei-Auto, einem Holzvergaser, und nur mit dem, was wir auf dem Leibe hatten, nach Flinsbach, Gemeinde Neidling, wo wir von Anna und Franz Steindl aufgenommen wurden. Dort lebten wir im Gelände geduckt unmittelbar hinter der letzten Front des Zweiten Weltkrieges. In dem Wirbel konnte Ioannes weiter untertauchen, man wollte ihn ja noch zum Militär einziehen. Doch er wollte dies nicht. Nach Kriegsende wurden wir von den Geschwistern Barbara und Josef Baier in der Wiener Straße kurzfristig aufgenommen. Schließlich wurden wir vom Bürgermeister Franz Käfer, er war Kommunist, in die Wohnung einer geflüchteten Nazifamilie am Rathausplatz eingewiesen. Als diese Familie zurückkehrte und mit uns die Wohnung teilen musste, übte die Frau Psychoterror an meiner Mutter. Diese war darob derart verzweifelt, dass Ioannes befürchtete, sie würde Selbstmord begehen. Er bewahrte sie davor. Dieser Einsatz bewirkte bei ihm, dass die Mutter für ihn keine Autorität mehr war. Er war daher mit 14 Jahren bereits selbstständig und ‚großjährig‘, er brauchte keine Mutter, die sich um ihn kümmerte. Das Kloster der Franziskaner wurde für meine Mutter wichtig und zu einer Art zweiter Heimat, denn dort konnte sie über ihre 21

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Sorgen reden. Die Kleidung bastelte meine Mutter für uns aus Armeebeständen und aus Caritas-Spenden, vor allem von Prälat Hoffmann aus den USA. Ioannes trug einen ‚umgebauten‘ englischen Offiziersrock, eine US-Hose und deutsche Schuhe. Von der Wohnung der Nazifamilie zogen wir in einen ehemaligen Pferdestall um, er wurde unser Notquartier, das wir bis zum Wiederaufbau des Hauses in der Kremser Landstraße 15–17, den Ioannes organisierte, bewohnten. Unsere Mutter hatte eine Mindestpension, aber wir hatten für das tägliche Überleben einen Garten und Kleintiere, wie Hühner und Kaninchen. Ioannes war ärmlich gekleidet und Geld hatte er auch keines. Äußerlich wirkte er also eher unscheinbar, aber um die Mitschüler doch von seiner Qualität zu überzeugen, glänzte er mit seinem Wissen im Gymnasium. Er schrieb wunderbare Aufsätze und versuchte, durch komplizierte Fragen seine Professoren bloßzustellen. Ioannes war ein guter Kerl mit einem weiten Herzen, so versorgte er hungernde Verwandte in Wien mit Lebensmitteln. Zu diesem Zweck sprang er stets mit seinem Rucksack vor Hütteldorf vom Zug ab, weil dort die Lebensmittel konfisziert wurden. Um sein Fernweh zu befriedigen, aber auch um kostengünstig zu überleben, schloss er sich dem Alpenverein an, denn bei diesem gab es gratis zur Verpflegung amerikanische Armeekonserven. Ansehen verschaffte ihm die Teilnahme an Extremtouren in den Alpen. Er war ein toller Bergsteiger, der mit einfachster Ausrüstung schwierige Hochgebirgstouren machte. Zu dieser Zeit kaufte er mir die ersten modernen Skistöcke von seinem Geld, weil er wusste, dass ich so gerne Ski fahren würde – mein ‚Startkapital‘ als UTA-Skilehrer. Ioannes begann 1949 Jus zu studieren und arbeitete in der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft. Obwohl er nebenberuflich studierte, legte er die erste Staatsprüfung mit Auszeichnung in allen Fächern ab. Bei der zweiten Staatsprüfung gab er – wie gewohnt – fast herablassend seine Antworten. Damit kam er aber bei einem Rat des Obersten Gerichtshofes, einem Spezialisten im Exekutionsrecht, falsch an. Dieser prüfte ihn entgegen den vor22

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Abb. 1: Ioannes Wohlmeyer als Bergrettungshelfer.

gegebenen Regeln ausschließlich über die Konkurseröffnung und Liquidation einer Aktiengesellschaft. Dazu fehlten Ioannes nicht nur die Detailkenntnisse, sondern auch das entsprechende Wissen in der Buchhaltung. Zynisch sagte der Prüfer: ‚Sehen Sie, junger Mann, Sie wissen doch nicht alles! Aber ich gebe Ihnen ein Genügend, oder Sie kommen wieder.‘ Verbissen sagte Ioannes ‚Ich akzeptiere!‘ und ging, er zeigte sich also mit dem Genügend zufrieden. Er glänzte weiterhin in Seminaren und Diskussionen an der juristischen Fakultät, aber zutiefst verletzt durch die schlechte Benotung trat er nie wieder zu einer Prüfung an. Als ich als Dritter an die juristische Fakultät kam, rief der Staats- und Verwaltungsrechtler Adolf Julius Merkl fast verzweifelt aus: ‚Tertius ante portas!‘ Um zu Geld zu kommen, verpachtete Ioannes später Grundstücke der Familie an eine Tankstelle und einen Supermarkt. Dies 23

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

machte ihn frei von Sorgen um den täglichen Unterhalt. Er wurde allmählich Privatgelehrter mit Schwerpunkt Geschichte, Landeskunde und Kultur. Aufgrund seines weiten Wissens und Auftretens wurde er überall mit Doktor und Professor angesprochen. Man wollte nicht verstehen, dass ein solch gebildeter Herr kein Studium beendet hat. Ioannes hatte ein großartiges, geradezu fotografisches Gedächtnis. Er sah einen Plan an und konnte einige Wochen später durch eine Stadt führen, wie wenn er schon dort gewesen wäre. Er war ein hervorragender, doch ausufernder Reiseführer. Er speicherte und sammelte alles, konnte aber nicht immer das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Er konnte sich nicht von Prospekten, Büchern und diversen Schriften trennen und stapelte sie. Seine Wohnstätten wurden regelmäßig zugemüllt. Ioannes machte mit Ferdinand alle Prüfungen, von den juristischen bis hin zur Fahrschule. Beide erhielten die Ehrenbezeichnung ‚Kultur-Dioskuren‘. (R. G.: Als Dioskuren verstand man in der Antike das unzertrennliche Brüderpaar Castor und Pollux, die beide als Söhne des Zeus galten.) Von Vorarlberg bis Wien kannte man im Kulturbetrieb die Brüder Wohlmeyer. Ioannes fuhr regelmäßig nach Wien, und wo immer er auftauchte, ging ein Raunen durch die Reihen und die Vortragenden hatten Angst vor seinen Fragen, Kommentaren und Vernetzungen. Das war auch auf der Uni so. Aber er versuchte auch, vielen Menschen zu helfen, und es machte ihm Freude, sie zu beraten. Dies tat er wohl auch, um sich und andere von seiner Nützlichkeit zu überzeugen. Beide Brüder vernachlässigten zunehmend die wirtschaftlichen Dinge und hinterließen schließlich einen Schuldenberg und etliche Prozesse. Nach dem Tod von Ferdinand, der einige Jahre vor Ioannes starb, konnte ich mit Hilfe von Notar Dr. Englisch, zu dem Ioannes Vertrauen hatte, ein Umschuldungs- und Rückzahlungsprogramm starten. Ebenso wurden fast alle Prozesse beendet. In den letzten Jahren wurde Ioannes ruhiger und akzeptierte auch alle zwei Monate ein Reinigen und Entmüllen der Wohnung sowie das Waschen seiner Wäsche. Er lehnte aber jede, ihm quasi an den Leib rückende Hilfe ab. Vielmehr pflegte er viele Telefonfreund24

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

schaften, die wegen seines Wissens geschätzt wurden. Wir bekamen nach seinem Tod laufend Anrufe (‚Er war mir wie ein Vater‘, ‚Er geht mir mit seinem Wissen ab‘, ‚Er war einer, der immer für mich Zeit hatte‘ etc.). Mich achtete er. Aber zur Selbstbestätigung musste er mir immer beweisen, was ich nicht wusste, und er machte mir klar, dass ich zu viel arbeite und mich sinnlos ausbeute. Er meinte daher, man müsse nicht reich sein, um Kultur zu genießen. Sein Spruch war: ‚Man kann mit einem Schmalzbrot vor einer ­gotischen Madonna sitzen und glücklich sein.‘ In meinem letzten Telefonat vor seinem überraschenden Tod (er klang schwer verkühlt) meinte er: ‚Ich brauche keine Hilfe. Ich komme selbst durch. Schau lieber auf dich! Ich möchte nicht mein letztes Geschwister, meinen Bruder, verlieren.‘ In einem Gedicht zeige ich, was ich zu seinem Tod empfinde und denke. Ioannes war immer ein gläubiger und familiengebundener Mensch. Die katholische Kirche und ihre Entwicklung waren regelmäßiger Gesprächstoff bei ihm. Er analysierte gut und scharf, aber war nicht in der Lage, sich selbst gestaltend in die Diskussion einzubringen. Die Geburts- und Sterbetage seiner Verwandten hatte er im Kopf und erinnerte mich stets an diese. Er vergaß nie, Seelenmessen an diesen Gedenktagen bei den Franziskanern lesen zu lassen. Die Franziskanerkirche war seine geistige Heimatkirche und er achtete die Bescheidenheit der ‚kleinen Brüder‘. Mit den kroatischen und polnischen Patres konnte er stundenlang über die Geschichte ihrer Heimat und die aktuelle Entwicklung plaudern. Ich werde in meinem Nachlass anordnen, dass man auch auf ihn nicht vergisst, den unruhigen, unbequemen, fast gescheiterten Sucher und Polyhistor. Er träumte immer von einer ‚stamm­ erhaltenden Verwertung‘ des von meiner Mutter mit vielen Opfern geretteten Grundvermögens, das nun in Bahnhofnähe an Wert gewinnt, konnte sich aber zu keinem Projekt mehr durchringen. Meine Frau und ich haben diesen Grundbesitz wenigstens zum Teil vor dem Notverkauf bzw. der Versteigerung gerettet. Meine Kinder sollten versuchen, mittels Baurecht oder langfristiger Miete oder Teilhabe diesem Wunsche nachzukommen.“ 25

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Soweit die Erinnerung von Heinrich Wohlmeyer an seinen Bruder Ioannes. Ich lasse hier noch einige Zeilen aus den Gedichten von Heinrich zum Tode seines Bruders folgen: Neue, schöne, dunkle Krawatten und ein neuer dunkler Mantel – Rechnung ebenfalls vom März 2009 – lagen auf deinem Tisch. Ich werde sie tragen. Deine letzten Worte waren: Schau auf dich! Ich möchte mein letztes Geschwister nicht verlieren. Du wirst mich nicht verlieren. Ich werde dich nicht aus dem Blickfeld lassen. Du stehst ja nur auf der anderen Seite des Weges, den wir alle gehen. Du starbst auf deine Weise – und dein Radio spielte leise, als ich dich fand am Bettesrand. Die Tür war versperrt und du starbst allein ... Hast Hilfe verwehrt. Gott nehme dich auf – hast vollendet den Lauf ... Einsam, obwohl vernetzt, vom Wissensdurst gehetzt. Anerkennung fehlt, daher allein in der Welt ... 26

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Finde nun Hafen und Licht, Wissen ohne Verzicht. Sei geborgen in Gott! Er endet deine Not.

Der Onkel Julius Raab – ein ehrbarer Soldat im Ersten Weltkrieg Hier seien ein paar Gedanken zu Julius Raab eingefügt, dem Onkel von Ioannes und späteren Bundeskanzler. Julius Raab war für Ioannes ein großes Vorbild und er verwies auf ihn als integren Mann, auf dessen Verwandtschaft man stolz sein könne. Tatsächlich war Julius Raab während des Ersten Weltkrieges ein ehrenhafter Offizier in der kaiserlichen Armee. Ihm gelang es, bei Ende des Krieges seine Truppe unversehrt von der italienischen Front nach Hause zu führen. Er rüstete am Bauplatz seines Onkels Johann Wohlmeyer, des Großvaters von Ioannes, ab. Deshalb lagerte Dynamit und scharfe Munition in einem Depot auf dem Grundstück der Wohlmeyers. Folgenden interessanten Hinweis auf Julius Raab verdanke ich Herrn Franz Schubert, einem Literaten aus Wien: „Oberleutnant Julius Raab hatte 1918 als Kompanieführer der k.u.k. Pioniere beim Rückzug von der Piavefront in der letzten Phase des Ersten Weltkrieges den Befehl erhalten, alle Brücken in seinem Einsatzbereich zu sprengen. Nach eindringlichen Bitten der Bevölkerung verschonte er schließlich die historische Brücke über den Fluss Lemene in Portogruaro bei den zwei Mühlen (‚Ponte di S. An­ drea‘).“ Diese geradezu heldenhafte Großmütigkeit dankte die Bevölkerung von Portogruaro dadurch, dass sie Julius Raab vor nicht allzu langer Zeit einen Gedenkstein setzte. Über die Feierstunde zur Enthüllung heißt es: „Zum Festakt, der von den italienischen LIONS bestens vorbereitet worden war, waren auch Ischls Bürgermeister Hannes Heide sowie Stellvertreter Johann Panhuber mit Gattin erschienen, ebenso natürlich der gastgebende Bürger27

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meister Antonio Bertoncello; zahlreiche Besucher gaben der Feierstunde mit den Fahnen beider Länder einen würdigen Rahmen. Nachdem eine Bläsergruppe beide Landeshymnen intoniert hatte, wurde von den Präsidenten Marzio Albano und Werner Riener eine Stele des Künstlers Dante Turchetto enthüllt. Das Kunstwerk mit seiner zweisprachigen Inschrift soll an die noble Geste des großen Österreichers Julius Raab erinnern, der in Portogruaro bis heute höchste Wertschätzung genießt.“ Ioannes schätzte seinen Onkel sehr, wie auch Frau Christine schildert: „Wenn er das Haus der Bundeswirtschaftskammer auf der Wiedner Hauptstraße betreten hat, hat er zuerst immer die Büste des Onkels gestreichelt. Er hat gesagt: ‚Servas, Onkel Julius, ich bin wieder da.‘ Beim Verlassen der Bundeswirtschaftskammer hat er sich auch immer vom Onkel Julius verabschiedet: ‚Auf Wiedersehen, Onkel Julius, bis zum nächsten Mal!‘ Ich habe ihn einmal dabei fotografiert. Da kam eine Dame vorbei und hat zum Ioannes gesagt: ‚Was erlauben Sie sich eigentlich, zur Büste vom früheren Bundeskanzler Raab Onkel Julius zu sagen?‘ Er hat geantwortet: ‚Was erlauben Sie sich, der Julius Raab war wirklich mein Onkel. Ich habe immer, wenn ich ihn besucht habe, eine Beamtenforelle, also eine Knackwurst, bei ihm gegessen. Der Onkel Julius hat die Kinder gerne gehabt.‘ Ioannes war politisch sehr interessiert. Auf den Onkel Julius und seine Büste war er immer sehr, sehr stolz. Das hat mir gefallen.“

Tägliche Anrufe Hatte Ioannes gemerkt, dass ihn jemand schätzt, so begegnete er diesem freundschaftlich. Diese Freundschaft zeigte er vor allem darin, dass er ihn oder sie regelmäßig mit Telefonaten erfreute, die allerdings auch als lästig empfunden werden konnten. So rief Ioannes mich bis ein paar Tage vor seinem Tod beinahe täglich an, welche guten wissenschaftlichen Veranstaltungen, vor allem historische und volkskundliche, an diesem Tag stattfinden, an denen ich 28

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teilnehmen könne. Gleichzeitig wies er meist auch darauf hin, dass ein gutes Buffet oder ein guter Wein auf die Teilnehmer warten. Er selbst war Spezialist für solche nahrhaften Vorträge, Buchpräsentationen oder Ausstellungseröffnungen. Bisweilen begleitete ich ihn und einige seiner Freunde, die von diesen Buffets zu leben schienen. Die Erlebnisse bei solchen Ereignissen waren stets erfreulich, überhaupt wenn der Wein und die belegten Brötchen mundeten. Die letzte Zeit vor seinem Tod hatte Ioannes seine Wohnung kaum mehr verlassen. Er selbst, der früher fast dauernd in Wien bei Vorträgen war, konnte keine mehr besuchen. Er war krank, ging aber zu keinem Arzt. Herr Klaus Astl, der diese Tradition des Buffetbesuchs weiterführt, meinte zu mir hinsichtlich der freundlichen Anrufe des Ioannes: „Es war aber auch so, dass Ioannes einen Freund siebenmal oder sogar zehnmal am Tag angerufen hat. Das war mitunter sehr lästig. Die Marschall Christine hat einmal zu diesen Anrufen gesagt: ‚Das ist wirklich schon zu viel.‘ Ihre Kollegen im Finanzamt, in dem sie gearbeitet hat, hatten sich schon aufgeregt. Beim Ioannes ist man kaum zu Wort gekommen. Geredet hat er wie ein Maschinengewehr, nicht nur am Telefon, sondern auch, wenn er Leute gefunden hat, die ihm mit Begeisterung zugehört haben. Ich kann mich erinnern, wir waren an einem Freitag am Nachmittag in der Orangerie in Schönbrunn. Der Wohlmeyer ist dort gestanden und einige um ihn herum, denen er etwas über die Orangerie erzählt hat. Er hat zu ihnen gesagt: ‚Passt auf, der Pfarrer predigt nur einmal.‘ Er wollte, dass man ihm gut zuhört. So war es auch am Telefon. Den Leuten muss es gefallen haben, was Ioannes erzählt hat, denn zum Beispiel in der Orangerie haben sie sich um ihn geschart wie die Küken um eine Henne. Dem Wohlmeyer war dies ein Genuss.“ Ioannes dürfte eine Liste von Leuten gehabt haben, die er anrief, manche dürften sich schon belästigt gefühlt haben. Jedenfalls, wenn in der Früh das Telefon läutete, meinte meine Frau stets: „Das wird schon wieder der Wohlmeyer sein.“ Wenn sie alleine war und abhob, musste sie sich alles Mögliche anhören, vor allem 29

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Sachen, die sie überhaupt nicht interessierten. Insofern war Ioannes da erbarmungslos, auch ich musste mir diverse Geschichten anhören und ihm versichern, dass ich zumindest einen der von ihm genannten Vorträge besuchen würde. Ioannes vergaß aber nie, darauf hinzuweisen, dass gewisse Veranstaltungen mit Einladungen zu Buffets verbunden sind. Vor circa 30 Jahren „lud“ er Birgitt und mich zu einem Empfang des spanischen Reisebüros ein. Es gab ein herrliches Buffet, bei dem wir – wir hatten damals noch nicht viel Geld – ordentlich zugriffen. Besonders imponierte Birgitt, dass Ioannes seine Teller mit Köstlichkeiten wie panierten Fleischstücken, gebratenen Paradeisern, Schafkäse und Ähnlichem derartig vollud, dass das Ganze an einen kleinen Berg erinnerte. Birgitt hatte das Gefühl, Ioannes würde wie ein Kamel auf Vorrat essen. Ich hatte den Eindruck, dass Ioannes und auch sein Bruder Ferdinand von diesen Einladungen zum Buffet lebten. Es genügte ihnen offensichtlich, einmal am Tag ordentlich zu essen. Dabei kreuzten sie grundsätzlich gemeinsam auf. Ferdinand stand immer etwas im Hintergrund, unterstützte jedoch durch seine Kommentare bei Streitgesprächen seinen Bruder voll. Dadurch, dass ich Ioannes häufig zu solchen Gratisbuffets begleitete, lernte ich bald Cliquen kennen, die untereinander die Adressen und Termine für solche Veranstaltungen weitergaben. Ioannes und auch Freund Klaus Astl zählten und zählen zu jenen Spezialisten, die über die Ministerien direkt an die Termine für solche Einladungen kamen, dieses Wissen aber nicht für sich behielten. Auch andere profitierten und profitieren davon. Als ich vor Kurzem an einer Jubiläumsfeier einer sozialen Institution teilnahm, fielen mir diese Herren wieder auf. Da die Vorträge bei dieser Feier einigen von ihnen zu lange dauerten und sie offensichtlich Hunger hatten, warteten sie das Ende des offiziellen Programms nicht ab und begaben sich zum Buffet, was von anderen Anwesenden, dies sah man ihren Mienen an, nicht als seriös gewertet wurde. Unter diesen Gästen befand sich auch Klaus Astl, der langjährige Weggefährte von Ioannes bei Vorträgen und Buffets. Mich interessierte, wie Klaus Astl überhaupt in Kontakt mit ­Ioannes kam. Er erzählt mir: „Wo ich Ioannes kennengelernt habe, 30

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das kann ich nicht mehr genau sagen. Das muss im Rahmen einer Veranstaltung gewesen sein, wahrscheinlich bei einem Vortrag in der Wirtschaftskammer. Er ist viel zu Vorträgen gegangen. Ich gehe auch dorthin, weil sie mich zum Teil interessieren, und meistens gibt es anschließend daran ein kleines Essen. Man lernt dabei auch Leute kennen, das dient der Weiterbildung und der Information. Auch Schmäh kann man beim Buffet führen, dies dient der Unterhaltung. Man muss das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Irgendwann habe ich bei einem solchen Buffet den I­oannes kennengelernt. Er saß bei den Vorträgen immer in einer der letzten Reihen. Und zum Schluss hat er gesagt: ‚Darf ich noch eine Frage stellen?‘ Das war mein erster Eindruck von Ioannes.“ Ich füge ein, dass dies furchtbar lästig sein konnte. Die Leute waren schon froh, dass der Vortrag zu Ende war, und dann begann Ioannes mit seinen Fragen. Manche, die ihn kannten, haben schon eine Wut gehabt, wenn er begonnen hat. Klaus Astl gibt mir recht: „Kaum war der Vortrag zu Ende, hat er schon begonnen. Der Erste, der eine Frage gestellt hat, war zum Beispiel der Diplomkaufmann Springer, und der Letzte, der gefragt hat, war der Ioannes: ‚Bitte darf ich noch eine Frage stellen?‘ Mitunter ist fast ein Ko­-Referat daraus geworden. Er war sehr gefinkelt und ein äußerst gebildeter Mann. Die Frage war meist schon sehr lang. Die Leute haben gestöhnt.“ Ich füge noch eine Erinnerung ein. Bei einem Vortrag im Museum für Volkskunde kam Ioannes zu spät, wie so oft. Am Ende des Lichtbildervortrages verlangte er von dem Vortragenden, dass er ihm die Bilder zeige, die er versäumt hatte. Doch der Mann weigerte sich, dies zu tun. Ioannes begann zu streiten und nahm sich schließlich einfach die Dias und schaute sie an. Hinter ihm stand sein Bruder Ferdinand, der ihn voll unterstützt hat. Ioannes war ein mutiger Mann, der sich etwas getraut hat. Klaus Astl führt weiter aus: „Ich weiß einen legendären Ausspruch von Ioannes: ‚Da kann es Schusterbuben hageln, aber der Wohlmeyer wird von St. Pölten nach Wien fahren.‘ Das hat er oft gesagt. In seiner Glanzzeit ist er sieben Tage in der Woche von St. Pölten nach Wien gefahren. Er wusste genau, wann der letzte 31

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Zug heim nach St. Pölten ging. Da er viel bei Vorträgen war, hat er sich oft in die dort aufliegenden Listen eingetragen, um weiter von diversen Veranstaltungen informiert zu werden. In der Regel bekommt man dann solche Einladungen zugeschickt. Ob das die Wirtschaftskammer war oder die Arbeiterkammer oder das Südosteuropainstitut. Damals kamen die Einladungen vor allem postalisch. Ein Fax-Gerät hat er nicht gehabt. Man hat ihm in den letzten Jahren ein Handy geschenkt, doch das hat er, glaube ich, nie in die Hände genommen. Vom Festnetz aus hat er unendlich viel telefoniert. Mich hat er auch immer gefragt, welche Veranstaltungen es gibt, zum Beispiel im Schlossmuseum Stainz, was in Trautenfels, was im Ferdinandeum. Ich habe im Internet geschaut, um es ihm zu sagen. Alles wollte er wissen. Ob es eine Sonderausstellung gibt und ob es einen Pressebus dorthin gibt, wenn die Ausstellung außerhalb Wiens ist. Er hat sich dabei viel für andere eingesetzt und organisiert, so hat er uns zum Beispiel für Plätze in den zur Ausstellung fahrenden Bussen angemeldet.“ Klaus Astl zeigt mir eine Liste von Leuten, die Ioannes immer wieder kontaktiert hat. Zu ihnen gehört mein Freund Werner Hollender, der Höhlenforscher, Frau Dr. Obenaus, Frau Marschall, die beim Begräbnis dabei war. Noch etwas sagt Klaus Astl, das gut hierher passt: „Wenn Ioannes zwei, drei Tage nicht angerufen hat, hat man sich schon Sorgen gemacht. Er ist einem direkt abgegangen. In der Regel hat er von St. Pölten aus schon vor 8 Uhr angerufen, denn da ist es billiger. Er hat wie ein Maschinengewehr geredet. Ich habe mich oft dabei verzettelt. Wenn es ihm mit einem zu viel geworden ist, hat er gesagt: ‚Pass auf, ich rufe dich ein halbes Jahr nicht mehr an.‘ Manchmal war er grantig, wenn man ihm nicht ordentlich zugehört hat, er hat dann gesagt: ‚Du Rotzbub, was bildest du dir ein! Ich mache es so wie mit der X, ich rufe dich ein halbes Jahr nicht an.‘ Spätestens am nächsten Tag hat er aber schon angerufen.“

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Tägliche Eisenbahnfahrten Ioannes liebte das Eisenbahnfahren. Er fuhr fast täglich am Vormittag von St. Pölten nach Wien und spät am Abend wieder zurück. Die Schaffner kannten ihn bereits und die am Westbahnhof haben ihn auch schon gekannt. Frau Christine Marschall hält dazu fest: „In einem seiner Sackerln, die er stets bei sich führte, war sein Wecker drinnen. Damit er im Zug nicht verschläft, wenn er nach St. Pölten gefahren ist oder zurück. Einmal hat ein Schaffner geglaubt, dass er eine Bombe mithat, weil der Wecker so laut getickt hat. Ioannes hat zum Schaffner gesagt: ‚Nein, ich habe keine Bombe, sondern einen Wecker. Der ist wichtig, weil Sie wecken mich ja nicht.‘ Einmal hat er den Zug versäumt, so ist er mit dem Postzug nach St. Pölten gefahren. Und für mich hat er einmal den Inter­ city zum Stehen gebracht in Purkersdorf, damit ich den Anschlussautobus nach Sieghartskirchen erwische. Er hat den Schaffner ab St. Pölten sekkiert, er solle in Purkersdorf den Zug anhalten. Der hat wirklich gehalten, war aber länger als der Perron. Ich bin ganz hinten ausgestiegen und gleich die Böschung hinuntergekugelt. Ioannes hat eine Superfreude gehabt, dass er seinen Willen durchgesetzt hat und der Schaffner den Zug zum Stehen gebracht hat.“ Als Fan der Eisenbahn suchte Ioannes das Gespräch mit dem Schaffner, wie Frau Christine erzählt: „Der Schaffner im Zug war sprachlos, als Ioannes nach einem Besuch in Salzburg zu ihm gesagt hat, dass wir die Wirtschaft belebt haben. Und er ist Bahnvielfahrer. Er hat immer gesagt, er kennt sich auf allen Eisenbahn- und Schiffsstrecken aus. Das stimmt, er hat überall im Osten die Verbindungen gewusst und sogar die Spurbreite millimetergenau. Das hat er alles penibel gewusst. Das war sein Steckenpferd. Er hat ein unheimliches Gedächtnis gehabt.“

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Spezialistentum bei Vorträgen und Buffets Ioannes war ein Spezialist beim Besuch von Vorträgen und Buffets. Ein solcher ist auch sein Weggefährte Klaus Astl, der mir über jene Leute erzählt, die sich bei Veranstaltungen treffen, bei denen es auch gutes Essen gibt: „All diese Leute kennen sich untereinander. Man ruft mit dem Handy an, um Termine mitzuteilen, denn es ist jeden Tag in Wien viel los. Heute zum Beispiel wird der ­ARBÖ-Automobilpreis in der Orangerie verliehen, und in der neuen Orangerie der Staatspreis für Tourismus. Um 19 Uhr ist ein Vortrag im Haus der Musik von der Industriellenvereinigung vom Standard, nächste Woche ist dort etwas mit der Presse. Dann haben wir heute etwas von der Agitas, der Steuerberatungskanzlei im 3. Bezirk in der Apostelgasse. Dort ist es auch immer sehr nett, mit Buffet. Dies dauert von 18 bis 20 Uhr. Ab 19 Uhr ist etwas im Haus der Wirtschaft, da geht es um Preisträger. Solche Termine habe ich immer gewusst, genauso wie der Wohlmeyer, der stets 15 bis 20 im Kopf gehabt hat. Dann haben wir heute noch das Jesuitenforum. Am Dienstag war die Verleihung vom Otto Mauer Preis im Erzbischöflichen Palais. Auch dort war ich, aber verspätet. Heute würde ich auf zwei, maximal drei solcher Veranstaltungen gehen. Schönbrunn ist zwar leicht erreichbar mit der U4, aber das werde ich doch nicht machen können. Ich bleibe im Zentrum. Vorgestern hat die Brauerei Schloss Eggenberg für ‚Das Bier zum Salzkammergut‘ als erste oberösterreichische Brauerei und als zweite österreichische Brauerei das AMA-Gütesiegel erhalten. Zu Mittag war eine Pressekonferenz im Glacis Beisl darüber. Es waren viele Leute anwesend. Bier hat es gegeben, eines habe ich getrunken, zu Mittag trinke ich weniger. Man lernt bei solchen Veranstaltungen mit Buffets immer wieder Leute kennen. Der Großteil der Inhalte der Vorträge interessiert mich schon, etwa über Architektur oder über den Umgang mit Ressourcen. Man trägt sich bei Vorträgen ein und das nächste Mal bekommt man schon eine Zuschrift mit einer Einladung. Heute kann man viel im Internet nachlesen, aber live ist halt live. Da kann man sich auch einbringen, aber ich bin eher 34

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Zuhörer. Der Wohlmeyer hat sich immer eingebracht. Ich glaube, er hat einmal in der Wirtschaftskammer am Stubenring gearbeitet. Von da hat er viel gewusst. Zum Schluss war es auch nicht mehr so leicht für ihn. Seine Freunde von der Regierung, die Hofräte, waren schon in Pension. Und die Kontakte zur Wirtschaftskammer hat er nicht mehr so gehabt. Er hat immer gesprochen vom Onkel Julius, er meinte den Raab, den früheren Bundeskanzler, er war der Bruder der Mutter.“ Frau Marschall ergänzt: „Ioannes liebte den Gewerbeverein, die Bundeswirtschaftskammer und vor allem das Hohe Haus, von dort ist er nur schwer weggegangen. Wenn er dort drinnen war, hat er sich wohlgefühlt. Im Parlament und in der Industriellenvereinigung, da ist er aufgeblüht, bei Vorträgen, diversen Veranstaltungen, das war für ihn lebenswichtig. Er war aber auch dort, um Menschen zu treffen. Er hat viel Wert auf Gespräche gelegt: Dort muss er noch hinrennen, dem muss er etwas geben und dem anderen hat er etwas mitgenommen. In einem Vortrag in der Bundeswirtschaftskammer über die Vernetzungen der EU mit Südosteuropa, es ging um die Handelsverbindungen dorthin, hat der Ioannes nach dem Vortrag aufgezeigt, um sich zu Wort zu melden. Sie wollten ihn zuerst nicht drannehmen. Er hat sich aber durchsetzen können. Dabei hat er einen solchen phänomenalen Schachtelsatz hingelegt, dass der Vortragende ins Schwitzen gekommen ist. Er hat dann gesagt: ‚Herr Wohlmeyer, wenn Sie solche Fragen stellen, können Sie sie hundertprozentig beantworten.‘ Dabei hat er ganz verschmitzt gelacht. Das war ein Schuss ins Volle, weil er genau gewusst hat, da sitzt der Experte. Ioannes hat wegen der Kommunikation gefragt und um sich weiterzubilden. Er wollte immer noch etwas erfahren, warum das so oder so war. Er war unheimlich wissbegierig. Er wollte auch etwas beitragen, einen Anstoß geben, dazu waren seiner Meinung nach solche Veranstaltungen da, zum Austausch. Er hat oft gesagt: ‚Die Wissenschaft soll leben.‘ Die Weiterentwicklung der Wissenschaft sah er als wichtig an, er war sehr zukunftsorientiert. Das hat mir so gefallen. Das hat man bei ihm unterschätzt. Er hat gesagt: ‚Wenn ich es nicht mehr 35

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brauchen kann, irgendwer kann etwas damit anfangen.‘ Er war immer für die anderen. Wenn er zum Beispiel Ideen gehabt hat, hat er gerne Anstöße gegeben, auch wenn er es nicht selbst hat verwirklichen können. Er war auch beim Österreichischen Ingenieurund Architekten-Verein. Er hat sich dort alle möglichen Vorträge angehorcht, über Motoren und alles andere auch. Darüber bekam er ein großes Wissen. Er hat mit denen dort diskutiert und gefragt, ob man das nicht so oder so machen kann. Da habe ich geschaut! Ich war erstaunt. Der Pater Bruno von den Franziskanern hat immer gesagt, der Ioannes wäre mit seinem Wissen ein Batzen Theologe geworden, er hat nämlich auch ein großes theologisches Wissen gehabt. Was man nicht unterschätzen darf, er war nicht nur Humanist und Idealist, sondern es interessierte ihn auch Flora und Fauna. Ioannes war bekannt als Diskutierer, manche haben sich vor ihm gefürchtet. Wenn er bei einem Vortrag aufgetaucht ist, haben einige gesagt: ‚Oje, der kommt auch.‘ Am Podium hat man es wispeln gehört. Er ist immer verspätet gekommen. Und dann seine Fragen! Er hat Schachtelsätze verwendet. Bei den Buffets im Anschluss an Veranstaltungen hat sich Ioannes wohlgefühlt, er hat immer gut gegessen. Zuerst hat er meist ein Bier getrunken. Weil Bier gesund ist, wie er gesagt hat, hat er mit Bier angefangen. Und zwar mit einem großen Bier. Salate hat er gerne gehabt. Er hat gesagt, alleine schmeckt es ihm nicht. Er brauchte Gemeinschaft und die Unterhaltung.“ Ich hatte das Vergnügen, Ioannes einige Male bei mir über Nacht zu Gast zu haben. Dabei konnte ich beobachten, wie Ioannes, wenn er sich in der Früh anzog, nach umständlichem Händewaschen in den Spiegel geschaut und seine Hosenträger mehrere Male mit seinen Fingern gezogen hat. Dabei zählte er. Einmal übernachtete nicht nur Ioannes Wohlmeyer bei mir, sondern auch mein alter Freund Werner Kohlmaier, der auch ein Spezialist im Besuchen von Veranstaltungen mit guten Buffets war. Werner lebte regelrecht von diesen Buffets, und von daher kannten sich die beiden. Nach einer solchen Veranstaltung übernachteten beide bei mir (meine Frau war nicht recht einverstanden damit) – ich hatte 36

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damals eine geräumige Wohnung. Beide schliefen im selben Zimmer, aber ignorierten sich. Vor allem Ioannes lehnte den Kontakt zu Werner Kohlmaier ab, da dieser ihn bisweilen mit unfreundlichen Bemerkungen ärgerte. Jedenfalls waren die beiden als Besucher derselben Buffets eher Konkurrenten, die sich im Weg standen, und keine Kumpanen.

Private Führungen Ioannes hatte offensichtlich Freude daran, sich Freunden und Bekannten als Reiseführer anzubieten. Er konnte dabei mit seinem weiten Wissen glänzen. Dieses basierte nicht nur auf dem Studium diverser Literatur, sondern vor allem auf seinem Interesse an Vorträgen und auf seinem eifrigen Anhören von Radio Ö1, rund um die Uhr, wann immer er zu Hause war. Bei der Tagung der Urgeschichtsforschung, bei der ich Ioannes näher kennenlernen durfte, lud er mich und vier Studenten zu einer Führung durch Graz ein. Ich nahm dankbar diese Einladung an und war neugierig auf das, was uns erwartete. Zuerst führte er uns in eine prunkvolle Kirche, in welche, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls zeigte er uns bis ins Detail die einzelnen Bilder, die Symbole, die Heiligen, die Wappen und Ähnliches. Er lieferte auch Erklärungen für gewisse künstlerische Zusammenhänge. Hier machte sich sein geradezu fotografisches Gedächtnis, das ich schon erwähnt habe, bemerkbar. Ein Blick auf eine Karte oder kurze Einblicke in einen Führer genügten ihm oft, um anderen eine Fülle von Geschichten zu erzählen. Wir lernten bei dieser Führung einiges, doch es war auch ermüdend. Gerne wären wir schon weitergegangen, doch er zog uns in seinen Bann und ließ es auch nicht zu, dass jemand von uns sich heimlich entfernte. Wir folgten Ioannes auch in die Studentenmensa. Dort führte er uns in die Küche. Wir mussten uns in Reih und Glied aufstellen. Dann stellte er uns dem Leiter der Mensa vor, den Ioannes noch nie vorher gesehen hatte. Er tat dabei so, als ob er und wir wichti37

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ge Leute wären. Der Leiter jedenfalls war beeindruckt und fragte nicht, wer wir seien. Er wies schließlich uns angeblich wichtigen Herren einen guten Platz in der Mensa zu. Ob wir die Speisen gratis erhielten, weiß ich nicht mehr.“ Auch Frau Christine Marschall erinnert sich an die Führerqualitäten des Ioannes: „Einmal führte er mich durch Salzburg. Die Ausstellung im Dom hat ihm sehr gut gefallen. Wir waren einen ganzen Tag in Salzburg, in jeder Kirche waren wir. Er hat mich bestens geführt. In die alten Keller beim Glockenspiel hat er mich hinuntergejagt, dann wieder hinauf. Ich war schon ganz fertig, meine Füße haben mich kaum mehr getragen. Er hat gesagt: ‚Wenn ich das aushalten kann, dann kannst du es auch, du bist viel, viel jünger als ich. Gemma, gemma!‘“ Ioannes liebte es auch, Freunde, die an ihm und seinem Wissen interessiert waren, um sich zu scharen. Dies meint auch Frau Christine: „Es waren immer die gleichen Cliquen um Ioannes. Er hat alle angerufen und sie zum Mitfahren aufgefordert, zum Beispiel in einem Bus zu einer Ausstellung außerhalb von Wien. Oft war es so, dass ihm welche zugesagt haben, aber nicht mitgefahren sind. Wir aber sind mit ihm gefahren. Seine Freunde waren ihm wichtig, er hat sich immer zurückgestellt. Er hat ein gutes Bauchgefühl gehabt. Er hat genau gewusst, wo er gehen darf, wo er sich zurückziehen muss. Wenn ihn jemand geärgert hat, konnte er ihm gegenüber sehr scharf sein. Er hatte Gespür, er war sehr sensibel in dieser Hinsicht.“ Frau Christine führt weiter aus: „Ioannes hat viele Menschen gekannt. Wenn man mit ihm unterwegs war, ist man ja nicht weitergekommen, weil er so viele angesprochen hat. Die eine Dame kannte er von der U-Bahn her, die andere von der Eisenbahn. Ioannes konnte ‚Gschichterln‘ erzählen. Zu jedem Anlass hat er etwas zu erzählen gewusst. In unserer Clique ist mit Ioannes ein Multiplikator verloren gegangen. Er war das Element, der alle angerufen hat. Diese Clique bestand aus den Leuten, die zu den Vernissagen oder sonstigen Veranstaltungen gegangen sind. Zu einer Ausstellung mit ihm zu gehen, war manchmal furchtbar, da ist man als Begleiter regelrecht verhungert. Bei einer solchen war ich 38

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seine Begleiterin und er verweilte von 10 Uhr bis 18 Uhr. Er ist dreimal durch die Ausstellung gegangen.“

Freude am Papier Heinrich Wohlmeyer hat im obigen Lebenslauf bereits auf das Papier – die Prospekte, Schriften und Bücher – hingewiesen, das Ioannes gehortet hat. Er konnte sich vom Papier nicht trennen und hat es als weißes Gold bezeichnet. Auf dem Papier stehen Informationen, hat er gesagt. Das war ihm wichtig. Bruder Heinrich meinte, er habe zum ‚Zumüllen‘ geneigt. Dies kann ich bestätigen. Ich wurde einmal von Ioannes gebeten, Prospekte, die er bei einer Bekannten gehortet hatte, nach St. Pölten in seine dortige Wohnung zu führen. Ich hatte um 1980 einen alten, großen Mercedes aus dem Jahre 1959. Wir beluden den Wagen mit dem papierenen Allerlei, das meiste davon im Kofferraum. Der Wagen war mit diesen angeblichen Kostbarkeiten derart beladen, dass er schwer daran zu tragen hatte. In St. Pölten musste ich das Papier ausladen und in seinem Wohnzimmer stapeln. Erstaunt betrachtete ich dieses Zimmer, dessen Boden vollkommen mit Papier, Büchern, manche waren noch in der Postverpackung, Schriften und Prospekten aller Art bedeckt war. Es war schwer, in dem Zimmer weiterzukommen. Die Mutter von Ioannes, die hinter dem Haus in einer Art Gartenhaus wohnte, zeigte sich mir gegenüber entsetzt über diese Eigenheit von Ioannes, Papier zu sammeln. Nicht einmal das Zimmer dürfe sie betreten. Ich glaube, sie hat mich noch gebeten, auf Ioannes einzuwirken. Ich dürfte dies versprochen haben, aber mit dem Wissen, dabei ohnehin erfolglos zu sein. Ich erinnere mich an eine andere Geschichte. Ioannes hatte bei einer Freundin in Wien um 1985 derart viele Prospekte und anderes Papier gehortet, als der ungefähr 15 Jahre alte Sohn der Dame, dem dies langsam zu viel wurde, das angehäufte Papier in die städtischen Mistkübel geworfen hat. Wie Ioannes das nächste Mal in die Wohnung kommt, sieht er, dass die Prospekte verschwunden 39

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sind. Er erfuhr nun, dass der Bursch sie in die Mistkübel geworfen und die Müllabfuhr diese bereits entleert hatte. Verzweifelt rief er mich um Mitternacht an und bat mich, mit ihm zur Müllverbrennungsanlage Spittelau zu fahren. Vielleicht könne man seine Papiere finden. Wir fuhren los, Ioannes holte in der Spittelau den Nachtwächter heraus, dem er erzählte, dass einige seiner wertvollen, unersetzlichen wissenschaftlichen Arbeiten in Mistkübel geworfen wurden. Sie müssten nun hier sein. Der Nachtwächter fühlte sich derart von Ioannes bedrängt, dass er das riesige Tor der Müllverbrennungsanlage öffnete. Vor uns lag in der weiten Tiefe der Abfall von Wien zu gigantischen Hügeln aufgetürmt. Bücher oder Manuskripte waren nicht auszunehmen. Ioannes sah ein, dass es zwecklos sei, nach seinen Papierstücken, die er gesammelt hatte, zu suchen. Betrübt verließ er mit mir die Müllverbrennungsanlage. Klaus Astl lächelt zu dieser Erzählung und meint: „Dazu kann ich auch etwas beitragen. Zu Frau Dr. Führer, sie hat für ihn Prospekte gesammelt, hat er gesagt, sie solle alles an Prospekten mitnehmen, was ihr unterkommt, und wenn es geht, doppelt oder dreifach. Frau Dr. Führer war bei der UNO tätig. Sie war eine Bekannte von ihm, sie wohnt in der Hohlweggasse.“ Frau Christine meint schließlich: „Er hatte immer Sackerl bei sich mit Prospekten und Ähnlichem. Aber eines muss man ihm lassen. Er hatte ein gutes System. Er hatte alles griffbereit. Er hat gesagt, die Nylonsackerl habe er mit Marcel Prawy, dem begnadeten Operninterpreten, gemeinsam. Ioannes hatte sein Sackerlsystem, er wusste genau, welche Zeitungen, welcher Jahrgang und was sonst noch in jedem Sackerl drinnen war. Es sei eine Kata­strophe für ihn, hat er gesagt, wenn die Schwägerin oder der Bruder bei ihm zusammenräume.“ Ioannes hatte eine paar interessante Ticks, so drehte er jeden Zettel, den er auf der Straße gesehen hat, meist mit seiner Schuhspitze kunstvoll um, um zu sehen, ob auf diesem etwas zu lesen sei, das ihn interessieren könne.

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1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Ioannes als „lästiger“ Zeitgenosse Trotz seiner Liebenswürdigkeit verstand es Ioannes, Menschen zu verärgern. Er konnte ihnen lästig werden, wie ich schon einige Male erzählt habe. Dies bestätigt mir auch Frau Christine: „Bei einer Fortbildungsveranstaltung in der Bundesfinanzakademie im 3. Bezirk in Erdberg, bei der ich dabei war, hat eine Kollegin aus St. Pölten den Vortragenden gefragt, was er ihr rate hinsichtlich des Umgangs mit schwierigen Kunden. Dabei schilderte sie eindrucksvoll Ioannes und seine Eigenheiten, ohne seinen Namen zu nennen. Ich habe sofort gewusst, dass sie nur Ioannes meinen könne. Sie hat ihn als hartnäckig und akribisch geschildert. Ioannes wollte immer persönlich vorsprechen. Er ließ sich nicht abwimmeln. Er wollte immer genaue Informationen. Und da er ein guter und pünktlicher Steuerzahler war, meinte er ein Recht auf entsprechende Behandlung zu haben. Die Frage der Kollegin war, wie gehe ich mit einer derart schwierigen Kundschaft um, die viel spricht und genau informiert sein will.“ Mir erzählte eine Richterin in St. Pölten, dass bei den Amtstagen dauernd ein Wohlmeyer aufgetaucht ist, der irgendwelche Anträge gestellt hat und furchtbar lästig war. Lästig war er auch den Franziskanern, wie Frau Christine erzählt: „Pater Bruno von der Franziskanerkirche in St. Pölten am Hauptplatz, es war die Stammkirche von Ioannes, war oft wegen Ioannes sehr verzweifelt, da er bei den Messen den vollen Namen der Leute lesen musste, denen die Messe galt. Nicht bloß, wie in meinem Fall, Christine, sondern auch meine anderen Namen: Gertrude und Herta. Das wollte Ioannes so haben. Für die verstorbenen Mitglieder der Familie mussten die vollen Namen bei den Messen gelesen werden. ‚Oje‘, hat der Pater gesagt, wenn der Ioannes mit seinen Wünschen gekommen ist. Einmal ist er gekommen und hat sich aufgeregt, weil er einen Beinamen vergessen hat.“

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1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Freund, Geschichtenerzähler und Ritualist Ioannes war eine schillernde Person, ich verdanke ihm viel, wie ich schon ausgeführt habe. Ioannes, dessen großes Wissen mir imponierte, konnte auch stur und lästig sein, besonders hing er an kleinen Ritualen des Alltags, die Leute zum Verzweifeln bringen konnten, aber auch Rührendes an sich haben konnten. Frau Christine Marschall denkt in diesem Sinn über Ioannes nach: „Ich verdanke dem Ioannes, dass ich nachgedacht habe. Man muss Charakter haben und anständig sein, die anderen reden lassen. Auch das Zurücknehmen der eigenen Person habe ich von ihm gelernt. Er konnte wunderbar zurücknehmen. So zum Beispiel meinte er über einen Streit mit einem Gegner, das zahle sich gar nicht aus, über so etwas zu streiten. Den lassen wir einfach stehen. Ich finde es schade, dass Ioannes sein Wissen nicht aufgeschrieben hat, im Sinne der ‚oral history‘. Was der alles von St. Pölten gewusst hat, er war überall dabei. Er war ein Erzähler, aber kein Schreiber. Er wusste viele Geschichten. Wenn er zu einem Vortrag oder einer anderen Veranstaltung zu spät gekommen ist, hat er immer gesagt: ‚Die Letzten werden die Ersten sein.‘ Man kannte ihn überall. Er konnte stur sein, wie zum Portier im Parlament, zu dem er jedes Mal sagte: ‚Dort stellen Sie mir die Tasche hin. Sie darf nur auf diesem Platz stehen. Wehe, Sie stellen die Tasche daneben. Das letzte Mal haben Sie die Tasche daneben hingestellt, und ich habe sie vergessen, weil ich nicht auf den üblichen Platz geschaut habe.‘ Einmal waren wir, Ioannes und ich, bei einer Veranstaltung im Parlament die Letzten, die gegangen sind. Das Tor war schon zugesperrt. ‚Ioannes‘, habe ich zu ihm gesagt, ‚jetzt kommen wir da nicht mehr hinaus bei diesen verwinkelten Gängen. Mit dir habe ich keine Angst.‘ Wir sind so lange herumgeirrt, bis wir jemanden von der Feuerwache getroffen haben. Er hat uns dann hinausgelassen, dabei sagte er: ‚Das nächste Mal seid etwas pünktlicher.‘ Und zu Ioannes meinte er: ‚Aber Sie kennen wir eh. Sie gehören schon dazu.‘ Ioannes hat das Parlament geliebt. Mir war Ioannes ein lieber Freund, dem hier ein Denkmal gesetzt sei.“ 42

1. Der Privatgelehrte Ioannes Wohlmeyer

Theorie der Privatgelehrten und Buffetspezialisten Vor allem in der städtischen Kultur gibt es mehrere Privatgelehrte. Einmal solche, die keinem Beruf nachgehen und dennoch zu überleben wissen, und solche, die ein Einkommen haben. Beiden ist gemeinsam, dass sie Vorträge oder Ausstellungseröffnungen aufsuchen, bei denen sie nicht nur köstlich zu dinieren verstehen, sondern bei denen sie auch ihre Bildung erweitern können. Ihnen gefällt es, in einem meist noblen Umfeld mit interessanten Zeitgenossen in Kontakt zu treten. Diese Privatgelehrten stehen, so sehe ich es, in der Tradition der mittelalterlichen Scholaren. Unter Scholar – das Wort kommt von scola für Schule – verstand man in früheren Jahrhunderten vor allem herumziehende Studenten oder arbeitslose Akademiker, man nannte sie auch „fahrende Schüler“ oder „fahrende Scholaren“. Diese waren sehr gebildet und wussten auch, wie man zumindest zu einer guten Mahlzeit gelangt. Anstelle der früheren Ausspeisungen in Klöstern scheinen für die Nachkommen der Scholaren die modernen Buffets getreten zu sein, die oft an Ausstellungseröffnungen oder Vorträge anschließen. Es gibt gerade in Wien eine Vielzahl von vor allem Herren, die sehr wohl große Bildung haben, ich nenne sie Privatgelehrte, die solche allgemein zugängliche Buffets aufsuchen oder sich bei diesen treffen. Da diese Herren stets auch die den Buffets vorausgehenden Vorträge oder Vernissagen besuchen, hat sich ein breites Wissen bei ihnen angesammelt, von dem sie auch entsprechend Gebrauch machen. Diese Leute gehören zu einer intellektuellen Kultur nobler Schnorrer, die wissen, wo Wissen erworben werden kann und gute belegte Brötchen mit Wein oder Bier kostenlos angeboten werden. Das Wort Schnorrer hat vor diesem Hintergrund keinen negativen Beiklang, schließlich geht es auf die Schnarre zurück, einer Art Ratsche, mit der die alten Bettelmusikanten, zu denen auch Studenten gehörten, auf sich aufmerksam machten. 43

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter aus Spital am Pyhrn Vorgeschichte – Siegerl als Bergsteiger und Skifahrer Die folgenden Ausführungen bauen auf meinen eigenen Erinnerungen und Gesprächen auf, die ich früher mit Siegfried Patzl, den man liebevoll Patzl Siegerl nannte, und jetzt mit seinem Sohn Herwig führte. Im Frühjahr 2009 ist Siegfried Patzl im Alter von 84 Jahren in Spital am Pyhrn gestorben. Er gehört zu den Helden meiner Kindheit und Jugend in den Jahren nach dem Krieg. Er war ein bescheidener Herr mit großem Witz und einem weiten Herzen. Er war das, was ich einen „feinen Herrn“ oder einen „klassen Burschen“ nenne. Er war ein ausgezeichneter Bergsteiger und Skifahrer. Ich sehe ihn im Geiste um 1950 vor mir, als ich alleine auf der Skiwiese in der Nähe des Bauern Mausmayr unterwegs war, wie er plötzlich aus dem Wald schoss. Er schaute mich freundlich an, bevor er in einem eleganten Bogen zu Tal fuhr. Ich schickte ihm noch einen Gruß nach. Genauso wie wir Buben fuhr auch Patzl Siegerl, wie er genannt wurde, gerne vom Eckerbauern über den damals noch unverbauten Grundnerkogel hinunter zur Straße. Als besonders mutiger Skifahrer pflegte er über eine Art Schanze über die Straße zu springen. Heute wäre dies wegen des starken Autoverkehrs nicht möglich. Patzl Siegerl war berühmt als Skifahrer, Bergsteiger und Bergrettungsmann. In der letzten Funktion hatte er besten Kontakt zu meinem Vater, der als Bergrettungsarzt in Spital am Pyhrn stolz war, mit solch tüchtigen Männern zu tun zu haben. Schließlich musste sich mein Vater um die in den Bergen Verunglückten kümmern, die Siegerl oder andere Bergrettungsleute zu Tale brachten. Ob seiner Leistung als Bergrettungsmann ist Siegerl sehr gelobt 44

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

und ausgezeichnet worden, wie zu sehen sein wird. Mir erzählte er oft von seinen Erlebnissen als Bergführer, wenn er in den Sommermonaten Gäste auf den Großglockner, auf das Matterhorn oder andere hohe Berge geführt hatte. Als er für Bergtouren zu alt war, half er seinem Sohn Herwig, der in Spital am Pyhrn ein Sportgeschäft führt, den ‚Sportstadl‘. Dieser hatte auf der Wurzeralm bei der Bergstation der Seilbahn eine Blockhütte, in der Siegerl Ski reparierte und man auch welche ausborgen konnte.

Siegerls Hochzeit – Sohn Herwig als Eisstockschütze Ich erzählte Herwig, dass ich mich noch an die Hochzeit seines Vaters erinnern könne. Bei der alten Dorfbrücke in Spital am Pyhrn war damals eine Schnur gespannt. Dies ist ein alter Brauch: Die Schnur stellt eine Grenze dar, die es zu überwinden gilt, sie symbolisiert die Hochzeit, durch die man vom Junggesellenleben ins Eheleben wechselt. Man musste eine Kleinigkeit bezahlen, um auf die andere Seite der Schnur zu gelangen. Herwig meint, er habe noch Bilder von diesem netten Brauch. Herwigs Mutter war eine hübsche Dame, an die ich mich gut erinnere. Sie stammte aus Baden bei Wien und hatte das Handwerk des Teppichknüpfens erlernt. Gearbeitet hat sie in einer Weberei bei Molln. Dort lernte sie den Siegerl kennen, er hat sie sehr geliebt. Leider ist sie früh verstorben. Herwig erzählt von seiner Mutter: „Meine Mutter hat zu meinem Vater, dem großartigen Bergsteiger, gesagt: ‚Ich habe eine Bitte an dich, schau, dass der Bub kein Bergsteiger wird.‘ Darauf hat der Vater gesagt, das werde er heuer in den Ferien regeln. Ich war damals in der dritten Klasse Hauptschule. Zu der Zeit hat er mich zu einem Eis-Grundkurs auf den Großvenediger mitgenommen. In der Woche hat er mir alles gezeigt, was einem beim Bergsteigen passieren kann. Er hat mich in eine Gletscherspalte hinuntergelassen, beim Abseilen hat er mich hängen gelassen. Die anderen Kursteilnehmer haben sich schon beschwert, dass der Vater mit 45

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

mir so umgeht. Im Nachhinein hat er zu mir gesagt, dass das von ihm so gewollt war, damit ich kein Bergsteiger werde.“ Herwig ist auch kein verwegener Bergsteiger geworden, aber das Eisstockschießen als Wintersport behagt ihm. Er meint dazu: „Man spielt mehrere Partien: Die erste Parte ist für den ‚Durscht‘, die zweite für den ‚Durscht‘ und die dritte für den Hunger.“ Man schießt Eisstock also zuerst, um Getränke zu erlangen, dann um Essen zu bekommen. Es gibt auch das ‚Bratlessen‘, bei dem die ‚Moarschaft‘ – so nennt man ein Team der Eisschützen –, die verloren hat, einen Schweinsbraten für alle zahlen muss.

Herwigs Geschwister Herwig hat durch sein Sportgeschäft dennoch eine sehr enge Beziehung zum Skifahren und zum Bergsteigen. Insofern sieht er sich in den Fußstapfen seines Vaters. Herwig, er wurde 1954 geboren, erzählt über seine Geschwister: „Ich bin der Älteste von uns drei Kindern. Ich habe einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Sigrid lebt in Vorarlberg und arbeitet in der Schweiz in einem Forschungslabor, sie ist Krankenschwester. Ich habe guten Kontakt zu ihr. Alle fünf, sechs Wochen kommt sie hierher nach Spital am Pyhrn. Wir treffen einander oft. Mein Bruder blickt auf eine großartige Karriere als Konditor in Thailand zurück, wo er sogar Kontakte zum Königshaus hatte, in dem offensichtlich seine österreichischen Mehlspeisen geschätzt wurden. Dietmar lebt mit seiner charmanten Frau aus Singapur in Spital am Pyhrn. Während des Winters ist er jetzt Chefpatissier, also Chefkonditor, in einem großen Hotel in Zell am See. Gelernt hat der Bruder in der Konditorei Graßecker in Windischgarsten. Nach der Lehre ist er nach Sölden gegangen, hat dort kaum einen Monat gearbeitet, als ein Gast zu ihm gesagt hat: ‚Es gefällt mir, was du machst. Komm mit mir, ich habe eine Privatarbeit.‘ Der Mann, es war ein reicher Amerikaner, hat ihn auf sein Schiff mitgenommen. Auf diesem waren unter anderem als Gäste Prinzessin Margaret von England, 46

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Mick Jagger und David Bowie. Mit diesen ist er über die Meere gefahren und musste für alle kochen. Er hat Aufzeichnungen und Bilder. In Singapur hat er Jessica, seine jetzige Frau, kennengelernt. Dort geht es sehr streng zu. Wenn man einen Kaugummi auf der Straße ausspuckt, bist du 500 Euro los. Mein Bruder dürfte sich gut angepasst haben. Aber ich denke, er war froh, wieder hier im Gebirge zu sein.“

Zugang Mit Herwig traf ich mich zum Gespräch über seinen Vater im Kaffeehaus Kemetmüller in Spital am Pyhrn. Bei gutem Tee erzählte er, der ein ausgezeichneter Eisschütze, aber kein Extrembergsteiger ist, aus dem Leben seines Vaters, wie er ihn als Sohn erlebt hat. Bevor ich Herwig erzählen lasse, beziehe ich mich auf ein Gespräch, das ich vor Jahren mit seinem Vater Patzl Siegerl geführt und auf Tonband aufgenommen habe.

Eisenbahnerhaus am Fuße des Bosruck – frühe Liebe zu den Bergen Geboren wurde Patzl Siegerl am 10. Jänner 1925 in Spital am Pyhrn, aufgewachsen ist er dort in einem Bahnwärterhaus in der Nähe des Bosrucktunnels am Fuße des Bosruck. Sein Vater war, wie er später auch, Eisenbahner. Siegerl schildert seinen Vater Franz als „fanatischen Naturmenschen“, der alle Käfer, Blumen und Bäume kannte. Siegerls Kindheit war hart, die Eltern hatten kaum Geld. Nach der Schule mit 14 Jahren findet Siegerl Arbeit im Sensenwerk. Zum Bergsteigen hatte er schon seit seiner frühen Kindheit eine tiefe Beziehung. Mit fünf Jahren stand er schon auf dem Großen Pyhrgas. Dort erlebte er einen wundervollen Sonnenaufgang, an den er sich heute noch mit Begeisterung erinnert. Barfuß marschierte er damals hinauf, denn für Kinder gab es im Sommer keine Schuhe. 47

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Bereits im Alter von 17 Jahren fragte er den beliebten Gastwirt Grundner, den Obmann der Bergwacht von Spital, ob er dieser beitreten dürfe. Grundner wollte wissen, welchen Schwierigkeitsgrad im Klettern er sich traue. Seine Freunde, die ihn gut kannten, meinten, Siegerl würde sogar einen „Sechser“ schaffen, so nannte man früher den höchsten Schwierigkeitsgrad, das war 1942. Gleich darauf wurden er und seine Freunde aus Spital am Pyhrn, ebenso gute Bergsteiger, nach St. Johann in den Wilden Kaiser geschickt, wo sie den Gebirgsjägern in der deutschen Wehrmacht zugeteilt werden. Siegerl wird Heeresbergführer und ist während des Krieges in Spital am Pyhrn Einsatzleiter der Bergwacht. Oft muss er auf die Berge und in die Felswände, um Abgestürzte, Verirrte und Hilflose ins Tal zu bringen. Eine schwierige Bergung führte er 1943 durch, als am Bosruck ein Obergefreiter der ‚Flak‘ beim Klettern in einem Riss hängen geblieben war. Damals gab es noch keine speziellen Kletterschuhe, so kletterten Siegerl und die anderen Retter in ihren Socken. Gefährlich war diese Bergung noch zusätzlich, weil zu dieser Zeit wegen eventueller Feindflugzeuge in der Dunkelheit keine Lampen verwendet werden durften. Nur eine alte Stalllaterne, deren Zylinder schwarz angestrichen war, hatte Siegerl bei sich. Die Rettung glückte. 1944 rückt Siegerl zu den Gebirgsjägern ein. Zuerst ist er in Italien, dann an der russischen Front. Im September 1945 entlassen ihn die Russen, er marschiert von Brünn in der Tschechoslowakei nach Wien. Nach dem Krieg ist Patzl Siegerl wesentlich am Aufbau des Bergrettungsdienstes beteiligt.

Herwig Patzl und der Beruf des Kaufmannes Nun lasse ich den Sohn Herwig, der auch in dem geschilderten Bahnwärterhaus aufgewachsen ist, erzählen: „Ich bin 1954 in dem Bahnwärterhäuschen beim Bosrucktunnel geboren worden. Dort bin ich mit meinen Geschwistern aufgewachsen. Das Häuschen gibt es noch, es steht allerdings heute leer. 48

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Die Bahndirektion will es nicht weiter vermieten. Es ist ein kleines, gelbes Haus. Es war schön dort zu wohnen, aber bescheiden. Der Vater hat die Berge vor der Haustüre gehabt. Das war gut so. Er hat uns schon von klein auf zu Bergtouren mitgenommen. Bis zu meinem 15. Lebensjahr lebte ich dort, dann sind wir hinuntergezogen zum Bahnhof, in das Häuschen gegenüber. Bis zu seinem Tod im März 2009 hat mein Vater dort gelebt. Früher war dieses kleine Haus das Heizhaus, in dem der Heizer gewohnt hat, der die Strecke Linz – Selzthal gefahren ist. Hier waren auch die Kohlen gelagert, mit denen die mit Dampf betriebenen Eisenbahnen geheizt wurden. Die Dampflokomotiven sind noch bis Ende der 1950er-Jahre gefahren, sie wurden speziell für den Lastenverkehr eingesetzt. Als ich in der Volksschule war, konnte ich noch die ‚schnaubenden Rösser‘ bewundern. Ich war zuerst in der Volksschule in Spital. Ich gehörte nicht zu den besten Schülern. Als ich in die Hauptschule kommen sollte, habe ich Paratyphus gehabt. Ich war 2 ½ Monate in Quarantäne. Daher haben sie mich in der Hauptschule in Windischgarsten nicht mehr genommen. Man hielt mich nur für den zweiten Klassenzug geeignet. Der alte Herr Mark, der Besitzer der Metallwarenfabrik in Spital, hat gewusst, dass es im nahe gelegenen Admont in der Schule einen zweiten Klassenzug gibt. Er hat geschaut, dass ich im Stiftskonvikt einen Platz bekomme, dort habe ich gewohnt. Wir durften einmal im Monat heimfahren. Nach Admont bin ich mit dem Zug gefahren. Nach Spital am Pyhrn konnte ich mit Herrn Mark mitfahren, wenn er seine Söhne Rudi und Thomas, die in das dortige Gymnasium gingen, abgeholt hat. Er hatte einen Volvo. Heimweh habe ich vielleicht nur am Anfang gehabt, sonst nicht, da ich mit meinem Vater viel in den Bergen unterwegs und daher gewohnt war, von zu Hause weg zu sein. Ich hätte nur ein Jahr dort bleiben sollen, doch nach einem Jahr habe ich zum Vater gesagt, mir gefällt es in Admont so gut, ob ich nicht dort bleiben könne. Das hat ja Geld gekostet. Der Vater, er war ja auch Bergführer, hat gemeint, mit dem Bergsteigen bekomme er das Geld wieder herein. Er hat gesagt: ‚Wenn es dir gefällt, dann kannst du in Admont 49

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

bleiben, du musst dich aber in der Schule zusammenreißen.‘ Ich habe geantwortet, das würde ich machen. In der Hauptschule bin ich gut durchgekommen. Ich war immer in der Mitte. Ich war nie der beste Schüler, aber auch nie der schlechteste. Einmal habe ich einen Fünfer gehabt, weil ich die österreichische Flagge verunstaltet habe. Aus dem Rot ist bei mir Rosarot geworden. Darüber war der Lehrer furchtbar entsetzt. Die anderen Lehrer waren nicht so ‚deppert‘. Hier und da hat es eine Watsche gegeben, die haben wir uns aber redlich verdient. Nach dem Polytechnischen Lehrgang in Windischgarsten 1969 habe ich mit der Lehre angefangen, in den Kleiderwerken ‚Stein­ adler‘ in Liezen. Eigentlich hätte ich Chemielaborant werden wollen. Das hat mich immer interessiert. Darauf gekommen bin ich durch den Herrn Wildmeister Franz Gressenbauer, der in der Nähe von uns gewohnt hat. Er hatte oft Herren von der VÖEST bei sich, die in Spital am Pyhrn auf die Jagd gingen. Diese habe ich als elegante Herren kennengelernt. Zu meinem Vater hat der Direktor Friedrich Vogel, er war ein netter und feiner Herr, gesagt: ‚Siegerl, wir bringen deinen Sohn in der VÖEST unter.‘ Ich hätte dort Chemielaborant werden sollen. Doch ich bin bei der Aufnahmsprüfung mit Bomben und Granaten durchgefallen. Jedenfalls war ich nicht geeignet. Ich habe dann zu meinem Vater gesagt: ‚Ich bitte höflich, ich will doch nicht Laborant werden. Für Metallarbeit habe ich kein Talent.‘ Der Vater hat mich gefragt, was ich eigentlich werden wolle. Ich habe ihm gesagt, ich wolle Kaufmann werden, wie mein Großvater. Während der Ferien im Sommer ist der Vater in die Schweiz als Bergführer gegangen. In dieser Zeit ist meine Mutter mit uns nach Donnersbachwald gefahren. Mein Bruder Dietmar und meine Schwester Sigrid waren auch mit. Der Großvater mütterlicherseits hatte dort ein kleines Greißlergeschäft. Es war Treffpunkt der Holzknechte und Wilderer, alle Jäger haben das Geschäft gemieden. Der Opa war ein großer Nazi und ein Freund der Wilderer. Wenn die Holzknechte aufgehört haben mit der Arbeit, sind sie zu ihm gekommen. Mit sieben Jahren habe ich dort meine ersten Fe50

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

rien verbracht und direkten Kundenkontakt gehabt, den ich heute noch liebe. Während des Tages hat der Großvater sich im Geschäft auf mich verlassen. Ich habe genau gewusst, wie die Kassa aufgeht, und ich habe alles aufgeschrieben in die Bücher. Ich habe Grieß und Mehl gewogen und die Kabanossi-Würste für die Holzknechte aufgeschnitten. Der Opa hat immer gesagt: ‚Nicht vergessen, den Daumen wiegen wir mit. Du hast eh nicht so schwere Hände.‘ Bei dieser Waage handelte es sich um eine Plateauwaage, eine mechanische Waage, eine sogenannte Dauerwaage. Er sagte immer zu den Kunden: ‚Nehmen wir zwei Papier, damit wir die Budel nicht anpatzen.‘ Zu mir hat er oft gesagt: ‚Herwig, dass du mir nicht den Daumen vergisst.‘ Wir haben Grieß und Mehl, das nur in großen Säcken geliefert wurde, in kleine Sackerl eingewogen, wobei wir zuunterst einen Karton legten. Bei schlechtem Wetter haben wir diese Kartons zugeschnitten. Der Karton wog auch wieder ein paar Deka. ‚Damit das Sackerl nicht ausreißt‘, hat der Opa gesagt, ‚brauchen wir die Kartons.‘ Aber die Sackerl wurden auch schwerer dadurch. Von Liezen brachte man uns die Wurst und andere Lebensmittel. Der Bäcker ist von Donnersbach gekommen, er war der Casanova des Rayons. Die Holzknechte waren in der Arbeit, er hat die Semmeln und gute Butterstriezel gebracht. Mit den Frauen der Holzknechte verstand sich der Bäcker gut, er dürfte sie auch zu Hause besucht haben, während die Männer in der Arbeit waren. Beim Großvater habe ich den Kaufmannsberuf erlernt. Er war ein wunderbarer Mensch, es hat durchgeschlagen, was er mir beigebracht hat. Ich habe gelernt, in kleinen Dimensionen zu denken. Von der Sense über den Rechen bis hin zu den Lebensmitteln haben wir eigentlich alles im Geschäft gehabt, was man sich vorstellen kann. Eine Spezialität damals waren Haselnussdreiecke mit Schokolade. Wenn die Frauen mit ihren Kindern zum Einkaufen gekommen sind, haben sie das gekauft. Jede Familie hat ein Buch gehabt mit den Schulden. Denn viele konnten, da sie wenig Geld hatten, ihre Einkäufe nicht bezahlen und ließen sie aufschreiben. Am Monatsletzten sind die Frauen gekommen und 51

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

haben die Schulden gezahlt. Die Holzhacker, unter ihnen waren viele Wilderer, haben ein zweites Buch geführt, das durfte die Frau nicht sehen. Denn in diesem sind die Schnapsstamperln und ähnliche Getränke wie Bier gestanden, die der Mann während des ganzen Monats getrunken hat. Mich haben sie dort nicht Herwig genannt, sondern entweder Mandi oder Bübl. So ein Holzknecht hat zu mir gesagt: ‚Du, Bübl, hol dem Vatern sein Buch.‘ Dann habe ich schon gewusst, jetzt will er ein Bier oder einen Schnaps. Diese Getränke kamen in sein Buch, die Jause kam in das Buch der Frau, die von dem anderen Buch aber nichts wissen durfte. Auf d‘ Nacht musste ich das Geschäft zusammenräumen, das war während des Winters meist um ½ 7 oder 7 Uhr, im Sommer auch später. Wenn ich zusammengeräumt habe, hat sich der Opa mit seinen alten Kriegskollegen in sein Gartenhaus bei dem kleinen Ententeich gesetzt. In diesem waren Fahnen drinnen, die zu gewissen Geburtstagen immer gehisst worden sind, zum Beispiel zu Adolf Hitlers Geburtstag. Wenn schönes Wetter war, ist der Großvater auch draußen gesessen im Gartenhaus und hat gemalt. Er ist ein begnadeter Maler gewesen. Er hat Hirsche und andere Tiere gemalt. Wenn der Vater wieder vom Bergsteigen zurückgekommen ist, sind auch wir nach Spital am Pyhrn gefahren. Der Aufenthalt in Donnersbachwald war die Basis für meinen späteren Beruf. Ich selbst war als Bergsteiger ein Feigling. Ich bin gerne Ski gefahren, ich habe Tourenfahren geliebt. Im Tiefschnee habe ich das Skifahren gelernt. Bei Skitouren habe ich meinen Vater oft begleitet. Wir waren viel im Toten Gebirge unterwegs, aber auch im Gesäuse, denn mein Vater war eine Zeit lang Bahnwärter in Gstatterboden. Er hatte vier Tage Dienst, die er dort verbracht hat, die anderen drei Tage hatte er frei und war bei uns in Spital am Pyhrn. Zu zweit haben sie Dienst gemacht. Im Winter war es so, dass der Vater die Ski mitgenommen hat und wir, wenn wir zu Besuch waren, im Gesäuse Ski gefahren sind. Genächtigt haben wir in diesen Tagen bei meinem Onkel, der dort Revierjäger war und ein wunderschönes Jagdhaus bewohnt hat. 52

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Mein Vater hat bald eingesehen, dass ich nicht zum Bergsteigen geboren bin. Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich Bergsteiger werde. Der Vater hat daher einmal gemeint, ich wäre ein besserer Fußballer als ein Bergsteiger. Dass ich gut Fußball spielen kann, hat man mir in Admont in der Schule schon gesagt. Ich durfte daher mit den Größeren manchmal mitspielen. Im Skifahren war ich nicht so gut. Ich wäre kein Rennfahrer geworden, aber im tiefen Schnee fuhr ich nicht schlecht. Darauf war der Vater mächtig stolz, daher hat er mich auch zu Skitouren überall mitgenommen.“

Siegerl als Bergführer und Ziehharmonikaspieler Herwig borgt mir eine Mappe mit Artikeln und anderem über Siegerl und erzählt weiter: „Mein Vater ist Bergsteigen gefahren, um Geld zu verdienen, damit ich in Admont in die Schule gehen kann. Der Vater hat immer seine Ziehharmonika auf Reisen mitgenommen, auch in die Schweiz. Er hat mit seinen Kameraden im Zelt geschlafen. Am Abend waren sie in Wirtshäusern, oft waren sie von den Wirten dazu eingeladen worden. Man hat ihnen gesagt: ‚Wenn Ihr kommt, habt Ihr alles gratis.‘ Der Vater ist mit der Ziehharmonika aufgetreten, die Gäste haben ihre Unterhaltung gehabt und der Vater ein gutes Essen. Er hat meist das Frühstück und das Abendessen bekommen, dafür hat er musiziert. Seine Ziehharmonika hat er von Südtirol heraufgeschmuggelt, und zwar in seinem großen Rucksack. Er hat seine Bergsteigersachen und auch einen Teil der schmutzigen Wäsche in einem Paket nach Hause geschickt. So hatte er Platz im Rucksack für die Ziehharmonika, über die er Schmutzwäsche breitete. Wenn die Zöllner gefragt haben, was er im Rucksack habe, hat er gesagt, was halt ein Bergsteiger so alles habe, und hat den Rucksack aufgemacht. Die Zöllner haben kurz die Nase hineingesteckt und ob des Schmutzwäschegeruches waren sie gleich wieder weg. Einmal ist er mit einem Bergsteigerkollegen aus Tirol, der eine Beiwagenmaschine hatte, nach Südtirol gefahren. Im Beiwagen war ein Sitz, den haben sie ausgebaut 53

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

und haben anstelle des Sitzes den Ziehharmonikakoffer gegeben. Auf diesem ist der Vater gesessen. Das hat ausgesehen, als ob der Vater auf dem Beiwagensitz sitzt. Die Zöllner haben gefragt: ‚Haben die beiden etwas zu verzollen?‘ ‚Nein, natürlich nichts‘, haben sie geantwortet. Als sie in Innsbruck waren, haben sie den Koffer mit der Ziehharmonika wieder ausgebaut. Mit dem Zug und der Ziehharmonika ist der Vater dann nach Hause gefahren. Der Vater hat dies alles neben seiner Arbeit bei der Bundesbahn getan. Er hat sehr viele Überstunden gemacht und sehr viele Nachtdienste, damit er Urlaubstage für drei Monate sammeln konnte. In diesen drei Monaten hat er für die Bergsteigerschule Innsbruck Leute in die Berge geführt. So ist er viel unterwegs gewesen. Er hat in jungen Jahren als Jahrgangsbester die Bergführerprüfung gemacht. Während des Krieges war er bei den Gebirgsjägern. Über den Krieg hat der Vater nie viel erzählt. Wir wussten nur, weil er gut bergsteigen konnte, war er bei den Gebirgsjägern. Er war viel in den Dolomiten unterwegs.“

Kletterer auf den Kirchturm und Musikant Als Schüler ist der Patzl Siegerl außen auf der Kirchenmauer hinaufgekraxelt in die Glockentürme, das war ein Lausbubenstück. Der Mesner hat ihn vertrieben. Seine Lehrerin (die ihm zur Überreichung des ‚Grünen Kreuzes‘ stolz gratuliert hat) und der Direktor haben ihn ordentlich gestraft, auch der Pfarrer. Er musste in der Ecke stehen und anderes. Sein Vater und seine Mutter ließen ihn zur Strafe Erdäpfel klauben. Während seine drei Schwestern schon frei hatten, musste er als einziger Bub noch arbeiten. Eine Schwester von ihm lebt noch, sie ist 93 Jahre alt. Sie war mit einem Südtiroler verheiratet, der in Liezen bei der VÖEST beim Hochofen gearbeitet hat. Herwig erzählt: „Der Vater hat gerne musiziert, gemeinsam mit dem Ernst Schmeiss, er hat Gitarre gespielt, und mit dem Berger Peter. ‚D‘ Warschenecker‘ haben sie sich genannt. Alle drei sind 54

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Abb. 2: Patzl Siegerl als Ziehharmonikaspieler auf der Wurzeralm.

leider schon verstorben, der Vater starb zuletzt. Besonders gern spielten die drei beim Ball im Gasthof Grundner. Da der Vater schon zehn Jahre bei dem Ball gespielt hat, hat sich der Grundner etwas einfallen lassen und hat sie als die ‚Drei Mexikaner‘ angekündigt. Die Leute sind gekommen und waren neugierig, welche Musik das ist. Dabei sind die ‚D‘ Warschenecker‘ dort gesessen, sie hatten mexikanische Hüte auf. Das war in den 1960er-Jahren, als der Grundner noch den großen Saal für solche Veranstaltungen in einem hinteren Gebäude hatte. Vor allem Tanzmusik hat der Vater mit seinen Freunden gespielt, aber ohne Verstärker. Die sind erst in den 1970er-Jahren aufgekommen, man hat allmählich begonnen, Mikrofone zu verwenden. Die drei Musiker hatten bei Hochzeiten einen interessanten Werbeslogan: ‚Meine Damen und Herren, wir spielen hier bei einer Hochzeit. Wir möchten sie aber darauf aufmerksam machen, dass wir auch bei Scheidungen spielen.‘ Das muss irgendein Journalist gehört haben und diesen Spruch in einer Zeitung verbreitet 55

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

haben. Der Postenkommandant Hans Mayr hat diesen Werbeslogan in der Zeitung gelesen und ist damit zum Gasthof Alpenrose hinaufgegangen und hat gesagt: ‚Schaut‘s her, hier in der Zeitung ist der Siegerl zitiert. Hier schreibt einer über die Tanzkapelle in Spital am Pyhrn. Er war als Gast bei einer Hochzeit und hat gehört, wie ein Musiker, ein Bergführer, gesagt hat, dass sie nicht nur bei der Hochzeit, sondern auch bei der Scheidung spielen.‘ Später hat der Vater mit dem Fritz Seidl gespielt. Wenn die beiden gespielt haben, haben sie sich meist als Luis Trenker-Duo vorgestellt. Der Vater hat dazu gesagt: ‚Ich bin der Luis und er der Trinker.‘“

Mit dem Millionär auf dem Matterhorn Die Liebe zu den Bergen und zu den Menschen zeichnet Patzl Siegerl aus. Herwig erzählt, während er mir Fotos zeigt: „Der Vater war auch der erste Flugretter in dieser Gegend. Auf diesem Bild ist der Onkel Karl, so habe ich zu ihm gesagt, zu sehen. Mit dem ist der Vater einige Male auf den Montblanc gegangen. Auch auf das Matterhorn hat der Vater ihn hinauf ‚gezogen‘, ebenso einen amerikanischen Millionär. Dieser war sehr reich, er hat Konservendosen erzeugt. Er hat sich eingebildet, das Matterhorn erklimmen zu müssen. Seine Tochter ist zu meinem Vater und seinem Freund, dem Breitenbaumer Franz, gegangen und hat gesagt: ‚Schaut euch meinen Vater an, er hat 110 Kilo, wenn Ihr den auf das Matterhorn bringt, bekommt Ihr 5.000 Schilling.‘ Das war ein wahnsinniges Geld damals in den 1950er-Jahren. Der Vater und der Breitenbaumer Franz haben ihn tatsächlich auf das Matterhorn gebracht. Dort oben mussten sie ihn fotografieren. Drei Monate später ist ein Zusteller zum Vater gekommen und hat eine Kiste mit Konserven gebracht, in denen Corned Beef, Bohnen und anderes Gutes war. So viel hätten wir nicht aufbrauchen können. Einen Teil der Konserven hat der Vater unter seinen Freunden verteilt. Bei den Konserven war eine Zeitung, in der der Millionär abgebildet war. Dabei stand, dass er das Matterhorn mit zwei Bergführern erklommen hat.“ 56

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Freund der Wildschützen „Auch mit den Wilderern gibt es Geschichten“, erzählt Herwig: „Ein Freund von meinem Vater war ein Wilderer. Wenn dieser auf verbotene Weise jagen gegangen ist, hat er dies dem Vater gesagt. Der Vater ist vorausgegangen in die Felsen, hat sich in diesen postiert und geschaut, ob einer mit einem ‚Trottelanzeiger‘ kommt. Das ist der Gamsbart, den der Jäger am Hut hat. Wenn der Vater zu jodeln angefangen hat oder später mit der Lampe Signale gegeben hat, wusste der Wilderer, dass die Jäger kommen.“ Patzl Siegerl hat auch einmal einen Wilderer auf der Arlingalm vor Jägern gewarnt (dies ist in meinem Wildererbuch zu lesen), es war der Neubauer Hans, der Senner auf der Arlingalm. Siegerl erzählte mir: „Mir hat es immer gefallen, wenn die Jäger die Wildschützen nicht erwischt haben. Ich selbst habe nicht gewildert. Mir war es eine große Freude, wenn ich in die Natur gegangen bin, es war für mich das Schönste, ein Reh oder eine Gams zu sehen. Ich hätte sie nicht schießen können, aber mit den Wilderern habe ich sympathisiert. In den 1950er-Jahren war bekannt, dass der Neubauer Hans wildert, er war einer der letzten Wilderer bei uns. Die Jäger haben oft auf ihn gepasst, aber ihn nicht erwischt. Einmal hat der Aufsichtsjäger Freund den Hans gesehen, wie er wildern gegangen ist. Er hat dies sofort dem Jagdbesitzer Hackl und seiner Frau, sie war auch Jägerin, gemeldet. Sie wollten ihn einkreisen. Ich war zufällig in Spital am Pyhrn im Gasthof Grundner, in dem die drei beisammensaßen und sich abgesprochen haben. Ich habe gehört, wie einer von ihnen sagte: ‚Der Hans ist in Richtung Arlingsattel gegangen, den schnappen wir uns.‘ Wie ich das hörte, bin ich sofort mit meinem Moped hinauf zur Bosruckhütte gefahren, habe es dort abgestellt und bin die Rinne zum Einschnitt beim Bosruck in der Nähe des Arlingsattels hinaufgeeilt. Zwischen den Latschen ist der Hans gesessen und hat auf ein Wild gewartet. Ich habe gewusst, dass er dort sitzt, denn dort ist auch der Gamswechsel. Er hat mir dies einmal gesagt, damit ich aufpasse, wenn ich dort gehe, und keine Steine lostrete. Ich sehe den Hans dort sitzen und habe 57

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

gerufen: ‚Hans!‘ Er hat sich sofort gebückt. Darauf ich wieder: ‚Ich bins, der Siegerl! Komm! Jeden Moment können die Jäger da sein, sie wollen dich holen. Geh gleich hinunter auf die Ardningseite!‘ Er ist sofort hinunter zur Ardningalm. Bei dieser hat gerade die Sennerin das Vieh zusammengetrieben. Der Hans hat ihr gesagt, was los sei. Sie hat ihn darauf am Arm gepackt und ist mit ihm hinauf auf den Sattel gegangen. Dabei hat sie geschrien: ‚Du besoffene Sau du, geh hinüber nach Österreich! (R. G.: So haben die Steirer zu Oberösterreich gesagt.) Du säufst wie ein Narr, schau, dass du hinüberkommst.‘ Sie hat ein echtes Schauspiel aufgeführt. Die Jäger sind inzwischen zum Sattel gekommen und haben mit ihren Feldstechern hinuntergeschaut. Sie haben den Hans mit der Sennerin gesehen und sie auch mit ihm schimpfen gehört: ‚Du besoffene Sau! Die ganze Nacht hast du gesoffen!‘ Die Jäger haben nun geglaubt, dass der Hans bei der Sennerin war und er nicht gewildert hat.“ Diese Geschichte belustigte Siegerl. „Mein Vater war immer ein lustiger Bursch“, meint Herwig, „darum hat er sich auch gut mit seinem Schwiegervater vertragen, meinem Opa, dem Kaufmann, bei dem ich gelernt habe und der mir beigebracht hat, wie man falsch wiegt.“

Die alte Bergrettung und der Landarzt Als Sohn des Gemeindearztes von Spital am Pyhrn, Dr. Roland Girtler, und seiner Frau, der Landärztin Dr. Leopoldine Girtler, wuchs ich in diesem von Felsen umgebenen Gebirgsdorf mit meinem Bruder Dieter und meiner Schwester Erika auf. Wir hatten eine aufregende Jugend als Kinder eines Landarztehepaares. Wir erlebten Bauern, die in der Nacht, weil jemand am Bauernhof krank war, die Nachtglocke betätigten, die uns aus dem Schlaf riss. Wir erlebten meine Eltern, wie sie sich abmühten, menschliches Leben zu retten. Und wir erlebten Bergrettungsleute, die zu später Stunde Verletzte vom Berg in die Ordination brachten. Wir sahen aber auch, wie eine alte bäuerliche Kultur so gegen Ende 58

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

der 1950er-Jahre allmählich verschwand. Zu dieser Kultur gehörten autarke Bauern, Holzknechte, Wildschützen, meine Eltern, die Ärzte, die noch meilenweit zu Fuß gehen mussten, um zu den Kranken zu gelangen, und eben auch Bergrettungsleute, die noch ohne Hubschrauber und Geländewagen auskamen, um in Bergnot geratene Bergsteiger retten zu können. Vorab ist festzuhalten, dass der Ort im Gebirge, in dem meine Eltern tätig waren, eine interessante bergsteigerische Tradition hat. Zu dieser gehört auch Alois Rohrauer, der mit dem späteren Bundespräsidenten Karl Renner die „Naturfreunde“ gegründet hat. Über Rohrauer, der zunächst Sensenschmied war, meint Karl Renner in seinem autobiografischen Buch „An der Wende zweier Zeiten“, dass „dort oben“, also in den oberösterreichischen Bergen um Spital am Pyhrn, „ein Geschlecht entstand, das den Stahl nur mit einem Kiesel zu ritzen, mit einem Hammerschlag erklingen zu machen brauchte, um zu wissen, was das Stück taugte ...“. Zum Bergsteigen der Leute vom Schlage eines Rohrauer hält Renner fest: „Gottes freie Natur bestaunt und betet man nicht an, man liebt sie und zwingt sie unter die eigenen Füße.“ Meine Eltern schätzten sich glücklich, diesen Menschen bei Krankheit helfen zu können. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen vermehrt Touristen, Skifahrer und Bergsteiger in diese Gegend. Die Berge verlangten ihre Opfer. Mit diesen hatten meine Eltern viel zu tun, ihre ärztliche Kunst war gefordert. Den heutigen Landärzten stehen schnelle Rettungsautos oder ein Hubschrauber, in denen meist ein Notarzt sitzt, zur Seite und helfen bei der Arbeit. Es bestand daher früher ein enges Verhältnis der Ärzte zu jenen Leuten, die es sich zur Aufgabe gestellt haben, Menschen in Bergnot zu retten, nämlich den Mitgliedern des Bergrettungsdienstes. Auch mein Vater, der alte Landarzt, war aktives Mitglied, er war auch zuständig für das Rote Kreuz im Ort und dessen Rettungsfahrten. Der Umgang mit Verletzten und Toten war Teil des Alltags der Ärzte. Ich erinnere mich an Holzknechte, die bei ihrer schweren Arbeit am Berg und im Wald verunglückten und die von Bergret59

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tungsmännern zu meinen Eltern gebracht wurden. Mein Vater hatte sich darum zu kümmern, mit Vorträgen den Bergrettungsleuten ein gediegenes medizinisches Wissen zu vermitteln. Meine Mutter erzählte, eines Tages hätten Bergrettungsmänner einen Toten auf einer Tragbahre in die Ordination gebracht. Er hatte keine Schuhe an, dies gab ihr zu denken. Erst nach und nach erfuhr sie, dass der Bursche als Wildschütz bei der Jagd nach einer Gams in den Felsen geklettert und dann abgestürzt war. Er hatte bloß Socken an, um keine Spuren zu hinterlassen. Jedenfalls stellte die Ärztin den Tod des unglücklichen Wildschützen fest, er konnte in die Totenkammer gebracht werden. Diese Erzählung meiner Mutter stimmte mit dem Bericht aus der Chronik des Bergrettungsdienstes vom Jahre 1954 überein, in dem es bloß heißt: „Franz Gmeiner, Oberweng, stürzte beim Wildern vom Kleinen Pyhrgas tödlich ab.“ Bergunfälle werden schon um die Jahrhundertwende berichtet. Solche schildert zum Beispiel in seinen „Heimatbildern“ der frühere Wildschütz und Poet Emmerich Grillmayr. Er erzählt unter anderem, dass 1906 der Jäger Josef Kittinger einen am Bosruck tödlich Verunglückten „aus der Wand holte“. Früher dürften es also, wie diese Geschichte andeutet, Jäger gewesen sein, die am Berg Verunglückte bargen. Der heutige, unpolitische „Bergrettungsdienst“ des Dorfes geht auf die „Alpine Rettungsstelle“ zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ eingerichtet worden war. „Diese übernahm“, wie Herr Rädler in seiner Chronik des Bergrettungsdienstes schreibt, „alle Rettungsaktionen und Hilfsmaßnahmen rings um Spital am Pyhrn, und war mit ihren freiwilligen Helfern immer und überall zur Stelle, wo es zu helfen und zu retten galt.“ Die „Alpine Rettungsstelle“ ging nach dem Anschluss in die „Bergwacht“ über. Nach dem Krieg löste man diese aus politischen Gründen auf und gründete 1946 den „Österreichischen Bergrettungsdienst“. Die Gründungsversammlung der Ortsstelle fand im Gasthof Rohrauer vor der Kirche statt. Den Gasthof gibt es heute nicht mehr. Die alten Freunde von der Bergwacht taten sich zusammen, unter ihnen war Patzl Siegerl. Die erste Zeit des Bergrettungsdienstes 60

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

war hart, es gab kaum Geräte, nur zwei Seile, eines mit 30 und eines mit 25 Metern Länge. In diesen Nachkriegsjahren häuften sich die Bergunfälle, denn viele Menschen suchten in den Bergen Erholung und Abwechslung, doch ihre Ausrüstung war schlecht. Das merkten Siegerl und die Leute von der Bergrettung. Aber nicht nur zum Vergnügen stiegen die Leute damals auf die Berge, viele waren auch auf der Flucht, sie wollten in die amerikanische Zone. Einige verunglückten tödlich. Zum Klettern verwendete Siegerl Filz, der auf leichte Schuhe geklebt wurde. Doch dieser Filz nützte sich auf den rauen Felsens bald ab und war schwer aufzutreiben. Siegerl entdeckte im Hauptquartier der Amerikaner in Spital am Pyhrn einen Filz als Schreibmaschinen-Untersatz. Bei einer Vorsprache im Hauptquartier stahl er den Filz und versteckte ihn unter seinem Hemd. So konnte er seine Kletterschuhe erneuern. Der Bergrettungsdienst war eingebunden in das Leben des Dorfes. Für die meisten Dorfbewohner waren die Bergrettungsleute heldenhafte Burschen. Sie veranstalteten ein Kränzchen im Sommer und Faschingsbälle im Winter, an denen der ganze Ort teilnahm. Wie schwierig und gewaltig die früheren Einsätze sein konnten, zeigt auch folgender Bericht: „Ewald Milichovsky, Wagnergehilfe, und Rudolf Ecker, Forstadjunkt, unternahmen in den Morgenstunden des 5. Juli 1947 eine Bergtour: die Durchsteigung der Hallermauern. Eine genaue Route gaben sie nicht bekannt. Beide waren gute Felsengeher und Kletterer. Als sie am Abend nicht von dieser Tour zurückkehrten und es am Tag mehrere schwere Gewitter gegeben hatte, wurde ein Unfall angenommen. Eine Gruppe von vier Mann stieg in den frühen Morgenstunden auf den Pyhr­ gas. Eine zweite Gruppe stieg auf den Scheiblingstein. Der Rest ging auf den Kleinen Pyhrgas und suchte das Winklerkar ab. Am Abend kehrten alle Suchtrupps ergebnislos zurück. Nun ordnete der Landesleiter des Bergrettungsdienstes, Ignaz Treuschitz, Großalarm an. Es wurden die Ortsstellen Linz, Windischgarsten, Bad Hall und Spital am Pyhrn aufgerufen. Im Gasthof Rohrauer wurde das Hauptquartier errichtet und täglich waren mehrere Suchtrupps unterwegs. Nach fünf Tagen wurde diese Aktion ergebnislos ab61

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

gebrochen. Schließlich gelang es dem Bergrettungsmann Franz Hackl aus Spital am Pyhrn, die beiden Vermissten in der Ostwand des Mannsberges tot auf einem Felsplateau zu sichten. Sie wurden nach mühseliger Kletterei und Abseilarbeit geborgen und mit einem amerikanischen Armeewagen in die Totenkammer von Spital am Pyhrn überführt. Als Todesursache wurde vom Arzt Dr. Girtler Tod durch Blitzschlag festgestellt.“ Bemerkenswert ist ein Nachsatz zu diesem Bericht, der auf den Durst verweist, den die Rettungsleute wohl hatten: „Die Nachwehen dieses Großeinsatzes war eine Bergungskostenrechnung einschließlich des Versicherungssterbegeldes von annähernd 3.000 Schilling. Hiebei gab es mit dem Alpenverein als Versicherungsträger viel Schreiberei, da bei diesen Kosten eine Rechnung von 60 Krügel Bier aufschien. Schließlich wurde alles bezahlt.“ Aber nicht nur die am Berg beim Klettern Verunglückten wurden von den Bergrettungsleuten geborgen. Darauf bezieht sich ein Hinweis aus der Chronik: „Albine Breiteneder aus Linz erlitt am Pyhrgasgatterl einen Beckenbruch durch Sturz in den Abort. Die Bergung wurde durchgeführt durch: Rädler, Eibl, Kayr und Rohrmoser.“ Das offene Plumpsklo hatte sichtlich seine Tücken und konnte einen regelrechten Absturz herbeiführen, der den Bergrettungsdienst in Marsch setzte. Auch um diese geborgenen Absturzopfer musste der Landarzt sich kümmern. Folgende Geschichte verweist auf die harte Arbeit als Bergrettungsmann, aber auch auf die einfachen Mittel, mit denen Verunglückte oder Tote zu Tal befördert wurden. Drei Touristinnen wollten im Juli 1956 auf den Großen Pyhrgas gehen. Sie verirrten sich dabei im Nebel. Eines der Mädchen rutschte aus und „stürzte ca. 300 Meter in das hintere Holzerkar ab, wo sie tödlich verletzt liegen blieb“. Eine ihrer Begleiterinnen verletzte sich beim Abstieg schwer. Weiters heißt es dabei in der Chronik: „Um 19 Uhr 30 stiegen Männer des Bergrettungsdienstes und der Gendarmerie zur Unfallstelle auf. Sie konnten wegen starkem Nebel und der bereits eingetretenen Finsternis Rosa Irrmann nicht auffinden. Und waren gezwungen, im Freien zu biwakieren. Bei Morgengrauen setzten 62

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sie die Suche fort und erreichten die Abgestürzte um 4 Uhr früh. Sie war bereits tot. Unter zuerst schwierigen Geländeverhältnissen wurde die Tote zur Holzeralm transportiert. Von dort fuhr sie der Hüttenwirt der Gowilalm mittels Pferdegespann in die Totenkammer nach Spital am Pyhrn. Die andere Touristin Herta Gebeshuber wurde von der Einsatzgruppe zum Arzt nach Spital am Pyhrn gebracht.“ Herr Rädler, der Chronist, verband mit seiner Mitgliedschaft zum Bergrettungsdienst eine hohe Aufgabe. Dies zeigt die von ihm geführte Chronik. Er litt auch mit den Menschen, die am Berg ihr Leben ließen. Davon kündet diese Notiz: „Am 30. Mai 1954 wurde der Schustermeister Georg Tyrna aus Windischgarsten als vermisst gemeldet. Alle in den darauffolgenden Tagen durchgeführten Suchaktionen des BRD (Bergrettungsdienstes) blieben erfolglos. Er wurde erst nach vier Jahren am 7. Mai 1958 als Skelett im Gebiete des Dicking aufgefunden. Als Todesursache konnte einwandfrei eine Vergiftung durch das Pflanzenschutzmittel E 6O5 festgestellt werden. T. war Volksdeutscher und dürfte aus Schwermut wegen des Verlustes seiner Heimat und seines Besitzes Selbstmord verübt haben.“ Ich erinnere mich an den Transport dieses Skelettes durch Bergrettungsmänner – unter ihnen war auch Patzl Siegerl – auf einem Karren. Der Chronist war stolz auf die Leistung der Bergrettungsmänner, denn in der Chronik findet sich ein Zeitungsausschnitt aus dem Jahre 1948. In diesem heißt es: „Ehrung verdienstvoller BRDMänner. Der Bundespräsident hat drei Spitaler BRD-Männern, Peter Rohrmoser, Siegfried Patzl und Hubert Trojer, die Silberne Medaille am Roten Bande für Verdienste um die Republik Österreich verliehen.“

Der Mut der Landärztin Besonders schwierig war es für die Ärzte, wenn Verletzte oder Erkrankte in unwegsamem Gelände auf Rettung warteten. Meine Mutter war eine mutige Dame, die sich nicht scheute, sich mit 63

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Bergrettungsleuten auf den Weg in die Berge zu machen. Folgende Geschichte handelt zu einer Zeit, als Patzl Siegerl Einsatzleiter der Bergrettung Spital am Pyhrn war. Dazu erzählte mir der frühere Bergrettungsmann Dieter Hoffmann, ein Freund von Siegerl, dies: „Es war im Jahre 1959. Ich war damals mit meinen Geschwistern in den Weihnachtsferien auf der Oberen Gammeringalm. Auf der Unteren Gammeringalm waren zur selben Zeit ein gewisser Rudi und seine Freundin. Die beiden waren nicht verheiratet. Auch sein Sohn war dabei. Oft haben wir unsere Hüttennachbarn besucht und mit ihnen gemeinsam gefeiert oder sie sind zu uns heraufgekommen. Einmal, es war spät am Abend, kam der Sohn von Rudi ganz aufgeregt zu unserer Hütte gelaufen und hat gesagt, ich solle schnell kommen, ich solle dem Vater helfen. Die Frau sei krank. Ich bin zum Rudi hinuntergerannt. Es war finster, es lag viel Schnee. Wie ich in die Hütte gekommen bin, habe ich die Frau im Vorraum der Hütte auf einer Pritsche liegen gesehen. Die Hüttenwand neben ihr war durch Finger mit Blut verschmiert. Sie wird das in ihrer Verzweiflung gemacht haben, sie dürfte einen Blutsturz gehabt haben. Ich war furchtbar erschrocken, wie noch nie in meinem Leben. Man kann sich das nicht vorstellen. Ich bin gerannt wie um mein Leben. So geschwind ich konnte, bin ich zum Patzl Siegerl, dem Mann vom Bergrettungsdienst, der damals als Eisenbahner bei der Eisenbahnstation Linzerhaus wohnte. Inzwischen hat der Rudi die Frau auf eine ausgehängte Stalltür gelegt und versucht, sie auf dieser in das Tal zu schleppen. Er ist nicht weit gekommen, denn die Gräben waren zugeweht und in diesen wäre er versunken. Später hat die Frau Doktor gemeint, gerade dadurch hätte der Mann der Frau das Leben gerettet, eben durch die Kälte, in der sie liegen musste. Die Kälte hätte den Kreislauf gebremst, wodurch sie weniger Blut verlor. Sie lag nun unterhalb der Hütte bei den ersten Bäumen. Ich kam also zum Patzl Siegerl. Der hat mich weiter zum Franz Gressenbauer, dem Wildmeister, geschickt. Bei diesem war gerade ein Jagdgast von der VÖEST. Dieser hatte ein Auto, einen VW Käfer. Ich war so aufgeregt, dass ich bloß gejappt habe. Der Gressenbauer hat sehr überlegen getan. 64

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In so einem Fall, überhaupt wenn ein Jagdherr dabei war, sprach er nach der Schrift. Er meinte, ich solle mich beruhigen und darüber nachdenken, was ich überhaupt sagen wolle. Etwas ruhiger erzählte ich dann die Geschichte mit der kranken Frau. Der Jagdgast aus Linz hat sich sofort bereit erklärt, mit seinem Auto in den Ort zu fahren, um Bergrettungsleute zu verständigen. Es war ein Glück, dass der Eibl Ludwig gerade mit einem LKW, mit dem er Holz geführt hat, am Hauptplatz stand. Zufällig standen auch ein paar Bergrettungsleute herum. Denen teilte der Jagdgast mit, was passiert ist. Weil der Eibl mit dem LKW da war, konnte man blitzartig starten. Nur den Ackja haben die Bergrettungsleute noch geholt und vielleicht etwas Wärmeres zum Anziehen. Gute Schuhe hatte man im Winter ohnehin an. Der Herr Doktor konnte nicht mit, weil er gerade einen Hexenschuss hatte. So musste die Frau Doktor alleine mit. Sie ist mit dem Rettungsauto, das sie gleich verständigt hatte, zum Pflegerteich gefahren. Mit dem Auto fuhr man damals noch bis zum Haus des Jägers Kerschbaumer am Beginn des Weges zur Wurzeralm. Dort konnte man parken. Dann sind wir, die Frau Doktor und die Bergrettungsleute, hinauf auf die Gammering. Es war ein schwieriger Marsch, besonders für die Frau Doktor, die mit uns Bergrettungsleuten mithalten musste und konnte. Sie erzählte mir, sie habe ein ‚Pervitin‘ geschluckt, so eine Tablette, wie sie auch der Nanga Parbat-Bezwinger Hermann Buhl im Himalaya eingenommen hat. Solche Sachen hat die Frau Doktor gerne erzählt, sie hat ja alles gesagt, was ihr so in den Sinn gekommen ist. Sie war eine sehr temperamentvolle Frau! Ein bisserl dürfte sie sich wegen der Dunkelheit gefürchtet haben, meinte zumindest der Reiter Toni. Denn er ist uns entgegengekommen. Die Frau Doktor, die vorneweg marschiert ist, hatte zwar auch eine Stirnlampe am Kopf, aber sie hat ihn nicht gleich erkannt. Sie hat gerufen: ‚Wer sind Sie? Hier ist die Frau Doktor Girtler!‘ Sie war froh, dass es der Reiter Toni war. Wie wir auf die Gammering kamen, haben wir die Frau ein Stück vor der Alm auf dem Brett, der ausgehängten Stalltür, liegend gefunden. Der Rudi war bei ihr. Die Frau Doktor hat ihr gleich eine Spritze 65

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verpasst, in die Vene hinein. Ich kann mich erinnern, wie die Frau Doktor den Arm der Frau ausgelassen hat, dass dieser wie leblos zur Seite fiel. Es hat ausgeschaut, als ob die Frau schon tot wäre. Wir haben nun die Frau im Ackja zu Tal gebracht. Mit dem Rettungsauto, das unten gewartet hat, wurde sie in das Krankenhaus nach Rottenmann eingeliefert. Die Frau Doktor hatte bestimmt, dass man sie dorthin bringt. Nicht nach Kirchdorf, das hätte bei den winterlichen Straßenverhältnissen länger gedauert. Die Ärzte im Krankenhaus sollen gesagt haben, wäre die kranke Frau eine Viertelstunde später eingelangt, sie wäre gestorben. Der Rudi hat seine Freundin im Rettungsauto begleitet. Am nächsten Vormittag habe ich ihn wieder getroffen. Er hat berichtet, dass die Frau über dem Berg sei. Jedenfalls hat die Frau Doktor dabei viel geleistet. Sie war fast schneller als die Bergrettungsleute bei der Kranken. Sie ist gelaufen wie ein Schneider.“ Und die Lokalzeitung „Kremstal-Bote“ brachte dazu unter der Überschrift „Ärztin und BRD im Einsatz“ eine spannende Meldung, die gut die vorherige Erzählung ergänzt: „Am 3. Jänner 1959 wurde um ca. 19 Uhr der hiesige BRD in höchster Eile zur Hilfe gerufen. Auf der Gammering hatte eine Frau einen Blutsturz erlitten. Es handelte sich bei der Lebensrettung um Minuten. In kürzester Zeit waren die Bergrettungsmänner einsatzbereit und wurden mit einem Privatauto zum Pflegerteich gebracht. Inzwischen brachte das Rettungsauto auch die Ärztin Dr. Leopoldine Girtler in Vertretung ihres erkrankten Gatten zum Pflegerteich und diese machte sich ganz alleine in der Nacht auf den Weg zur Gammering. Auch als sie dann am Draxlanger von den BRD-Männern eingeholt wurde, hielt sie tapfer mit jenen Schritt, und so war die Rettungsmannschaft in äußerst kurzer Zeit bei der Erkrankten. Dies noch dazu bei ziemlich hohem Schnee, sodass die Helfer bis zu den Hüften darin versanken. Nachdem die Kranke behandelt und versorgt war, wurde sie mit dem Rettungsschlitten zu Tal gebracht, wo schon das Rettungsauto bereitstand und sie in das Rottenmanner Spital brachte. Nach Aussage des dortigen Arztes wäre eine halbe Stunde später jede Hilfe umsonst gewesen. Uneinge66

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schränktes Lob und Dank gebührt unserer Spitaler Ärztin und den BRD-Männern, die derart rasch und einsatzbereit den Dienst am Nächsten üben und alles daransetzen, um in Gefahr befindliches Menschenleben zu retten.“ Die Ärztin errang durch solche Einsätze einiges Ansehen bei den Männern der Bergrettung. Auch sonst waren der Arzt und die Ärztin eingebunden in die Rettungsaktionen, denn der auf dem Berg Verletzte wurde, wenn er in das Tal gebracht wurde, zu den Ärzten gebracht. Meine Eltern entwickelten im Laufe der Zeit einen guten Blick für Verletzungen oder für den körperlichen Zustand des Verunglückten. Ihre Erfahrung war groß, sie konnten helfen, auch ohne komplizierte Geräte. Einmal meinte meine Mutter, die Patzl Siegerl sehr schätzte, sogar: „Wenn die jungen Ärzte heute keine Apparate, Geräte und Maschinen haben, sind sie ganz hilflos.“ Ähnlich dürfte es sich beim Bergrettungsdienst verhalten.

Die hohen Auszeichnungen des Bergrettungsmannes Siegfried Patzl Insgesamt hat Siegerl an 800 Bergungen teilgenommen, die meisten hat er selbst geleitet. Er erinnert sich an 49 Tote. Die wohl traurigste Bergung war die am Dachstein zu Ostern 1954. Zehn Heilbronner Kinder und ihre drei Lehrer waren trotz Warnungen in Richtung Gjaidalm aufgestiegen. Ein Wetterumsturz nimmt ihnen die Sicht, sie irren herum, kommen nicht weiter und erfrieren. Man findet sie nicht. Nach ein paar Tagen wird Patzl Siegerl von der Landesleitung des oberösterreichischen Bergrettungsdienstes beauftragt, eine Gruppe aus tüchtigen Bergrettungsleuten für die Suchaktion zusammenzustellen. 700 Freiwillige, darunter über 300 Bergrettungsmänner, sind tagelang auf der Suche. Am neunten Tag findet man die ersten Toten. Die letzten kommen erst nach sechs Wochen ans Tageslicht. Für Siegerl und die anderen Bergsteiger sind es erschütternde Tage. Sie leiden mit den Eltern der toten Kinder. 67

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Für seine Leistungen als Bergrettungsmann wird Siegerl 1958 vom österreichischen Bundespräsidenten mit der Silbernen Verdienstmedaille belohnt. 1971 erhält Siegerl das „Grüne Kreuz“ des Alpenvereins, die höchste Auszeichnung, die dieser zu vergeben hat. Siegerl ist der dritte Oberösterreicher mit diesem Ehrenzeichen. In der Ehrenurkunde heißt es: „In dankbarer Anerkennung für vielfache, unter Lebensgefahr vollbrachte Leistungen. Im Dienste der bergsteigerischen Kameradschaft wurde Herrn Siegfried Patzl das 1923 für besondere alpine Rettungstaten gestiftete Alpenvereinsehrenzeichen für Rettung aus Bergnot verliehen.“ In der „Österreichischen Bergsteiger-Zeitung“ heißt es zu dieser Auszeichnung: „Der Österreichische Alpenverein hat dem Bergund Skiführer Siegfried Patzl aus Spital am Pyhrn die höchste Auszeichnung für Lebensrettung aus Bergnot, unter wiederholtem Einsatz des eigenen Lebens, verliehen. Bergführer Patzl war bisher an 285 Bergrettungsaktionen beteiligt und hat im Rahmen dieser Einsätze 21 Lebensrettungen aus Bergnot vollbracht. Die AlpenvereinsSektion Spital am Pyhrn, in der Patzl seit 30 Jahren mitarbeitet und auch die Jungmannschaft gründete, bereitete dem Ausgezeichneten am 6. März 1971 im Sporthotel Gösweiner in Spital am Pyhrn einen würdigen Ehrenabend, an dem mehr als 120 Bergführer und Vertreter des Landes, des Bezirkes Kirchdorf an der Krems, der Gemeinde Spital am Pyhrn und vieler Körperschaften teilnahmen. Für den in letzter Stunde verhinderten Sachwalter für Bergrettungswesen im ÖAV, Oberschulrat Prof. W. Mariner (Innsbruck), nahm Sektionsvorstand Dipl.-Ing. Anton Eder die Ehrung vor und heftete Siegried Patzl die hohe Auszeichnung an die Brust. Dipl.-Ing. Eder fand auch die richtigen Worte zu dieser verdienten Ehrung, arbeitete er doch seit Jahrzehnten mit Patzl in der Sektion zusammen. Aus den vielen Glückwunschansprachen des Festabends erklang immer wieder das ‚Lied vom braven Manne‘. Volksmusik, Gesang und Mundartgedichte umrahmten die schöne, bergkameradschaftliche Feier.“ In der „Mappe der Menschlichkeit“, die früher an Bahnhöfen aushing und auch an Schulen verschickt wurde, heißt es über die Ehrung: „‚Wenn ich weiß, dass jemand in Not ist, dann frage ich 68

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nicht viel und steige auf‘, sagt Siegfried Patzl einfach, als wenn es immer so einfach wäre. Er ist ein Vorbild der Jugend.“ In einem anderen Artikel einer leider unbekannten Zeitung ist zu lesen, dass Patzl Siegerl, der 29 Jahre lang Einsatzleiter des Bergrettungsdienstes war, meinte, er sei mit der Gefahr aufgewachsen. Patzl, so ist zu lesen, liebte die Berge und ist heute noch (1971) auf allen Gipfeln der Alpen zu Hause. 85 Viertausender, zehnmal das Matterhorn und zwölfmal der Montblanc wurden von ihm neben vielen anderen Bergen bestiegen. Unter denen, die Patzl Siegerl bei dieser Feier im März 1971 ehren, ist auch der berühmte Abt von Admont, Koloman Holzinger. Er hält eine schöne Rede. Abt Holzinger, der ein echter Herr war, der gerne per Autostopp durch die Gegend fuhr und in der Spitaler Konditorei Kemetmüller einkehrte, hatte größte Sympathien für Bergsteiger von der bescheidenen Art des Patzl Siegerl.

Das Mundartgedicht – der Brief der alten Lehrerin Unter den Dokumenten und Berichten, die Patzl Siegerl sorgsam in einer Mappe aufbewahrt hat und die mir von seinem Sohn Herwig überlassen wurde, findet sich ein wunderbares Mundartgedicht von Frau Hermine Schweighofer. Auszugsweise möchte ich daraus ein paar Zeilen hier wiedergeben: An so an schönen Tag wia heut, Wo sie a ganza Ort mitgfreut, an solchan tuats in unsan Leb‘n wirkli nur ganz selten geb‘n. Denn wia‘s hiatzt g‘sehn habts und g‘hört, hams heut den Patzl Siegerl g‘ehrt. Ja, will wer‘s Greane Kreuz erringa, muaß a scho a große Leistung bringa. Neunazwoanzg Jahr wird‘s hiatzt denn glei, 69

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

dass er beim Bergrettungsdienst is dabei. Beim Alpenverein ist er nu länga, Scho seit der Schulzeit tua i‘s denka. … Sei erste Bergung war sogar scho im dreiavierzga Jahr, wo si am Bosruck hat a Soldat vastieg‘n und in der Frauenwand is hänga blieb‘n. Mit drei Mann is a g‘start, dö Bergung war nu richtig hart. Als erste Bergung war dös a schweres Stück, denn der hat hiefür kinna und net zrück, dann war‘s scho finsta, koane gscheit‘n Schua, als Beleuchtung a alte Stalllatern nur, so san‘s em in dö Söckö aufikräult und ham den Bursch‘n obagseilt. Sie ham an ganz guat obabracht, dös hats alle dann recht glückli gmacht. Über die Frau vom Siegerl heißt es in dem Gedicht schließlich: Nur oa Mensch is wohl manchmal arm, dös is sei Frau, wenn sie dahoam, wann er oft Bergtour‘n untanimmt – net woaß, oba wieda hoamzua kimmt. Hat si‘ obitoan, vor Angst oft g‘rehrt, wanns zehn, zwölf Tag vo eahm nix hört. Damals woa ja do ohr Mo Am Matterhorn und am Montblanc, da is holt dann a so weit gwen, sie hat si‘ scho als Witwe gsehgn, und hat studiert, was soll i alloa mit unsere drei Kinda toa? Und i woaß, dawei er zhöchst auf an Berg steht, 70

2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

dass sie für eahm recht innig bet‘: O Herrgott, tua mia mein Mann dahalt‘n, dass er nit eifallt in a Gletschaspalt‘n. Lass nirgends a Lawin ogeh‘, beschütz man, Herr, i bitt recht sche. Dass‘n nia üba an Fels‘n obikeit. Für mi wa fort mei größte Freud, Herrgott, i hab mein Mann so gern, I kunnt do nia mehr glückli werd‘n. A so a Weiberl gibt‘s koa zweit‘s. Ihr g‘hörat wohl dös golda Kreuz! Dieses liebe Gedicht von Frau Schweighofer zeigt die Sympathie der Bewohner seines Gebirgsdorfes für ihren Patzl Siegerl. Mit einigem Stolz zeigte er mir einmal einen Brief, den ihm seine alte Lehrerin geschrieben hat (auch dieser Brief befindet sich unter den Schriften, die mir Herwig gab). Die heute alte, früher sehr strenge Lehrerin hatte erfahren, dass Siegerl mit dem „Grünen Kreuz“ geehrt wurde. In ihrem Brief heißt es: „Lieber Herr Patzl! Aus einer heutigen Zeitungsnotiz las ich, dass Sie durch Ihre großen Verdienste um die Bergrettung mit der Auszeichnung des Grünen Kreuzes geehrt wurden. Zu den vielen Gratulationen, die Ihnen zukommen, möchte auch ich nicht fehlen, Ihnen zu dieser Auszeichnung zu gratulieren. Ich habe sie noch als begabten und aufmerksamen Schulbuben in Erinnerung. Und freue mich besonders, dass aus den Reihen meiner einstigen Schüler ein so tapferer und vorbildlicher Mensch hervorgegangen ist. Ihre einstige Lehrerin Luise N.“ Siegerl meint dazu zu mir: „Darüber habe ich mich sehr gefreut. Diese Lehrerin haben wir gefürchtet. Den Teufel hätte man nicht mehr fürchten können. Aber wie ich diesen Brief bekommen habe, da habe ich nicht glauben können, dass es so etwas gibt. Gefreut habe ich mich jedenfalls sehr.“

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2. Patzl Siegerl – Bergsteiger und Bergretter

Die alten Bergretter Ich habe die Geschichte des Patzl Siegerl, des alten Bergrettungsmannes und Bergsteigers, gebracht, um diesem edlen Herrn, der voll der Eigenwilligkeit war, ein Denkmal zu setzen. Sein Sohn Herwig hat den Pioniergeist des Vaters, der in die Berge auf schwierigen Pfaden stieg, geerbt. Als Spezialist für Sportschuhe hilft er Menschen mit Fußproblemen, dass auch sie sich an Bergwanderungen erfreuen können. Patzl Siegerl war ein klassischer Bergrettungsmann, der noch viel zu Fuß und ohne Geländeauto unterwegs war. Er und seine Kameraden waren es auch, die meinen Vater, den alten Landarzt, und meine Mutter, die alte Landärztin, begleitet haben, wenn es darum ging, verletzten Menschen zu helfen. Patzl Siegerl gehört zu einer alten Bergsteigerkultur, für die es typisch war, mit wenig Mitteln Großes zu leisteten, sei es, dass sie eine Stalllaterne mit einer Kerze nahmen, um im Dunkeln nach einem in den Felsen Abgestürzten mit Erfolg zu suchen, sei es, dass sie mit einem einfachen Seil jemanden aus Bergnot retten konnten.

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3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger Vorgeschichte Bei meinen Wanderungen oder Radtouren nach Oberweng, einem hoch gelegenen Weiler bei Spital am Pyhrn am Fuße des Pyhrgas, kehre ich regelmäßig bei meinem Freund Erwin Degelsegger und seiner Frau Erna ein. Von ihrem Haus hat man einen prachtvollen Ausblick auf die Berge des Toten Gebirges. An manchen schönen Sommertagen sieht man weit zu den Gipfeln und schroffen Zacken, die dieses Gebirge kennzeichnen. Man sieht aber auch in das Windischgarstner Becken, das offen daliegt und sich hin zum Sengsengebirge erstreckt. In Oberweng leben Gebirgsbauern, deren Kühe auf den Wiesen weiden. Zur Zeit meiner Kindheit nach dem letzten Krieg erlebte ich hier eine alte Bauernkultur, die es heute nicht mehr gibt. Meine Eltern hatten Mühe, vor allem während des Winters, bei oft tiefem Schnee zu den Bauernhöfen zu gelangen, um ihre Krankenbesuche durchzuführen. Mein Vater war noch mit dem Pferdeschlitten hierher nach Oberweng unterwegs. Pferd und Schlitten konnte er von unserem Nachbarn, dem Dorfschmied, ausborgen. Einmal begleiteten mein Bruder und ich meinen Vater bei einer solchen Fahrt. Dabei kippte der Schlitten im tiefen Schnee um, die Straße war nicht geräumt, mein Vater und mein Bruder steckten im Schnee, ich lief dem Pferd mit dem umgestürzten Schlitten nach, konnte es einholen und anhalten. Bei diesem Unfall verloren wir den Hustensaft für eine Bäuerin. Heute sind die Straßen auch im Winter gut befahrbar, denn der Schneepflug fährt regelmäßig.

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3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Zugang Ich wandere nach Oberweng bei Spital am Pyhrn. Es begleitet mich unsere Dackeline Hera. Wir kommen an der Gatterburgkapelle vorbei, es geht bergauf. Beim Bauern Zick geht es wieder bergab zum Haus von Erna und Erwin Degelsegger. Die beiden begrüßen mich freundlich. Ich nehme in der guten Stube Platz. Erna serviert mir guten Kräutertee. Oft bin ich schon hier gesessen und habe Erwin zugehört, wenn er aus seinem Leben erzählt hat. So auch heute.

Das Geheimnis um den adeligen Großvater Erwin erzählt mir aus seinem Leben, dazu gehört das Geheimnis um seinen Großvater mütterlicherseits: „Geboren bin ich am 15. März 1934. Aufgewachsen bin ich beim Holzer in der Au in Spital am Pyhrn. Meine Mutter war Salzburgerin, sie war Köchin im Gasthof Grundner. Die Mutter meiner Mutter war Köchin beim Erzherzog Joseph Ferdinand in der Nähe des Hintersees, nicht weit vom Fuschlsee. Dort hatte der Erzherzog sein Jagdschloss. Bei ihm war die Großmutter im Dienst. Die Familie der Großmutter waren die Hausstätter, sie waren noble Leute. Die waren im Tiefgraben zu Hause, dort hatten sie eine Mühle und einen Bauernhof. Wenn meine Mutter gefragt wurde, wer ihr Vater sei, hat sie immer gesagt, der Langreith Sepp. Wir haben immer geglaubt, der Langreith Sepp wäre ein Bauernbub gewesen. Eines Tages, als ich schon in Pension war, wollte ich einmal nachfragen, wer der war. Daher bin ich nach Vordersee bei Fuschl zum Gasthof Steinbräu gefahren. Die Wirtsleute waren die Godenleut (R. G.: Paten) meiner Mutter. Im Steinbräu sind alte Männer am Stammtisch gesessen, denen habe ich gesagt, wer ich bin, und von der Großmutter und vom Langreith Sepp erzählt. Ich habe sie gefragt, wer dieser gewesen sei. Da haben sie gesagt: ‚Den Sepp kennen wir eh.‘ Sie meinten zuerst den Bruder meiner Mutter, einer 74

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger Abb. 3: Holzfuhrwerk mit Rössern – hinten Erwin Degelsegger um 1956.

geborenen Hausstätter, der auch Sepp geheißen hat, er war aber der Hausstätter-Sepp. Ich habe dann gesagt, dass mich dieser nicht interessiert, und habe noch einmal gefragt, ob sie einen Langreith Sepp kennen, weil meine Mutter habe immer gesagt, der sei ihr Vater. Darauf haben die alten Männer gelacht und gesagt: ‚Den Langreith Sepp, den kennen wir schon. Das ist der Graf, der Erzherzog Joseph Ferdinand Salvator.‘ Dieser Erzherzog war Sohn des Großherzogs der Toskana aus dem Hause Habsburg. Sie haben ihn immer den Grafen genannt, obwohl er eigentlich Erzherzog war. Der Besitz, den er dort hatte, war die Langreith, circa 15 Kilometer südlich vom Fuschlsee. So sind wir, die Erna und die Gabi waren mit, dahintergekommen, wer der Vater meiner Mutter eigentlich war. Die Mutter hat nie darüber gesprochen, sie wollte eigentlich diese Leute nicht, bei denen die Großmutter im Dienst war. Meine beiden Schwestern haben auch nichts davon gewusst. Die ältere, die Loisi, sie ist drei Jahre älter als ich, hat mit einem schwarzen amerikanischen Besatzungssoldaten ein liebes Mädchen.“ Dieses Mädchen ist heute eine hübsche, sympathische Dame, die ich seit meiner Kindheit kenne und die im Dorf sehr beliebt war. Sie hatte keine Probleme irgendwelcher Art in der Schule. Dazu meint Erwin, der damals ein kräftiger junger Mann war: „Wenn ein Lehrer zu ihr nicht freundlich war, bin ich in die Schule gekommen und habe ihm meine Meinung gesagt. Auch andere, die zu ihr unfreundlich waren, habe ich beschimpft. Die Loisi, 75

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

meine Schwester, war in Wien verheiratet, sie ist schon gestorben. Die andere Schwester, die Martha, ist in der Schweiz verheiratet. Die Tochter der Loisi hat einen jungen Mann aus Windischgarsten geheiratet, einen Weinberger, sie haben ein Haus dort.“ Die Tochter eines amerikanischen Besatzungssoldaten ist daher auch eine Nachkommin des Habsburgers Joseph Ferdinand Salvator. Erwin ist also nobler Herkunft und bezeichnet sich als einzigen adeligen Knecht der Gegend. Einmal meinte er zu mir: „Auf der einen Seite bin ich beinahe mit der Hälfte der Bauern von Spital am Pyhrn verwandt, und auf der anderen Seite mit der Aristokratie der halben Welt.“

In der Schule und am Bauernhof Aufgewachsen ist Erwin auf einem Bauernhof in der Au unweit von Spital am Pyhrn. Holzer war der Hofname, und da er in der Au bei der Teichl, einem Bach, liegt, nannte man den Hof „Holzer in der Au“. Erwin erzählt dazu: „Mein Vater, der leider im Krieg beim Rückzug aus Russland gefallen ist, stammte von diesem Bauern ab. Er war 17 Jahre lang Kutscher beim Gasthof Grundner in Spital am Pyhrn. Wir sind also ohne Vater dagestanden. Meine Mutter hat beim Holzer in der Au ein Zimmer gehabt. Von dort ist sie jeden Tag nach Spital am Pyhrn zum Gasthof Grundner gegangen, wo sie als Köchin gearbeitet hat. Dort wird sie auch den Vater kennengelernt haben. 1942 ist sie vom Holzer zum Eckbauern hinter dem Grundnerkogel gezogen. Ich bin nicht mit ihr gezogen, mir war es beim Holzer in der Au lieber, dort fühlte ich mich daheim. Der Mutter war es recht, sie musste sich um ein Kind weniger kümmern. Die Madln sind mit ihr mitgegangen. Bald darauf ist die Mutter zum Bauern Merzeder im Ort gezogen, er wurde ihr Lebensgefährte. Ich blieb beim Holzer Knecht bis zu meinem 17. Lebensjahr. Beim Holzer habe ich alles gelernt, was man als Bauer wissen muss.“ 76

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Die Ungarn und der Goldschatz In den letzten Kriegstagen kam 1945 ein ungarischer Treck zu uns, es waren Husaren, Reitersoldaten der ungarischen Armee, die sich vor den Russen in Sicherheit gebracht hatten und hierher in das Gebirge geflüchtet waren. Auch mit Zügen kamen Leute aus Ungarn. Die führten etwas sehr Kostbares mit sich, nämlich den Goldschatz der ungarischen Nationalbank. Erwin erzählte mir, dass er als junger Bursch mit dabei war, Kisten, in denen das Gold versteckt war, vom Bahnhof in Ochsenkarren zum Stift Spital am Pyhrn zu bringen. In der Krypta des Stiftes wurde dieser Schatz, von dessen Existenz niemand im Ort wusste, untergebracht. Nach dem Krieg, als der Ort von den Amerikanern besetzt wurde, übernahmen diese den Schatz und brachten ihn nach den USA. Jahrzehnte später gaben sie ihn den Ungarn zurück. Meine ersten Freunde in den oberösterreichischen Bergen in den Jahren nach dem letzten Krieg waren Buben aus Ungarn. Sie waren mir höchst sympathische Spielgefährten, sie umgab ein eigentümlicher Zauber, sie hatten ein feines Benehmen. Sie waren die Söhne der noblen Wächter des Goldschatzes. Mit dem Schatz waren auch ungarische Husaren mit ihren Pferden gekommen. Sie sollen noch weiter täglich exerziert haben, auch als der Krieg bereits zu Ende war. Die Amerikaner, die als Besatzer kamen, werden überrascht gewesen sein, als sie die stolzen Ungarn noch voll bewaffnet gesehen haben, ehe sie diese zur Übergabe aufgefordert haben. Die meisten der ungarischen Pferde kauften die Bauern unseres Dorfes. Diese Militärpferde sollen bei den täglichen bäuerlichen Arbeiten zwischendurch Kapriolen, die sie für militärische Zwecke gelernt hatten, vollführt haben. Erwin erzählt mir dazu: „Beim Holzer hatten wir ein Ross, das uns ungarische Soldaten gegeben hatten, es war ein gutes Ross. Es hat einem ungarischen Offizier gehört, einem Grafen, der mit dem Treck aus Ungarn geflüchtet ist. Der war später einmal bei uns am Hof und sah sein Ross. Er war überrascht und sagte: ‚Das ist ja mein Ross.‘ Er hatte es erkannt, weil es am Hals eine Nummer 77

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

eintätowiert hatte. Er dürfte zufrieden gewesen sein, denn bei uns ging es dem Ross nicht schlecht. Ich bin sogar einige Male auf diesem durch den Ort geritten. Die Mädchen haben geschaut, wie sie mich so gesehen haben.“ Die Ungarn wanderten nach einigen Jahren weiter nach England, Kanada oder in andere Länder aus, somit verlor ich meine ersten Freunde. Von einem dieser Freunde, Lazi heißt er, er lebt heute ihn England, erhalte ich hie und da einen Brief, auch ich schreibe ihm. Manchmal kommt Lazi auf Besuch zu uns ins Gebirge. Die Ungarn, die damals in Spital am Pyhrn gewesen waren, sprechen heute noch in Hochachtung von den Oberösterreichern, sie seien hier wie Freunde empfangen worden und man hätte ihnen sehr geholfen. Einige erzählen auch, sie würden sich gerne daran erinnern, dass Wildschützen ihnen hie und da ein Reh oder eine Gams schenkten, deren Fleisch ihnen zu köstlichen Mahlzeiten verhalf. Sie hätten sich also hier im Gebirge wohlgefühlt, gerne seien sie auf die Almen gegangen, wo sie bei tüchtigen Sennerinnen Milch und Käse aßen. Sie seien sich vorgekommen wie im Märchenland, das im ungarischen „Operenzia“ heiße. Erst später bin ich dahintergekommen, was es damit auf sich hat. Darüber möchte ich noch erzählen. Mein Freund und Wandergefährte Elmar Oberegger, mit dem ich bei einem unserer Spaziergänge über dieses geheimnisvolle Operenzia sprach, schrieb mir einmal, viele ungarische Märchen würden so anfangen: „Und als in der windschiefen Hütte sich kein einziger Kreuzer, kein noch so winziges Stückchen Brot mehr finden ließ, brach der jüngste Sohn des armen Bauern auf, um sein Glück in der weiten Welt auf die Probe zu stellen. Er wanderte sieben Tage und sieben Nächte hindurch, bis er die Zuckerhut-Berge an der Grenze des Landes Operenzia erblickte. Er dankte Gott, fasste Mut und beschleunigte die Schritte seiner müde gewordenen Stiefel.“ (zitiert nach: Hartmut Heller (Hg.), Fremdheit im Prozess der Globalisierung. LIT Verlag, 2007. S. 155) Es ist also der jüngste Sohn, der kleinste und ärmste von allen, der tapfer das Schicksal herausfordert. Sein Ziel ist das sagenum78

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wobene Land Operenzia mit den Zuckerhut-Bergen, hier erwartet ihn das Glück. So oder ähnlich müssen sich die ungarischen Flüchtlinge vorgekommen sein, als sie 1945 in unsere Berge kamen. In den ungarischen Märchen heißt es, dieses Operenzia sei wunderschön, der Waldboden ist mit moosgrünem Samt und Seide bedeckt. Die Bäume wachsen buchstäblich zum Himmel, in ihrem kühlen Schatten findet man Pilze, die groß wie ein Bauernhut sind. Und über die Mädchen ist zu lesen: „Die Mädchen sind allesamt wunderschön: Ihr langes blondes Haar glänzt so betörend wie der über den silbrigen Wiesen schwebende Marienfaden des Altweibersommers; ihre lachenden Augen spiegeln das verträumte Blau der im Schatten verborgenen Veilchen wider; ihre Lippen sind so rot und duftig wie die süßesten Kirschen der ersten Junitage. Sie sind zwar stolz und gebärden sich als unnahbar, haben aber dennoch die erstaunliche Fähigkeit, sich in Kürze eines Stoßgebetes unsterblich in einen Fremden zu verlieben.“ (zitiert nach: Stephan Vajda, Operenzia, das Märchenland der Ungarn, Merian 11/1972, S. 13–15) Ich kann mir vorstellen, dass so Mädchen sind, die den Wildschützen herrliches Essen kredenzen und ihnen Unterschlupf gewähren. Der ungarische Schriftsteller Stephan Vajda beschreibt in wunderschönen Worten dieses Operenzia weiter so: „Ein Märchenland, wahrhaftig. Ein einzigartiges, im doppelten Sinne. Weil es tatsächlich existiert. Weil hier die kollektive Phantasie eines vielgeprüften, nach Europa verschlagenen asiatischen Volkes eine topographische Realität zum Fabelreich der Hoffnung, zum verheißungsvollen Zwischenbereich der Sehnsucht erhoben hatte. Es ist eine Landschaft des trostreichen Unwirklichen, und dennoch erreichbar.“ Auch über die Berge, in denen die Wildschützen unterwegs waren, schreibt der Ungar mit Begeisterung: „Man müsse aber in Operenzia teuflisch achtgeben, daß die Pferde an den Sternen nicht stolpern oder daß sie keinen Stern vom Himmel lostreten. Hat der ungarische Husar unterwegs Durst, wringt er einfach die nächstbeste Wolke aus, denn die Wolken schwirren einem um den Kopf nur so herum, daß man sie oft mit dem Säbel zerschneiden muß, 79

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um den schmalen Pfad zwischen den furchterregenden Felsen aus glitzerndem Glas finden zu können.“ Tolle Leute müssen also in Operenzia leben. Der Autor hat recht, über diese Leute schrieb ich schon einiges. Aber wo liegt dieses Operenzia mit den hohen Bergen und den schönen Mädchen, zu denen sich Wildschützen gesellt haben mögen? Das Märchenland ist nicht allzu schwer zu finden. Es liegt gleich hinter den Zuckerhut-Bergen, deren erster Traunstein heißt, im klaren, beglückenden Licht eines ewig heiteren Himmels. Man kann hinfahren. „Operenzia“ ist nichts anderes als die leicht verdrehte ungarische Form von „Ob der Enns“; es ist das frühere Erzherzogtum und Kronland „Österreich ob der Enns“, das heutige Oberösterreich. Dieses Oberösterreich, aus dem die Ungarn ihr Märchenland Operenzia machten, hat eine spannende Geschichte.

Vom Rossknecht zum Holzknecht – Kommandos bei der Holzarbeit Erwin steigt sozial auf, als er vom gewöhnlichen Knecht 1949 zum Rossknecht wird. Wegen seines Geschickes im Umgang mit den Pferden am Hof genießt der Rossknecht unter den Dienstboten einiges Prestige. Nach drei Jahren jedoch will Erwin weg vom Bauernhof, er hat genug von der Arbeit als Bauernknecht. Er wird Holzknecht, die Arbeit erscheint besser, da er mehr Freiheit hat, obwohl sie härter ist als die Arbeit am Bauernhof. Erwin erzählt dies so: „1949 wurde ich Rossknecht in Inzersdorf bei Kirchdorf an der Krems. 1952 bin ich weg vom Bauern in Inzersdorf, ich wollte nicht Bauernknecht bleiben. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, kannte den Rettenbacher Förster, durch ihn kam ich zu den Bundesforsten. Sechs Jahre habe ich dort als Holzknecht gearbeitet. Das war eine harte Arbeit, man war immer nass. Wir haben auch im Regen gearbeitet. Während des Sommers haben wir vor allem im Hintergebirge Holz gefällt, aber auch Holz geliefert haben wir. 80

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Als es zu schneien begonnen hat, sind wir nach Klaus. Dort haben wir geholzt, das heißt, wir mussten die während des Sommers gefällten und dort gelagerten Bäume durch einen Graben hinunterholzen, also ins Tal bringen. Drei Kilometer war der Graben lang. Von dort wurden sie mit Lastwagen abgeholt.“ Erwin erzählt weiter: „Drei Jahre war ich Holzknecht im Hintergebirge. Während des Sommers haben wir am Grestenberg Holz geschlägert. Wir waren jeweils zwölf Mann, die in einer gezimmerten Hütte übernachteten. Wenn es im Herbst zu schneien begann, wechselten wir nach Klaus in den Wallergraben, wo wir bis zum Frühjahr zu arbeiten hatten. Dort haben wir vier Hütten errichtet, wo wir nächtigen konnten. Von der oberen wechselten wir im Laufe der Zeit hinunter, wenn von oben bereits das Holz zu Tal gebracht war. Gebracht wurde es im Graben. Die Löcher und Unebenheiten in diesem wurden mit Holz ausgebessert. Damit das Holz auch ‚rennen‘ kann, wurden Blochs scherenförmig in den Graben gelegt und befestigt.“ Altes Wissen steckt hinter diesen Techniken. Diese hat Erwin von den Alten gelernt, wie er meint. Sie hatten als Holzknechte einen Holzmeister, der sich als eine Art Vorarbeiter um die Einteilung der Arbeit und auch um die Disziplin zu kümmern hatte. Erwin selbst vertrat ihn, wenn es zu Streitereien kam. Er schlichtete die Raufereien auch mit seiner Kraft, er muss sehr stark gewesen sein. So half er auch Franz Rebhandl, der mit einigen Kollegen oft Schwierigkeiten hatte. Gearbeitet haben die Holzknechte von sechs Uhr in der Früh bis sechs Uhr am Abend. Müde legten sie sich in den Hütten nieder, auf Reisig, und deckten sich mit mitgebrachten Decken zu. Zur Zeit des Baumfällens lebten die Holzknechte in den sogenannten „Lafthütten“, das sind Rindenhütten, in deren Mitte eine Feuerstelle war. Später traten anstelle dieser Rindenhütten Holzbaracken, die wesentlich bequemer waren. In ihren Hütten oder Baracken bereiteten die Holzknechte zu den Mahlzeiten ihre Holzknechtnocken zu, die im Wesentlichen aus Mehl, Salz und Wasser bestanden. Gerne suchten die Holzknechte an den Aben81

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

den die Sennerinnen in den nahen Almhütten auf. Erwin nützte seine Tätigkeit als Holzknecht, um hier und da eine Gams mit dem mitgebrachten Stutzen zu schießen. Interessant sind die Kommandos, die gegeben wurden, wenn die Holzstämme über die Gräben und durch Riesen, wie man die meist selbst hergestellten Holztransportwege bezeichnet, zu Tale flitzten. Erwin kennt sich dabei aus. In der Zeit, in der es noch keine Mobiltelefone gab, war es nicht so einfach, schnell gute Informationen weiterzugeben. Entlang des Transportweges der Holzstämme zu Tal standen Holzknechte, die entsprechende Kommandos weitergaben. Erwin erzählt: „Wenn ein Bloch zum Stocken kam, so rief der betreffende Holzknecht, der gerade dort arbeitete, hinauf: ‚Aufhob!‘ Der Nächste rief hinauf: ‚Hör di wohl, aufhob.‘ War der Bloch losgeschickt, rief der oben: ‚Is scho obi da.‘ Zuerst aber, wenn die Riese frei war, rief der unterste: ‚Holzner Tal.‘ Der Nächste rief hinauf: ‚I hör di wohl, Holzner Tal!‘ Lief ein Bloch hinunter, so rief der Oberste: ‚Aussi a wilder.‘ Der Nächste rief: ‚Hör di wohl.‘ Und so weiter. Die Informationen waren klar. Circa 1.500 Stämme schlägerten wir, entrindeten sie und brachten sie zu Tal. Gezahlt wurde nach Zeit und Akkord. Die Überschüsse wurden zum Schluss aufgeteilt.“ Im März zog die Partie auf die Weinmeisteralm beim Hengstpass. Dort wurden die jungen Bäume gesetzt. Die Holzknechte machten das Loch und Mädchen steckten den Setzling hinein. Erwin spricht heute noch mit Freude über diese Arbeit im Holz. Doch auch diese beendigt er, er will sesshaft werden, er will Bauer werden.

Erwin heiratet – Bauer und Lastwagenfahrer Erwin erzählt über seine neue Sesshaftigkeit als Bauer: „Dann habe ich den Bauernhof vom Merzeder, dem Lebensgefährten meiner Mutter, in Pacht genommen. Acht Jahre habe ich den Hof geführt. Zwölf Kühe gehörten mir, und zwei Ross. Den Merzeder habe 82

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

ich 1964 wieder aufgegeben. Inzwischen habe ich meine Frau, die Erna, kennengelernt. 1962 haben wir geheiratet und begonnen, unser Haus zu bauen. Im Winter ist am Bauernhof nicht viel los, ich habe daher in Norddeutschland für ein paar Monate Holz gehackt. Gewohnt habe ich in einem Gasthaus, angestellt war ich bei einer Holzschlägerungsfirma, sie hat Apeldorn geheißen und Leute gesucht zum Holzschlägern im Winter. Drei Jahre haben mir gefehlt, damit ich vom Land- und Forstarbeiterverband einen billigen Kredit zum Hausbauen bekomme, daher habe ich noch einmal bei den Bundesforsten begonnen und drei Jahre gearbeitet. Mich hat es damals schon ein wenig am Kreuz gehabt, durch die schwere Holzarbeit. Nach den drei Jahren habe ich mit der Holzarbeit aufgehört. 1969 sind wir in unser Haus eingezogen. Gewohnt haben wir bis dahin beim Pölzguter, dem Nachbarn. Meine Frau war eine Pölzguter.“ Erwin erzählt weiter, er habe seine Arbeit als Bauer aufgegeben, da der Merzeder, von dem er den Hof gepachtet hatte, abgehaust habe. Er sei Lastwagenfahrer bei der Baufirma Stabel geworden, also wieder Vagabund sieben Jahre lang. Zwei neue Lastwagen habe er in dieser Zeit als Fahrer bekommen. Bis Amsterdam sei er gekommen. Einmal in der Woche sei er nach Holland gefahren, einmal durch ganz Deutschland, kreuz und quer. Geschlafen habe er im Lastwagen, er sei Tag und Nacht gefahren. Die andere Zeit sei er in Haus im Ennstal für die Firma mit Schotter und Ziegeln gefahren. Auch habe er Ziegel aus der Eferdinger Gegend ins Enns­ tal geführt. So sei dies sieben Jahre lang gegangen.

Erwin, der Wildschütz Im Wilderermuseum in St. Pankraz können Besucher einen Film ansehen. In diesem erzählt Erwin Degelsegger seine Erlebnisse als Wildschütz. Die jungen Wildschützen in den 1950er-Jahren waren mitunter sehr angesehen, vor allem bei den Mädchen. Mir erzählt Erwin: „Mit elf Jahren habe ich meine erste Gams geschossen. 83

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Büchsen gab es damals überall nach dem Umbruch, nach dem Krieg sind sie überall herumgelegen. Einmal sah ich den Stickl Franz, den Förster der VÖEST in Spital am Pyhrn, wie er heimgegangen ist. Als er im Gasthaus in Spital war, hat er sich blunzenvoll angesoffen. Ich habe das ausgenützt und mir gedacht, da schießt du eine Holzgams. Ich habe mein Fahrrad gepackt und bin hinaufgeradelt zur alten Seilbahn. Dort habe ich das Rad angelehnt und bin über den Traxlanger zum Pfannriedl. Da geh ich hinauf, ist da ein Waller – ein vom Wind umgerissener Baum mit der herausgerissenen Wurzel – gelegen. Dort habe ich mich zuwigmacht und geschaut, ob eine Gams kommt. So bin ich ein paar Stunden gesessen und habe mir gedacht: ‚Heute bist du umsonst herausgegangen.‘ Auf einmal schaut aus dem Hirschgraben ein Sechserhirscherl her, ein junges Hirscherl. Es zieht hinüber zum Schlag und bleibt stehen. Teufel, ich nicht lang nachgedacht und geschossen. Der Hirsch ist niedergegangen. Kreuz sakra, was mache ich mit dem Hirsch, das ist ja ein Wahnsinn. Ich wollte eigentlich ein Gamserl schießen, denn dieses kann man besser im Bucklsack transportieren. Aber was soll ich mit dem Hirsch machen? Servas, was tu ich? Ich habe den Hirsch zum Traxlanger gezogen und dort aufgebrochen. Dann habe ich ihn hinter der Materialseilbahn, die zum Linzerhaus führte, versteckt. Dann bin ich heimgegangen und habe das Ross in einen Karren mit zwei Gummiradeln eingespannt und bin zum Traxlanger hinauf. Dort das Hirschl aufgelegt, zugegrast, also mit Farn zugedeckt, und ein paar Decken draufgegeben. Dann bin ich losgefahren, es ist schon finster gewesen. Beim Kerschbaumer, dem Jäger, ging es vorbei. Der Mond ist etwas hervorgekommen. Auch beim Jäger Gressenbauer musste ich vorbei und ebenso beim Kiesenhofer, dem Oberförster. So bin ich mit dem Ross heruntergetrabt. Die Leute, die mich gesehen haben, werden sich nicht viel gedacht haben, dass ich bei Nacht gefahren bin, denn ich bin oft zum Linzerhaus mit Sachen gefahren, ich war auch Träger. Im Sommer habe ich oft spät am Abend Sachen hinauf zum Linzerhaus getragen, da wir am Tag geheut haben. Daheim habe ich den Hirsch in den Schupfen, den Holzstadel, gehängt. Am nächsten 84

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Tag habe ich den Hirsch geschnappt und habe ihn dem Max (R. G.: Eckart) gebracht, er war mein Vetter, ihm gehörte das Gasthaus Schmied beim Bahnhof. Er hat aus dem Hirsch Gulasch gemacht und es den Gästen gemeinsam mit Rindsgulasch verkauft.“

Erwin wird Versicherer und geht in Pension – die Bedeutung der Frau Schließlich lässt sich Erwin bei einer Versicherung anstellen: „Eines Tages ist der Franz Rebhandl, er arbeitete für die Allianz-Versicherung, gekommen und hat gesagt: ‚Wir brauchen jemanden für die Versicherung, wie schaut es aus mit dir?‘ Mit den Leuten reden kann ich, dachte ich mir, und erklärte mich daher bereit, bei der Versicherung zu arbeiten. Sieben Jahre, von 1979 bis 1986, habe ich die Arbeit gemacht. Es waren meine schönsten Zeiten. Ich war dort mein eigener Herr. Ich konnte aufstehen, wann ich wollte. Wenn ich einmal einen Tag nichts getan habe, war es auch egal. Das Aufbauen eines Kundenstockes für die Versicherung ist damals nicht schwer gewesen, wenn man mit den Leuten umgehen kann. Manche Leute sind froh, wenn sie ihre Versicherung wechseln können, außerdem kommen auch immer wieder Junge dazu, die eine Versicherung brauchen. Dann bin ich in Pension gegangen. Für mich habe ich Holz gehackt und habe im Sommer geheut. Meine Frau, die Erna, hat sich um die vier Mädchen gekümmert. Wir beide haben immer zusammengehalten, auch heute. Wir mögen uns heute noch. Mitgemacht haben wir einiges. Wir hatten nie Urlaub, denn wir haben das Haus gebaut. Weil ich sehr viele Lebensversicherungen abgeschlossen habe, hat mich die Leitung der Versicherung zur Belohnung mit anderen guten Versicherern zu ein paar Tagen nach Paris und nach Griechenland eingeladen. Ich bin geflogen, denn es hat nichts gekostet. So einen Flug halte ich schon aus. Das Landen in Piräus bei Athen war nicht ganz ohne. Man kommt vom Land und fliegt auf das Meer hinaus. Vor dem Meer ist der Flughafen. Es gab Flieger, die sind ins Meer gefallen.“ 85

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Gedanken und Weisheiten des Erwin Deggelsegger Bei meinen Wanderungen zu Erwin, bei denen ich stets von seiner Frau Erna mit einer guten Tasse Tee versorgt wurde, fielen mir seine oft gescheiten und oft ungewöhnlichen Aussagen auf, die ich auch festhalte. Sie beziehen sich auf viele unterschiedliche Themen.

Die Doktorsleute Auch über meine Eltern und überhaupt über meine Familie sprachen wir oftmals. Ich freue mich, dass Erwin und seine Frau Erna meine verstorbenen Eltern, die wunderbar waren und hart arbeiteten, in bester Erinnerung haben. Erwin meinte, wir wären eine tolle Familie gewesen. Er war voll des Lobes über meine Eltern als Ärzte: „Wir haben Zwillinge gehabt, die waren einmal sehr krank. Deswegen ist deine Mutter noch in der Nacht zu uns gekommen und hat geschaut, wie es den Kindern geht. Sie war eine so gute Ärztin, das sage ich dir. Solche Leute findet man selten. Kein Arzt würde heute das machen, was die zwei Leute geleistet haben.“ Erna erzählt dazu noch etwas: „Wie deine Eltern einmal auf Urlaub waren, war ein anderer Arzt als Vertreter da. Der Renate ist es sehr schlecht gegangen mit der Luft. Wir haben daher den Aushilfsarzt geholt. Er hat aufgeschrieben, dass das Kind an Lungentuberkulose schwer erkrankt sei. Wie deine Eltern vom Urlaub heimgekommen sind, sind sie gleich am nächsten Tag zu uns gekommen und haben gefragt: ‚Was ist los mit dem Kind? Es bekommt keine Luft.‘ Deine Mutter hat nach der Untersuchung gesagt, wir müssen das Kind doch in das Krankenhaus in Steyr geben. Sie haben die Kleine in das Spital einliefern müssen, weil der Vertreter Lungentuberkulose aufgeschrieben hat, und wenn doch etwas an dieser Diagnose wahr gewesen wäre, hätten sie bei Nichteinlieferung Schuld gehabt. Sie hätten sie nicht eingeliefert. Wir haben damals schön geschaut, weil alle zwei Doktorsleute zu uns gekommen sind, weil sie so besorgt waren. Das war im Jahre 1962. 86

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Wie die Gisi Lungenentzündung gehabt hat, ist der Dr. Girtler gekommen, zuerst hat er ihr Medikamente gegeben, da war das Fieber noch niedrig. Doch wie das Fieber auf 39 Grad gestiegen ist, hat er gefragt, ob wir Schmierseife zu Hause haben. Daheim hätten wir keine, haben wir gesagt. Der Herr Doktor hat gesagt, ich solle mit ihm im Auto in den Ort fahren und Schmierseife kaufen. Das ist so ein Batzen Seife, früher hat man damit gewaschen. Der Doktor hat zu mir gesagt, Schmierseife und Schweineschmalz solle man mischen, auf einen Leinenfleck schmieren und auflegen. Wenn das Fieber nicht hinuntergeht, müsste man sie ins Krankenhaus bringen. Aber das Fieber ist bis acht Uhr am Abend gesunken und unser Kind wurde wieder gesund.“

Der Herr Pfarrer Einmal kam das Gespräch auf den Pfarrer von Windischgarsten, der wegen einiger seiner Aussagen von manchen katholischen und auch anderen Mitmenschen als problematisch für den Bestand der katholischen Kirche gesehen wurde. Erwin meinte allerdings, dass der Herr Pfarrer ein frommer Herr sei. Er könne ihn gut verstehen, wenn er manchmal von der „Strafe Gottes“ spricht, wenn irgendwo ein Erdbeben oder ein ähnliches Ereignis sich bemerkbar gemacht hat, schließlich seien solche Ereignisse bereits in der Bibel mit dem Zorn Gottes verbunden worden. Erwin meint dazu: „Strafe Gottes, das ist ein Wort. Das muss man sich einmal durch den Kopf gehen lassen.“ Als ich meinte, dass gewisse Gruppen sich über den Pfarrer wegen solcher Aussagen beklagten, antwortete Erwin: „Weil die Leute heute deppert sind. Die glauben jeden Mist, der aus der Fernsehkiste kommt. Aber das Wort Gottes kennen sie nicht. Die Windischgarstner sollen froh sein, dass sie so einen Pfarrer haben. Seine Worte haben ja einen Sinn. Der Pfarrer von Windischgarsten hat mich im Krankenhaus besucht, der Pfarrer von Spital nicht. Die Leute sind begeistert vom Windischgarstner Pfarrer. Es ist wichtig, dass er mit den Leuten redet.“ 87

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Wenn ich bei Erwin bin, mit ihm über alte Zeiten spreche und im Laufe des Gesprächs bedauernd meine: „Die Zeit vergeht“, antwortet Erwin regelmäßig heiter: „Die Zeit vergeht, das Licht verbrennt und die Alte stirbt nicht.“ Damit wird angedeutet, dass in früheren Zeiten Kerzen teuer waren und wenn man eine solche als Totenkerze bei einer alten sterbenden Frau verwendete, so könne man es als Verschwendung ansehen, wenn das Warten auf den Tod so lange dauert.

Der Bauerngarten Bei meinen Wanderungen zu Erwin und seiner Erna erfreut mich ein kleiner Garten unweit ihres Hauses in Oberweng. Dieses „Gartl“ ist ähnlich dem klassischen Garten, wie ihn die Bauern bei ihren Höfen haben. Mitunter erhalte ich von Erna bei der Verabschiedung eine Gurke, einen Rettich oder ein anderes Produkt aus ihrem Garten. Ich rede mit den beiden über die Bedeutung des Bauerngartens. Angebaut wird im Frühjahr, wie Erwin erzählt, allerdings der Salat zweimal im Jahr. Im Garten finden sich Marln (Karotten), Kohlrabi, Köch (Kohl), Kraut, Schnittla (Schnittlauch) und einiges mehr. Anfang Mai könne man schon das meiste ernten, das Gemüse hier in Oberweng allerdings erst um Mitte Mai, schließlich sind die Bedingungen für das Wachsen der Pflanzen im Gebirge etwas härter. In den Bauerngärten wuchsen auch rote Rüben, die Beanken (Futterrüben) und die Wasserrüben. Gurken konnten in der Nähe von Misthaufen gedeihen, wie sie zu den alten Bauernhöfen gehörten und am Rande der Wiesen gesetzt wurden. Erna ergänzt zum Thema Bauerngärten, die zu pflegen alleinige Sache der Frauen war: „In den alten Bauerngärten gab es Blumen, meistens Astern und Schmierblumen, also Ringelblumen zum Salbenmachen. Die Astern waren für den Friedhof. Auch ein großer Kalmusstock wuchs im Garten, der Kalmus ist fürs Vieh, wenn es krank ist, wenn es Scheißerei hat. Die Blattln wurden gegessen und 88

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

die Wurzeln oft getrocknet. Auch Eibisch gab es im Garten, der ist gut für den Magen. Er ist getrocknet worden, aus ihm konnte man Tee machen. Auch sind Krautschädel im Garten gestanden, drei bis fünf große. Diese sind im Herbst samt der Wurzel ausgegraben und in den Keller gebracht worden. Im Frühjahr hat man sie wieder aus dem Keller geholt und im Garten eingesetzt. Dort haben sie getrieben, geblüht und gesamt. Den Samen hat man abgenommen und nach einem Jahr wieder ausgesät.“ Erwin fügt noch hinzu: „Früher hat fast jeder ein Gartl gehabt. Die Leute haben sich vieles nicht kaufen können. Krautschädel sind vielleicht ein paar in das Armenhaus geliefert worden. Wichtig waren uns die Erchbohn. Bis zum Krieg hat man bei uns Erchbohn und nach dem Krieg Erdäpfel gesagt. Heute spricht man von Kartoffeln, das Wort Erchbohn hört man kaum. Manche Bauern hatten auch einen großen Krautgarten, er war ein paar Tausend Quadratmeter groß. Wir haben einen Krautbottich gehabt mit 12 oder 14 Eimer. 1 ½ Meter hoch war der Bottich und genauso breit. Der ist im Herbst mit geschnittenem Kraut angefüllt worden und im Herbst darauf war er wieder leer. Dieses Sauerkraut hat uns geschmeckt. Wenn man zu Tisch gegangen ist, hat man früher zuerst Kraut bekommen. Kraut mit Erdäpfeln war die Vorspeise. Es hat geheißen: Das Kraut stopft die größeren Lucken. Es machte also schnell satt. Das Kraut war warm, es war abgeschmalzt. Die Dienstboten haben gefragt, warum sie so viel Kraut essen müssen. Es wurde ihnen gesagt, das Kraut sei wichtig wegen der Vitamine. Das haben die meisten nicht gewusst, aber das Kraut hat sie gesund gehalten. Nach dem Kraut ist die Hauptmahlzeit gekommen. Wenn es gut gegangen ist, gab es Fleischknödel. Das war aber selten. Wenn diese gegessen waren, wurde die Schottsuppe gebracht. Zum Essen gab es einen Laib Brot. Den hat der Moarknecht angeschnitten. Das Brot hat man in die Suppe zum Schluss eingebröckelt, hat schnell gegessen und ist dann gleich gegangen. Es hat geheißen: ‚Iss schön schnell und geh gleich weiter.‘ Vor dem Krieg ist viel beim Essen gebetet worden. Das Beten hat sich unter dem Krieg aufgehört.“ 89

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Erwins ketzerische Gedanken zu den modernen Bauern Erwin pflegte mir gegenüber Ketzerisches über Bauern, wie sie heute noch leben, zu erzählen: „Die heutigen Bauern sind vom Staat bezahlt, sie sind ja keine Bauern mehr. Früher mussten sie von ihrer Scholle leben. Heute sind sie bezahlte Rasenmäher, alle werden sie gefördert. Die alten Bauern waren zwar arm, aber nicht neidig. Früher war es so, dass die Bauern auch etwas für die Bettelleute übrig hatten. Früher sind 20, 30 Leute am Tag gekommen, um zu betteln, und jeder hat zumindest ein Stück Brot bekommen. Aber heute bei den bezahlten Bauern braucht keiner kommen, um ein Stück Brot zu fechten. Der kriegt bestimmt keines. So hat sich alles verändert. Jeder ist sich selbst der Nächste. Nicht der Staat nutzt die Bauern aus, sondern die Bauern den Staat. Aus allem, was sie haben, ziehen sie einen Vorteil. Das Geld für die Förderungen kommt immer im Herbst. Geld bekommen sie für alles, sogar dafür, dass sie ein Feld nicht bearbeiten, wenn etwas brach liegen bleibt, kriegen sie Geld. Für das, was sie bewirtschaften, kriegen sie Geld. Wenn sie ein Vieh auf die Alm treiben, kriegen sie Geld. Für den Halter auf der Alm kriegen sie Geld. Also für alles. Die Bauern jammern ja alle umsonst. Sie sagen, sie kriegen für das Vieh nichts, für die Milch nichts. Sie sagen, was sie für den Liter Milch bekommen, 5 Schilling, aber sie sagen nicht, welche Subventionen sie bekommen, oder für ein Stück Vieh. Wenn sie eine Schlachtkuh verkaufen, sagen sie, sie bekämen 6.000 oder 7.000 Schilling. Aber wie viel sie wieder Förderung dafür bekommen, sagen sie nicht. Wenn sie Stiere füttern, kriegen sie noch extra Geld. Und so geht es weiter.“ Besonders heftig wird Erwin, der früher selbst Bauer war, wenn er auf die „Förderungen“ – man nennt sie auch Ausgleichszahlungen – zu reden kommt. „Sogar fürs Scheißengehen bekommen die Bauern Geld. Der Bauer bekommt für alles, das er macht, Geld. Schneidet er einen Baum um, bekommt er Geld. Setzt er einen, bekommt er auch Geld. Die Söhne der Bauern hocken bis oben 90

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in den Ministerien, alles ist in Bauernhand und der kleine Mann darf fest brennen. Ich bin Pensionist und zahle fünfmal soviel Steuer wie so ein Bauer mit 25, 30 Hektar. So geht das nicht mehr lang weiter, wenn man einmal dem Steuerzahler das Pfoad (R. G.: Hemd) auszogen hat, kann man ihm nichts mehr wegnehmen.“ In der modernen Bauernwelt scheinen jene Bauern gute Geschäft zu machen, die sich entweder als Biobauern, über einige von ihnen muss Erwin lachen, oder als neue Priester aufspielen. Zu Letzteren scheint der Agrarrebell H. im Lungau zu gehören. Über ihn findet Erwin diese Worte: „Dieser Herr lebt von der Gutgläubigkeit der Leute. Der erzählt ihnen etwas und die glauben ihm. Wer von denen, die zu ihm fahren, versteht wirklich etwas von der Landwirtschaft? Solchen Leuten, die keine Ahnung vom Leben als Bauer haben, kann man leicht etwas verzählen. Er arbeitet mit der alten Bauernweisheit, dass dort, wo die Sonne hinkommt, zum Beispiel bei der Hausmauer, alles besser und schneller wächst.“

Der alte Anbau des Getreides – der Wert des Mistes Mit Erwin sprach ich über den Anbau von Getreide, wie er früher bei den Bergbauern üblich war. Erwin hat das Anbauen seit frühester Jugend beim „Holzer in der Au“, bei dem er aufgewachsen ist, gesehen und gelernt, er erinnert sich gerne an die Zeit. Heute sind die Bergbauern weitgehend davon abgegangen, es ist vor allem die Viehwirtschaft, die geblieben ist. Erwin erzählt: „Bei uns ist Troat (Getreide) angebaut worden. Zu Barchtlmei (R. G.: Apostel Bartholomäus, 24. August) hat man angefangen zum Mistführen. Dann ist überfahren (gepflügt) worden und aft (dann) ist das Korn (Roggen) angebaut worden. Der Woaz (Weizen) ist etwas später angebaut worden.“ Ich frage Erwin über die Bedeutung des klassischen Mistes für das Getreide, der durch den Kunstdünger abgelöst wurde. Erwin sieht den Wert des Mistes: „Der Mist, den wir auf das Feld geführt 91

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haben, kam vom Stall. Die Jauche aus dem Abort ist auf die Wiese geführt worden. Der Mist aus dem Stall kam dorthin, wo geackert wurde. Nach dem Mistführen ist tagelang überfahren worden. Früher haben sie die Strah (R. G.: Farn und auch Stroh) gebraucht zum Einstreuen in den Stall. Die dreckige Strah ist dann auf den Misthaufen gekommen und der Mist auch. Das hat einen guten Dung ergeben. Das Vieh hat den Gestank weggehabt vom Stall. Aber heute stehen sie auf ihrem Dreckhaufen, es fällt alles durch ein Gitter. Es gast daher hinauf und die Viecher schnaufen die Gase ein. Wir fressen dann das Fleisch. Das ist ein Saustall heute.“ Der gute alte Mist war ein wunderbarer Dünger, der auf die Felder kam. Erwin ergänzt: „Ungefähr ein Drittel des Grundes der meisten Bergbauern kam unter den Pflug, war also Acker. Der Rest war Wiese. Zuerst hat man auf dem Feld Korn angebaut, danach den Weizen. Wenn das Korn geerntet worden ist, hat man einen Teil des Korns überfahren für Wasserrüben. Die sind dann angesät worden, sind aber wild gewachsen. Bis in den Herbst sind das schöne Rüben geworden, sie wurden eingesäuert und gehobelt. Das Letzte war das Sauerkraut. Wenn es geschneit hat, ist es zum Krautarbeiten gewesen.“ Ich frage Erwin noch nach dem Wechsel vom Anbau des Getreides auf dem Feld. Erwin kennt sich aus: „Beim Anbau von Troat ist immer gewechselt worden, man nennt dies die Dreifelderwirtschaft. Man hat Roggen, Weizen, Gerste und Hafer abwechselnd auf dem Feld und die sind nach einem bestimmten System gesät worden. Nach dem Roggen konnte man auf das Feld einen Weizen bauen oder auch einen Hafer. Gerste hat man nicht drauf bauen können. Die alten Bauern haben allweil gesagt, zweimal Grieß (Gerste und Weizen) kann man nicht bauen. Aus der Gerste kann man Grieß machen und aus Weizen auch. Aus Roggen kann man keinen Grieß machen. Den Hafer kann man überall drauf bauen. Der Hafer braucht auch keinen weiß Gott wie vielen Dung. Die anderen Getreidearten muss man gut düngen. Daher ist ja bei den Bauern der Mist allweil zu wenig geworden. Beim Troatbaun hast du gescheit Mist dreinhauen müssen. Künstlicher Dünger ist erst 92

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mit dem Hitler aufgekommen. Vorher hat es schon einen Kunstdünger gegeben, aber der war für einen normalen Bauern zu teuer. Unter dem Krieg hat man ihn günstig bekommen. Ab den 1950erJahren haben die Bauern im Gebirge aufgehört, Troat anzubauen. Bei uns bauen sie heute nicht einmal mehr Erdäpfel an. Gerste war das Letzte, das sie angebaut haben, die Gerste haben sie noch gebraucht für das Saufutter.“ Erwin fügt noch etwas sehr Grundsätzliches hinzu: „Der Bauer hat früher das Getreide geehrt, es war für ihn eine Gottesgabe. Er hat ja leben müssen von der Ernte ein ganzes Jahr. Wenn eine Missernte war, war es zum Hungern. Daher war der Bauer auch fromm und hat Gott gedankt für eine gute Ernte. Die heutigen Erntedankfeste sind eher Fremdenverkehrsattraktionen als Danksagungen an Gott, nicht mehr. Die Bauern im Gebirge müssten eine Heufuhre hinstellen oder eine Silofuhre, aber keine Erntekrone.“

Der hohe Wert der Arbeit – Körndlbauern und Viehzüchter Erwin ist mit der Arbeit aufgewachsen. Sein Leben ist bestimmt durch Arbeit: „Wir haben immer Arbeit gehabt. Nach dem Krieg hat sich das alles aufgehört. Wenn es dann aper geworden ist, haben wir Hafer angebaut. Das war im April. Die Gerste hat man ein wenig später angebaut, denn diese war recht haglich (heikel, schwierig). Dann sind die Erdäpfel eingelegt worden, und zwar am 1. Mai, am Tag der Arbeit. Bei uns im Gebirge waren mehr Hörndlbauern (Bauern mit Rinderzucht und Milchwirtschaft), draußen im Flachland mehr Körndlbauern (Bauern mit Getreide). Beide hatten jedoch Getreide und Vieh, aber in verschiedenen Mengen. Der Mist vom Stall war notwendig für den Anbau des Getreides. Draußen im Flachland gab es große Gemüsebauern. Sie säuerten das Gemüse ein und vermarkteten es.“

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Die Milch Ich erinnere mich, dass unsere Bauern im Gebirge Milch, Butter und Eier verkauft haben. Jeden Sonntag nach dem Kirchgang brachte die Bäuerin des Zickerbauern-Hofes in Oberweng meiner Mutter einen großen Butterstriezel, mit dem wir eine Woche auskamen. Jeder Bauer hatte seine Butterkundschaften. Erwin nickt, ich erzähle ihm, dass wir als Kinder mit dem sogenannten „Milchkandl“ oder der „Milchpitschen“ zu dem Bauern S­ chmeissl am Haberskogel oder zu dem Bauern Pacher im Ort um die Milch gingen. Die Bäuerin schöpfte die Milch aus einem Topf in das Kandl. Beim Nachhauseweg spielten wir, ähnlich wie andere Kinder, indem wir das Milchkandl zum Beispiel an seiner Tragevorrichtung schnell im Kreis drehten. Durch die Zentrifugalkraft blieb die Milch im Kandl. Mir passierte es allerdings einmal, dass mir die Milchkanne beim Drehen entglitt und in den kleinen Bach fiel. Ich konnte das Kandl zwar aus dem Wasser holen, aber die Milch war derart gewassert, dass sie nicht mehr zu trinken war. Den Ärger, den ich mit meinen Eltern in der damaligen Zeit der Not hatte, war gewaltig.

Die Nachbarschaft Auch auf das Thema der alten bäuerlichen Nachbarschaft komme ich im Gespräch mit Erwin. Er erzählt mir dazu: „Wenn zum Beispiel ein Stück Vieh auf der Alm abgeschoben (abgestürzt) ist, hat man Leute, vor allem Nachbarn, gebraucht, die geholfen haben, das Fleisch von der notgeschlachteten Kuh in das Tal zu tragen. Auch wenn eine Kuh auf der Alm in eine Grube gefallen ist und nicht mehr herauskonnte, musste man sie schlachten und das Fleisch heimtragen. Das Fleisch ist unter den Bauern aufgeteilt worden. An den Nachbarn zu denken und ihm zu helfen, war früher für den Bauern wichtig. Wenn jemand krank war und keine Leute am Hof waren, hat man geholfen. Auch beim Erdäpfelklauben oder beim Troatschneiden hat man sich gegenseitig geholfen. Man ist 94

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zum Nachbarn gegangen und hat gesagt: ‚Du, Nachbar, könntest du mir nicht helfen, morgen tun wir Korn schneiden?‘ Das Korn ist ja nicht überall zu gleicher Zeit reif geworden. Wenn man ein schattiges Feld hatte, ist das Getreide etwas später reif geworden als bei denen, wo die Sonne den ganzen Tag auf das Feld schien. Reif war das Troat, wenn der Kern aus der Spreu gegangen ist, wenn er fest war. Wir haben das Korn zum Trocknen auf Hüfeln geschiebert, bis zu vier Meter hohe entrindete Holzstangen mit kurzen abgeschnittenen Ästen. Der Bauer hat das Getreide nach diesen Schobern berechnet, die Körner nach Metzen. Ein Metzen hat bei 40 Kilo gehabt. Jeder Bauer hat einen Kübel für einen halben Metzen gehabt. Das Messen war wichtig, damit der Bauer weiß, ob er damit über den Winter kommt, bis dass wieder Troat reif wird.“

Das Problem der heutigen Bauernkultur Ich meine zu Erwin, dass wir heute in einem Schlaraffenland leben. Wenn es zu einer Krise kommt, was soll dann sein? Erwin meint: „Es kann heute niemand mehr arbeiten. Heute ist auch alles zum Nachteil des Tieres! Das Tier wird heute weit herumgeführt, bevor es geschlachtet wird. Große Gaunereien sind das, lauter Verbrecher. Wir leben heute sehr gut, aber das kann sich einmal rächen. Das fängt ja schon an. Es wachst bei uns kein Getreide mehr. Nur mehr Wiesen gibt es, und die werden viermal oder fünfmal im Jahr gemäht. Die Blumen können nicht mehr absamen. Das Futter, die Wiesengräser, kommt ja nicht mehr zur Blüte. Früher hat das Futter blühen müssen, dann ist geheut worden. Früher hat der Bauer von seinem alten Getreide das neue angebaut. Die Körner dazu hat er aus dem Troatkasten geholt. Er hat zum Beispiel gesagt: ‚Für das Feld brauche ich einen halben Metzen Weizen oder Korn.‘ Dieses Getreide war noch ein echtes Urgetreide. Es kam auch vor, dass sich ein Bauer von einem anderen Bauern die Körner geholt hat zum Aussäen, weil sie vielleicht besser waren. Heute muss der Bauer das Samgetreide (die Körner) einkaufen. Man will Geschäft mit dem Bauern machen.“ 95

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Das Fensterln und die Sexualität – Erwin als Spezialist Ein großer Spezialist dürfte Erwin darin gewesen sein, mit Mädchen anzubandeln. Er war ein fescher, hoch gewachsener Bursch, dem Mädchenherzen zuflogen. Er ging auch gerne fensterln, wie es früher unter den Burschen üblich war. Sie schlichen zum Fenster der Mädchen und hofften, von diesen eingelassen zu werden. Nun geht Erwin auf seine Methode des „Anbandelns“ ein: „Wenn mir ein Madl gefallen hat, habe ich bald angemeiert bei ihr. Wenn es gepasst hat, hat man sich mit dem Mensch zuwidraht in die Staudn. Dann ist es schon gegangen.“ Erwin erzählt mir, dass er mit dem Ross zum Fenster der „Menscherkammer“ geritten ist, wie man die Kammer am Bauernhof nannte, in der die Mägde schliefen. Damals hieß bei den Bauern das Mädchen „das Mensch“, eine nicht unbedingt abwertende Bezeichnung. Bei einer Wanderung mit unserem liebenswerten Dackel ­Waldi schildert mir Erwin einige seiner amourösen Abenteuer. Dabei muss ich an jene Sprüche denken, die mir von Bauernburschen im Laufe der Jahre zugetragen wurden. So bezieht sich ein Spruch darauf, dass in früheren Zeiten die Bauersleute sich nur wenig wuschen, es war heiß am Feld und die Arbeit schwer: „Beim Heuen und beim Schnitt, da stinken die ‚Füt‘ (weibliche Geschlechtsteile), zum Erchbohngraben sind sie wieder zu haben.“ Das ist im September. Ein anderer Spruch heißt: „Pudert der Bauer im Januar, wird die Bäurin zu Michaeli ‚schwa‘ (schwer).“ Gemeint ist damit das Ende der Schwangerschaft Ende September. Oder: „Stinkt die Fut im Summa, wird ein strenger Winter kumma.“ Sprachwissenschaftlich sind die Ausdrücke für die Geschlechtsteile höchst interessant, da sie auf den betreffenden kulturellen Hintergrund verweisen können. Ich frage daher Erwin, welche Ausdrücke er für Penis kenne. Er antwortet: „Beutl, Nudl, Johnagl, das ist der Jochnagel, den man beim Joch der Ochsen verwendet hat, damit die Deichsel hält. Die Deichsel hat man in die Jochwied gesteckt, durch Deichsel und Jochwied ist der Jochnagel durch96

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gesteckt worden.“ Ein schönes Bauernwort für sexuell verkehren kennt Erwin: „Lassen wir einmal unsere zwei Rabenviecher zusammen, da wird es eine Gaudi werden.“ Die Mädchen sollen bei solchen deutlichen Annäherungsversuchen eines Bauernburschen entweder zustimmend gelacht oder gesagt haben: „Geh, schleich dich!“ Es kam darauf an, wie das Mädchen aufgelegt war, meint Erwin. Tolldreiste Burschen suchten den Weg durch das Fenster der Menscherkammer zum Mädchen. Dem Bauern war dies nicht recht, da er seine Dienstboten zur Arbeit brauchte, denn diese begann im Juli schon um drei Uhr. Er konnte es nicht dulden, dass Magd und Knecht unausgeschlafen bei der Feldarbeit waren. Zum Fensterln meint Erwin noch: „Wenn es gegangen ist, ist man durch das Fenster hinein, aber allweil ist dies nicht gegangen, überhaupt wenn ein Fensterkreuz war. In diesem Fall musste man sich in das Haus bei der Tür hinein und die Stiege hinauf schleichen. Wenn der Bauer etwas wahrgenommen hat, ist er eh schon im Vorhaus gestanden und hat den Burschen hinausgeworfen. Der Bauer selbst hat seine Dirnen gepudert und der Moarknecht hat dafür geradestehen müssen, wenn die Dirn schwanger wurde. Die Kinder sind eh beim Bauern aufgewachsen. Der Altschaffer-Bauer hat im Gasthof beim Bahnhof, wo manchmal Huren waren, viel Geld verhurt, er musste seine zwei Ochsen verkaufen. Eine ganze Woche soll er dort bei den Huren geschlafen haben. Seine zwei Ochsen haben sie ihm abgenommen. Er soll gejammert haben: ‚Loch ist Loch, hätt‘ ich doch meine Ochsen noch, hätt‘ ich doch meine Dirnen gepudert.‘ Das ist wirklich eine wahre Geschichte.“ Von den Sprüchen, die Burschen vor dem Fenster des Mädchens gesagt haben, kennt Erwin unter anderem diese: „Da hat es geheißen: ‚Dirndl sei gescheit, nimm an Bubn, der dich freut, und lass den andern, den kloan (kleinen), bei der Saustalltür loan (lehnen).‘ Oder man hat auch gesagt: ‚I kimm (komme) her von Zipferzell (Sipbachzell), steht a Kircha (eine Kirche) mitten am Feld, hat a rupferner (aus Leinen) Pfarra (statt Pfoad für Hemd) a haberne (scharfe) Mess glesen. I bin a dabei gwesen.‘ Ich habe ja keine solchen Sprüche gesagt, ich bin zum Fenster und hab zum 97

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Dirndl gsagt: ‚Geh Dirndl, geh her zum Fenster und erzähl mir etwas.‘ Dann ist es zum Schmusen worden, durchs Fensterkreuz. Das war eine Hundsarbeit. Probiert hab ich alles.“ Eine für mich interessante Geschichte fügt Erwin hinzu: „Einmal haben von einer Hure, sie war Kellnerin im Lindenhof, zehn oder zwölf Spitaler den Tripper bekommen. Fast die ganze Musikkapelle war angesteckt. Sie sind zu deinem Vater in die Ordination gerannt, er hat sie behandelt. Man sprach damals bei uns vom Tripper als der ‚Girtler-Musi‘. Die Leute haben gefragt, ob man auch schon die ‚Girtler-Musi‘ habe.“ Erwin hatte seine Freude mit den Mädchen und sie mit ihm. So lange, bis er seine Erna fand, eine hübsche Dame, die ihm eine gute Gefährtin wurde.

Alte Heilmethoden Mein Freund Erwin Degelsegger kannte sich gut mit alten Heilmethoden aus. So wusste er, Kühe zu behandeln, wenn sie Blähungen hatten. Er erzählt dazu: „Ich habe, wenn eine Kuh aufgebläht war, ein Stilettmesser genommen und in die Hungerlucken der Kuh auf der linken Seite gestochen. Dort habe ich das Messer umgedreht, darauf ist die Luft aus dem Bauch der Kuh gewichen. Die Hungerlucken sind rechts und links eine Handbreite von der oberen Rippe entfernt. Beim Nachbarn hat die Kuh auch einmal Blähungen gehabt, ihr ist es schlecht gegangen. Der Nachbar hat zu mir gesagt, ich solle die Kuh abstechen. Er hat geglaubt, die Kuh sei nicht mehr zu retten. Sie war so blad (dick), dass sie gelegen ist. Ich habe gesagt, dass ich sie jetzt ansteche. Zum Nachbarn habe ich gesagt: ‚Jetzt fährst du zum Tierarzt, er soll kommen und die Kuh zunähen.‘ Der Tierarzt ist gekommen und hat gesagt: ‚Alles ist in Ordnung.‘ Die Kuh ist aufgestanden und hat weitergefressen. Es war eine junge Kuh.“ Über andere alte Heilmethoden erzählt Erwin: „Bei Scheißerei, also Durchfall, gab man den Kühen getrocknete Scheißplet98

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schen, die man unter das Heu mischte. Diese Pletschen wuchsen und wachsen auf den Wiesen, dort, wo viel gedüngt wurde. Früher kamen die Bauern auch ohne Tierärzte aus. Der Tierarzt kam nur zweimal im Jahr. Das eine Mal impfte er vor allem das Almvieh gegen Rauschbrand. Drei Wochen, bevor die Stute das Füllen zur Welt brachte, wurde sie ebenso geimpft, und zwar gegen Schintergrippe. Also gegen eine Krankheit, die tödlich enden konnte, wodurch das Ross zum Schinter (Tierverwerter) kam.“

Der Stier und der Pfarrer Eine lustige Geschichte von einem Stier habe ich von meinem alten Freund Erwin. Er meint, folgende Geschichte sei wahr. Bei einem Bauern wurde die Kuh nicht trächtig, weil der Stier zu faul war, sie zu decken. Der Bauer meinte, der Stall müsse verhext sein, und bat den Pfarrer, ihn mit Weihwasser auszusprengen. Der Pfarrer kam und der Bauer stand mit der Familie dabei, während der Pfarrer den Stall mit Weihwasser aussprengte. Nach einigen Wochen traf der Pfarrer den Bauern und fragte ihn, ob die Kuh trächtig geworden sei. Darauf meinte der Bauer: „Die Kuh ist Gott sei Dank trächtig geworden, aber die Tochter hat auch ein paar Spritzer abbekommen.“

Die Point – ein altes Wort Eine interessante Diskussion führte ich mit Erwin, als ich ihn fragte, was er unter einer „Point“ verstehe, denn mir fiel auf, dass in einigen Flurnamen das Wort vorkommt. Im „Bayerischen Wörterbuch“ von Johann Andreas Schmeller fand ich, dass das Wort Point sich vom mittelhochdeutschen Wort „biunde“ ableitet. Im Althochdeutschen steht „biunta“ für ein ländliches Privatgrundstück, welches dem Gemeinderecht entzogen ist und ursprünglich eingezäunt war. In Spital am Pyhrn gibt es zum Beispiel die 99

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„Krennbauern-Point“, und in Windischgarsten heißt die Siedlung beim Bahnhof „In der Point“. Nach Aussage von Herrn Hubert Stoderegger, Bergbauer und Holzführer in Spital am Pyhrn, bedeutet Point so viel wie eine „halb saure“, eher schlechte, manchmal auch sumpfige Wiese, deren Gras man für das Rossfutter verwendet, auf der man aber auch die Ochsen grasen lässt. Erwin, den ich nach der Point frage, erzählt: „Früher hat man Wiesen gehabt, die sind ‚zwisauer‘ gewesen, das heißt, sie waren weder süß noch sauer. Auf solchen Wiesen wachsen viele Heilkräuter, aber schlechtes Futter für die Kühe. Dort hat man die Rösser grasen lassen, weil im sauren Futter ist ein Schneck drinnen. Der Schneck kräult (klettert) in der Nacht auf die Futterspitzen, und wenn die Rindviecher den fressen, kriegen sie den Leberegel, der die Leber zerstört. Darum hat man so eine Wiese früher eingezäunt und die Rösser hineingetan. Dem Ross hat das nichts gemacht. So eine Wiese war dem Bauern seine Apotheke. Dort stehen alle Heilkräuter vom Taukraut bis zur Orchidee. Auch den Spitzwegerich gab es dort. Meine Großmutter hat dort Pflanzen für Tee gebrockt. Die Ross sind durch dieses Futter gesund geblieben. Wenn ein Ross lauter gutes Futter hat, wird es hitzig, dann kann es den Kreuzschlag bekommen, weil das Blut verdickt ist. Wenn man den Rössern aber ein saures Heu zufüttert, sind sie gesund geblieben. So eine Point mit einer sauren Wiese ist bei der heutigen Hacklsiedlung gewesen, es war die Merzeder-Point.“

Die alten Sauschneider Zur alten Welt der Bauern gehörten die sogenannten Sauschneider. Sie kamen regelmäßig zu den Bauern, um junge Saubären zu kastrieren, damit diese einmal gutes Fleisch geben. Erwin kannte noch die Sauschneider, die in der Nachkriegszeit die Bauern aufsuchten. Ein altes Volkslied bezieht sich auf acht Männer, die einen Saubären kastrieren. Dieses Lied wurde von dem jungen Joseph Haydn in einer heiteren Klavierkomposition vertont. Sie trägt den 100

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Titel „Acht Sauschneider müssen sein“. Haydn, der seine Wurzeln in der bäuerlichen Kultur des Burgenlandes hat, dürfte Freude am Landleben gehabt haben. Davon kündet diese Komposition. Der Text des Volksliedes lautet: „Acht Sauschneider müassn sein, müassn sein, wenns an Saubärn wolln schneidn. Zwoa vorn und zwoa hintn, zwoa holtn und ana bintn, und ana schneidt drein, schneidt drein, ihrer achte müassns sein. Sieben Sauschneider müassn sein, müassn sein …“ Bei den Bauern waren die Sauschneider wegen ihrer hervorragenden und präzisen Arbeit gerne gesehen. Schweine und Rinder kastrierte man, da man sich ein besseres Fleisch erhoffte, und Hengste kastrierte man, weil sie dann als Arbeitsrösser, die man benötigte, ein ruhiges Wesen hatten. Heute sind es die Tierärzte oder die Bauern selber, die ihre Tiere auf dem Bauernhof kastrieren. Berühmt waren die Sauschneider aus dem Lungau, die im Gebiet der damaligen Monarchie weit herumgekommen sind. Als Erkennungszeichen trugen die Lungauer Sauschneider einen Adlerflaum oder auch einen Truthahnflaum auf ihrem Hut, damit die Bauern sie sofort erkennen und ansprechen konnten. In St. Michael im Lungau wurde 1922 für die ausgebildeten Viehschneider – solche gab es seit der Zeit Maria Theresias – der „Österreichische Viehschneiderverein“ gegründet, der immerhin 60 Jahre bestanden hat. Im Lungauer Landschaftsmuseum in Mauterndorf wird dieser alten Viehschneider gedacht. Über die alten Sauschneider wurde und wird gerne gescherzt. Freund Erwin Degelsegger erzählte mir dazu folgenden Witz: „Ein Sauschneider aus dem Lungau fuhr mit der Bahn einmal nach Salzburg. Mit ihm im Abteil saß ein Damenschneider. Der Sauschneider fragte den Damenschneider: ‚Was bist du von dem Beruf?‘ Der Damenschneider antwortete: ‚Ich bin ein Damenschneider.‘ Nun fragte der Damenschneider seinen Reisegefährten, was er von Beruf sei. Dieser antwortete: ‚Ich bin ein Sauschneider.‘ Nach einer Zeit erkundigte sich der Sauschneider, dem offensichtlich bei seiner Tätigkeit viele Schweine verendet sind, beim Damenschneider: ‚Werden bei dir auch so viele hin?‘“ Haydn hätte seine Freude an diesem Witz gehabt 101

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Ehrfurcht statt Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit ist heute geradezu ein Modewort, alles ist schon nachhaltig. Darüber rede ich auch mit Erwin, der mir etwas sehr Gescheites dazu sagt. Er meint, „Ehrfurcht vor der Natur“ würde ihm besser gefallen als „Nachhaltigkeit“. Außerdem kommt „Nachhaltigkeit“ aus der Forstwirtschaft, man würde zu viel in diesen Begriff verpacken. Auch mir ist inzwischen die Problematik dieser Bezeichnung bewusst geworden.

Eine kleine Theorie der Holzknechte und ­Wildschützen Zur alten Bauernkultur gehörten die Holzknechte und Wildschützen. Beide waren die Helden der kleinen Leute. Die Holzknechte, die während des Sommers das Holz schlägerten, das sie im Winter meist mit Rossschlitten von hoch oben zu Tale beförderten, waren kräftige und gut aussehende Burschen. Die Holzarbeit war eine ungemein schwere Arbeit, man benötigte Mut und Ausdauer. Es war nicht leicht, einen solchen Schlitten gut zu lenken. Ein kleiner Fehler konnte das Leben kosten. Zu dieser Bauernkultur gehörten auch die Sennerinnen, die in den Almhütten Holzknechten und Wildschützen Quartier boten. Die Sennerinnen waren es auch, die mitunter Wildschützen vor Jägern versteckten oder zumindest deren Gewehre. Holzknechte waren arme Leute. Wenn eine Bauerntochter einen Holzknecht heiratete, so bedeutete es für sie einen sozialen Abstieg. Man sprach bei einer solchen Hochzeit von einer „Bucklsackhochzeit“, womit man sagen wollte, dass Holzknechte arm waren und höchstens einen Rucksack mit den notwendigsten Dingen besaßen. Ein Holzknecht konnte weder Haus noch Hof sein Eigen nennen, vielmehr gehörte er zu den Dienstboten eines Bauern. Ein Holzknecht war zwar arm, aber er besaß ein mitunter großes Wissen vom Wald, von den Bäumen, von den Tieren im 102

3. Der noble Wildschütz und Holzknecht – Erwin Degelsegger

Wald, von der Herstellung von Rindenhütten und der Kunst, Holz über sogenannte Riesen zu Tal zu befördern. Durch ihre Nähe zum Wald waren Holzknechte potenzielle Wildschützen, denen es Freude macht, dem berechtigten noblen Jagdherrn zum Beispiel die Gams wegzuschießen.

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4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter und Kolumnist Alfred Neuhser Zugang Kennengelernt habe ich Alfred Neuhser – er ist Jahrgang 1940, seine Freunde nennen ihn Freddy – als Mitglied des Redaktionsteams der Zeitschrift „Der Kriminalbeamte“, die es inzwischen unter diesem Namen nicht mehr gibt. Der Kern der Redaktion hat 2003 den Verein „Die Kriminalisten“ und die Fachzeitschrift „Kriminalpolizei“ gegründet. Seit über 20 Jahren gehöre auch ich, der ich Forschungen bei der Polizei, bei Ganoven und Prostituierten durchgeführt habe, diesem Kreis von Kriminalbeamten und anderen Leuten an, die unter der Chefredaktion von Ferdinand Germadnik Artikel für diese Zeitschrift verfasst haben oder verfassen. Im „Kriminalbeamten“ schrieb Alfred Neuhser unter dem schönen Namen „Kokarderl“ eine Kolumne. Die Bezeichnung leitet sich von der Kokarde ab, dem Erkennungszeichen des Kriminalbeamten. Freddy kritisierte in oft heiterer, aber doch ermahnender Weise Missstände in der Polizei. Es war ein Vergnügen, diese Kolumnen zu lesen. Auf die Idee, Alfred Neuhser in dieses Buch einzubauen, kam ich nicht nur wegen der spannenden Geschichten im „Kokarderl“, sondern auch, weil er für mich ein klassischer Kriminalbeamter war, der interessante Kriminalfälle aufgedeckt hat. Ich unterbreitete Alfred bei einem der Treffen der Kriminalbeamten die Idee, über ihn schreiben zu wollen. Er stimmte zu. Zweimal im Jahr trifft sich das Team um Ferdinand Germadnik, zu dem auch Lektoren und Drucker gehören, zu einem geselligen Beisammensein. Im Frühsommer ist es das „Schweizerhaus“ im Wiener Prater und in der Weihnachtszeit das Gasthaus „D‘ Landsknecht“ in der Porzellangasse, in dem wir uns bei heiterem Umtrunk gut unterhalten. Als Ehrengast erscheint auch regelmäßig mit seiner Frau Ernst Hinterberger, der bekannte Autor der 104

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

berühmten Fernsehserie „Ein echter Wiener geht nicht unter“ mit der Hauptfigur Edmund Sackbauer. Freddy ist inzwischen zum Freund von Ernst Hinterberger geworden. Ich fühle mich den beiden und überhaupt dem ganzen Team freundschaftlich verbunden. Ich habe viel durch die Leute vom „Kriminalbeamten“ und dann von der „Kriminalpolizei“ für meinen Beruf erfahren.

Meine eigene Forschung bei der Wiener Polizei Bevor ich mich auf das Leben von Freddy Neuhser einlasse, möchte ich kurz auf meine eigenen Forschungen bei der Wiener Polizei am Beginn der 1980er-Jahre eingehen, denn durch diese bekam ich Kontakt zu dem Kriminalbeamten Ferdinand Germadnik, der bald mein Freund wurde. Meine Forschungen in der Wiener Unterwelt und bei Dirnen dürften ihn interessiert haben. Die Erlaubnis zu dieser Forschung verdanke ich dem damaligen Ministerialrat und Leiter der Bundespolizei im österreichischen Innenministerium Franz Weiskirchner. So durfte ich einige Monate am Polizeidienst in Wien als Soziologe teilnehmen. Als echter „teilnehmender Beobachter“ erlebte ich den Polizeidienst in einigen Wiener Bezirken sehr intensiv. Ich war mit uniformierten Polizisten in ihren Streifenwagen ebenso unterwegs wie mit Kriminalbeamten, wenn sie in verdeckter Fahndung Übeltätern auf der Spur waren. Ich beobachtete Verhöre der Kriminalpolizei und begleitete Streifenpolizisten, wenn sie auf der Jagd nach illegalen Prostituierten waren. Dabei kam es nicht selten vor, dass eine aufgegriffene Dirne neben mir im Fond des Streifenwagens saß. Zu einigen Beamten entstand ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Zu diesen zählte auch der leider schon verstorbene Herr Leopold Aschenbrenner, der damals Kommandant jenes Wachzimmers im 2. Wiener Gemeindebezirk war, in dem ich meine ersten Beobachtungen machen konnte. Mit diesem Herrn von der Polizei verband mich eine große Freundschaft. Es ist interessant, dass Leo­pold Aschenbrenner neben seinem Beruf als Polizist privat ein 105

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begeisterter Vogelkundler mit wissenschaftlichen Ambitionen war. Über den Beginn meiner Forschung, wie er sie erlebt hat, schrieb er mir einen freundlichen Brief, den ich hier zum Teil wiedergeben will. Zunächst erzählt er über seine Tätigkeit als Chef eines Polizeiwachzimmers und geht dann auf meine Person als Forscher ein. Er schreibt: „... Am Beginn einige Erklärungen zu meiner Einstellung zu meinem Beruf und dessen Verlauf. Ich habe sieben Jahre Straßendienst im 2. Bezirk, im Wachzimmer Mühlfeldgasse, gemacht. Nicht leicht, alles zu Fuß und großer Rayon, da war es nötig, gut bei Fuß zu sein! Dazu kam noch, dass ich der Hausposten war, der seinen Kontrollpunkt beim Wachzimmer hatte und alle inzwischen eingetroffenen Amtshandlungen zu erledigen hatte. Beim Einrücken vom Außendienst nach drei Stunden setzte ich mich nicht zum Kartenspielen in den Tagraum, sondern half freiwillig dem Wachkommandanten bei der Erledigung der Dienstpost und schrieb für die Kartenspieler die Anzeigen. So kam es, dass ich als Bester der Abteilung in den Fachkurs für dienstführende Sicherheitswachebeamte aufgenommen wurde. Das Sprichwort heißt: ‚Übung macht den Meister.‘ Die Kollegen spielten lieber Karten! Die letzten 20 Jahre war ich als Gruppeninspektor und Wachkommandant im Wachzimmer Ferdinandstraße und im Filialwachzimmer Praterstraße im 2. Wiener Gemeindebezirk tätig. Kein ruhiger Dienstposten, da Verkehrsknotenpunkt, Durchzugsstraßen, viele Wirtshäuser und Cafés, wie auch einige allgemein bekannte Rotlichtlokale und Stundenhotels! Stellvertreter: Revierinspektor Herbert Krähan. Ein Funkwagen. Besetzung: 10 Sicherheitswachebeamte, 4 Verkehrsposten und 4 Politessen Was kommt auf uns zu? Anruf vom Abteilungskommando. Über Weisung des Polizeipräsidiums wird unserem Wachzimmer ein Gast zugewiesen!!! Ein ‚Studierter‘ von der Universität, ein Soziologe!! Er will eine Studie über den Polizei-Alltag vor Ort machen! Dr. Roland Girtler heißt er. Keine erfreuliche Nachricht für uns alle. Wer kann schon sagen, wie der ist. Ein gespreizter, überheblicher und eingebildeter Besserwisser? Warum gerade bei uns, es gibt doch an die 100 Wachzimmer in Wien! Für mich 106

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser Abb. 4: Kieberer Freddy Alfred Neuhser.

war die Frage leicht zu lösen. Große Fußgängerbewegungen, viele Lokale und das Rotlichtmilieu war die Mischung, die einen Soziologen interessieren müsste. Bei den ‚Oberen‘ war bekannt, dass ich als Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Vogelkunde den Umgang mit den Universitätsleuten gewöhnt war. In der Vogelkunde kennen wir die Feldbeobachtung sehr gut. Man wird verstehen, dass ich meine Mannschaft nicht in unannehmliche Situationen hineintappen lassen wollte. So wurden sie von mir zusammengerufen und dahingehend instruiert, wie sie sich verhalten sollten! Dass die Dienstvorschriften genauestens einzuhalten sind und Dr. Girtler wie ein Gast zu behandeln sei! Revierinspektor Krähan wurde ihm als Betreuer zugeteilt 107

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und ein Platz im Kommandantenraum zugewiesen. So hoffte ich, einen Menschen kennenzulernen, der Mensch war und mit dem man sich unterhalten konnte und der die Wachebeamten nicht als brutale Schläger oder ‚Bullen‘ betrachtete! Denn in einem solchen Fall hätte er bei uns keine längere Bleibe gefunden. Solche Ansichten hätte ich ohne Gegenrede nicht geduldet! Wir hatten aber Glück und es kam anders! Es kam ein Mensch, ein Wissenschafter mit Herz und Verstand, der zum echten Freund wurde! Eines Tages erschien ein Mann von mittlerer Statur, hohe Stirne, schütteres helles Haar, hager und drahtig, und stellte sich freundlich, im Dialekt sprechend, vor! Er wurde von mir eingeladen, Platz zu nehmen, und ausgefragt, was er bei uns unternehmen wolle und wie wir ihn dabei unterstützen könnten! Auch die Mannschaft legte Scheu und Vorbehalt ab und nahm ihn ohne Weiteres in unsere Mitte auf! Das war ein gutes Zeichen, denn gerade Straßenpolizisten haben meist ein Gespür dafür, mit wem sie es zu tun haben! Mein sehr lieber Freund Roland! Du warst mir zwar schon beim ersten Erscheinen mit Deinem lockeren natürlichen Auftreten sympathisch! Doch erst bei unseren Gesprächen gewann ich das Empfinden, dass dieses Verhalten echt und nicht einstudiert ist. Ich gab Dir bereitwillig und offen Antwort auf Deine Fragen und hatte das Gefühl, dass wir in vielen Ansichten einer Meinung sein konnten. So habe ich in meinen alten Tagen noch einen echten Freund gefunden, auf den ich sehr stolz bin! Ein Mensch, offen, ehrlich, treu und verlässlich, den ich nicht missen möchte! Dein Leopold Aschenbrenner“

Das Gespräch mit Alfred Neuhser An einem warmen Julitag 2010 radle ich hinaus nach Simmering. In der Nähe des Zentralfriedhofes, unweit des vierten Tores, zweigt die Gasse ab, in der Freddy Neuhser wohnt. Er sitzt auf dem Balkon der Gemeindewohnung und winkt mir zu. Im ersten Stock werde ich freundlichst von ihm und seiner charmanten Frau Elfi emp108

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fangen. Wir setzen uns an einen Tisch in Freddys Arbeitszimmer, Frau Elfi serviert uns Kuchen und Früchtetee. Ich erzähle Freddy von meiner Idee zu diesem Buch, sie gefällt ihm, er ist interessiert. Im Arbeitszimmer befinden sich Freddys Bücher und eine Vitrine mit seinen vielen Auszeichnungen als Polizist, Bilder hängen an den Wänden, die auf seine berufliche Tätigkeit verweisen, er ist schon eine Zeit lang in Pension. Auf Freddys Auszeichnungen und Berichte werde ich in einem späteren Kapitel eingehen. Ich darf seine Urkunden ansehen. Freddy zeigt mir auch das Eiserne Kreuz 1. Klasse, dass sein Vater wegen Tapferkeit im Krieg erworben hat. Eine Auszeichnung hat er erhalten, weil er in Stalingrad mitgekämpft hat. Sein Vater war kein Freund der Nazis, ebenso wie seine Mutter, die tapfer, wie ich noch zeigen werde, gegen die Unmenschlichkeit von Nazis ankämpfte.

Leben auf Fotos Freddy beginnt über seine Herkunft zu erzählen, dazwischen zeigt er mir Ausweise und Bilder: „Ich bin im Jänner 1940 in Wien geboren worden. Meine Mutter war eine Näherin. Ihr Vater, also mein Großvater, war ein Heizer im E-Werk, er hatte die Kesselwärterprüfung. Trummer war sein Familienname. Er stammte vielleicht ab von Edlen oder Rittern von Trummer, die waren vielleicht Raubritter.“ Freddy zeigt mir einige Ausweise: „Hier der Kinderausweis und hier der Reisepass dazu. Das ist mein Rettungsschwimmerausweis vom Bundesheer.“ Soldat beim österreichischen Heer war Freddy in Mistelbach. Er schildert weiter: „Mein Vater war gelernter Kaufmann. Er und meine Mutter haben in Wien zueinandergefunden.“ Freddy zeigt ein Bild seiner Großeltern väterlicherseits. Ich bewundere die schöne Großmutter. Freddy erzählt: „Sie waren streng katholisch. Der Großvater war Straßenbahner. Die Großmutter war eine liebe Frau, ein seelenguter Mensch. Wenn mein Vater und meine Mutter in der Arbeit waren, hat sie auf mich aufgepasst. Nach dem Krieg hat sich mein Vater zur Polizei gemeldet. 109

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Wir lebten damals in der Russenzone, Wien war ja zwischen den vier Alliierten aufgeteilt. Der Vater hat sich gedacht, als Stalingradkämpfer ist es gut, bei der Polizei unterzutauchen, weil da werden die Russen nicht so genau schauen. Stalingradkämpfer hatten nach dem Krieg, wenn sie entdeckt wurden, in Wien Probleme, manche kamen nach Sibirien.“ Freddy zeigt ein Bild seines Vaters aus dem Krieg: „Auf diesem Bild ist mein Vater als Oberwachtmeister zu sehen.“ Er greift zu einem anderen Bild: „Auf dieses Bild bin ich besonders stolz, es ist das Hochzeitsfoto meiner Eltern aus dem Jahre 1938. Der Vater war damals schon beim deutschen Militär. Zu der Zeit hat man es bei den Nazis nicht gerne gesehen, wenn jemand in der Uniform und katholisch in der Kirche heiratet. Der Vater kam aus einer katholischen Familie. Es haben ab 1938 nur mehr wenige Ehepaare kirchlich geheiratet.“ Freddy greift nach einem anderen Bild: „Dieses Bild zeigt mich beim Militär. Und auf diesem Bild sieht man mich mit meinem Vater und meiner Tochter Elisabeth, als sie noch klein war. Der Vater war ein lieber Großvater. Meine Tochter ist schon 37, sie arbeitet im Gastgewerbe. Sie hat ihren Großvater sehr gern gehabt.“ Nun zieht Freddy ein merkwürdiges Foto aus der Schachtel, das die berühmten englischen Posträuber auf einer Bank sitzend in dem Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud in London zeigt. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich neben den Posträubern Freddy, der sich zu ihnen gesetzt hat. Er erinnert sich: „Ich habe mich zu den Räubern ganz ruhig gesetzt, so als ob auch ich aus Wachs sei und zu den Räubern gehöre. Wie Leute vorbeigegangen sind, habe ich plötzlich ‚Wuff‘ gemacht. Die Leute sind furchtbar erschrocken.“ In jungen Jahren dürfte Freddy ein guter Fußballer gewesen sein, dies ist auf einem Bild zu sehen, das ihn als trainierten Fußballspielspieler bei einem Polizeisportverein zeigt.

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Im Luftschutzkeller – die mutige Mutter – Ohrfeigen für eine herzlose Frau Freddy geht nun näher auf seine Eltern und seine ersten Jahre ein: „Mein Vater war also in Stalingrad, er war immer an der russischen Front. Meine Mutter war früher bei den ‚Roten Falken‘. Mein Vater war aber eher ein ‚Schwarzer‘, er war beim katholischen Reichsbund. Meine Mutter war eine sehr selbstbewusste Frau, sie hat sich nichts gefallen lassen, war aber eine herzensgute Dame. Wir wohnten im 2. Bezirk in der Sebastian-Kneipp-Gasse, im Sechser-Haus, es wurde später gemeinsam mit dem Vierer-Haus wegen der Bombenschäden abgerissen. Während der Luftangriffe auf Wien waren wir im Keller des Zehner-Hauses untergebracht. Meine Mutter hatte oft gesagt, wenn doch der blöde Krieg schon zu Ende wäre. Solche Sachen durfte man damals nicht sagen, man wurde sofort der Aufhetzung bezichtigt. Sie wurde deswegen auch ein paar Mal angezeigt. Man hat zu ihr oft gesagt: ‚Geh Berta, sei gescheit, halte dich etwas zurück.‘ Im Luftschutzkeller war bei den Luftangriffen eine Frau, sie war mit einem getauften Juden verheiratet und hatte mit ihm vier Kinder. Eine andere Frau hat zu ihr gesagt: ‚Seien Sie ruhig, Sie mit ihren vier Judenbankert, Sie gehören ja gar nicht hier in den Luftschutzkeller herein.‘ Da­rauf hat meine Mutter zu dieser Frau gesagt: ‚Halt die Goschn, du deppertes Mensch.‘ Darauf hat diese zu meiner Mutter gesagt: „Sie meine ich auch.‘ Darauf ist meine Mutter aufgestanden, hat ihr zwei Ohrfeigen verpasst und dazu gesagt: ‚Die kannst du dir mit deinem Führer teilen.‘ Das war sehr gefährlich, was die Mutter da gesagt und getan hat. Sie wurde wegen ihrer ehrlichen Worte und der Ohrfeigen vor die Ortsgruppe der NSDAP gerufen. Das hätte schlimm ausgehen können. Doch einem Bekannten der Familie ist es gelungen, sie vor Ärgerem zu retten. Sie bekam bloß einen Verweis und die Auflage, den Mund zu halten. Der Bekannte hat zu ihr gesagt: ‚Berta, wenn noch einmal so etwas ist, kann ich dir nicht mehr helfen.‘ Einmal ist ein Judenmischling mit 17 Jahren, der irgendwo ausgerissen ist, zu uns in das Haus gekommen. Meine Mutter hat den 111

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Burschen auf dem Gang getroffen. Er hat sie gefragt: ‚Wo kann ich hier in der Nacht schlafen? Ich trau mich nicht mehr zu meiner Tante.‘ Die Tante hat neben uns gewohnt, sie war keine Jüdin. Meine Mutter hat zu ihm gesagt: ‚Da komm her und schlaf bei uns im Kabinett.‘ Er hat dann dort auch geschlafen. Wenn man den Burschen bei uns erwischt hätte, wäre es aus gewesen mit meiner Mutter. Nach dem Krieg hat der Bursch die Wohnung neben uns von seiner Tante bekommen. Er hat die Hand über uns gehalten. Wenn die Russen zu uns gekommen sind, hat er sie verjagt. Er hatte die Friedenstaube, ein kommunistisches Symbol, auf dem Fenster kleben. Er war ein überzeugter Kommunist.“

Der kleine Ausreißer – auf Erholung in der Schweiz Freddy zeigt mir einen Kinderausweis. Dazu erzählt er: „Hier ist mein Kinderausweis, mit dem ich nach dem Krieg in die Schweiz gefahren bin. Das war 1946.“ Doch bevor er in die Schweiz zu guten Menschen geschickt wurde, sollte er sich bei einem Bauern in Oberösterreich erholen, wie er erzählt: „Als ich fünf Jahre alt war, wurde ich auf Erholung nach Grünburg zu einem Bauern gebracht. Die Erholung hat so ausgesehen, dass ich nach 14 Tagen ‚beili‘ gegangen, also davongelaufen bin. Ich habe mich als kleiner Bub bis in die Nähe von Gmunden durchgeschlagen. Dort haben mich die Amerikaner aufgegriffen. Da ich denen gesagt habe, dass ich in Wien wohne, haben sie mich den Russen an der Enns übergeben. Im Zug wurde ich dann nach Wien gebracht. Meine Mutter hat mich vom Bahnhof abgeholt. Sie hat geglaubt, ich sei auf dem Bauernhof in Sicherheit. Ich hatte damals den sogenannten Dreierbefund, das heißt Mangelerscheinungen an Kalk und auch die Lunge war nicht gesund. Daher bin ich in die Schweiz gekommen. Besser hätte ich es nicht treffen können. Das erste Erlebnis in der Schweiz in der Aufnahmestation Buchs war allerdings nicht gut. Ich habe dort von der Organisation dieser Kinderverschickung ein Packerl mit Essen 112

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bekommen und es sofort aufgerissen. In dem Packerl war eine Banane, die mir nicht geschmeckt hat. Sie ist mir zufällig vom Tisch auf den Boden gefallen. Eine Aufpasserin kam zu mir her und hat mir eine ordentliche Ohrfeige gegeben. Daraufhin habe ich ihr mit meinem Holzschuh einen Tritt auf das Schienbein versetzt. Die Frau hat aufgeschrien. Ein Mann ist ihr zu Hilfe gekommen und hat zu mir gesagt: ‚Merke dir eines für dein Leben, Frauen haut man nicht!‘ Ich war der Erste, den sie in den Zug gesetzt und nach Luzern geschickt haben. Die werden froh gewesen sein, mich los zu sein. In Buchs hat man mir einen Kinderausweis vom Roten Kreuz umgehängt, den ich heute noch habe. Von Wien bis Buchs hatte ich einen anderen Ausweis umgehängt, den man mir in Buchs weggenommen hat. In Luzern hat mich niemand abgeholt. Ich bin alleine auf dem Bahnhof gestanden und habe mich beim Roten Kreuz gemeldet. Die haben mich gefragt, warum ich jetzt schon gekommen sei. Ich habe gesagt: ‚Was soll ich machen, ich bin hierhergeschickt worden.‘ Ich habe damals nach der Schrift gesprochen. Bald sind meine Leute gekommen, bei denen ich die nächste Zeit wohnen sollte. Zuerst haben sie mich zu einer Schüssel Joghurt mit Erdbeeren eingeladen. Die habe ich hinuntergeschlungen, sodass mir schlecht geworden ist. Die Tante Rösli, so hat meine Pflegemutter geheißen, hat später gesagt, sie hätte um mich so viel Angst gehabt. Mir war nämlich wirklich sehr schlecht nach diesem Essen. Mir ist es bei meinen Pflegeeltern in Luzern derartig gut gegangen, dass ich gar nicht heimfahren wollte. Drei Monate war ich dort. Sogar neue Kleidung haben meine Pflegeeltern gezahlt.“ Freddy zeigt mir ein Bild aus dieser Zeit und fährt fort: „Der Pflegevater war Milchkutscher, die beiden hatten eine Tochter, die später studiert hat und Stewardess bei der Swissair wurde. Diese lieben Schweizer Pflegeeltern habe ich später mit 17 Jahren wieder in der Schweiz besucht. Meine Eltern hatten mir die Fahrt dorthin bezahlt. Als ich dann ein Auto hatte, habe ich diese netten Leute gemeinsam mit meiner Elfi besucht.“ Freddy legt mir ein Bild vor, das seine Schweizer „Pflegeschwester“ zeigt: „Meine Cousine habe ich sie genannt. Leider habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Sie hat nach Basel geheiratet.“ 113

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Freddy war also ein „Schweizerkind“, wie man in Wien jene Kinder bezeichnete, die nach dem Krieg für ein paar Monate zu Pflegeeltern in der Schweiz geschickt wurden. Als ehemalige Schweizerkinder waren sie im Rathaus zu einer Jause, es dürfte sich um das Jahr 2003 handeln, gebeten worden. Er zeigte mir ein Bild von damals.

Kindheitswunsch Kriminalinspektor – Lehrzeit zum Fleischhauer Freddy erzählt: „Die Volks- und Hauptschule habe ich im 2. Bezirk besucht. In das Gymnasium wollte ich nicht. Schon im Kindergarten habe ich gesagt: ‚Ich werde Kriminalinspektor.‘ Ich habe mir später sogar aufgeschrieben, dass ich Kriminalinspektor werden wolle. Die Ungerechtigkeiten unter Menschen, die ich auch während des Krieges gesehen habe, haben mich veranlasst, mit diesem Beruf zu liebäugeln. Außerdem war mein Vater bereits bei der Polizei. Zu meiner Kindheit gehört der Wiener Prater. Damals gab es dort noch viele Schaubuden. Bei diesen haben wir als Schulbuben öfter als ‚Aufreißer‘ geholfen. Wir sollten Leute aufreißen, damit sie die Schaubuden besuchen. Wir waren echte Ausrufer, wir haben geblödelt, damit die Leute stehen bleiben. Bekommen hat jeder Ausrufer ein Kracherl vom Besitzer der Schaubuden. Etwas Geld haben wir als Buben beim Tennisspielen verdienen können als Ballschani. Tennis war damals noch der Sport der Reichen. Pro Stunde haben wir für das Einsammeln der Bälle zwei Schilling bekommen. Der Tennisplatz lag gleich am Beginn des Praters. Vier Stunden lange habe ich beim Ballaufklauben geschwitzt. Nach dem Ballaufklauben bin ich zu dem einen Spieler gegangen, um mir meinen Lohn abzuholen. Er hat mir vier Schilling gegeben. Auch bin ich zu seinem Partner um Geld gegangen, der hat mir aber keines gegeben, er hat bloß gesagt: ‚Du hast eh schon vier Schilling bekommen.‘ Dagegen hat man nichts machen können. Ich habe aber dieses Verhalten des zweiten Spielers für eine Ungerechtig114

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keit gehalten. Dadurch ist mein Entschluss gereift, einmal Kriminalinspektor zu werden. Ungerechtigkeiten haben mich seit jeher empört. Zunächst habe ich jedoch nach der Schule Fleischhacker gelernt. Ich habe mir gesagt, ich möchte nicht mehr hungern. Vom Beruf als Fleischhacker habe ich mir erhofft, immer etwas zu essen zu haben. Kraft für diesen Beruf habe ich genug gehabt. Ich habe sogar die Gesellenprüfung und die Facharbeiterprüfung mit gutem Erfolg abgelegt. Ich bin also ein ausgelernter Fleischergeselle. Als solcher habe ich bei der Firma Magrutsch, einer Wurstfabrik, eine Anstellung gefunden. Mit 18 Jahren musste ich zum Bundesheer. Mir hat es bei diesem nicht schlecht gefallen. Danach wollte ich allerdings nicht mehr als Fleischhauer arbeiten. Daher habe ich mich bei der Polizei beworben und wurde genommen. Dies war im Jahre 1960. Mein Kindheitswunsch ist also zunächst in Erfüllung gegangen. Um Kriminalpolizist zu werden, musste ich jedoch zuerst zur uniformierten Polizei. Zwei Jahre habe ich die Polizeischule besucht. Nach weiteren zwei Jahren wurde ich definitiv gestellt, ich hatte nun eine feste Anstellung bei der Polizei. 1967 wechselte ich nach einem Jahr Kurs zur Kriminalpolizei.“ Ich unterbreche und halte fest, dass es damals in den 1960erJahren den schönen Spruch gab: „Bist du jung, gesund und frei, dann geh zur Wiener Polizei.“ Freddy lacht und stimmt zu: „Das war 1962, da war ich schon bei der Polizei. Genau solche Sprüche und anderes weisen auf die naive, umständliche Denkweise der Sicherheitsaristokratie hin. Die Leute damals waren genauso wie die heute. Sie machten damals einen Aufnahmestopp, obwohl zu der Zeit viele Polizeibeamte in Pension gegangen sind. Auf einmal fehlte es an Leuten bei der Polizei, denn damals riss man sich nicht um einen Posten bei der Polizei. Jetzt mussten die Chefs der Polizei Werbesergeanten wie seinerzeit Napoleon einsetzen, um zu Leuten zu kommen. Solche Werbespezialisten sind herumgefahren und haben nach Leuten gesucht. Ob diese unbedingt geeignet waren für den Polizeidienst, dürfte ihnen egal gewesen sein. Heute ist es ähnlich, zum Beispiel sind Aufnahmsprüfungen zu machen. Wie viele gute Leute sie dabei nicht nehmen, ist unglaublich. Ich rede 115

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jetzt nur vom Sportlichen. Mitreden kann ich beim Schwimmen, denn ich war selbst Wettschwimmer mit einer Silbermedaille. Was die bei der Polizei heute verlangen, ist für einen Polizisten unnötig. Ein Polizist muss ausdauernd schwimmen können und dies zumindest auch leicht bekleidet: Er muss ausgebildeter Rettungsschwimmer sein, aber Schnellschwimmen im Stadthallenbad mit Wenden am Beckenrand, das brauchen wir nicht bei der Polizei. Diese Qualifikation ist unnötig. Deswegen habe ich meine Glossen im ‚Kriminalbeamten‘ unter ‚Kokarderl‘, da kann ich darüber schreiben.“

Freddy als Straßenpolizist – er lernt seine Frau kennen Zunächst ist Freddy also Straßenpolizist. Seinen ersten Dienst absolviert er im Wachzimmer am Hof in Wien, im 1. Bezirk. In den 1960er-Jahren gehörte es noch zu den Aufgaben von uniformierten Straßenpolizisten, Kreuzungen zu regeln. Diesem Umstand verdankt Freddy, dass er seine Frau Elfi kennengelernt hat. Bei seiner Tätigkeit als Wachmann am Ring bei der Kreuzung Wipplingerstraße hatte sie ihn beobachtet und Gefallen an ihm gefunden, er war ja ein hübscher junger Mann. Freddy erzählt dazu: „Meine Frau habe ich im Dienst kennengelernt. Sie war Drogistin. Sie ist eine Station mit der Straßenbahn bis zur Wipplingerstraße gefahren, dort ausgestiegen, weil ich an der Kreuzung Wachmann war. Sie ist dann eine Station zu Fuß zurückgegangen zur Porzellangasse, wo sie gearbeitet hat.“ Freddy zeigt mir sein Hochzeitsbild, auf dem die hübsche Elfi freundlich lächelt. Sie ist ihm eine gute Kameradin geblieben, bis heute. Freddy ist nicht Straßenpolizist geblieben. Er meint: „Für mich hat es nur die Kriminalpolizei gegeben.“ Um die Straßenpolizisten zu loben, erwähne ich, dass ich auch gute Erfahrungen mit einigen von ihnen gemacht hätte. So erzähle ich, wie ich 1962 bei Rot über die Kreuzung am Schwarzenbergplatz gelaufen bin. Der Polizist, 116

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der die Kreuzung dort regelte, hätte mich herbeigerufen und gemeint, ich hätte drei Möglichkeiten. Entweder solle ich als Strafe 50 Schilling bezahlen oder er würde mich anzeigen, dann koste es noch mehr. Ich fragte ihn nach der dritten Möglichkeit, er hatte ja von drei gesprochen. Er sagte lächelnd: „Oder Sie gehen dreimal um diese Kreuzung, wobei Sie sich genau an die Vorschriften halten.“ Ich wählte diese Möglichkeit und entkam so einer Geldstrafe. Als ich einmal um die Kreuzung gegangen war, erließ mir der gütige Polizist die weiteren Wanderungen. Freddy lacht: „So etwas konnte nur ein humorvoller Polizist bei einem humorvollen Menschen machen. Ein anderer hätte an deiner Stelle vielleicht gesagt, dann beschwere ich mich.“

Freddy als echter Kriminalpolizist – das Problem der Reformkommission Freddy wechselt 1967 nach 6 ½ Jahren von der uniformierten Polizei zur Kriminalpolizei: „Ich musste eine Aufnahmsprüfung machen, mit Diktaten und so weiter. Dann musste ich mir ein halbes Jahr lang Theorien zu den Aufgaben als Kriminalpolizist anhören, daran schloss sich ein halbes Jahr lang Praxis. Das gibt es heute nicht mehr. Das haben die Herren der Polizei abgeschafft. Die Kriminalpolizei im herkömmlichen Sinn ist aufgelöst worden, das ist Tatsache. Die letzten echten Kriminalbeamten sterben aus oder gehen in Pension. Heute gibt es nur mehr zivile und uniformierte Exekutivorgane. Es gibt zwar ein Landeskriminalamt, aber das wird bald ohne Kriminalbeamte sein. Heute gibt es keine spezielle Ausbildung für Kriminalbeamte mehr, nur eine Ausbildung für alle Exekutivbeamten. Das verstehe ich so, wie wenn man alle Schmiede gleich ausbildet, egal ob Gold- oder Hufschmiede. Die gehören demnach alle zusammen, so aber geht es nicht, meine ich. Heute gibt es einen gemeinsamen Chargenkurs für alle Polizisten. Früher gab es einen Chargenkurs extra für die Kriminalbeamten und einen extra für die Uniformierten. Heute kann man sich nach dem Chargenkurs zu der einen oder 117

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der anderen Polizei melden. Ich bin noch ein echt ausgebildeter Kriminalbeamter, mit Chargenkurs, der einen Monat gedauert hat. Durch Innenminister Strasser kam es zum Wandel bei der Polizei. Es wurde die Reformkommission geschaffen. Die Polizei ist meines Erachtens, dies kann ich als Kripoveteran von einem Logenplatz aus sagen, nicht reformiert, sondern demoliert worden.“ Freddy stoppt in seiner Erzählung und bittet mich, seine weiteren Gedanken zu den Reformen der Polizei nicht auf Tonband aufzunehmen. Ich tue dies. Erst nach einer Zeit darf ich den Kassettenrekorder wieder einschalten.

Von der Staatspolizei nach Favoriten – die harte Arbeit als Kieberer „Gleich nach dem Kriminalbeamtenkurs kam ich zur Einschulung als Kriminalbeamter in den 10., 15. und 14. Bezirk“, erzählt Freddy weiter, „aus mir nicht erklärlichen Gründen bin ich zur Staatspolizei gekommen. Dorthin wollte ich eigentlich nie. Meine erste Aktion war, mein Versetzungsgesuch abzugeben. Mich hat nie interessiert, was die dort tun. Ich war für die Kriminellen zuständig. Politische Kriminelle gab es auch, aber nicht in dem Sinn wie heute. Sonst hätte mich das auch interessiert. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, habe mein ‚sehr gut‘ in der Beschreibung weiter gehabt. Nur die ‚Goschn‘ habe ich aufgerissen und gesagt, dass es mir hier nicht gefalle. Das wird man in der Demokratie doch noch sagen dürfen. Meine Bemerkungen haben Früchte getragen, denn bald wurde ich als Kriminalbeamter nach Favoriten versetzt. 1972 machte man mich zum Kriminal- und Revierinspektor. In jedem Bezirkskommissariat gab es vier Kriminalbeamtengruppen, jede Gruppe bestand aus fünf oder sechs Leuten. Die Bezirke waren in vier Teile eingeteilt, also Rayons. Neun Jahre arbeitete ich in Favoriten. Die Arbeit war nicht leicht, denn ich hatte viele Nachtdienste zu leisten, so bekam ich 1984 einen Herzinfarkt. Der Stress war mir einfach zu viel. Ich bin 1993 in 118

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Pension gegangen, wie sich der zweite Herzinfarkt angekündigt hat bei einer Kur in Bad Schallerbach. Wahrscheinlich habe ich allgemein zu wenig Bewegung gemacht, das war schlecht für das Herz. Mit 60 Jahren habe ich noch Fußball gespielt, und zwar bei einem Match der Journalisten gegen die Polizeioffiziere. Als Kolumnist ‚Kokarderl‘ habe ich bei den Journalisten gespielt. Man darf nicht vergessen, Kieberei, also die Arbeit als Kriminalbeamter, ist nicht romantisch. In Wirklichkeit lebt man als Kieberer gefährlich. Man weiß nie, ob man gesund heimkommt. Einem Kollegen von mir zum Beispiel ist es schlecht ergangen. Er hat wegen einer Lenkererhebung einen Mann in dessen Wohnung aufgesucht und zu ihm gesagt: ‚Guten Tag, sind Sie der Lenker von dem PKW mit der Nummer …?‘ ‚Ja, ja‘, sagte dieser, drehte sich um und hatte plötzlich einen Revolver in der Hand. Mit diesem hat er meinen Kollegen erschossen. Solche Sachen kommen leider vor. Aber wenn ich, um mich zu schützen, mit dem Revolver in der Hand zu ihm hingehe, so habe ich Probleme und stehe ich in der Zeitung. Ich bin dem Herrgott dankbar, dass ich nie in die Situation gekommen bin, von der Schusswaffe Gebrauch machen zu müssen. In der Hand habe ich meine Schusswaffe oft gehabt. Aber ich musste nie einem Verbrecher nachschießen. Wenn es eine Situation gegeben hätte, die für mich lebensgefährlich gewesen wäre, hätte ich geschossen, denn ich habe Familie. Als Außenstehender sieht man dies alles nur vom Logenplatz aus. Ich möchte kein Urteil abgeben über Polizisten, die von der Schusswaffe Gebrauch gemacht haben. Ich meine die beiden Kollegen aus Krems, die einen jungen Einbrecher erschossen haben. Sie wurden zu einem Einbruch gerufen, es war dunkel und es war Nacht. Hätten sie sagen sollen ‚Wir holen die Kobra und gehen fort!‘? Sie mussten schauen, was los sei. Dabei kam es zu den unglücklichen Schüssen. Aber den beiden Polizisten, die sich bedroht gefühlt haben, eine grobe Fahrlässigkeit zu unterstellen, ist eine Frechheit. Der andere Einbrecher, der nur angeschossen wurde, hat geklagt wegen seelischem Schmerz, weil der Komplize erschossen worden ist. Das ist ein Wahnsinn! Was ist mit den Eltern und ihrer Aufsichtspflicht? 119

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Der eine Einbrecher war 14 Jahre alt und 1 Meter 90 groß, vermummt. Hat er ein Schild umgehabt, wo draufsteht, er sei nur 14 Jahre alt? Die Polizisten konnten im Dunkeln nicht erkennen, mit wem sie es zu tun haben. Das Gerichtsurteil gegen den Polizisten nehme ich zur Kenntnis, aber es ist zu hinterfragen. Jeder gesetzestreue Mensch hat eine große Hemmschwelle, auf einen anderen Menschen zu schießen.“ Freddy meint, dass durch den oft erhobenen Vorwurf, dass Polizisten ungerechtfertigt von der Schusswaffe Gebrauch machen, die Polizisten eher gehemmt sind, überhaupt zur Pistole zu greifen.

Der Gauner mit dem Namen der Ehefrau Freddy fährt fort: „Einer meiner besten Freunde, er ist leider schon verstorben, war Dr. Ludwig Berghammer, er war Polizeichef in Favoriten. Er hat ein Buch geschrieben, bei dem ich ein klein wenig mitgewirkt habe, es heißt: ‚Ein Bezirk hält den Atem an.‘ Auf Seite 69 steht eine Geschichte von einem Verbrecher, der im Jahre 1979 auf lebende Ziele geschossen hat. Diese Geschichte ist das typische Beispiel, dass sich bei der Hochsicherheitsaristokratie nicht viel geändert hat. Diese Geschichte ist interessant, ich muss vo­ rausschicken, dass damals schon der Mann durch Heirat den Namen der Frau annehmen konnte. Das ist heute auch noch so. Wir kleine Kriminalbeamte – das Fußvolk – haben unter uns schon gesagt, dass die da oben bei der Polizei hoffentlich so gescheit seien und schauen, dass der neue Name des Mannes, vor allem, wenn er ein Gauner ist, auch gemeldet werde und aktenkundig sei. Unsere Hochdenker am Kommissariat, denen wir dies klarmachen wollten, meinten, welcher Mann würde schon den Namen der Frau annehmen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass jemand so etwas tut. Ich habe aber gesagt, die Pülcher, die Gauner, sind die Ersten, die so etwas machen. Theoretisch kann ein Gauner, wenn er mit dem neuen Namen der Frau aufscheint und niemand weiß, dass er früher anders geheißen hat, zum Beispiel den Führerschein ma120

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chen, obwohl er ihn aus irgendwelchen Gründen nicht mehr machen dürfte. Ein solcher kann mit dem neuen Namen theoretisch sogar Polizist werden, da keiner weiß, dass der Betreffende sich unter seinem vorigen Namen strafbar gemacht hat. Man hat mich wegen dieser Bedenken als Schwarzseher bezeichnet. Dazu will ich noch eine Geschichte erzählen. Es hat nicht lange gedauert und ich sehe, als ich vom Dienst heimgehe, auf der Straße einen ehemaligen Kunden von mir, einen früheren Einbrecher. Ich habe nicht genau gewusst, ist er es oder ist er es nicht. Ich überlegte mir, wenn es der ist, den ich meine, dann hatten wir ihn damals erwischt, er muss eine Zeit im Häfen – im Gefängnis – verbracht haben. Ich gehe ihm nach. Er geht in eine Bank hinein, eine Frau war mit ihm, er füllt einen Scheck aus. Nachdem die beiden die Bank wieder verlassen hatten, bin ich zu dem Bankangestellten gegangen, ich habe ihn relativ gut gekannt, und habe ihn gefragt, wie der Mann heiße. Er hat mir den Namen gesagt. Über das Meldeamt habe ich geschaut, wo dieser Herr in Wien wohnt. Auf dem Meldezettel ist gestanden: zugezogen von Krems. Da wurde ich aufmerksam, denn er kann vom Häfen, vom Gefängnis Stein, zugezogen sein. Jetzt habe ich bei der Stadt Krems angerufen und habe mich nach diesem Herrn erkundigt. Ich wollte wissen, wo der gewohnt hat. Man hat mir mitgeteilt, er hat bei uns geheiratet. Danke! Wie hat der früher geheißen? Das war der X. Y. Jetzt habe ich mir das Strafregister von diesem X. Y. angeschaut. Das war damals kein Problem für mich als Kriminalpolizist. So zu recherchieren, wäre heute nicht mehr möglich – wegen der Hochdenker. Heute muss man tausend Aktenzahlen haben. Es lag nichts gegen den Herrn vor, die Straftaten, die er begangen hatte, hatte er schon abgesessen. Ich habe nun sein Strafregister nach seinem jetzigen Namen angeschaut. Nichts, null, eine Jungfrau, keinen Hinweis auf frühere Straftaten gab es. Das darf ja nicht wahr sein. Einen Führerschein hatte er schon. Er war ein Einbrecher und ein Gewalttäter. In der Erziehungsanstalt Kaiserebersdorf war er auch. Er war ein echter Häfenbruder. Er hätte keinen Führerschein machen dürfen. Ich gehe zum Dr. Berghammer, meinem Freund, und er121

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zähle ihm diese Geschichte. Er meinte, ich solle dies dem Ministerium schreiben: ‚Dieser himmelschreiende Übelstand gehört abgeschafft!‘, sagte er. Ich habe dies gemacht, aber die da oben werden sich gesagt haben, da ist schon wieder so ein Gescheiter, der alles besser weiß. Dies alles spielte sich im Jahre 1979 ab. Jetzt kommt das, was in dem Buch ‚Ein Bezirk hält den Atem an‘ steht. Ich sitze eines Tages beim Fernsehen und schaue die Nachrichten an. Ich höre und sehe einen Beitrag über einen Erschossenen und zwei Schwerverletzte in Favoriten. Ein Amokschütze war am Werk. Auf einmal sehe ich im Fernsehen diesen X. Y., den mit dem neuen Namen, wie der in einem Auto sitzt und sich als Zeuge zur Verfügung stellt: Ja, er hat Schüsse gehört. Ich rufe den Dr. Berghammer an und sage ihm: ‚Hör zu, dieser Mann, der sich als Zeuge gemeldet hat, ist der, über den ich an das Ministerium geschrieben habe. Man muss sich den Mann genauer ansehen.‘ ‚Ja, wir sind schon dabei‘, hat der Berghammer gesagt. Es hat sich schließlich herausgestellt, dieser Zeuge war tatsächlich der Amokschütze selbst. In seiner Wohnung hat man das Gewehr gefunden. Wegen dieser Geschichte gab es schließlich eine große Konferenz. Bevor ich meine Bedenken bezüglich des Namens niedergeschrieben habe, hatte ich vom Innenministerium bereits einige Belobigungen wegen Klärung von Straftaten erhalten. Der Amokschütze ist schließlich zu lebenslangem Gefängnis verurteilt worden, das hat ihm gebührt. Ich habe mich damals still gefragt: ‚Wird man sich an mich erinnern, ich habe ja auf den Übelstand hingewiesen?‘ Der kleinlaute Hochdenker im Polizeipräsidium hat bloß gemeint, einer von der Polizei hat dazu schon etwas gesagt. Ich habe jedenfalls keine Belobigung erhalten, gar nichts.“ Ich halte fest, dass erst durch seine Aufmerksamkeit die Polizei auf diesen Verbrecher gekommen ist. Freddy bejaht: „Der Mann war ein Psychopath, der hinter Gitter gehörte. Heute ist es für einen Kriminalbeamten, der etwas über einen Gauner wissen will, schwer, solche Sachen herauszubekommen, er braucht eine Zahl und alles Mögliche.“ Zur Methode des Recherchierens als Kriminalbeamter sagt er etwas, das auch für einen echten Soziologen 122

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interessant ist: „Ein Kriminalbeamter, der brav ist und vielleicht einem Kardinal auf dem Schoß sitzt, kommt vielleicht in den Himmel, aber etwas über Gauner und Verbrechen kann er nur in einer ‚Bumsen‘, einem übel beleumundeten Lokal, erfahren.“

Die Hochdenker – die Oberen der Polizei – die „guten Menschen“ Schmunzelnd meint Freddy über die Vorgesetzten bei der Polizei: „Manche haben schon einen Hausverstand, aber sie machen keinen Gebrauch davon. Es gab einige Hochdenker bei der Polizei, die waren hervorragend, zum Beispiel der frühere Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Michael Sika, er war hundertprozentig in Ordnung. Er war der Erste von den Oberen, der gesagt hat, dass die organisierte Kriminalität besonders gefährlich sei, wenn sie in der Politik Fuß fasse. Das hat er vor 20 Jahren schon gesagt. In der Politik und in der Wirtschaft, in Kunst und Kultur werden sich die Gauner alle wieder finden, meinte Sika. Wir sind schon so weit. Schau dir die Bankdirektoren an. Sie stehlen, Währungen werden ruiniert. Das ist die Wirtschaftskriminalität. Auch in der Prostitution gibt es heute die organisierte Kriminalität. Eine derartige Brutalität hat es früher nicht gegeben, dass zum Beispiel ein Zuhälter eine nicht gefügige Dirne mit Benzin übergießt und sie anzündet, wie es neulich berichtet wurde. Es fehlt der Ehrenkodex, den viele der alten Zuhälter früher noch hatten. Sicherlich sind vor 20 oder 30 Jahren Prostituierte auch durch Schläge und Drogen gezwungen worden, das Gewerbe auszuüben. Aber es waren nur wenige Dirnen, die derart von Zuhältern behandelt wurden. Die damaligen Dirnen waren Österreicherinnen. Jetzt sind die Frauen, die bei uns auf dem Strich landen, aus dem Ausland und sehr arm. Sie werden bedroht und der Pass wird ihnen von ausländischen Zuhältern abgenommen. Es spielt sich etwas ab hier bei uns, die russische Mafia ist da. Gewisse ‚Gutmenschen‘ verstehe ich nicht, sie sind etwas naiv. Es gibt gute und gescheite Leute, die etwas vom Leben verstehen 123

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

und die sich dennoch vor den Karren der Gauner spannen lassen. Ich denke da an manche Leute der Caritas und manche Leute von Amnesty, die den Drogendealern helfen. Wenn sich diese Leute vor allem um die politisch Verfolgten kümmern würden, so finde ich dies für richtig, Hut ab vor ihnen, ich bin da auf ihrer Seite und spende. Wenn sie sich aber um einen Einbrecher kümmern, den ein Kriminalbeamter einmal böse angesehen hat und der sich deswegen seelisch gefoltert sieht, dann hört der Spaß auf. Wo kommt man hin – ich habe darüber geschrieben –, wenn ein Denkmal für jemanden aufgestellt wird, der ein Drogendealer war, von dem man nicht einmal weiß, wie er wirklich geheißen hat. Es war dies der Marcus Omofuma, so hat er sich genannt, den man wegen seines Drogendealens abschieben wollte und der im Flugzeug so großen Wirbel gemacht hat, worauf ihm von einem Polizisten der Mund zugeklebt wurde, damit er Ruhe gibt. Leider ist er daran gestorben. Der Polizist wollte das sicher nicht, aber er hat es oft schwer, in Bruchteilen einer Sekunde richtig zu entscheiden. Heute lese ich in der Zeitung: Bei der U-Bahn-Station Karlsplatz sammeln Sandler und Drogenabhängige Unterschriften, damit der Karlsplatz nicht umgebaut wird. Das ist ein Wahnsinn. Diese Leute wollen sich weiterhin in gewohnter Umgebung herumtreiben.“ Ich meine, dass junge Drogenabhängige, Obdachlose und verlotterte Ausländer es nicht immer leicht haben, entsprechend zu überleben, denn sie werden von vielen Seiten verachtet und manchmal auch von Polizisten. Freddy schüttelt zweifelnd den Kopf: „Der Polizist ist der, der einerseits der Bevölkerung mit seiner Hand Sicherheit geben soll und auch gibt, und dessen Hand andererseits von den Leuten gebissen wird. Ungefähr so ist es. Zu den Beißenden aus der Bevölkerung kommen noch die Beißer von den Hohen der Polizei dazu. So hat ein hoher Polizeioffizier in Wien zu dem Schusswaffengebrauch in Krems gesagt, dass es ein Fehler von dem betreffenden Polizisten war, zu schießen. Er hätte nachdenken müssen, um so etwas zu vermeiden. Dazu muss ich sagen: Der Polizeioffizier hat keine Ahnung vom Polizeidienst. Der Mann hat vielleicht brav gelernt und in der Schule aufgepasst und 124

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vielleicht ist er ein netter Mensch, aber vom praktischen Dienst der Polizei hat er keine Ahnung.“

Der Kolumnist des „Kriminalbeamten“ – der „natürliche Adel“ Weithin bekannt, nicht nur bei der Polizei, wurde Alfred Neuhser vor allem durch seine spannende Kolumne „Kokarderl“ im „Kriminalbeamten“. Auch ich gehörte zu den Lesern. Charakteristisch war ihr Symbol, eine Kokarde mit Hut, zornig-fragendem Gesicht und Füßen. Ich frage Freddy Neuhser, wie er überhaupt zum Redaktionsteam gekommen ist und wer ihn dazu angeworben hat. Freddy erzählt: „Am Beginn der 1980er-Jahre war noch Oberst Kurt Schwartling Obmann der Vereinigung der Bundeskriminalbeamten, die den ‚Kriminalbeamten‘ herausgegeben hat. Bei einem Ball der Kriminalbeamten, es war 1982 oder 1983, habe ich zu ihm gesagt: ‚Herr Oberst, Euer Blatt ist genau so ein Selbstbeweihräucherungsblatt wie jedes andere, es fehlt etwas Kritisches.‘ Damals haben die Wachleute bei uns noch mit dem Pfeiferl Signal gegeben, während sie im Kongo schon Funkgeräte gehabt haben. ‚Wir leben noch in der Steinzeit‘, habe ich zu ihm gesagt. Funkgeräte für die einzelnen uniformierten Beamten auf der Straße gab es damals noch nicht. Heute gibt es ohnehin selten einen Wachmann auf der Straße.“ Ich unterbreche Freddy in seinem Redefluss und halte fest, dass es um den Straßendienst der Polizei schade ist. Es wirkt beruhigend, wenn Polizisten zu Fuß durch die Straßen gehen. Freddy erinnert sich: „Durch den Dienst im Rayon hatte man Kenntnisse von Lokalen und Personen. Das ist unbezahlbar. Viele Polizisten hatten immer eine Schnur bei sich zum Nabelabbinden, falls sie zu einer Geburt gerufen wurden. Auch einen Schilling musste man immer bei sich haben zum Telefonieren, Funkgeräte gab es ja nicht. Der Polizist musste auch regelmäßig bei einem Kontrollpunkt sein. Wenn ein Polizist aber zum Beispiel dabei war, einen 125

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Einbrecher zu erwischen, konnte er nicht beim Kontrollpunkt sein. Es gab Vorgesetzte bei der Polizei, die in einem solchen Fall gesagt haben: ‚Den Kontrollpunkt hätten Sie einhalten müssen.‘ Solche Leute haben mich schon immer aufgeregt. Ich habe also dem Schwartling gesagt, es fehlt etwas Kritisches in der Zeitschrift. Darauf hat er gesagt: ‚Dann schreib doch du so etwas, das kritisch ist!‘ Kurtl Schwartling war einer meiner besten Freunde, er war ein Superkerl. Er und der Berghammer waren lebenslängliche Freunde, leider sind beide schon verstorben. Wir haben gestritten, aber wir waren Freunde. Der Kurtl hat mir also am Ball gesagt: ‚Du machst das!‘ Ich war schon gut aufgelegt, ein paar Gläser Wein hatte ich schon getrunken und sagte: ‚Ja, das mache ich.‘ Am nächsten Tag, ich habe nicht mehr daran gedacht, läutet das Telefon. Wer ruft an? Der Kurtl, und fragt: ‚Na was ist, schreibst du schon etwas? Du hast ja gesagt, du willst etwas schreiben.‘ ‚Geht in Ordnung‘, sag ich, ‚ich schreib etwas.‘ Ich habe nicht eine Geschichte geschrieben, ich habe gleich drei auf einmal geschrieben. ‚Such dir eine aus‘, habe ich gesagt. Alle drei Geschichten haben sie veröffentlicht.“ Auf meine Frage, wie viele Geschichten er als „Kokarderl“ geschrieben hat, verweist Freddy auf einen ganzen Pack von Zeitschriften „Der Kriminalbeamte“, der neben seinem Schreibtisch gestapelt liegt. Über die Beendigung seiner Tätigkeit als Kolumnist erzählt Freddy weiter: „Aufgehört habe ich mit dem ‚Kokarderl‘ 2003. Etwas später hat fast die ganze Redaktion den ‚Kriminalbeamten‘ verlassen. Es gab da Ärgerlichkeiten mit dem Herausgeber, der Kriminalbeamtenvereinigung, über die ich nichts erzählen will.“ Freddy zeigt mir einige seiner Kolumnen. Er macht sich Gedanken über Leute, die sich vornehm dünken, es aber seiner Meinung nicht sind: „Wenn wir zwei uns etwas ausmachen und einer von uns hält sich nicht daran, so ist dieser ein Arschloch. Von bloßen Ehrentiteln halte ich auch nichts. Wie man dem Hinterberger Ernstl, dem Autor vom ‚Mundl‘ und vom ‚Kaisermühlenblues‘, den Professoren-Titel antragen wollte, hat er ihn abgelehnt mit dem Hinweis: ‚Außer dem Krankl, dem Fußballer, und mir sind 126

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eh schon alle Professoren. Zu mir sagen sie: Servus, Ernstl. Sollen sie zu einem Professor Ernstl sagen?‘“ Ich halte fest, dass in der Republik, Gott sei es gedankt, die alten Adelstitel verboten sind, es aber so etwas wie einen natürlichen Adel gibt. Freddy stimmt zu: „Eine noble Dame von natürlichem Adel war die berühmte Sozialistin Rosa Jochmann, sie war auch ‚eine von‘, aber ‚eine von der Hausmasterwohnung‘. Es gibt – der Herrgott hat sich etwas einfallen lassen – in Afrika Noble und Hinterlistige, Gescheite und Blöde, und bei uns auch. Der Herrgott ist mit der Gießkanne über alle hinweggegangen. Überall hat man Gescheite und Blöde, Gauner, Verbrecher und falsche Hunde. Es kommt nicht auf die Nationalität an, wohl auf die Umwelteinflüsse und die Erziehung. Dennoch gibt es trotz solcher Einflüsse Menschen, die anständig bleiben.“ Wir kommen auf Viktor ­Frankl, den großen österreichischen Psychiater, der als Jude in einem KZ war und der meinte, dass Anständige und Unanständige überall gleich verteilt seien. Freddy sagt dazu: „Der Oberkapo, also ein Häftling, der als Aufpasser über die anderen Häftlinge eingesetzt wurde, in Mauthausen war angeblich ein Schwerverbrecher, der die eigenen Leute verwamst (verraten) hat. Ich kann von mir nur eines behaupten: Ich war immer sehr, sehr kritisch eingestellt. Wenn meine Mutter mir etwas zum Essen serviert hat und gesagt hat: ‚Bub, iss das, das ist gut‘, habe ich gesagt: ‚Moment! Das muss man erst prüfen.‘ Wenn ich es nicht für gut empfunden habe, habe ich gesagt: ‚Das Papperl kannst du dir behalten.‘ Ich war immer kritisch eingestellt. Wenn jemand über einen anderen gesagt hat, der sei ein Arschloch, habe ich gesagt, dass ich mir den erst einmal anschauen würde. Ich will kein Held sein, ich war auch kein Held. Aber zu einer HJ oder ähnlichen Einrichtung wäre ich nie gegangen. Von ‚Hurra-Schreiern‘ hätte ich mich nie beeinflussen lassen. Wahrscheinlich wäre ich aber, als damals eine große Arbeitslosigkeit herrschte, von dem wirtschaftlichen Aufschwung durch die Nazis angetan gewesen, denn man hätte mir eine Arbeit verschafft. Wenn ich die ‚Kraft durch Freude‘-Schiffe gesehen hätte, mit denen Leute auf 127

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Urlaub gefahren sind, die noch nie einen Urlaub gehabt haben, hätte ich vielleicht auch gesagt: ‚Das ist nicht so schlecht.‘ Damals gab es ja noch keinen Krieg. Die Bauern haben das erste Mal eine Sozialversicherung bekommen, und Mutterschutz wurde eingeführt. Wie die Nazis mit dem Krieg angefangen haben, hätten die Leute sich schon denken können, dass sie nichts Gutes bringen. Oder, wie man etwas von den KZs erfahren hat. Meine Mutter wusste, dass es KZs gab. Viele haben nach dem Krieg gesagt, sie hätten es nicht gewusst. Das ärgert mich, diese Scheinheiligkeit, die es immer geben wird. Die Menschen können furchtbar sein. Ich habe im Fernsehen einen Film über Ruanda gesehen, wie ein Stamm den anderen umbringt. Kinder haben sie an die Wand geworfen und erschossen. Fürchterlich. Ich verstehe nicht, wie Menschen so sein können.“

Geschichten aus dem „Kokarderl“ Ferdinand Germadnik, der Chefredakteur des „Kriminalbeamten“ und dann der „Kriminalpolizei“, erzählte mir über den Werdegang von Freddy Neuhser als Kolumnist: „Seine Kolumne war, wie ich die Chefredaktion 1983 übernahm, zunächst in Form von Geschichten verklausuliert. Er hat ein Zwergenreich erfunden. Damals war es noch nicht üblich, dass man einen Leiter der Kriminalpolizei öffentlich kritisiert. Die betreffenden Beamten, die Freddy kritisieren wollte in seiner Kolumne, wurden einfach als Zwerge dargestellt. So gab es einen ZPVZ, das war der Zentralpersonalvertretungszwerg. Der ‚größte Zwerg aller Zeiten‘ war der Innenminister. Jeder hat gewusst, wer gemeint ist. Es hat immer wieder neue Zwerge gegeben, bei denen die Leser nachgedacht haben, wer denn gemeint sein könnte. Zum Gegenstand seiner Geschichten kam Freddy durch seine vielen Kontakte, die er hatte. Er war auch Verteidiger in Disziplinarsachen. Die Leute haben ihn gerne engagiert. Es war in den 1980er-Jahren schwierig, offen Kritik zu üben. 128

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Das ‚Kokarderl‘ hat sicher dazu beigetragen, dieses Tabu zu brechen. Unsere Zeitschrift war also durchaus kritisch unterwegs. Der Umgang des Innenministeriums mit dem ‚Kriminalbeamten‘ als kritischem Geist war meist sehr fair. Der damalige Innenminister, Karl Blecha, hat sogar Leserbriefe geschrieben. Das war ein erfreulicher Zustand. Nach relativ kurzer Zeit, so nach 1 ½ Jahren, hat Fredl das Zwergenreich aufgegeben und hat geschrieben, was Sache ist. Es gab ja keine Zeitung, die diesen kritischen Zugang hatte wie unsere. Als man die Leser gefragt hat, was sie gerne in unserer Zeitung lesen, haben sie gesagt: 1. das Kokarderl und 2. die alten Kriminalgeschichten. Diese zwei Sachen haben die Leute interessiert. Die Kriminalgeschichten gibt es nicht mehr. Das ‚Kokarderl‘ auch nicht mehr, aber als Nachfolger gibt es heute den ‚Kiberer Blues‘. Der Nachfolger vom Alfred ist der Herbert Windwarder, Suchtgiftkieberer in der LKA-Außenstelle Ost. Die Beiträge von Fredl Neuhser haben sicher dazu beigetragen, dass viele Mitglieder in unserem Verein geworden sind, weil gerade seine Geschichten sehr mutig waren. Die Oberen hat Alfred als ‚Hochdenker‘ bezeichnet, das sind die Juristen, die Ministerialräte und andere hohe Leute. Wenn er jemanden im Visier hatte, hat er sich in denjenigen ziemlich verbissen. Er hat eine sehr blumige Ausdrucksweise gehabt. Das hat uns sogar eine Einladung in die Radiosendung in Ö1 ‚Von Tag zu Tag‘ gebracht. ‚Die Sprache der Polizei‘ war das Thema der Sendung. Moderator war Peter Huemer, Gesprächspartner war ich damals. Es ging um die Sprache der Zeitschrift.“ In der Zeitschrift „Der Kriminalbeamte“ hat Freddy also ungefähr 20 Jahre lang die kritische Kolumne „Kokarderl“ geschrieben. Er führt dazu geradezu schwärmerisch aus: „Der Stoff ist mir nicht ausgegangen, ich hätte jeden Tag etwas schreiben können. Im ‚Kokarderl‘ habe ich Blödheiten aufgedeckt. Die habe ich selbst erlebt oder Kieberer haben sie mir zugetragen. Einige Geschichten habe ich auf Kriminalbeamtenstreifen mit dem Auto in der Nacht erfahren. Diese Streifen wurden vor Kurzem, am 31. Mai 2010, eingestellt. Der General hat behauptet, jetzt sind mehr Kriminalbeamte 129

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

auf der Straße als früher, man braucht keine Streifen mehr. Oder wie der Computer eingeführt worden ist, gab es ein Problem mit der Fahndung. Das Fahndungsbuch ist in dem Moment, in dem man es in die Hand bekommt, schon wieder alt. Man hat daher den Beamten angerufen, der am Computer saß, dieser hat nachgeschaut – zuerst hat er wohl die Dienstnummer verlangt –, ob nach einer bestimmen Person überhaupt gefahndet wird oder ein Fahrzeug gestohlen wurde. Man konnte bei dieser Computerstelle den ganzen Tag anrufen, außer von 24 Uhr bis 1 Uhr in der Nacht. In dieser Zeit ist der Computer gefüttert worden. Wie ich das das erste Mal gehört habe, habe ich mir gedacht: Gibt es so etwas? Geht um 24 Uhr keiner auf der Straße, der von der Polizei gesucht wird? Oder werden in dieser Zeit keine Autos gestohlen. Als Polizist kann ich nicht eine Stunde lang in dringenden Fällen auf Auskunft warten. Wenn jemand im Fahndungsbuch gestanden ist, dann war dies nur ein Behelf, der Polizist musste sofort überprüfen, ob die Fahndung noch aufrecht ist. Sonst wäre es eine ungerechtfertigte Festnahme gewesen. Darüber habe ich eine Kolumne geschrieben. Es gab Höhere, die gesagt haben: ‚Ja, der hat recht.‘ Es hat aber auch welche gegeben, die gesagt haben: ‚Was bildet sich der überhaupt ein?‘ Solche Sachen habe ich im ‚Kokarderl‘ geschrieben. Ich habe dadurch auch gute Freunde unter den hohen Beamten bei der Polizei gehabt. Feinde hatte ich auch genug. Auch unter den Politikern gibt es Gauner, aber auch anständige Leute. Für mich war der Franz Olah, der frühere Innenminister, ein Ehrenmann, der wegen seiner Überzeugung im KZ gesessen und zu seiner Überzeugung gestanden ist. Den Kommunistenputsch im Jahre 1950 in Wien hätte die Polizei nie alleine niederschlagen können, wenn der Olah, er war damals ein Führer in der Gewerkschaft, nicht seine Bau- und Holzarbeiter organisiert hätte. Ein Jahr war er im Häfen, weil er Geld von der Gewerkschaft der Zeitung ‚Express‘ gegeben hat. Für sich hat er nichts verwendet. Das war der Grund, warum ich mich von der sozialistischen Partei abgewendet habe, die den ehrenwerten Olah fallen lassen hat. Er war ein Kommunistenhasser und ein Sozialdemokrat. Ein interessanter Mann war auch der 130

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

frühere Bundeskanzler Kreisky, er hatte, obwohl er Jude war und fliehen musste, ein auffallendes Verständnis für die ehemaligen Nazis. Einige seiner Minister waren frühere Nazis. Den Peter von der FPÖ hat er zum Dritten Nationalratspräsidenten gemacht. Er hatte bei der FPÖ keine Berührungsängste. Der Kreisky hat gesagt: ‚Wir können nicht zwei Millionen Österreicher, die kleine Mitläufer waren, von der Wahl ausschließen.‘ Heute dagegen wird furchtbar herumgetan. Gleich wird jemand als Nazi hingestellt, auch wenn er damals noch nicht gelebt hat. Den Kreisky habe ich gewählt, wie er gesagt hat: ‚Gehen Sie ein Stück Weges mit mir.‘“ Für den Gerechtigkeitssinn unseres Freundes Freddy sprechen wohl die meisten seiner Kolumnen, die er als ‚Kokarderl‘ geschrieben hat. Seine Feinde waren grundsätzlich korrupte Politiker und ebensolche Beamte. Interessant ist eine Kolumne vom April 1994, in der er den damaligen Präsidenten des Jugendgerichtshofes kritisiert, weil dieser die ihm zugeteilten unabhängigen Richter bevormunden wollte. Freddy ging es in diesem Fall um Kinder, deren Väter sich weigerten, den Unterhalt für sie zu zahlen: „Ein Eckpfeiler unsere Rechtsstaatlichkeit ist die Unabhängigkeit der Richter. Diese Unabhängigkeit bedeutet allerdings nicht, dass die Richter Narrenfreiheit genießen. Nein, sie unterliegen, wie jeder andere Beamte auch, einem Disziplinarrecht und es wird über sie eine Dienstaufsicht ausgeübt. Richter sind in ihren Entscheidungen nur einem verpflichtet, dem geltenden Recht. Natürlich ist dies so manchem geldgierigen und machthungrigen Korrumpel (!) in der Politik und Wirtschaft ein Dorn im listigen Äuglein und es knabbern schon die Justizratten an der Unabhängigkeit der Richter. Selbstredend, dass auch die ‚Normalkriminellen‘ profitieren und jubilieren. Ein Beispiel gibt der Präsident des Jugendgerichtshofes Wien. Aber schön der Reihe nach. Es gibt immer noch Eltern, die für ihren Nachwuchs nicht sorgen wollen. Sie verletzen gröblich ihre Unterhaltspflicht. Dieses Vergehen ist im § 198 StGB unter Strafe gestellt. Überwiegend Männer sind es, die sich ihrer Unterhaltspflicht entziehen. In der Regel leben sie als U-Boot und verdingen sich als Schwarzarbeiter. Diese Kriminellen werden im 131

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Regelfall vom Jugendamt der Staatsanwaltschaft Wien gemäß § 198 StGB zur Anzeige gebracht. Der Staatsanwalt erhebt Anklage und der Richter lässt jetzt den untergetauchten ‚Hosentürlsteuerhinterzieher‘ in Form einer Aufenthaltsermittlung von der Polizei suchen. Wird er gefunden, so wird ihm aufgetragen, sich beim zuständigen Gericht, das ist der Jugendgerichtshof Wien, zu melden. Wenn nun der Kriminelle den Herrgott einen guten Mann sein lässt, sich einen feuchten Furz um das Gericht schert, sich weiter durch Flucht seiner Unterhaltsverpflichtung entzieht, so ist geübte Praxis, dass der Richter den Flüchtigen mittels Haftbefehl suchen lässt. Leuchtet wohl ein, oder? So war das bisher und hat ganz gut funktioniert. Dem hat aber dann der Herr Präsident des Jugendgerichtshofes Wien einen Riegel vorgeschoben. Zuerst glaubte ich an einen Faschings- oder vorverlegten Aprilscherz, als ich das Fernschreiben pwpr Nr. 3235 vom 18. Jänner 1994 las. Daraus ist ersichtlich, dass der Herr Präsident verfügte, dass ein großer Teil der in den letzten Jahren wegen Vergehen nach § 198 StGB ergangenen Haftbefehle – man lese und staune – in Aufenthaltsermittlungen umgewandelt werde. Hier ist wohl eine Riesenportion Naivität nötig, zu glauben, dass man eines Gesetzesbrechers schneller mit einer Aufenthaltsermittlung habhaft wird als mit einem Haftbefehl, der schon geraume Zeit nicht realisiert werden konnte. Es sei denn, man will die gesuchte Person gar nicht haben. Noch viel schlimmer finde ich es, dass die Richter vom Präsidenten bevormundet werden können. Die Richter sind bis jetzt noch immer laut Verfassung in ihrer Berufsausübung weisungsfrei. Sie haben nach ihrem Gewissen anhand der gültigen Rechtslage ihre Entscheidungen zu treffen und nicht aufgrund einer Verfügung. Die Pülcher können jedenfalls frohlocken, es brechen für sie rosige Zeiten an …“ Beachtenswert ist auch die Kolumne vom Dezember 1996. In der geht es um Grundsätzliches unter dem Titel „Schatten und Licht“, nämlich um das Problem der Kriminalbeamten, die von verschiedenen Seiten in ihrer Tätigkeit eingeengt werden: „Mehrmals habe ich in meiner Kolumne über den Drei-Fronten-Krieg, den die Kriminalbeamten für die Sicherheit ihrer Mitbürger führen, berichtet. 132

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

1. Front: Kriminelle, 2. Front: Justiz, 3. Front: eigene Behörde. Oft stehen da die Kriminalisten auf verlorenem Posten. Das wirkt natürlich demotivierend. Umso lobenswerter ist es, wenn Kriminalbeamte, allen Schwierigkeiten zum Trotz, ihre ganze Kraft der Verbrechensbekämpfung widmen und voll Idealismus diesen Krieg an den drei vorgegebenen Fronten führen. So geschehen im Wiener Bezirk Währing! In Währing übte sich seit geraumer Zeit ein unbekannter Täter im Aufstechen von Autoreifen. Der Verbrecher beschädigte aber nur Fahrzeuge mit osteuropäischen Kennzeichen. Die Kriminalbeamten glaubten, dass es sich bei dem Täter um einen ‚Fremdenhasser‘ handeln könne. Herkömmliche umfangreiche Erhebungen führten zu keinem Erfolg. Die Kriminalbeamten Mannsbart, Lenz, Buchta und Kratochwil hielten nun unter dem Vorsitz ihres leitenden Kriminalbeamten, Oberstleutnant Huber, Kriegsrat. Man kam überein, dem Täter eine Falle zu stellen. Es wurde ein Auto mit einem rumänischen Kennzeichen aufgetrieben und am 18. Oktober 2004 am Abend, in Wien 18, Michaelerstraße, vor dem Haus Nr. 20 als ‚Lockvogel‘ abgestellt. Ein Hausbewohner erklärte sich bereit, dass in seiner Wohnung die Überwachungsgeräte aufgebaut werden durften. So weit, so gut. Prompt wurden dann in der Nacht zum 19. Oktober 1994 zwei Reifen bei diesem Auto aufgestochen. Die Tat wurde auf Videoband dokumentiert, doch der Täter war nicht erkennbar. Die Reifen wurden erneuert. … Der Stadthauptmann von Währing ersuchte nun den Boss des Inspektorates, für die Kriminalbeamten insgesamt 30 Überstunden zu bewilligen. Der KI-Chef winkte ab. 20 seien genug für die Observations- und Zugriffsaktion. Verständnisloses Kopfschütteln löste die Entscheidung ihres Bosses bei den Kripo-Idealisten aus. Na gut. Also legten sich die fünf Kriminalbeamten auf die Lauer. Vor Ort informierten sie ihren Bezirkschef Dr. Josef Siska über den Stand der Dinge. Dr. Siska ‚ordnete‘ an, wegen Gefahr im Verzuge die Überwachung auf Überstundenbasis fortzusetzen. Der Täter kam um 21 Uhr 25 zum besagten Kfz, wurde beim Aufstechen der Reifen ertappt und festgenommen. Fazit: Etwa 200 Straftaten geklärt, Schadenssumme etwa 500.000 Schilling. Motiv: Ausländer133

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feindlichkeit. Die Bezirksvorstehung Währing dankte ihren Kriminalbeamten in Form einer kleinen Feier, und die Polizeidirektion Wien stellte Belobigungsdekrete aus. Ein großes Dankeschön auch den Währinger Bürgern, die selbstlos die besondere Einsatzbereitschaft und kriminaltaktisch hervorragend agierenden Kriminalisten unterstützten. Und jetzt der Applaus! Ich bitte Herrn Dr. Michael Lepuschitz vor den Vorhang. Er hat mittels Dienstauftrag verfügt, dass ab Jänner, vorerst drei Monate zur Probe, die jeweiligen leitenden Kriminalbeamten für ihre Mitarbeiter die Überstunden anzuordnen haben. Das ist wohl der vernünftigste und praxisfreundlichste Dienstauftrag der letzten Jahre. Natürlich keine Rosen ohne Dornen. In diesem Fall in der Person des Hofrats Dr. Franz Mikuskovics, Boss aller Bezirkspolizeikommissariate. In einem Schreiben, an die Präsidialabteilung der Wiener Polizeidirektion gerichtet, kritisierte er den praxisfreundlichen Dienstauftrag des KI-Leiters Dr. Michael Lepuschitz mit dem Hinweis, dass er seiner Meinung nach rechtswidrig sei und sofort aufgehoben werden müsse. Jetzt ist der Wiener Polizeipräsident am Zug. Wer wird gewinnen? Die Vernunft? Oder behält die von Dr. Mikuskovics repräsentierte Bürokratie die Oberhand?“ Freddy setzt sich auch in dieser Kolumne vom Dezember 1996 für seine Kollegen ein. Er spart auch nicht mit Lob. Unter der Überschrift „Krampusruten und Weihnachtspackerln“ heißt es: „Auszeichnungen sind wie Hämorrhoiden. Mit der Zeit bekommt sie jedes Arschloch! Dieses markige Zitat wird dem Hollywood-Regisseur Billy Wilder zugeschrieben. Er hat aber nur bedingt recht. Zumindest die Auszeichnung, Ehrenmitglied der Vereinigung der Bundeskriminalbeamten Österreichs zu werden, fällt nicht darunter. Da wird genau recherchiert. In diesem Sinn möchte ich dem Ex-Kripo-Chef von Wien und jetzigem Abteilung-II-Boss Hofrat Dr. Walter Schubert zu seiner im hiesigen Jahr verliehenen Ehrenmitgliedschaft herzlich gratulieren.“ Und weiter ist zu lesen, hier greift Freddy die Politiker an: „Am 1. September 1996 bei der ORF-Sendung ‚Anders gefragt‘ stellte der Politikerprofi Dr. Wolfgang Schüssel hinsichtlich der ausufernden Drogenkriminalität 134

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fest, dass überall mit Drogen gedealt wird und die Polizei zusieht. Unbegreiflich, woher der Vizekanzler die Keckheit nimmt, allen Exekutivbeamten einen Missbrauch der Amtsgewalt durch Unterlassung eines Amtsgeschäftes zu unterstellen. Es ist auch unverständlich, dass der Sicherheitshochadel diese Anschuldigung auf seinen Beamten sitzen lässt. Auch eine Stellung der Personalvertretung vermisse ich. Sind nicht schon genug Kollegen an der Drogenfront verletzt worden? Oder sind die Erfolge so unbedeutend, dass sie dem Herrn Minister gar nicht aufgefallen sind?“ Freddy findet in derselben Kolumne allerdings lobende Worte für den früheren Innenminister: „Ein Weihnachtspackerl möchte ich unserem in der Bevölkerung und auch in Kollegenkreisen umstrittenen Ressortchef Dr. Caspar Einem überreichen. Seine Ansichten über die Reform der Strafprozessordnung sind vernünftig und zeigen, dass er den gesunden Hausverstand zu gebrauchen versteht. Im Übrigen halte ich ihn für einen hochanständigen Menschen, der trotz aller Anfeindungen wohl nie in den Verdacht geraten ist, im Gegensatz zu manch anderen Politikern, ein Korrumpel zu sein. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber mir ist ein Innenminister, der aus der Bewährungshilfe kommt, lieber als ein sachlich besser versierter Profipolitiker mit Honig an den Händen, Engelszunge und einer Schmierseifentaktik.“

Aus dem Veteranenwinkerl Nachdem die Zeitschrift „Der Kriminalbeamte“ Mitte 2003 eingestellt wurde und an deren Stelle die Zeitschrift „Die Kriminalpolizei“ trat, wirkte Freddy noch eine Zeit als Kolumnist, allerdings nicht mehr als „Kokarderl“, sondern unter dem Titel „Aus dem Veteranenwinkerl“. Aus einigen Kolumnen sei hier zitiert, um zu zeigen, dass Freddy seine Angriffslust und den scharfen Verstand nicht aufgegeben hat. In einer Kolumne ist hinsichtlich der Gefahren, denen die Bürger durch zunehmende Kriminalität ausgesetzt sind, zu lesen: „Immer mehr Bürger fühlen sich verunsichert. 135

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Da helfen auch die Beschwichtigungsfanfaren aus der Herrengasse (dem Innenministerium) nichts. Es mehren sich die Menschen in unserem Land, die Opfer einer kriminellen Handlung geworden sind oder die eine solche Person in ihrem Familienverband bzw. engen Bekanntenkreis kennen. Es gibt schon Viertel, wo Menschen nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen meiden und besorgte Eltern ihre Kinder auch während des Tages gar nicht mehr auf einen Spielplatz lassen. Wie ein typischer Fall in einem Wiener Gemeindebau zeigt, werden dort rechtschaffene Bürger von betrunkenen Krawallos tyrannisiert und da helfen auch keine polizeilichen Anzeigen. Selbst als da Rowdys gewaltsam in die Wohnung eines Mannes eindrangen und dieser Bürger den Polizeinotruf betätigte, kam er nur in die ‚Warteschleife‘ der Telefonleitung. Um sich und seinen in der Wohnung befindlichen dreijährigen Sohn zu schützen, ergriff er ein Messer und stach auf einen Gewalttäter ein. Tragisch! Er traf genau das Herz des Angreifers und es trat der Tod ein. Ein Gericht billigte dem Stecher Notwehr zu und er wurde von der Tötungsanklage bereits rechtskräftig freigesprochen. Völlig in Ordnung! Was hätte der Verteidiger seines Heimes und Kindes machen sollen? Hätte er warten müssen, bis ihn der körperlich hoch überlegene und alkoholisierte Gewalttäter erst niedergeschlagen oder gar getötet hätte? Von den acht Geschworenen dürften wohl vier diese Ansicht vertreten haben. Vier dachten realistisch und so kam es zu einem Patt. Fazit: Freispruch! Vielleicht hätte eine höhere Polizeipräsenz diesen Vorfall verhindern können. Aber die hohen Herren haben wohl andere Sorgen, als sich um die Sicherheit der Bürger Gedanken zu machen! Oder? … Richter Mag. Alfred Ellinger hat das in der vorherigen Ausgabe (‚Kriminalpolizei‘, August 2006) anschaulich beschrieben und vermutet, dass der Staat bei der massenhaft auftretenden ‚Kleinkriminalität‘ kapituliert. Fassungslos und kopfschüttelnd steht die Bevölkerung dem Justiz-Wahlprogramm der Grünen gegenüber. … Vision: Resi Stoisits auf dem Justizthron? Auch kein Malheur! Wenn sie Karin Gastinger (die frühere Ministerin) ablöst, hat es den gleichen Effekt, wie wenn zwei Blinde die Stecken tauschen!“ 136

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

In einem anderen „Veteranenwinkerl“ (Juni 2005) sinniert Alfred Neuhser: „Bekanntlich wurde vor einigen Monaten der warmherzige Münchner Modezar Rudolph Moshammer in seiner Villa ermordet. Bei der Schickeria der Weißwurstmetropole war er als Schnittlauch auf allen Suppen bekannt und wurde von ihr liebevoll ‚Mosi‘ gerufen. Er galt nicht nur als splendider Tierfreund, sondern öffnete auch sehr gerne seinen Geldbeutel für die Obdachlosen. Fazit: Ein spleeniger, liebenswürdiger Kauz, der offensichtlich niemandem etwas zu Leide tat. Er hinterlässt eine Lücke! Im Eiltempo hatte die Kripo München, unter Zuhilfenahme der kriminalistischen Superwaffe DNA-Analyse, den mutmaßlichen Täter in der Person eines arabischen Strichers ausgeforscht und festgenommen. Aufgrund der erdrückenden Beweislage hatte er ein Geständnis abgelegt und es wurden in unserem Nachbarland Stimmen laut, die eine Ausweitung der DNA-Datenbank routineweise auf andere Personengruppen (Asylanten, Zuwanderer etc.) forderten. Eine Erhöhung der Verbrechensaufklärungsquote wäre zu erwarten. Auch bei uns fand dieser Vorschlag in der breiten Bevölkerung Zustimmung, was naturgemäß da und dort dazu führte, dass gutmenschliche Datenschützer ihre Schlachtrösser sattelten und, barmherzig formuliert, nicht zu Ende gedachte Argumente in die Diskussion warfen. Im ORF teilte da der Datenschützer Hans Zeger dem Publikum mit, dass die Polizei, wenn man es genau betrachtet, die DNA-Analyse im erwähnten Mordfall gar nicht benötigt hätte. Der Täter wäre, nur vielleicht einige Tage später, sowieso ausgeforscht worden. Ein hellsehender Datenschützer? Was soll‘s? Weiterer Kommentar geschenkt! Oder? Bei uns fasste jetzt der damals noch blaue General Uwe Scheuch die Gelegenheit beim Schopf und hüpfte auf den DNA-Zug. Mutig stellte er sich im ORF dem grünen Medienfuchs Peter Pilz. Dieser lehnte eine Ausdehnung der DNA-Waffe ab. Nach seinen Recherchen im Kripo-Olymp sei dies unnötig. Oje! Er wäre gut beraten gewesen, sein Ohr nach unten zu den werktätigen kleinen Kripo-Waschln zu neigen, um zu lauschen! Uwe Scheuch wieder, wenn er die Diskussionscausa nicht nur ‚angedacht‘, sondern auch in sie einge137

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

drungen wäre, hätte sicher die besseren Karten ausspielen können. Hinsichtlich der DNA-Ausweitung wäre auf jene Personengruppen hinzuweisen, die illegal oder ohne entsprechende Dokumente in unser Land einsickern. Eine abschreckende Hürde für Strolche, die sonst bei uns unter falscher Flagge absahnen und untertauchen. Schade! Gute Grundidee in den Müll gesetzt!“ Freddy geht es um die Sicherheit der Bevölkerung, er ärgert sich offensichtlich, dass dieses Thema überhaupt diskutiert werden kann. Und wiederum nimmt er als Veteran einen verdienten hohen Herrn der Polizei, gegen den offensichtlich intrigiert wurde, in Schutz und lobt ihn in einer seiner Veteranenkolumnen: „Zur Klarstellung: Mit dem von vielen Medien mit Rotlicht bestrahlten hofrätlichen Kriminalisten Dr. Ernst Geiger bin ich weder verhabert, noch gehöre ich seiner arschkriechenden Domestikenrunde an. Vielmehr habe ich mit ihm in meiner aktiven Zeit … an der Verbrechensfront fallweise Dienst versehen. Da habe ich ihn, den exzellenten Juristen und hervorragenden kriminalistischen Fachmann, auch wegen seiner menschlichen Qualitäten kennen und schätzen gelernt. Er gehört nicht zu den Menschen, die sich an anderen abputzen, wenn irgendwo ein Lapsus passiert. Er stellte sich, soweit ich das beurteilen kann, nicht hinter, sondern vor seine Mitarbeiter, um dort die zu erwartende Schelte gleich abzufangen. Er hat Handschlagqualität und ist, für meine Begriffe, etwas zu blauäugig, was die Kollegialität ihm gegenüber betrifft. Er glaubt, dass andere genau so handeln würden, wie es für ihn selbstverständlich wäre, keine Wadlbeißerei, kein Hacklschmeißen, sondern helfend zur Seite stehen. Zusammenfassend: Kein Kollege, dem man besser aus dem Weg geht, sondern ein Arbeitskamerad, der mit Rat und Tat zur Seite steht. Da nicht nur jene, die sich von den Sonnenstrahlen der Erfolge anderer gerne wärmen lassen, sondern auch die gelbgesichtigen Neider aus allen Ecken und Löchern kriechen, erfüllte es mich mit Argwohn, dass, als Dr. Ernst Geiger gerade mit seinem Kriminalistenteam einen seiner größten Erfolge feierte und im Parlament mit Applaus begrüßt wurde, die Medien Rotlichter auf ihn strahlen ließen. Solche Zufälle werden von 138

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erfahrenen Kriminalisten immer mit Skepsis betrachtet. Es folgte flugs seine Suspendierung durch den Wiener Polizeifürsten Dr. Peter Stiedl und damit war, egal wie der Fall endet, seine Karriere ruiniert. Er kann sich jetzt für einen hochrangigen Posten nicht bewerben. Im Insiderjargon nennt man das ‚ausgebremst‘! Freilich verließen jene guten Freunde, die ihm, als ihn der wohlwollende Duft der Mächtigen und die betörend riechenden Blüten des Erfolges einlullten, unentwegt Honig ums Maul schmierten sowie ihm ihre Ergebenheit versicherten, flugs sein Ärschlein, um so rasch wie möglich einen neuen Unterschlupf zu finden. Abschließend möchte ich noch, ohne in ein schwebendes Verfahren in irgendeiner Form journalistisch eingreifen zu wollen, für mich feststellen, dass ich dem Menschen Ernst Geiger nicht zutraue, dass er wissentlich die Fronten gewechselt hat. Sollte ich mich aber irren, was für mich eine schwere menschliche Enttäuschung wäre, soll er eine harte Strafe bekommen und aus dem Polizeidienst entlassen werden. Korrumpel haben bei der Polizei nichts verloren.“ Alfred Neuhser hat damals Hofrat Dr. Geiger zu Recht als unschuldig und von Intriganten umgeben erkannt. Inzwischen ist Dr. Geiger vollkommen rehabilitiert. Interessant ist auch ein Leserbrief in der „Kriminalpolizei“ als Antwort auf einen Leserbrief eines Herrn Dr. K., in dem Alfred Neuhser wegen einer Kolumne sehr scharf und ungerecht kritisiert wird: „Offensichtlich fehlen dem Dr. K. auch sachliche Argumente, denn er vergriff sich, für einen Akademiker sicher ungewöhnlich, im Ton, als er Herrn Neuhser vorschlug, in einer Idiotenpostille zu schreiben und nicht in einer Kriminalistenzeitung. Den Autor quasi als Idioten zu bezeichnen, nur weil man selbst eine Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, finde ich als eine sehr arge Entgleisung. … Wie ich aber den Kollegen Neuhser A ­ lfred kenne, klagt er sicher nicht. Er ist ein nachsichtiger, toleranter Herr mit geschliffenen Manieren. Dessen ungeachtet möchte ich den Leser, Dr. K., dringend einladen, sich zu entschuldigen, wie es der Anstand verlangt, es würde ihm sicherlich keine Perle aus der UniKrone fallen.“ 139

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Und schließlich schreibt der Nachfolger von Alfred Neuhser in der Kolumne „Aus dem Veteranenwinkerl“ Josef Rohaczek dies: „Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser! Sie erinnern sich bestimmt noch. In der Ausgabe der ‚Kriminalpolizei‘ vom Februar/ März 2008, Nr. 2-3/08, sagte Alfred Neuhser alias ‚Kokarderl‘ Adieu! Er hat sich damals von seiner Lesergemeinde verabschiedet und mir als Nachfolger das Beste gewünscht. In meiner ersten Kolumne in der Ausgabe April/Mai 2008 habe ich die 25 Jahre journalistische Arbeit des Kieberers und späteren Kripo-Veterans Alfred Neuhser gewürdigt.“ Alfred Neuhser hat also als Kolumnist den Respekt bei seinen Kollegen – aber nicht nur bei diesen – gefunden, den er verdient.

Die „lieben und braven Beamten“ und Columbo Interessant ist auch das Verständnis von Freddy für die Eigenschaften, die einen guten Beamten ausmachen; „Als ich in Favoriten Gruppenführer bei der Polizei war, hat mir jemand gesagt: ‚Sie bekommen jetzt einen sehr netten, lieben Beamten.‘ Darauf habe ich sogleich gesagt: ‚Den können Sie sich behalten. Ich brauche keinen lieben und braven Beamten, ich brauche einen fleißigen Beamten. Brav kommt gleich vor blöd. Auf die Äußerlichkeiten kommt es nicht an.‘ Ich habe wegen meiner langen und gelockten Haare oft Probleme gehabt. Es ist klar, wie ich bei der Staatspolizei war, konnte ich bei Staatsbesuchen nicht mit den Jeans hingehen. Ich musste mich dem Anlass entsprechend, wie es geheißen hat, kleiden. Ich bin einmal in Hietzing zu einer Erhebung in Sommerhose und in einem Leiberl erschienen. Da rennt mir der Stadthauptmann über den Weg und sagt zu mir: ‚Herr Neuhser, haben Sie ein Nebengeschäft?‘ Frage ich: ‚Wieso?‘ Er: ‚Sie kommen daher wie ein Bademeister.‘ Ich habe ihm geantwortet: ‚Sie haben mich auf eine Idee gebracht, werde darüber nachdenken.‘ Vor der Dienstprüfung rennt mir der Generalinspektor über den Weg. Ich salutiere, da sagt er: ‚Herr Kollege, warten Sie einen Moment!‘ Sage 140

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

ich: ‚Provisorischer Wachmann Neuhser.‘ Sagt er: ‚Wann haben Sie die Dienstprüfung?‘ Ich: ‚In drei Monaten.‘ Er: ‚Ich gebe Ihnen einen guten Tipp, lassen Sie sich die Haare schneiden. Die bei der Prüfungskommission sind etwas kleinlich mit dem Haarschnitt.‘ Sage ich: ‚Herr Generalinspektor, ich habe einen zivilisierten Haarschnitt, wie ihn ein junger Mensch heute hat. Wenn man glaubt, dass kurze Haare wichtiger sind als ein gesunder Hausverstand, dann bin ich bei der Polizei falsch.‘ Nun hat er gesagt: ‚Das ist eine gute Antwort, die merke ich mir. Auf Wiedersehen!‘‘‘ Freddy betätigte sich als Lehrer: „Die jungen Kriminalbeamten habe ich in Hietzing und Favoriten eingeschult. Nach einer Woche konnte ich von einem jungen Beamten sagen, dass man diesen in drei Monaten vielleicht brauchen können wird. Ich war mit den Jungen gleich per Du. Das war vielleicht ein Fehler. Ich habe oft zu einem gesagt: ‚Du kannst mich hundertmal dasselbe fragen. Aber beim hundertersten Mal sage ich zu dir, dass du ein Trottel bist und nun Ruhe hast von mir.‘ Grundsätzlich habe ich die mir zugeteilten Beamten nicht schlecht beschrieben. Meine Bewertung musste der Leitende unterschreiben. Allerdings, wenn es um ein disziplinäres Vergehen ging, konnte ich den Betreffenden nicht gut beschreiben. So, wenn einer zum Beispiel sich ein paar Mal betrunken hat. Wenn er sich zweimal betrunken hat, habe ich gefragt, was mit ihm los sei. Wenn er das dritte Mal betrunken war, habe ich gesagt: ‚Geh dorthin, woher du gekommen bist, nämlich zur Sicherheitswache. Ich gebe dir aber die Chance, dass du dich zurückmeldest.‘ Ich war nicht nur Einschuler, sondern auch Disziplinarverteidiger. Abgelehnt habe ich diejenigen als Vorsitzende, die reine Bürokraten waren, so wie Dr. K. Einmal jedoch habe ich ihn nicht als Vorsitzenden abgelehnt. Die Geschichte war die: Ein Kollege war einmal zur Bewachung beim Bundespräsidenten Waldheim eingeteilt. Man hat ihn am Lobkowitzplatz, dort wohnte Waldheim, hingestellt, mehr war nicht. Wie der Waldheim einmal das Haus mit seiner Frau verlassen hat, hat sein Begleiter, ein Staatspolizist, dem Kollegen gedeutet, er könne jetzt auch gehen. Die beiden Waldheims sind allerdings, kurz nachdem der Kollege gegangen 141

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war, wieder zurückgekommen. Der Waldheim soll gesagt haben: ‚Da schau, der Kriminalbeamte ist schon nach Hause gegangen.‘ Irgendwie ist dies bekannt geworden und der Beamte wurde wegen Unbotmäßigkeit, er ist auch sonst schon aufgefallen, bei der Disziplinarkommission angezeigt. Dieser Beamte, also ein Kollege, kam nun zu mir – er war bei mir in Favoriten zur Einschulung – und sagte: ‚Columbo‘, so war mein Spitzname bei der Polizei, ‚reiß mich heraus.‘ Ich habe mir das Ganze angeschaut, die Disziplinarverhandlung war schon angesetzt. Man hat nicht mehr viel machen können. Ich habe aber eines gemacht – vielleicht war das Zivilcourage: Ich habe dem Dr. Waldheim geschrieben, dass der Kollege einen Heißhunger hatte und er daher für ein paar Minuten zu einem Würstelstand gegangen sei. Wie er zurückgekommen ist, war das Haustor schon versperrt. Es konnte sich nur um ein paar Minuten gehandelt haben. Auf einmal läutet das Telefon, es war der Kabinettsdirektor B. am Telefon: ‚Herr Gruppeninspektor‘, damals war ich noch nicht Abteilungsdirektor, das Höchste, was ich werden konnte, ‚was kann man machen?‘ Ich sage: ‚Weisungsgebunden ist nur der Disziplinaranwalt und nicht der Disziplinarvorsitzende. Wenn eine Anregung vom Präsidenten kommen würde, wäre dies gut.‘ Der Kabinettsdirektor meinte, dem Präsidenten wäre die Sache peinlich, er könne sich auch nicht mehr daran erinnern. Ich antworte: ‚Wenn Sie dem Disziplinaranwalt eine entsprechende Weisung oder Anregung geben und mir eine Kopie schicken, wäre ich Ihnen sehr dankbar.‘ ‚Das wird sofort gemacht‘, hat der Kabinettsdirektor gesagt. Kurze Zeit später bleibt vor dem Kommissariat ein Motorisierter stehen und kommt zu mir: ‚Herr Gruppeninspektor, hier ist ein Brief von der Präsidentschaftskanzlei.‘ Drei Tage später war die Verhandlung. Ich habe gesagt, den Dr. K. lehnen wir nicht ab. Er konnte nichts wissen von dem Brief. Der Disziplinaranwalt wusste wohl davon, er ist ja verständigt worden. Dieser war übrigens ein netter Kerl. Bei der Verhandlung habe ich den Vorsitzenden Dr. K. gebeten, das vorlesen zu dürfen, was mir zu dem Fall von der Präsidentschaftskanzlei geschrieben wurde. ‚Bitte, Herr Vorsitzender‘, habe ich gesagt und habe zu le142

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sen begonnen. Der Vorsitzende Dr. K. hat das Papier angesehen und wurde blass. Der Disziplinaranwalt bat, einen Schuldspruch ohne Strafe auszusprechen. Ich schloss mich dem an. Hofrat Dr. K. hatte schon eine Geldstrafe vorgesehen, die er aber nun nicht verhängen konnte.“ Freddy lächelt darüber heute noch.

Der tüchtige Beamte und Belobigungen – der Kieberer und der Ganove als „Musikant“ Freddy kannte sich aus im Dienst bei der Polizei und dies befähigte ihn wohl auch, die Kolumne „Kokarderl“ zu schreiben. Er kannte die Probleme und den Ärger seiner Kollegen „von der Straße“ mit den Chefs der Polizei. Er war ein tüchtiger Kriminalbeamter, darauf verweisen seine Belobigungen und Orden, die Alfred säuberlich aufgehoben hat, sie waren ihm von Ministern und Präsidenten zugedacht worden. Unter den Urkunden erblicke ich auch eine „Wallfahrtsurkunde“ von Jerusalem, die der berühmte Bürgermeister Teddy Kollek unterschrieben hat. Freddy erzählt: „Wir hatten in Jerusalem Urlaub gemacht. Auf einmal erschien bei einem Treffen der Wallfahrer Teddy Kollek und fragte, ob jemand aus Wien da sei. Wir haben gleich aufgezeigt. Man hat uns dort einen Pilgerschein ausgestellt.“ Freddy freut sich über die Bekanntschaft mit Teddy Kollek und über die Pilgerurkunde. Er zeigt mir in seiner Vitrine die Verdienstmedaille der Republik Österreich mit einer Urkunde, auf der zu lesen ist: „Herrn Bezirksinspektor Alfred Neuhser als Anerkennung für besondere Verdienste.“ Dann nimmt Freddy einige Urkunden zur Hand, es sind seine Belobigungsdekrete, auf die er zu Recht stolz ist. Das erste Dekret erhielt er, wie ich lese, „wegen besonderer Höflichkeit, Eifer und Hilfsbereitschaft in der Verkehrsregelung“. Über 100 Belobigungen dürfte er haben. Er hat sie nicht gezählt. Auch Zeitungsausschnitte mit Geschichten von Ganoven, die Freddy gestellt hat, erblicke ich. Ein Bericht bezieht sich auf Schüler, die den Lehrer erpresst haben. Ein anderer auf eine Serviererin, 143

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die niedergeschlagen wurde. Ein Zeitungsartikel ist überschrieben mit „Unterweltler wollten bei Ex-Boxchampion einbrechen“. Ich will diesen Artikel, dessen Erscheinungsdatum fehlt – er dürfte aus dem Beginn der 1980er-Jahre stammen – im Wesentlichen hier wiedergeben, da er gut das Tätigkeitsfeld Freddys beleuchtet. Nach dem Untertitel dieser Geschichte „Umgesattelt, weil Stoßgeld dünn wird, doch Pech: Von Polizei gefasst“ erfährt man: „Die Wiener Unterwelt ist auch nicht mehr das, was sie einmal war: Weil dort viel Nachwuchs drängt, aber der Einnahmetopf nicht voller wird, entschloss sich eine der schillerndsten Figuren des Wiener Kriminal-Nachtlebens, auf Einbrecher umzusatteln. Doch schon das Gesellenstück ging daneben, und Rudolf S., 47, sowie sein Komplize Leopold F., 49, beide aus Favoriten, wanderten, anstatt sich‘s zu verbessern, hinter Gitter. Sebron ist nicht allein der Polizei – die ermittelte unter anderem in zwei Mordfällen vergeblich gegen ihn –, sondern auch KURIER-Lesern bekannt. Er stand wegen einer blutigen Schießerei an einem Würstelstand in der Mariahilfer Straße kürzlich vor Gericht. Übrig geblieben ist davon freilich nur ‚unerlaubter Waffenbesitz‘. Am 23. Juni fuhren die beiden im schweren Mercedes vor dem Haus des Ex-Boxchampions Joschi Weidinger in der Favoritner Keldorfergasse vor. Mit einer ‚Räuberleiter‘ kamen sie zu einem Fenster im Hochparterre, machten dabei aber so viel Lärm, dass bald Blaulichtautos herangebraust kamen. In der Aufregung vergaß Sebron – er sorgte als sogenannter ‚Buckel‘ einer Stoßpartie dafür, dass diese nicht gestört wird – beim Weglaufen, sich die dicken Winterfäustlinge auszuziehen. Damit war er für die Polizisten verdächtig genug, zumal die Temperaturen in jener Nacht eher die Badehose als Handwärmer verlangten. Beim Verhör (Dr. Berghammer, Inspektor Neuhser) gestanden die beiden. Als Sebron als Beruf ‚Musikant‘ angab und den Beamten erzählte, er sorge in einem Gürtellokal mit der Gitarre für gute Laune, lachten die kurz auf und brachten ihm eine. Es reichte nicht einmal für ‚Hänschen klein‘. … Mit Faktor wurde ein Betrüger verhaftet, der Geschäfte machte, indem er sich als Tischler ausgab. Das Einzige, was er je gedrechselt hatte, waren freilich krumme Dinge.“ 144

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Alfred Neuhser – die „Kriminalisten“ – die Kolumne „Kiberer Blues“ 2003 kommt es zur Gründung der „Vereinigung österreichischer Kriminalisten“ und zur Herausgabe der neuen Zeitschrift „Kriminalpolizei“. Der alte und neue Chefredakteur Ferdinand Germadnik betont die kritische Linie, die durchaus die Tradition des „Kriminalbeamten“ mit seinem Star „Kokarderl“ Alfred Neuhser weiterführt. Germadnik erklärt in der ersten Ausgabe: „Wir werden unsere Blattlinie nicht danach ausrichten, wer in der Herrengasse (dem Sitz des Innenministeriums) gerade das Sagen hat. Die Mitglieder unserer Vereinigung und unsere Leser dürfen sich von uns zu Recht unzensurierte kritische Beiträge erwarten, ohne parteipolitischen Einfluss.“ Charakteristisch für den Vorstand der neuen Vereinigung ist, dass seine Mitglieder, die in den Ruhestand getreten sind, aus dem Vorstand ausscheiden. Lediglich der Vertreter der pensionierten Mitglieder kann weiterhin im Vorstand bleiben. Erster Pensionistenvertreter war Alfred Neuhser, der frühere Kolumnist „Kokarderl“. Eine Zeit schreibt er für die „Kriminalpolizei“ die Kolumne „Aus dem Veteranenwinkerl“, wie oben zu lesen ist. Der Richter Mag. Alfred Ellinger, der Präsident der „Vereinigung österreichischer Kriminalisten“, ein Herr, den ich sehr schätze, meint, man wolle eine Plattform für alle Kriminalisten Österreichs anbieten, wobei zu den „Kriminalisten“ nicht bloß Damen und Herren aus den Reihen der Polizei gehören, sondern auch Wissenschafter, die mit Kriminalität oder Ähnlichem zu tun haben. Diesen „Kriminalisten“ soll also Gehör verschafft werden, allerdings nicht bloß durch die Zeitschrift „Kriminalpolizei“, sondern auch über das Online-Magazin „kripoonline.at“. Alfred Neuhser hat in dem Kriminalbeamten Herbert Windwarder einen würdigen Nachfolger gefunden, der in seiner Kolumne „Kiberer Blues“ zum Beispiel aufzeigt, wie Kriminalisten bei ihren Ermittlungen „Prügel vor die Füße geworfen werden“. Herbert Windwarder meint, er wolle – ebenso wie A ­ lfred Neuhser – den Kollegen „den Rücken stärken.“ Alfred Neuhser kann beruhigt sein, bleibt aber in seiner Art wohl einmalig. 145

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

Das Gespräch mit Ferdinand Germadnik im Café Landtmann – Alfreds Kernaussage Im November 2010 traf ich mich mit Ferdinand Germadnik, Chefinspektor der Kriminalpolizei und Chefredakteur der „Kriminalpolizei“, im Café Landtmann in Wien, um vor allem über das Leben und die Tätigkeit Alfred Neuhsers zu sprechen. Einiges aus diesem Gespräch habe ich bereits zitiert. Hier will ich abschließend aus diesem Gespräch ein paar Splitter bringen, die den Alfred – oder Fredl – gut charakterisieren und die meine Ausführungen anschaulich zusammenfassen. Ferdinand erzählt auch, dass es nicht immer leicht war mit ihm: „Manchmal hat mich der Fredl zum Beispiel am Sonntag um ½ 7 Uhr in der Früh angerufen und gesagt: ‚Hast schon gelesen?‘ ‚Was, Fredl? Was meinst du?‘ ‚In der K-Zeitung!‘ ‚Ich lese nicht die K-Zeitung.‘ Fredl: ‚Das ist eine Sauerei, eine Viertelstunde musste ich mich beruhigen, bevor ich dich anrufe!‘ So haben öfter Dialoge mit dem Fredl angefangen. Er kann sich maßlos über manches aufregen, das er ungerecht findet. Sein Gedanke ist: ‚Wir werden von einer Lawine von Kriminalität überrollt und man tut zu wenig dagegen.‘ Aus Fredls Sicht ist es ein Drei-Fronten-Krieg, den die Kriminalisten, die Kieberer, gegen Kriminelle, gegen die Justiz und gegen die Behörde führen. Diese Kernaussage ist es, die sich bei ihm durch Jahrzehnte in seiner Kolumne ‚Kokarderl‘ zieht: Wir Kieberer müssen einerseits Kriminelle verfolgen, das ist unsere Aufgabe, das Problem sind aber nicht nur Kriminelle, sondern auch die Justiz, die das nicht so durchschaut und nicht ordentlich urteilt und die Täter oft gleich wieder auslässt. Dazu kommt noch die eigene Behörde, die einem Prügel vor die Beine wirft und bei den Ermittlungen nicht besonders hilfreich ist, da zu wenig Personal, zu wenig Ressourcen vorhanden sind, möglicherweise: ein politisches Auge.“ Ich erwähne, dass Alfred Neuhser mir bei unserem Gespräch in seiner Wohnung gesagt hat, dass die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen eine stets großartige war, mit wenigen Ausnahmen. Vor allem einige Vorgesetzte, unter denen es wunderbare Herren 146

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

gegeben hat, haben ihm das Leben nicht leichter gemacht. Bei all seinen Aktivitäten, dies will Freddy betont haben, sah er sich durch seine wunderbare Frau Elfi unterstützt. Mit großem Verständnis begegnete sie seinen zum Teil mutigen Tätigkeiten. Noch etwas hielt Freddy fest, das gut zu seiner kritischen und weltoffenen Lebenseinstellung passt: „Mein Vater hat immer gesagt: ‚Hör auf mich, Bub. Jeden Blödsinn, den man dir bei der Polizei anschafft, darfst du nicht machen.‘ Und ich habe mich daran gehalten!“ ­Alfred dürfte mit diesem Rat seines Vaters gut gefahren sein.

Eine kleine Theorie der Kriminalbeamten Kriminalbeamten stehen, wie zu sehen war, an der Front des Polizeidienstes, sie sollen verbrecherisches, mit Strafe bedrohtes Handeln aufdecken, das den Gerichten die Möglichkeit gibt, Gesetzesübertreter zu verurteilen. Kriminalbeamte sehen sich daher zu Recht als für die Gemeinschaft wichtig, denn sie schützen diese aufgrund der Gesetze vor üblen Zeitgenossen. Allerdings, dies betont auch Freddy Neuhser, befindet sich bei dieser Tätigkeit so mancher Kriminalbeamter in einem „Grauzonenbereich“, das heißt, dass er sich nicht immer genau an das Gesetz halten kann, um ein Verbrechen aufzudecken. Dies wurde auch mir bei meiner Polizeistudie bewusst, zum Beispiel bei Vernehmungen. Nach dem Gesetz darf zum Beispiel kein psychischer Druck auf den zu Vernehmenden ausgeübt werden, um ihn zu einem Geständnis zu bringen. Dies einzuhalten, ist nicht immer einfach. Hat der Kriminalbeamte deswegen jedoch Probleme, so kann er nicht damit rechnen, von seinen Vorgesetzten gedeckt zu werden. Er fühlt sich alleingelassen. Freddy meinte zu mir: „Ein guter Kriminalbeamter, der sich streng an alles hält, kann gleich zu Hause bleiben.“ Und er fügte hinzu: „Nicht wenige Kollegen meinten daher: Brav sein kommt gleich vor blöd.“ Gute Kriminalbeamte haben eine gewisse Ähnlichkeit mit guten Soziologen, denn beide müssen gute Beobachter sein und bei147

4. „Kieberer Freddy“ – Kriminalbeamter Alfred Neuhser

de müssen Techniken entwickeln, um den Gesprächspartner dazu zu bringen, etwas über sein Handeln zu erzählen. Allerdings sind die Mittel, die ein Kriminalbeamter dabei einsetzen kann, etwas andere als die des forschenden Soziologen. Wichtig für beide ist ein gutes Gedächtnis, Kombinationsfähigkeit, Aufgeschlossenheit, ein Gefühl für andere Kulturen, ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung und eine gute Konstitution. Gute Kriminalbeamte, die ihren Beruf ernst nehmen, entwickeln ein Gefühl für das Leben anderer und ihren Alltag, der sich auf dem Markt, in Bordellen oder am Bankett der modernen Aristokratie abspielt.

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5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer Zugang – die Wildschützen und ihre Ausstellung Eva Bodingbauer, die Puppenspielerin und ideenreiche Regisseurin am weithin bekannten Theater in Kirchdorf an der Krems, treffe ich im Café Kemetmüller in Spital am Pyhrn. Näher kennengelernt habe ich die Dame, die den stolzen Titel „Konsulentin der oberösterreichischen Landesregierung“ trägt, 1997 bei den Vorbereitungen für die Ausstellung „Wilderer im Alpenland“ in St. Pankraz bei Windischgarsten. Diese Ausstellung war ein Teil der dezentralisierten oberösterreichischen Landesausstellung 1998. Ich war der wissenschaftliche Betreuer, da ich ein Buch über Wildschützen verfasst hatte. Eingeladen dazu hatten mich freundliche Damen und Herren aus St. Pankraz, die dringend nach einem interessanten Thema für ihren Teil der Landesausstellung im alten Pfarrhof des Ortes suchten. Zunächst dachten sie an eine Ausstellung unter dem Titel „Frauen und Arbeit“, doch sie meinten nach einigem Nachdenken, dass dieses Thema trotz seiner A ­ ktualität nur wenige Besucher anlocken würde. So baten sie mich, ein Konzept für eine Wildererausstellung zu entwickeln. Ich tat dies auch. Zu den Damen und Herren, die sich bereit erklärten, diese Ausstellung mitzugestalten, gehörte Frau Eva Bodingbauer. Ihre künstlerische Fantasie und ihre würzigen Ideen waren höchst wertvoll für diese Ausstellung, die schließlich ein großer Erfolg wurde. Nach einem Jahr – inzwischen wurde der Verein Wilderer­ museum St. Pankraz gegründet – wanderte die Ausstellung in den Gasthof Steyrbrücke, dessen Wirt Willi Kerbl einen ehemaligen Heuboden zur Verfügung stellte. Frau Eva Bodingbauer leistete nun Großartiges. Ihrem Talent verdankt dieses Museum eine spannende künstlerische Gestaltung. Dafür sei ihr auch hier gedankt. 149

5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer

Das Wildererkochbuch Frau Bodingbauer, die aus Molln stammt, hat eine gewisse Sympathie für die alten Wildschützen, die Helden der „kleinen Leute“, die durch die Jahrhunderte gegen die adeligen Waldbesitzer ankämpften, schließlich war bis 1848 die Jagd ein alleiniges Vorrecht der Aristokratie. In Molln wurden nach dem Ersten Weltkrieg Wildschützen berühmt, die dem Grafen Lamberg, ihm gehörte dort die Jagd, das Wild wegschossen. Diese Geschichte endete in einem Drama. Es kam schlussendlich im Gasthof Dolleschal in Molln zu einem Kampf zwischen Gendarmen, die auf Wunsch des Grafen Lamberg dorthin geschickt wurden, und den zechenden Wilderern. Bei dieser Schießerei starben vier Wilderer aus Molln. Aus diesem Ereignis machte Eva Bodingbauer mit einigen Leuten aus dem Theater Kirchdorf ein viel bewundertes Theaterstück, das sie und Helga Gutwald inszenierten. Die dabei eingesetzten, aus altem bäuerlichem Gerät hergestellten, menschengroßen Puppen sind heute noch im Wilderermuseum zu bewundern. Mit dieser tüchtigen Dame, die den klassischen Charme süditalienischer Brigantinnen und die leuchtenden Augen jener Sennerinnen hat, die ich in meiner Jugend auf den Almmatten des Toten Gebirges hin zur Steiermark noch kennenlernen durfte, traf ich mich im Gasthof Steyrbrücke. Wir kamen hier auf die Idee, ein „Wilderer-Kochbuch mit Durchschuss“ herauszugeben. Wir saßen bei dieser Besprechung am Stammtisch, über dem an der Wand in schönen alten Buchstaben steht: „Girtler‘s Wilderer Stammtisch“. Dieser Stammtisch wurde mir vom Wirt Willi Kerbl aus einer freundlichen Laune heraus gewidmet und die Wand hinter dem Stammtisch vom Malermeister Herrn Aigner, der gerade dabei war, die Gaststube kunstvoll auszumalen, gestaltet. Ob dieses Stammtisches bin ich hoch geehrt und voll des Dankes. Als uns Herr Kerbl eine Wildererpfanne kredenzte – ich bin zwar Vegetarier, esse jedoch manchmal ein kleines Stück Fleisch, aber nur gewildertes – und wir zulangten, sprachen wir bereits über Speisen, die früher ehrbare Wildschützen und Sennerinnen 150

5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer

hergestellt haben mögen, um sich und ihre Kumpane zu ernähren und zu stärken. Eva Bodingbauer meinte, sie würde sich um Rezepte für das geplante Wildererkochbuch kümmern, und ich würde kulturelle und historische Überlegungen dazu einbringen. Beide haben wir von unseren Biografien her Beziehungen zu Wildschützen. Eva Bodingbauer wurde als Mollnerin geradezu hineingeboren in eine Welt, zu der Wildschützen gehörten, die Taten vollbracht hatten, über die man heute noch spricht. Einige Wildschützen dürften sich auch unter ihren Vorfahren befunden haben. Auch ich habe etwas rebellisches Blut geerbt, und zwar von meiner Urgroßmutter, einer geborenen Heyraud-Cartier. Sie war eine Bretonin, deren Großvater ein hoher Offizier unter Napoleon war. Er hat den Afrikafeldzug mitgemacht und wegen Damengeschichten einige Duelle ausgefochten. Weil er einem Feldmarschall eine Ohrfeige gab, der eine Dame als „Halbseidene“ bezeichnet hat, wurde er aus der Armee ausgeschlossen. Ein anderer Vorfahre von ihr war ein Seefahrer, nämlich Jacques Cartier, ein mutiger Mann, der Kanada im Namen des französischen Königs in Besitz genommen hat. Dieser Jacques Cartier erwiderte, als ihn der König fragte, ob er Angst habe, Folgendes: „Die Angst ist immer am größten, bevor man anfängt. Sind die Segel gehisst, verschwinden die Ängste.“ Dieser Spruch mag auch für die Wilderer gelten. Ist man einmal in den Felsen hinter der Gams her, ist auch die Angst weg. Eva Bodingbauer hat mit kulturwissenschaftlichem Esprit und in Erinnerung an die Kultur der Wildschützen und Sennerinnen die Rezepte gesammelt. Diesen stellte ich Gedanken voran, die mit der Geschichte des Wilderns, mit der Herkunft einzelner Speisen und überhaupt mit der bäuerlichen Welt der alten Wildschützen zu tun haben. Zunächst wurden von unserer Kochkünstlerin sehr einfache Speisen, die typisch für die bäuerliche Kultur der Armut im Gebirge waren, festgehalten. Diesen lässt die Expertin noble Menüs folgen, wie sie bei Hochzeiten oder ähnlichen Festivitäten der Bauern und Wildschützen im Gebirge aufgetischt wurden. Eva Bodingbauer hat sich die Mühe gemacht, alle Speisen nachzuko151

5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer

chen, und obendrein mit viel Charme, Witz und Einfühlungsvermögen für das alte Wildschützenleben Bilder komponiert und fotografiert, die im Kochbuch gezeigt werden. Dafür, dass diese Bilder kleine Kunstwerke werden konnten, ist auch dem Herrn Ewald Breitwieser zu danken, dessen fotografischer Blick Brillantes geleistet hat. Das „Wilderer-Kochbuch mit Durchschuss“ als gemeinsames Erzeugnis von Eva und mir brachte schönen Erfolg.

In der Welt der Kleinbauern und Handwerker Eva wird im Juli 1944 in Molln im Steyrtal nicht weit von Klaus an der Pyhrnbahn als Eva Scherleitner geboren. Sie wächst in einer Welt der Kleinbauern auf. Das alte Bauernhaus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, ist heute gänzlich umgebaut, aus dem Stall wurde ein schönes Zimmer. Das alte Haus hat seine niederen Mauern beibehalten, die charakteristisch sind für die alten Bauernhäuser. Sie und ihr lieber Mann bewohnen die meiste Zeit des Jahres dieses Haus – auch in Kirchdorf an der Krems haben sie eine Wohnung. Das Innere des alten Bauernhauses ist nobel eingerichtet und erinnert an die Häuser englischer Landadeliger, nur ist das Haus kleiner. Eva erlebt als Kind in den 1940er- und 1950er-Jahren die alte Kultur der Kleinbauern und Handwerker, die ab den 1960er-Jahren allmählich verschwindet. Die Handwerker waren meist gleichzeitig auch Kleinbauern, die von den Produkten ihrer bescheidenen Landwirtschaft einigermaßen leben und in schlechten Zeiten überleben konnten. Es war kein leichtes Leben für die Familien solcher Handwerker und Kleinbauern. Die ganze Familie war eingebunden in den kleinbäuerlichen Arbeitsprozess, so auch Eva, die somit Zeugin des Untergehens einer uralten Bauernkultur wird. Sie erzählt: „Mein Vater war Handwerker, er war Messerschmied bei der Firma Schwarz. Damals gab es zwei Handwerker, einer war der ‚Messerer‘ Schwarz, bei dem mein Vater gearbeitet hat, und der andere war der Maultrommelmacher Schwarz. Man muss bedenken, dass der Vater 152

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Abb. 5: Puppenspielerin Eva Bodingbauer (links). .

erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen ist. Er war in einem Kohlenbergwerk in Belgien. Heimgekommen ist er mit Lungentuberkulose. Er war immer krank. Es hat zu meiner Kindheit gehört, dass auch wir immer zum Lungenfacharzt nach Steyr zur Kontrolle gefahren sind, weil ja die Gefahr der Ansteckung bestand. Ich habe einen Schatten auf der Lunge gehabt. Das hat sich aber gegeben. Wir haben Hühner, zwei oder drei Schweinderl und drei Kühe gehabt. Für das Futter der Kühe wurde von den Eltern eine Wiese dazugepachtet. Die Mutti machte die schwere Arbeit im Stall und auf den Wiesen. Wenn es zum Heuen war, hat sie das Heu mit der Gabel auf den Wagen hinaufgegeben, der Vater hat dann die Fuhre gefasst. Einen Traktor hatten wir nicht. Wir 153

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nahmen eine Kuh zum Ziehen des Heuwagens. Einmal ist die Kuh mit dem leeren Leiterwagen durchgegangen, als der Vater mit ihr das Einspannen geübt hat. Sie war samt dem Wagen auf und davon. Ein Nachbar hat die Kuh wieder eingefangen.“ Ich füge ein: „Deine Eltern haben es als Kleinbauern nicht leicht gehabt.“ Eva nickt lächelnd. Ich meine noch, dass die Kühe, auch wenn die Ställe eng waren, es damals besser gehabt hätten als die Kühe in den modernen, betonierten Laufställen ohne Strohunterlage. Manche Kühe hätten heute sogar Rheuma, wie man mir erzählt hat. Eva lächelt und antwortet: „Ja, die Kühe haben Gitter, damit ihr Kot gleich durchfällt. Auf den Gittern und ohne Streu können sie nicht gut stehen. Unseren Kühen ist es nicht schlecht gegangen.“ Ich bringe das Gespräch auf den Bauerngarten, der typisch für die alte Bauernkultur war. Auch Eva hat ihren Bauerngarten, der sie wohl an ihre Kindheit erinnert und den sie fürsorglich pflegt. Der Garten ist ihr Paradies, das wie ein heiliger Hain umfriedet, also umzäunt ist. Sie meint dazu: „Ich habe im Garten eine große Vielfalt, auch seltene Gemüsearten. Mein 250 Quadratmeter großer Bauerngarten mit Gemüse, Beeren, Kräutern und Blumen ist ein Erbe von meiner Mutter. In die Arbeit bin ich sozusagen hineingewachsen, als die Kraft meiner Mutter immer weniger wurde. Gartenarbeit war das Fundament ihrer Lebensfreude. So haben wir zusammen gearbeitet. Ich kenne keinen Menschen, der so wie sie helfend zugreifen konnte.“ Eva erzählt über ihre Jugend im alten Bauernhaus weiter: „Wir waren drei Schwestern. Drei Dirndln seid ihr, hat man gesagt. Wir haben nicht nur aus erzieherischen Gründen am Bauernhof mitgearbeitet, sondern es war selbstverständlich und notwendig. Dies ist ein großer Unterschied. Einmal in der Woche am Samstag mussten wir im Vorhaus, das war der kleinste Raum des Hauses, den Holzboden mit Bürste, Wasser und Tuch reiben. Zu unserer Arbeit bereits als Kinder gehörte auch die Mithilfe beim Füttern der Tiere im Stall. Dies war meist am Abend, denn in der Früh mussten wir zur Schule. Um ½ 8 Uhr hat nach den Jahren der Volksschule in Molln der Unterricht in der Hauptschule im Nachbarort Grün154

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burg begonnen, wir mussten daher schon um 6 Uhr in der Früh zum Zug gehen. Eine halbe Stunde dauerte der Weg zur Bahnstation. Im Winter, wenn viel Schnee war, ist die Mutti vorausgegangen, um uns den Weg freizustapfen. Weil wir zart und schmächtig waren, hat sie manchmal unsere schweren Schultaschen getragen. In der Hauptschule ist an kalten Wintertagen die Frau Direktor in der Früh mit einem Schaff voll kaltem Wasser dagestanden, weil unsere Finger so gefroren waren. Wir haben unsere Finger in das kalte Wasser gegeben. Das hat sehr weh getan, aber so taut man die kalten Finger auf. Uns hat furchtbar gefroren.“ Eva lernt als Kind ein Leben in Kargheit und Sparsamkeit kennen, wie es typisch für die alte Kleinbauernkultur war und wie auch ich es im Bergbauerndorf Spital am Pyhrn erlebt habe. Wichtig ist dabei die Rolle ihrer Mutter, die darauf achtete, dass ihre drei aufgeweckten Mädchen gute Schulerfolge haben. Für Eva wird beides richtungweisend, die Schule, die sie einen Blick in die Welt des Wissens machen lässt, und die Erlebnisse in ihrer kleinen Welt des Dorfes. Sie erzählt weiter: „Was mir wichtig erscheint, ich habe als Kind schon im Volksschulalter das Leben mitbekommen. Obwohl mir nicht viel erklärt wurde. Ich kann mich erinnern, einmal am Abend ist ein Nachbar gekommen und hat gesagt, es sei etwas passiert, er hätte eine Frau furchtbar schreien gehört. Alle Nachbarn haben nun nach dieser Frau gesucht. Uns hat man in der Dramatik nichts erklärt, wir konnten einfach nur zusehen. Die Schreie der Frau hatten wir auch gehört und schreckliche Angst gehabt. Die Leute wussten, da ist etwas passiert, wahrscheinlich hat einer jemandem umgebracht. Die Nachbarn haben also begonnen, mit Laternen und Karbidlampen die Umgebung abzusuchen. Es war schon Abend. Auch die Gendarmerie ist verständigt worden. Für uns war klar: Es hat jemand geschrien und die Nachbarn sind suchen gegangen, was passiert weiter? Unsere Mutti hat gesagt, wir sollen im Haus bleiben, sie schaue in den Stall, ob sich dort der versteckt hat, der jemanden umgebracht hat. Am nächsten Tag hat man eine tote Frau an der Wehr im Wasser gefunden. Der Mörder hat sich im Wald erschossen. Es war ein Eifersuchtsdra155

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ma. Einen Tag später haben wir gehört, die Tote sei im Totenhäusl am Friedhof aufgebahrt. Wir Kinder wollten die Tote unbedingt sehen, doch das Totenhäusl war zugesperrt. Ich war zu klein, um beim Fenster hineinschauen zu können. Die größere Schwester hat hineingesehen, wollte mich aber nicht hochheben, damit auch ich etwas sehen kann. Aber sie hat mir beschrieben, wie die Tote aussieht. Sie liegt nackt drinnen, hat sie gesagt, und ein Fuß ist aufgestellt. Mich hat das nicht aufgeregt. Vielleicht habe ich mich als Kind vor schrecklichen Bildern im Kopf geschützt und mir die Schilderung der Toten nicht vorgestellt. Wir haben uns ja auch nicht ausgemalt, wie sie umgekommen ist. Es hat bloß geheißen, sie ist umgekommen. Das hat genügt. Wie sie genau gestorben ist, konnten und wollten wir uns vielleicht nicht vorstellen.“

Freude am Lernen – der Hinauswurf aus dem Internat Evas Mutter ist dahinter, dass ihre drei Mädchen schulische Erfolge haben. Aber auch der Vater will, dass sie sich bilden. So erzählt Eva: „Mein Vati hat zu uns gesagt, dass wir drei etwas lernen dürfen. Das war damals für Mädchen nicht selbstverständlich. Die eine Schwester, die Monika, ist nach der Hauptschule in eine dreijährige Frauenfachschule gegangen. Ich selbst bin nach Linz in die Lehrerbildungsanstalt geschickt worden. Die Lehrer in der Hauptschule haben dazu geraten, denn ich war die Beste in der Klasse. Die Lehrer haben der Mutti und dem Vati gesagt, es wäre schade, wenn ich nichts lernen dürfte. In Linz wurde ich in einem Internat untergebracht. Die Eltern haben es sich nicht leisten können, dass wir drei Schwestern gleichzeitig Schulen besuchen, daher ist die jüngste Schwester Christine so lange daheimgeblieben, bis wir zwei anderen mit der Schule fertig geworden sind. Sie ist dann Krankenschwester geworden. Ein bisserl eine Unterstützung haben wir durch den Kriegsopferverband bekommen. Aber eine Förderung durch eine Partei wollten die Eltern nicht, denn dies hätte 156

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bedeutet, dass man sich an die Partei bindet. Der Bürgermeister von Molln, er war ein Sozialdemokrat, meinte, er könne mich in einem sozialistischen Heim unterbringen. Das wollte die Mutter aber auch nicht, eben weil man dann politisch gebunden wäre. Das Internat, in dem ich schließlich untergekommen bin, war ein katholisches. Im letzten Jahr haben sie mich aber hinausgeworfen. Sie haben gesagt, sie brauchen niemanden, der selbstständig denkt, der sich nicht einfügt. Ich leistete oft Widerstand, der katholische Druck war mir zu groß. Wir mussten im Dunkeln kniend Rosenkranz beten, das wollte ich nicht mehr. Alles ist mir zu engstirnig gewesen. Darüber habe ich mich aufgeregt und so flog ich aus dem Internat. Nun habe ich mir ein Privatzimmer mit einer Freundin in Linz genommen. Ich habe schließlich mit Auszeichnung maturiert.“ Eva lacht triumphierend. Als ich ihr sage, dass ich im Gegensatz zu ihr ein denkbar schlechter Schüler war, schließlich habe ich erst im Herbst maturiert, meint sie gnädig: „Das darf auch sein. Mich aber hat in der Schule alles interessiert, zum Beispiel Latein, aber auch Mathematik und Deutsch. Ich habe schon in der Hauptschule meine Lehrer geliebt. Sie haben mich auch gemocht. Nach der Matura in der Lehrerbildungsanstalt wurde ich Lehrerin an der Hauptschule in Grünburg, an der ich selbst Schülerin gewesen bin. Später wechselte ich an die Volksschule in Kremsmünster. Es gab damals Lehrermangel. In der Parallelklasse an der Volksschule in Kremsmünster war eine Kollegin, die die Buben nicht wollte. Ich übernahm die zweite Klasse mit 42 Buben. Am Nachmittag habe ich noch in der Oberstufe unterrichtet. Es war anstrengend, aber die Kinder waren liebenswert. Ich habe die Kinder sehr gerne gehabt und sie mich auch. In der Früh haben mich immer ein paar Buben von meiner Wohnung abgeholt.“ Eva liebt ihren Beruf als Lehrerin. Sie hat eine liebenswürdige Art, mit Kindern umzugehen. Es ist ihr fremd, den Kindern mit Zorn oder launisch zu begegnen. Stets nähert sie sich ihnen mit allem Respekt. Ihre Karriere als Lehrerin erhält durch eine Skiwoche eine bemerkenswerte Wende. 157

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Die Skiwoche – die Heirat – das Theater Spannend ist, was Eva über die junge Liebe zu ihrem späteren Mann zu erzählen weiß: „Kennengelernt haben wir uns bei einer Skiwoche, die ich im Jahre 1963 organisiert habe. Ein paar Freundinnen aus meiner Schulzeit und ich wollten die Karwoche auf der Feichtau im Sengsengebirge in einer Selbstversorgerhütte verbringen. Wir hatten die Idee, einen Mann könnten wir mitnehmen, der könnte uns helfen. Manfred, der Bruder einer Mitschülerin und Sportstudent, sagte zu, er würde gerne mit uns fahren, er habe sich aber vorgenommen, sich in keine von uns zu verlieben. Wir haben uns dann aber doch heftig ineinander verliebt und nach vier Jahren geheiratet, also 1967, und uns in Kirchdorf niedergelassen.“ Die Skiwoche wird für Eva zum Schicksal, denn sie lernt dabei Manfred Bodingbauer kennen, einen großartigen Sportler, damals noch Student, der es schließlich zum sehr beliebten Direktor des Gymnasiums Kirchdorf und zum allseits respektierten Dritten Präsidenten des oberösterreichischen Landtages bringt. Er ist begeistert von Evas Charme und ihrem Liebreiz. Die beiden ziehen nach der Heirat ihres Berufes wegen nach Kirchdorf an der Krems. Eva führt aus: „Ich habe in der Hauptschule und Manfred hat im soeben gegründeten Gymnasium unterrichtet.“ In Kirchdorf bekommt sie Kontakt zum Amateurtheater. Eva erzählt dazu: „Ein Freund von uns, Mag. Franz Horcicka, er war damals Germanist am Gymnasium in Kirchdorf, hat das alte Kirchdorfer Amateurtheater, eine Laienspielgruppe, neu belebt. Dies gefiel mir. Ich habe ihn gefragt, ob ich mitmachen dürfe. Für mich war Theaterspielen in dieser Zeit wichtig, auch um Kontakte zu knüpfen. Ich hatte zu unserer großen Freude zwei Kinder geboren, mit denen wir viel gemeinsame Zeit verleben wollten, daher kehrte ich nicht mehr in meinen Beruf als Lehrerin zurück. Aber ich wurde Mitglied des Theaters Kirchdorf. Nun habe ich an Fortbildungskursen teilgenommen und einiges über die Vielfalt und Möglichkeiten des Theaterspielens gelernt.“ 158

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Freude am Spiel – Beglückung durch Applaus Das Spiel am Theater wird für Eva zur Quelle der Freude, aber auch der Mühen und des Selbstzweifels. Über den Beginn ihrer Karriere als Theaterspielerin in den 1980er-Jahren erzählt Eva: „Angefangen haben wir mit Lumpazivagabundus. Ich weiß nicht mehr, welche Rolle ich gespielt habe. Aber es hat mich fasziniert.“ Ich halte fest: „Damals hast du deine Liebe zum Theater entdeckt!“ Sie nickt und lächelt, und als ich hinzufüge: „Und die Liebe zum Applaus auch!“, sagt sie ernst: „Ja. Der Applaus erfreut uns Schauspieler sicher. Er ist Ausdruck der Anerkennung. Das Amateurtheater aber lebt von den gemeinschaftsbildenden Bindungen, die durch gleiche Interessen und gemeinsames Arbeiten und das Aufeinander-Verlassenkönnen entstehen. Die Besucherzahlen unserer Vorstellungen in Kirchdorf sind gut. Die Leute kennen uns und wissen, dass wir an die eigene Arbeit hohe Ansprüche stellen. Das schätzen unsere Zuschauer, Erwachsene wie auch Kinder. Wir haben die unterschiedlichsten Stücke quer durch die Literatur in unserem nur etwa 16 Quadratmeter großen, 72 Sitzplätze fassenden Theater gespielt. Ein Glücksfall ist, dass fünf Personen Regie führen können. Trotz aller Liebe zum Theater ist die Zeit dafür bei Berufstätigen beschränkt. Ich wollte mehr spielen und entschloss mich, mit Brigitte Kocher aus Graz den Schritt zur Berufspuppenspielerin zu machen.“

Die Funktionärin Über ihre weitere Karriere am Theater führt Eva aus: „Gleichzeitig mit der eigenen Theaterarbeit habe ich auch organisatorische, ehrenamtliche Funktionen übernommen, so im österreichischen ‚Verband für Theater und Spiel‘ die Sektion Figurenspiel, sowohl für das Land Oberösterreich als auch einige Jahre später für das gesamte Bundesgebiet. Den Lehrerinnenberuf habe ich nach der Geburt meiner Kinder Elke und Martin nicht mehr ausgeübt, aber die ehrenamtlichen Tätigkeiten sind ausgeufert. Nun habe 159

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ich Seminare und Fortbildungen und Theatertreffen organisiert. Das Schöne am Amateurtheater ist, dass es keine Einstiegshürde gibt. Man braucht keine Ausbildung, als Autodidaktin hat man die Freiheit, sich seine Bildung überall zu suchen und anzueignen.“ In diesem Sinn bemüht sich Eva um das Theater.

Das Puppentheater – eine alte Liebe erwacht Zu Eva sage ich: „Das Theater hast du ernst genommen!“ Eva bejaht dies kraftvoll. „Ja, und denk dir, bei einer dieser Fortbildungen ist meine schon vergessene Liebe zum Puppentheater wieder erwacht. Ich habe mich bei einem Seminar für Puppentheater an ein Kasperltheatererlebnis aus Kindertagen erinnert, vor allem daran, wie lustvoll es für mich war, als nach aller Spannung endlich die Hexe vom Teufel geholt wurde. Den Kurs hielt Professor Alfred Stifter, mein ehemaliger Kunsterzieher in der Lehrerinnenbildungsanstalt. Er spielte im Familienkreis selbst Puppentheater. Ich war von seinem so besonderen Humor, den er vor allem in der Figur des Kasperls zum Ausdruck brachte, begeistert und gründete im Anschluss an das Seminar ein eigenes Puppentheater. Mit Handpuppen habe ich angefangen, also mit Figuren, die auf der Hand stecken. Ich spielte zunächst Kasperltheater für Kinder.“ Als ich wissen will, wie Eva zu den nötigen Mitspielern gekommen ist, führt sie aus: „Ich habe einfach die Kirchdorfer Theatergruppe gefragt, wer mitmachen wolle. Einige haben sich gemeldet. Die Kasperltheaterfiguren haben wir selbst gebastelt, die Stücke haben wir zum Teil selbst geschrieben, teils Texte übernommen.“ Eva und ihre Mitspielerinnen und Mitspieler hatten Erfolg mit der Kirchdorfer Puppenbühne.

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Die Figurenpuppen – Hausverbot für den Chef des Kasperltheaters Etwas Neues erfährt Eva: „Dann habe ich an weiteren Fortbildungskursen teilgenommen, an einem bei Erwin Piplits vom Puppodrom in Wien – heute ist dies das Odeon-Theater. Er hat gefunden, das alte Kasperltheater sei ein Blödsinn, und hat ganz neue Arten des Puppenspiels gezeigt, zum Beispiel Theater mit lebensgroßen Figuren. Das war damals ganz neu, heute ist das allgemein bekannt. Mir hat die Idee gefallen und wir haben ab nun mit großen Figuren gespielt. Erwin Piplits war ein derartiger Gegner des Kasperltheaters, dass er dem Kasperlspieler Wolfgang Kindler von der ‚Wiener Handpuppenbühne‘ Hausverbot in seinem Theater erteilt hat.“ Eva sympathisiert mit dem Figurentheater, in dem große Puppen auftreten, und lässt eine Zeit lang das Kasperltheater links liegen. Ein Theaterstück über das Wildererdrama in Molln, das Mitglieder des Theaters Kirchdorf geschrieben und Helga Gutwald und Eva Bodingbauer inszeniert haben, wurde mit großen Figuren gespielt. Diese waren aus alten bäuerlichen Geräten hergestellt, wie Mistgabeln, Rechen, Körben und anderen Sachen, sodass die Geräte erkennbar blieben und die aus ihnen zusammengefügten Figuren menschliche Typen darstellten. Die Schauspieler trugen diese Figuren vor sich her, die Hände und Füße der Spieler waren auch die der Figuren, und sie sprachen dabei ihre Texte. Die Aufführungen dieses Wildererstückes waren ein großer Erfolg. Heute sind diese Figuren im Wilderermuseum zu St. Pankraz zu bewundern, wo sie an einem Wirtshaustisch lehnen und gestikulieren. Der Fantasie des Betrachters sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Der weise Berater – das Mystische am Puppentheater Ein wichtiger Berater Evas in Sachen Puppentheater blieb ihr alter Lehrer Alfred Stifter, an den sie sich mit Bewunderung und Dankbarkeit erinnert: „ Mein Kunsterzieher an der LBA in Linz, 161

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Professor Alfred Stifter, war mein ständiger Begleiter. Er hat sich seit der Gründung des Figurentheaters Kirchdorf 1974 und des Theaters Bavastel 1984 jedes Stück angesehen und mir dann jeweils einen langen Brief als Besprechung geschickt. Ich habe eine große Schachtel mit den Briefen von ihm. Alfred Stifter war auch ein international anerkannter Künstler, er hat zum Beispiel Kirchenglasfenster gemacht. Einer seiner Söhne war Rektor an der Linzer Universität. Stifter starb mit fast 100 Jahren.“ Aufschlussreich ist für jemanden, der Interesse am Puppentheater hat, also am klassischen Kasperltheater, folgender Auszug aus einem vier Seiten langen Brief Stifters an Eva. Er hat diesen Brief am 18. April 1996 im Alter von 92 Jahren verfasst, und zwar nach dem Besuch eines Gastspieles von Eva und ihrer Truppe im Linzer Kellertheater. Der Brief enthält die Besprechung der Aufführung des Figurentheaters, aber auch gescheite Gedanken zum Puppentheater für Kinder: „Liebe Eva! Zur Vormittagsvorstellung am 28. 3. ist mir inzwischen noch einiges eingefallen. Die Gestalt des Königs – in Sprache und Geste eine sehr gelungene Verlebendigung der Figur – war überzeugend organisch in die Handlung eingesetzt, was noch nachträglich richtig hervorgehoben werden muss. Das Tanzpaar von König und Prinzessin hat so überzeugend den glücklichen Ausgang der Angelegenheit geboten, dass man davon so eingenommen war, dass man weiter nicht mehr irgendwelche kritische Überlegungen anstellen mochte … Eine Frage habe ich mir unlängst gestellt, als ich mich erinnert habe, wie sich Kinder beim ganz offenen Geschehen beim Spiel an der Tischkante eigentlich bemühen, trotz der deutlichen Sichtbarkeit, wie alles gemacht wird, sich, wenn man sie genau beobachtet, in eine Stimmung des Geheimnisvollen zu versetzen trachten! Es ist also der Wunsch der Illusion ganz deutlich vorhanden. Und es gehört diese dann auch zum vollen Genuss einer Vorstellung dazu. Ich erinnere mich auch daran, bei meinen Urenkeln immer wieder auch den besonderen Reiz des Geheimnisvollen gefunden zu haben. 162

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Tatsache ist wohl, dass die alten Professionisten sich nicht ‚hinter die Kulissen‘ haben blicken lassen, wie zum Beispiel die Chinesischen Puppenspieler … Mit den besten Wünschen für Deine nächsten Planungen und mit herzlichen Grüßen an Dich, die Deinen und Deinen Figurentheaterkreis! Dein A. St.“

Das Geheimnis der Handpuppen Die Lust an der Vielfalt des Figurentheaters, vom SchwarzenTheater über das Schattenspiel bis zum Bunraku, konnte und kann Eva mit ihren Mitspielerinnen und Mitspielern in Kirchdorf umsetzen. Mit der Bühne Bavastel bleibt sie dem Kasperlspiel „in seiner besten Tradition“ treu. Dies dürfte auch im Sinne ihres alten Lehrers Alfred Stifters gewesen sein. Sie geht darauf ein: „Beim Handpuppentheater werden die Spieler von den Zuschauern nicht gesehen. Es entsteht die Illusion, die Puppen bewegten sich von alleine. Das Wunderbare ist ja, dass man es mit einem Geheimnis zu tun hat. Es liegt da­ rin, dass man vorgibt, es würde etwas leben, das eigentlich nicht lebt, nämlich die Puppe. Man steckt mit der Hand drinnen und gibt vor, dass die Puppe Leben hat. Die Zuschauer, vor allem die Kinder, steigen auf diese Vereinbarung ein, dass hier etwas Lebendiges auftritt. Das Schöne für mich als Puppenspielerin ist, dass ich bestätigt bekomme, dass die Puppe für lebendig gehalten wird. Zum Beispiel ist ein Kind nach einer Aufführung hinter die Guckkastenbühne gekommen – wahrscheinlich war dies die Idee der Eltern. Sie wollen heute das Geheimnis entzaubern und zeigen, dass dies nur Figuren sind. Das Besondere war also, dass dieses Kind nach einer Aufführung dagestanden ist, die Figuren angesehen und dann gefragt hat: ‚Wo sind die richtigen Puppen, die gespielt haben?‘ Das ist etwas Wunderbares für mich. Der Räuber hat zum Beispiel einen halb offenen Mund, sodass man 163

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die Zähne sieht. Ein Kind hat, wie es diese Räuberpuppe nachher gesehen hat, gesagt: ‚Jetzt hat er den Mund nicht zu.‘ Das Kind hat die Figur also auch mit geschlossenem Mund gesehen. Die Figur ist starr, aber das Kind hat in seiner Fantasie sowohl den offenen als auch den geschlossenen Mund gesehen. Das ist es, was mich am Puppentheater bezaubert, das ist etwas Wunderbares. In einem Personentheater kann man einen Toten zum Beispiel nicht so darstellen. Wenn der Schauspieler auf dem Boden liegt und stirbt, weiß jeder, der steht nachher wieder auf. Wenn es aber im Puppentheater in Übereinkunft mit den Zuschauern glaubhaft gelungen ist, dass diese eine Figur lebendig ist und die stirbt, ist sie wirklich tot. Im Theater mit Handpuppen sind die Spieler in einem Guckkasten versteckt. Durch Bewegung, Haltung, Gestik, Rhythmus, Dynamik und Stimme geben sie der Figur Leben. Die Figur hat auch eine Rückwirkung auf die Spieler. Das war zum Beispiel bei der Frau Leblhuber, sie war Prinzipalin des ‚Steyrer Kripperls‘, eines Theaters mit Tradition. Viele Stücke waren nur mündlich überliefert. Als sie 80 war, hat man probiert, diese Stücke aufzuschreiben. Wenn man sie nach einem solchen Stück gefragt hat, hat sie den Text nicht gekonnt. Hat sie aber die Figur in die Hand genommen, wusste sie plötzlich den Text.“ Ich werfe ein, dass das Wort Person aus dem Lateinischen kommt (personare) und so viel heißt wie Durchtönen durch die Maske, die damals jeder Schauspieler trug. Die Gemeinsamkeit von Figur und Spieler wäre demnach die Person. Zur Beziehung Puppenspieler und Zuschauer sinniert Eva weiter: „Wir beim Puppentheater haben also folgende Spielvereinbarung mit den Zuschauern: Ihr spielt uns etwas vor und wir schauen euch zu. Wir bedanken uns mit Applaus dafür, dass Ihr uns unterhalten habt.“

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Das Puppentheater Bavastel – ein Ärgernis für manche Pädagogen 1984 gründet Eva mit Brigitte Kocher aus Graz das Puppentheater Bavastel: „In Graz gab es ein Theaterfestival zum Thema ‚Kasperliaden‘. Brigitte Kocher vom Figurentheater Graz wurde gefragt, ob sie ein Kasperltheater aufführen würde. Sie wiederum hat mich gefragt und so kam es zur Gründung von Bavastel. In diesem Wort steckt ‚Bagatelle‘, was Kleinigkeit bedeutet. Bavastel ist also ein Theater für Kleinigkeiten, wie eine Bühne, die in vier Gepäckstücken Platz hat, für Inhalte von Stücken, die durch Humor leicht werden. Wir sind ein Wanderbetrieb und spielen auf Festivals im In- und Ausland und überall, wo man uns einlädt. Unsere Stücke entstanden aus Inhaltsangaben von drei, vier Zeilen, die uns Professor Stifter zur Verfügung stellte. Wir haben uns mit den Wurzeln des Kasperltheaters und seinen Formen in aller Welt beschäftigt und diese uralte Theaterform schätzen gelernt. Wir spielen ein anderes Kasperltheater. Kein pädagogisches, sondern eines mit einer lebensbejahenden, humorvollen Grundhaltung. Wir werden bisweilen von den Pädagogen angefeindet. Das ist uns zum Beispiel in Wien passiert, man regte sich auf, weil unser Kasperl Mundart spricht. Einmal haben wir im 18. Bezirk in Wien gespielt. Es war eine geschlossene Vorstellung für den Kindergarten. Die Kindergärtnerinnen haben das Gefühl gehabt, wir verderben die Sprache der Kinder, wenn der Kasperl eine regional gefärbte Sprache spricht. Ihre Kinder würden nur hochdeutsch reden, meinten die Damen. Doch als der Kasperl den Räuber fing, schrie ein Kind: ‚Holt‘s an Kieberer!‘ Es war nur der Wunsch der Kindergärtnerinnen, dass die Kinder ordentlich nach der Schrift reden. Den Kindern hat es gefallen, wie wir im Dialekt gesprochen haben.“

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Das Kasperltheater für Kinder und Erwachsene Stolz meint Eva: „Unsere Aufführungen sind für Familien, also für Kinder und Erwachsene. Die einfache Handlung richtet sich eher an die Kinder, der Wortwitz zum Teil aber an die begleitenden Erwachsenen. Es kann vorkommen, dass einmal vor allem die Kinder und dann wieder vor allem die Erwachsenen lachen. In vielen Orten haben wir ein Stammpublikum, das unsere Art sehr schätzt. Ein Stück entsteht so, dass wir nach der Inhaltsangabe ein Handlungsgerüst entwerfen, die notwendigen Requisiten und Figuren bauen, dann mit Hilfe von Improvisationen das Stück Schritt für Schritt fixieren. Wir schreiben es nieder und proben es. Der Bewegungsablauf muss genau geprobt werden, wer wann eine Figur in die Hand nimmt. Es kann sein, dass wir beide abwechselnd das Krokodil spielen. Fix ist, dass ich den Kasperl spiele, Brigitte die Gegenfiguren. Stegreif gibt es auch bei uns, aber nur in der Form des Zurufens der Kinder. Es ist nicht so, dass die Handlung erst während des Spieles entsteht, wie manche glauben. Wenn ich mit meinen Enkelkindern spiele, verwenden wir ein kleines Theater aus einer Schuhschachtel mit passenden Figuren. Von Enkelin Elisa wurde die Hexe meist vor dem Spiel versteckt und durfte nicht mitmachen. Flora wieder bevorzugt Hund und Katze als Darsteller und Amelie, die Jüngste, ist gerade dabei, die Puppen zu benennen. Schöne Erlebnisse hatten wir bei einer der Einladungen zu einem Festival im Grenzgebiet zwischen Italien und Slowenien. Dort gibt es jährlich ein Festival, das ‚MittelFest‘, wo auch Puppentheater vertreten ist. Wir waren schon ein paar Mal dort eingeladen. Am Anfang haben wir nicht gewusst, wie das dort abläuft. Wir haben Landkarten bekommen mit dem eingezeichneten Ort, in dem wir spielen sollten. Am Berg oben waren bloß ein paar Häuser mit einer Kirche. Und kein Mensch war da, als wir gekommen sind. Wir haben uns gesagt, na gut, suchen wir einen Platz und bauen die Bühne im Freien auf. Wie wir die Bühne aufgebaut hatten, es war schon Abend, kamen auf einmal die Leute aus den Häusern 166

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mit Sesseln. Sie stellten Tische auf, richteten etwas zum Essen und Trinken her. Mit Bussen sind Leute vom Tal heraufgekommen. Es war ein herrlicher Abend, der auch nach dem Spiel noch lange gedauert hat. Es gibt noch ein anderes Festival in Italien, es ist in Cervia, in der Nähe von Ravenna und heißt ‚Arrivano dal Mare‘. Auch bei diesem waren wir schon einige Male eingeladen. Da stehen Kasperlbühnen aus aller Welt nebeneinander auf Plätzen und auf der Straße zum Meer hin und spielen sozusagen um die Wette. Einmal war ich als Vertreterin des österreichischen Amateurtheaterverbandes beim Festival in Chrudim in der ehemaligen Tschechoslowakei eingeladen. Dort wurde auch immer ein Puppentheaterfestival für Amateure veranstaltet. Aus Kostengründen waren wir privat untergebracht. Die Frau, die uns die Wohnung zur Verfügung gestellt hat, hatte einen Wellensittich. Der bekam einen Herzinfarkt, wie er uns gesehen hat. Der Vogel ist also verstorben.“ Ich meine, so ein Erlebnis sei traurig, und ich frage Eva höflich-heiter, ob sie meine, dass der Vogel gestorben sei, weil sie ihm etwas vorgespielt habe. Eva verneint, der Vogel habe nicht wegen ihres Spieles den Geist aufgegeben, und ergänzt: „Wir wussten nicht, was wir mit dem toten Wellensittich tun sollten. Wir haben ihn dann begraben.“ Jedenfalls ist das Leben als Puppenspielerin ein bewegtes. Eva genießt dies, bis heute.

Figurentheater und Wilderermuseum Ich will noch einmal auf das Wilderermuseum hinweisen, an dem Eva in dankenswerter Weise mitgearbeitet hat, und zwar jetzt in Hinblick auf ihr Theaterspiel. Sie erzählt dazu: „Im Rahmen des ‚Festivals der Regionen‘ haben 1995 Mitglieder des Theaters und Figurentheaters Kirchdorf das Stück ‚Waidmannsheil oder Meuchelmord in Molln‘ geschrieben und mit Personen und Großfiguren aufgeführt, ein Stück nach einer historischen Begebenheit von 1919. Als dann für die Landesausstellung Oberösterreich in St. Pankraz eine Ausstellung über Wilderer ins Leben gerufen wurde, 167

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hat Roland Girtler angefragt, ob wir das Stück nicht noch einmal im Wilderermuseum aufführen könnten. Wir haben seiner Hartnäckigkeit trotzen müssen, aber es sind aus dieser Begegnung eine Zusammenarbeit im Bereich des Wilderermuseums und ein Kochbuch entstanden. Die für das Kochbuch zuständige Dame im Verlag war unsicher, ob ich auch kochen könne, und hat mir gesagt, sie würde zum Essen vorbeikommen. Nach meiner herzlichen Einladung hat sie aber davon Abstand genommen, obwohl ich ihr Gemüse aus dem eigenen Garten angeboten hatte.“ Mich fasziniert die Zusammenarbeit mit Eva, denn durch die Kooperation von Museum und Theater ist etwas Großartiges gelungen. Beide erzählen den Menschen meist über vergangene außerordentliche Taten, manchmal sind es auch Geschichten von Banditen, wie sie Schiller in seinen „Räubern“ oder Bizet in seiner „Carmen“ beschreibt, die die Zuseher ergreifen. Besondere Aufmerksamkeit erhalten die Geschichten von Banditen, wenn man ihre Speisen mit Rezepten unterlegt, wie wir es getan haben.

Eine kleine Theorie des Theaters – der Charme des Puppentheaters und das Leben der Puppen Als Dame des Theaters und schließlich als Puppenspielerin versteht es Eva, das Publikum zu ergötzen. Eva, die ihren Brotberuf als Lehrerin aufgegeben hat und Zeit findet, sich dem Theaterspiel zu widmen, steht damit wohl in der Tradition der Antike, in der „vornehme Nichtstuer“ sich dem Sport, dem Krieg und dem Theaterspiel hingeben konnten. So stammte der große griechische Theaterdichter Aischylos (525 bis 456 v. Chr.) aus altem Adel und als aristokratischer Krieger war er stolz darauf, bei der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) gewesen zu sein. Aus nobler Familie kommt auch, wie es scheint, der Komödiendichter Aristophanes (ca. 450 bis 380 v. Chr.). Von ihm stammen Sätze, die auch Eva erfreuen oder von ihr sein könnten, wie „Auch das 168

5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer

Denken schadet bisweilen der Gesundheit“, „Das Vaterland ist überall dort, wo das Glück uns blüht“, „Regieren ist keine Sache für Leute mit Charakter und Erziehung“. Der wahrhaft noble Mensch will demnach, so meint Aristophanes wohl – und ebenso Eva – nichts mit alldem zu tun haben, er widmet sich lieber dem Theater. Genauso ist auch Eva einzustufen, die als gebildete Dame Zeit und Muße für das Theater und vor allem für das Puppentheater hat. Fasziniert von Puppen dürfte übrigens auch der feine Sohn des Leibarztes des Königs von Mazedonien Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) gewesen sein. Er beschreibt eine Puppe, die den Kopf drehen und die Glieder bewegen konnte. Auch die älteste Darstellung eines Puppenspiels aus der Zeit um 1160 stammt von einer noblen Dame, und zwar von der elsässischen Äbtissin Herrad von Landsberg – oder auch Herrad von Hohenburg genannt. In ihrem Hortus Deliciarum (Garten der Freuden) schildert sie ein Puppentheater. Etwas Nobles hatten wohl auch die ab dem 16. Jahrhundert herumreisenden und auf Märkten auftretenden Puppenspieler an sich, sie dürften ebenso wie die alten griechischen Aristokraten und Philosophen eine vornehme Abneigung gegenüber dem üblichen Broterwerb gehabt haben. Angetan von den Theaterspielen auf den Märkten war der große Theaterdichter Molière, der eigentlich Jean-Baptiste Poquelin hieß und von 1622 bis 1673 in Paris lebte. Der Sohn eines wohlhabenden Pariser Händlers war sowohl Schauspieler als auch Theaterdirektor. Sein Großvater war ein Liebhaber des Theaters. Durch ihn lernte Molière vor allem die Jahrmarkttheater kennen, durch die er Einblicke in eine Welt erhielt, die ihn zu faszinieren begann. Wahrscheinlich dürften ihm auch die Puppenspiele gefallen haben, denn bei diesen sind es vor allem lustige Figuren, die die Zuschauer unterhalten sollen. Ein solches Spiel war das Puppenspiel vom Dr. Faustus. Darin taucht auch die Figur des Hanswurst auf, aus dem schließlich der Kaspar wird. Der ist ein heiterer Bursche, der stets das Glück auf seiner Seite hat und dadurch gegen Drachen, böse Polizisten und üble Räuber gewinnt. Er ist eine lustige, lebensfrohe Figur, mit 169

5. Das Geheimnis der Puppenspielerin – Eva Bodingbauer

der sich vor allem Kinder identifizieren können. Hier zeigt sich menschliche Sehnsucht, auch bei Erwachsenen, dass mit Witz den Schwierigkeiten und Schicksalsschlägen des Lebens begegnet werden kann. Dabei haben auch der „kleine Mann“, der Gedemütigte und der Unterdrückte die Chance, durch Schläue und Witz demjenigen zu begegnen, der sie degradieren oder schlecht behandeln will. Zu diesen schlauen Leuten gehört auch der ehrbare Wildschütz, der dem reichen Jagdherrn die Gams wegschießt. Dies ist es auch, was Eva und ihre Gruppe animiert hat, ein Wildererstück für das Theater zu verfassen, und Eva schließlich zur künstlerischen „Chefin“ des Wilderermuseums machte. Wichtig ist ihr, dass sie den Figuren, die von ihr geschaffen und gespielt werden, Leben eingibt. Es ist also ein schöpferischer Akt, den sie als Puppenspielerin setzt. Es freut sie, wenn gerade Kinder die Lebendigkeit der Puppen begreifen. In diesem Sinn schrieb sie mir: „Für Kinder sind Figuren oft noch lebendig, auch wenn sie ruhig daliegen. Das kann auch sein, wenn die Begegnung mit der Figur zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet.“ Eine Kindergärtnerin aus der Steiermark, in deren Region der Krampus im Brauchtum eine große Rolle spielte, hat mir Folgendes erzählt: Sie hätte, um den Kindern die große Angst vor dem Krampus zu nehmen, alle Teile einer solchen Maskierung über einen langen Zeitraum schrittweise in den Kindergarten gebracht und die Kinder mit den Dingen umgehen lassen. Als alle Teile da waren, die Kinder damit hantiert hatten und auch die Krampuszeit sich näherte, hat sie die Teile zur Figur zusammengestellt und auf dem Boden aufgebreitet. Die Kinder standen stumm herum, bis auf einmal eines in die Stille hinein fragte: „Und wer hat den erschossen?“ Für dieses Kind hat, trotz aller sorgfältigen Einführung, der Krampus irgendwann doch gelebt, sonst wäre er hier nicht tot. Für mich ein ganz wunderbares Beispiel über die Wahrnehmung bei Kindern.

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6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident Vorgeschichte Erik Adam, Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaft an der Universität Klagenfurt, lernte ich vor einigen Jahren anlässlich eines Vortrages kennen, den ich dort über meine Feldforschungsmethoden und über meine Studien bei feinen Leuten, Ganoven, Dirnen und anderem Volk hielt. Es entwickelte sich aus diesem ersten Beisammensein eine schöne Freundschaft. Regelmäßig halte ich seitdem auf Einladung von Erik Adam ein Seminar an der Universität in Klagenfurt. Erik erwies sich als ein liebenswürdiger Freund mit weitem Geist und heiterer Gelassenheit. Es ist mir stets ein Vergnügen, mit ihm entlang des Lendkanals zu wandern und über die Dinge des Alltags und der Geisteswelt zu sprechen. Seinen Vater hatte ich schon vor Jahren auf der Straße in Wien kennengelernt. Mir imponierte, dass dieser Mann nicht nur ein tüchtiger und origineller Universitätsprofessor, sondern auch Oberbrand­inspektor bei der Feuerwehr von Oberkappel im Mühlviertel war, wo er sich mit seinem Freund Bischof Kurt Krenn als Regionalanwalt engagierte. Außerdem war er der einzige Rechenmeister Österreichs mit Gewerbeschein. Von ihm dürfte Erik einiges an Mentalität geerbt haben. Erik erzählte mir oft aus seinem spannenden Leben.

Zugang Die Gespräche, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegen, führte ich mit Erik bei unseren Wanderungen entlang des Klagenfurter Lendkanals und bei Besuchen diverser Gasthäuser und Cafés. Die Gespräche wurden von ihm entsprechend verbessert und überarbeitet. 171

6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident

Hollabrunn und die Fleischhauerei Fournier – die Distel von Mistelbach Mir gefällt, dass Erik Adam in Hollabrunn im Weinviertel unweit der tschechischen Grenze das Licht der Welt erblickt hat. Auf Hollabrunn stieß ich, als ich vor Jahren mit dem Fahrrad nach Paris radelte und unter dem Triumphbogen stand. Dabei entdeckte ich neben fünf oder sechs anderen Ortsnamen auch Hollabrunn. Dort hatte Napoleon die Österreicher im Jahre 1805 vor der Schlacht bei Austerlitz geschlagen. Dies erschien den Franzosen Grund genug, um auf ihrem schönsten Triumphbogen Hollabrunn zu verewigen. Napoleon dürfte stets mit Freude an Hollabrunn gedacht haben. Erik selbst kann auf französische Wurzeln verweisen. Er erzählt über seine erste Zeit: „Geboren wurde ich 1948 in Hollabrunn, also zur Zeit der Russenbesatzung. Kindergarten, Volksschule und Gymnasium besuchte ich auch hier. 1966 maturierte ich am hiesigen Gymnasium. Unsere Wohnung, sie gehörte meiner Mutter, war im ersten Stock des Hauses Hauptplatz 3, in dem sich zu ebener Erde die Fleischhauerei des Bruders meiner Mutter Gustav Fournier befand. Der Name Fournier, wie meine Mutter als Mädchen hieß, weist auf Hugenotten hin, die während der Glaubenskriege aus Frankreich geflohen sind. Über dem schönen, gelb verfliesten Portal prangte die Aufschrift ‚Fleischer – Fournier – Selcher‘. In dieser Fleischhauerei hat sich übrigens mein späterer ‚Lebenshelfer‘ Thomas Bernhard bei seiner ersten Ausfahrt mit seinem eben erstandenen ersten Auto, einem ‚Triumph Herald‘, wie er mir erzählte, eine Leberkässemmel gekauft, die ihm sehr gut geschmeckt hat. Er dürfte sich daran erinnert haben, als er in seinem Buch ‚Meine Preise‘ ausdrücklich erwähnt, dass er nach Retz über Hollabrunn gefahren ist. Die eigentliche Chefin der Fleischhauerei war meine seit 1949 verwitwete Großmutter, die Omi. Sie war aber auch die Chefin meiner Mutter, die bis 1966 als Verkäuferin im Betrieb mitarbeitete. Meine Großmutter dürfte, was die Kindesliebe und Erziehungskompetenz ihrer Tochter anbelangte, etwas skeptisch gewesen sein, 172

6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident

weil sie sich immer wieder einmischte und, unterstützt von ihrer Schwiegertochter, der Tante Hilde, meine Erziehung zum Teil selbst übernahm. Tatsächlich stand dann auch im Schülerbeschreibungsbogen der Volksschule ‚Großmutterkind.‘ Erst im späteren Erwachsenenalter hat sich mein Verdacht, dass ich ein nicht gerade erwünschtes Kind war, erhärtet. Eine Art Ersatzvater fand ich in meinem Onkel Gustav, der mich auch am Betriebsgeschehen teilnehmen ließ. Ich durfte ihn oft bei seinen Einkaufsfahrten zu den Bauern der Umgebung (‚ins Gai‘) begleiten und bei Lieferfahrten nach Wien. Ein Kunde war zum Beispiel Franz Blauensteiner, in dessen Gasthaus ‚Zur Stadt Paris‘ neben dem ehemaligen Forum Kino Heimito von Doderer Stammgast war. Blauensteiner, der dem Ausschuss der Wiener Gastwirte angehörte, erhielt von ihm den Auftrag: ‚Franz, erhalte mir die Beiseln, damit sie überleben; denn sie sind das Rückgrat der Intelligenz.‘ Den Fourniers verdanke ich meine ‚Erdung‘, die mich vor der Entwicklung eines akademischen Standesdünkels bewahrte, wie ihn mein Vater Adolf Adam pflegte. Er war ein sogenannter Wochen­ endvater und das höchst reduziert, da er am Institut für Statistik an der Universität Wien arbeitete, als wissenschaftliche Hilfskraft von Wilhelm Winkler (1884–1984), dem Begründer der Statistik als Universitätsfach in Österreich nach 1945. Einmal besuchte uns der auf mich schon damals uralt wirkende Winkler in Bad Ischl und bei dieser Gelegenheit bekam ich von ihm ein Buch über Raketentechnik mit der Widmung ‚Dem kleinen Ingenieur‘ geschenkt. Tatsächlich habe ich dann in der pyromanischen Phase der Pubertät auch Raketen gebaut. Ein missglückter Startversuch im Hof der Fleischhauerei hat mir eine Ohrfeige meiner Tante Hilde eingetragen, weil der Feuerschein am Hauptplatz gesehen wurde und Passanten glaubten, das Haus brennt ab. Sie hatten ihre Wahrnehmung aufgeregt im Geschäft mitgeteilt. Die Vorversuche mit verschiedenen Treibstoffen fanden in meinem Laboratorium statt, das ich geheim in einem Nebenraum der Betriebsgarage eingerichtet hatte. Da sich darin auch das Benzinkanisterlager befand, bestand höchste Explosionsgefahr. Als es von meinem Onkel entdeckt wurde, hat es ordentlich gekracht. 173

6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident

Mein Vater kam nur jeden Samstag mit dem Zug nach Hollabrunn und fuhr am Sonntagabend wieder nach Wien retour. Nach kurzer Begrüßung hüllte er sich in einen roten, abgetragenen Schlafrock und verschwand bald im Bett, wo er seine Arbeiten erledigte. Da ich einmal eine Darstellung von Don Quijote gesehen hatte und mein Vater einen Spitzbart trug und sehr dünn war, nannte ich ihn den Ritter von der traurigen Gestalt, nicht gerade zu seiner Freude, aber zur Belustigung meines Onkels. Bei meinem ersten Besuch des Statistikinstituts, an dem übrigens damals auch die spätere Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg studierte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Vater tatsächlich dort arbeitet. Ich hatte den Verdacht, dass mir die anderen Institutsmitglieder das, um mich zu schonen, nur vorspielten. Als uns die Volksschullehrerin einmal fragte, was für Berufe unser Väter hätten, antwortete ich: ‚Meiner liegt nur im Bett.‘ Da ich aufgrund des Raummangels kein eigenes Kinderzimmer hatte, war wochentags das Ehebett meiner Eltern mein Nachtquartier, am Wochenende das der Großmutter. Da ich dort den Platz ihres verblichenen Eduard einnahm, es war sein Sterbebett, kam ich auf die Idee, uns zum Ehepaar Rabasl zu erklären. Um ihr einmal eine besondere Freude zu machen, habe ich für sie den Schlager ‚Die Rose vom Wörthersee‘ in ‚Du bist die Distel von Mistelbach‘ umgedichtet, was ja vom rein poetischen Standpunkt aus viel besser war, aber der Gehuldigten nicht die erwartete Freude bereitete. Ein eigenes Zimmer bekam ich erst mit dem Einsetzen der Pubertät. Es war eine Notlösung – nämlich eine einer kleinen Mönchszelle ähnliche Abteilung der Küche. Weil meine Mutter und Großmutter tagsüber im Geschäft arbeiten mussten, passte in dieser Zeit ein bei uns einquartierter russischer Besatzungssoldat namens Wassilij auf mich auf, der dem Schreihals zur Beruhigung russische Lieder vorsang. Wenn es zu arg wurde, ging er mit mir hinunter ins Geschäft und sagte: ‚Baby schreit.‘ Vielleicht ist mir damals auch eine russische Seele in die Wiege gelegt worden, was meine Liebe zum Slawischen erklären könnte. Prägend war natürlich in erster Linie das Hollabrunner 174

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und damit Weinviertler Milieu. Das betrifft in erster Linie meine Sprache, meinen Dialekt, in den ich bis heute immer wieder – auch in meinen Vorlesungen – zurückfalle. Damit ergeht es mir gleich wie meinem Freund Adolf Holl. Eine Lehrerin bemerkte einmal kopfschüttelnd, wie es möglich sei, dass ein Akademikerkind so ordinär daherreden kann. Im Kindergarten und bei Verwandtenbesuchen war ich ausgesprochen brav. Einmal verlangte ich bei einer Tante, die besonderen Wert auf gutes Benehmen legte, zum Verzehr eines Kekses Messer und Gabel. Ansonsten war ich auffällig schlimm, heute würde man sagen ‚verhaltensoriginell‘. Die Frau mit dem schlimmen Kind war die Parole, wenn meine Mutter mit mir die Bahnhofsrestauration im alten Wiener Nordwestbahnhof betrat, zumal ich dort sogar einmal das Tischtuch vom Tisch riss und das ganze Geschirr in Scherben ging. Da ich extreme Plattfüße hatte, mussten wir regelmäßig zum berühmten Orthopäden Professor Karl Chiari nach Wien fahren. Sehr lieb war ich aber zu den russischen Besatzungssoldaten, die ich immer mit ‚Strasdwudjetowarisch‘ grüßte. Die Kommandantur mit dem roten Stern lag auf dem Weg zum Kindergarten. Aus den Fenstern dröhnte russische Musik und oft wohl vom Wodka inspirierter Gesang. Auch dort grüßte ich laut hinauf, wofür ich mit Süßigkeiten belohnt wurde. Wir waren also gute Freunde. Als ich einmal mit einigen älteren Kindern auf einer ‚Gstätten‘ spielte, näherten sich zwei mit Kalaschnikows bewaffnete Russen. Die älteren Kinder ergriffen sofort die Flucht. Ich aber stellte mich mutig vor die Russen hin und wies ihnen mit den Worten ‚Dort könnt Ihr sie erschießen‘ den Weg zu den Flüchtigen.“

Das Fleischereigelände als Vatikan – der Micky-Maus-Klub Früh zeigte sich bei mir ein schauspielerisches Talent. So spielte ich hinter einem mit Tuch verdeckten Stuhl einen Radiosprecher, der Hitler- und Stalinreden von sich gab. Im Geschäft habe ich so 175

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überzeugend den ‚Dodel‘ gegeben, dass einige Kunden das arme behinderte Kind bedauerten. Gerne spielte ich auch Lehrer und Priester. Mit meinem Freund Erich Wessner – er wurde später Sänger an der Wiener Staatsoper und ist ein hervorragender Interpret Altwiener Lieder – als Ministrant habe ich im schwarzen Witwenkleid meiner Großmutter zahlreiche Messen mit enormem Hostienkonsum gelesen und mich in meinem Größenwahn schließlich sogar zum Papst und das Fleischereigelände zum Vatikan erklärt und darüber hinaus auch noch einen Padre-Pio-Klub gegründet, denn dieser heiligmäßige Mann mit seinen Stigmatisierungen hat mich außerordentlich fasziniert. Später hat sich diese Verehrung auch auf Franz von Assisi, den rebellischen Sohn, ausgedehnt. Über ihn hat Adolf Holl ein wunderbares Buch mit dem Titel ‚Der letzte Christ‘ geschrieben. Mit neun Jahren begann dann überhaupt eine Phase, in der ich zahlreiche Klubs gegründet habe. Der wichtigste wurde der Micky-Maus-Klub mit regelrechten Sitzungen, gedruckten Mitgliedskarten und -beiträgen. Diverse Erwachsene, die mein Vater nach Hollabrunn einlud, wurden als unterstützende Mitglieder gewonnen und hatten den Mitgliedsbeitrag für zehn Jahre im Voraus zu entrichten. Darunter war auch eine italienische Freundin meines Vaters – von ihr ‚sergente barba‘ genannt – aus seiner Mailänder Zeit. Er war dort als Wehrmachtsunteroffizier im Technischen Dienst stationiert, sie arbeitete, wie sich später herausstellte, mit den Partisanen zusammen und schrieb auch Kriminalromane. Sie war erstaunt, dass ich die Arie ‚O wie so trügerisch sind Weiberherzen‘ so gut singen konnte und hat mir daraufhin eine Schallplatte mit ‚Rigoletto‘ aus Mailand geschickt. Die Besetzung mit der Callas und Giuseppe di Stefano unter Tullio Serafin hat mich außerordentlich beeindruckt. Bald konnte ich dann die Arie auch auf Italienisch ‚La donna è mobile‘ singen. Meine ersten Opernkenntnisse bezog ich aus dem Fernsehen. Wir hatten schon 1958 einen der ersten Fernsehapparate in Hollabrunn und dementsprechend viel Besuch. Bummvoll mit Kindern war das Wohnzimmer beim Kasperltheater und dazu noch mit Erwachsenen, wenn Toni Sailer 176

6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident Abb. 6: Der junge Erik Adam als Präsident des Micky-Maus-Klubs.

und Anderl Molterer die Streif hinunterrasten. Im Unterschied zu den meisten war ich ein Moltererfan, weil er anders als der auf mich bieder wirkende schöne ‚Tonai‘ draufgängerisch auch kapitale Stürze riskierte. Der verehrte Anderl Molterer ist mir im Winter 2010 in Kitzbühel als alter Mann ganz in Schwarz gekleidet mit Skiern auf den Schultern völlig überraschend entgegengekommen. Ich war so perplex, dass ich ihn nicht einmal höflich grüßen und ihm nur verwundert nachblicken konnte.“

Als Opernsänger – bei den Pfadfindern – der Herr Dr. Groër Erik, den ich bereits als großartigen Sänger erlebt habe, erzählt weiter über seine Freude am Gesang: „Außerordentlich beeindruckte mich der ‚Don Giovanni‘ in einer deutschsprachigen Aufführung. Da es damals nur ein Fernsehprogramm gab, wurde ich natürlich auch mit Opern- und anderen Kultursendungen, zu ihnen gehörte auch ‚Der Fenstergucker‘ mit der schönen Stimme von Ernst Meister, konfrontiert. Dieses eingeschränkte Fernsehangebot hat sicher wesentlich zu meiner Bildung beigetragen. Ich besorgte mir auch 177

6. Professor Erik Adam – Operettenforscher und Klubpräsident

eine Schallplatte der Oper mit Cesare Siepi, Hilde Güden, Lisa della Casa und Anton Dermota unter Josef Krips, der übrigens einmal Thomas Bernhard, der eine Sängerlaufbahn anpeilte, schwer beleidigte, als er ihm riet, Fleischhauer zu werden. Bernhard hat sich dafür in seinem Theaterstück ‚Die Berühmten‘ an Krips gerächt. Der Eindruck von ‚Don Giovanni‘ war derart stark auf mich, dass ich die Oper wiederholt in einer Kürzestfassung auf einer von mir errichteten Bühne aufführte. Meine Darbietung bestand fast nur aus der Auftrittsarie des Leporello ‚Keine Ruh bei Tag und Nacht, nichts, was mir Vergnügen macht‘ und einigem dazu Erfundenem. Ich habe die Arien sogar auf Schallplatte aufnehmen lassen und sie meiner Großmutter und den Pfadfindern gewidmet. Meine Zeit bei den Pfadfindern, die von Dr. Hans Groër betreut wurden, war nur kurz, aber sehr intensiv. Als er erfuhr, dass ich mich zum Leiter der ‚Löwenpatrouille‘ aufspielen wollte und Pfadfinderabende in eigener Regie zu veranstalten begann, hat er mich schroff in die Schranken gewiesen. Daraufhin bin ich aus diesem Verein ausgetreten, obwohl es mir dort gut gefallen hat. Den Werbungen des Mittelschülerkartellverbandes ‚Arminia‘ habe ich aufgrund meiner Erfahrungen als Pfadfinder – dort gab es echte Herausforderungen, heute würde man das ‚Erlebnispädagogik‘ nennen – eisern widerstanden. Eine besondere Herausforderung war ein dreiwöchiges, fast die ganze Zeit verregnetes Zeltlager am Fuße des Ötschers, den wir mit Gummistiefeln bestiegen, weil unser Schuhwerk völlig durchnässt war. Mehrere Pfadfinder haben den Lageraufenthalt vorzeitig abgebrochen, ich harrte jedoch tapfer im Schlammgelände aus. Dafür wurde ich von Dr. Groër auf einem Holzstoß sitzend sogar mit einem innigen Kuss belohnt. Als besondere Ehre empfand ich es, dass ich einmal sogar in seinem Luxuszelt übernachten durfte, wo er an mir das Ritual der Fußwaschung vollzog und mich damit, so sah ich es damals, in den innersten Kreis seiner Jünger aufnahm. Was die ‚Arminia‘ betrifft, so konnten mich die bierselige Verbrüderung mit den Professoren, die für mich eine Art Klassenfeind waren, und die eigenartigen Rituale auf der ‚Bude‘ nicht reizen.“ 178

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Taubenvergiften im Park Erik entdeckt seine Vorliebe für Moritaten und gräuliche Geschichten, die so manchen Erwachsenen erschrecken: „Ein weiteres Highlight in meinem Repertoire als Sänger war das Chanson ‚Die ach so grausame Geschichte vom kleinen Albert‘ von Cissy Kraner und Hugo Wiener, in dem eine Mutter berichtet, wie ihr Sohn von einem Löwen im Zirkus gefressen wurde. Dieses Lied habe ich sehr oft, bei Gelegenheit auch in Frauenkleidern, vorgetragen, einmal sogar in einem Hotel in Taormina vor den versammelten Gästen. Mein musikalischer Geschmack trieb damals zum Schrecken der Verwandten und Bekannten auch seltsame Blüten. Besonders angetan haben es mir die Lieder von Georg Kreisler, den meine Eltern sehr schätzten – sie waren oft in der Marietta-Bar nächst dem Wiener Graben, in der Kreisler zu mitternächtlicher Stunde auftrat. Sie hatten auch einige Schallplatten. Besonders erfreute mich das Lied, in dem von zahlreichen Frauenmorden berichtet wird: ‚… Lilli, Leni und Marianne starben in der Badewanne ...‘ und das ‚Taubenvergiften im Park‘. Was soll aus einem Kind werden, das solche Lieder mag, sorgte sich das Umfeld. Ich habe Kreisler einmal davon erzählt und er hat mich gefragt, was aus mir geworden sei. Als ich ihm mitteilte, ich bin Professor an der Universität Klagenfurt geworden, antwortet er: ‚Sehen sie, es hat Ihnen nicht geschadet.‘“

Der rührige Micky-Maus-Klub – der kleine Präsident Ich komme noch einmal zurück zum Micky-Maus-Klub des edlen Erik, der unglaubliche organisatorische Fähigkeiten entwickelt. Er führt aus: „Der Klub zählte bald an die zwanzig Mitglieder. Die Aktivitäten gingen über die üblichen kindlichen Spielereien hinaus, denn ich hatte eine Kummerkastenaktion ins Leben gerufen. Dazu wurde eine Art Postkasten an unserem Haus ange179

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bracht, in welchen Wunschzettel eingeworfen werden konnten. Die Micky-Mäuse schwärmten dann aus, um diese Wünsche, zum Beispiel Tragen von Einkaufstaschen oder Mitarbeit bei der Obsternte, zu erfüllen. Um die Erlaubnis dafür zu erhalten, bin ich sogar beim Bürgermeister mit dem schönen Namen Ehrenfried vorstellig geworden. Einmal war ein Gedicht im Kummerkasten zu finden: ‚Zwar gebrauche ich mitnichten die Hilfe von euch kleinen Wichten. Doch schon die Idee allein soll für mich symbolisch sein.‘ Unsere Einnahmen verprassten wir zum Teil in der Konditorei Kronberger, wo es köstliche Schokoladeeclairs gab, die heute leider kaum mehr außerhalb Frankreichs zu bekommen sind. Ich habe im Durchschnitt vier bis fünf Stück verdrückt. Die diversen Aktivitäten des Klubs haben sogar einen publizistischen Niederschlag in zwei Micky-Maus-Heften und der ‚Hollabrunner Heimatzeitung‘ gefunden. Dort berichtet der leitende Redakteur, ein Freiherr von Strohmer, unter dem Titel ‚Ein rühriger MickyMaus-Klub‘: ‚Dem geneigten Leser werden in den letzten Wochen verschiedene Aufrufe des neuen Micky-Maus-Klubs in Holla­ brunn in unserer Zeitung aufgefallen sein. Nun, dieser Klub hat kräftige Lebenszeichen gegeben und wir wollen heute dieser Jungenorganisation einen kurzen Besuch abstatten. Erik Adam, Schüler der ersten Klasse des Bundesgymnasiums Hollabrunn, hat vor einigen Monaten bei der großen Gemeinde der österreichischen und deutschen Micky-Maus-Organisation die Anmeldung eines Klubs für Hollabrunn vorgenommen. Von einigen gleichaltrigen Buben unterstützt, hat er dem Klub Leben und Existenzberechtigung verliehen. Er ist überhaupt äußerst rührig, der kleine Präsident Erik. Mit altkluger Konsequenz verfolgt er seinen Weg und lässt sich durch nichts von seinen Plänen abbringen. Nahezu zwanzig Buben als Hauptmitglieder und einige Väter – sogar Doktoren zieren die Liste – als unterstützende Mitglieder geben diesem Klub den notwendigen Untergrund und die Sicherheit, die Ruhe, mit der die jungen Ausschussmitglieder an ihre Probleme herangehen. Dies könnte manchem ‚Erwachsenen‘ zum Vorbild dienen. Im Klublokal wird gespielt, gesungen, Theaterspiele vorbereitet 180

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zur Aufführung und es herrscht (ohne Erwachsene) ein durchaus gesitteter Ton und beachtliche Disziplin, denn der junge Präsident ist mit seinen Untergebenen streng, aber gerecht. Zur Zeit arbeitet der Klub unter der Leitung des stellvertretenden Obmanns Erich Wessner an der Gründung eines richtigen Bubenorchesters. Recht viel Glück, Micky-Maus-Klub Hollabrunn.‘ Sogar die Wiener Auslieferungszentrale der Micky-Maus-Hefte ist auf unseren Klub aufmerksam geworden. Einmal sind Mitarbeiter der Zentrale im Fournier‘schen Geschäft aufgetaucht und haben sich zur Verwunderung der Kunden nach dem Präsidenten des Klubs erkundigt. Sie brachten uns Material – Hefte, Abzeichen, Wimpel, Fotos von Walt Disney und Disneyland und derlei – in Hülle und Fülle.“

Regisseur und Henker Erik hat aber auch schauspielerisches Talent. Darüber berichtet er weiter: „In der ersten Klasse des Gymnasiums, wir befinden uns im Jahr 1958, bekamen wir vom Deutschlehrer Professor Karl Sacco die Aufgabe, einen Text von Anastasius Grün – ‚Gerechter Lohn bestrafte Habgier‘ – zu dramatisieren. Mein Text hat den Lehrer so sehr beeindruckt, dass er mich ermunterte, ihn zur Aufführung zu bringen. Das ganze Gymnasium staunte, was meine daraufhin gegründete Theatertruppe daraus gemacht hat. Ich wurde nicht nur zum Regisseur, der fünf Buben in disziplinierter Arbeit die Schauspielkunst beibrachte, sondern auch zum Bühnenbildner und Mitdarsteller, allerdings nur in der kleinen Nebenrolle als Henker, die ich des Effektes wegen dazu erfunden habe. Es gab sogar noch eine Liedeinlage nach der Melodie ‚Der Vogelfänger bin ich ja‘ mit Instrumentalbegleitung. Die Premiere, bei der auch mein Religionslehrer Dr. Groër anwesend war, der sie sogar schmeichlerisch mit einer Burgtheateraufführung verglich, war ein derartiger Erfolg, dass wir sie vor allen Klassen des Gymnasiums aufführen durften. Der Eindruck auf Dr. Groër sollte in der siebenten Klasse noch Folgen haben.“ 181

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Im Salzkammergut – die liebe kleine Eisenbahn Aber auch die Operette hat es unserem jungen Künstler angetan, wie er selbst erzählt: „Ermutigt davon, wagten wir uns in der zweiten Klasse an die Operette – ‚Im weißen Rößl‘ – heran. Diese Operette hatte ich besonders gemocht, weil wir die Sommerferien in Bad Ischl, wo mein Vater ein stattliches Haus geerbt hatte, verbrachten und meine Mutter, eine gute Pianistin, in Hollabrunn gerne die Melodien aus dieser Operette spielte, was mir jedes Mal Sehnsuchtstränen nach dem geliebten Salzkammergut entlockte. In Ischl habe ich mich auch als Fremdenführer betätigt und damit mein sehr karges Taschengeld aufgebessert. Besonders beeindruckt war ich von der Lehár-Villa, die von einem verarmten, sehr würdig aussehenden Baron namens Rittershausen betreut wurde. Er hat mir sogar erlaubt, einige Töne auf dem Klavier des Meisters anzuschlagen. Zum Baden fuhren wir oft mit der SalzkammergutLokalbahn – ihr ist auch die Operette ‚Der feurige Elias‘ von Rudi Gfaller gewidmet, in der auch das bekannte Lied ‚Zwischen Salzburg und Bad Ischl‘ vorkommt. Ich habe sehr darunter gelitten, dass diese ‚liebe kleine Eisenbahn‘ 1957 trotz großen Protests der Bevölkerung aus völlig kurzsichtigen wirtschaftlichen Gründen eingestellt wurde. Von meinen Aufenthalten im Salzkammergut rührte wohl auch mein anhaltendes (heute würde man sagen nachhaltiges) Interesse für Geografie, denn ich beeindruckte mit meinen Salzkammergutkenntnissen unseren Professor Aschauer sehr, was mir besondere Erfolgserlebnisse einbrachte. Geografie war dann auch das einzige Schulfach, in dem ich immer ein ‚sehr gut‘ bekommen habe. Meine Mitschriften habe ich alle mit Schreibmaschine abgetippt, mit sorgfältigen Zeichnungen versehen und in Colleg-Ordnern gesammelt. Geografie war übrigens (neben Zeichnen, Musik und Geschichte) auch das einzige Fach, das Thomas Bernhard in seiner kurzen Gymnasialzeit wirklich interessierte. In ‚Die Ursache‘ berichtet er ausführlich über seine Vorliebe für diesen ‚vollkommen nutzlosen Gegenstand‘.“ 182

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Als Klavierspieler und Regieeinfälle „Ab meinem achten Lebensjahr habe ich auf Wunsch meiner Mutter und gegen den Willen meines Vaters, der dies wohl auch als eine völlig nutzlose Beschäftigung betrachtete, Klavierunterricht bei Professor Alfred Nitsch erhalten. Das Argument meines Vaters war: Die Adams sind ja völlig unmusikalisch. Er selbst hatte bei Bernhard Paumgartner, dem Direktor des Salzburger Mozarteums, Geigenunterricht über sich ergehen lassen müssen und die Prüfung sogar bestanden, ich besitze noch sein Zeugnis mit Paumgartners Unterschrift. Von dieser Prüfung wissend, habe ich ihn einmal überreden können, meine Mutter am Klavier auf einer alten Zigeunergeige, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte, zu begleiten. Es war entsetzlich. Was nun das ‚Rößl‘ betrifft: Ich erstellte also eine auf eine halbe Stunde reduzierte Kurzfassung mit allerhand lustigen Regieeinfällen und ein Arrangement für Klavier, von mir gespielt, und zwei Violinen, gespielt von meinen Klassenkameraden Gerhard Weinwurm und dem leider früh verstorbenen, sanften Freund Gerhard Simhandl, die später auch im Hollabrunner Kirchenorchester unter der Leitung von Professor Herbert Kapfer mitwirkten – ich war Bassist im Kirchenchor. Ein Höhepunkt war die Aufführung des Oratoriums ‚Die Schöpfung‘ von Joseph Haydn. Auch die RößlAufführungen waren ein großer Erfolg. Dann kam aber die dritte Klasse und mit ihr eine Häufung von ‚nicht genügend‘, vor allem auf die Lateinschularbeiten. Daraufhin wurde mir von meinem Vater das Theaterspiel verboten. Damit war meine künstlerische Laufbahn zunächst einmal beendet. Bis zur siebenten Klasse gehörte ich dann zu den schlechten, Nachhilfestunden brauchenden Schülern, ab der siebenten Klasse schlagartig zu den besten Schülern der Klasse. Besonders der Lateinlehrer, sein Name sei hier verschwiegen, war wahrlich kein guter Pädagoge, um es euphemistisch auszudrücken. Er hat uns fünf Jahre mit einer völlig veralteten Didaktik und Demütigungen gequält und war ein Grund dafür, dass ich das Gymnasium jahrelang angsterfüllt be183

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treten habe. Obwohl mein Mathematikprofessor Kurt Schneider recht sympathisch war, gehörte auch er zu den Angst machenden Faktoren, weil meine Mathematikleistungen erbärmlich waren und er auf meine Unfähigkeiten entsprechend reagierte. Kurioserweise hatte er einmal einen Fortbildungskurs bei meinem Vater, der ja auch Mathematiker war, besucht. Er konnte es nicht fassen, dass der Sohn eines so renommierten Gelehrten derart unbegabt auf dem Gebiet des Vaters sein konnte. In der zweiten Klasse hatte ich sogar von seinem Vorgänger Professor Franz Fidesser eine schallende Ohrfeige bekommen, weil ich mich so blöd an der Tafel anstellte. Es war das erste und einzige Mal in seinem Leben, dass er die Beherrschung verlor. Ich habe damals sogar aus Angst eine ganze Schularbeit gefälscht und nur positive Noten mit roter Tinte eingetragen. Beim Elternsprechtag kam natürlich dieser Schwindel auf. Während meine Mutter in der Schule war, irrte ich im tief verschneiten Wald umher und spielte mit dem Gedanken an einen mich von der Schmach erlösenden Erfrierungstod. Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass sich während meiner Gymnasialzeit einige Zöglinge des Seminars tatsächlich das Leben nahmen. Erst als wir in der siebenten Klasse einen anderen Lehrer, nämlich Herbert Kapfer, nachmals Chordirektor am Stadttheater Klagenfurt, Domkapellmeister und Dirigent des Kärntner Sinfonieorchesters, bekamen, schnellten auch meine Lateinleistungen auf ‚gut‘ hinauf, obwohl seine Anforderungen um nichts geringer als jene des vo­ rangegangenen Lehrers waren.“

Ein ritterlicher Verteidiger und Antigone „Über das Hollabrunner Gymnasium und auch das Knabenseminar der damaligen Zeit wäre viel zu erzählen, was aber den gebotenen Rahmen sprengen würde. Es war auch ‚Externen‘ wie mir zugänglich. Dem Knabenseminar der Erzdiözese Wien angeschlossen, war es dementsprechend ausgerichtet – stockkonservativ und autoritär, aber stolz auf seinen ‚Humanismus‘. Da wir über 184

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keinerlei Wissen um die jüngste Vergangenheit verfügten, der Geschichtsunterricht endete mit dem Ersten Weltkrieg, konnten wir auch nicht erahnen, welche Auswirkungen der klerikal infiltrierte Austrofaschismus und der Nationalsozialismus auf die Psyche unserer älteren Lehrer hatten. Bis 1938 trug die ‚altehrwürdige‘ Anstalt den Namen seines berühmtesten Schülers, Engelbert Dollfuß. Ein Lichtblick war aber der auf uns etwas skurril wirkende Dr. Groër, der sich immer im Konflikt mit dem Direktor Hofrat Scheibenreiter befand, der von einer späteren Schülergeneration den Spitznamen ‚Discjockey‘ erhielt. Als mich der Direktor einmal im Beisein von Dr. Groër wegen einer gar nicht von mir verschuldeten Lappalie unflätig anbrüllte, hat dieser mich ritterlich verteidigt und meinen heftig artikulierten Widerspruch salbungsvoll mit ‚Erik, ich bewundere Dich‘ gewürdigt. Dr. Groër war es auch, der mich in der siebenten Klasse für eine relativ große Rolle in der Tragödie ‚Antigone‘ von Sophokles vorschlug. Sie gelangte anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Gymnasiums 1965 im großen Festsaal unter Anwesenheit von Kardinal König und weiterer Prominenz mit großem Aufwand zur Aufführung. Ich spielte Haimon, den Sohn Kreons und Verlobten der Antigone, in einem Kostüm, das vor mir von dem bewunderten Pantomimen Samy Molcho getragen worden war. Da es einem Minirock glich, dürfte von meiner Erscheinung eine erotisierende Wirkung ausgegangen sein. Ein Lehrer sagte tatsächlich zu mir: ‚In dich könnte ich mich verlieben.‘ Verliebt habe ich mich in die Darstellerin der Antigone. Sie war zwei Jahre älter als ich und besaß schon einen VW Käfer, in dem ich sogar öfter mitfahren durfte. Meine Liebe hat sie nicht erwidert. Den Kreon spielte Herbert Hrachovec, heute angesehener Philosophieprofessor an der Universität Wien, schon wie ein Profi. Er hatte ein ganz erstaunliches Schauspieltalent. Als er während eines hochemotionalen Dialogs Nasenbluten bekam, hat er das Blut mit großer Gebärde über seine weiße Kostümierung gewischt und damit einen großen Effekt, das Tragische drastisch steigernd, erzielt. Mein Auftritt begann mit den an Kreon gerichteten Worten: ‚Ja Vater, von den Gaben, die uns Gott geschenkt, 185

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ist wohl Besonnenheit die schönste. Ich wüsste und vermöcht auch nicht zu sagen, dass Du mit alledem nicht recht gesprochen und dennoch könnt ein Andrer anders denken.‘ Das hätte ich auch meinem Vater sagen können. Ich kann den Text bis heute noch auswendig rezitieren. Einstudiert hatte ich ihn während eines Urlaubsaufenthalts am Lido von Venedig und einiges Aufsehen bei den Badegästen erregt, wie ich laut deklamierend am Strand auf und ab gegangen bin, schon in der Pose eines großen Künstlers. Mit Befremden lese ich jetzt nach vielen Jahren wieder die Festschrift ‚100 Jahre Bundesgymnasium Hollabrunn 1856 1965‘. Im Beitrag des damaligen Landeshauptmanns Leopold Figl heißt es: ‚Ich möchte in diesem Zusammenhang nur an den großen Patrioten und Märtyrer Österreichs, Dr. Engelbert Dollfuß, erinnern. Liebe zur Heimat und der unerschütterliche Glaube an den Allmächtigen zeichnen im Leben fast immer jene Frauen und Männer aus, die durch das Hollabrunner Gymnasium gingen. Diese Feststellung ist wohl das schönste Zeugnis, das der Anstalt zur Säkularfeier ausgestellt werden kann.‘ Erst in der Zeit der siebenten Klasse hat mir meine Mutter gestanden, dass sie der gefürchtete Lateinlehrer an den Lehrer mit dem Spitznamen ‚Gott Kupfer‘ in Friedrich Torbergs ‚Der Schüler Gerber‘ erinnert hätte. Bis dahin haben meine Eltern immer zu den Lehrern gehalten und mich meine Unzulänglichkeiten spüren lassen, besonders drastisch einige Male zu Weihnachten. Die schlechten Trimesterzeugnisse hatten zur Folge, dass die bereits eingekauften Weihnachtsgeschenke wieder zurückgezogen wurden. Bis heute habe ich dieses Weihnachtstrauma nicht ganz überwunden. Diese Wunde wurde viel später sogar noch einmal in einer Familie, von der ich eingeladen war, vom Hausherrn in brutaler Weise zu Weihnachten aufgerissen – er hat mich brüsk hinausgeworfen. Da war ich schon Professor an der Klagenfurter Universität.“

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Die Universität des Johannes Kepler Erik erzählt weiter: „Die Matura habe ich problemlos bestanden. Mein Maturazeugnis war das beste von allen bisherigen. Kein ‚genügend‘, wenige ‚befriedigend‘, viele ‚gut‘ und ein ‚sehr gut‘ in Geografie. Nach der Matura habe ich das Gymnasium nur noch einmal kurz betreten, um es meiner Frau zu zeigen. Allen Maturafeiern bin ich ferngeblieben. Seit 1965 war mein Vater Ordinarius und Direktor des Statistischen Seminars an der Universität zu Köln, wo er über tausend Studenten zu betreuen hatte. Die Übersiedlung nach Köln, wo ich einmal sogar dem hochbetagten, berühmten Soziologen Leopold von Wiese begegnet bin, war bereits geplant, als mein Vater den Ruf für eine besonders hoch dotierte Professur an die neu gegründete Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz bekam und annahm. Also übersiedelten wir 1966 nach Linz. Dass die Hochschule heute ‚Johannes Kepler Universität‘ heißt, ist übrigens der Initiative meines Vaters zu verdanken, der sich vermutlich für eine Reinkarnation Keplers hielt und über diesen auch viel publiziert hat. Es ist kein Witz, aber bei dem Begräbnis meines Vaters war tatsächlich auch ein Kranz mit der Aufschrift ‚Johannes Kepler‘ dabei. Meine Linzer Zeit war, da sie in 1968er-Jahre fiel, äußerst turbulent. Darüber berichtet ausführlich in literarisch origineller Form mein damaliger Freund Walter Pilar im zweiten Band seines Werkes ‚Lebenssee‘. Mein Vater war 1967 und 1968 zweiter Rektor, weil man ihm als kernig polternden Obersteirer besonders zutraute, die rebellischen Studierenden mit seinem Knotenstock im Zaum zu halten. Er hatte seine schwere Not auch mit seinem rebellischen Sohn, der zwar zu keinem links politisierten 68er wurde, sondern zu einem dichtenden, zur Anarchie neigenden Ästheten mit einem Schuss Zen-Buddhismus, der zusammen mit Walter Pilar und Erich Wolfgang Skwara – beide heute anerkannte Schriftsteller, Letzterer auch Professor of Humanities and Comparative Literature an der Universität von San Diego in Kalifornien – Sachen 187

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trieb, die dem Rektorvater total missfielen. Dichten und Denken galt der Vorzug vor dem Studieren. Dazu kam noch eine bohemienhafte Lebensweise. Meine literarischen Ergüsse wurden auch publiziert, etwa in den ‚Facetten‘, dem ‚Literarischen Jahrbuch der Stadt Linz‘, und in ‚Literatur und Kritik‘. Pilar und ich lasen 1971 aus eigenen Werken (Pilar ‚I bin i‘ und ich ‚Säuferwahn – ein Monolog‘) im überfüllten und brodelnden großen Hörsaal 1 der Linzer Hochschule und ernteten einen geharnischten Verriss als nicht salonfähige ‚Verhöhner der Dichtung‘ in der Kronen Zeitung. Eine weitere Lesung wurde mir von meinem Vater verboten, sodass Pilar meine Werke – ich sagte quasi posthum – vortragen musste. Diese Lesung fand auf der Insel des Hochschulteiches statt. Daher stand im nunmehr wohlmeinenden Bericht der Kronen Zeitung ‚Dichter riefen übers Wasser‘.“

Als Soldat – der Besuch des Generals „Mein Studium begann ich 1966 aus Bequemlichkeit an der Linzer Hochschule, was sich als schwerer Fehler herausstellen sollte. Ich wählte die von meinem Vater gering geschätzte Soziologie, die er dann später sogar als Kaderschmiede für Terroristen schmähte, was ihm ein vom Studenten Wilhelm Molterer, dem späteren Finanzminister und Vizekanzler, mitinitiiertes Disziplinarverfahren eintrug. Später haben sie sich dann aber versöhnt. Sehr zugetan blieb ihm lebenslang ein Student, der es auch zu etwas bringen sollte, nämlich Christoph Leitl. 1968 gelang es meinem Vater, mich mit einem geschickten Schachzug loszuwerden. Ich hatte bei der Musterung den Wehrdienst verweigert und dadurch auch eine Einberufung zum Ersatzdienst bei der Sanität auf mehrere Jahre hinausgezögert. Auch das muss meinen Vater tief getroffen haben, zumal er in dieser Zeit eine Laufbahn als Reserveoffizier begann und es in kürzester Zeit – vermutlich aufgrund seiner guten Beziehung zu dem Armeekommandanten General Emil Spanocchi – bis zum Oberst brachte. 188

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Bei geeigneten und auch weniger geeigneten Anlässen trug er stolz seine Uniform. Da er mit General Friedrich Lawatsch, dem Militärkommandanten von Oberösterreich, befreundet war, schaltete er diesen ein, um mich zur Rücknahme der Wehrdienstverweigerung zu überreden. Bei einem Abendessen bei uns zu Hause, zu dem er in Uniform erschienen war, versprach er mir, mich bei der Sanität unterzubringen. Dann wäre ich den mir schadenden Ruf als Wehrdienstverweigerer los und hätte nur neun Monate anstelle der für den Verweigerer zwölf vorgesehenen abzudienen. Also habe ich den größten Teil des Jahres 1968 in den Kasernen Siezenheim in Salzburg und Ebelsberg in Linz verbracht. Diese Zeit war für mich sehr nützlich, zumal ich mit starkem Übergewicht eingerückt bin und während der Grundausbildung zwanzig Kilo abgenommen habe. Dank sei den hart und schlank machenden Gefechtsübungen in der Saalachau und den langen Fußmärschen am Untersberg. Einmal herrschte bei den Unteroffizieren der Ebelsberger Krankenabteilung große Aufregung, weil der General einen Inspektionsbesuch angekündigt hatte. Als er erschien, verlangte er sofort, mich zu sprechen. Das hat natürlich Aufsehen erregt, und da der Abteilungsleiter glaubte, dass der General mein Onkel sei, hatte ich fortan eine privilegierte Stellung, die ich ungeniert ausnützte. Ich genoss Narrenfreiheit und meine diversen skurrilen Aktionen wurden hin und wieder seitens des Abteilungsleiters mit einem resignierenden ‚Adam, sans deppert?‘ quittiert. Es war alles in allem eine sehr lustige Zeit für mich. Aber kurz vor dem Abrüsten schlug dann das Schicksal zu, genauer gesagt die Russen, die in Prag einmarschierten. Fortan an habe ich sie nicht mehr so lieb gehabt wie damals in Hollabrunn. Das Bundesheer wurde in Alarmbereitschaft versetzt und der Abrüstungstermin auf unbestimmte Zeit verschoben. Das Schlimmste war aber eine totale Ausgangssperre. Ich hatte nämlich von meinem Freund Skwara zwei sehr gute Karten für ‚Don Giovanni‘ unter Karajan bei den Salzburger Festspielen geschenkt bekommen. Da alle Interventionen vergeblich blieben, musste ich die Karten schweren Herzens 189

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weitergeben. So ist mir die Gelegenheit, dem großen Maestro zu begegnen, entgangen – im Unterschied zu meinem Vater, der ihm in seiner Mailänder Zeit in einer mysteriösen Angelegenheit einmal behilflich war. Sie haben sich auch einige Male getroffen und miteinander korrespondiert. Die Unterschriften Karajans glichen den Aufzeichnungen eines Seismografen bei einem schweren Erdbeben. Mit einem Monat Verspätung durfte ich dann mit einer Medaille versehen abrüsten.“

Die aufwieglerische Soziologie und die Volkskunde „Die darauffolgende Zeit in Linz wurde zunehmend unerträglicher. Mein Vater wünschte, dass ich die in seinen Augen aufwieglerische Soziologie aufgebe und mich einem sinnvollen Studium wie der Betriebswirtschaft zuwenden sollte. Aber auch die Überredungsversuche seines Freundes Gerhart Bruckmann, der sich unter seiner Obhut mit einer Arbeit über die Hochrechnung habilitierte, er wurde dann als ‚Hochrechner der Nation‘ einer breiten Öffentlichkeit bekannt, blieben ohne Erfolg. Ich habe lustlos mit der Soziologie weiter dahingedümpelt und fast nur noch die Vorlesungen von Professor Ernst Burgstaller, einem skurrilen Volkskundler, besucht. Er hat mich und meinen Freund Walter Pilar mit seinen auch theatralisch mit großen Gebärden unterstützten Berichten über Raunachtsbräuche und das wüste Treiben der Inn­ viertler Ruden und Passen (R. G.: bäuerlichen Burschenschaften) fasziniert. Auch seine Felsbildforschung hat es uns so angetan, dass wir auf eigene Faust Expeditionen in Höhlen und Klammen unternahmen. Bedrückt wirkte mein Vater, als ich ihm eröffnete, dass ich überhaupt nur noch Volkskunde studieren möchte. Seine Bedrückung rührte wohl von der Erinnerung an seine Jugendliebe her, die er aber enttäuscht verlassen hatte. Sie war Volkskundlerin und die Schwester seines Freundes Friedrich Lawatsch, dem ich meine nützliche und lustige Bundesheerzeit verdanke. Kennenge190

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lernt hatten sie sich im Kreis des renommierten Grazer Volkskundlers Viktor von Geramb, dem übrigens auch Günther Nenning angehörte. Mein Vater widmete sich dort der Holzzaunforschung und hat schöne Zeichnungen von Holzzäunen angefertigt. Seine Jugendliebe habe ich später auch kennengelernt, sie war mir sehr sympathisch.“

Die Thomas-Bernhardisten „Da der Impuls, Schriftsteller zu werden, immer größer und das Verhältnis zu meinem Vater immer angespannter wurde, entschied ich mich, Linz zu verlassen, um an der Universität Salzburg Germanistik und Philosophie zu studieren. Nach einigen Semestern sollte sich aber herausstellen, dass das Germanistikstudium und die angepeilte Laufbahn als freier Schriftsteller für mich unvereinbar waren. Das begann mit Thomas Bernhard. Im Proseminar über österreichische Gegenwartsliteratur wählte ich als Referatthema die noch brandneue Erzählung ‚Ungenach‘, da mich schon Bernhards erster Roman ‚Frost‘, den ich in der Bibliothek meines Vaters gefunden hatte, überaus fasziniert hatte. Hier wurde mit Hammersätzen die verlogene Heimatliteratur zertrümmert. Außerdem war Freund Pilar kurz davor dem damals noch am ungewissen Beginn einer großen Laufbahn Stehenden in Gmunden zufällig begegnet. Er besuchte ihn bald auf seinem stattlichen Gehöft in Obernathal bei Ohlsdorf. Zur Vorbereitung meines Referates sind wir dann mit dem Zug von Linz nach Aurachkirchen gefahren und zu Fuß nach Obernathal gewandert. Wir wurden von Bernhard sehr freundlich aufgenommen und mit von ihm selbst hergestelltem Most und Nüssen vom eigenen Nussbaum bewirtet. Weichen stellend wurde seine schmunzelnde Antwort auf meine devote Frage, ob er mit meiner Interpretation einer Passage aus ‚Ungenach‘ einverstanden sei. Seine je nach Intonation doppeldeutige Antwort war: ‚Machen Sie nur, was Sie wollen.‘ Der Besuch machte einen derart starken Eindruck auf mich, dass mein Referat zu einer en191

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thusiastischen Bernhard-Hymne ausartete, die wissenschaftlichen Kriterien in keiner Weise entsprach und bei der Seminarleiterin und den meisten Studierenden auf Unverständnis stieß, ja sogar Ungemach und Aggressionen auslöste. Es war ja damals noch die Zeit, in der Politiker und auch einige Germanisten Bernhard als einen Fall für die Psychiatrie betrachteten. Ich hingegen wurde zu einem bedingungslosen Jünger der Sekte der ‚Thomas-Bernhardisten‘, eine Wortschöpfung von Walter Pilar. Es entstand damals überhaupt eine Vielzahl von Sekten wie neben den Kommunisten – wiederum in Pilars Formulierung – Buddhosozialisten, Hindumarxisten, Anarchomaoisten, Wohngemeinschaftler etc., die sich durch psychedelische Musik wie zum Beispiel beim langen Trommelsolo von ‚In-A-Gadda-Da-Vida‘ der Gruppe ‚Iron Butterfly‘ erweiterte Bewusstseinszustände erhofften. Ich bevorzugte Gustav Mahler, vor allem ‚Das Lied von der Erde‘ und hier besonders ‚Der Trunkene im Frühling‘. Ich blieb Bernhard bis zu seinem Tode und darüber hinaus treu. Wir haben uns auch immer wieder in Obernathal und an anderen Orten getroffen, zum vorletzten Mal in Klagenfurt im Hotel Sandwirth, wo er mir im schönen alten Speisesaal das Du-Wort antrug. Ich blieb aber beim ehrfürchtigen Sie. Bei unserer letzten zufälligen Begegnung am Graben in Wien 1987 ahnte ich schon, dass er nicht mehr lange zu leben hätte. Ich habe schnell in einer Buchhandlung eine Ausgabe von ‚Ungenach‘ erstanden und ihn in der vornehmen Lehár-Bar im Hotel Ambassador, einem seiner Lieblingsaufenthalte, der mittlerweile einem geschmacklosen Modegeschäft weichen musste, gebeten, mir eine Widmung hineinzuschreiben. Sie lautet in großen markanten Schriftzügen: Für Erik Adam in Wien 4. Mai 87 Th. B. Ich besitze alle seine Werke in den Erstausgaben und sogar einen bei Ferdinand Kleinmayr 1962 in Klagenfurt erschienenen Privatdruck, den ich von Frau Mora, Besitzerin der Buchhandlung Mora am Salzburger Residenzplatz, die ihn wiederum von Bernhard selbst erhalten hatte, anlässlich meiner Promotion als Geschenk erhielt. Die kinderlose Frau Mora, bei der ich Stammkunde war, hatte mich in ihr Herz geschlossen 192

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und mir sogar angeboten, die Buchhandlung nach ihrer Pensionierung zu übernehmen. Banausischer Salzburger Buchhändler und Schriftsteller zugleich – auch das konnte ich mir nicht vorstellen.“

Das Studium in Salzburg – „Die Legende vom heiligen Trinker“ „Kurz nach meiner nicht goutierten Bernhard-Hymne im Proseminar bin ich bei der Gotikklausur, sie hatte etwas mit der Wulfilabibel zu tun, nach einer durchzechten Nacht durchgefallen. Da­raufhin habe ich das schnöde und schnöselige Germanistikstudium abgebrochen, um mich nur noch der Philosophie zu widmen. Das war ein äußerst gewagter Schritt ins Nichts, denn das Studium der ‚reinen‘ Philosophie galt als sogenanntes brotloses Studium, das man sich nur als Hobby leisten könne. Als ich den Entschluss meinem Studienfreund Reinhold Ritt, heute Bibliothekar an der Salzburger Universitätsbibliothek, bei einem sonnigen Winterspaziergang durch die verschneite Hellbrunner Allee mitteilte, war ihm das nicht geheuer. Mir noch weniger. Aber ich war ja immer noch unterwegs auf dem Weg zum freien Schriftsteller. Mein Vater dürfte mich ab diesem Zeitpunkt aufgegeben haben, als er in seinen Bart murmelte: ‚Du wirst noch als Clochard unter einer Seine-Brücke enden.‘ Dieser düstere Blick in meine Zukunft hat mir aber wiederum als romantisiertes Bild irgendwie gefallen, weil ich damals gerade ‚Die Legende vom heiligen Trinker‘ von Josef Roth gelesen hatte. Zum Hauptfach gehörte aber auch noch ein Nebenfach. Ich hätte die Psychologie wählen können, zumal am Salzburger Institut Koryphäen wie der noble Graf Igor Caruso und Wilhelm Josef Revers, Jupp genannt, lehrten. Jener war Kettenraucher und Psychoanalytiker, dieser bevorzugte die Pfeife und vertrat eine philosophisch vertiefte Psychologie. Da sich aber meine Studentenwohnung an der Nonnbergstiege befand, schön über den Dächern Salzburgs mit Blick auch auf die Festung gelegen, und mir das Pen193

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deln zwischen den Instituten – eines draußen im öden Nonntal, das andere in der edlen Franziskanergasse hinter dem Dom­platz – zu beschwerlich erschien, wählte ich das Nebenfachstudium in jenem Institut, das sich im selben Gebäude wie das Institut für Philosophie in der Franziskanergasse befand: Es war das Institut für Pädagogik unter der Leitung von Professor Rudolf Gönner. Ein weiterer Grund, die Pädagogik zu wählen, war der Umstand, dass diese als das leichteste Fach galt und mir daher die Freiheit ermöglichte, mich vor allem der Philosophie und Schriftstellerei zu widmen. Im Café Tomaselli wurde nach den Lehrveranstaltungen noch, von Frau Lydia mit köstlichen Mozarttorten versorgt, stundenlang weiter philosophiert. Die Pädagogik war kein Thema. Ich habe einmal einen mir sehr sympathischen und durchaus intelligent wirkenden Studienkollegen gefragt, warum er denn Pädagogik als Hauptfach studieren würde. Seine verblüffend ehrliche Antwort war: ‚Ich brauche irgendein Doktorat, weil mir das bei meiner Parteikarriere sehr nützlich sein kann und weil es bei den Pädagogen mit dem geringsten Aufwand zu haben sei.‘ Er hat dann tatsachlich eine recht beachtliche Karriere gemacht und es bis zum Landeshauptmann von Salzburg gebracht.“

Der verschulte Geist – die Pädagogische Akademie „Da sich mit dem Philosophiestudium außer Taxifahren, was ohne Führerschein aber nicht möglich war, kaum Berufsaussichten eröffneten und ich es doch allmählich mit der Angst zu tun bekam, ließ ich mich von meinem wohlmeinenden Hollabrunner Landsmann Professor Helmut Seel, er wurde später Universitätsprofessor für Pädagogik in Graz und Bildungssprecher der SPÖ, dazu überreden, parallel die Pädagogische Akademie zu besuchen. Verbunden mit dem Unistudium, hätte ich dann gute Aussichten, einmal Professor, ein sogenannter Humanwissenschaftler, an der Pädagogischen Akademie zu werden. Da muss mich der Teufel geritten haben, als ich diesen Vorschlag in die Tat umsetzte. 194

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Wieder ergab sich bald eine Neuauflage der Unvereinbarkeit. An der neu gegründeten Pädagogischen Akademie wehte noch immer der verschulte Geist der alten Lehrerbildungsanstalt, der stark mit der damals noch freien Universitätsluft kontrastierte. Besonders unerträglich war der Unterricht in einem Fach, das mir schon in meiner Gymnasialzeit zutiefst zuwider war und von dem ich mich in der achten Klasse sogar mittels eines Gefälligkeitsattests unseres hoch geschätzten Hausarztes Dr. Polland in Hollabrunn befreien ließ: Es war der Turnunterricht, den ein zum Sadismus neigender Professor erteilte. Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit und wurde noch dadurch gesteigerte, dass ich einige Turnübungen einfach verweigerte. Als er mich einmal zwang, über den Kasten zu springen, bin ich mit voller Wucht frontal auf den Kasten gelaufen, der in der Folge in all seine Bestandteile zerfiel. Die Reaktion des Professors bewegte sich an der Grenze zur Brachialgewalt. Mein Freund Karlihugo bekam von ihm einmal sogar einen Fußtritt. Aber es kam noch schlimmer während des Skikurses in Saalbach-Hinterglemm. Dort stimmte ein sangesfreudiger Professor mit Ziehharmonika allmorgendlich lautstark das Lied ‚In Hinterglemm im Pulverschnee, da lernt man Wedeln toll jucheeeh‘. Ich habe aber dort das Wedeln nicht gelernt, sondern bin schon am ersten Übungstag nach einer feuchtfröhlichen Nacht ausgefallen. Der verhasste Professor, der auch der Kursleiter war, hat mich dann systematisch schikaniert. Das hat dazu geführt, dass meine Fahrkünste die Stufe eines Fünfjährigen nicht überschritten. Da ich aber einmal Volksschülern das Skifahren beibringen sollte, war ein positiver Abschluss des Kurses eigentlich nicht verantwortbar. Der Professor musste mir aber unter dem Druck der Notenkonferenz zähneknirschend ein ‚genügend‘ geben, weil ich bereits im ersten Semester sämtliche theoretischen Fächer mit ‚sehr gut‘ bestanden hatte und alle übrigen Professoren in mir eine außerordentliche pädagogische Begabung sahen und mich nicht vergrämen wollten. Da ich also den Kurs positiv abgeschlossen habe, kann ich für mich beanspruchen, der einzige Skilehrer Österreichs zu sein, der überhaupt nicht Ski fahren kann. 195

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Ein besonders freundlicher Mensch war hingegen der Deutschdidaktiker Professor Königer. Mit ihm waren offene und ehrliche Gespräche auch während des Unterrichts möglich. Einmal ging es um die Frage, an welchen Orten wir gerne einmal unterrichten wollten. Natürlich wurden nur besonders beliebte Orte genannt. Ich habe mir aber einen Ort gewünscht, wo keiner freiwillig hingehen würde. Nach einem kurzen Anfall der Verwunderung nannte Professor Königer die einklassige Volksschule Hüttschlag im Großarltal, quasi am Ende der Zivilisation. Dort sei übrigens gerade die Stelle frei geworden, weil sich der Lehrer kürzlich erhängt hätte und die Stelle schon seit einiger Zeit vakant sei. Ich bekam sogar die Chance, dort bereits vor der Lehramtsprüfung als Lehrer beginnen zu können. Ich habe diese Schrulle kurz darauf Thomas Bernhard erzählt, der davon so belustigt war, dass er sie als Anstoß für eine kleine fiktive Geschichte benutzt hat. Sie ist unter dem Titel ‚Unglückliche Liebe‘ in seinem Buch ‚Der Stimmenimitator‘ enthalten. Dort ist es sein geschätzter Salzburger Geografieprofessor Pittioni, der sich in Hüttschlag erhängt hat. Im zweiten Semester wurden wir an die Schulfront geschickt. Das Praktikum durfte ich nicht, so wie ich es wollte, an der Nonntaler Volksschule beginnen, die sich ganz in der Nähe meiner Wohnung befand, sondern ausgerechnet an der Schule Siezenheim am anderen Ende der Stadt, die sich überdies noch gleich neben der Kaserne befand, was mich auch an weniger erfreuliche Erlebnisse in der Saalachau erinnerte. Ich vermutete, dass der Turnprofessor hinter dieser ‚Strafversetzung‘ stand. Zur Begrüßung der dort tätigen Lehrer musste unsere kleine Studentengruppe im Morgengrauen eines nasskalten, nebligen Wintertages unter meinem Dirigat das Lied ‚Wachet auf, wachet auf, es krähte der Hahn. Die Sonne betritt ihre goldene Bahn.‘ zum Besten geben. Dann ging es in die Klassen – und das war der Anfang vom Ende meiner Karriere an der Pädagogischen Akademie. Ich habe sie kurz darauf von einem Tag auf den anderen ohne Abmeldung fluchtartig verlassen, zumal ich gleichzeitig tief in die Vorbereitung eines Referats über Max Webers Soziologie für das Seminar von Professor Ottokar 196

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Blaha vergraben war. Der aus Kroatien stammende Professor hat geduldig meine zahlreichen Wortmeldungen in seinem Seminar, an dem auch, wie gemunkelt wurde, Mitglieder der kroatischen faschistischen Organisation ‚Ustascha‘ teilnahmen, über sich ergehen lassen. Einer dieser vermeintlichen Ustaschisten hat mich sogar nach Kroatien eingeladen. Gottlob habe ich diese Einladung nicht angenommen, zumal dieser Kollege, an dessen Namen ich mich noch heute erinnern kann, aus mysteriösen Gründen plötzlich nicht mehr im Seminar erschienen ist. Es ging das Gerücht um, dass er umgebracht worden sei.“

Störung einer Lesung Thomas Bernhards „In diese Zeit fiel auch ein Ereignis, das einiges Aufsehen erregte. Im Salzburger ‚Demokratischen Volksblatt‘ (November 1971) war über eine Lesung von Thomas Bernhard im Kleinen Festspielhaus Folgendes zu lesen: ‚Einige literarische Konkurrenten Bernhards versuchten, die Lesung durch die wörtliche Realisierung seines Prosastücks ‚Gehen‘ zu ‚bereichern‘. Es fehlte ihnen jedoch sichtlich an dramatischem Gefühl: Nach Grund und Zweck ihres Aufund Abmarschierens vor dem Pult befragt, blieben sie Argument und Antwort schuldig. Das Publikum reagierte belustigt, neugierig oder faschistoid. Nach kurzer Unterbrechung las Bernhard, unbeirrt von drei wie brevierbetende Mönche Gehenden, den Ausschnitt aus seinem Buch zu Ende.‘ Die drei waren Walter Pilar, Ingram Hartinger und ich. Der Grund für unser Gehen war die Empörung Pilars, der gerade Vater geworden war, über den Ausspruch Bernhards: ‚Frauen, die in der heutigen Zeit Kinder zur Welt bringen, gehörten die Ohren abgeschnitten.‘ Bernhard hatte sich außerdem zu der Lesung überreden lassen, obwohl er Pilar und mir kurz davor verkündet hatte, er würde sich nie wieder vor das ‚Kulturgesindel‘ hinstellen, auch nicht für viel Geld. Schon die Zeremonie der Verleihung des Georg-Büchner-Preises zusammen mit dem berühmten Physiker 197

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Werner Heisenberg sei ihm zuwider gewesen: ‚Da esse ich lieber Speckwurst.‘ Von unserer Aktion erzählte Bernhard auch seinem damaligen Freund und Realitätenvermittler Karl Ignaz Hennetmair, der in seinem beim Residenz Verlag erschienenen Tagebuch ‚Ein Jahr mit Thomas Bernhard‘ berichtet: ‚Thomas erzählte weiters, dass die drei Studenten (Erik Adam, Ingram Hartinger, Walter Pilar), welche bei seiner Lesung in Salzburg am 10. 12. 1971 durch dauerndes Gehen seine Lesung stören wollten, auch in Rauris waren und umhergingen.‘ Letzteres stimmt aber nicht, denn bei seiner Lesung im Rahmen der ‚Rauriser Literaturtage‘ waren wir ganz brav. Ich habe sogar in der gemütlichen Stube des Hotels Grimming Bernhard und die anderen anwesenden Literaten mit dem Vortrag von Wienerliedern und dem Erzherzog-Johann-Jodler erfreut. Bernhard war uns übrigens wegen unseres Gehens nicht böse, sondern hat uns sogar nach der Lesung freundlich in das Café Tomaselli eingeladen. War haben abgelehnt und sind stattdessen mit verschlossenen Mienen in das Gasthaus Hinterbrühl in der Schanzlgasse gegangen.“

Der kühne Kritiker der „kybernetischen Pädagogik“ „Nach der Flucht aus der Pädagogischen Akademie fiel ich in ein noch tieferes existenzielles Loch. Um wieder Halt zu finden, habe ich mich auf Gedeih und Verderb voll in das Philosophiestudium gestürzt und es 1974 mit dem Doktorat ‚summa cum laude‘ abgeschlossen. Mein Doktorvater war Professor Blaha. Er hat den Dissertanten vorbildlich betreut. Meine Dissertation ‚Ein Beitrag zur philosophischen Kritik der kybernetischen Grundlegung der Pädagogik‘ wurde später in gekürzter Fassung im Verlag Ferdinand Schöningh veröffentlicht. Da ich den Wiener Philosophen Erich Heintel aus meiner Studienzeit in Linz, er hatte dort eine Gastprofessur, kannte und auch wegen seiner humorvollen Art sehr bewunderte, übermittelte ich 198

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ihm meine Dissertation mit der Bewerbung um eine Assistentenstelle. Er war es immerhin ja auch, der mein Interesse an der Philosophie zu wecken verstand. Da er keine Stelle für mich hatte, leitete er mich an seinen Sohn Peter weiter, der damals Rektor der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt war. Zwar hatte auch er keine Philosophenstelle frei, riet mir aber, mich am Institut für Unterrichtswissenschaft unter der Leitung von Professor Walter Schöler zu bewerben, weil dort erst vor Kurzem eine Stelle ausgeschrieben worden sei. Ich wurde dann tatsächlich zu einem Vorstellungsgespräch vor allen Institutsmitgliedern eingeladen, die über meine Aufnahme abstimmen sollten. Jetzt wurde es ernst.“

Klagenfurt und der Reformpädagoge Aichhorn „Ich war vorher noch nie in Klagenfurt gewesen und die dortige Hochschule hatte bei den Salzburger Pädagogen, besonders bei Professor Gönner, einen sehr schlechten Ruf. Was tun? Ich wendete mich an ihn um Rat. Er sagte zu mir ungefähr Folgendes: ‚Ich halte zwar gar nichts von dieser Hochschule, aber nehmen Sie die Stelle an. Wenn Sie diese bekommen, dann haben Sie einen Einstieg in eine universitäre Berufslaufbahn.‘ Also bin ich mit weichen Knien nach Klagenfurt gefahren. Mir wurde unheimlich, als ich diese Hochschule zum ersten Mal sah. Das niedrige kleine Gebäude, entworfen von dem für seine Atriumhäuser bekannten Architekten Roland Rainer, stand auf einer Sumpfwiese in der Nähe des Wörthersees und glich eher einer Vogelbeobachtungsstation in Alaska. Da ich aus meiner Linzer Zeit nur Helmut Stockhammer kannte, der mittlerweile Assistent an dieser mir suspekten Hochschule geworden war, habe ich mich mit ihm vor meinem Vorstellungsgespräch getroffen. Da wurde es aber noch unheimlicher. Denn er hat mir angeboten, in seiner Wohnung zu übernachten. Wie ich diese Wohnung gesehen habe, erschien sie mir als eine Art Hippie-Kommune mit 199

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seltsamen Gestalten und somit als eine Lebensform, die ich aus meinem elitären Dünkel, wie ich ihn in meiner Linzer Zeit mit meinem Freund Skwara gepflegt hatte, völlig ablehnte. Ich habe dankend Helmuts Angebot mit einer Ausrede abgelehnt und im gutbürgerlichen ‚Goldenen Rössl‘, ein zukunftsweisender Name, meine Unterkunft gefunden. An diesem mir in jeder Hinsicht unheimlich vorkommenden Klagenfurt musste ich also zu meinem Vorstellungsgespräch. Mit blank liegenden Nerven habe ich es absolviert – und die Stelle bekommen. Bald ernannte mich der eine feudale Lebensform pflegende Institutsvorstand Professor Schöler zum ‚Administrationsassistenten‘ des Instituts mit den Worten: ‚Die Administration musst du von der Pike auf lernen, weil einmal wirst auch du Institutsvorstand sein.‘ Tatsächlich wurde ich viele Jahre später zum Institutsvorstand gewählt. Vier Jahre lang habe ich also administriert. In Lehre und Forschung wurde mir völlige Freiheit gewährt. Nur einmal musste ich an einem Buchprojekt (‚Training des Lehrverhaltens‘) mitarbeiten, das mir allerdings als Philosoph und Gönner-Schüler total schwachsinnig vorkam. Anwesenheitspflicht am Institut gab es nur, wenn der Chef rief – und das war selten. Wichtiger waren ihm gesellige Zusammenkünfte außerhalb der Hochschule. Zufällig hörte ich in einer Radiosendung einmal den Namen August Aichhorn und von seinem Jugendheim in Hollabrunn, das als Pionierleistung der Fürsorgeerziehung und der psychoanalytischen Pädagogik weltberühmt geworden sei. Da staunte ich aber sehr, da ich als Hollabrunner bis dahin nichts davon wusste und auch während meines Pädagogikstudiums nichts davon gehört hatte. Nun war mein erstes Forschungs- und Lehrgebiet gefunden. Da ich mich dafür sehr engagierte, blieben mir etwaige andere Arbeitsaufträge seitens des Institutsvorstandes erspart. Das Interesse an Aichhorn hat sich dann auf die österreichische Reformpädagogik, einen noch weißen Fleck auf der erziehungswissenschaftlichen Landkarte, ausgedehnt. Schon 1976 habe ich eine Aichhorn-Ausstellung, die von der Sigmund Freud Gesellschaft in Wien gezeigt worden war, nach 200

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Klagenfurt gebracht. Als Rahmenprogramm organisierte ich ein Podiumsgespräch, an dem unter meiner Leitung der Philosoph und Gruppendynamiker Peter Heintel, die Psychoanalytikerinnen Eva Laible und Erika Danneberg und auch Harald LeupoldLöwenthal, der Präsident der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und somit Nachfolger von August Aichhorn, teilnahmen. 1978 folgte dann aus Anlass des 100. Geburtstages von Aichhorn ein Symposium ‚Die österreichische Reformpädagogik 1918–1938‘, bei dem auch renommierte Zeitzeugen wie die Fürsorgerin Rosa Dworschak, eine Mitarbeiterin Aichhorns im Hollabrunner Heim, die Entwicklungspsychologin Lotte Schenk-Danzinger, eine Bühler-Schülerin, der Kinderpsychiater Walter Spiel, der Sohn von Oskar Spiel, Freund von Alfred Adler und Gründer der individualpsychologischen Versuchsschule, Hermann Schnell, der Präsident des Stadtschulrates für Wien, und Wolfgang Scheibe, Verfasser eines Standardwerkes über Reformpädagogik, Vorträge hielten. Die Dokumentation der Vorträge in einem Sammelband hat dieses verdrängte Kapitel der Geschichte der Pädagogik erstmalig in Österreich bekannt gemacht und Anstöße zu weiteren Forschungen gegeben.“

Herr Daxner und die Freude an der Operette „Es schien nun so, dass sich meine weitere ‚Karriere‘ nur noch in geordneten Bahnen auf den Hochschulbereich beschränken würde. Aber ich lernte das aus Ebensee stammende Multitalent Johannes Maria Daxner kennen, den mir Walter Pilar als ‚Junggenie‘ präsentierte und der schon einige Kompositionen mit seltsamen Titeln wie zum Bespiel ‚Schädelbruch‘ vorweisen könne. Er hätte die Absicht, bei Dieter Kaufmann am Kärntner Landeskonservatorium Komposition zu studieren, und bräuchte in Klagenfurt eine Unterkunft. Also habe ich ihn aufgenommen. Das sollte zur Folge haben, dass ich allmählich wieder auf Abwege geriet. Er verstand es, meine Liebe zur Sangeskunst und vor allem für die Operette, 201

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die in mir noch gloste, wieder zu erwecken. Bei jedem seiner Besuche wurde stundenlang musiziert. Irgendwie dürfte sich meine neu entflammte Operettenbegeisterung auch an der Universität herumgesprochen haben, denn als 1987 mein Habilitationsverfahren im Laufen war, ich hatte eine Arbeit über Didaktik eingereicht, die auch schon die hierzulande noch kaum bekannte Historische Anthropologie mit einbezog, frotzelte mich Dietmar Larcher, der Vorsitzende der Habilitationskommission: ‚Wirst du deinen Habilitationsvortrag über die Operette halten?‘ Da dies aber eher auf Unverständnis bei den Kommissionsmitgliedern gestoßen wäre, hat mich diese Frotzelei zu einem sanften Racheakt inspiriert. Ich wählte als Thema: ‚Was hat die Zauberflöte mit dem pädagogischen Diskurs der Moderne zu tun?‘ Da der Künstler Peter Putz zur Ankündigung des Vortrags ein originelles Plakat gestaltet hatte, war mein Auftritt gut besucht. Ich konnte zur Mitwirkung auch den Flötisten des Klagenfurter Stadttheaterorchesters Günther Fliedl gewinnen, heute ist er der Geschäftsführer des Orchesters, das er zum Kärntner Sinfonieorchester weiterentwickelte, außerdem noch Professor für Computerlinguistik an der Klagenfurter Universität. In der Mitte meines Vortrags kam der Überraschungseffekt. Wir spielten die Prüfungsszene aus der Zauberflöte. Damit wurde die Kommission in eine künstlerische Performance umfunktioniert. Der Vorsitzende wurde zu Sarastro, die Kommissionsmitglieder zur Priesterschaft und ich zu Tamino. Als Papageno hätte ich die Prüfung nicht bestanden. Da ich aber nicht durchgefallen bin, war ich ab nun Dozent und definitiv gestellt, also unkündbar. Das dürfte mich übermütig gemacht haben, dann bald darauf begann meine Nebenkarriere im Bereich der Operette in Theorie und Praxis. Das begann 1988 mit der Gründung einer ‚Franz Lehár Gesellschaft für Operettenforschung‘ am 20. Todestag des Meisters in Bad Ischl mit dem Sitz Jainzen 38: Das ist die Adresse der Kaiservilla, wo im rechten Flügel Johannes Maria Daxner als Gast des Hausherrn Mag. Markus Salvator Habsburg-Lothringen logierte. 1989 veranstaltete die Gesellschaft in der Kaiservilla eine ‚wissenschaftliche‘ Privataufführung 202

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der selten gespielten Operette ‚Eva‘ mit Salonorchester, arrangiert und dirigiert von Daxner, und mit mir in der Rolle des Fabriks­ direktors Flaubert. Angeregt von meiner Sangeskunst, überredete mich Daxner, beim Ausseer Kultursommer, begründet von Eva und Romuald Pekny sowie Adelheid Picha, im Gabillonhaus am Grundlsee in der dort geplanten Aufführung ‚Im schwarzen Rössl am Grundlsee‘ mitzuwirken. Schließlich hat er mich dazu gebracht, die Rolle des Dr. Siedler zu übernehmen. Das ‚Rössl‘ war ein derartiger Erfolg, dass es oft wiederholt werden musste und durch drei Jahre in sich wandelnder Form, bis zum ‚Im Cibra-Zebra am Grundlsee‘ mutiert, dahingaloppierte. Einmal gab ich nach einer Aufführung noch einen inoffiziellen Liederabend, bei dem auch die Witwe von Anton Dermota, einem der besten Tenöre der Welt, anwesend war. Sie hat meine Interpretationen von Schumannliedern wohl an der Sangeskunst ihres Anton gemessen, denn sie ersuchte mich mit gequältem Gesichtsausdruck, das Konzert vorzeitig zu beenden.“

Freund Günther Nenning als seriöser Universitätsprofessor „Im Gabillonhaus lernte ich auch Günther Nenning persönlich kennen, der als Einspringer für den renommierten Schauspieler Walter Schmidinger die Rolle des Kaisers übernommen hatte. Schmidinger wiederum exportierte unser eigenwilliges Konzept nach Berlin, wo die Aufführungen in der ‚Bar jeder Vernunft‘ zu einem riesigen Erfolg werden sollten. Da Günther Nenning über unsere Operettenaktivitäten mehrmals in der Kronen Zeitung berichtete, verstärkte sich – auch an der Universität – mein Ruf als bunter Vogel, zumal aus unserer Ischler Gesellschaft mittlerweile ein Klagenfurter Institut für Operettenforschung geworden war, mit Sitz im Palais Goess, meiner damaligen Wohnung. Die Gesellschaft musste aufgrund einer Strafandrohung von 100.000 Schilling seitens der Wiener Lehár-Gesellschaft aufgelöst werden. Hö203

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hepunkt war ein 1994 in Klagenfurt veranstaltetes internationales Symposium, aus dem das vom Volksbildner Willi Rainer und mir herausgegebene Buch ‚Das Land des Glücks. Österreich und seine Operetten‘ hervorging. Darin ist auch ein Beitrag von Günther Nenning enthalten, mit dem ich seit der Grundlseezeit in tiefer Freundschaft verbunden war. Ich wurde aber nicht nur Operettenforscher und -sänger, sondern auch noch Kulturpublizist. Meine zweite Frau Gretl, eine engagierte Kommunistin, ermunterte mich, Theater- und Konzertkritiken für die in Klagenfurt herausgegebene Zeitung ‚Volkswille‘ zu schreiben. Diese haben dem Schriftsteller Egyd Gstättner so gut gefallen, dass er mich zur ‚Kleinen Zeitung‘ vermittelte. Ich habe für sie über fünf Jahre hindurch als Kulturpublizist gearbeitet und in diesem Zeitraum über 200 Artikel verfasst. Ab der Jahrtausendwende begann ich halbwegs erwachsen zu werden, das heißt zunehmend den Habitus eines seriösen Universitätsprofessors anzunehmen, wobei aber Spurenelemente meiner früheren Aktivitäten erhalten blieben. Ohne mein Bemühen fielen mir auch an der Universität leitende Funktionen zu: als Institutsvorstand, Konzeptionist und Leiter des Doktoratskollegs der Fakultät für Kulturwissenschaften, einer Novität im Universitätsbereich, und als Vorsitzender der Interfakultären Curricularkommission für die Doktoratsstudien, in der es mir mit Unterstützung meins Freundes Günther Fliedl bei der Gestaltung des neuen Studienplans gelang, den umstrittenen Bologna-Prozess, durch den die Universitäten ökonomischen Interessen ausgeliefert werden sollen, subversiv zu unterminieren.“

Ein Seelenverwandter „Aber diese aufreibenden Tätigkeiten haben kaum Spuren in einer breiteren Öffentlichkeit hinterlassen, meine ‚abwegigen‘ hingegen schon. Solche finden sich – außer meinen eigenen Zeitungsartikeln – vor allem in der Kronen Zeitung und ich verdanke sie 204

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meinen Freunden Günther Nenning und Roland Girtler, den ich als Gastprofessor für das Doktoratskolleg gewinnen konnte. Ihm verdanke ich auch einen wichtigen Impuls, da er mich auf die Autobiografie ‚Zeitverschwendung‘ des Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend aufmerksam machte. In ihm erkannte ich einen Seelenverwandten, was die Einstellung zu Wissenschaft und Leben betrifft. Von Feyerabend inspiriert und ermutigt, sind meine Vorlesungen und Seminare zur Freude der meisten Studierenden noch ‚verhaltensorigineller‘ geworden. Es gibt auch welche, die mich als Chaoten betrachten oder als ‚grenzwertig‘ einschätzen.“

Das Begräbnis der Mutter – die Verkühlung des Dr. Groër „Noch einmal ist an Dr. Groër zu erinnern. Unsere letzte Begegnung fand anlässlich des Begräbnisses meiner Mutter im Jänner 2003 statt. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Aufbahrungshalle, als er im festlichen roten Kardinalshabit erschien und mich herzlich umarmte. Er war damals schon schwerkrank und nahm entgegen der Warnung seines Arztes mir zuliebe am Begräbnis teil. Der eiskalte und extrem windige Wintertag dürfte zu seiner Lungenentzündung geführt haben, an der er dann kurz darauf verstorben ist.“

Die Gefährtin Eva – als ewiger Präsident „Nun naht bereits mein Eintritt in den sogenannten Ruhestand. Er wird aber eher ein Unruhestand werden, denn erst jetzt glaube oder hoffe ich, reif für ein Familienleben zu sein. Meine Lebensgefährtin heißt Eva und ihr Sohn Max Felix Lazar, Maxi gerufen, ist ein sehr aufgewecktes Kind an der Schwelle zur Pubertät. Das bevorstehende Lebenskapitel könnte – in Anlehnung an Thomas Bernhard – den Titel tragen: Die Familie – eine Herausforderung. 205

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Überblicke ich mein bisheriges Leben, so fällt mir ein von Peter Michael Lingens im ‚profil‘ 1971 zitierter Ausspruch von Günther Nenning ein: ‚Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe in meinem Leben nicht das Geringste erreicht.‘ Manchmal habe auch ich das Gefühl, dass mein Vater – aus seiner Sicht – recht gehabt hat, als er mir in seinem letzten Brief kurz vor seinem Tod schrieb: ‚Du hast deine Fähigkeiten verplempert.‘ Ich sehe das nicht ganz so drastisch, naturgemäß. Aber was hätte aus mir alles werden können. Wenig erstrebenswert erscheinen mir Oberst, Oberbrand­ inspektor, Rektor und Dekan, aber Sänger, Schauspieler, Regisseur, Intendant und vor allem Schriftsteller – das wäre schön gewesen. Auch die Prophezeiung eines alten Tschecheranten im Linzer Hessenstüberl hat sich nicht erfüllt: ‚Du wirst sicher einmal Bundespräsident.‘ Aber damals war ich schon lange ein Präsident und bin es bis heute, da der Micky-Maus-Klub nie aufgelöst wurde. Es wird Zeit, die Klubbeiträge rückwirkend einzutreiben. Aber leider gibt es die Konditorei Kronberger mit ihren köstlichen Eclairs in Hollabrunn nicht mehr. Insofern haben aber der Klub und damit auch sein Präsident ihre Existenzberechtigung verloren und das stimmt mich traurig. Bei nüchterner Betrachtung komme ich zum Schluss, dass gerade meine eigensinnigen Entscheidungen letztlich vielleicht doch die richtigen waren.“ Damit enden die Betrachtungen meines Freundes Erik Adam. Die Geschichten, die er mir erzählt, wurden von ihm in ein prächtiges stilistisches Gewand gekleidet. Man merkt den Künstler in ihm.

Eine kleine Theorie des echten Universitäts­gelehrten Charakteristisch für den echten Lehrer und Forscher an der Universität ist ein weiter Geist, der ihn veranlasst, über die oft engen Grenzen seiner Wissenschaft hinauszugehen. Ein großer Mann, es kann Schiller oder Nietzsche gewesen sein, meinte einmal sinngemäß, die meisten Gelehrten an der Universität würden ihn an 206

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Mehlsäcke erinnern. Wenn man sie klopft, staubt es. Und man sollte nicht glauben, dass dieser Mehlstaub einmal saftiges Getreide war. Es zeichnet einen guten Kulturwissenschafter als Lehrenden aus, dass er seinen Studenten das Herz für die Weite und die Bunte des Lebens öffnet. Ich denke, dies vermag Freund Erik Adam, überhaupt, wenn er Seelenverwandte hat.

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7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg Vorgeschichte – mit dem Fahrrad nach Bad Ischl Es ist schon einige Jahre her, dass ich an einem Augusttag mit dem Fahrrad von Spital am Pyhrn über den Pyhrnpass und den Pötschenpass nach Bad Ischl geradelt bin, um im Gasthaus „Zur Molken“ mit meinem Freund Martin Haidinger dessen Geburtstag zu feiern. Es war ein netter Abend, aber ich hatte Sorge, kein Quartier in Ischl zu bekommen. Zunächst hatte ich gedacht, Martin Haidinger hätte mir eines besorgt, doch dem war nicht so. Als ich mich aufmachen wollte, um in einem Ischler Hotel nach einem Zimmer zu fragen, meinte ein liebenswürdiger Herr, der mitfeierte, zu mir, ich könne bei ihm nächtigen, er würde mir einen ganzen Trakt zur Verfügung stellen. Ich war über dieses Angebot überrascht und nahm es sogleich erfreut dankend an. Bei dem Haus handelte es sich um die berühmte Kaiservilla, die Sommerresidenz von Kaiser Franz Joseph, und der Herr, der die großzügige Einladung ausgesprochen hatte, war der Urenkel des Kaisers, Mag. Markus Habsburg. In der Folge sprach ich ihn zur Verwunderung von Martin Haidinger, dem ich vorher etwas ganz anderes gesagt hatte, ganz im Stile des früheren höfischen Zeremoniells mit „Kaiserliche Hoheit“ an. Ich tat dies, obwohl ich als alter Freund der Wildschützen, der Rebellen von 1848 und der unter den Habsburgern im 18. Jahrhundert nach Siebenbürgen vertriebenen Landler eher ein Gegner solcher Titulierungen bin. Und ich tat dies nicht nur als künftiger Gast in der Kaiservilla, sondern weil mir Markus Habsburg einfach sympathisch war. Nachdem das Geburtstagsfest zu Ende war, wanderte ich mit ihm zur Kaiservilla, wo er mir den rechten Trakt zuwies, in dem der Kaiser 1914 die Kriegserklärung unterschrieben hat. Ein Jahr später war ich mit unserem Dackel Dr. Waldi in Bad Ischl, wo ich 208

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg

an einer Veranstaltung in der Kaiservilla teilnahm. Markus Habsburg lud mich wieder ein, hier zu nächtigen, und zwar gemeinsam mit unserem Hund, dem ich erklärte, welche Ehre es ist, dass er in der Kaiservilla nächtigen dürfe. Seit damals habe ich guten Kontakt zu Markus Habsburg. Mir imponiert an ihm, dass er einige Jahre später Sympathien für das Wilderermuseum in St. Pankraz zeigte – obwohl gerade die Wildschützen des Salzkammergutes darauf stolz waren, wenn sie dem Kaiser eine Gams oder einen Hirschen weggeschossen haben. Der Kaiser dürfte mit den Wilderern nicht viel Freude gehabt haben. Dennoch besorgte Markus Habsburg für unser Museum als Dauerleihgabe ein Krickerl von einer Gams und zwei Geweihe von Hirschen, die der Kaiser selbst geschossen hat. Eines dieser Geweihe hängt über der Kassa des Wilderermuseums mit diesem Text: „Dieses Geweih stammt von einem Hirschen, den Kaiser Franz Joseph geschossen hat, er ist wahrscheinlich einem Wildschützen zuvorgekommen.“ Zwischen Markus Habsburg und mir entwickelte sich eine Freundschaft und eines Tages bat ich ihn, mir für dieses Buch aus seinem Leben zu erzählen. Auf meine Bitte hin haben die damalige Wirtin des Gasthauses „Zur Molken“ und Martin Haidinger für mich niedergeschrieben, wie sie diesen Abend, an dem ich Markus kennengelernt habe, erlebt haben. Zuerst lasse ich die Wirtin Heidi Kalss sprechen, die heute den Schlossgasthof Rosenburg im Waldviertel am Kamp innehat: „Lieber Herr Dr. Girtler, vielen Dank für das soeben geführte Gespräch. Sehr gerne halte ich in meinen Erinnerungen fest, wo ich Ihnen das erste Mal begegnet bin bzw. wie ich Sie wahrgenommen habe. Schauplatz: Gasthaus „Zur Molken“, Bad Ischl, an einem Som­ mertag 1993 Geburtstagsfeier von Martin Haidinger, Journalist aus Wien Ich war damals Wirtin im Gasthaus „Zur Molken“. Spät abends (ca. 23 Uhr) erschien ein Gast in Radlerdress und fragte, ob hier eine Geburtstagsfeier stattfindet. Ich verständigte Martin Haidinger, und 209

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg

als er kam, fragte ihn der Herr, ob er ein Quartier für ihn besorgt hat. Roland Girtler, so hieß der Mann im Radlerdress, war empört, dass für ihn kein Quartier organisiert war: „Ich bin über zwei Alpenpässe geradelt und jetzt ist nichts vorbereitet. Du bist ein schöner Freund!“, wiederholte er mehrmals. Martin Haidinger und Roland Girtler gingen in den Garten, wo die Gäste an der Festtafel versammelt waren. Martin sagte zu Roland Girtler, dass er ihm seine Kaiserliche Hoheit vorstellen möchte. Da­ raufhin sagte Roland Girtler, dass er ein Anarchist sei und ihn der Mo­ narchist nicht interessiere. Am Tisch angelangt, sagte Roland Girtler: „Fühle mich sehr geehrt, Kaiserliche Hoheit.“ Ich hörte zur späteren Stunde, wie Roland Girtler zur Kaiserlichen Hoheit sagte, dass der Ferdinand ja geisteskrank war und die Wilderer ehrenwerte Leute sind. Die Antwort war: „Ja, ja, sehr interessant.“ Ich bemühte mich in der Zwischenzeit, ein Bett für Roland Girtler in einer Pension oder in einem Hotel zu finden. Es war aussichtslos, weil zu diesem Zeitpunkt absolute Hochsaison in Bad Ischl und in den Seeorten war. So teilte ich mit, dass ich leider nichts gefunden hätte. Daraufhin sagte Kaiserliche Hoheit, dass er einen ganzen Trakt in der Kaiservilla frei für ihn hätte. Roland Girtler zeigte mit seinem Finger auf Kaiserliche Hoheit und fragte seinen Freund Martin Haidinger, ob er das Angebot annehmen sollte. Da es schon nach Mitternacht war, wurde das Angebot ange­ nommen, in der Kaiservilla zu nächtigen. Roland Girtler und seine Kaiserliche Hoheit verließen zu Fuß den Gasthof. Roland Girtler schrieb einen Bericht in einer Zeitung, dass er bei einer Geburtstagsfeier in Bad Ischl war und bei einer sehr vornehmen Schweizer Emigrantenfamilie genächtigt hätte. Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen von der Rosenburg Heidi Kalss Schlossgasthof Rosenburg, 3573 Rosenburg 2 Jetzt kommt mein Freund Mag. Martin Haidinger, ein anerkannter Wissenschaftsjournalist und begnadeter Buchautor, zu Wort: 210

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg

„Seine Kaiserliche Hoheit lassen bitten“ Irgendwie hatte ich mir ein Asthma-Leiden zugezogen – Allergie, Zigarrenrauch und Unvernunft – alles das mochte zusammengespielt haben, dass ich schon in jungen Jahren wie ein kaputter Blasebalg aus dem letzten Loch pfiff und auf Luftkur geschickt wurde. Als ich in Bad Ischl ankam, führte mich mein zweiter Weg in eine Bar, das weithin bekannte „k.u.k. Hofbeisl“, an welcher ich mir selbst zuprostete und mir einen guten Aufenthalt wünschte. Es wurde spät. Neben mir am Tresen lehnte ein Mann, der ein helles Sakko aus Jägerleinen, einen dicke Brille und eine Frisur trug, die in Fasson und Farbe an jene des späten Oskar Werner erinnerte. Er lachte mich nach einiger Zeit freundlich an: „Sie sind aba nicht aus Ischl, gell?“, fragte er. Nein, ich sei nicht aus Ischl, bekräftigte ich. „Wo sind S‘ denn her?“ Aus Wien. „Ah ja, sehr schön, sehr intressant. Wie gfallts Ihnen denn bei uns?“ Und so entspann sich eine Unterhaltung mit dem eigenwilligen Herrn, die nach einigen Minuten in der Frage gipfelte: „Wie war der Name?“ Haidinger, stellte ich mich vor. „Sehr angenehm“, gab mein Gesprächspartner zurück, „Habsburg mein Name, Lothringen.“ Ehe eine nähere Unterhaltung aufkommen konnte, schickte sich der Mann an zu gehen und sagte mir zum Ab­ schied noch: „Kommen S‘ mich doch amal besuchen, wissen eh, wo ich wohn!“ Damit wies er mit dem Daumen in Richtung der Kaiservilla, die nicht nur ein Tourismusmagnet, sondern auch im Besitz der Fa­ milie Habsburg ist. Tags darauf ging ich tatsächlich zur Kaiservilla, entrichtete das Eintrittsgeld und schlenderte den Kiesweg hinauf zu jenem Gebäude, das der gute alte Kaiser Franz Joseph, als er noch nicht ganz so alt war, seiner liebenden Gattin zum Geschenk ausgebaut hatte. Trotz Mengen von Touristen sah ich ihn gleich: Am Haupteingang der Villa stand er – mein neuer Freund von gestern Abend. Im Jägerleinen, diesmal mit Krawatte, blinzelte er mir entgegen: „Ah ja, sehr nett, dass Sie kommen!“, sagte er nun, reichte mir die Hand und wunderte sich kein bisschen, dass ich wirklich seiner Einladung gefolgt war. Vielmehr schien er geradezu auf mich gewartet zu haben, denn er hatte Zeit und bot mir eine Sonderführung durch Haus und Garten, besser gesagt 211

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg

durch Schloss und Park seines bescheidenen Anwesens an. „Ham S‘ am End‘ unten Eintritt gezahlt?“, fragte er mich besorgt. Und als ich bejahte, tätschelte er meinen Unterarm und meinte: „Das hätt‘s nicht gebraucht – aber danke!“ Erzherzog Markus Salvator, ein direkter Nachfahre Kaiser Franz Josephs, bewohnt mit Frau und Kindern einen Flügel der Kaiservilla, Bescheidenheit, Humor und Selbstironie zeichnen ihn aus, und das ist eine Form von Größe. Markus ist ein lieber Mensch, dem ich in aufrichtiger Zuneigung und Freundschaft verbunden bin. „In Ischl bin ich wie ein Eremit – völlig isoliert“, sinnierte er vor sich hin, als wir durch den Park spazierten. „Ich hab so viel z‘ tun in der Villa und dann traun sich auch net alle mit mir reden …“ Nachdenklich kehrte ich in mein Quartier zurück. Es hieß „San Marco“ und war das örtliche Altersheim, in das ich geraten war, weil es preiswert war. Stutzig hätte ich werden können, da im Prospekt der Vermerk „Kapelle im Haus“ gestanden war. Allerdings hatte ich diese Bemerkung auf die Abhaltung von Kurkonzerten und nicht auf Gottesdienste bezogen. Nun wurde ich also von geistlichen Schwestern liebevoll umsorgt. Gleich nach meiner Ankunft hatte ich das Ehepaar vom Neben­ zimmer kennengelernt. Beide hoch in den 80ern, waren es Hans Mühlbacher, der Erfinder der stereophonen Rundfunkübertragung, Konzertmeister des Akademischen Orchestervereins in Wien seit 1946, und seine Frau Maria Mühlbacher-Graf, vormals Primaballerina der Wiener Staatsoper, die 1937 beim letzten Opernball der Ersten Repu­ blik die Rolle der Muse Terpsychore als Allegorie der Göttin Austria getanzt hat. Mit diesen und anderen reizenden Menschen wollte ich mich anlässlich meines Geburtstags auf ein Gläschen in den Gastgar­ ten des berühmten Ischler Wirtshauses „Zur Molken“ setzen. Was lag näher, als den einsamen Erzherzog aus seiner Villa herauszulocken und dazuzubitten? Noch während ich diesen Gedanken zu hegen begann, erreichte mich der Anruf eines alten Freundes, des Soziologen Roland Girtler. Diese famose Gestalt ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten der österreichischen Wissenschafterszene. Als Feldforscher hat sich Girtler 212

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg

auf die Erkundung von Randgruppen der Gesellschaft spezialisiert: Huren, Zuhälter, Sandler, Landler, Bergbauern, Wilderer, Aristokra­ ten, Radfahrer und Vaganten aller Art, die er in großartige Bücher umsetzt. Sommers weilt er in seinem Elternhaus im oberösterreichi­ schen Spital am Pyhrn – nicht allzu weit vom Salzkammergut und von Ischl entfernt, aber doch eine längere Autostrecke. „Roland“, sagte ich, „komm doch auch zu meinem kleinen Geburtstagstrunk in die ‚Molken‘!“ „Na, i waß net!“, raunzte Roland, der als fanatischer Radler eine starke Abneigung gegen Autos und deren Benützung hat. „Hearst, kumm du doch lieber her zu mir!“ „Das geht nicht“, erwiderte ich, „ich hab schon einige Leute dorthin eingeladen, es wär doch schön ...“ „Na, wen?“ war Roland hellhörig geworden. „Nun, den Erfinder des Stereoradios, die Primaballerina der Staatsoper in den 30er-Jahren ...“ „Na seavas! Bumm, hearst, wen du aller kennst!“ „Ja“, setzte ich noch nach, „sogar einen echten Erzherzog hab‘ ich eingeladen – extra für dich, Roland, versuchte ich zu scherzen. „An Habsburger?“, sagte Roland, der ein felsenfester Republikaner ist und beim Namen Habs­ burg ähnliche Töne von sich zu geben pflegt wie sein Dackel Dr. Wal­ di, wenn man ihm die Wurst entzieht. „Na, da kumm i net, hearst, na, na!“ „Aber Roland, das ist ein sehr netter Mensch, du wirst sehen, und außerdem schätzt er deine Bücher!“ Das zog. „Na i waß net, ob i da wirklich hinkommen soll“, kam es noch einmal aus dem Hörer, um schließlich in ein „Na guat is‘, Meister, i kumm!“ überzugehen. „Aber zwei Bedingungen: I kumm‘ mit dem Radl und i sag ‚Herr Habsburg‘ und nicht ‚Kaiserliche Hoheit‘ zu ihm!“ Es fiel mir leicht, beides zu akzeptieren, und als ich Markus Salvator einlud und ihm erzählte, dass auch Roland Girtler zu uns stoßen würde, war er Feuer und Flamme. „Ja, das is ja der, der über die Prostituierten gschrieb‘m hat, net wahr!?“, freute sich der Erzherzog. Als es dann wenige Tage später so weit war, als der geschneuzte und gekampelte Erzherzog und der völlig verschwitzte, in einen knall­ bunten Radlerdress mit kanariengelben Hosen gehüllte RandgruppenSoziologe einander im abendlichen Gastgarten zum ersten Mal gegen­ überstanden, entwickelte sich folgendes Gespräch. 213

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Ich: „Darf ich bekannt machen: Herr Universitätsprofessor Doktor Roland Girtler – Herr Magister Markus Habsburg.“ Habsburg: „Ja, ja, sehr erfreut, sehr nett, ja, ja, Herr Professor, sehr nett ...“ Girt­ ler (sich verbeugend): „Kaiserliche Hoheit, fühle mich geehrt, Girtler mein Name!“ Vergessen war also das schnöde ‚Herr Habsburg‘, der Grundstein für eine bemerkenswerte Freundschaft gelegt. An diesem Abend hing die ganze Molken-Belegschaft, auch unbe­ teiligte Gäste und die Wirtin Heidi Kalss, nur mehr an den Lippen dieser beiden sogar für Ischler Verhältnisse ungewöhnlich starken Cha­ raktere, um Dialogfetzen wie die folgenden zu erlauschen „Da herinn‘ im Salzkammergut, da ham die Wilderer dem Kaiser die besten Böck wegg‘schossn. Recht ham s‘ g‘habt, des waren soziale Rebellen im Konflikt mit den Jagdherrn – ham eh recht g‘habt, was sag‘n Sie, Kaiserliche Hoheit?“ „Ja, ja, sehr intressant; Herr Professor, sehr nett ...“ oder : „Kaiserliche Hoheit: Die Habsburger san schuld am Balkankrieg – was sag‘n Sie dazu?“ „Ja, ja, sehr nett, Herr Professor, sehr unterhaltsam ...“ oder diesen hier: „Des mit der Inzucht is‘ scho a Problem g‘wesen für die Leut am Land – furchtbar, furchtbar – was sag‘n Sie? Ah, jo, entsch ..., na, na, san eh alles liabe Leut, eh liabe Leut!“ „Ja, ja, sehr nett, Herr Professor, sehr nett ...“ Als es dann spät, sehr spät wurde, fragte mich Roland: „Hearst, hast du a Quartier für mich?“ Oh, verdammt, das hatte ich ganz verges­ sen! „Du bist a schener Freind, hearst, i kumm‘ da mit‘n Radl über zwei Alpenpässe und du hast net amal a Quartier für mi‚ a schener ­Freind! Noch während ich nach Gedanken und Worten rang, hörte ich eine mittlerweile vertraute Stimme: „Na ja, ich wüsst‘ da vielleicht a ­Lösung. Ich hätt‘ noch an Trakt frei!“ Roland sah mich an, deutete auf den Erzherzog und fragte mich: „Soll i‘ des annehmen?“ Und sagte dann sehr schnell: „Na guat is‘, Kaiserliche Hoheit, fühle mich geehrt!“ Und so kam es, dass zu nächtlicher Stunde zwei Gestalten den Kies­ weg zur Kaiservilla emportrotteten, eine etwas elegantere, dunkle und 214

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eine bunt gescheckte, ein Fahrrad schiebend. Der Republikaner und Habsburg-Skeptiker Roland Girtler hatte ganz lapidar erreicht, was Generationen von Monarchisten erotische Zustände beschert hätte: Er durfte in der Kaiservilla übernachten und wurde von einem Erzher­ zog zum Frühstück gebeten. Und er war sich der Größe dessen auch durchaus bewusst, da er anderntags zu mir sagte: „Is‘ ma a no nie passiert, hearst, wos sogst du?!“ Soweit die ehemalige Wirtin des Gasthauses „Zur Molken“ Frau Heidi Kalss und mein Freund Martin Haidinger. Hinzugefügt sei, dass ich an dem beschriebenen Abend Markus Habsburg als einen liebenswürdigen Herrn kennengelernt habe. Ich bin froh, trotz meiner Sympathie für anständige Rebellen aller Art, mit Markus Habsburg, den ich sehr schätze und dem ich mich verbunden fühle, heute in einer freundschaftlichen Beziehung zu stehen. Dafür sei auch Martin Haidinger gedankt.

Zugang Um mich mit Markus Habsburg zu einem langen Gespräch zu treffen, auf dem die folgenden Ausführungen beruhen, vereinbarte ich mit ihm einen Termin gegen Ende August 2010 in Linz, und zwar im Café Traxlmayr an der Promenade unweit des Landhauses. Ich fahre also mit dem Zug von Spital am Pyhrn, wo ich mich während des Sommers aufhalte, nach Linz. Ich bin nach 11 Uhr dort, wandere vom Bahnhof schlendernd in die Stadt und bin um 12 Uhr, wie ausgemacht, im Café. Es ist ein schöner Tag mit angenehmer Temperatur. Markus sitzt im schattigen Teil des Gastgartens, abseits der anderen Gäste. Das ist auch gut, so haben wir Ruhe. Ich grüße ihn, er schaut von der Zeitung auf und begrüßt mich herzlich. Auch er ist mit dem Zug aus Bad Ischl nach Linz gekommen. Seine Frau, die Tochter eines angesehenen Bauern, ist heute auf ihrem Bauernhof, wo sie einiges zu tun hat. Erzähle ihm nun von der Idee zu dem Buch. Ihm gefällt diese. 215

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Die noble Herkunft Markus führt über seine Herkunft aus: „Mein Großvater kommt nicht von der regierenden kaiserlichen Linie der Habsburger, sondern von der toskanischen großherzoglichen Linie. Mein Großvater väterlicherseits hat Valerie, die Tochter von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth, geheiratet.“ Mit vollem Namen hieß die Großmutter von Markus Erzherzogin Marie Valerie Mathilde Amalie von Österreich. Geboren wurde sie am 22. April 1868 in Ofen in Ungarn, gestorben ist sie am 6. September 1924 in Wallsee an der Donau. Marie Valerie ist das vierte Kind des Kaiserpaares. In Ungarn wurde sie geboren, weil Elisabeth große Sympathie für Ungarn hatte und sich oft dort aufhielt. Valerie verbrachte auch viel Zeit in Ungarn, allerdings soll sie später – entgegen der Absicht Elisabeths – alles Ungarische abgelehnt und mit ihrem Vater nur deutsch gesprochen haben. Ihren Mann – den Großvater von Markus – Franz Salvator von Österreich-Toskana lernte sie bei einem Ball kennen. Er war ein Cousin zweiten Grades, dennoch verliebte sie sich ihn. 1890 heirateten die beiden in Bad Ischl. Sie zogen dann nach Wels und kauften 1895 das Schloss Wallsee von dem damaligen Besitzer, dem Herzog Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha. Die Leute von Wallsee waren darüber erfreut, denn Valerie war eine Dame von großer Herzensgüte. 1924 starb sie leider an Lymphdrüsenkrebs. Ihr Mann Franz Salvator starb 1939. Nachkomme des Paares war Hubert Salvator (1894 bis 1971), der Rosemary Prinzessin zu Salm-Salm (1904 bis 2001) heiratete, das sind die Eltern von Markus. Ich erzähle Markus, dass mein besonderes Interesse dem Johann Orth gilt, dessen eigentlicher Name Johann Salvator von Österreich-Toskana ist, auch er entstammt der toskanischen Linie der Habsburger. Dieser Johann Salvator gab seinen Adelstitel wegen einer Schauspielerin auf und kaufte in Hamburg ein Segelschiff, mit dem er und seine Geliebte nach Südamerika in See stachen. Markus nickt und erzählt: „Dieser Johann Orth war mein Urgroßonkel. Man sagt, dass er in Südamerika verschollen ist. Es gibt aber 216

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Norweger, die behaupten, Johann Orth ist in Norwegen gelandet. Es ist nicht sicher, dass er in Südamerika umgekommen ist. Es ist durchaus möglich, dass er sich eine anonyme zweite Existenz aufbauen wollte. Mit der Schauspielerin wäre ihm das vielleicht nicht geglückt. Die hätte sicher gerne einmal ausgetratscht, wer er ist. Es heißt, dass sie vielleicht schon vorher umgekommen ist. Er hatte sich jedenfalls einen bürgerlichen Namen zugelegt.“ Markus geht nun auf die Kaiservilla ein: „Die Valerie hat die Kaiservilla geerbt und schließlich Hubert Salvator, mein Vater, er ist 1971 gestorben. Ich habe zwei ältere Brüder, acht ältere Schwestern und zwei jüngere Brüder. Insgesamt sind wir 13 Geschwister. Die Brüder, so könnte man sagen, sind Gutsbesitzer, der Johann sitzt in Traunkirchen und am Offensee.“ Die Kellnerin kommt und serviert Markus ein Spezialwürstel mit Senf und viel Kren. Ich wünsche Markus einen guten Appetit. Selbstverständlich ist er mein Gast. Freue mich, dass es Markus schmeckt. Markus fügt ein, dass am Sonntag, dem 5. September, um 17 Uhr in der Kaiservilla ein Konzert stattfindet, Japaner spielen österreichische Volksmusik. Es ist kostenlos, auch ohne Parkeintritt, für Zuschauer gibt es 100 Sitzplätze. Das Konzert wird nicht mit Plakaten angekündigt, denn Markus und seine Frau wollen nicht, dass zu viele Leute kommen. Per Mail werden einige eingeladen werden, aber auch mündlich. Auch mich lädt Markus zu diesem Konzert ein. Die auftretenden Japaner sind ausgezeichnete Musiker, die in der Kaiservilla ihr letztes Konzert in Österreich geben. Ich bin ob dieser Einladung sehr geehrt. Markus erzählt weiter: „Aufgewachsen bin ich in Persenbeug Nummer 1, so heißt dort das Schloss, in dem auch Kaiser Karl geboren wurde. Alexander, eine Neffe von mir, lebt jetzt dort. Sein Vater hat Friedrich geheißen, dieser müsste heute schon weit über 80 sein.“ Ich erzähle Markus, dass ich einmal in Neuhofen bei Amstetten einen Herrn kennengelernt habe, von dem ich zuerst dachte, er sei ein netter Herr aus dem Bauernstand mit viel Witz. Tatsächlich hieß er Karl Habsburg, wie er mir eröffnete. Als Schüler oder Student habe er in Wien am Bau gearbeitet. Der Polier 217

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dort war ganz überrascht, als er dahinterkam, dass er ein Habsburger sei. Markus meint, dass dieser Karl vom Schloss Wallsee komme. Es könne sein, dass er einmal am Bau gearbeitet hat. Er ist sein Cousin, der jüngere Sohn des Bruders seines Vaters.

Im Schloss Persenbeug – der Vater als Holzhändler und Forstwirt Markus meint, die Verwandtschaft der Habsburger sei kompliziert, und beginnt zu erzählen: „Ich bin am 2. April 1946 in Persenbeug an der Donau geboren, ein Hausarzt hat die Geburt durchgeführt. Ich bin mit meinen Geschwistern dort aufgewachsen.“ Markus macht eine Pause, beißt in sein Würstel, zu dem er zu viel Kren genommen hat. Er ringt ob der Schärfe kurz nach Atem und meint, dass Kren gut gegen Alzheimer sei, denn er putze durch. Diese kurze Pause nütze ich, um Markus zu erzählen, dass die Vorfahren mancher Adeliger große Gauner gewesen wären. Markus lächelt und sagte: „Ja, genau.“ Ich berichte von Erwin, dem Holzknecht, dessen Großvater ein Habsburger vom Fuschlsee gewesen sei, der seine Großmutter geschwängert habe. Daher stamme er, wie er glaubt, also auch von Habsburgern ab. Markus meint dazu: „Ich habe das noch nicht gehört, aber man kann es nicht ausschließen.“ Ich erzähle ihm, dass ich ihn einmal mit Erwin in der Kaiservilla besucht habe, so eine Art Familienzusammenführung sei dies von mir gewesen. Nun erinnert sich Markus: „Ja, den meinst du!“ Als ich Markus erzähle, dass Erwin über seinem Schreibtisch in Oberweng das Habsburger Wappen hängen habe, worauf er stolz sei, meinte er lächelnd: „Das ist ja sehr nett von ihm, wenn er es so empfindet.“ Die Grüße von Erwin richte ich ihm auch noch aus. Markus erzählt weiter von seiner Jugend in Persenbeug. 13 Geschwister sind sie gewesen. „Die letzten drei Geschwister waren Buben. Wir sind alle aufgewachsen unter der Obhut einer bestimmten Kinderfrau, einer ausgebildeten Lehrerin. Sie wurde von den Eltern aufgenommen, sie war keine Verwandte. Sie war ganz 218

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hübsch zum Anschauen und auch sehr geschickt im Umgang mit uns. Jedenfalls man hat sie in guter Erinnerung. Sie hat nur die Tagesaufsicht über uns Kinder gehabt. Sie hat geschaut, dass wir in der Volksschulzeit die Hausaufgaben machen, wir gingen in Persenbeug in die Schule. Sie war auch für den Nachmittag zuständig. Was sie am Vormittag gemacht hat, während wir in der Schule waren, weiß ich nicht. In der Ferienzeit hatte die Mutter sich um die Kinder zu kümmern, sie sorgte auch für den Vater und für die Gäste. Man konnte im Haus vielleicht zehn Gäste unterbringen. Die waren natürlich nicht dauernd bei uns, eher nur einige Tage. Manchmal waren zwei, drei Gäste da. In der Nachkriegszeit waren viele Gäste bei uns. Das war möglich, denn der Vater war ja Forstwirt und der Holzpreis war gut. So war die Voraussetzung gegeben, dass man Angestellte haben und Gäste einladen konnte. Mein Vater war in dieser Hinsicht ein offener Mensch. Er hat gerne Gäste gehabt, die Mutter auch. Das kannten sie ja von früher. Die Mittel dazu kamen von der Forstwirtschaft. Die erste Zeit nach dem Krieg war sehr schwierig. Aber es hat sich immer mehr für uns gebessert, der Holzpreis war gestiegen und in der Bauwirtschaft war damals viel los. Es war mehr Ökonomie wieder da. Die Bedürfnisse der Leute sind gestiegen, es war besser als in den Jahren 1928 bis 1938. Damals gab es die Weltwirtschaftskrise.“ Ich erkundige mich nach den Besitzungen in Persenbeug. Markus: „Diese sind Habsburger Erbe. Es sind ungefähr 40 bis 50 Verwandte, denen Persenbeug gehört. In ganz Österreich leben ungefähr 150 Habsburger.“ Ich meine, einmal gelesen zu haben, dass es insgesamt bei 600 Habsburger gäbe.

Der Krieg und der Onkel als Ausbildner bei der deutschen Wehrmacht Wir kommen auf die Kriegszeit zu sprechen, in der es sein Vater als Habsburger nicht leicht gehabt haben dürfte. Markus fährt fort: „Das ist eine interessante Frage, weil viele Leute in der Not 219

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waren, Papa auch. Einrücken musste er nicht beim Militär, weil er Jahrgang 1894 war. Natürlich war die Frage, wozu bekennt er sich. Da gab es ein Ausweichen, man war entsetzt, weil gewisse Leute plötzlich verschwunden sind, sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite. Dies hat der Vater bemerkt. Er hat gewusst, dass Juden, die Kaiser Franz Joseph geschützt hat, plötzlich nicht mehr da waren. Aber auch aristokratische Leute waren fort. Das hat ihm zu denken gegeben. Er hat sich ausweichend verhalten. Abstammungsmäßig konnten sie ihm nichts anhaben. Gesinnungsmäßig haben sie ihn zum Feind auserkoren. Das hat ihn herausgefordert. Bis in die letzten Kriegstage haben sie ihn immer wieder vor Prüfungen gestellt.“ Obwohl die Nazis den Habsburgern mit Skepsis begegnet sind, dürfte es doch Habsburger gegeben haben, die zur deutschen Wehrmacht eingerückt sind. Ich frage Markus in dieser Richtung, er bejaht: „Zum Beispiel am Mondsee gab es Erzherzog Anton, einen Cousin zweiten Grades meines Vaters. Der war während des Krieges in der deutschen Wehrmacht Soldat bei den Fliegern, er war Funker und brachte es sogar zum Piloten. Er war nicht nur ein geschickter Pilot, sondern auch Ausbildner. Er hat überlebt, sonst weiß ich dazu wenig. Von meiner direkten Familie ist keiner beim deutschen Militär gewesen. Mein ältester Bruder war zu jung, er war Jahrgang 1927. Er hätte in den letzten Kriegstagen vielleicht einrücken müssen, aber er war zu unterernährt. Vor dem Krieg hatten die Eltern schon acht Kinder, im Krieg kamen noch einmal zwei dazu. Der Vater wurde während des Krieges seiner Einkünfte beraubt. Die Nazis haben ihn nicht mehr zu Geld kommen lassen. Es war sicherlich sehr schwierig für den Vater. Genaueres kann ich nicht sagen. Vielleicht hatte er Einnahmen von der Jagd und vom Holzverkauf.“

Kindheitserinnerungen einer Persenbeugerin Frau Gertrude Kertelics, ehemalige Volksschuldirektorin in Wien und Tochter eines Landarztes von Petzenkirchen, die ihre Kindheit 220

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auch in Persenbeug verbracht hat und als Freundin einer Schwester von Markus Habsburg des Öfteren im Schloss Persenbeug war, erzählte mir von damals. Sie kannte Markus noch als kleinen Buben. Die liebenswürdige Frau Kertelics schrieb mir auf meine Bitte hin einiges aus ihren Kindertagen, zu denen auch Erlebnisse im Schloss Persenbeug gehören: „Eigentlich bin ich eine Persenbeugerin. Meine Großeltern und mein Urgroßvater mit der ganzen Familie liegen auf dem Persenbeuger Friedhof begraben. Ich lebte mit meiner Familie, das waren Mutter, Großmutter und mein um fünf Jahre älterer Bruder, im Haus meiner Großeltern in der Rollfährestraße. Das Haus war in meiner kindlichen Erinnerung riesengroß. Sein Garten, in Hanglage zur Donau, erschien mir ebenfalls sehr, sehr weitläufig. Ein Nussbaum, eine ‚Gemüsegrube‘ zur Einlagerung von Wintergemüse, ein Hühnerstall und Gemüsebeete, umringt von Ribiselstauden, sicherten unseren Nahrungsbedarf in diesen wirtschaftlich schwierigen Jahren. Alle sagten, dass die Zeiten schlecht waren. Sie waren es auch, nur aus meiner Perspektive war alles ganz normal und wunderbar. Meine ersten Erinnerungen an diese frühe Kindheit beginnen mit der Heimkunft meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft im Oktober 1947. Mein Bruder konnte sich an unseren Vater noch gut erinnern und ging ohne Scheu auf ihn zu. Für mich war das nicht so einfach. In einem Frauenhaushalt aufgewachsen, flößte mir vorerst die dunkle Erscheinung, mein Vater trug ein dunkles Militärhemd, Angst ein. Das gab sich bald und ich freute mich über die Erweiterung der Familie, denn mein Vater hatte viel Zeit für uns. Er hatte Arbeitsverbot, was unsere finanzielle Situation nicht erleichterte. Mein Bruder besuchte die Volksschule für Knaben am Kirchenplatz. Ich musste zur Mädchenschule in unmittelbarer Nähe des Schlosses an der Hand meiner Großmutter marschieren, das war weit. Die Rollfährestraße in Richtung ‚Böhm Mitzl‘, wie das Gasthaus am Eck der Straße nach der Wirtin Maria genannt wurde. Dann kamen wir an einer Schmiede vorbei. Hier ging ich immer möglichst schnell, denn die Esse und das Feuer machten mir 221

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Angst. Oft standen hier auch noch schnaubende Pferde, die auf das Beschlagenwerden warteten. Durch den ganzen Ort, an der Kirche und am Gemeindeamt vorbei, die Schlossbergstraße hinauf bis hinter das mächtige Schloss. Dort war die Klosterschule mit Kindergarten untergebracht. Was den Weg enorm erleichterte, war eine Freundin, die dort auf mich täglich wartete. Maria, das zehnte Kind der Familie Habsburg-Lothringen, war ein liebenswertes Mädchen, das mit mir gemeinsam vorerst den Kindergarten, später die Volksschule besuchte. Wir tauschten oft und gerne unsere Jause. Sie brachte immer eine Buttersemmel als Gabelfrühstück mit, ich hatte ein mit Schmalz bestrichenes Schwarzbrot mit. Ihre Semmel war zwar um 10 Uhr schon zäh, aber wann bekam ich schon eine ‚kaiserliche Semmel‘? Maria war sehr einfach und bescheiden erzogen. Sie durfte wenig allein unternehmen, immer mussten eine Kinderfrau und, was noch hinderlicher war, ihre zwei kleinen Brüder Markus und Johannes mitgehen. Manchmal durfte ich in Begleitung meiner Großmutter Maria im Schloss besuchen, das war immer etwas Besonderes. War für mich schon mein Elternhaus aus der kindlichen Perspektive groß, später veränderte sich dieser Eindruck, so waren die Höfe, Räume und Gänge des Schlosses endlos. Wir liefen umher, versteckten uns, kicherten und waren glücklich. Manchmal fürchtete ich mich vor den klirrenden Ritterrüstungen auf dem langen Gang zum Festsaal. Durch die Schwingungen der Holzböden erschienen diese Eisenmänner wie zum Leben erweckt. Einmal war die Tür zum Festsaal, wir nannten ihn Thronsaal, nicht verschlossen. Wir traten ein und standen in einem nahezu leeren und nun wirklich riesigen Raum. In einer Ecke waren einige Möbel aufeinandergetürmt. Es hallte unser Gekicher und es knarrte der alte Holzboden, sonst war es ganz still. Kein Ton drang zu uns herein. Wir waren wie verzaubert. Das Licht fiel durch die hohen Fenster, die Staubkörner tanzten in den Sonnenstrahlen. Da entdeckten wir ein uns fremdes Gerät. Groß, schwer, mit einem hohen Griff. Wir beschlossen wortlos, uns dem Ding zu nähern. Unsere Neugierde siegte und wir begannen das Ungeheuer zu untersuchen. Da be222

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rührte eine von uns einen Kippschalter und das Ding, es war ein vorsintflutliches Modell einer elektrischen Bodenbürste, begann vorerst zögerlich, aber mit Gebrumm, sich durch den Raum zu bewegen. Wir waren überrascht und fasziniert. Doch diese Bodenbürste entwickelte eine rasante Vitalität, der wir nicht gewachsen waren. Sie raste, wie von Sinnen, laut quietschend durch den leeren Festsaal, wir hinterdrein. Es schien eine ausweglose Situation. Aus unserer Entdeckerfreude entwickelte sich in Sekunden Panik. Als wir ohne Hoffnung der Bodenbürste zu folgen versuchten, trat plötzlich absolute Stille ein. Wir hörten nur den eigenen Pulsschlag in unseren glühenden Ohren. Jetzt war sicher alles kaputt! Die Folgen unausdenkbar! Unser Blick folgte dem Kabel, das am unteren Ende aus der Maschine ragte. Am anderen Ende des Kabels stand Marias Mutter, die Erzherzogin Rosemary! Sie hielt den Stecker in der erhobenen Hand und schaute sehr streng. Aber als sie unser Entsetzen sah, lächelte sie tröstend. Sie rief uns zu sich und schickte uns in die Schlossküche zu einem tröstenden Schluck warmer Schokolade und einigen Keksen. Mit acht Jahren musste ich Persenbeug und meine Freundin Maria verlassen. Mein Vater hatte endlich einen Posten als Gemeindearzt im Mostviertel bekommen. Ich wurde noch einmal ins Schloss eingeladen, um mich bei meiner Freundin Maria und ihrer Familie verabschieden zu können. Marias Mutter schenkte mir zum Abschied einen kleinen Kerzenleuchter aus Holz, kugelförmig, gelb und weiß bemalt, mit kleinen Ausnehmungen. Ich bewahre diesen Kerzenständer als wichtige Erinnerung an meine erste Kinderfreundschaft in einer Schachtel auf. Noch etwas aus dem Schloss Persenbeug begleitet mich durch die Jahre. Die Köchin vertraute meiner Großmutter die Rezepte einiger Weihnachtskekse an. Ich backe sie seit bald 50 Jahren im Advent und freue mich am Geruch und Geschmack meiner frühen Kinderjahre.“

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Der Weg zur Schule – erste Kontakte zu „gewöhnlichen Leuten“ – im Internat – zum Studium in Wien Ich frage Markus, wie er nach dem Krieg aufgewachsen ist. Er erzählt: „Man ist sehr abgeschlossen aufgewachsen. Den ersten Kontakt zu anderen jungen Leuten hatten wir erst auf dem Weg zur Volksschule. Dieser Kontakt war allerdings eher schüchtern und kurz andauernd, aber ich habe gewusst, wo der Bub wohnt, der mit mir zur Schule gegangen ist. Mein Wegbegleiter war der Sohn des Nachbarn vom Schloss. Aber ich weiß nicht mehr den Familiennamen.“ Als ich frage, ob es Raufereien auf dem Schulweg gegeben habe, verneint Markus. Bevor ich weiterfrage, fliegt eine Biene um uns und unsere Mehlspeisen. Wir verhalten uns ruhig. Ich erzähle die Geschichte, wie ich vor drei Jahren von einer Biene beim Radfahren gestochen und dabei bewusstlos vom Rad gesunken bin. Uns beiden ist die Gefährlichkeit des Stiches der mir ansonsten sympathischen Bienen bewusst. Wir wissen auch, dass man diese Flugtiere nicht durch unkontrollierte Bewegungen irritieren soll. Ich möchte noch mehr aus der Schulzeit von Markus wissen. Markus erzählt weiter: „An die Persenbeuger Schulzeit kann ich mich nur wenig erinnern. Noch in der Volksschulzeit hat man mich in ein Internat geschickt, dort gab es strenge Methoden der Disziplinierung. Das war ein Volksschulinternat bei den Englischen Fräulein in Schiltern. Dort habe ich das letzte halbe Jahr der Volksschule verbracht, sozusagen in Vorbereitung auf das Gymnasium, das Kollegium Kalksburg, das ich dann zu besuchen hatte. Dort war ich fünf Jahre im Internat, später dann in Deutschland.“ Als ich ihn frage, warum er das Internat gewechselt hat, meint er: „Ich war einerseits ein bisserl zu frech und andererseits hat es mich nicht mehr so gefreut in Kalksburg. Es ergab sich die schwierige Frage, in welches Internat ich gehen könnte. Von Persenbeug ist das nächste Gymnasium ungefähr 30 Kilometer entfernt in Am­ stetten. Die Mutter hat viel erfinden müssen, um die Kinder in 224

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Schulen unterzubringen. Billig war Kalksburg sicher nicht. Meine Schulzeit habe ich immer in Internaten verbracht. Das war ganz lustig, überhaupt dann, wenn Streiche gespielt werden konnten. Dabei habe ich teilweise mitgetan. Wenn zum Beispiel jemand mit Wörtern geärgert wurde, war es ganz heiter. Um den Präfekten zu ärgern, sind wir abseits gegangen. Das heißt, man hat ihn vor das Problem gestellt, dass er nicht weiß, wo man ist. Weil Kinder ja wollen, dass man gesucht wird.“ Wir kommen auf seine vielen Geschwister zu sprechen und die Beziehung zu ihnen. Es dürfte für Markus nicht leicht gewesen sein, mit seinen Geschwistern entsprechend umzugehen, wie aus seinen weiteren Ausführungen zu ersehen ist: „Man muss herausfinden, wenn man so viele Geschwister hat, wer man selber ist. Wie gehe ich vor, wie geht der andere vor und wie kommt man wieder zusammen? Meine Brüder waren nicht in Kalksburg. Meine Schwestern waren in Pressbaum.“ Als ich Markus nach seinem Ansehen bei seinen Mitschülern frage, antwortet er ehrlich: „Ich war etwas ein Tollpatsch, weil ich nicht Fußball spielen konnte. Gleich am Anfang war das schon ein Eklat, dass man neben dem Tor gestanden ist und zugeschaut hat und nicht gewusst hat, was man da soll am Fußballplatz.“ Es fällt mir auf, dass Markus oft von sich selbst in der dritten Person Einzahl spricht, offensichtlich identifiziert er sich nicht mit seiner jeweiligen Rolle. Ich frage nun: „Wie haben sie dich im Internat gerufen?“ Markus erzählt in der Ich-Form weiter: „Kaiser haben sie mich genannt. Das konnte ich nicht vertragen.“ Als ich ihn nach dem Grund frage, denkt er etwas nach und sagt dann: „Weil man nicht immer mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert werden will.“ Als ich festhalte, dass er er selbst sein will und nicht bloß ein Nachkomme aus kaiserlichem Haus, gibt er mir recht: „Wie die Mitschüler bemerkt haben, dass man da empfindlich ist, haben manche einem Kletten in die Haare geworfen oder auf das Hemd. Solche Lästigkeiten hat man schon ertragen müssen. Wenn die Lehrer mich vor den Klassenkameraden nach der Abstammung gefragt haben, so war dies aus meiner Sicht nicht unbedingt geschickt. Ich wollte anonym aufwachsen 225

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und nicht so, dass jeder gleich alles über mich weiß. Ich weiß ja auch nichts von den anderen. So wussten alle 30 Mitschüler sofort von mir, von wem ich abstamme, aber ich wusste von 30 nichts. Das war nicht so angenehm. In Deutschland im Internat war es besser, dort wurde man nicht per Nachnamen als Schüler angeredet, sondern per Vornamen. Das war viel angenehmer. Man ist sonst immer damit konfrontiert, dass man schon wieder etwas fragt über die Familie. So wurde mit der Nennung des Familiennamens in Internaten in Österreich immer die Abstammung hervorgekehrt. Man kann nicht sein, der man sein will.“ Ich ergänze, dass es mir als Kind ähnlich ergangen ist. Mir war es ebenso unangenehm, als Arztkind angesprochen oder manchmal verspottet zu werden. Besonders ärgerlich war, wenn man mir nachrief „Doktorbua, scheiß in Schua!“. Markus lacht verständnisvoll und sagt: „Sehr blöd!“ Er erzählt weiter: „Maturiert habe ich in Deutschland. Dann bin ich an der Universität Wien Student geworden, ich habe Jus studiert. Hier war Massenbetrieb. Mancher Student hat vielleicht gefragt, wer man ist, oder auch wegen Habsburg. Aber das war nur nebensächlich. Das hat positive Auswirkungen gehabt auf mich. Allerdings habe ich mir sehr schwer getan, einen Studenten gleich mit Du anzusprechen, wenn man selbst nicht per Du angeredet werden wollte. Jetzt wusste ich nicht, wie das funktioniert. Wenn jemand sagte, jetzt seien alle per Du, so war mir das doch noch immer fremd, ich wollte wahrscheinlich lieber Sie sagen. Natürlich hat man gemerkt, dass man in einem anderen Jahrhundert ist. Die Professoren an der Universität bei den Juristen waren nett zu mir. Sie mussten ja gerecht sein, vor allem bei der Prüfung. Das Milieu an der Universität hat mich immer interessiert.“ Ich füge ein, dass ich eher gelitten habe unter dem Massenbetrieb an der juristischen Fakultät. Bei den Ethnologen und Urgeschichtlern gefiel es mir, nachdem ich mit der Juristerei aufgehört hatte, schließlich studierten damals lediglich zehn Leute Urgeschichte und bei den Ethnologen war es auch gemütlich. Markus meint dazu: „Das kann ich mir vorstellen. Das war mir auch schon 226

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während meiner letzten Monate im Gymnasium klar, dass nur wenige Leute Fächer wie Ethnologie oder Archäologie studieren würden und dass es dort ein familiäreres Milieu geben würde. Im Kollegium Kalksburg hat man für das Priestertum geworben. Es gab dort auch Vorträge von Missionaren. Alles, was andere Länder, Landschaften betrifft, hat einen besonders interessiert.“ Auf meine Frage, ob er nie daran gedacht habe, Missionar zu werden, meint Markus: „Das war noch nicht so konkret, ob man das werden würde.“ Über sein Jusstudium erzählt er weiter: „Ich habe bei den Juristen nur die Staatsprüfungen gemacht und keine Rigorosen, die für das Doktorat damals notwendig waren. Private Kontakte hatte ich zu einigen Studenten. An eine Studentenverbindung habe ich nicht gedacht, vielleicht wäre meine Studentenzeit dann für mich lustiger gewesen. Ich habe auch niemanden von einer Studentenverbindung gekannt. Aber andererseits habe ich davor Angst gehabt, bei einer Studentenverbindung zu sein, weil man wieder vor der Wahl gestanden wäre, Habsburg zu sein oder nicht. Ich wollte eher in der Anonymität sein. Andererseits wollte ich doch manchmal wieder die Eltern sehen, der Vater war damals schon 75, wie ich zu studieren begonnen habe. Ich habe mir da überlegt, ob ich nicht doch heimfahren soll. Nicht unbedingt regelmäßig, aber doch öfter, weil man kannte die Eltern doch kaum, wenn man zehn Jahre im Internat war. Man hatte wenig Kontakt zu ihnen gehabt. Ich bin also, als ich in Wien Student war, öfter mit dem Zug heimgefahren. Der Kontakt zu den Eltern war gut, aber etwas scheu.“

Chef der Kaiservilla und Schneeschaufler Wir kommen nun auf die allseits bekannte Kaiservilla in Bad Ischl zu sprechen. Dieses Jagdschloss des Kaisers war ursprünglich eine Biedermeiervilla, die dem Wiener Notar Josef August Eltz gehörte. 1850 verkauft dieser die Villa dem Arzt Eduard Mastalier. Aber bereits 1853, in dem Jahr, in dem Kaiser Franz Joseph sich mit Eli227

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sabeth von Bayern verlobte, kaufte die Mutter des Kaisers, Erzherzogin Sophie, die Villa und schenkte sie dem kaiserlichen Paar zur Hochzeit. Bald darauf wurde sie im neoklassizistischen Stil von Antonio Legrenzi umgebaut. Die ursprüngliche Rückseite wurde zu einem imposanten Eingang mit griechischen Säulen und einem Tympanon, einer dreieckigen Giebelfläche, umgestaltet. Bei den alten Griechen fanden sich bei Tempeln im Tympanon verwegene Helden, bei der Kaiservilla sind jedoch stolze Gamsböcke zu sehen. Außerdem wurden die zwei Seitenflügel der Kaiservilla gebaut, wodurch sie wie der Buchstabe E aussieht. Manche meinen, der Kaiser habe dies so wollen, um seiner Frau Elisabeth, deren Name mit E beginnt, eine Freude zu machen. Um 1860 ist das gesamte Ensemble mit dem Park fertiggestellt. Der Springbrunnen aus weißem Marmor wird erst 1884 geschaffen. Fast jeden Sommer verbrachte der Kaiser einige Wochen in der Kaiservilla. Hier empfing er Könige und Fürsten, hier feierte er jeweils am 18. August seinen Geburtstag und hier unterzeichnete er am 28. Juli 1914 die unglückliche Kriegserklärung an Serbien, und zwar im Westflügel. Als der Kaiser 1916 starb, hatte er die Kaiservilla seiner jüngsten Tochter Marie Valerie vermacht, auf die etwas später im Zusammenhang mit dem Schwimmbad vor der Kaiservilla noch einzugehen sein wird. Die Kaiservilla blieb also in der Familie Habsburg. Da sie zum Privatbesitz gehörte und sowohl Erzherzogin Valerie als auch ihr Mann Erzherzog Franz Salvator auf Thronansprüche verzichteten, wurde die Kaiservilla nach dem Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 auch nicht enteignet. Der heutige Eigentümer ist Markus Habsburg. Auf meine Frage „Wie kommst du in die Kaiservilla?“ antwortet Markus in der dritten Person, in die er fällt, wenn etwas ohne sein Verdienst an ihn fällt: „Durch testamentarische Verfügung hat man die Villa geerbt. Die Villa war vorher vom Vater verwaltet worden. Er hat nur im Sommer dort gewohnt. Vor ihm war sein jüngster Bruder Clemens der Besitzer, er war vom Großvater in der Villa wohnhaft gemacht worden. Der Großvater war Franz Salvator, der Sohn von Karl Salvator. Onkel Clemens hat in der Villa 228

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gelebt, 1937 hat er geheiratet. Er hat gewusst, dass das Haus nicht ihm gehört, sondern meinem Vater, seinem ältesten Bruder. Der Onkel hat sich damit konfrontiert gesehen, ob er weiterhin in der Villa wohnen will mit seinen acht Kindern oder woanders hinziehen soll. Er hat in Unterach am Attersee ein Haus gekauft und ist dorthin übersiedelt. So ist der große Wohnteil in der Kaiservilla frei geworden und wurde dann hergerichtet, weil die Eltern ja 13 Kinder hatten. Der Aufwand war groß, und das war sehr großzügig vom Vater. Er hat sich gedacht, einige Kinder sind schon verheiratet, aber vielleicht die jüngeren Kinder werden da wohnen wollen, ständig oder bloß in der Ferienzeit. Mit dem Umbau hat er auch Ischl einen Gefallen getan, weil die Kaiservilla abgesichert war, sowohl innen als auch außen renoviert. Es ist vieles neu gemacht worden, vor allem die Beheizung. Es waren keine hohen Öfen vorhanden. Der Onkel musste den ganzen Krieg hindurch noch mit den schlechten Sommeröfen durchkommen. Es gab nur kleine Brennkammern in den Öfen, vielleicht 30, 40 Zentimeter tief und 15 Zentimeter im Quadrat. Da musste man dauernd Holz nachlegen. Die kleinen Sommeröfen, die haben wir heute noch zusätzlich in der Villa. In der Kaiserzeit hat niemand während des Winters in der Kaiservilla gewohnt. Ab 1974 bin ich regelmäßig hier wohnhaft gewesen, weil ich als Eigentümer sozusagen Direktor geworden bin. 1971 ist der Vater gestorben, 1974 wurde die Verlassenschaft abgewickelt. Die Kaiservilla war mein Erbe, das hat der Vater so bestimmt. Bei uns gab es keinen Streit um das Erbe.“ Ich frage Markus, ob er die Unterstützung seiner Brüder genießt. Er überlegt und antwortet: „Ja. Sagen wir, das kam immer wieder in Gesprächen zum Vorschein. Durch Geld unterstützt haben sie mich nicht. Ich bin nicht schlecht drauf, man hat aber bei einem solchen Besitz sehr viele Aufgaben und viel zu tun. Da ist auch die Liquidität nicht immer so, wie man sie haben möchte. Meine Einnahmen, könnte man sagen, kommen von Vermietungen und Verpachtungen. Man hat eine sogenannte Betriebsgesellschaft, ich bin Gesellschafter. Ob man es ganz richtig macht, das weiß man nicht. Man kann nicht immer auf der Bühne stehen und nur die 229

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fruchtige Seite nehmen. Natürlich ist das kein Bühnenleben, aber gelegentlich muss man diese Seite wahrnehmen.“ Ich halte fest, dass die Belastung für ihn bei der Verwaltung der Kaiservilla groß sein muss. Markus stimmt zu: „Das kann man durchaus so sehen. Die Leute beobachten einen. Man kommt aber auch manchmal ins Schimpfen.“ Ich erzähle Markus von einem Bekannten, der mir berichtet hat, dass er während eines schneereichen Winters zur Kaiservilla gestapft wäre und dort einen freundlichen Herr getroffen habe, der gerade beim Schneeschaufeln war. Er habe ihn um eine Auskunft gebeten. Dabei habe sich herausgestellt, dass dieser nette Schneeschaufler Markus gewesen wäre. Markus lächelt und sagt: „ Ja, das sind Winterbegegnungen. Es kann schon sein, dass man bei einer tatkräftigen Handlung entdeckt wird. Aber man kann nicht dauernd den Gärtner machen, sonst sagen die Leute, man sei ein Gärtner. Aber sicher ist es gut, wenn man hin und wieder etwas leistet.“ Über seine Position in der Kaiservilla sinniert Markus weiter: „Ich verstand mich immer als Direktor der Kaiservilla. Mit höherem Alter sieht man vielleicht mehr das Soziologische, dass man der Urenkel vom Kaiser ist, und versucht, ein bisschen modern zu sein, mit der Zeit zu gehen. Sprachlich, in der Ausdrucksweise, bin ich sicher nicht sehr modern. Höflichkeiten sind für viele Leute oberflächliche Floskeln.“ Markus legt Wert auf höfliche Begegnungen, er ist auch ein höflicher Herr. Ich rate ihm: „Ändere dich ja nicht, du musst bleiben, wie du bist!“ Markus geht auf den Kontakt zu den Besuchern der Kaiservilla ein: „Interessant ist, wenn ich mich im eigenen Haus unter die Leute begebe und schaue, ob sie bemerken, wer man ist. Also auf Deutsch gesagt, die Leute wissen nicht, wer der Eigentümer ist. Wenn man jetzt plötzlich dasteht und sie merken, wer ich bin, können sie es nicht fassen, dass der Urenkel des Kaisers plötzlich vor ihnen steht.“ Markus lacht und denkt über eine Typologie der Besucher nach: „Die einen sind sehr wach, wenn sie draufkommen, wer ich bin, das sieht man an den Augen. Die anderen sind zurückhaltend, aber respektvoll.“ 230

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Ich will nun wissen, in welchem Raum in der Kaiservilla die Kriegserklärung vor dem Ersten Weltkrieg unterschrieben wurde. Markus erklärt: „Im ersten Stock im rechten Flügel der Villa, dort, wo der Kaiser geschlafen hat, wurde die Kriegserklärung unterschrieben. Du hast auch im rechten Flügel damals übernachtet, jedoch im Parterre, dort, wo mein Vater als Enkelkind des Kaisers im Sommer gewohnt hat, während der Jahre 1895 bis 1913.“ Ich weise Markus darauf hin, dass in der Kaiservilla auch ein Schotte, Dr. James Wilkie ist sein Name, genächtigt habe. Ich habe diesen Herrn, der freundschaftlich mit der Frau von Markus verbunden ist, später einmal kennengelernt und er erzählte mir von der Kaiservilla. Markus schätzt diesen Gast: „Dr. Wilkie ist als interessanter Gast von der Familie beurteilt worden, daher darf er immer wieder kommen und hier übernachten. Er war Journalist im Bundeskanzleramt und zuständig für die Redaktion der Zeitschrift ‚Austria Today‘. Für das Außenministerium hat er auch einiges geschrieben. Seine Frau hat ihm gesagt, als sie nach Wien kamen, sie wolle in Wien bleiben, so blieb er. Der Kontakt zu diesen Leuten entstand durch meine Frau.“ Wir kommen zurück auf die erste Zeit von Markus in der Kaiservilla, er führt aus: „Als ich 1974 in die Kaiservilla kam, war es für mich nicht immer einfach, weil man manchmal die Konfrontation spürte mit dem Hause Habsburg und mit dem Kaiser. In der Ortschaft spricht sich alles herum. Es war damals auch eine äußerst beengende Situation für mich, nämlich meine Finanzlage. Wenn man im Schloss wohnt, wird erwartet, dass man in den Fingern mehr hat, also dass man Geld hat. Durch elf Jahre musste ich einen Erbausgleich bewirken. Das heißt, dass die Geschwister das bekommen, was ihnen durch das Erbe zustand. Es ging um einen finanziellen Ausgleich, damit der andere, der weniger bekommen hat, nicht im Nachteil ist. Ich musste also zahlen.“

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Die Frau aus altem Bauernadel Eine gute Kameradin vor allem bei Aktionen in der Kaiservilla ist Markus seine Frau Hilde, eine hübsche Dame, die ich vor einiger Zeit kennenlernen durfte. Mag. Hilde Jungmayr stammt aus einer wohlhabenden Bauernfamilie aus Alkoven an der Donau. Sie hat in Wien studiert und ist gelernte Mittelschullehrerin, übt ihren Beruf aber nicht mehr aus. Sie kümmert sich um die drei gemeinsamen, schon erwachsenen Kinder und um die Verwaltung der Kaiservilla. Ihre Vorfahren dürften beim großen oberösterreichischen Bauernkrieg 1626 auf der Seite des Bauernführers Stephan Fadinger gekämpft haben. Dieser Krieg richtete sich letztlich gegen den Kaiser aus dem Hause Habsburg, man kämpfte für Freiheit und Menschenrechte. Im Sinne des Kaisers wurde dieser Bauernkrieg blutig niedergeschlagen. Die Frau von Markus kann also auf eine verwegene oberösterreichische Bauerntradition zurückblicken. Bei den Kindern der beiden verbindet sich rebellisches bäuerliches Blut mit altem kaiserlichem Blut. Mich interessiert, wie Markus seine Frau kennengelernt hat. Er erzählt: „Bei einer Hochzeit in Oberösterreich habe ich sie getroffen, sie war dort sehr lebhaft. Sie kommt aus einer Familie, bei der man das Gefühl hat, dass dort gutes Familienleben existiert und man ein gewisses Standesbewusstsein hat. Ich habe mich in der Familie auch gleich wohlgefühlt. Man hat gedacht, dass passt irgendwie zusammen: Land und Land. Wenn man eine Freundin hat, sollte man bei uns herumfahren von Onkel zu Tante, um sie vorzustellen. Das wurde auch bei mir erwartet. Aber das habe ich gar nicht machen können, weil man beruflich schon engagiert war, sie auch als Lehrerin auf dem Gymnasium in Wien. Sie hat Philosophie, Geschichte und Psychologie unterrichtet. Also Fächer, bei denen man keine schriftlichen Hausaufgaben kontrollieren muss. Natürlich kommt man, wenn man an eine Bindung denkt, ins Zweifeln, nicht so sehr wegen des Standes, sondern wegen des Temperamentes. Sie als erste Tochter eines Bauern, sie durfte daheim immer etwas sagen. Ich aber als 13. Kind sollte zu Hause 232

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lieber nichts sagen, weil da noch zwölf andere etwas sagen wollten. Ich war daher immer mehr der Zurückhaltende.“ Ich füge lachend ein, dass es mir in der Ehe ähnlich gehe. Außerdem sei meine Ehe das größte militärische Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg. Markus lacht herzlich, wir philosophieren über die Ehe. Dem Mann sei zu raten, auf das kommen wir, sich Freiräume zu suchen. Für Betriebe, sowohl für Bauernhöfe als auch für die Kaiservilla, sei es wichtig, dass die Frau eine gute Managerin ist. Die Frau von Markus sei eine solche. Als ich heiter festhalte, dass in seinen Kindern Rebellen und Habsburger sich vereinen, antwortet Markus lächelnd: „Diese Spannung bekommen sie ein bisserl mit, genau haben sie es noch nicht verarbeitet, sie werden das erst in 20, 30 Jahren besser verstehen.“ Am Ende unseres Gesprächs in Linz im Kaffeehaus erklärt mir Markus, er wolle nun mit dem Zug nach Eferding fahren, um seine Frau zu treffen. Was er mir nun erzählt, ist interessant hinsichtlich ihrer bäuerlichen Herkunft: „Mit meiner Frau werde ich dann im Auto zu ihrem Bauernhof fahren, in dem sie heute sauber macht, eine Herbstreinigung durchführt. Auf ihrem Bauernhof hat sie einen Pächter. Meine Frau hat den Bauernhof der Mutter geerbt. Meine Frau besitzt mehr Land als ich, als Einnahme hat sie aber nur die Pacht, das ist nicht so viel. Den anderen Bauernhof bewirtschaftet die Schwägerin. Rinder hat sie keine mehr, ein paar Hühner schon. Aber vor allem Getreide, Mais und Rüben baut sie an. Es hängt alles vom Wetter ab, ob man dabei gut verdient.“ Mich interessiert, ob ihre gemeinsamen Kinder eine Bindung an den Bauernhof der Mutter haben. Markus meint dazu: „Die Kinder sind gerne dort, sie müssen aber erst lernen, wie das ist, auf dem Bauernhof zu leben, weil wir doch mehr in Ischl sind. Ob die Kinder lieber in Bad Ischl sind oder auf dem Bauernhof, wird sich erst herausstellen.“

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Die Brüder und die Jagd Über seine engere Familie, speziell über seine Brüder, schildert Markus: „Ein jüngerer Bruder wollte Holzingenieur werden. Der jüngste Bruder hat Geschichte studiert, er ist Dr. phil. Ein älterer Bruder hat Welthandel studiert, der älteste Bruder Friedrich war Ingenieur. Nach dem Krieg konnte er nicht mehr studieren, weil er gleich in die Forstwirtschaft eingestiegen ist. Er ist leider schon 1999 gestorben. Ein anderer Bruder, Johann heißt er, wohnt in Traunkirchen und hat einen Besitz am Offensee. Er ist Jäger und sehr naturverbunden.“ Die Jagd hatte und hat in der Familie von Markus große Bedeutung, wie überhaupt in der alten Aristokratie. Interessant und etwas ungewöhnlich ist die Beziehung, die Markus zur Jagd hat. Er ist kein Jäger geworden. Ich frage ihn, warum dies so ist. Markus führt aus: „Es ist ein bisserl eigenartig, wenn vier Brüder und ein fünfter auch noch auf die Jagd gehen auf dem väterlichen Gut. Das schaut mir so aus, dass alle jagen müssen und jagen wollen. Ich habe gefunden, eine gewisse Individualität muss mir bleiben. Der Aristokrat ist heute wegen der Jagd wirtschaftlich gefordert, denn er muss sich überlegen, ob er sich die Jagd leisten und selbst jagen kann oder ob er die Jagd an jemanden verpachten will. Wenn er die Jagd verpachtet, ist das für ihn eine Einkunft, die ist zu besteuern. Wenn er die Jagd nicht verpachtet, meint man als junger und unerfahrener Mensch, hat man davon keine Einnahmen und kann auch nicht besteuert werden. Nein, sagt das Steuergesetz. Da es dem Staat Geld bringen würde, wenn er die Jagd verpachtet, wird er auch, wenn er die Jagd privat betreibt, dafür besteuert. Wenn er die Jagd nicht verpachtet, kann er Leute zur Jagd einladen, das ist eine Großzügigkeit. Man kann auch einen Abschuss vergeben.“

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Die Sympathie für Wilderer und Rebellen Die Kaiservilla, in der Markus mit Familie wohnt, ist Zeugnis für die Jagdleidenschaft seines Urgroßvaters Franz Joseph. Markus ist also dauernd mit dem Phänomen Jagd konfrontiert, schließlich ist die Kaiservilla voll von Geweihen und Krickerln. Spannend ist seine Sympathie für unser Wilderermuseum in St. Pankraz, dem er Geweihe aus der Kaiservilla zukommen hat lassen. Ich frage ihn, wie es dazu gekommen ist, dass er für Wildschützen Verständnis zu haben scheint. Markus meint: „Bei so vielen Krickerln und Geweihen in der Kaiservilla denkt man, wo sind die Grenzen für den Jäger und ab wann wird der Jäger sozusagen ein Wilderer, wenn er so viel schießt, wie er will und kann. Dem Kaiser waren alle Staatsforste offen, eine ganze Organisation der Jagd konnte er sich leisten, sie stand ihm jederzeit zur Verfügung. Die Frage ist, ab wann beginnt seine Leidenschaft und ab wann geht es nur mehr um das Schießen? Franz Joseph hat über 2.000 Gämsen geschossen, 1.000 Hirsche, aber nicht so viel wie zum Beispiel Franz Ferdinand oder die ostdeutschen Diktatoren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die haben grenzenlos alles geschossen.“ Dieses regelrechte Abknallen des Wildes, wie es manchmal typisch für die alte Aristokratie war, ist nicht im Sinne von Markus, der der Jagd eher skeptisch gegenübersteht. Er freut sich daher, unser Wilderermuseum bereichert zu haben: „Zunächst freut es mich, wenn nicht so viele Krickerln zum Abstauben sind in der Kaiservilla. Außerdem sollen diese im Wilderermuseum ein bisschen an den Kaiser erinnern. Es gibt ja die Frage: Wo ist der Kaiser Wilderer und wo ist er Jäger? Diese soll durch die Krickerln im Museum stimuliert werden. Das Wildern ist zu verstehen, da im Salzkammergut so viel Wald Staatsforst war, der dem Kaiser zugeordnet war. Den einfachen Leuten im Salzkammergut war es natürlich egal, wie der Kaiser geheißen hat, ob Franz Joseph, Karl oder Ferdinand, sie haben nur gewusst, dass das Jagdgebiet dem Kaiser gehört. Überall, wohin sie gegangen sind, hat man gesagt, der und der Wald gehöre dem Kaiser. Überall darf der Kaiser schie235

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ßen, nicht aber der Bauer und Arbeiter. Man muss verstehen, dass der Reizfaktor zum Wildern ein sehr großer war. Man war auch stolz, dem Kaiser etwas wegzuschießen.“ Die Oberösterreicher waren schon seit jeher Rebellen, nicht nur als Wilderer, sondern auch als Bauern. Im 16. Jahrhundert wurden sie evangelisch, weil sie sich von der katholischen Kirche und dem Kaiser unterdrückt und ausgebeutet sahen. Nachfahren dieser Bauern, die sich weigerten, die katholische Religion anzunehmen, wurden mit Gewalt nach Siebenbürgen verbannt, wo sie wegen ihrer Herkunft als Landler bezeichnet wurden. Markus Habsburg sympathisiert offensichtlich mit diesen altösterreichischen Landlern, vielleicht weil deren Vorfahren einen ehrlichen Kampf gegen seine kaiserlichen Vorfahren geführt haben. Er hatte sogar einmal die Absicht geäußert, mich bei meinem Forschungsaufenthalt – ich fahre regelmäßig mit Studenten der Universität Wien zu den Landlern, um die alte Bauernwelt zu studieren – zu begleiten. Markus bestärkt mich in meinen Überlegungen: „Die Bauern im 17. Jahrhundert waren sehr mutig, da sie zu ihrer evangelischen Religion gestanden sind. Zu seiner Religion zu stehen, ist auch heute eine schwierige Sache.“ Als ich behaupte, dass auch die Vorfahren der Frau von Markus rebellische Bauern gewesen sein könnten, die tapfer gegen Graf Herberstorff, der den Bauernkrieg 1626 niedergeschlagen hat, gekämpft haben, antwortet Markus: „Der Bauernaufstand ist für mich ein sehr interessantes Thema beim Problemlösen zu Hause. Wenn meine Frau etwas streng ist, da schaltet sich mein Hinterkopf ein und sagt: Halt, da ist jetzt ein Bauernkrieg entstanden.“ Markus lacht freundlich. Er versucht, das Handeln des Habsburger Kaisers etwas zu mildern, indem er meint, dass Graf Herberstorff bei der Niederschlagung des Bauernaufstandes möglicherweise darum besonders brutal vorgegangen ist, um dem Kaiser zu imponieren. Seine Untaten, als er die Bauern aufhängen ließ, bezeichnet Markus klug als „Grenzgänge des Kampfes“. Ich halte noch fest, dass manche Habsburger, wie eben Maria Theresia, nicht zimperlich waren bei der Verbannung von Leuten, die ihren Vorstellungen widersprachen. Dazu gehören die 236

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Landler, aber auch die Dirnen, die auf Wunsch von Maria Theresia mit dem sogenannten Temeswarer Wasserschub auf Schiffen in das Banat gebracht wurden, ebenso wie die Wildschützen.

Prinzessin Rosemary Salm-Salm – die Mutter mit den vielen Kindern Die Mutter von Markus war Rosemary Habsburg-Lothringen. Geboren wurde sie 1904 in Potsdam als Rosemary Friederike Isabella Eleonore Henriette Antonia Prinzessin zu Salm-Salm. Gestorben ist sie 2001 in Schloss Persenbeug, wo sie auch in der Familiengruft bestattet ist. Sie war die Tochter des Erbprinzen Emanuel Alfred zu Salm-Salm und der Erzherzogin Maria Christina von ÖsterreichTeschen. Mütterlicherseits war sie also Habsburgerin. Ihre Vorfahren vom Vater her waren die Fürsten Salm-Salm, deren Fürstentum Salm in Westfalen zu den „Napoleonischen Staaten“ gehörte, das Napoleon als „Protektor“ akzeptiert hat. Dieses Fürstentum wurde 1810 von Frankreich annektiert, im Wiener Kongress 1815 jedoch nicht wiederhergestellt und Preußen zugeteilt. 1926 heiratete Rosemary Hubert Salvator Habsburg-Lothringen, der bis zum Verbot von Adelstiteln in Österreich im Jahr 1919 Erzherzog Hubert Salvator Rainer Maria Joseph Ignatius von Habsburg-Lothringen hieß. Er starb 1971. Markus hat also mehrere Habsburger Wurzeln, auch von der Mutter seiner Mutter her, der Prinzessin. Sie hat von ihren 13 Kindern drei überlebt. Über sie erzählt Markus: „Zu Hause hat die Mutter immer studiert. Sie hat kein Dorfgymnasium erlebt und sie hat kein Internat erlebt. Sie hatte aber Härten erlebt und durch diese gelernt. Ihr Großvater war der Erzherzog Friedrich, ein unbeschreiblich wohlhabender Mann. Es wurde ihm in Tschechien viel weggenommen, auch seine kroatischen Besitzungen sind alle weggefallen. Allein die ungarischen Besitzungen sind ihm nach 1918 noch verblieben. Unsere Besitzungen in Tschechien wurden enteignet, weil wir sozusagen die Kriegsverbrecher waren. Der tschechische Außenminister Schwarzenberg ist tschechischer 237

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Staatsbürger, obwohl er in Österreich aufgewachsen ist. Das haben die Tschechen respektiert. Sie haben seine Bemerkungen zur tschechischen Geschichte für gut befunden. Der Schwarzenberg ist als Typ für viele Österreicher problematisch, weil er gesagt hat, die Beneš-Dekrete – mit denen 1946 der Großteil der Deutschen in der Tschechoslowakei zu Staatsfeinden erklärt und vertrieben wurden – ließen sich nicht mehr abschaffen. Auch in Sachen Atommeiler nördlich des Mühlviertels im tschechischen Temelín sieht er keine Probleme für Österreich. Der Schwarzenberg hat also keine Gebiete verloren, unsere Gebiete hat man enteignet, weil man uns für Kriegsverbrecher gehalten hat. Meine Mutter hat ordentlich an Grund und Boden verloren.“

Die originelle Großmutter Valerie Die Mutter von Markus‘ Vater war Erzherzogin Marie Valerie, eine Tochter von Kaiser Franz Joseph. Diese Großmutter muss eine originelle Dame gewesen sein. Eine Geschichte von ihr bezieht sich auf das vor der Kaiservilla gelegene Ischler Schwimmbad, das Parkbad. „Dieses Bad hat Kaiser Franz Joseph bereits um 1890 für seine Frau Elisabeth errichten lassen. Im Jahr 1924 war es zeitgemäßen Anforderungen angepasst worden. Damals hat die Stadtgemeinde meine Großmutter – nun nicht mehr Erzherzogin, sondern bloß Frau Habsburg-Lothringen – gebeten, das Parkbad erwerben zu dürfen. Man sah es als wichtig an, dass die Menschen in der schwierigen Nachkriegszeit Sport machen können. Das Schwimmen ist nach dem Ersten Weltkrieg sehr propagiert worden. Turnvater Jahn war ja sehr für die sportliche Erziehung, das ist bis in die kleinen Gemeinden durchgesickert. So hat man es nicht für gut gefunden, dass Frau Habsburg da alleine schwimmt und sonst niemand. Die Ischler könnten nur um das Bad herumschleichen. Die Leute hatten kaum Fahrräder oder Motorräder, um an den Wolfgangsee zu fahren, daher wollten sie in Ischl schwimmen gehen. 238

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Meine Großmutter hat das Bad mit dem Vertragspunkt verkauft, dass man es an heißen Tagen um 12 Uhr schließen möge, damit sie eine Stunde alleine schwimmen könne. Um 13 Uhr könne das Bad wieder für die Allgemeinheit geöffnet werden. Diese eine Stunde würde ihr zum Schwimmen genügen. Das war aber nur ein persönliches Recht für sie und nicht für ihre Nachkommen. Es ist nicht verdinglicht worden, wie der Rechtsbegriff heißt. Die Stadt Bad Ischl hat das große Glück gehabt, dass die Großmutter schon 1924, im Verkaufsjahr, gestorben ist. Daher hat sie dieses Recht, alleine zu baden, kaum ausgenützt.“ Die Stadtgemeinde weiß davon und ist so freundlich, die Familie von Markus ohne Eintrittsgeld in das Bad einzulassen. Sie fahren aber lieber zum Wolfgangsee in das Gemeindebad von Strobl zum Schwimmen.

Angebliche Nachfahren von Habsburgern – märchenhafte Stamm­ bäume und Vorfahren Der Mensch ist ein eigentümliches Wesen, er möchte sich als ein würdiges und hoch achtbares Wesen präsentieren oder von der Welt gesehen werden. Eine Möglichkeit, um sich als edel zu zeigen, ist, auf edle Vorfahren oder einen edlen Stammbaum verweisen zu können. Wenn man keinen direkten und durch Taufpapiere und Ähnliches bestätigten Nachweis einer noblen Herkunft hat, so besteht die Möglichkeit, zu behaupten, man selbst oder ein Vorfahre stamme unehelich von feinen Leuten ab. Auch damit ist Markus bisweilen konfrontiert. Er meint dazu sinnierend: „Ich habe schon mindestens fünf Personen kennengelernt, die behaupten, sie seien uneheliche Nachkommen eines Habsburgers. Man kann sich vorstellen, wenn Leute ein Manko in der Herkunft ihrer Familie haben, dass sie sich eine bestimmte Person als Vorfahren wünschen. Es gibt natürlich ein erhöhtes Interesse an bekannten Personen als mögliche Vorfahren. Wenn jemand gut malt, will er vielleicht gerne sagen, er sei der Sohn vom Maler Hundertwasser. Manche Leute in Norwegen behaupten, dass Johann Orth, mein Urgroßonkel 239

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Johann Salvator, der wegen seiner Geliebten seinen Adelstitel aufgegeben hat, ihr Großvater oder Urgroßvater sein soll. Von diesem Johann Orth heißt es offiziell, dass er bei einem Schiffsunglück vor Südamerika umgekommen ist. Manche Norweger meinen nun, dies würde nicht stimmen, tatsächlich sei Johann Orth mit seiner Freundin in Norwegen untergetaucht. Angeblich gab es einen Herrn Alexander Hugo Köhler in Kristiansand, der möglicherweise dieser Johann Orth gewesen sein könnte, er hat vier Töchter gehabt. Diese bzw. ihre Nachkommen behaupten nun, dass Johann Orth ihr Vorfahre sei und sie daher Anrecht auf das Schloss Ort hätten. Dass ein Achtzigjähriger wissen will, wer sein Großvater oder Urgroßvater war, ist ein berechtigtes Interesse.“ Markus versteht die Leute, die meinen, sie würden uneheliche Nachfahren der Habsburger sein, wie eben jene, die sich auf eine Abstammung von Johann Orth berufen. Er führt dazu näher, ergänzend zu bereits Festgestelltem, aus: „Mein Urgroßonkel hat den Namen Johann Orth angenommen, um die Schauspielerin zu heiraten. Es ist möglich, dass er als Segler und Schifffahrer – er hatte das Schiffspatent – irgendwo eine bürgerliche Existenz aufgebaut hat. Wenn er also nicht auf See umgekommen ist, wie es heißt, ist er irgendwo gelandet. Ob er noch einmal seine Identität gewechselt hat – von Habsburg zu Orth und eventuell zu Köhler – ist noch nicht abgeklärt. Aber es gibt Leute, die meinen, sie würden von Herrn Orth abstammen.“ Markus hat Verständnis für Leute, die nach einer noblen Abstammung suchen: „Wie kommt es, dass Leute sich in solche Träume, wonach sie zum Beispiel von den Habsburgern abstammen, hineinversetzen? Menschen macht es offensichtlich Freude, auf die Herkunft von feinen Leuten verweisen zu können.“ Allerdings gibt es Leute, die so etwas nicht wollen, die bewusst jede Abstammung verleugnen oder sie negieren, um sich als einmalig darzutun. Zu diesen charismatischen Leuten gehören Christus, Stalin und Hitler. Markus fügt noch hinzu, dass sich ja die Abstammung von Hochadeligen nachteilig auswirken kann oder konnte, wenn zum Beispiel ein Kaiser oder ein Schah gestürzt wird, es also zu einem Systemwechsel kommt. Es kann 240

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sein, dass Verwandte der gestürzten Regierungschefs die Verwandtschaft mit ihnen verleugnen. Markus meint, auch in der Habsburger Geschichte hätte es solche Fälle gegeben.

Diskussion über Erzherzog Johann und Kaiser Ferdinand Es ist anregend, mit Markus über einige seiner Vorfahren zu sprechen. Ich bringe das Gespräch auf Erzherzog Johann von Österreich, der angeblich viele uneheliche Kinder hatte. Es soll nicht wenige Steirer geben, die glauben, aus diversen Liebschaften des Erzherzogs hervorgegangen zu sein. Zumindest gibt es einige Steirer, die das behaupten. Markus erzählt dazu: „Man weiß dies vielleicht nicht so genau, da muss man das Tagebuch der Anna Plochl lesen. Es gibt auch ein neues Buch über Franz von Meran, das zum 150. Todesjahr von Erzherzog Johann herausgekommen ist. Franz war der Sohn des Erzherzogs, der sieben Jahre nach der Eheschließung mit Anna Plochl geboren wurde. Ob er viel von sozialen Spannungen mitbekommen hat, weiß ich nicht. Ich glaube nicht so sehr, weil die Anna Plochl sehr geschickt die Güter des Erzherzogs verwaltet hat.“ Ich gestatte mir, auf die etwas zwiespältige Rolle des Erzherzogs während der Revolution von 1848 zu verweisen. Damals beklagten sich Studenten in ihrer Zeitung, dem „Studenten-Courier“, dass Erzherzog Johann es mit seiner Anbiederung an das „gewöhnliche Volk“ nicht ernst meinen würde. Obwohl er die Tochter des Postmeisters von Bad Aussee geheiratet hat, war er sehr wohl da­ ran interessiert, dass die alten Vorrechte des Adels aufrechterhalten bleiben. Die Studenten schrieben, wenn der Erzherzog Johann sich wirklich dem einfachen Volk gleichstellen würde, dürfte er sich nicht Johann von Österreich nennen, sondern Johann Österreicher. Er hätte also, wenn er mit dem Volk sympathisiere, seinen Adelstitel aufgeben müssen. Auch gibt es ein Gedicht von Heinrich Heine, in dem er sich über den Erzherzog belustigt und ihn 241

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als Heuchler hinstellt. Heine meint, dass der Erzherzog Deutscher Kaiser werden wollte. Markus hört aufmerksam zu und sagt: „Wahrscheinlich hat er sich im Deutschen Bund eine neue Karriere erhofft, bei der er so agieren kann wie sein älterer Bruder Franz, der Kaiser von Österreich, zur Zeit der Napoleonischen Kriege.“ Vielleicht mag dies ein Grund gewesen sein, dass Erzherzog Johann sich derart für die Steiermark hervortat. Interessant sind die Gedanken von Markus zu Kaiser Ferdinand, dem Vorgänger seines Urgroßvaters Kaiser Franz Joseph. Er musste 1848 während der Revolution des Volkes gegen die Übermacht der Monarchie zurücktreten: „Kaiser Ferdinand hat 1848 im stillen Kämmerlein abgedankt. Die Leute haben gewusst, dass er krank ist. Er hat Epilepsie gehabt. In Wirklichkeit ist er vielleicht nicht wegen der Epilepsie abgesetzt worden, sondern wegen seiner Vorstellung, dass er nicht überall mehr wirken kann. Er hat wohl abgedankt aus Einsicht gegenüber der Familie und aus Einsicht gegenüber dem Staat. Er war kein Machtmensch. Er hat gehandelt aus Rücksicht gegenüber der höhergestellten Familie, das war seine Schwägerin, die Mutter von Kaiser Franz Joseph. Sie war diejenige, die den Erbanspruch der Habsburger für die Monarchie gerettet hat. Ferdinand hatte ja keine Nachkommen, das war sein Problem. Das Königreich Piemont-Sardinien hat dem Kaiser den Krieg gemacht, denn es ist für diejenigen Leute eingetreten, die in der Lombardei gegen Wien waren. Es bestand dort eine gewisse Unruhe, genannt Risorgimento, ‚Wiedergeburt‘ Italiens. Das war nicht eine politische Richtung innerhalb Italiens, sondern innerhalb Norditaliens, eben des Teiles, der von Wien aus regiert wurde. Diese Region war zwar gut verwaltet, aber nicht unter höherer Beteiligung der einheimischen Bevölkerung. Österreich war für die Lombarden eine Art Fremdherrschaft. Das ist die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist: Der Kaiser musste sich den Wienern stellen, die begonnen hatten, gegen ihn zu revoltieren. Nachdem er von Innsbruck, wohin er 1848 wegen der aufständischen Wiener geflohen war, wieder nach Wien zurückgekehrt war, kam es zum Mord an Latour, dem Kriegsminister. Nun ist die Revoluti242

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on eskaliert. Erst jetzt hat der Kaiser verstanden, dass die Revolution ausgebrochen war.“ Markus macht sich also Gedanken über die Geschichte seiner Ahnen während des Jahres 1848, als sein direkter Vorfahre Franz Joseph zum Kaiser wurde.

Der gemeinsame Topfenstrudel und der ­Taschenfeitel – noch einmal die Kaiservilla Bevor wir das Kaffeehaus verlassen, frage ich Markus noch einmal hinsichtlich der Kaiservilla, die sowohl einen Wohnbereich hat, den er mit seiner Familie einnimmt, als auch einen musealen Bereich. Die Kaiservilla ist weitgehend ein Museum, das von Gästen besucht werden kann. Damit ist es nicht so einfach, wie Markus erklärt: „Das ist eine haarige Angelegenheit. Es hängt alles an sehr dünnen Fäden. Die Leute wollen es bei der Besichtigung schön haben. Es soll wer für sie da sein, der das Haus bewohnt. Einerseits bin ich Hüter der Villa, jetzt bin ich Partner, vorher war ich in der Kaiservilla angestellt, bei unserem eigenen Betrieb, einer Gesellschaft. Dann wurde ich Hauptgesellschafter, jetzt bin ich gleichberechtigt mit den anderen Gesellschaftern. Das Land Oberösterreich sieht in uns Unternehmer. Die Verwaltung des Museums machen wir selber, 35 Jahre habe ich es gemacht, mit einer Sekretärin. Die im Museum gezeigten Stücke gehören mir, aber jeder will sie sehen. Man fühlt nicht, dass sie einem gehören. Man fühlt, dass es anderen gehört. Die Leute haben Interesse an Geschichte und Kultur.“ Die Kellnerin kommt und fragt, ob wir noch etwas bestellen wollen. Markus bestellt einen Kaffee, einen kleinen Braunen. Ich bestelle einen Aufguss für den Pfefferminztee und einen Topfenstrudel für uns beide gemeinsam. Markus fällt dazu ein Scherz ein: „Weil du Aufguss sagst, da fällt mir ein Witz ein. Zwei Männer sitzen in der Sauna. Einer der beiden muss sich zum Austreten entfernen. Nun ist der andere alleine. Jetzt kommt der Kollege wieder zurück und fragt: ‚War etwas los, während ich weg war?‘ Sagt der 243

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andere: ‚Ja, es hat das Handy geläutet.‘ ‚Was ist gesagt worden?‘ ‚Ja, sie hat gesagt, dass sie endlich die Kreditkarte gefunden hätte, jetzt könnte sie endlich einen neuen Teppich kaufen. Dann ist sie draufgekommen, dass die Waschmaschine auch kaputt sei und das Auto auch noch zu reparieren. Das hätte sie alles mit der Kreditkarte bezahlt.‘ Jetzt fragt der andere: ‚War das dein Handy oder meines?‘“ Markus bemerkt noch zur Kaiservilla: „Die Kaiservilla bedarf vieler Arbeit. Die Tätigkeit ist sehr personalintensiv. Man braucht Spezialisten für die Hauserhaltung und die künstlerische Bewahrung. Auch Handwerker sind wichtig. Wir bezahlen die Leute aus der Gesellschaft, zu der gehören meine Frau, meine Kinder und ich. Davor war die Verwaltung allein meine Sache. Jetzt ist man nur mehr ein Fünftel, vorher war ich 100 Prozent. Man ist bemüht, das Erbe zu erhalten. Wenn man Zuschüsse bekommt, ist man teilweise froh. Meine Frau bemüht sich sehr darum. Geschick und Verständnis für diesen Beruf muss in allen Familienmitgliedern wachsen.“ Die Kellnerin bringt endlich den bestellten Topfenstrudel, ein Stück für uns beide, auf einem Teller. Ich meine, bei den Bauern früher war es ähnlich, als die um die Schüssel Sitzenden gemeinsam mit der Gabel oder dem Löffel aus einem Teller zulangten. Markus betont bloß: „Sehr gemütlich.“ Ich teile den Strudel mit dem Taschenfeitel und sage, dass das eine Stück ihm gehöre, das andere mir. Markus gefällt der Taschenfeitel. Ich schenke ihm meinen und fotografiere ihn mit diesem. Markus sagt: „Danke, das ist für mich ein sehr schönes Geschenk.“ Ich bitte Markus um eine kleine Münze als Kaufpreis, denn ein Messer dürfe man nicht verschenken, es würde die Freundschaft zerschneiden. Markus gibt mir 5 Cent. Ich bedanke mich. Markus lacht: „Sehr gut.“ Ein Kellner fotografiert uns beide auf meine Bitte hin mit meinem Apparat. Ich bezahle, Markus bedankt sich herzlich, auch ich danke ihm für das Gespräch. Ich füge noch hinzu, dass ich leider kein Geschenk für ihn hätte. Aber Markus hat etwas für mich mit, wie er sagt. Ich meine, dies wäre mir unangenehm. Markus antwortet: „Das soll dir nicht unangenehm sein.“ Markus überreicht mir eine Flasche Kaiserwein von der Kaiservilla. Ich bin überrascht und geehrt 244

7. Der Herr der Villa – Markus Habsburg Abb. 7: Markus Habsburg an Kaisers Geburtstag 2010. Foto: Peter Janisch. .

und freue mich über seine Aufmerksamkeit. Markus betont: „Du kannst wieder, wenn du willst, zu uns in die Kaiservilla kommen.“ Ich meine, ich wolle mich nicht aufdrängen, erinnere mich gerne an die Stunden bei ihm. Markus will mich zu einem Konzert in die Kaiservilla einladen und fügt hinzu: „Du bleibst bei uns zum Übernachten.“ Ich freue mich, kann aber die Einladung nicht annehmen, da ich bereits etwas anderes vorhabe. Eine Biene, die mit meinem Honig – ich hatte ihn für meinen Tee bestellt – in Berührung gekommen ist, kriecht am Boden, sie kann sich nicht in die Luft erheben, da an den Flügeln Honig klebt. Ich betätige mich nun als Bienenretter. Gieße sorgsam klares Wasser, das mir Markus reicht, über die Biene. Dies scheint ihr zu helfen. Markus bemerkt freudig: „Jetzt ist die Biene schon ganz gut unterwegs. Sie ist genügend geduscht, sie läuft schon leichter.“ Ich trage die Biene auf einem Löffel vorsichtig in das Gebüsch, wo sie, wenn sie trocken ist, hoffentlich fliegen kann. Markus kommentiert meine Rettungsaktion: „Wunderbar. Die Biene muss jetzt fliegen lernen.“ 245

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Das Treffen mit Ederl, dem früheren Bordellbesitzer Ich telefoniere vom Kaffeehaus aus mit Ederl, meinem alten Freund vom Krankenhaus her, Bordellbesitzer und jetzt Bauer im Mühlviertel, dem auch ein Kapitel in diesem Buch gewidmet ist. Er ist zufällig in Linz und wir werden uns im Café am Bahnhof treffen. Markus wird dabei sein, er hat nichts dagegen. Ihn dürfte der alte Zuhälter und jetzige Grundbesitzer interessieren. Markus und ich wandern zum Bahnhof und betreten das obere Café, links vom Haupteingang. Ederl sitzt alleine an einem Fenstertisch. Seine Freundin Ingrid ist noch nicht da. Ich begrüße Ederl freudig und mache ihn mit Markus bekannt. Der alte Herr des Straßenstrichs hat gute Manieren. Ederl dürfte imponieren, dass Markus der Urenkel des Kaisers ist. Ich habe das Gefühl, die beiden verstehen sich. Ich möchte diese beiden Herren, die aus vollkommen unterschiedlichen sozialen Schichten kommen, zusammenbringen. Beiden dürfte diese Idee von mir gefallen. Ederl lädt uns auf Getränke und Essen ein. Ich trinke einen naturtrüben Apfelsaft, Markus bestellt Tee und ein Brot mit Mozzarella und Paradeisern. Als die Kellnerin das Brot bringt, fragt sie, ob er Messer und Gabel dazu benötige. Er antwortet ihr freundlich, er könne das Brot nicht anders essen. Als ich Ederl nach ein paar Tagen anrufe, meinte er, diese Geste von Markus Habsburg habe ihm gefallen, sie würde auf seine noble Erziehung oder Lebensart hinweisen. Die beiden reden über Grund und Boden und schimpfen über das Finanzamt. Er sei vom Sternbild her ein Stier, im Mai sei er geboren worden, hält Ederl im Gespräch fest. Ich meine heiter, da könnten wir gemeinsam feiern, da ich am 31. Mai geboren wurde. Ederl erzählt einiges aus seinem Leben, auch davon, dass er einmal Eisenmasten zu reinigen hatte. Wie Markus „Eisen“ hört, erwähnt er: „Wir haben für die Kaiservilla Eisen im Wert von 15 bis 18 Autos ausgegeben: für die Brücke, die zwei Eisenpavillons, das Gestänge vor der Villa und die 16 Kandelaber. Meine Frau versucht mir beizubringen, dass der Vater Staat zuerst drei Viertel der Kosten als Zuschuss bei der Reno246

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vierung zahlen soll, und erst dann sollten wir mit dem Renovieren beginnen. Das ist ein frommer Mutterglaube, ich erkläre ihr, dass der Staat erst 20 Prozent gibt, wenn alles so gemacht wird, wie das Denkmalamt es sich vorstellt. Es bleibt nichts anderes übrig, dafür hat man die Villa für die nächsten 150 Jahre restauriert.“ Über moderne Renovierungen von schönen baulichen Objekten sagt Markus: „Zum Beispiel in Wien beim Redoutensaal, in dem der Wiener Kongress stattgefunden hat. Beim Brand dieses Saales haben sie nicht ein Bild in den Zeitungen gezeigt, wie dieser Saal davor ausgesehen hat. Dann hat der Professor M. rote Flecken und eine rote Decke machen dürfen, auf dass die Kongressteilnehmer, das ist meine Sprache, nicht mehr gähnen mussten vor lauter Kunst, weil alles rot angestrichen ist.“ Ederl gefällt die heitere Ausdrucksweise von Markus, der weiter fortfährt: „Und die acht Kristallluster, die vorher den Raum lebendig machten, wurden nicht mehr renoviert oder durch gleichwertige ersetzt. Darüber hat sich niemand aufgeregt. In einem Kunstbuch einer Dame, es ist aus dem letzten Krieg, habe ich ein altes Bild vom Redoutensaal gefunden mit Stuckatur und Lustern. Dieses Foto wurde in der Presse nicht gezeigt. Der Professor M. hat für seine roten Malereien viel Geld erhalten.“ Markus ärgert sich über die Geschäftemacherei moderner Künstler. Ederl stimmt ihm zu. Ederl erzählt einiges aus seinem Leben, vor allem aus seiner Jugend (siehe dazu das Kapitel über ihn). Wir kommen ganz allgemein auf Vereine zu sprechen. Ich frage Markus, ob er in Bad Ischl einem Verein angehöre. Er nickt: „Ich bin nur in einem Verein, aber nicht bei der Feuerwehr. Ich bin beim Männergesangsverein. Dort singe ich seit ungefähr vier Jahren. Es ist sehr schwierig dort für mich, nicht nur das Singen – ich habe nicht die beste Stimme.“ Ederl ist angetan vom noblen Markus. Er freut sich, ihn kennengelernt zu haben. Wir sitzen noch eine Zeit beieinander. Später meint Ederl über Markus zu mir, der Mann stehe mit beiden Füßen auf der Erde. Ich verabschiede mich herzlich von Ederl und mit einem Handkuss von Ingrid, die doch noch gekommen ist. Ederl umarmt mich freundschaftlich. Auch von Markus verab247

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schieden sich beide galant. Markus begleitet mich zum Zug nach Spital am Pyhrn. Er selbst besteigt den Zug nach Bad Ischl. Ich bedanke mich sehr bei ihm, dass er sich heute Zeit genommen hat für mich.

Eine kleine Theorie der feinen und allerfeinsten Leute Ich habe den Menschen einmal als „animal ambitiosum“ bezeichnet, nämlich als ein Wesen, das nach Beifall heischt. Der Mensch – hierin liegt der Unterschied zum Tier – schafft Symbole, wie eine feine Kleidung, einen noblen Namen, eine herausragende Behausung und Ähnliches, um anderen klarzumachen, dass er ein würdiges Individuum ist. Hat nun jemand zum Beispiel keinen würdigen Namen, so besteht die Möglichkeit, sich von einem adeligen Zeitgenossen adoptieren zu lassen oder einen würdigen Menschen zu heiraten. Ich weiß von einer Dame, die den netten Geburtsnamen Zitzerl hat. Inzwischen ist die Dame eine bekannte Professorin und heißt von R., da sie das Glück hatte, von einem Herrn von R. geheiratet worden zu sein. Eine besondere Vornehmheit zeigt sich schließlich darin, dass der feine Mensch eine noble Distanz zur körperlichen Arbeit hat. Hierin ähneln sich adelige Herrschaften und große Ganoven. Wenn der feine Mensch dennoch körperlich arbeitet, so darf diese Arbeit nicht dem Broterwerb dienen, sie muss in gewisser Weise sinnlos sein. Daher war der Sport zunächst bloß eine Sache feiner Leute. Eine besonders noble körperliche Betätigung ist die Jagd. Aristokratische Jäger bemühten sich daher sehr lange, den Bauern von der Jagd fernzuhalten. Hierin liegen unter anderem die Gründe für die Bauernkriege. Besondere Spezialisten im Jagen waren traditionell die Kaiser, man denke vor allem an Kaiser Maximilian. Ein großer Jäger war auch Kaiser Franz Joseph, dessen Jagdschloss sowohl die Freude an der Jagd als auch noble Distanz zum übrigen Volk demonstriert. Die Kaiservilla erinnert schließlich auch an alte 248

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griechische Tempel. Im Tympanon über dem Eingang sind jedoch keine Götter, sondern Gämsen zu sehen. Die Gams war dem Kaiser heilig, denn um eine zu schießen, musste man hinauf auf luftige Höhen. Die „heilige“ Gams gibt der Kaiservilla den Anschein des Tempels der Artemis, der griechischen Göttin der Jagd. Markus Habsburg, der meine Sympathie genießt, hat sich in sehr nobler Weise mit seinem Erbe befasst. Bei ihm zeigt sich ein interessantes Phänomen, dass eine ererbte Noblesse, zu der vor allem der Name gehört, eine Belastung sein kann. So empfand es Markus gerade in der Schule als unangenehm, dass er immer wieder nach seiner Abstammung gefragt wurde. Er meinte daher zu mir, dass er es als nicht gerade freundlich empfunden habe, als Habsburger immer wieder auf seine Vorfahren angesprochen zu werden. Er sah darin geradezu eine Ungerechtigkeit, denn er frage auch niemanden nach seiner Herkunft. Interessant ist auch das Phänomen, dass bisweilen Leute auftauchen und zur Verwunderung von Markus meinen, sie wären uneheliche Nachfahren eines Habsburgers, nur direkt nachweisen könnten sie es nicht.  

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8. Rotlichtkönig und Bauer – Ederl Höbaus Vorgeschichte – der Unfall – im Allgemeinen Krankenhaus – Ederl im Himmel Mein erstes Studium an der Wiener Universität war Rechtswissenschaft. Fast wäre ich ein Jurist geworden, doch das Schicksal wollte es anders. Ich stand vor der dritten und letzten Staatsprüfung. Ich war bereits verheiratet und alle meine Verwandten hofften, ich würde bald das Studium beenden, um für die Familie, mein Sohn war auch bereits auf der Welt, sorgen zu können. Der Druck war groß, daher lernte ich viel für diese letzte Prüfung. Doch knapp davor, es war im Oktober 1966, schoss mich auf dem Motorroller ein Mercedes ab. Ungefähr 30 Meter wurde ich mitgeschleift. Durch Glück überlebte ich ohne Kopfverletzung, obwohl ich keinen Sturzhelm trug. Mehr tot als lebendig wurde ich in das Wiener Allgemeine Krankenhaus eingeliefert. In den ersten Tagen schwebte ich zwischen Leben und Tod, denn durch die Knochenbrüche war es zu einer Fettembolie gekommen, die ich Gott sei Dank überlebt habe. Vier Monate lag ich dort in einem großen Saal, in dem ungefähr 25 Männer untergebracht waren. Damals gab es noch drei Klassen im Krankenhaus. Ich lag mit meiner Studentenkrankenversicherung in der dritten Klasse. Mein mehrfach gebrochenes Bein wurde fixiert und an Gewichten „aufgehängt“. Ich konnte mich also kaum rühren und schon gar nicht aufstehen. Neben mir kam ein Mann zu liegen, der bei einer Rauferei einen Herzstich erlitten hatte. Er war, wie ich erfuhr, ein Zuhälter am Beginn seiner Karriere. Beide waren wir wegen unseres schlechten Zustandes ein paar Tage in der Intensivstation des Allgemeinen Krankenhauses, das auch die Universitätsklinik war. Ich erinnere mich, wie ich nach meiner Bewusstlosigkeit auf einem Operationstisch aufwachte, wie die Operationsschwester zu einem Arzt über 250

8. Rotlichtkönig und Bauer – Ederl Höbaus

meine Beine, die vom vielen Baden in der Lobau eine gute Farbe hatten, sagte: „Hat er schöne braune Beine.“ Der Arzt antwortete darauf: „Er hat sie sich nicht gewaschen.“ Darauf fiel ich wieder in Bewusstlosigkeit. Auch Ederl hatte, nachdem er wegen des Herzstiches operiert worden war, sein Erlebnis. Er erzählte mir, wie er aufwachte, merkte er, wie jemand ihn streichelte und leise sagte: „Es wird alles gut werden.“ Um ihn herum standen seine Freunde in weißen Mänteln und mit Mundschutz und schauten ihn an. Ederl meinte nun, er sei im Himmel, und dachte, es gibt den Himmel also doch. Dem war aber nicht so.

Die Erinnerung des Arztes Dr. Helmuth Amsüss Einer der jungen Ärzte, der uns 1966 im Allgemeinen Krankenhaus behandelte, war Herr Dr. Helmuth Amsüss, der spätere Primar des Krankenhauses Mürzzuschlag. Er hatte gleich meine Sympathie; Ederl und ich verstanden uns großartig mit ihm. Mitunter begleitete er den damaligen Vorstand der „Chirurgie“, Herrn Professor Paul Fuchsig, durch die Krankensäle und klärte ihn über die Situation der Patienten auf. Ich erinnere mich, dass Herr Professor Fuchsig einmal fragte, welchen Beruf der neben mir liegende Ederl habe. Herr Dr. Amsüss antwortete bloß „Imker“, womit er wohl sagen wollte, dass Ederl ein Zuhälter sei, der „Bienen“, also Mädchen, laufen lasse. Jahre später traf ich Dr. Amsüss wieder. Ich freute mich sehr darüber, denn immerhin gehört er zu einem wesentlichen Teil meines Lebens. Es entwickelte sich zwischen uns eine schöne Freundschaft. Auch lernte ich seine liebenswürdige Frau Gemahlin Dr. Linda Amsüss kennen, die nicht nur Ärztin, sondern auch Literatin ist. Auf meine Bitte hin schrieb Helmuth seine Erinnerung an uns beide auf. Es ist ein spannender Text, denn im ersten Teil geht er auf die damaligen Zustände im Wiener Allgemeinen Krankenhaus ein. „Es war vor langer, langer Zeit, eine 40-Stunden-Arbeitswoche gab es nicht einmal in den Träumen von Gewerkschaftern, als ich nach jahrelanger Tätigkeit am Anatomischen Institut im August 251

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1966 in die I. Chirurgische Universitätsklinik Wien wechselte. Nach einem Jahr Ausbildung in allgemeiner Chirurgie kam es für uns junge Ärzte zum ‚Fronteinsatz‘ an die damalige Unfallstation. Fronteinsatz hieß: Jeden ungeraden Tag Dienst von 07:45 bis zum Mittag des folgenden Tages. Es gab damals sogenannte I. und II. Kliniken: I. Chirurgische, II. Chirurgische, I. und II. Augenklinik usw. Um den Portieren, die in der Nacht nicht nur Wächter, sondern vor allem Auskunftspersonen waren, das Nachdenken zu erleichtern, hatten die ‚ersten‘ (Kliniken) an ungeraden Tagen, die ‚zweiten‘ (Kliniken) an geraden Tagen Dienst. Die damalige Unfallstation der I. Chirurgie hatte also die ungeraden Tage bekommen, somit sieben Tage mehr Dienst als die zweite, auf das Jahr gerechnet. Dazu kam noch das Schaltjahr mit dem 29. 2. alle vier Jahre dazu. Das bedeutete, am Monatsende hatte man fallweise an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Nachtdienst, was eine Gesamtstundenzahl von 52 Stunden ununterbrochener Dienstzeit bedeutete. Dies wurde nur überboten vom sogenannten 6-Wochen-Dienst im Sommer, wenn die Parallelklinik Urlaub machte. Es waren damit sechs Wochen Dauerdienst programmiert, der in der untersten Ebene fünf Kollegen und einen ‚Assistenten‘ betraf. Einer war als Hauptdienst eingeteilt, er saß zwölf Stunden am Schreibtisch. Ihm oblagen neben der Patientenleitung die Erstuntersuchung, Röntgenbildbefundung, Diagnose und Therapieeinleitung. Die nächsten zwölf Stunden wurden ähnlich vom Nachtdienst wahrgenommen. Die anderen drei Kollegen teilten den Dienst im Operationssaal, im Gipszimmer und in den Ambulanzen. Vollbetrieb war meistens bis Mitternacht, dann gab es fallweise Pausen, die zum Schlafen genutzt wurden. Dabei war der ‚Komfort‘ der Stiege 27 legendär. Der Beidienst suchte gleich in der Ambulanz eine Schlafstätte, meistens ein ‚Wagerl‘, auf welchem auch die Betrunkenen ausgenüchtert wurden. Die anderen zogen sich auf das Dienstzimmer zurück, das ausgestattet war mit einem kalten gusseisernen Ofen, einer Waschschüssel, einem Krug mit kaltem Wasser und einem Kübel für Abwasser. Vier Betten waren vorhanden, von einer Qualität, die die Wirbelsäule nur deshalb aushielt, weil die Schlafenszeit ohnehin 252

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Abb. 8: Eduard (Ederl) Höbaus nach dem Herzstich im Allgemeinen Krankenhaus in Wien 1966.

höchstens vier bis fünf Stunden war. Wer frische Bettwäsche wollte, musste sich eine solche aus der Ambulanz mitnehmen, es handelte sich dabei um blaue Tücher zum Überziehen von Wagerln und OP-Tischen. Fast hätte ich das leidige Telefon vergessen: Ein Anruf weckte immer alle vier Zimmergenossen auf, auch wenn nur einer als Verstärkung vom Nachthauptdienst gebraucht wurde. Nach sechs Wochen Dauerdienst war die Grenze der Belastbarkeit der Physis auch bei jungen Männern erreicht und der anschließende Urlaub war wohlverdient. Und dann waren da noch die Stationen 42, 81 und 82. Diese mussten schnell in der Früh zwischen Morgenbesprechung und den ersten Patienten versorgt werden. Das hieß: Spritzen geben, Blut abnehmen, Infusionen anhängen, Verbände und Gipse wechseln oder kontrollieren. Bei unserem Zeitmangel war es klar, dass die armen Schwestern immer hart auf uns warten mussten, uns dann immer wortreich empfingen und damit unsere karge Zeit lange beanspruchten. 253

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In einem Nachtdienst war ein Beschützer der Schönen der Nacht eingeliefert worden, mit einem Herzstich, denn er war fehlerhaft ‚gestupft‘ worden. Stupfen, ein Wort aus der Gaunersprache, meint den nicht tödlichen Denkzettel. In diesem Fall war das Stupfen aber zu weit gegangen und der Patient war in Lebensgefahr. Aber er wurde von seinen Kumpanen nicht im Stich gelassen, sie brachten ihn zu unserer Eingangstüre, läuteten und liefen davon, als die Ambulanzschwester öffnete. Der Patient fiel ihr kraftlos in die Arme. Es gab in diesem Milieu damals noch ein Ehrgefühl, denn man ließ den Verletzten nicht einfach liegen. Er konnte durch die sofortige Operation gerettet werden. Er überlebte und lag nun auf Zimmer 82, gemeinsam mit etwa 24 anderen Patienten. Ein bemerkenswerter junger Mann, ein Jusstudent, belegte wegen eines Unterschenkelbruches, der damals noch mit Extension und anschließendem Oberschenkelgips behandelt wurde, das Nachbarbett. Von den Schwestern hatte ich schon gehört, wie sehr dieser sie forderte mit seiner Wissbegierde. Auch mich verwickelte er gleich in Gespräche und Diskussionen, und trotz der beschränkten Zeit, die ich zur Verfügung hatte, blieb ich gerne bei ihm stehen und interessierte mich für seine Ausführungen. Anfangs hatte ich diese wegen des chronischen Arbeitsdruckes gefürchtet. Damals hatten Vorgesetzte wenig Verständnis dafür, dass man wegen eines Gesprächs mit einem Patienten etwa im Operationssaal zu spät erschien. Der ‚Beschützer‘ im Nachbarbett dominierte das Zimmer, er war auch bei den Schwestern gefürchtet, weil er stets maximale Aufmerksamkeit verlangte. Das Erfreuliche für seine Mitpatienten waren aber die zahlreichen Besuche diverser ‚Damen‘, die sich sehr dankbar zeigten und ihren Beschützer stets mit Delikatessen und allem Luxus so reichlich versorgten, dass auch die Zimmergenossen in hohem Maße daran teilhaben konnten. Damit und auch wegen seiner vielen Talente scheint er auf den jungen Studenten großen Eindruck gemacht zu haben. Mit seinen Begabungen wäre die spätere ‚graue Eminenz‘ des Gürtels in jedem anderen Beruf sicher weit aufgestiegen. Aber auch in seinem gewählten Beruf stieg er die Erfolgsleiter hinauf, wie ich später erfahren sollte. Jedenfalls 254

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entwickelte sich zwischen diesem Mann und dem Jusstudenten eine Freundschaft, die anhalten sollte. Der interessierte Blick in so ein Außenseitermilieu ließ in dem jungen Mann den Entschluss reifen, das trockene Jusstudium zu beenden und sich dem Sozialstudium vor allem der Rand- und benachteiligten Schichten zu widmen. Heute haben wir in Professor Girtler einen höchst erfolgreichen und originellen Soziologen, der es wunderbar versteht, durch seine pointierten Vorträge der breiten Masse sein Wissen und Verständnis zu vermitteln. Die Behandlung der beiden Patienten fand erfreulicherweise ein gutes Ende und so verlor ich sie über Jahrzehnte aus den Augen, bis ein junger Bekannter mich auf seinen Lehrer aufmerksam machte. Bei einer Buchvorstellung in Wiener Neustadt dämmerte mir langsam, dass ich in dem bekannten Professor jenen jungen Studenten von damals vor Augen hatte. Das Wiedersehen nach 35 Jahren gereichte uns beiden zur großen Freude. Wir haben uns seither oft gesehen, sein Vortrag in meinem Klub ist Legende. Es berührt mich, dass ich Zeuge eines entscheidenden Wendepunktes seines Lebens sein konnte.“ Für sein damaliges Bemühen um mich und vor allem für diese Zeilen sei Herrn Dr. Helmuth Amsüss bestens gedankt.

Der junge Zuhälter als Freund Dadurch, dass Ederl und ich monatelang nebeneinander lagen und einander viel zu erzählen hatten, wurden wir Freunde. Er teilte mit mir auch besondere Leckerbissen, die ihm Damen bei ihrem Besuch mitgebracht hatten und die eine angenehme Ergänzung zu der kargen Krankenhauskost darstellten. Jeden Tag erzählte er mir Geschichten vom Wiener Strich und von den Kämpfen um die Vorherrschaft. Ich gewann bald den Eindruck, dass Eduard Höbaus, so hieß der Mann, sehr tüchtig ist. Er wurde regelmäßig von Freunden aus der Unterwelt besucht, aber auch von Kriminalbeamten. Einmal übernahm er im Krankenhaus sogar den Schutz 255

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über mich, als er die Krankenschwester Hermi, die mir gegenüber sehr unfreundlich war, zu sich rief. Sie fragte, was er wolle. Er erwiderte, er nehme, wenn sie sich mir gegenüber weiterhin so böse verhalte, 15 Jahre Gefängnis in Kauf, denn er würde ihr die Urinflasche, die damals noch aus festem Glas war, auf den Kopf hauen. Die Dame war beeindruckt und war fortan freundlich zu mir. Nach vier Monaten wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Die Zeit danach, mein Bein war noch einige Monate eingegipst, konnte ich mich nur mit Krücken fortbewegen. Eines Tages stand Ederl in gutem Anzug vor der Tür und lud mich zu einem Kinobesuch ein. In einem großen amerikanischen Wagen, ich glaube es war ein Rambler, fuhr Ederl mit mir zu einem Kino, lud mich wegen meines eingegipsten Beines zu einer fußfreien Reihe ein. Ich war sehr angetan von diesem Freundschaftsdienst. Durch meinen Freund Ederl erhielt ich schließlich einen guten Einblick in das Leben am Strich, einen Einblick, der mir später bei meinen Forschungen sehr nützlich werden sollte. Jedenfalls fasste ich – zum Entsetzen meiner Verwandten – nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus den Entschluss, mein Jusstudium zu beenden, um Völkerkunde, Urgeschichte und Soziologie, die es damals in der jetzigen Form noch nicht gab, zu studieren. Die im Krankenhaus begonnene Freundschaft zwischen mir und Ederl hatte Bestand. Jeder von uns machte Karriere. Ederl wurde würdiger Besitzer von mehreren Bordellen, ihm gelang es, den Strich in Wien zu kontrollieren, und ich wurde Lehrender und Forscher an der Universität. Jedenfalls war mir Ederl bei meinen Studien in Randkulturen und speziell bei meiner Forschung über Prostitution in Wien behilflich. Dafür bin ich ihm dankbar. Ederl lebt nicht in Wien, sondern mit seiner Gefährtin Ingrid auf einem geschmackvoll umgebauten Bauernhof in Oberösterreich, denn er wollte als Kind immer Bauer werden. Auf seinen Wiesen weiden Hochlandrinder und Pferde. Sogar Hühner hat er.

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Zugang Zumindest einmal im Jahr bin ich Gast bei Ederl und seiner Gefährtin Ingrid, einer liebenswürdigen Dame, auf seinem schönen Mühlviertler Bauernhof. Bei meinem Besuch im Sommer 2010 unterbreitete ich ihm die Idee, über ihn als meinen Freund einen Artikel für das vorliegende Buch zu verfassen. Zunächst stand er meiner Idee skeptisch gegenüber, schließlich hatte er doch nichts dagegen, dass ich über ihn etwas schreibe. Allerdings wollte er mir kein Interview auf Tonband geben, dies erinnere ihn an Verhöre bei der Polizei, außerdem könne man ihm aus einzelnen Bemerkungen eventuell einen Strick drehen. Ich könne jedoch aus meinen Erinnerungen und aufgrund von Zeitungsberichten, die über ihn verfasst wurden, etwas schreiben. Dies tat ich auch. Die nächsten Kapitel bauen also auf Ederls Erzählungen auf, die ich bestmöglich wiederzugeben versuche, aber auch auf meinen eigenen Erlebnissen, und schließlich auf Berichten in Zeitschriften.

Die ersten Jahre – im Männerwohnheim – als Sandler am Südbahnhof Geboren wurde Edi am 16. Mai 1943 in Wiener Neustadt. Sein Vater war Ungar und seine Mutter Italienerin. Edi war staatenlos, deswegen hatte er später einige Probleme. Er besaß einen Pass für Staatenlose, der ihm von der Polizei abgenommen wurde, als man ihn vor ungefähr 30 Jahren nach einigen seiner Unternehmungen am Strich abschieben wollte. Man überlegte, welches Land in Frage käme, Ungarn, das Land des Vaters, oder Italien, das Land der Mutter. Da Ederl zu keinem eine Beziehung hatte, wehrte er sich mit Erfolg gegen eine solche Abschiebung. Einer seiner Anwälte erreichte schließlich, dass ihm, der ja seinen Lebensmittelpunkt in Österreich hatte, die österreichische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. Nun zurück zu Edis jungen Jahren. 257

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Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Als Ederl 14 Jahre alt geworden war, machte er auf Wunsch seiner Mutter eine Lehre, er entschied sich für die des Fleischhackers. Das wäre Edi in den 1950er-Jahren gerne geworden, da er in dieser Zeit oft an Hunger gelitten und er sich von diesem Beruf stets gute Mahlzeiten versprochen hat. Die dreijährige Lehre absolvierte er in einer Fleischhauerei in Mönichkirchen. Doch bald erkannte Edi, dass dieser Beruf nichts für ihn sei, da er ein großer Tierliebhaber ist – und das bis heute. Am Ende seiner Lehrzeit nahm Edi von Mönichkirchen Abschied und zog nach Wien. Da er keine Unterkunft hatte und auch niemanden kannte, an den er sich wenden konnte, suchte er im Männerwohnheim in der Wurlitzergasse Quartier. Die Unterkunft war erbärmlich, entweder schlief man gegen etwas Geld in Kabinen, die allerdings nicht abzusperren waren, oder man lag für wenig Geld in einem großen Saal. Geld erwarb Edi sich durch Gelegenheitsarbeiten am Südbahnhof, zum Beispiel half er beim Kohlenausladen. Der Südbahnhof wird für Edi ein wichtiger Standort. Hier trifft er auf Menschen, die ähnliche Probleme wie er haben, nämlich Leute, die zum Sandler wurden, die in den Tag hinein lebten und durch Betteln zu Geld zu kommen hofften. Ein guter Trick dabei war, jemanden um Geld zu bitten, da man den Fahrschein oder die Fahrkarte verloren und kein Geld habe. Man würde das Geld wieder zurückzahlen. Ein guter und alter Trick war auch, darauf hinzuweisen, dass man ein armer Haftentlassener sei, der etwas Geld für Essen und Unterkunft brauche. Solche Tricks werden auch heute noch erfolgreich angewendet. Man kann gut dabei verdienen, meint Edi. Einige der Sandler lieferten Edi einen Teil des erbettelten Geldes ab, dafür bot er ihnen seinen Schutz an.

Ederl wird zum Zuhälter und Bordellbesitzer Neben dem Männerwohnheim war eine heruntergekommene Bar, in der sich Sandler, Zuhälter und anderes Volk herumtrieben. Ein258

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mal kam Edi in Streit mit einem Zuhälter, den er – kräftig ist Edi seit seiner Jugend – zu Boden schlug. Daraufhin erhob sich ein Mädchen, es war die „Alte“, also die Dirne dieses Mannes, und meinte zu Edi, es gefalle ihr, dass er ihren Zuhälter niedergeschlagen habe. Jetzt würde sie Ederls Freundin sein und für ihn in die „Hacken“, also auf den Strich, gehen. Ederl wird nun zum Zuhälter und sieht, dass man auf diese Weise Geld verdienen kann. Damals in den 1960er-Jahren begannen bereits Jugoslawen, am Wiener Strich Einfluss zu nehmen. Ederl und seine Freunde wehrten sich gegen die neuen Konkurrenten. Dabei kam es zu einigen harten Auseinandersetzungen. Bei einer erlitt Edi den geschilderten Herzstich. Er kam in das Krankenhaus, in dem wir einander kennenlernten. Nach der Entlassung fand Edi durch seine Freude wieder Anschluss. Er fuhr ein großes amerikanisches Auto und trug einen dicken Goldring – ganz im Stile der klassischen Zuhälter dieser Zeit. Im Laufe der Zeit fand Edi immer wieder hübsche Mädchen, die ihm zuliebe Geld auf der Straße verdienten. Dies war zu einer Zeit, da jedes „Madl“ ihren Zuhälter hatte, der darauf achtete, dass sie ungehindert ihrer Arbeit nachgehen konnte. Zu diesem Zwecke stellten Zuhälter sich zum Beispiel hinter Bäume, um so einen besseren Schutz ausüben zu können. Ederl meint, dass es ihm durch das Aufmachen von Bars oder Bordellen am Gürtel gelungen sei, Mädchen weitgehend von Zuhältern unabhängig zu machen und damit auch selbstständiger. Es sind nicht wenige Bordelle, die nun nicht nur am Wiener Gürtel, sondern auch in ländlichen Gegenden aufgemacht wurden.

Ederl als glänzender Gastgeber Ederl etablierte sich also am Strich. Wenn ich ihn in den 1970erJahren zufällig traf, so lud er mich gerne in eines seiner Lokale ein. Besonders imponierte mir die Bar „Emmanuelle“ mit dem „Garten der Lüste“ in der Nußdorfer Straße im ehemaligen Restaurant 259

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„Auge Gottes“. Schließlich machte er am Währinger Gürtel eine Bar mit dem schönen Namen „Senat“ auf. Diesen hatte Ederl gewählt, weil er Sympathien für die Kultur der alten Römer hatte. Dazu gehörte die Einrichtung des Senates, des ersten echten Parlamentes. Ederl pflegte im „Senat“ Beratungen mit seinen Kollegen abzuhalten. Einmal lud Ederl ein paar meiner Freude und mich in seine „Rotenturm Bar“ im 1. Bezirk ein. Einem meiner Begleiter bot Ederl schließlich mehrere Damen an, er solle sich eine aussuchen. Doch dieser Mann, ein Professor der Wirtschaftsuniversität, versank vor Scham. Auch mir bot Edi bisweilen eine Dirne an, ich lehnte stets dankend ab. In diesen Momenten glich Edi früheren afrikanischen Stammesfürsten, die ihre Gäste mit solchen „Leckerbissen“ zu beglücken trachteten. Mitte der 1980er-Jahre beschloss ich, eine Studie über den „Strich“ durchzuführen. Ederl selbst erzählte mir zum Thema Strich nur wenig, aber er brachte mich mit Leuten zusammen, die aus diesem Gewerbe kamen. Zu diesen Männern, die Ederl mir zuführte, gehörte auch Richard Steiner, der Chef der Bar „Lambada“ am Gürtel. Herr Richard wieder brachte mich mit erfahrenen Dirnen in Kontakt, die sich zu einem Gespräch bereit erklärten. Einmal erzählte ich Richard, dass ich eine ältere Dirne kennenlernen wolle, die noch die alte Sprache der Dirnen und Ganoven beherrscht. Ich arbeitete damals bereits an meinem Buch „Rotwelsch“, wie die alte Gaunersprache auch genannt wird. Richard fragte mich, wann ich diese Dame sprechen wolle. Ich nannte ihm einen Dienstag um 19 Uhr und wurde von Richard aufgefordert, zu dem Gespräch in eine Bar im 2. Bezirk in der Nähe des Praters zu kommen. Zu dem angegebenen Zeitpunkt war ich dort, die Dame wartete bereits. Sie erzählte mir bereitwillig aus der Welt der Prostitution in Wien. Nach dem Gespräch meinte sie zu dem Chef der Bar, einem Mitarbeiter von Richard, er solle ihr die versprochenen 500 Schilling geben, die man ihr für das Gespräch mit mir versprochen hatte. Dieser vertröstete sie auf den folgenden Donnerstag. Mir war die Sache unangenehm, daher gab ich ihr die 500 Schilling. Ein paar Tage später fand ich mich wieder im „Lamba260

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da“ ein, um weitere Forschungen zu machen. Richard setzte sich zu mir und schob mir stillschweigend die 500 Schilling zu. Auf meine Frage hin meinte er, ich sei sein und auch Edis Gast, daher dürfe ich auch nichts zahlen für ein Gespräch, das er vermittelt hatte Als das Buch „Der Strich“ erschien, wurde es im „Senat“ präsentiert. Zu den Getränken und anderer Konsumation hatte uns Edi eingeladen. Zu dieser Präsentation waren noble Leute erschienen, so der berühmte Komponist Gottfried von Einem in Begleitung seiner Frau Lotte Ingrisch. Das Buch wurde gut präsentiert, auch Zeitungen schrieben darüber. Da ich Edi stets mit Respekt begegnet bin, genoss ich auch nach Erscheinen meines Buches „Der Strich‘‘ weiterhin seine Freundschaft, die sich schließlich darin äußerte, dass er und auch Richard Steiner auf meine Bitte hin mich regelmäßig mit Freunden und auch Studentinnen und Studenten in eines der Bordelle einluden. Uns wurde gratis Sekt kredenzt. Meinen Studentinnen und Studenten wird auch gestattet, Fragen zu stellen, um sich so ein Bild über diese Welt der Prostitution zu machen.

Der Professor der Betriebswirtschaft im Bordell Zufällig hieß die Sekretärin des mir sympathischen, leider inzwischen verstorbenen Professors der Betriebswirtschaftslehre Dr. Erich Loitlsberger mit dem Familiennamen ebenso wie Edi, also Höbaus. Ich erzählte ihr von Edi und auch von seiner Profession. Sie müsse mit Edi verwandt sein, meinte sie. Sie erzählte von dieser Verwandtschaft auch Herrn Professor Loitlsberger, der aus betriebswirtschaftlichen Gründen an dem Unternehmen Edis interessiert war. Ihn interessierte, wie so ein Zuhälter und Bordellbesitzer seinen „Betrieb‘‘ leitet und dabei zu gutem Geld kommt. Ich erzählte Edi davon. Dieser lud nun den Professor samt Anhang und mich in das „Lambada“ am Gürtel ein. Wir machten uns einen Termin aus und um 21 Uhr erschienen wir in der Bar. Der 261

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Herr Professor war in Begleitung zweier Sekretärinnen und eines Assistenten und ich in Begleitung meiner Frau Gemahlin. Mein Freund empfing uns mit großer Höflichkeit. Wir wurden gebeten, Platz zu nehmen, und nippten an guten Getränken. Halb nackte Damen präsentierten sich, wir erhielten einen guten Einblick in das Leben einer Bar. Auch andere Lokale am Strich zeigte uns Ederl. Bis 5 Uhr früh waren wir mit ihm unterwegs. Der Professor war angetan von Ederl, begeistert von diesem Abend und meinte, unser Gönner wäre ein Kavalier. Ein paar Tage später bedankte er sich mit einem großen Blumenstrauß.

Die Fahrt zum Zahnarzt im Jaguar Seine Freundschaft zeigt mir mein Freund immer wieder, wenn ich ihn brauche. Einmal musste ich zu meiner Zahnärztin nach Spital am Pyhrn. Diese Dame ist eine großartige Ärztin, doch sie verträgt nicht, wenn man sich nicht an die Termine der Zahnbehandlung hält. Einmal hatte sich mich für 8 Uhr in der Früh bestellt. Sie meinte, wenn ich nicht pünktlich käme, wäre sie sehr verärgert. Da ich kein Auto besitze und an den Zug gebunden bin, wäre ich von Wien unmöglich rechtzeitig zu ihr gekommen. Ich rief daher meinen Freund an und erzählte ihm mein Problem. Um 7 Uhr in der Früh würde ich mit dem Zug in Linz ankommen, ließ ich ihn wissen. Als ich um 7 Uhr ankam, stand Edi bereits am Bahnsteig und wartete auf mich. In einem zweisitzigen Jaguar führte er mich nach Spital am Pyhrn. Dort bat ich ihn, er solle vor dem Haus der Zahnärztin kurz warten, damit auch diese sehe, wie vornehm ich hierhergelangt sei. Ich erzählte der Zahnärztin von der noblen Fahrt und sie schaute lächelnd und bewundernd auf das Auto und den Herrn daneben, er war in einem Maßanzug unterwegs.

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Das Gerichtsgutachten zum Wort „umhacken“ Als Forscher, der sich intensiv mit einem Thema beschäftigt, wird man auch zu einem Spezialisten. So wurde ich nach Erscheinen der ersten Auflage meines Buches „Rotwelsch“ als wissenschaftlich Kundiger in der Gaunersprache gesehen. Ich wurde daher von einem Strafgericht gebeten, ein Gutachten über einen Ausdruck der Gaunersprache zu verfassen. Ein Wiener Bordellbesitzer, Pepi hieß er, war zu Unrecht angeklagt worden, wie es mir schien, irgendwelche Männer zu einem Mord an einem Russen, der sich offensichtlich am Strich etablieren wollte, angestiftet zu haben. Er hatte zu ihnen gesagt, sie sollten den Mann „umhacken“, was die Polizei mit „erschießen“ interpretierte. Der Russe wurde tatsächlich erschossen und der Bordellbesitzer, ein Mitarbeiter von Edi, den ich von meinen Forschungen persönlich kannte, kam hinter Gitter. In meinem Gutachten stellte ich nach bestem Wissen und Gewissen fest, dass „umhacken“ nicht „töten“ heiße, sondern „verprügeln“ oder „verjagen“. Mein Gutachten wurde bei der Verhandlung vorgelesen, wobei der Richter meinte, er, der Bordellbesitzer, würde mich wahrscheinlich zu Separees mit Dirnen einladen. Daher würde ich dieses Gutachten geschrieben haben. Der Angeklagte, der aufgrund des Gutachtens freigesprochen wurde, erwiderte jedoch empört, dass „der Professor“, also ich, nur aus wissenschaftlichen Gründen, manchmal auch mit Studenten zu ihm käme. Mein Wissen um Gaunerwörter brachte mich also in eine höchst bemerkenswerte Situation. Diese Geschichte bestätigt aber auch, dass man als Forscher eine gewisse Distanz zu den Akteuren einer Szene haben soll. Hätte ich mich jemals auf eine Dirne eingelassen – mir wurden sie ja angeboten –, hätte ich wohl jedes Prestige als seriöser Wissenschafter verloren.

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Berichte über Ederl als Rotlichtkönig und sein Imperium In der Zeitschrift „Basta“ vom Juli 1991 ist unter der Überschrift „Der Gürtel greift an“ zunächst zu lesen, wie am Weihnachtsmorgen des Jahres 1990 in einem Wiener Innenstadtlokal eine Flasche mit Buttersäure zersplittert und sich Gestank ausbreitet. Der Besitzer des Lokals fasst dies als Warnung auf, vor einem Jahr hätte man ihm das Lokal schon einmal ruiniert. Er meint: „Die Strizzis haben am Strich Millionen verdient, die investieren sie nun in der City in Lokale, sie eröffnen neu oder kaufen bestehende auf.“ Nachsatz: „Auch ich habe ein Angebot bekommen, das ich nicht hätte ausschlagen dürfen.“ Der Herr befürchtet, dass Leute vom Gürtel, also die Herren des Strichs, sich im 1. Bezirk etablieren und Bordelle aufmachen wollen. Schließlich kommt er auf Ederl zu sprechen: „Alle Verdächtigten unterstehen einem Mann, dem Boss der Bosse – wie er unter Kollegen ehrfürchtig genannt wird: Eduard Höbaus. Der untersetzte Mann ist zwar kleiner als Rio Hager, aber dennoch mit einer Aura von Macht und Brutalität umgeben. Augenbrauen, die sich wie an einer Felswand klebende Adlerhorste ausmachen, unterstreichen sein Charisma. Sein Sinn für Humor ist in der gesamten Branche so gefürchtet wie legendär. Ihn hier mit ein paar Beispielen zu illustrieren, verbietet das Pornografiegesetz. Das Imperium von Höbaus, dessen Vermögen von der Polizei auf 70 bis 80 Millionen geschätzt wird, erstreckt sich über den gesamten Gürtel bis zur Felberstraße, hinzu kommen Etablissements, die auf beinahe alle Bundesländer verstreut sind. Alles in allem etwa 70 Bars und Puffs.“ Über Edi ist weiter zu lesen: „Der Aufstieg des Eduard, genannt ‚Der schöne Edi‘, Höbaus, 48, begann im Jahre 1985. Damals im Mai war der 42-jährige Bernhard Wessely eines natürlichen Todes (Leukämie) gestorben. Er war der König der Branche gewesen. Über Nacht war seine ‚Firma‘, die er von der Zentrale im 69erHaus am Gaudenzdorfer Gürtel geleitet hatte, führerlos geworden. Kurze Zeit versuchte Wesselys Wirtschaftsberater Reinhard Stepanek, 41, die Geschäfte des teuren Verblichenen zu führen. Bis 264

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ihm Eduard Höbaus in die Quere kam. Nach dem Motto ‚Willst du nicht mein (gefügsamer) Bruder sein‘ überredete der gelernte Fleischhauer Höbaus Hausherrn Stepanek, ihm ein Etablissement nach dem anderen abzutreten. Auf dem Papier verschwanden die eroberten Gürtel-Lokale bald in einem scheinbar undurchdringlichen Geflecht von Gesellschaften. Das erste Nachtlokal in der Wiener Innenstadt, die Rotenturm Bar, erwarb Höbaus 1980, nachdem der Vorbesitzer Ernst Matezny sich bei einem Sturz im Stiegenhaus einen Schädelbasisbruch zugezogen hatte. Höbaus erhob Nachwuchstalent Rio Hager zum Mitbesitzer seines wichtigsten Gürtel-Lokals, des ‚5er‘-Hauses, er war es auch, der ihm das ‚Caligula‘ finanzierte und ihm so zu jener Machtposition verhalf, die er heute innehat. Dafür erwies sich Rio stets dankbar und zuverlässig. Etwa im Herbst 1987, als Höbaus ein paar starke Männer benötigte, um einem seiner Geschäftsführer, Alfred Kreuzer, fehlerfreies Rechnen beizubringen. Harald Hauke, 35, sein Geschäftsführer aus dem ‚5er‘-Haus, und Rio Hager waren zur Stelle. Im Hauptquartier ihres Bosses, dem ‚Garten der Liebe‘ (Neubaugürtel 15), prügelten sie Kreuzer krankenhausreif.“ Ehrfürchtig schreibt die Zeitschrift „Basta“ im November 1991 unter dem Titel „Der Jugo-Krieg in Wien“, dass Leute aus Jugoslawien, die am Gürtel bereits Bars aufgekauft haben, diese 1990 an einen Wiener verkaufen, womit der Gürtelstrich wieder in „österreichischer Hand“ ist. In dem sehr ausführlichen Artikel heißt es schließlich: „Der Allein-Aktionär der Gürtelpuff-GesmbH Eduard Höbaus, 48, setzt die Jugos nur für das Grobe ein. Ein Anruf im Café Lerchenfeld genügt und schon rückt aus der Gürtel-Kaserne ein Strafkommando aus.“ Ederl, so zeigen diese Berichte, dürfte es am Strich zu Macht und Ansehen gebracht haben, wobei die Mittel, die er einsetzte, von einer gewissen Verwegenheit gewesen sein dürften. Neben Ederl wird in dem letzten Bericht im „Basta“ auch der legendäre „rote Heinzi“ genannt. Beide sollen sehr geschickt Häuser am Gürtel aufgekauft haben, womit eine neue Ära begann. Im Magazin des Innenministeriums „Öffentliche Sicherheit“ vom Oktober 1993 wird Ederls Gürtel-Politik geradezu bewun265

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dernd beschrieben. Es ist unter anderem zu lesen: „In den 80erJahren hatte er die Gürtelszene unter Kontrolle. Heute residiert der 50-jährige ‚Kaufmann‘, von Freunden und Feinden liebevoll ‚Ederl‘ genannt, in einer mondänen Villa (die ihm offiziell nicht gehört) in der Umgebung von Wien, überblickt Ländereien in den Bundesländern, fährt Luxusautos und besitzt auch die sonst üblichen Accessoires eines Neureichen. Im Laufe der Jahre hatte er eine große Anzahl von Lokalen erworben, die meisten davon am Gürtel. Die Namen seiner Gesellschaften mit beschränkter Haftung und anderer Firmen wechselten ständig. Strohmänner fungieren als Geschäftsführer. Ederl selbst hielt sich stets im Hintergrund – nicht jedoch, was die Einnahmen betraf. … Ederl setzte in diesen Bars Freunde als Geschäftsführer ein, um seine Gage abzusichern. … In einigen von Ederl angemieteten oder angekauften Häusern wurden Wohnungen für Prostituierte eingerichtet. … Seit einigen Jahren zieht sich Ederl etwas aus dem Gürtel-Milieu zurück. Ein Statthalter … tritt am Gürtel immer mehr in Erscheinung.“ Hinzugefügt wird dieser Analyse noch eine interessante Feststellung: „Wer am Gürtel Geld und Einfluss hat, braucht seinen Namen nicht mehr für krumme Touren herzugeben, berichtet ein Insider. In letzter Zeit versucht Ederl, sich auch in der Linzer Rotlichtszene einzunisten.“ Nach diesen Berichten ist Ederl ein gescheiter Herr, der das Zeug zu einem Politiker hätte, speziell zu einem Finanzminister. Jedenfalls wusste er sehr gescheit auf das Leben am Strich einzuwirken, was sogar Herren der Polizei anerkennend festhalten. Interessant ist noch ein Artikel in der „Presse“ vom März 2007. In diesem heißt es: Der Großteil des Geschäfts mit dem käuflichen Sex befindet sich bereits seit mehreren Jahren fest in den Händen von Ausländern. Spätestens seitdem sich mit Eduard „Ederl“ Höbaus der letzte einheimische Rotlichtkönig zur Ruhe gesetzt hat, besteht die Szene aus einer ganzen Reihe ausländischer Kleinkrimineller, die miteinander konkurrieren, erzählt ein Szene-Kenner im „Presse“-Gespräch“. Die Kultur des Strichs hat sich verändert. Ederl hat sich zurückgezogen, auf den erwähnten Bauernhof im Mühlviertel, in dem 266

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er und Ingrid heute eine schöne Landwirtschaft mit Tieren und einem künstlerisch angelegten Garten verwalten.

Rotlichtkönig und Urenkel des Kaisers Im Kapitel über Markus Habsburg habe ich geschildert, wie ich die beiden Herren an einem Augusttag 2010 in einem Kaffeehaus am Linzer Bahnhof an einen Tisch brachte und beide miteinander angeregt diskutierten. Während Markus Habsburg über die Kaiservilla und deren Renovierung sprach, erzählte Ederl von seinem Bauernhof, aber auch aus seiner Jugend, als er in Tirol am Bau eines Wassertunnels durch Sprengungen mitwirkte. Ederl, der Herr des Strichs, hat gute Manieren, zumindest im Kreise erlauchter Persönlichkeiten. Die beiden unterhielten sich ungezwungen. Ederl und Ingrid, die auch dazukam, meinten, Markus Habsburg würde eine bodenständige Persönlichkeit sein. Ich spürte, Ederl und Markus hatten Sympathie füreinander: der Rotlichtkönig und der Urenkel des Kaisers.

Als Gast auf Ederls Bauernhof Jedes Jahr einmal während des Sommers bin ich mit meinen Freunden Dr. Reinhard Sembol, seiner Frau Rotraud, seinem Bruder Herwig und dessen Frau Maria bei Ederl und Ingrid auf dem Bauernhof im Mühlviertel eingeladen. Reinhard Sembol kenne ich von meiner Studentenzeit her, auch er ist seit Jahrzehnten mit Ederl befreundet. Er kennt ihn von seinen Expeditionen am Wiener Gürtel. Von Ederls Bauernhof hat man einen herrlichen Blick bis hin zum Alpenvorland. Im letzten August sind wir wieder eingeladen. Ich nehme den Autobus und marschiere dann noch zu Fuß zum Bauernhof. Ich werde freundlichst empfangen, Reinhard Sembol und die anderen Kumpane sind schon da. Ederl führt uns durch sein schön renoviertes Haus, in dem einige Räume gerade267

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zu künstlerisch in allen möglichen Farben gestaltet sind. In einem Raum, der in einem rötlichen Licht erstrahlt, sind Fotowände angebracht. Auf diesen sind die wesentlichen Stationen von Ederls Leben festgehalten. Auch seine Freunde sind hier auf Bildern zu sehen. Ich freue mich, als ich auch ein Bild von mir mit Fahrrad erblicke. Ederl zeigt uns auch den Hühnerhof, den Ingrid betreut. Hier leben noch glücklich gackernde Hühner mit einem Hahn wie bei den alten Bauern. Wir setzen uns an einen gewaltigen Holztisch vor dem ehemaligen Stadel, in dem heute ein Fitnessstudio für Ederl untergebracht ist. Zwei ballonartige Lampen hängen über dem Tisch. Der Wirt des nahen Ortes hat für uns gekocht. Er tischt uns beste Speisen auf und serviert kühle Getränke nach unserer Wahl. Wir fühlen uns wohl. Ederl weist auf eine Steingruppe hin, die er zusammenstellen ließ und die an die Überreste einer alten gotischen Kirche erinnert. Er führt uns später zu einem Teich mit kostbaren Fischen. Staunend stehen wir vor einer Voliere, einem großen Vogelkäfig, in dem bunt gescheckte Papageien uns grüßen und seltene Vögel schwirren. Wir blicken auf seine Hochlandrinder, die auf der saftigen Weide sich ihres Lebens freuen. Wir kehren zu dem großen Holztisch zurück. An einem solchen Tisch mögen in früheren Jahrhunderten Rittersleute gesessen sein und sich zugetrunken haben. Wir verbringen einen schönen Nachmittag. Die Abendsonne taucht den Bauernhof und die Wiesen davor in ein goldenes Licht.

Eine kleine Theorie der Prostitution – der weise Solon und das Bordell Bei meinen Forschungen unter Dirnen wurde mir klar, dass diese Damen stets auch mit „feinen Leuten“ zu tun haben, nämlich mit Herren aus der oberen Gesellschaftsschicht. Zuhälter, Dirnen und ihre Gäste sind auf eigentümliche Weise miteinander verbunden, sie bauen auf einer alten Geschichte auf, die weit in die Antike bis 268

8. Rotlichtkönig und Bauer – Ederl Höbaus

zu den Griechen und Römern zurückreicht. Ein Denkmal wurde diesen Frauen schon in der Bibel gesetzt, als Christus den Pharisäern zurief: „Die Zöllner und die Dirnen kommen vor euch in das Himmelreich Gottes.“ Es war auch eine Dirne, nämlich Magdalena, der Jesus nach seiner Auferstehung zuerst erschienen ist. Die klassische Dirne versteht sich als Anbieterin wichtiger Dienste. Prostitution bietet die Chance, zu schnellem Geld zu kommen. Die echte Dirne verkauft daher nicht sich, sondern sexuelle Dienste. Dabei macht sie mitunter ein gutes Geschäft. Von der Dirne erwartet sich der Mann Freude, wenn auch nur für den Moment. In diesem Sinn schrieben die alten Römer am Eingang zu ihren Bordellen: „Hic habitat felicitas.“ (Hier wohnt die Glückseligkeit.) Der weise griechische Staatsmann Solon aus Athen schuf die ersten Bordelle und verschaffte den Dirnen dadurch eine gewisse Sicherheit. Solon wusste um die Wichtigkeit der Bordelle und dürfte damit auch gute Geschäfte gemacht haben. Ähnliches unternahm Ederl, dem eine gewisse Weisheit nicht abzusprechen ist.

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9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol Vorgeschichte Seit einigen Jahren fahre ich vom 3. bis zum 6. Dezember nach Matrei in Osttirol, wo ich an den bekannten „Matreier Gesprächen“ teilnehme. Diese wurden von dem großen Verhaltensforscher Professor Otto Koenig ins Leben gerufen. Jährlich treffen sich Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, wie Biologen, Verhaltensforscher, Historiker, Kulturanthropologen und sogar Mathematiker, um über ein Generalthema, wie Religion, Jugend, Kulturwandel, Familie oder Ähnliches, hinsichtlich der kulturellen Entwicklung und der „Vergleichenden Verhaltensforschung“ zu referieren und zu diskutieren. Es sind mitunter spannende Beiträge, die die Teilnehmer erfreuen. Unser Quartier ist das Hotel Hinteregger, in dessen großem Saal die Referate gehalten werden. Genächtigt wird in den schönen Zimmern des Hotels. Dabei bemüht sich die Wirtin Theresia Brugger um unser Wohlbefinden. Theresia weiß nicht nur wunderbare Mahlzeiten herzustellen, sondern sie kümmert sich um alles, was für uns wichtig ist. Als ich sie um interessante Wanderziele fragte, empfahl sie mir das Lukasser Kreuz, zu dem ich auch regelmäßig über St. Nikolaus meist schon im Schnee wandere. Inzwischen hat Theresia das Hotel ihrer Tochter Katharina übergeben, ihr Mann Bernd Hradecky ist ein liebenswürdiger Tierarzt. Katharina führt das Hotel bestens im Sinne ihrer Mutter, die allerdings weiterhin in der Küche aushilft. Theresias Mann Meinrad Brugger, der von Bergbauern hoch über Matrei abstammt, kümmerte sich um die zum Haus gehörige Landwirtschaft. Diese versorgt das Restaurant mit Milch, Fleisch und Gemüse. Theresia ist nicht nur eine gute Wirtin, sondern auch eine große Mitstreiterin bei der Verhinderung des geplanten Dorfertalkraftwerks. 270

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Mit unserem wissenschaftlichen Programm sind auch erholsame und abenteuerliche Veranstaltungen verbunden, wie Wanderungen, Mahlzeiten und schließlich um den 6. Dezember, den Nikolaustag, die Teilnahme am Treiben der Kleibeif, der wilden Gesellen, die mit schweren Glocken und dicken Pelzen durch den Ort laufen und einen Höllenlärm machen. Die Idee, über das Leben von Theresia zu schreiben, kam mir in Matrei, als sie mir einiges aus ihrem Leben und aus der alten Bauernkultur, die sie noch kennengelernt hat, erzählte.

Zugang Ich sitze mit Frau Theresia Brugger im Café Landtmann in Wien. Sie ist eine eigenständige Dame, die mir aus ihrem Leben als Wirtin im Gasthof Hinteregger erzählen will. Sie ist eine geborene Hinteregger. Wir kommen auf die „Matreier Gespräche“ zu sprechen. Ich erwähne Professor Otto Schober aus Bamberg, der mir zum lieben Freund geworden ist und mit dem ich einige Wanderungen unternommen habe. Er ist vor Kurzem gestorben. Theresia meint, dass sein Sohn schwer erkrankt sei, dies mag ihm das Herz gebrochen haben. Professor Schober war ein ausgesprochen guter Sportler, der bis in die letzten Jahre Langstreckenläufe durchgeführt hat. Wir sind beide traurig, dass Otto Schober die Welt verlassen hat. Wir haben ihn sehr geschätzt. Er war ein feiner Herr. Theresia bestellt einen Kaffee. Zwei Herren, einen von ihnen kenne ich gut, gehen an uns vorbei. Sie bleiben stehen und sagen, es finden bald Wahlen zum Bundespräsidenten statt, sie würden sich dafür einsetzen, dass ein Herr von Habsburg zur Wahl antreten könne. Dafür bräuchte man einige Tausend Unterstützungserklärungen. Theresia und ich erklären uns bereit, solche Erklärungen zu unterschreiben. Wir sehen nicht ein, warum der Habsburger nicht zur Wahl antreten könne. Man muss ihn ja nicht wählen. 271

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Im Gasthaus – der Vater und die Waldgenossenschaft Theresia beginnt zu erzählen: „In Lienz im Krankenhaus bin ich im Jahre 1945 zur Welt gekommen. Meine Eltern waren damals schon relativ alt, meine Mutter war 43. Ich war das einzige Kind. Alles hat sich auf mich konzentriert. Meine Mutter war die Wirtin des Gasthofes Hinteregger, den ich dann übernommen habe. Mein Vater hat am Kirchplatz in Matrei ein Haus gehabt, in dem mein Mann Meinrad und ich jetzt wohnen. Meine Eltern waren überglücklich, dass ich zur Welt gekommen bin. Wie einen Augapfel haben sie mich behütet. Dabei ist immer wieder etwas mit mir passiert. Einmal hat mich ein Kindermädchen die Stiege hinuntergeworfen. Ich habe nachher eine Weile keine Luft bekommen und soll furchtbar geschrien haben. Ich habe wahrscheinlich damals schon einen harten Schädel gehabt, den habe ich beibehalten. Zu den Eltern habe ich immer eine gute Beziehung gehabt. Schon als junges Mädchen musste ich im Gasthaus mithelfen, mit zehn oder elf Jahren habe ich den Gästen schon serviert, vor allem im Sommer. Ich war stolz darauf, dies zu tun. Damals waren in der Wirtsstube viele Einheimische, vor allem nach der Kirche sind sie zu uns gekommen. An ein paar Tischen haben sie Karten gespielt, sie haben tarockiert. Dadurch, dass der Tate, der Vater, bei der Waldgenossenschaft war, ist in der Stube Holz gehandelt worden. Auch über die Viehversteigerungen in Lienz wurde geredet. Interessant waren die Stierversteigerungen. In den 1950er- und 1960er-Jahren haben die Zuchtstiere einen hohen Preis gehabt. So ein Stier hat um die 40.000 Schilling gekostet, das war viel. Über solche Sachen ist bei uns in der Stube geredet worden. Weil ich als Kind viel alleine war, habe ich mich sehr viel im Haus gegenüber bei meiner Freundin aufgehalten, deren Mutter eine Kriegerwitwe war. Landwirtschaft war bei uns auch dabei, für diese hatten wir Knechte und Mägde. Mein Vater war im öffentlichen Leben von Matrei tätig. Er hat die Waldgenossenschaft gegründet, in der Viehzucht war er ebenso führend, er war auch bei 272

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

den Schützen. Etwas ist mir noch sehr in Erinnerung: Weil mein Vater im Waldverband in Innsbruck war, hat er oft zweimal in der Woche nach Innsbruck fahren müssen. Das war in den 1950erJahren. Um ½ 3 Uhr in der Früh fuhr er mit dem Bus von Matrei nach Lienz. Und um ½ 5 Uhr ist der Triebwagen von Lienz nach Innsbruck über Südtirol durch das Pustertal gefahren. Von Sillian bis zum Brenner sind die Türen des Zuges abgesperrt worden, damit keiner im italienischen Hoheitsgebiet ein- oder aussteigt. Bei der Rückfahrt ist um ½ 12 Uhr in der Nacht der letzte Autobus von Lienz nach Matrei abgefahren. Unglaublich, was der Vater da geleistet hat.

Als Chauffeuse des Vaters nach Innsbruck – der Vater als Schützenmajor „Mit 18 Jahren habe ich den Führerschein gemacht“, erzählt Theresia weiter. „Der Vater hatte keinen Führerschein, daher hat ihm die Waldgenossenschaft einen Chauffeur zur Verfügung gestellt. Als ich den Führerschein hatte, hat er gesagt: ‚Jetzt kannst du mich chauffieren.‘ Nun bin ich mit meinem Vater im Auto nach Innsbruck gefahren – durch das Pustertal. Die Straße oder einen Tunnel über den Felbertauern gab es damals noch nicht, das wäre kürzer gewesen. Es gab nur einen Saumweg, man musste zu Fuß über die Tauern wandern. Einmal ereignete sich eine lustige Begebenheit. Ich hatte den Vater zu einer Sitzung nach Innsbruck gefahren. Er sagte: ‚Wir sehen uns im Gasthaus, und zwar im Europastüberl.‘ Während der Sitzung des Vaters bin ich spazieren und einkaufen gegangen. Dann haben wir uns im Europastüberl getroffen. Der Vater hat gefragt: ‚Wo hast du denn geparkt?‘ Ich habe gesagt: ‚Vor dem Landhaus.‘ ‚Was‘, hat er gemeint, ‚vor dem Landhaus hast du geparkt?‘ ‚Ja‘, habe ich gesagt. Wir hatten damals einen Opel. ‚Dort sind VW auch gestanden. Ich habe mich halt auch hingestellt.‘ Als wir zum Auto gekommen sind, ist natürlich ein Strafzettel auf der Scheibe angebracht gewesen, denn die Parkplätze waren 273

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

nur für die Mitglieder der Landesregierung bestimmt. Nun bin ich zum Polizeipräsidium gegangen. Dort hat man mich gefragt: ‚Woher kommen Sie denn?‘ Ich: ‚Aus Osttirol.‘ Der Polizist hat gesagt: ‚Waren Sie schon auf dem Venediger?‘ ‚Ja‘, habe ich gesagt, ‚ich war schon auf dem Venediger.‘ ‚Na gut, dann zerreißen wir halt den Strafzettel‘, hat er geantwortet.“ Sie lacht. Ich meine: „Dein Vater war sicher ein toller Bursche.“ „Ja, sicher“, antwortet Theresia. „Er hat sich sehr für die Öffentlichkeit eingesetzt. Ein großes Anliegen waren ihm die Schützen. Er war Schützenmajor. Wichtig für ihn war auch, immer die Wahrheit zu sagen.“ Ich unterbreche lächelnd und meine, gewisse Wahrheiten solle man doch nicht sagen. Therese lacht und sagt: „Man kommt leichter weiter, wenn man ab und zu die Wahrheit verschweigt. Man macht sich mit der Wahrheit nicht immer Freunde. Das Sprichwort ‚Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‘ hat wohl seine Berechtigung.“

Vater und Schwiegervater als „Kampfhähne“ Theresia erzählt nun über die Konkurrenz von Vater und Schwiegervater: „Ich muss dir eine lustige Geschichte erzählen. Mein Vater war in der Politik, auch in Innsbruck kannte man ihn. Der Vater vom Meinrad war Bergbauer, zuerst in der Landwirtschaftskammer tätig und dann Bürgermeister. Man wusste, dass die beiden sich nicht verstehen, sie waren richtige Kampfhähne. Daher war es für die Herren von der Landwirtschaftskammer ein großes Ereignis, dass Meinrad und ich geheiratet haben. Wir haben uns in Matrei kennen und lieben gelernt. Hier gab es zwei Lager, das eine war die Seite meines Schwiegervaters, das andere die Seite meines Vaters. Sie waren zwei Persönlichkeiten und haben verschiedene Ansichten gehabt.“ Ich meine: „Du warst als fesches Mädchen und Tochter eines tüchtigen Mannes sicher für die Burschen des Dorfes interessant!“ Sie nickt bejahend und erzählt dazu: „Einmal haben der Bauern274

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bundobmann und der Bauernbundsekretär im Café Weiss in Innsbruck Kaffee getrunken. Da hat der eine zum andern gesagt: ‚Weißt du schon die beste Geschichte? Nein! Dann lass dir erzählen. Die Tochter vom Hinteregger geht mit dem Sohn vom Brugger.‘ Da hat der andere gesagt, dass das wohl der letzte Ganghoferroman sei. So unglaublich war das für die Leute. Ich bin eine geborene Hinteregger, so heißt heute noch das Hotel. Die Vorfahren meines Vater stammen von einem kleinen Weiler mit dem Namen Hinteregg am Fuße des Hinteregger Kogels ab.“

Das Schloss als Hotel – die ersten Wintergäste bei den Hintereggers Die Gastwirtschaft ihrer Eltern profitierte vom aufkommenden Tourismus, von dem Theresia nun erzählt: „In den 1950er-Jahren, eher gegen Ende, war viel Tourismus in Matrei. Angefangen hat das schon in den 1920er-Jahren. Es kamen vor allem Wiener, aber auch Deutsche und Gäste aus Tschechien. Wir hatten tüchtige Fremdenverkehrsleute. Schloss Weißenstein, ein Wahrzeichen von Matrei, war früher auch ein Hotel, heute steht es leer. Carl von Thieme, der Großvater des letzten Drittelbesitzers Kay Thieme, Mitbegründer der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft, hat das Schloss von einem Baron Mengershausen gekauft. In früheren Zeiten bis 1848 waren auf dem Schloss die Pfleger, also die Verwalter der Grundherrschaft, denen die Bauern ihre Abgaben abliefern mussten. Später war das Schloss das Armenhaus von Matrei.“ Theresia erzählt nun über frühere Gäste in ihrem Gasthaus, zu denen man damals noch eine besondere Nähe hatte, zumal man auch gemeinsam mit ihnen gegessen hat: „Ich muss dir noch eine Geschichte erzählen. Wie ich ein Kind von zehn Jahren war, haben wir die ersten Wintergäste gehabt. Es war eine Familie aus Heidelberg mit zwei Söhnen. Damals hatten wir noch keine Zentralheizung. In der Stube, wo die Einheimischen saßen, stand ein Kachelofen. Den haben wir nur an den Wochenenden geheizt. Die 275

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Gäste haben bei uns am Küchentisch gegessen, dort war es schön warm. Heute noch frühstücken meine Tochter Katharina und ihre Familie in der Küche. Der Sohn dieser deutschen Familie ist also vor drei Jahren bei der Tür hereingekommen. Ich habe gleich gesagt: ‚Das gibt es doch nicht, jetzt kommt das Wölfchen.‘ Er hat geantwortet: ‚Was, du kennst mich noch?!‘ ‚Natürlich‘, habe ich gesagt, der Mann ist ein paar Jahre älter als ich. Wir haben damals zu ihm Wölfchen gesagt.“ Mir gefällt diese enge Beziehung zwischen der Wirtsfamilie und den Gästen, sie existiert auch heute noch. Wir, die Teilnehmer an den „Matreier Gesprächen“, spüren sie, zumindest ich fühle mich beinahe zur Familie gehörend, wenn ich dort bin. Theresia nickt und fährt fort: „Während des Sommers war in den 1950er- und 1960er-Jahren relativ viel Betrieb bei uns. Damals haben nur wenige Gasthäuser zu Mittag aufgekocht. Die meisten waren Frühstückspensionen. Wenn schlechtes Wetter war, haben wir damals zu Mittag oft über hundert Essen gehabt. Wir hatten damals nur die kleine Stube. Meine Mutter hat gekocht. Sie war gelernte Köchin.“

Die Großmutter als Tochter eines Hoteliers – der Großvater als Pferdeknecht – ein Abenteuer Ich erfahre nun einiges über die Vorfahren von Theresia, über die sie erzählt: „Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus Lienz aus dem Hotel Traube, das ihren Eltern gehörte. Die Großmutter und der Großvater haben den Gasthof hier in Matrei 1903 gekauft. Wir haben noch die alten Kaufverträge. Aus diesen geht hervor, dass unser Gasthaus 1807 ‚Mayrische Wirtsbehausung mit Taverne‘ geheißen hat. Die damaligen Wirtsleute hatten noch das ‚radizierte Schank- und Gastgewerbe‘ von Maria Theresia auf dem Haus, das gibt es heute nicht mehr, es wurde bereits abgeschafft. Wie ich 1967 den Betrieb von der Mutter übernommen habe, musste ich um die ‚Personalkonzession‘ ansuchen. Es gab da viele 276

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Formalitäten zu erledigen. Meine Großmutter, die eine von vielen Töchtern war, hat nach Matrei geheiratet. Der Großvater war ein Bauer aus Matrei. Die Großmutter konnte perfekt Italienisch. Als junges Mädchen hatte man sie nach Pieve di Cadore geschickt, um Italienisch und Kochen zu lernen. Mein Großvater war bei der Traube in Lienz Pferdeknecht. Die beiden haben sich dort im Hotel verliebt. Für die Familie der Großmutter war es furchtbar, dass die Tochter einen Pferdeknecht heiratet. Die Großmutter hat immer erzählt, wie eine Schwester ihre schöne Kleidung versteckt und aus dem Hotel hinausgeschwindelt hat, damit niemand merkt, dass sie zur Hochzeit geht. Außer dieser Schwester war niemand von den Leuten der Großmutter auf der Hochzeit. Beim Hochzeitsmahl in Matrei auf dem Bauernhof, von dem der Großvater abstammte, hat es Knödel gegeben. Dies hat mir die Großmutter erzählt. Sie war eine ungemein tüchtige Frau, war sehr sparsam, konnte gut nähen und gut kochen.“

Die Frauen als Wirtinnen Ich will nun wissen, wie die Großeltern zu dem Gasthaus kamen. Theresia holt aus: „Die Katharina hat 2003 den Betrieb übernommen von mir. Wir sind draufgekommen, dass sie die vierte Frau als Chefin im Gasthaus ist. Wenn eine Frau zu mir gesagt hat, sie fühlt sich nicht gleichberechtigt, habe ich ihr geantwortet, dass ich mich immer als gleichberechtigt gefühlt habe.“ Ich unterbreche und halte fest, dass ich das erste Mal an der Universität gehört habe, dass Frauen nicht gleichberechtigt wären, denn meine Mutter war als Ärztin ebenso gleichberechtigt wie mein Vater als Arzt. Theresia sagt Ähnliches: „Ich habe nie mitbekommen, dass ich weniger wert bin als ein Mann. So haben mich meine Eltern auch erzogen. Wie die Katharina das Gasthaus übernommen hat, war es fast auf den Tag genau 100 Jahre in unserer Familie und in der vierten Generation eine Frau Wirtin.“ 277

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Bundeskanzler Figl als Gast – die alte Repetieruhr „In den 1960er-Jahren war der Bundeskanzler Leopold Figl des Öfteren in Matrei, wo er sogar Ehrenbürger war. Er hat sich oft nach der Kirche in unsere Stube zu den Bauern gesetzt und gefragt: ‚Wie geht‘s enk? Was ist mit dem Holzpreis? Was mit dem Viechpreis?‘ Die Großmutter war damals schon fast 90 Jahre alt. Der Figl hat zu ihr gesagt: ‚Mutter Bresslawer‘, so hat sie sich geschrieben, ‚erzählen Sie einmal, wie es früher gewesen ist.‘ Die Großmutter hat ihm erzählt und erzählt. Sie hat gesagt: ‚Das war eine schwierige Zeit, Herr Kanzler, wie ich nach Matrei gekommen bin. Aus der Zeit habe ich noch eine Uhr, sie stammt aus der Franzosenzeit. Das ist eine Repetieruhr.‘ Es war eine Sackuhr. Da hat der Figl zu ihr gesagt: ‚Frau Bresslawer, zeigen Sie mir einmal die Uhr.‘ Die Großmutter ist gesprungen und hat die Uhr geholt. Sie hat dann gesagt: ‚Das Schlagwerk ist hin, denn die Uhr schlägt jede Stunde.‘ Darauf hat der Figl gesagt: ‚Gut, Frau Bresslawer, ich nehme die Uhr mit zu meinem Uhrmacher zum Richten.‘ Die Großmutter greift nach der Uhr und sagt: ‚Kann ich Ihnen die Uhr wohl anvertrauen?‘ Sie hat sie ihm nicht mitgegeben. Sie war also sogar gegenüber dem Kanzler skeptisch. Dem Figl hat das gefallen. Nach einem Vierteljahr ist er wieder ins Gasthaus gekommen und hat zu ihr gesagt: ‚Was ist mit der Uhr, Frau Bresslawer?‘ Da hat sie gesagt: ‚Herr Kanzler, was ich mich schäme. Ganz Österreich hat Ihnen vertraut. Und ich mit meiner Scheißuhr nicht.‘ Theresia lacht und erzählt weiter, nachdem sie einen Schluck Tee getrunken hat: „Als das Gasthaus noch meine Eltern gehabt haben, war der hintere Trakt der Kinosaal von Matrei. Der Saal hat den Großeltern gehört, die Kinoapparaturen hat die Gemeinde hineingebaut und der Großmutter eine Pacht gezahlt. Sie war ganz begeistert vom Kino und ist zu jeder Vorstellung gegangen, sie musste allerdings keinen Eintritt zahlen. 1958 ist in Matrei das neue Kino gebaut worden und 1962 haben die Eltern den Trakt in Zimmer mit Fließwasser umgebaut. 1967, wie ich geheiratet habe, haben wir wieder umgebaut und das Nachbarhaus dazuge278

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

kauft. Von 1967 bis 2003 haben wir fast jedes Jahr eine Baustelle gehabt.“

Geschichterln aus dem alten Gasthaus Hinteregger Wir sprechen wieder über das Gasthaus Hinteregger, Theresia möchte mir noch etwas dazu sagen: „Ein paar Geschichterln muss ich dir aus früherer Zeit erzählen. Wir hatten bis in die 1980erJahre nur eine Kellnerin. Im ersten Stock gab es für alle eine Toilette, und über einen Balkon hinaus war noch eine. Auch unsere ganze Familie ist auf die beiden Toiletten gegangen. Das ist heute unvorstellbar. Ein Gast hat damals die Kellnerin gefragt: ‚Wo ist der schönste Platz im Haus?‘ Der Gast hat die Toilette gemeint. Aber die Kellnerin hat das nicht verstanden und hat gesagt: ‚Da, wo du mit dem Meinrad in der Ecke in der Stube gesessen bist, ist der schönste Platz.‘ In den 1970er-Jahren, wenn die Plätze vor allem bei Regenwetter besetzt waren, sind Gäste sogar auf der Stiege gesessen und haben auf freie Essensplätze gewartet. Wir haben immer eine gute Küche gehabt. Das Kochen habe ich daheim von der Mutter gelernt. Als junges Mädchen war ich einmal ein Dreivierteljahr in Schwaz in Nordtirol, wo ich in einem Hotel in der Küche gearbeitet habe, damit ich auch einmal etwas anderes kennenlerne. Da war ich 17 Jahre alt. Mit 21 Jahren habe ich geheiratet.“

Tüchtige Töchter – der tödlich verunglückte Sohn Über ihre Kinder erzählt Theresia: „Die ersten Jahre ist jedes Jahr ein Kind zur Welt gekommen. Wie die Kinder klein waren, bin ich oft eine ganze Woche nicht aus dem Haus gekommen, außer auf die Terrasse. Zum Spazierengehen hatte ich früher auch keine Zeit, so sehr war ich im Gasthaus und mit den Kindern beschäftigt.“ Stolz kann Theresia auf Katharina, die junge Wirtin, sein. Mir 279

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fällt ein, dass eine ihrer fünf Töchter, Gertraud heißt sie, in Kanada in einem Hotel arbeitet. Vor Kurzem hat man sie als tüchtige Auslandsösterreicherin im Fernsehen bewundern können. Theresia sagt: „Gertrauds Mann ist Kanadier, er ist ein großer Bergfex. Beide lieben Kanada, wollen aber wieder zurück nach Österreich. Gertraud sagte: ‚Wenn wir einmal Kinder haben, ist es mir lieber, wenn ich in Österreich bin.‘ Wo sie sich niederlassen werden, weiß sie selbst noch nicht.“ Ein großes Schicksal traf Theresia und ihren Mann, als ihr Sohn Jörg tödlich in den Bergen verunglückte, er kam 1988 in einer Lawine um: „Das ist etwas, für das es keinen Trost gibt. Man muss einen Weg finden und sich an den anderen Kindern freuen. Da fängt man an, mit Gott zu hadern. Ich habe unlängst mit einer Bekannten, die auch ein Kind verloren hat, darüber geredet. Auch sie hat gesagt, durch den Schmerz, den jeder hat, treibt es die Eltern die erste Zeit auseinander, nicht zusammen. Weil man mit dem eigenen Schmerz durch den Verlust so beschäftigt ist. Wenn man das übertaucht hat, hält man mehr zusammen. So ein Tod eines Kindes ist immer gegenwärtig. Der verunglückte Jörgl hat immer gesagt, er übernimmt das Gasthaus und die Landwirtschaft. Er hat die Höhere Bundesanstalt für alpenländische Landwirtschaft in Elixhausen bei Salzburg absolviert. Ein Jahr vor der Matura ist das passiert.“ Die Kinder von Theresia wachsen in einer bäuerlichen Idylle auf: „Als die Kinder klein waren, habe ich viel um die Ohren gehabt. Während des Sommers hatte ich ein Kindermädchen angestellt. Urlaub habe ich im Krankenhaus gemacht, wenn ich entbunden habe. Wohl sind wir zum Skifahren ein paar Mal weggefahren. Der Meinrad, mein Mann, hat oft zum Wochenende die Kinder genommen, zum Skifahren oder Bergsteigen. Er hat sich sehr um die Kinder zusätzlich zu seiner Arbeit in der Landwirtschaft gekümmert. Sie sind mit dem Traktor mitgefahren oder waren mit auf dem Feld.“

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9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Die Landwirtschaft beim Gasthof Die Küche des Gasthauses wird bis heute beliefert von der Landwirtschaft der Familie Hinteregger. Theresia geht darauf ein: „Früher haben wir in unserer Landwirtschaft zwei Knechte und zwei Mägde gehabt. Als wir geheiratet haben, hatten wir nur mehr einen Knecht. Ungefähr 15 Kühe hatten wir immer und Jungvieh. Bis 2009 hat der Meinrad, er ist 1941 geboren worden, alles in der Landwirtschaft gemacht. Dann hatte er Operationen an beiden Knien. Jetzt geht er nicht mehr in den Stall, aber er arbeitet noch auf dem Feld und beim Heuen. Die Arbeit im Stall macht ein Bauer, der zwei Ortschaften weiter einen kleinen Hof gepachtet hat. Jetzt hat er seine Kühe bei uns und das Jungvieh unten in St. Johann. Die Landwirtschaft geht mich nichts mehr an, darum kümmern sich die Jungen. Im Hotel läuft es gleich weiter, so wie wir es aufgebaut haben. Milch und Fleisch beziehen wir von unserem Hof. Gemüse kommt aus zwei großen Gärten, Getreide haben wir keines mehr, aber Erdäpfel und Kraut. Ich mache auch noch selbst Käse, einen Frischkäse, den kennst du eh. Die Hygienevorschriften sind heute sehr streng.“ Ich erzähle, dass es in Siebenbürgen bei den Kleinbauern noch eine alte Bauernkultur gibt, bei der das Kalb bei der Kuh bleibt, während bei der Milchwirtschaft das Kalb unmittelbar nach der Geburt in eine eigene Box gegeben wird. Theresia ist sich dessen bewusst: „Auch bei uns wird das Kalb der Kuh weggenommen, aber es wird mit richtiger Milch aufgezogen.“ Dennoch meine ich, dass die Kühe bei uns heute ziemlich ausgebeutet werden. Theresia sagt: „Auch ich finde das nicht richtig. Durch das Kraftfutter sind die Kühe in ein paar Jahren hin. Bei uns hier ist es besser, da bringen die Kühe etwas über 4.000 Liter Milch im Jahr. Im Sommer sind die Kühe auf der Alm. Dafür gibt es Förderungen von der EU und auch vom Nationalpark.“

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9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Die Rebellin – Kämpferin für den Nationalpark Der Nationalpark Hohe Tauern ist ein wichtiges Stichwort für Theresia: „Für den Nationalpark habe ich mich sehr eingesetzt. Es tut mir leid, dass viele Einheimische nicht begreifen, wie wichtig unsere schöne Landschaft ist. Sie ist es wert, dass sie geschützt wird und zum Nationalpark gehört. Ich sage immer: Wenn man etwas verkaufen will, und wir wollen unsere Gegend auch verkaufen, dann muss man davon überzeugt sein. Jeder Kramer lobt seine Ware. Die Bauern haben bei uns durch den Nationalpark profitiert, weil sie viele Bergmähder ganz oben gemäht haben. Dafür bekommen sie einen Zuschuss.“ Als Bergmähder, dies sei hier eingefügt, werden steile Wiesenflächen im Hochgebirge bezeichnet. Sie sind als Kuhweiden ungeeignet, aber für die Bergbauern wichtig, um zusätzlich Heu für das Vieh gewinnen zu können. Heute verwildern solche Bergmähder immer mehr, da es sich für viele Bauern nicht mehr lohnt, sie zu mähen. Aber vor allem die Bauern im Nationalpark können mit guten Förderungen rechnen. Theresia kommt noch auf die Wälder des Nationalparks zu sprechen: „Bei uns wird noch ganz normal gearbeitet, im Gegensatz zum Nationalpark Kalkalpen, in dem die Wälder sich selbst überlassen werden. Es ginge auch gar nicht anders, denn wir haben viele Bannwälder, die müssen gepflegt werden. Ich habe mich für den Nationalpark und gegen Kraftwerke eingesetzt. Ich werde weiterhin dagegen kämpfen, weil ich meine Heimat liebe. Die Frau Abgeordnete Hubinek war deswegen 1986 bei uns im Hotel, aber auch andere Politiker, unter ihnen Busek, Schüssel, Riegler, Heinzinger, Fischer, Bundespräsidentschaftskandidat Steyrer und die Fleming. Marga Hubinek ist gekommen, um mit den heimischen Politikern über Nationalpark und Kraftwerk zu diskutieren. Das spielte sich bei uns in der Stube ab. Sie war die einzige Frau – 30 heimische Politiker, die das Kraftwerk wollten, sind auf sie losgegangen. Die ehemalige Nationalratspräsidentin hat sich damals sehr für den Nationalpark und gegen das Kraftwerk eingesetzt. Der 282

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

Abb. 9: Theresia Brugger, die kühne Wirtin aus Matrei.

ehemalige Landeshauptmann von Tirol, Eduard Wallnöfer, hat ihr deswegen das Du-Wort entzogen. Gott sei Dank haben uns die Medien und die Herren Gerhard Heilingbrunner vom ‚Kuratorium Wald‘, Peter Haßlacher vom Alpenverein, Professor Wolfgang Retter und ihre Freunde sowie andere freundliche Damen und Herren kräftig unterstützt. Ich bin ihnen sehr dankbar. Du hast mich gefragt, warum ich mich für den Nationalpark und gegen Kraftwerke, die man hier machen wollte und machen will, eingesetzt habe und weiterhin einsetze. Ich liebe Matrei fanatisch. Damit Gäste kommen, muss unsere Bergwelt schön bleiben. Ich bin voll davon überzeugt, dass es nirgends so schön ist wie hier. Wir haben viel Sonne, bis weit hinauf sind die Berge grün.“ Wunderschön ist vor allem die Prosseggklamm, durch die der Tauernbach von hoch oben herunterdonnert und dann in die Isel fließt, die wieder einem Kraftwerk geopfert werden soll. Ich kenne diese Klamm gut, sogar im Winter wagte ich mich vor einigen Jahren durch. Als Beweis schleppte ich zum Erstaunen von Theresia 283

9. Wirtin und Rebellin – Theresia Brugger aus Matrei in Osttirol

und ihrer Tochter Katharina einmal einen großen Eiszapfen zum Hotel Hinteregger. Theresia Brugger kann man nicht genug danken für ihren Einsatz für diesen schönen Flecken Erde mit seinen Bergen und den zu Tale rauschenden Bächen.

Eine kleine Theorie der Gastwirtschaft und der Wirte Die Wirtin und der Wirt haben Gelegenheit, mit vielen Menschen, die ihre Gaststätte aufsuchen, in engeren Kontakt zu treten. Oft entstehen freundschaftliche Beziehungen. Darauf weist Theresia Brugger hin, die zu vielen ihrer Gäste eine innige Zuneigung hat. Schließlich werden Wirtin und Wirt an den Gasthaustischen Zeugen von mitunter aufrührerischen Gesprächen und Ideen. Sie gelangen so zu wichtigen Informationen, die von ihnen verarbeitet werden. Es ist bemerkenswert, dass es auch Wirte waren, die zu Anführern von Rebellionen wurden. Dabei ist an Andreas Hofer, den Sandwirt vom Passeiertal, der den Aufstand gegen Napoleon anführte, und Christoph Zeller, den Wirt aus Haibach ob der Donau zu denken, der 1626 im Bauernkrieg gegen die katholischen Machthaber zu Felde zog. Auch Theresia Brugger gehört zu jenen Gastwirten, die es sich nicht gefallen lassen, dass mächtige Herrschaften gegen die Interessen der „kleinen Leute“ und zu deren Nachteil agieren.  

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10. Musikant und Strassner Pascher – Franz Egger Vorgeschichte Vor einigen Jahren rief mich Hans Fuchs aus Bad Aussee an, der mich von meinem Wildererbuch und einigen Vorträgen über Wildschützen in Altaussee kannte. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, mit den bekannten Strassner Paschern aufzutreten. Als Pascher werden im Ausseerland Sänger bezeichnet, die zu ihren Liedern oder nur zur Musik mit den Händen rhythmisch paschen, also klatschen. Diese fünf Herren singen unter anderem Wildererlieder und spielen dazu vor allem die Ziehharmonika. Ich sagte sofort zu, denn nicht nur die Pascher sind mir sympathisch, sondern auch Hans Fuchs. Bevor er sich mit musikalischen Veranstaltungen und Auftritten von Musikanten befasste, war er ein beliebter Postbeamter in Bad Aussee. Insofern war er ein später Kollege des Vaters von Anna Plochl, der Frau von Erzherzog Johann, der Postmeister von Bad Aussee gewesen ist. Hans Fuchs organisierte einige schöne Veranstaltungen in mehreren Orten der Steiermark, in Oberösterreich und sogar bei Wien, bei denen die Strassner Pascher ihre Lieder sangen und ich dazwischen über die Geschichte der Wildschützen einiges erzählte. Der Name Strassner Pascher leitet sich von dem kleinen Ort Straßen bei Bad Aussee ab, aus dem vier der fünf Musikanten stammen. Wenn ich hier ihre Namen anführe, so nenne ich zuerst ihren Schreibnamen, also den amtlichen Namen, der in der Geburtsurkunde steht, dann den sogenannten Vulgonamen, das ist der Name, der meist vom Bauernhof, auf dem man lebt, oder vom Beruf abgeleitet ist. Das Wort vulgo stammt vom lateinischen Wort „vulgus“ und heißt demnach „im Volk“. „Im Volk“ ist man zum Beispiel der Grabenbauer Hans, weil man vom Bauernhof Grabenbauer abstammt. Der tatsächliche Familienname kann ein 285

10. Musikant und Strassner Pascher – Franz Egger

ganz anderer sein. Gewöhnlich wird man in bäuerlichen Gegenden Österreichs heute noch mit dem Vulgonamen angeredet, wobei dieser vor dem Vornamen kommt. Die Namen der Strassner Pascher sind also: Herbert Grill vulgo Hauser Herbert, Hans Syen vulgo Marl Hans, Willi Seebacher vulgo Galler Willi und Walter Hillbrand vulgo Besner Walter. Einer der Strassner Pascher kommt aus Lupitsch, dem kleinen Ort am Rande von Bad Aussee auf dem Weg zum Pötschenpass. Es ist dies Franz Egger vulgo Spitzer Franz, dem dieses Kapitel gewidmet ist. Gemeinsam mit den Strassner Paschern und mir wurde auf Initiative von Hans Fuchs eine CD hergestellt. Auf dieser hört man unter anderem die Lieder „Bin a lustiger Wildschütz“, „Waldhansl“, „Mei Röckerl is zlumpert“ und „Lasset uns das Leben genießen“. Zwischen den Liedern erzähle ich über die Ausbeutung der Bauern, denen die Jagd verboten war und die nicht einmal den Wald betreten durften, über die Bauernkriege, das Jahr 1848, in dem der Bauer frei wird und das Recht der Jagd erhält, und über die Verehrung der Wildschützen bei den kleinen Bauern, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichen Jagdherren das Wild wegschossen. Die echten Wildschützen, die sich an Regeln hielten und nicht alles schossen, galten als ehrenhafte Leute. Sie waren als Rebellen auch bei Mädchen hoch angesehen. Als 2009 der liebenswürdige Hauser Herbert plötzlich starb, empfanden wir alle große Trauer über diesen gescheiten und heiteren Herrn, der große Sympathien für die alten Wildschützen hatte. Bei seinem Begräbnis hatte ich die Ehre, in der Kirche von Bad Aussee, in der der Sarg stand, ein paar Worte zum Gedenken an ihn zu sprechen. Vier Musikkapellen begleiteten den großen Trauerzug. Noch während des Begräbnisses spielte eine der Kapellen außerhalb der Friedhofsmauer Wildererlieder. Franz Egger als Obmann der Feuerwehrmusikkapelle Lupitsch und Bezirksobmann des Steirischen Blasmusikverbandes hatte die musikalische Umrahmung des Begräbnisses bestens organisiert. Ich war zu dieser Zeit gerade in Siebenbürgen, Franz informierte mich telefonisch vom Tode Herberts, worauf ich meinen Aufenthalt abbrach und nach 286

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Aussee reiste. Nach dem Begräbnis traf ich mich mit den anderen Strassner Paschern in einem Gasthaus, wo wir bei Speis und Trank an Hauser Herbert dachten. Ich habe schöne Stunden mit den Strassner Paschern erlebt. Mit Franz Egger führte ich spannende Gespräche. Ich lernte einiges von ihm über die alte Musikantenkultur, die gerade im Land um Bad Aussee Geschichte hat. Ich bat ihn daher, mir für dieses Buch aus seinem Leben zu erzählen.

Zugang Zum Gespräch fahre mit meiner Frau Birgitt in ihrem Auto über die Pötschenstraße von Bad Aussee nach Lupitsch. Im Haus Nr. 113 wohnen Franz Egger, der Strassner Pascher, und seine liebe Frau Irmi. Wir werden freundlich von ihnen empfangen und nehmen im schönen Wohnzimmer Platz. Enkel Daniel freut sich über unsere Dackeldame Hera. Zufällig ruft meine Cousine Dr. Viktoria Kickinger an. Als sie erfährt, wo wir gerade sind, schwärmt sie von den Strassner Paschern, deren CD sie bei ihren Autofahrten immer wieder anhört. Besonders gefällt ihr das Lied „Lasset uns das Leben genießen“, das Franz Egger mit Begeisterung singt. Ich gebe den Hörer an Franz weiter, der angeregt mit Viktoria spricht und scherzt. Zunächst reden sie über die Jagd. Franz meint: „Wir verwenden nicht nur die Jägersprache, nach der man nicht sagen darf, dass ein Bock schön ist, sondern gut. Wir verwenden hier auch unsere Volkssprache, in dieser sagt man zu einem guten Bock: ein husiger Bock oder ein haftiger Bock. Der Bock heißt nicht immer gut oder kapital wie in der Jägersprache.“ Ich merke, die beiden verstehen sich gut. Birgitt trinkt Kaffee, ich trinke meinen Tee und esse ein Stück von Irmis selbst gebackenem Kuchen. Wir sprechen jetzt darüber, dass eine Dame, die im Ausseerland Veranstaltungen organisiert, mich zu einem Vortrag eingeladen hat, gemeinsam mit jungen Musikanten aus der Gegend, obwohl die Strassner Pascher gerne zu meinem Vortrag aufgespielt hätten. Franz Egger meint, das wäre 287

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schade. Birgitt schlägt vor, ich solle die Dame anrufen und ihr sagen, dass ich mit den Strassner Paschern auftreten will, sie soll sich etwas einfallen lassen. Ich rufe höflich an, habe aber wenig Erfolg. Birgitt meint, ich solle ihr sagen, ich würde nur mit den Strassner Paschern zur Höchstform auflaufen. Zweimal bin ich mit diesen wunderbaren Musikanten schon in Aussee aufgetreten und es war für mich stets eine große Freude. Birgitt spricht auch mit der Dame, aber sie erhält eine ähnliche Antwort wie ich. Doch sie gibt nicht auf und setzt sich vehement für einen Auftritt der Strassner Pascher ein. Franz kommentiert scherzend Birgitts Einsatz für die Pascher: „Deine Frau sollte in die Politik gehen. Sie ist gewaltig, da hat keiner eine Chance. Die Bundespräsidentenwahl steht bevor. Vielleicht kann sie da noch einspringen.“ Birgitt hatte auch keinen Erfolg, aber letztlich war der Auftritt mit den jungen Musikanten ein sehr schöner. Wir kommen nun auf das von mir geplante Buch zu sprechen.

Die Urgroßmutter mit der Büchse – der Vater als Flügelhornist Franz erzählt von seiner Herkunft und seinen ersten Lebensjahren, die eng mit Musik verbunden sind: „Ich bin am 30. Jänner 1953 in eine Bergarbeiterfamilie in Bad Aussee hineingeboren worden. Mein Vater ist in Reitern beim Tannenwirt aufgewachsen, das ist sein Heimat- oder Stammhaus. In diesem Wirtshaus ist immer Musik gemacht worden. Meine Urgroßmutter, die Lies, hat Gitarre gespielt und der Urgroßvater die Zither. Beide haben im Wirtshaus musiziert und haben dadurch auch in der schlechtesten Zeit ein Geschäft gemacht. Die Großmutter hat auch Zither gespielt, aber nicht so oft wie die Urgroßmutter. Der Vater hat oft erzählt, dass er als Schulbub mit seinen Großeltern auf die Alm am Sarstein gegangen ist. Dort haben sie den Jäger getroffen. Dieser hat die Großmutter, von der er geglaubt hat, dass sie wildert, angeschrien: ‚Lies, wo hast du die Büchse?‘ Sie hat geantwortet: ‚Weißt 288

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du nicht, wo die Weiberleut die Büchsen haben?‘ Die Lies war eine gefürchtete Frau. Sie hatte einen ledigen Sohn, den Franz Moser, der war ein gewaltiger Rumplspieler – die steirische Rumpl ist eine Ziehharmonika. Mein Vater hat mit ihm, als er noch ein Schulerbub war, bis Mitternacht Gitarre gespielt. Am nächsten Tag hat er keine Aufgabe für die Schule gehabt, deswegen hat er vom Lehrer eine Watsche bekommen. Er traute sich nicht zu sagen, dass er im Wirtshaus war.“ Ich bewundere die Freude der Vorfahren von Franz an der Musik. Er erzählt weiter: „Der Vater war später bei der ‚Arbeitermusik‘, die 1921 von den Arbeitern der Saline Bad Aussee gegründet worden ist, sie ist heute die Stadtkapelle. Dann ist er in das Salzbergwerk Altaussee versetzt worden, die dortige Salinenmusik hat einen Flügelhornisten gesucht. Wenn die einen Musikanten gebraucht haben, haben sie einfach einen von einer anderen Musikkapelle genommen. Mein Vater hat mit 15 Jahren Flügelhorn gelernt. Es gibt Fotos, die zeigen die jungen Buben mit den Musikinstrumenten auf den Almen, überall haben sie gespielt. 1939 ist er mit 19 Jahren zum Militär eingerückt. Wie er nach acht Jahren heimgekehrt ist, hat er mit einigen Kameraden die Lupitscher Feuerwehrmusik wieder aufgebaut. In der Saline hat er einen Posten bekommen, nicht weit vom Bahnhof, sie gibt es seit 1994 nicht mehr, das Gebäude ist schon weggerissen worden. Der Vater war von 1948 bis 1950 in Bad Aussee beim Sudbetrieb, anschließend bis 1975 beim Salzbergbau in Altaussee als Häuer, ein typisch bergmännischer Beruf.“

Der junge Musikant in Lupitsch Franz erzählt weiter: „Zuerst haben wir in Reitern bei einem Bauern auf dem Hof gewohnt. Die älteste Schwester Gertraud ist 1951 geboren, ich bin 1953 geboren. Wir haben zwei jüngere Schwestern, Elisabeth, sie ist 1957 geboren, und Justine, sie ist 1963 geboren, und einen Bruder, Herbert, er ist 1966 geboren. 1957 sind wir in das neue Haus in Bad Aussee eingezogen. Unsere Eltern haben 289

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dieses Haus durch harte Arbeit unter schwierigsten Bedingungen von einem kleinen Salinenarbeiterlohn gebaut.“ Franz kommt nun auf den Beginn seiner Musikantentätigkeit zu sprechen: „Wie ich zehn Jahre alt war, hat der Vater zu mir gesagt, ich müsse ein Instrument lernen, ich müsse in die Musikprobe der Blasmusikkapelle gehen. Dies habe ich getan und bin dabei geblieben. Ich habe Flügelhorn gespielt, der Vater auch, aber er spielte auch Gitarre und steirische Harmonika. Gestorben ist er 2008 mit 88 Jahren.“ Franz zeigt mir ein Bild mit seinem Vater und erzählt weiter: „Als ich das Flügelhorn beherrschte, ist es losgegangen. Bei der Lupitscher Musik haben sie ständig neue Leute gesucht. Zuerst habe ich die zweite Stimme im Flügelhornregister geblasen, dann die erste Stimme. Seit mehr als 44 Jahren bin ich nun bei der Lupitscher Musik. Das hat sich so ergeben, ich bin in die Musikkapelle hineingewachsen.“

Harte Arbeit als Lehrling – der Geselle als Fischer und Vogelfänger „Ich habe Elektriker gelernt, ich war zehn Jahre bei der Firma Schwarz-Wagendorfer in Bad Aussee. Von 7 Uhr früh bis 17 Uhr war mein Dienst. Am Abend war ich entweder im Kino als Operateur oder bei einer Musikprobe. Es hat Zeiten gegeben, da bin ich um 5 Uhr früh von den Tanzmusikauftritten heimgekommen und um 7 Uhr wieder zur Arbeit gegangen. Die war beinhart, wir waren vier Lehrbuben. Einer musste zum Pernstich Siegi, so hat der Geselle geheißen. Dieser war gefürchtet, keiner wollte zu ihm. Ich war ihm drei Jahre lang als Lehrbub zugeteilt. Es war eine harte, aber gute Lehre. Technisch hat man viel gelernt, aber man hat fleißig sein müssen. Dieser Geselle wurde mein Freund. Jetzt mit über 70 Jahren hat er noch viele Hobbys. Er ist ein gewaltiger Fischer, der nach allen Regeln der Kunst fischt, meistens dort, wo er darf. Er hat sich damals mit dem Betriebsleiter gut verstanden. Unsere Aufträge in der Firma bezogen sich vor allem auf Elektroinstallati290

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onen in Einfamilienhäusern und Siedlungsbauten. Wir waren mit unserer Arbeit oft unter dem Rahmen des Kostenvoranschlages. Es ist sich allerhand nebenbei ausgegangen. In der Vogelfängerzeit ist der Siegi schon um 2 Uhr in der Früh auf den Zinken hinaufgegangen. Mir hat er am Vortag gesagt, was ich an Elektroinstallationen machen muss. In dieser Firma habe ich von August 1968 bis September 1978 gearbeitet.“

Die Faszination des Salzes – Franz als Elektriker in der Saline Zwei rote, durchsichtige Salzsteine, einer ungefähr 20 cm hoch, mit einer Glühlampe installiert, stehen in der Ecke des Raumes: Dazu meint Franz nicht ohne Stolz: „Diese beiden Brocken habe ich selbst herausgeholt aus dem Berg. Das ist reiner Kristall, der durchsichtige ist nicht so häufig. Man muss wissen, wo es den gibt. Die alten Stollen sind schon fast zusammengefallen, der Bergdruck ist zu stark, bei manchen kann man nur mehr auf dem Bauch liegend hinein.“ Ich frage Franz, ob er Angst hatte, wenn er in einen solchen Stollen kroch. Er verneint: „Angst habe ich keine, ein ungutes Gefühl habe ich, wenn ich in großen Menschenmengen bin. Aber sonst nicht.“ Das Salz gehört zum Ausseerland, der Abbau schuf eine spannende Kultur, zu der auch Franz und die Musik gehören. Franz erzählt nun über sein Leben mit dem Salz: „Im September 1978 habe ich in der Saline Bad Aussee als Betriebselektriker angefangen, nach zwei Jahren war ich schon Betriebsratsstellvertreter und nach vier Jahren Vorsitzender. Bis 1994 war ich im Zentralbetriebsrat, bis dahin war die Saline in Bad Aussee in Betrieb. Es kam nie zu einer offiziellen Betriebsschließung. Der Generaldirektor hat uns immer gesagt: ‚Wir haben harte Verhandlungen geführt, der Betrieb läuft, es ist nur niemand da.‘ Jedenfalls 2001 wird das Gebäude der Saline abgetragen. Die ganze Belegschaft ist nach Ebensee versetzt worden. Zu zweit kamen wir zum Salzbergbau 291

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Altaussee. Den Betriebsleiter Dipl.-Ing. Ernst Gaisbauer habe ich dort bereits gekannt. Er wurde später technischer Vorstand. Mit ihm habe ich mich zusammengeredet und gefragt, ob sie einen Elektriker brauchen. ‚Ja‘, hat er gesagt, ‚wir brauchen einen Elektriker, einen Schlosser aber auch.‘ Als Elektriker habe ich mich angeboten, Schlosser wurde der Klier Fred, ein Freund von mir. Wir beide haben im Stollen gearbeitet, ich als Grubenelektriker. 50 Kilometer Stollen des Grubengebäudes mussten elektrifiziert werden, das bedeutete viel grobe Arbeit ohne Ende. Wir waren zu fünft in der Instandhaltungsabteilung, ein Vorarbeiter und vier Elektriker. In den Stollen funktioniert alles elektrisch oder mit Pressluft, denn man soll aus gesundheitlichen Gründen kein Benzin und keinen Diesel im Stollen verwenden. Die Kabel wurden an den Wänden befestigt. Dazu mussten viele Löcher geschlagen oder gebohrt werden. In letzter Zeit wurde auch mit EDV-Steuerungen gearbeitet. Das Altausseer Salzbergwerk ist der größte Solelieferant Österreichs. Es wird übrigens jetzt eine neue Soleleitung über die Blaa-Alm nach Bad Ischl gebaut. Das Schaubergwerk in Altaussee wird leider nicht so gut besucht wie das in Hallstatt, weil Hallstatt den bekannteren Namen hat.“ Ich erzähle, dass ich in Salzburg in einem Geschäft Ausseer Salz gekauft habe. Der Name Aussee in Verbindung zum Salz hat zumindest bis Salzburg einen guten Ruf. Franz nickt und sagt: „Alle mögliche Arten von Salz werden bei uns produziert. Das Salz des Bergkerns wird hauptsächlich für die Wildfütterung verwendet. 1.200 Tonnen an Kernsalz kommen allerdings aus Polen, weil es dort billiger ist. Das Kernsalz, das als Speisesalz verkauft wird, wird noch weiterhin hier erzeugt.“ Franz unterbricht und fotografiert uns mit einer sehr teuren Kamera und sagt dazu: „Die Kamera hat mir mein Bub zu Weihnachten geschenkt. Sie hat eine ausgezeichnete Auflösung. Wie es beim Musizieren so ist, braucht man manchmal ein Foto für ein Plakat oder eine Zeitung. Bei meinem alten Apparat hat es mit der Auflösung nicht hingehauen. Jetzt mit dem neuen geht es.“ Franz zeigt mir ältere Fotos, auf dem einen ist sein Sohn, der inzwischen 32 Jahre alt ist, als kleiner Skifahrer zu se292

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hen. Franz erklärt: „Er ist damals mit uns zu einer Almhütte gegangen, im Sommer und im Winter. 1971 haben wir sie hergerichtet.“ Zum Leben von Franz und seiner Familie gehören das Salz, aber auch die Berge mit ihren Almen, die gerade in den Wildererliedern, die Franz und seine Strassner Pascher begeistert singen, höchst bedeutsam sind, zumindest als Versteck für den Wildschützen.

Die Frau des singenden Wildschützen – als Filmoperateur in Altaussee Wenn ich Franz als singenden Wildschützen bezeichne, so nicht darum, weil er tatsächlich ein ehrbarer Wildschütz ist (zumindest weiß ich nichts davon), sondern weil er bei seinen Auftritten mit den Strassner Paschern die alten Wildschützenlieder singt. Bei denen geht es um die Gams, die man dem meist aristokratischen Jagdherrn wegschoss, wie in dem Lied „An einem Sonntagmorgen, recht zeitig in der Fruah, nimmt der Wildschütz sein Stutzerl und geht dem Gamsgebirg zua …“, oder um eine Frau, die den Wildschützen bei seinen Unternehmungen unterstützt. In einem Spruch heißt es: Was braucht denn der Schütz, er braucht nichts als ein schwarzäugiges Mädchen und eine Abschrauberbüchs (ein zerlegbares Gewehr). Ähnlich heißt es in einem Lied der kalabrischen Mafia: Der Mann braucht zwei Sachen – amuri donna e cori di briganti (die Liebe einer Frau und das Herz des Räubers). Irmi, die Frau von Franz, ist eine solche Dame, auf die er sich voll verlassen kann und die ihm bestens zur Seite steht. Als ich Franz frage, wie er seine Frau kennengelernt hat, führt er aus: „Das ist so eine Geschichte. Ich war damals bei Schwarz-Wagendorfer beschäftigt – nach der Pflichtschule kam ich dort in die Lehre. Mein Geselle dort war im Altausseer Kino Operateur. Ich habe bei ihm diese Tätigkeit des Filmvorführers gelernt, auch die Prüfung habe ich gemacht. Dann war ich jahrelang im Kino von Altaussee der Operateur. Das Problem war die Beleuchtung. Den Lichtbo293

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gen von den Kohlen hat man ständig kontrollieren müssen. Bei den neuen Maschinen werden die Kohlen automatisch nachgespannt. Die beiden Elektroden waren aus Kohle, die haben sich abgetragen durch den Lichtbogen. Ich musste immer wieder nachstellen, damit der Lichtbogen immer gleich ist, damit das Licht durch die Linsen stark genug ist und der Film genügend Helligkeit hat. Vorne ist die Filmmaschine, hinten ist ein Kasten, in dem sich der Lichtbogen befindet. Wir waren als Operateure zu zweit. Eine Zeit lang waren wir zu dritt. Tagtäglich.“ Als ich frage, wo sich das alte Kino von Altaussee befunden hat, meint Franz: „Das Kino war dort, wo dir im letzten Sommer der Zahn ausgefallen ist.“ Tatsächlich hatte ich im August 2009 vor dem Kaufhaus Schlecker Probleme mit einem Stiftzahn, der sich gelockert hatte und schließlich herausfiel. Franz fuhr wegen dieses Zahnes mit seinem Motorrad zur Apotheke in Bad Aussee, kaufte dort für mich ein Zahnhaftmittel und brachte es mir. So konnte ich meinen Zahn zumindest für ein paar Tage, bis ich meine Zahnärztin Dr. Tilla Baumann in Spital am Pyhrn aufsuchte, befestigen. Jedenfalls stand am Platz des Kaufhauses Schlecker früher das Kino, in dem Franz als Filmvorführer tätig war. Zu dieser Tätigkeit sagt Franz noch: „Sechs oder sieben Jahre habe ich mich als Operateur betätigt. Die Kinovorführung hatte bis ½ 11 Uhr gedauert. Danach habe ich ein Gasthaus aufgesucht, dabei habe ich die Irmi kennengelernt.“ Franz meint, dieses Treffen war sein Schicksal und fährt fort: „Wir haben uns gleich verabredet. Ich habe am nächsten Tag wieder eine Kinovorführung gehabt. Zu dieser habe ich sie eingeladen. Sie hat in Altaussee in der Salzbergstraße gewohnt. Beim ‚Postillion‘, nicht weit davon, haben wir uns einen Treffpunkt ausgemacht.“ Heiter sagt er: „Ich war auf die Minute da“, tatsächlich hatte er sich verspätet. Irmi mischt sich ein: „Ich hätte mir etwas dabei denken sollen, wenn er beim ersten Rendezvous zu spät kommt.“ Birgitt erzählt, dass ich mir bei unserem ersten Rendezvous 20 Schilling von ihr ausgeborgt habe, und auch das hätte ihr zu denken geben sollen. Heute können wir darüber lächeln. Franz erzählt weiter: „Damals hatte ich dreimal in der Woche Filmvorführung, aber 294

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auch das Dachstein-Quintett, eine Tanzmusikgruppe in Oberkrainerbesetzung, habe ich 15 Jahre geleitet. 1971 sind wir das erste Mal ausgerückt. Das war mir fast zu viel. Eine Freundin und zwei Jobs am Abend waren ganz schön anstrengend.“

Der Musikant – der Kontakt zum Publikum Franz erzählt, worauf es bei einem guten Musikanten ankommt: „Als Musiker braucht man Kontakt zum Publikum. Am Anfang der Veranstaltung versucht man, Kontakt aufzubauen. Gelingt dies nicht, so sagt jeder: ‚Heute ist nichts Gescheites, es ist nichts los.‘ Oft dauert es eine Stunde oder zwei, bis halbwegs etwas zum Publikum rübergekommen ist. Man sieht das bei Profikapellen, die machen ein Superprogramm, aber wenn es ihnen nicht gelingt, Kontakt zum Publikum herzustellen, ist es für sie eine LarifariVorstellung, also eine unnütze, sinnlose Veranstaltung. Es kommt auf die Kunst des Moderators an, ob ein Auftritt etwas wird. Das war bei unserem Musizieren auch so. Wir waren fünf Musikanten, wir waren gleich alt. Der eine hat ein Musikgeschäft und ist heute Bezirkskapellmeister. Wir waren eine Tanzmusikkapelle, die hat es bis 1984 gegeben. Wir sind auch in Bierzelten mit Mikrofon aufgetreten. Wir hatten 60 bis 70 Auftritte im Jahr. Stark ist es geworden ab 1975/76. Da haben wir sogar Schallplatten gemacht und haben etwas verdient.“ Birgitt unterbricht und meint, diese Auftritte mit Schallplatte würden sie an die Auftritte von Hansi Hinterseer erinnern. Franz nickt und hält dazu fest: „Den Hansi Hinterseer kennen wir Musikanten gut. Er macht es mit seinem Charme, er spricht eine gewisse Schicht an. Für einen Film mit dem Hansi Hinterseer haben wir Strassner Pascher in einer Gaststube in Grundlsee gepascht. Der Hansi hat sich dann zu uns gesetzt, er hat mit uns gescherzt und uns seine Telefonnummer gegeben. Mit unserer MongoleiGeschichte waren wir in Innsbruck. Vorher hat der Herbert zu mir gesagt: ‚Gib mir die Nummer vom Hansi Hinterseer. Ich rufe ihn 295

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an. Vielleicht können wir uns mit ihm treffen‘. Er hat nämlich damals zu uns gesagt: ‚Wenn Ihr einmal in meine Gegend kommt, meldet euch.‘ Der Herbert hat ihn also angerufen. Der Hansi hat sich mit ‚Hallo‘ gemeldet. Sagt der Herbert: ‚Hansi, ich bin einer der Strassner Pascher. Kennst du den Herbert noch?‘ Sagt er: ‚Ich weiß eh, wer Ihr seid.‘ Herbert sagt: ‚Wir haben in Innsbruck einen Auftritt, vielleicht können wir uns beim Stanglwirt treffen.‘ Hansi antwortet: ‚Es tut mir leid, ich würde euch gerne treffen, aber ich bin, wenn Ihr in Tirol seid, draußen in Deutschland.‘“

Der Hausbau und der Sturz vom Haus Birgitt fragt nun: „Wie habt ihr damals gelebt, du und Irmi?“ Franz antwortet: „Diese Frage ist interessant. Wir haben die erste Zeit in unserer Ehe sehr gespart. Die Irmi war Schneiderin beim Haselnus, einem Trachtengeschäft in Altaussee. Wir haben erfahren, dass es in Lupitsch einen Baugrund zu kaufen gibt. In der Nähe von Altaussee oder Bad Aussee wäre der Grund zu teuer gewesen. Wir haben also den Grund in Lupitsch gekauft. Jetzt ging es an das Hausbauen. Es war 1977 im Frühjahr, ich war damals 25 Jahre alt. Der Bürgermeister von Altaussee ist zur Kommissionierung des Hauses gekommen. Ich hatte den Plan für das Haus. Der Bürgermeister meinte, das Haus sei viel zu groß geplant und passe nicht auf das Grundstück. Wir mussten nun einen neuen Plan fertigen lassen. Wir waren unter Zeitdruck. Ich wollte im Sommer das Dach oben haben, damit das Haus im Winter fertig wird und wir einziehen können. Ich habe den neuen Plan zur Gemeinde gebracht und den Bürgermeister gefragt, wann er wegen der Kommissionierung komme. Er hat gesagt, das dauert eine Zeit, denn es geht alles seinen Weg. Da sagte ich: ‚Mir läuft die Zeit davon, ich will im Herbst das Dach oben haben.‘ Der Vater war beim Salzberg und der Bürgermeister auch. Der Vater dürfte den Bürgermeister wegen unseres Hauses angesprochen haben. Der Bürgermeister hat den neuen Plan angeschaut und hat gesagt: ‚Von den Abständen 296

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Abb. 10: Strassner Pascher, 1. v. r. Franz Egger.

her – zur Volksschule daneben – hat das Haus Platz. Stellt es hin.‘ Wie wir den Keller fertig hatten, sind wieder die von der Gemeinde gekommen und haben gesagt: ‚Es passt so.‘ Dem Baumeister in Altaussee haben wir etwas für den Plan gezahlt und ihn gebeten, uns die Bewilligungstafel zu geben, damit wir bauen können. Wo es am billigsten war, haben wir das Material gekauft. Der Vater war damals noch gut beisammen. Der hat auch geholfen. Nach dem Keller war das Geld ziemlich zu Ende. Die Irmi hat einen Großvater gehabt, der hatte etwas Erspartes. Der hat uns um 30.000 Schilling die Ziegel gekauft. Inzwischen haben der Vater und ich das Holz beim Sarstein gemacht, 45 Meter. Wir haben es schneiden lassen. Bald hatten wir den Dachstuhl. Das Haus ist bis zum ersten Stock gemauert, dann ist es aus Holz. Dazu haben wir Bäume gefällt, die uns im Weg standen. Vom Dachstuhl aus habe ich Äste von diesen Bäumen abgeschnitten. Dabei bin ich abgerutscht, es war nass, und bin auf das Kreuz gefallen, auf die Äste. Dabei habe ich mir einen Wirbel eingedrückt. Das war im Ok297

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tober. Ich bin dann ins Spital gekommen und war sechs Wochen außer Gefecht. Das hat sich aber wieder gegeben. Ich konnte hinterher nicht gleich arbeiten Jetzt haben uns Lupitscher Musikkollegen geholfen, der Vater, der Schwiegervater – er war Postchauffeur –, ein zweiter Postchauffeur – er war Zimmerer – und der Vater vom Fuchs Hans. Sie haben den Dachstuhl gezimmert. Das Dach wurde mit Ziegeln gedeckt. Ich war in Krankenstand, durfte also nicht arbeiten. Ich konnte aber nicht zuschauen, wie die anderen arbeiten, und bin hinauf auf das Dach, um mitzuarbeiten. Der Krankenkassenkontrolleur ist gerne in unserem Wirtshaus, das damals noch in Betrieb war, gesessen. Er hat mich gesehen, wie ich da oben auf dem Dach stehe und arbeite. Der Kontrolleur war aus Lupitsch und ist außerdem mit Irmi verwandt. Er ist zu uns gekommen und hat zu mir gesagt: ‚Das geht nicht. Ich schau dir die ganze Zeit zu, du bist doch im Krankenstand.‘ Er hätte aber als Angestellter der Krankenkasse auch nicht im Wirtshaus sitzen dürfen. Das habe ich ihm gesagt. Die Sache ist gut ausgegangen. Heute singe ich mit dem damaligen Krankenkassenkontrolleur, er ist auch ein guter Sänger, gemeinsam den Faschingsbrief.“

Die Faschingsbriefe von Lupitsch – Musikant am Altausseer Kirtag Eine alte Tradition im Ausseerland hat der Fasching mit seinen Bräuchen und den sonderbaren Gestalten, wie den Flinserln und den Trommelweibern. Zu den Faschingsbräuchen gehören auch die sogenannten Faschingsbriefe, die allerdings wörtlich genommen keine Briefe sind, sondern Darbietungen von Musikanten in Gasthäusern, die der Belustigung dienen. Dabei werden meist in Gedichtform Geschehnisse, Missgeschicke oder auch politische Themen aus dem Ort oder der Gegend aus dem letzten Jahr heiter präsentiert oder auch kritisiert. Die Musikanten, die den Faschingsbrief vortragen, erinnern etwas an alte Bänkelsänger, aber auch an moderne Kabarettisten. 298

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Diese Faschingsbriefe können so etwas wie Ventile sein, um sich ohne Probleme über Leute zu äußern, die als Gemeindevertreter oder andere wichtige Personen „kleine Leute“ verärgert haben. Man kann so der Obrigkeit mit Humor „eins auswischen“. Angeblich sollen diese Faschingsbriefe in früheren Zeiten bei den Salinenarbeitern sehr beliebt gewesen sein, um als Untertanen der Ausseer Herrschaft, die wegen des Salzabbaus direkt dem Kaiser unterstand, gehörig die Meinung zu sagen. Dazu hat Herr Christoph Franz Auerböck 2009 eine schöne Doktorarbeit mit dem Titel „Ausseer Fasching – eine ethnologische Betrachtung“ verfasst. Ich bin einmal am Beginn der 1980er-Jahre in Aussee in einen solchen Faschingsbrief gekommen. Ich wollte mit Herrn Dr. Michael Spitzy die Trisselwand, die ich vorher schon einmal auf einer schwierigeren Route durchklettert bin, durchsteigen. Dabei verfehlte ich den Einstieg in die Route und kam in brüchigen, kaum zu durchkletternden Felsen. Der Erfolg war, dass ein Hubschrauber kam, und dann stiegen Bergretter aus Altaussee in die Trisselwand, um uns aus der Wand zu holen, allerdings waren wir zu diesem Zeitpunkt bereits beim Abseilen. Dieses Missgeschick von mir, Herr Dr. Spitzy ist daran unschuldig, trug zu Spott in einem Faschingsbrief bei. Nebenbei sei erzählt, dass die Mutter von Herrn Dr. Spitzy, als sie den Hubschrauber sah, zu meiner Frau beunruhigt meinte, jetzt würde man uns beide aus der Trisselwand holen, wahrscheinlich sei etwas passiert. Meine Frau versuchte, ihre Tante damit zu beruhigen, indem sie sagte, wahrscheinlich würde mit dem Hubschrauber ‚der Androsch‘ eingeflogen. Dem war allerdings nicht so. Faschingsbriefsänger und auch Dichter von Texten oder Gstanzln für diesen Brief ist unser Freund Franz Egger. Einige seiner Texte hat er mir zukommen lassen. Zu den Faschingsbriefen erzählt Franz: „Seit 1991 singe ich den Lupitscher Faschingsbrief. Den habe ich mit drei anderen Sängern, die nicht bei der Musikkapelle sind, gegründet. Nach drei Jahren hat einer gesagt: ‚Jetzt will ich nicht mehr.‘ Wir zwei sind übergeblieben und haben andere Musikanten dazugeholt. Die Besetzungen haben gewechselt. Jetzt 299

10. Musikant und Strassner Pascher – Franz Egger

sind wir zu sechst. Die Texte mache ich. Jedes Jahr gibt es ein anderes Motto. Das ist schwer, es muss ja alles zusammenpassen mit der Musik. Wir treten im Gasthaus Wies‘n auf, in Altaussee beim Maislinger, dann im Ortsteil Reitern im Feuerwehrdepot und hier in Lupitsch in der vor 17 Jahre aufgelassenen, alten Volksschule, da gibt es einen großen Veranstaltungsraum, in diesem ist die Abschlussveranstaltung. Zum Proben fangen wir schon vor Weihnachten an. Oder auch nach Weihnachten, je nachdem, wie lang der Fasching ist. Wir haben insgesamt zwischen 10 und 14 Proben für die 20 bis 25 Lieder, von denen die meisten in dreistimmigem Gesang mit Harmonika und Gitarrenbegleitung vorgetragen werden.“ Ich bitte Franz um einen Text. Er singt mir einen Text nach der Marschmelodie „Wien bleibt Wien“ vor, der sich auf die Wiener Gäste in Altaussee bezieht: „Die Wiener, die Wiener sind gern in Altaussee da draußen, da rennt halt der gute alte Schmäh.“ Ein paar Kostproben der Faschingsbrieftexte von Franz, die er mir schickte, seien hier noch angeführt.

1. Eine Reise in den Süden: Melodie: Zwei kleine Italiener (Conny Froboess!) Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein, doch der Hansl und sei Gabi möchten gern alleine sein. Ein kleines Bliaseis Pärchen, will fliegen nach Antalya, sie glauben an ein Märchen, am Flughafen, sie sind schon da. Beim Einchecken mit Koffer, Ticket und Kamera sagt das Fräulein Stewardess, tut mir leid, Mister mit Grund. Ihre Flieger ist gestartet nach Türkei vor sieben Stund. Sie brauchen neues Ticket, bis nächste Woche, dann vielleicht Platz in Jumbomaschine, die Antalya erreicht. 300

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Das gibt‘s nicht, schreit der Hansl, mir zwoa hob‘n doch glei bald wo Platz. Mocht‘s hiatz do‘ koane Tanzln, ös wisst‘s jo nit, wem‘s vor enk hobt‘s. Mei Frau, die gscheite Gabi, is Pfarramtssekretär. Hat zum Himmel a Verbindung, als ob‘s d‘ Himmelmuatter wär, also her mit so an Flieger, sist hobt‘s noch a größer‘s Gscherr. Akk‘rat dann spät am Abend, sie sitzen Jumbo erste Klass, sie fliegen Richtung Osten, hiatz fängt erst an der große Spaß. Der Flieger land‘t in Dubai, ‘s Hotel in der Türkei, hobn‘s zum Glück a ganze Woch‘n, bis wieder müassen z‘Haus. Für oa‘ Nocht in Antalya, geht sich d‘ Reis wirklich aus. Mit Schiff und Zug und Radl, san‘s tagelang noch unterwegs, bis endlich in Antalya zum Frühstück essen Keks. Das ganze Geld verschuastert, sie stehn auf des Morgens früh. Der Urlaub in Antalya war so kurz als wie noch nie. A Woch‘n war beglichen, a Nacht warn‘s wirklich do, stehn in aller Früh beim Check-in, sist fliagn s‘ eah wieder davo‘. Müaßten bleiben bei den Türken, ja die Gabi und ihr Mo‘. Sie flogen niamals wieder mit einem großen Jumbojet. Hiatz mochn‘s liaber Urlaub daheim im Doppelbett.

2. Die gepeinigte Feuerwehr: gesprochen Der Freismuath Wimmer Erich trinkt g‘müatlich seine Bier‘, im Keller in der Werkstatt, auch Sagler Gerhard hier. Vertieft in Fachgespräche, die beiden ungestört, auf einmal lautes Klopfen man an der Türe hört. Die beiden leicht beruhigt, nach 14 Flaschen Bier, wer will den Frieden stören, wer steht da vor der Tür. Der Fischer Franz schreit: Aussa do! Schaut‘s enk des Feuer o‘! Die Mülltonne in Flammen steht, ganz aufgeregt der Mo‘. Der Gerhard und der Erich hob‘n sich koa bisserl g‘rüahrt, der oa‘ sogt nur, wonn‘s oll‘s verbrunna und verglüaht, das Feuer wieder gor sei‘ wird. 301

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Die Aniko, die fleißig Frau, siagst mit‘n Aschenladl gehn, vorm Haus jetzt nur noch d‘ Radln vom Mistkübel toan stehn. Mit Feuer und mit Funken kennen die zwei sich aus, denn auch beim nächsten Almera bricht wieder Feuer aus. (Melodie: Georg Danzer, Hupf in Gatsch) Der Hackler Freismuth Erich bricht auf zur Sandlingalm, der Aniko, sein‘ Schätzchen, tuat‘s auf der Alm recht g‘fall‘n. Ganz g‘müatlich in der Hütt‘n, doch schau am Loser drüb‘n, ein heller Lichterbogen, muaß was in Flammen stehn. Refrain: Die Feuerwehr, die muaß hiatz her, ruaft glei an den Häuptling Pfrill. Denn die Loserstraß‘n brennt, hab ja den Gugga in die Händ. Großer Einsatz, 20 Mann, fünf Einsatzwagen, Großalarm, in Altaussee für d‘ Kameraden. Doch was wirklich brennt, kann der Erich auch nit sog‘n. Hauptsach, d‘ Monna toan sich plog‘n. Die Florianijünger, sie fühl‘n sich richtig pflanzt, weil eah der Freismuth Erich auf d‘ Nasn umatanzt. Gor weit und breit koa Feuer am Loser war zum Sehn, das was der Erich g‘moand hat, san‘ d‘ Mautscheinwerfer g‘wen. Refrain: Hupf in Gatsch und schlog a Welln, jo oba tua uns doch nit quäln. Hupf in Gatsch und gib a Ruah, sonst moch ma dir die Äugerln zua. So an Oamutschgerl wia dir schenk i koan Schilling, oba na, i gib‘ dir zwoa, du bist a Zwilling, weil oana alloa konn do nit so deppert sei‘. Hupf in Gatsch und grob di ein.

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3. Seltenes Weidmannsheil Der Lupitscher Gemeindejaga, Gaisberger-Fischer Franz, is recht akk‘rat auf seine Reh und sonst mancherlei Tanz. Die Fuatterung im Winter is stets beschickt und g‘richt, eahm vor der Fuatterkrippn a G‘ruch in d‘ Nasn sticht. Er is‘ sichtli‘ dreig‘stieg‘n in so an Haufen Dreck, kriagt seine Sportlerhaxln vom Dreckhaufen nit weg. Oan Stief‘l hot‘s eahm auszog‘n, der steckt do in dem Sch … A Zornderl hot‘s eahm zuazog‘n, im G‘sicht do wird er weiß. A so a großer Hundsdreck, vor seiner Fuatterung, stammt sicher von dö Windhund, vom Windbauern da drunt. A G‘fleder, an Bahöu, mocht er bei d‘ Windbauersleut, die Gabi sogt zum Jaga Franz, ram holt den Dreck auf d‘ Seit‘. Der Franz schreit laut, schau dir dos on, die Braunschweig-dicken Würscht, die Gabi sich‘s nit nehma losst, zur Fuatterung aufipürscht. Da find‘t sie das Beweismittel beim Lokalaugenschein, voll Unschuldsüberzeugung geht‘s zu dö Hunderln heim. Am nächsten Tag, a wengerl g‘lodnt, passt sie dem Jaga vo‘: Du krautig‘s Mandl, do gehst her, schau dir die Soch‘ hiatz o‘. Zur Rehfuatterung im Wald da drob‘n, kemman meine Hund gor nia, da neb‘n der Wurscht, da liegt weiß-braun a Fetzen Klopapier. Ja meine Hund san gut erzog‘n, doch das können s‘ noch nicht, dass Oarsch auswischen müssen, wonn‘s d‘ Notdurft hob‘n verricht.

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4. Trockenes Jagalebn A so a Jaga hots nit leicht, wonn er so duri d‘ Leckern schleicht. Do is glei bold amol zum Schwitz‘n, konnst di‘ nit ollweil dohi sitz‘n. Da is holt doscht und do recht fesch, Wonns‘ d‘ irwand wo a Loger hätt‘st. Denn ‘s Wosser trinka is nit g‘sund, das losst er besser seinem Hund. A junger Jaga z‘ Wüdnsee, dos kennst sofort, do geht wos weiter, nit grod beim Wüdbrat kennt er si‘ aus, er is a monchmoi heiter. Melodie: Der Goiserer Jaga Und der Goiserer Jaga, Schmuzer Gerhard hoaßt, den ganzen Summa lang im Birig umaroast. //: Er braucht a Raststation z‘weitigst im Bärental, so a Hütterl baut er ollemol. :// Jo dos Hütterl steht feschtig im Tal herunt‘, nur der Hubschrauber das Trumm verliefern kunnt. //: A großer Helikopter kimmt akkurat daher, doch die Hütt‘n is so sakrisch schwer. :// Wia‘s oft einischau‘n, warum die Hüttn schwa‘, mochan auf die Tür, poa Jaga, dos is rah. //: Bis zum Rauhfang aufi, voll mit Dosenbier, grod zum Saufen aufigeh is schia. :// holla raeho, diri diri dirie, drahe über d‘ Alma her, holla raeho, diri diri dirie, drahe über d‘ Alm. Franz ist vielseitig als Musikant. Auch beim berühmten Altausseer Kirtag im September, der drei Tage dauert, den Beginn des Herbs304

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tes ankündigt und bei dem die Wiener Sommergäste noch einmal Altausseer Lustbarkeit genießen, spielt er auf. Er erzählt dazu: „Zum Altausseer Kirtag spiele ich schon 35 Jahre am Sonntag und am Montag mit der Bierzeltmusi. Am Samstag spielen die Altausseer. Innerhalb von 24 Stunden spielen wir 15 Stunden. Wir sind die Lupitscher Musikanten, 20 Mann aus der Feuerwehrmusikkapelle.“ Ich frage, ob man dabei trinkfest sein muss. Franz meint: „Man muss richtig dosieren. Man muss aber immer ein bisserl trinken, damit man in Stimmung bleibt.“

Die Musik und die gute Kameradschaft – von der Tauplitz bis zum Pötschenpass Jetzt ist Franz in Pension. Die Sache ist nicht so einfach, wie er erzählt: „Im Salzbergbau gibt es seit 1994 das SUG, das Sonderunterstützungsgesetz, weil sie überall zu viele Leute gehabt haben. Auch die ÖMV und andere Betriebe hat man hineingenommen, um Leute abzubauen. Oder man sagt, mit 50 hauen wir die Alten hinaus. Die erste Zeit hat man keine Jungen nehmen dürfen. Bis 2003 war ich im Bergbau beschäftigt, da war ich 50 Jahre alt. Dann haben sie mir empfohlen, in die Sonderunterstützung zu gehen. Es tut uns leid, haben sie gesagt, du bist 50. Ich habe mich nicht recht gewehrt dagegen. Das nennt sich Langzeitarbeitslosigkeit. Man ist in dieser Zeit vermittelbar und muss sich hie und da beim AMS melden. Im letzten Jahr im Mai haben wir uns melden müssen. Sie haben gesagt: ‚In einem halben Jahr müsst Ihr euch wieder melden.‘ Im August haben sie uns aber bereits geschrieben, dass wir uns aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht mehr zu melden brauchen. Das geht über die Bergbauversicherung. Es ist eine Entlohnung, keine Pension. Wer nimmt heute einen 50-Jährigen, wenn er auch einen 25-Jährigen bekommt.“ Ich frage Franz, ob er ein psychisches Problem hat, wenn er keine feste Arbeit hat. Er erwidert: „Ich leide nicht darunter, keine Arbeit zu haben. Man hat uns gesagt: ‚Setzt euch zur Ruhe!‘ Das 305

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haben wir gemacht, man darf aber keinen Schilling dazuverdienen. Ich habe mir gesagt, das ist eigentlich richtig, was sie sagen. Ich mache Ehrenamtliches für die Allgemeinheit für die nächsten zehn Jahre. Ich brauche mir keinen Vorwurf zu machen. Ich habe den Bezirksobmann vom Blasmusikverband übernommen, bin Obmann der Lupitscher Feuerwehrmusikkapelle, Obmann beim Jodler- und Weisenbläserverein, Musiker beim Streichorchester der Bürgermusikkapelle, beim Bläserquartett und anderem. Es sind noch die Strassner Pascher dazugekommen. Ich war acht Tage in der Woche nicht daheim. Es waren Sitzungen in Graz, da musste man hin, dann sind Förderungsvergaben, dann muss man zur Landesregierung, man hat da viel Schriftverkehr. Ich mache es, so gut es geht. Bei diesem Blasmusikverband sind neun Musikkapellen in unserem Bezirk. Jede Kapelle macht zum Beispiel ein Mitgliederkonzert oder ein Osterkonzert. Da muss ich präsent sein. Jede Kapelle macht eine Jahreshauptversammlung, dann sind Ausschusssitzungen. Aus den Kapellen sind 19 Mitglieder im Bezirks­ ausschuss dabei. Die muss man ständig informieren hinsichtlich der Änderung der Vorschriften usw. Das ist eine schöne Arbeit, ich mache sie gerne. Wenn man sich bemüht, dann hat man eine gute Kameradschaft von der Tauplitz bis zum Pötschenpass. Man kommt mit jungen Leuten zusammen – alles durch die Musik. Die Feuerwehr ist separat. Ich bin nicht bei der Feuerwehr, sondern bei der Feuerwehrmusik in Lupitsch.“ Die Tätigkeiten für die Gemeinschaft, die Franz jetzt durchführt, sind hoch zu loben, sie erfordern flinken Geist und rege Betriebsamkeit. Er macht dies alles gerne, denn er hat „Zeit dazu“, wie er meint, da er „von Arbeit“ freigestellt ist.

Zwischen Oberösterreich und der Steiermark – Abenteuer Mich interessiert, ob Franz sich kulturell mehr dem oberösterreichischen oder dem steirischen Teil des Salzkammergutes verbunden fühlt. Ich frage ihn, welcher Ort ihm kulturell näher ist, das 306

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oberösterreichische Goisern oder das steirische Bad Mitterndorf, beide gehören zur Nachbarschaft von Bad Aussee. Franz denkt nach und führt aus: „Speziell in jungen Jahren, als ich viel in den Wirtshäusern war, war ich öfter in Richtung Goisern als in Richtung Tauplitz und Bad Mitterndorf. Bei jedem Musikfest in Goisern, St. Agatha oder Ischl sind wir heute genauso dabei wie bei einem Musikfest in Bad Mitterndorf.“ Irmi schaltet sich in das Gespräch ein: „Der Menschenschlag in Goisern ist uns ähnlicher.“ Franz bestätigt: „Die Goiserer sind uns in ihrer Einstellung sehr nahe.“ Birgitt, meine liebe Frau, ist während des Krieges in Altaussee zur Welt gekommen, zu einer Zeit, als das Ausseerland zu „Oberdonau“, wie man damals Oberösterreich nannte, gehörte. Die Sache ist also kompliziert, schließlich entstammt meine Frau einer steirischen Familie, zu der einige interessante Leute gehörten. Birgitt erzählt, wie sie als junges Mädchen ganz alleine über den Altauseer See geschwommen ist. Sie sagt: „Das war nicht ohne. Wenn mein Vater das gewusst hätte, der wäre vor Angst gestorben.“ Franz fügt hinzu: „Solche Sachen haben wir auch gemacht. Wir haben damals in der Saline Wetten abgeschlossen, wie wir jung waren. Zum Beispiel war eine Wette, wir schwimmen über den Grundlsee, das sind sechs Kilometer, von der Seeklause bis nach Gössl. Wir haben allerdings eine Bootsbegleitung gehabt. Beim ersten Mal, als wir geschwommen sind, war ein Wettersturz. Es war ein starker Ostwind. Der im Ruderboot hat auch zu kämpfen gehabt. Der See hat an dem Tag 16 Grad gehabt, am Vortag noch 20. Zwei von uns haben aufgehört, die haben einen Krampf im Bein bekommen. Mir hat es den Hals verkrampft, ich bin aber weitergeschwommen. Das war nicht leicht, über den See zu kommen, aber ich habe es geschafft. Ein Jahr später sind wir wieder geschwommen. Die Temperatur war angenehmer. Da ist es leichter gegangen.“

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Franz wird ein Strassner Pascher Erst 2006 ist Franz zu den Strassner Paschern, die ich oben schon vorgestellt habe, gestoßen. Er erzählt dazu: „Durch die Bierzeltmusi bin ich zu den Strassner Paschern gekommen. Der Herbert hat mich damals angerufen und hat mich gefragt, ob ich aushelfen kann, weil einer von ihnen an einer Nervenentzündung erkrankt ist. Mit den Strassner Paschern hatte ich vorher schon durch das Bläserquartett, bei dem ich auch bin, guten Kontakt gehabt. Da entwickelte sich Sympathie unter uns. Wir haben gemeinsam in Bayern musiziert und sie haben gepascht. Die Strassner Pascher gibt es schon lange. Der Hauser Herbert hat immer aus Spaß gesagt: ‚Seit 50 Jahren sind wir beisammen.‘ Tatsache ist, dass sie ihre ersten großen Auftritte mit der Ausseer Bradlmusi Ende der 1960er-Jahre gehabt haben. Dann ist es professionell geworden. In den 1970er-Jahren haben sie schon LPs gemacht. Ich habe einen Film mit ihnen gesehen, der ist aus den 1980er-Jahren. Der Herbert hat immer einen guten Spruch gehabt, er verstand es besonders, mit Damen zu scherzen. Er war ein sympathischer Herr.“ Am 29. Mai 2010 bin ich mit den Strassner Paschern im großen Kultursaal von Bad Aussee aufgetreten. Die Pascher haben ihre Lieder gesungen und ich habe meine Wilderergeschichten erzählt. In Verbindung damit wurde die CD, die mit den Strassner Paschern und mir in einem Studio bei Bad Mitterndorf aufgenommen worden war, präsentiert. Es war ein schönes Fest und ein lustiger Abend. Ungefähr drei Wochen später, am 22. Juni, ist Herbert völlig unerwartet nach einem heiteren Abend gestorben.

Die Reise der Strassner Pascher in die Mongolei Berühmtheit erlangten die Strassner Pascher, als sie im Sommer 2008 in die Mongolei eingeladen wurden. Darüber erschien ein spannender und heiterer Film im österreichischen Fernsehen. Franz schildert dieses Abenteuer: „In die Mongolei sind wir durch 308

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den Pichler aus Gosau gekommen. Der hält Vorträge und kannte einen Musikanten aus der Mongolei, der mit seiner Familie in Salzburg lebte. Die beiden haben sich in einem Ausseer Gasthaus mit dem Fuchs Hans getroffen, weil der sich mit kulturellen Veranstaltungen beschäftigt. Er sollte helfen oder Tipps geben, damit der Mongole in Ulan Bator etwas in Sachen Kultur machen könne. Dieser dachte an Aufführungen von Musikern mit Stücken von Mozart oder Schubert. Da hat der Hans gesagt, das sei nicht das Richtige, er solle lieber die Ausseer Pascher mitnehmen. Der Fuchs Hans ist ja der Schwiegersohn vom Willi, dem Harmonikaspieler bei den Paschern. Dem hat er die Geschichte erzählt und der Willi hat gemeint, das wäre schon möglich. Der Willi hat uns von der Idee des Hans erzählt. Wir haben das nicht recht geglaubt und gemeint, das sei eine Illusion. In Straßen habe ich einen kleinen Baugrund mit Hütte, die ich zum Paschen eingerichtet habe. Die eine Hälfte ist Garage, die andere ist Aufenthaltsraum. Dort haben wir uns mit dem Mongolen und dem Pichler getroffen. Nun haben wir gesehen, dass es ernst wird. Der Mongole war bereits fünf Jahre in Salzburg, seine Frau hat dort Germanistik studiert. Sie ist auch aus der Mongolei. Neama hatte eine Pferdekopfgeige, gemeinsam haben wir mit ihm musiziert. Der Fuchs hat gesagt, er kümmert sich um die Visa, auch Impfungen brauchte man. Wir haben uns nun auf die Reise in die Mongolei eingestellt. Am Flughafen haben wir Probleme gehabt wegen der großen Instrumente, die wir als Handgepäck mitnehmen wollten, da der ORF von der Lufthansa die Genehmigung hatte, uns während des Fluges zu filmen. So hatte es Fuchs Hans mit dem ORF-Seitenblicke-Team vereinbart. Irgendwie ist es dann gegangen. Der Willi kann ein bisserl Englisch, ich kann ein bisserl Englisch und der Herbert sowieso. Der Herbert hat sich auch mit den Mongolen gut unterhalten können, obwohl er die Sprache nicht konnte, aber Herbert gelang alles. Zuerst waren wir einen halben Tag in Peking. Bis Peking flogen wir 9 ½ Stunden. Dort hatten wir 5 ½ Stunden Aufenthalt. Dann sind wir zwei Stunden nach Ulan Bator geflogen. Die erste Nacht haben wir in einem Hotel übernachtet. 309

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Es war nicht so gut wie die Hotels bei uns. Wir waren aber froh, endlich eine Bleibe zu haben. Wir sind an einem Montag um 1 Uhr zu Mittag in Aussee weggefahren und um 1 Uhr in der Früh am Mittwoch sind wir in Ulan Bator im Hotel gewesen. Über den Flug allein könnte man ein Buch schreiben. In München haben wir eingecheckt. Wir haben ein wenig gestritten mit den Hostessen und dem Gepäcksingenieur. Auf alle Fälle waren wir dann mit dem Gepäck im Flugzeug drinnen. Da steht eine Crew beisammen, Flugkapitän, Hostessen und eine Frau Mitte 50. Wir waren freundlich und haben gesagt: ‚Halli, hallo, wir sind da, dürfen wir schon einsteigen?‘ Die Frau, die zur Crew gehörte, hat uns gefragt: ‚Seid Ihr die Gruppe aus Österreich? Von wo kommt Ihr her?‘ Wir sagten: ‚Aus Bad Aussee.‘ Sie sagte: ‚Kennt Ihr dort den Weber Gust?‘ ‚Ja freilich‘, erwiderten wir und sie sagte, dass er der Großvater von ihrem Mann sei. So ein Zufall! Wir haben gute Fensterplätze gehabt und waren gut versorgt. Der Herbert hat zu der lieben Dame gesagt: ‚Ein Bier brauchen wir schon.‘ ‚Wie viele Biere?‘, fragte sie. ‚Bei jeder Stadt eines‘, meinte Herbert. Das war zum Lachen. Wir sind kurz vor Moskau eingeschlafen. Herbert ist plötzlich aufgewacht und hat gesagt: ‚Über Moskau spielen wir einen Steirer!‘ In dem Flugzeug waren ungefähr 400 Passagiere. Wir haben die Instrumente ausgepackt und haben angefangen zu spielen. Der ORF hat gefilmt. Man sieht auf dem Film, wie die Chinesen dreingeschaut haben, als sie uns spielen und singen hörten. Das war eine Gaudi! Vor der Landung hat der Herbert geschlafen, er musste geweckt werden. Ich habe daher zur Frau Tietz, so hieß die nette Dame, gesagt: ‚Den Herbert kann man nur mit einer hübschen Frau und einem Schnapserl wecken.‘ Die Frau Tietz hat eine Hostess geholt und ein Kirschwasser. Die Hostess hat ihm dieses Kirschwasser unter die Nase gehalten. Darauf hat der Herbert ihr ein Busserl gegeben. Mit einem Taxi sind wir in das Hotel in Ulan Bator gebracht worden. Mit allem Drum und Dran. Wir hatten einen ziemlichen Hunger. Da hat der Walter 30 roggene Krapfen ausgepackt, die er von einem Obersdorfer Bäcker hatte, und hat sie ausgeteilt. Auch der Mongole und der 310

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Pichler, die wir im Foyer des Hotel trafen und die uns Bier bringen ließen, haben Krapfen gegessen, ebenso hat das ORF-Team zugelangt. Die Krapfen haben uns gerettet.“ Der Film „Fünf Gamsbärte in der Mongolei“ lief eine Zeit später im österreichischen Fernsehen. Ich habe den Film gesehen und habe mich gefreut zu sehen, wie die Strassner Pascher in Tracht auf Kamelen ritten und in Jurten, den Zelten der Mongolen, jodelten. In einer Ankündigung des Kulturhauses in Liezen in der Steiermark für den 15. November 2008 hieß es: „Reisebericht mit Livemusik aus der Mongolei und den Strassner Paschern. Im Sommer bereisten die Strassner Pascher die Mongolei. Die Originale aus dem Ausseerland berichten über ihre unglaublichen Abenteuer in einem unglaublichen Land.“

Eine kleine Theorie der Musikanten und Wirtshaussänger Musikanten und Sänger, die während des Mittelalters zum fahrenden Volk zählten, waren und sind beliebt, weil sie, ebenso wie die Minnesänger, zur Unterhaltung und zum Vergnügen von Menschen beizutragen vermögen. Bei den Römern gehörten die Musikanten zu den „ludarii“, was so viel hieß wie Spielleute. Diese unterhielten durch Kunststücke, aber auch mit Musikinstrumenten, wie der Fiedel oder der Drehleier, ein zahlungskräftiges Publikum. Spielleute spielten nicht nur zum Tanz auf, sondern sie erzählten auch Geschichten – hierin ähneln sie den Faschingsbriefsängern. Ihr Ruf war, da sie viel herumzogen, nicht immer der beste. Schließlich genossen fahrende Musikanten bei Mägden, Bäuerinnen, Sennerinnen, Kellnerinnen und anderem weiblichem Volk einiges Ansehen. Dies mag so manchem Musikanten den Ruf des verwegenen Verführers eingebracht haben. Jedenfalls versucht der echte Musikant, auch Franz ist ein solcher, durch heitere Geschichten und das Singen von lustigen Liedern das Publikum zu erfreuen. Franz und den Strassner Paschern gelingt es durch ihre Kunst ähnlich den römischen „ludarii“ regel311

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mäßig, Menschen zum Lachen zu bringen und ihnen zu helfen, mit dem Ärger des Alltags heiter fertigzuwerden.  

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11. Anneliese Pitter vom Warech – Landlerin und Kleinbäuerin in Siebenbürgen Vorgeschichte – zur Herkunft der Landler Seit 1990 fahre ich mit meist 10 bis 15 Studentinnen und Studenten des Instituts für Soziologie der Universität Wien Jahr für Jahr nach Siebenbürgen in das Dorf Großpold (rumänisch Apoldu de Sus) in der Nähe von Hermannstadt (Sibiu), um dort den Wandel der alten Kleinbauernkultur, vor allem der Landler, zu studieren. Als Landler werden die Nachkommen jener Bauern bezeichnet, die im 18. Jahrhundert unter Karl VI. und Maria Theresia wegen ihres evangelischen Glaubens nach Siebenbürgen deportiert wurden. Das Landl, von dem der Name Landler sich ableitet, ist die historische Region zwischen Wels, Gmunden und Vöcklabruck, wo der Bauernkrieg begann. Die aus dem Salzkammergut, dem Land ob der Enns, der Steiermark und Kärnten verbannten Bauern wurden vor allem in den Dörfern um Hermannstadt angesiedelt. In Neppendorf, Großau und Großpold konnten sie auf Dauer Fuß fassen. Mit den dort seit Jahrhunderten lebenden Sachsen dürften sich die eingewanderten Landler zunächst nicht ohne Probleme verstanden haben. Allmählich jedoch lernten sie, miteinander zu leben und auch untereinander zu heiraten, aber der landlerische Dialekt lebte weiter. Da die Landler zunächst die sächsische Sprache nicht verstanden, musste der Pfarrer hochdeutsch predigen, was dazu führte, dass man die Landler als „die Deutschen“ bezeichnete. Jedenfalls haben Landler und Sachsen gemeinsam eine schöne Bauernkultur aufgebaut und weitergeführt. Dazu gehörten vor allem die Nachbarschaften mit ihren strengen Regeln, verbunden mit der Pflicht, den Nachbarn bei der bäuerlichen Arbeit, aber auch nach dem Tod eines Angehörigen beizustehen. Mein Interesse an der alten Bauernkultur ist groß. Im Großteil Europas ver313

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schwand sie allmählich, in Siebenbürgen hatte sie noch bis in die jüngste Zeit Bestand. Jetzt geht sie auch hier unter.

Das Verschwinden einer alten Bauernkultur Meine Studenten und ich wohnen in Großpold bei den letzten deutschen Bauern. Ich habe mein Quartier bei Anneliese und Andreas Pitter. Ihr kleiner Bauernhof liegt an der Hauptstraße am sogenannten Warech, einem Ortsteil von Großpold. Die Bezeichnung stammt von dem alten sächsischen Wort Worich und bedeutet so viel wie ein Abhang zum Wasser oder zum Bach. An einem solchen liegt Großpold. Der Hof der Pitters ist ein Beispiel einer alten Bauernkultur, wie sie bei uns bis in die 1960er-Jahre zu finden war. Noch hat die Familie Schweine und Hühner, jedoch ihre beiden Kühe haben sie in den letzten Jahren weggegeben, was mich sehr traurig stimmte. Allmählich sterben die deutschen Bauern in Rumänien aus. Die Jugend ist nach Deutschland und Österreich gezogen und die paar alten Landler, die nicht wegziehen wollen, geben allmählich ihre bäuerliche Kultur auf. Im letzten Jahr meinte der deutsche Pfarrer zu mir, es würde nur mehr eine deutsche Kuh im Dorf geben. Es schaut so aus, als ob mit dem angeblichen Segen der EU nun doch das vollendet wird, was Nicolae Ceaușescu wollte, nämlich die Abschaffung des rumänischen Kleinbauern unter dem Banner des Fortschritts. Als 1989 das kommunistische Regime fiel und die Grenzen durchlässiger wurden, begann die große Auswanderung der Deutschsprachigen aus Rumänien. Die Dörfer wurden immer leerer. Gab es vorher in Großpold an die 1.600 Landler und Sachsen, sind es heute nur mehr wenige. Anneliese Pitter meint, dass über 40 Deutsche im Dorf seien. Bei der Weihnachtsfeier 2010 sei ihr aufgefallen, dass von den 50 Päckchen, die für Landler und Sachsen als Geschenk vorbereitet worden waren, nur eines übrig blieb. Zu den deutschen Großpoldern gehören nach Anneliese Pitter 314

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auch zwei Personen aus dem Altenheim in Hermannstadt und solche, die nicht hier wohnen, aber die Kirchensteuer nach Großpold zahlen und regelmäßig kommen. In den letzten Jahren entstanden in und um Hermannstadt große Supermärkte, auch in der Nähe von Großpold. Diese sind ein großes Problem für die alte bäuerliche Kultur, sie werden deren Untergang beschleunigen. Anneliese Pitter meinte einmal zu mir, dass die Bauern Schwierigkeiten hätten, die Milch von ihren Kühen zu verkaufen. In den Supermärkten wäre sie billiger. Ganz Europa und vielleicht auch die ganze Welt befinden sich in einem geschichtlich höchst bemerkenswerten Wandel. Ich behaupte, seit der Jungsteinzeit, als der Mensch sesshaft und zum Bauern wurde, hat sich nicht so viel geändert wie nach dem letzten Krieg und vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren, als bei uns die alte bäuerliche Kultur allmählich zu Ende ging. Darüber habe ich in meinen Büchern „Aschenlauge“ und „Sommergetreide“ eingehend berichtet. Ich bin Frau Anneliese Pitter und ihrem Herrn Gemahl An­ dreas ungemein dankbar, dass ich, wann immer ich nach Großpold komme, bei ihnen wohnen kann. In langen Gesprächen mit Anneliese erfuhr ich viel über altes Bauernleben in Siebenbürgen. Ich begleitete sie auf das Feld und in den Garten, und ich sah ihr beim Kochen zu.

Die Bedeutung des Gartens Eine große Bedeutung für die alten Kleinbauern hat der Garten. Dies wurde mir bewusst, als ich an einem schönen Junitag im Hof der Familie Pitter saß und mit Anneliese über den Garten sprach. Sie meinte in ihrem alten Landlerdialekt, der sich hier erhalten hat, zu mir: „Der Goarten is stoark wichtig!“ Der Garten ermöglicht der bäuerlichen Familie eine Vielfalt im Speisezettel und er macht sie weitgehend unabhängig von Gemüsehändlern und Geschäften. Der bäuerliche Garten ist eng mit der alten Landwirtschaft ver315

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bunden, er hat Tradition und er ermöglicht etwas, das man mit dem nicht sehr schönen Wort „Subsistenzwirtschaft“ zu beschreiben versucht. In diesem Ausdruck steckt das lateinische Wort „subsistere“, was so viel heißt wie „verharren“, aber auch „standhalten“. Damit soll eine Wirtschaftsform beschrieben werden, bei der es auf das „Standhalten“, also auf das Überleben ankommt, auf die Kunst der Selbstversorgung. Darin sind die echten Bauern und Bäuerinnen Spezialisten. Sie besitzen ein fundamentales Wissen, das durch die Jahrhunderte weitergegeben wurde. Bereits in römischer Zeit dürfte der Garten eine besondere Attraktivität gehabt haben. Darauf deutet die Tatsache hin, dass nicht wenige Namen der Gartenpflanzen auf das Latein der Römer zurückgehen, wie Rettich, Kürbis, Kohl, Zwiebel und Wein. Sogar das Wort Pflanze ist lateinischen Ursprungs (siehe dazu: Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, Band 1: Das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche, Rowohlt 1996). Der Garten war während des Kommunismus für die deutschen Bauern in Rumänien so etwas wie ein Rückzugsgebiet. Hier fand man Freude an den Blumen, die man gepflanzt hatte als Symbole des Glücks, und er sorgte für die tägliche Speise. Auch Anneliese liebt ihren Garten. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, ihr Leben festzuhalten. Dies geschieht somit.

Zugang Am Vormittag des 25. Juni 2010 sitze ich mit Anneliese Pitter in der Küche ihres Bauernhauses, es regnet leicht. Anneliese war eben dabei, Kreuzworträtsel zu lösen, eine Lieblingsbeschäftigung von ihr, wenn sie einmal gerade Zeit hat. Auf meine Bitte hin erzählt sie mir aus ihrem Leben im landlerischen Dialekt. Ich schreibe ihre Erzählung jedoch in Umgangsdeutsch nieder.

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Der Vater vermisst – die Mutter nach Russland verschleppt Über ihre ersten Jahre erzählt Anneliese: „Am 12. Februar 1942 bin ich in Großpold auf die Welt gekommen, im Haus mit der heutigen Nummer 286, damals war es die Nummer 234. Mein Familienname war Wagner. Der Vater hat sich gefreut, dass ein ‚Madl‘ auf die Welt gekommen ist. Es waren schon zwei Buben da, ich war die Jüngste. Der eine ist der Hans, den kennst du ja. Und der andere ist der Sam. Beide sind nach Deutschland ausgewandert, der Sam ist in Lüneburg. Ich kann dorthin nicht fahren, es ist zu weit für uns. Lange währte Vaters Freude an mir nicht, er musste in den Krieg zum deutschen Militär. 1944 war er auf Besuch. Ich habe nachher hinter jedem deutschen Soldaten ‚Papa‘ gerufen, weil ich ihn nur in Uniform kannte. Ob mein Vater freiwillig zum Militär gegangen ist, weiß ich nicht. Die nicht zum Militär gegangen sind, wurden als Deserteure beschimpft. Der Vater ist leider vermisst, wir haben nie eine Todesnachricht von ihm bekommen. Er war zu Kriegsende im österreichischen Waldviertel in der Nähe von Zwettl, das wussten wir. Im Mai 1945, kurz vor dem Zusammenbruch, soll unser Vater umgekommen sein. Es kann sein, dass er sich in einem Heustadel unter dem Heu versteckt und geschlafen hat und daher nicht zum Appell erschienen ist. Irgendein Feldwebel soll mit einem Soldaten nach ihm im Stadel gesucht und das Heu durchstochen haben. Verwundet soll mein Vater nach Zwettl in das Krankenhaus gebracht worden sein. Wir haben uns gedacht, das war vielleicht der Vater. Der Bruder hat im Krankenhaus Zwettl nachgefragt. Leider konnte er nichts in Erfahrung bringen. Für mich war als Kind der Großvater das Wichtigste. Ich war nicht einmal drei Jahre alt, da musste meine Mutter nach Russland, mit den anderen jungen Deutschen, die von den Rumänen an die Russen ausgeliefert wurden. Meine Mutter ist verschleppt worden zur Zwangsarbeit. Die Rumänen sind bei der Nacht zu uns gekommen, haben geklopft und haben zur Mutter gesagt, in einer Stunde kommen sie und holen sie ab, sie solle ihren Koffer packen. Im großen Saal des Gemeinschaftshauses von Großpold 317

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wurden meine Mutter und die anderen Deutschen gesammelt. Mein Großvater ist gekommen, mit mir am Arm, und hat mich beim Fenster der Mutter hineingegeben. Wie die rumänischen Aufpasser das gesehen haben, haben sie gleich geschrien, man solle mich hinausbringen aus dem Saal, sie dürfe mich nicht auf dem Arm halten. Man hat die Mutter dort zwei Tage gehalten mit den anderen Deutschen, denn die Rumänen mussten eine bestimmte Zahl aufbringen für Russland. Für die, die sich versteckt haben, mussten andere gehen. Dann sind diese armen jungen Leute mit ihren Koffern und Rucksäcken nach Reußmarkt, dem Nachbarort, gegangen. Von dort wurden sie mit einem Lastauto nach Hermannstadt geführt. Wie sie dort waren, hat meine Mutter keinen Koffer mehr gehabt. Ohne nichts ist sie nach Russland gekommen. Nach 3 ½ Jahren zu Peter und Paul im Jahr 1948 ist sie zurückgekommen. Daran kann ich mich erinnern. Ich habe mich gefreut. Erkannt habe ich sie vor allem an der Guip, einer Art Jacke, die sowohl von Männern als auch von Frauen zur Tracht getragen wird. Aber die erste Zeit war schwer für sie und auch für uns, denn wir mussten uns erst aneinander gewöhnen. 1996 ist die Mutter gestorben. Gewohnt hat sie dort, wohin sie geheiratet hat, auf Nummer 286. Sie hat auf die Schwiegereltern geschaut. Das war stark schwer für sie.“

Landlerisch und Sächsisch – die alte Spannung Sachsen und Landler vertrugen sich nicht immer. Die Sachsen, deren Vorfahren schon im 12. Jahrhundert aus dem Gebiet der Mosel eingewandert sind und die ihr Moselfränkisch bis heute sprechen, und die Landler, die Nachfahren der im 18. Jahrhundert verbannten Österreicher, standen sich mitunter kritisch gegenüber. In früheren Zeiten war es grundsätzlich so, dass Landler und Sachsen nicht untereinander heirateten. „Mischehen“ waren eine Seltenheit. Sächsinnen und Landlerinnen unterschieden sich durch ihre Trachten. In der Kirche saßen bis in die 1990er-Jahre die Sächsin318

11. Anneliese Pitter vom Warech – Landlerin und Kleinbäuerin Abb. 11: Die Landlerin Anneliese Pitter in Tracht auf dem Weg zur Kirche in Großpold.

nen, dies entspricht auch meinen Beobachtungen, in den Bänken auf der linken Seite und die Landlerinnen in den Bänken auf der rechten Seite. Nach Ende des Gottesdienstes gingen die Sächsinnen in ihren typischen Trachten als die Ersten aus der Kirche. Erst nach ihnen verließen die Landlerinnen die Kirche. Obwohl heute Landler und Sachsen durch Ehen miteinander verbunden sind, haben sich das Landlerische und das Sächsische nebeneinander erhalten. Es gab und gibt Häuser, in denen nur das Landlerische gesprochen wird, und Häuser, in denen das Sächsische die hauptsächlich verwendete Sprache ist. Es ist nicht immer ganz klar, nach welchen Prinzipien dies geschieht. Jedenfalls spricht jede Großpolderin und jeder Großpolder sowohl das Sächsische als auch das Landlerische. Es hängt vom Gesprächspartner ab, in wel319

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cher Sprache man spricht. Wenn drei Personen beisammenstehen, kann es vorkommen, dass dieselbe Person mit der einen Person landlerisch redet und mit der anderen sächsisch, obwohl alle drei beide Sprachen gleich gut beherrschen. Mit Fremden oder mit dem Pfarrer wird hochdeutsch gesprochen, was in der deutschen Schule gelernt wird. Obwohl alle Sachsen und Landler untereinander verwandt sind, bekennen sich die einen als Sachsen und die anderen als Landler. Dies ist für einen Fremden und für uns Forschende höchst spannend. Auch die Ausgewanderten behalten diese Tradition bei. Es mag sein, dass es bei „Mischehen“ auf die Dominanz eines Ehepartners ankommt, welche Sprache im Haus verwendet wird. Darüber spreche ich mit Anneliese, sie kommt aus einer Sachsenfamilie, redet aber mit ihrem Mann Andreas, der aus einer Landlerfamilie kommt, landlerisch. Sie erzählt über die komplizierten Sprachgewohnheiten innerhalb ihrer Familie, die einiges über die Beziehung von Sachsen und Landlern aussagen: „Meine Mutter war Sächsin, eine geborene Klusch, aber die Mutter vom Vater, eine geborene Sonnleitner, also die Grousso, die Großmutter, war Landlerin. Sie hat immer heruntergeschaut auf die Sachsen, die hat sie nicht gern gehabt. Wir haben sie gefragt, warum sie den Großvater, er hat Wagner geheißen, geheiratet hat, er war ja ein Sachse. Ihre Schwiegermutter hat gesagt: ‚In unserem Haus wird sächsisch gesprochen.‘ Wenn die aus dem Haus gegangen ist, hat meine Grousso mit dem Großvater sofort landlerisch gesprochen. Wenn die Schwiegermutter wieder hereingekommen ist, haben sie wieder sächsisch gesprochen. Als sie Kinder gehabt haben, haben sie mit ihnen wegen der Schwiegermutter sächsisch geredet.“ Mit der Sprache verknüpft sich hier – und dies ist das Faszinierende – die Person, die mit dem Wechsel der Sprache zu einer „anderen“ wird. Anneliese erzählt weiter über die Sprache in der Familie: „Mein Vater ist zu den Eltern der Mutter, sie waren Sachsen, gegangen und hat sie verlangt, also er hat um ihre Hand angehalten, so war es. So ist die Mutter als Sächsin auf den Hof des Vaters gekom320

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men und hat sächsisch geredet. Darauf hat die Grousso, die eine Landlerin war, gesagt: ‚Jetzt fangen sie mit dem Sächsischen wieder an.‘ So war es. Unsere Familie hat sächsisch geredet, aber mit der Grousso haben wir alle landlerisch gesprochen. Wie der Großvater gestorben ist und der Bruder in die Schule nach Hermannstadt gekommen ist, waren im Haus die Mutter, die Grousso und ich. Wir waren drei beim Tisch und haben landlerisch, aber auch sächsisch geredet. Wir haben mit der Mutter schließlich ausgemacht, nur mehr landlerisch zu reden.“

Drei Generationen in einem Zimmer – der Tod des Großvaters Anneliese erzählt, wie sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern, der Vater ist im Krieg geblieben, bei den Großeltern aufgewachsen ist: „Meine Mutter hat mit uns bei den Großeltern gewohnt. Sie hätte nicht mehr geheiratet. Im Sommer haben die Großeltern in der guten Stube geschlafen, in der sonst nur die Toten aufgebahrt wurden. Wir vier haben im Vorhaus geschlafen, dem Zimmer vor der guten Stube, das zur Straße ging. Im Winter hat der Großvater in dieses Zimmer, in dem auch gekocht wurde, noch ein Bett gestellt. Dort haben dann drei Generationen geschlafen, die Mutter, der Hans und ich und die Großeltern. Mein Bruder Sam wohnte damals beim Bruder der Großmutter, von dem er schließlich ­adoptiert wurde. Mit einem halben Klafter Holz mussten wir uns alle wärmen. Der Großvater hat oft ein Stückerl altes Brot am Abend auf den Ofen gegeben. Weil die Ofenplatte nicht so heiß war, hat er mit den Fingern auf das Brot gedrückt, damit es die Hitze spürt und gebäht wird. Das wird um 1951 gewesen sein, 1952 ist er am Tag vor dem Christsamstag an einem Magendurchbruch operiert worden und am 30. Dezember gestorben. Er war 68 Jahre alt Zum Heizen des Backofens haben wir immer Derner, das ist Schlehdorn, verwendet. Sie wurden im Sommer bei der Brücke abgeladen und wir haben sie hergebracht. Wenn es zum Heizen war, 321

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haben wir die Derner zum Backofen gezogen. So war es auch zu Weihnachten 1952. Der Großvater hat versucht, die Derner in den Backofen hineinzudrücken. Er hat dabei auf einmal große Schmerzen bekommen. Einen Doktor haben wir in Großpold nicht gehabt, der Sanitäter hat ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben. Aber es ist nicht besser geworden. Am Christsamstag ist der Bruder aus der Stadt von der Schule gekommen. Der frühere Kurator hat gerade sein Ross angespannt gehabt und hat sich bereit erklärt, den Großvater mit dem Rosswagerl nach Reußmarkt zu führen. Der Doktor dort hat geschlafen, er hatte getrunken gehabt. Seine Frau hat gesagt, sie könne ihn nicht aufwecken. Als er dann doch aufgestanden ist, hat er den Großvater mit einem kleinen Apparat durchleuchtet und hat gesagt: ‚Du musst nach Mühlbach zum Operieren.‘ Der Großvater hat gefragt, ob er nicht nach dem Christtag fahren könne. ‚Nein‘, hat der Doktor gesagt, ‚dann stirbst du.‘ Der Kurator hat nun gemeint, mit dem Wagerl könne er nicht mehr fahren, er hätte auch kein Futter mehr für das Ross. Es war schon gegen Abend. Mein Bruder hat ein Auto aufgehalten. Als der Fahrer gesehen hat, dass der Großvater schwer krank ist, wollte er uns nicht mitnehmen. Mein Bruder hat den Fahrer so viel gebeten, dass er den Großvater doch nach Mühlbach ins Spital mitgenommen hat. Dort war ein deutscher Arzt. Sie haben ihn zwei Stunden lang operiert, an Magendurchbruch und Blinddarm. Wie die Operation vorüber war, haben wir gehofft, dass alles gut wird, aber der Großvater hat noch eine Lungenentzündung bekommen. Er hatte vorher schon siebenmal eine Lungenentzündung gehabt, und jetzt hatte er sie zum achten Mal. Daran ist er gestorben. Er ist in der guten Stube aufgebahrt worden. Die Leute sind auf d‘ Nacht wachen gekommen. Die Grousso wollte unbedingt, dass er am Neujahrstag begraben wird. Ich war damals ein zehnjähriges Kind. Wie ich die Hand vom Großvater angegriffen habe, war sie ganz kalt. Darauf bin ich erschrocken und habe meine Hand gleich weggezogen. Beim Begräbnis waren viele Leute. Mein Großvater war Maurermeister und Kirchenvater, er war ein bekannter Mann, außerdem war er ein Bauer, auch Kühe haben sie gehabt, Ochsen und ein Ross. Der Stall war groß.“ 322

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Schulzeit – die Lehrerin mit den vielen Schülern – die Achtung vor den Lehrern Wir kommen auf die Schulzeit zu sprechen. Anneliese führt aus: „1949 bin ich in die Schule gekommen. Wie mein Bruder Hans in die siebente Klasse gegangen ist, war ich in der ersten. Ein Jahr waren wir gemeinsam in der Schule. Der Hans hat die sechste Klasse zweimal machen müssen. Die fünfte Klasse hatten sie noch unter dem alten Regime während des Krieges gemacht. Dann ist ja die Volksrepublik ausgerufen worden. Zuerst haben sie den König verjagt, was weiß ich. Der Hans ist sieben Jahre älter als ich. Er ist 1935 geboren worden. Die jungen Leute sind gemeinsam mit den Jugendlichen des Jahrgangs 1936 konfirmiert worden, die waren sehr viele. Viele Einwohner gab es damals nicht in Großpold. Viele waren ja in Russland oder sind im Krieg gestorben. Ich bin gerne in die Schule gegangen, ich habe leicht gelernt. Wir haben eine alte Lehrerin gehabt in der ersten Klasse. Sie hat schon meine Mutter unterrichtet. Große Klassen hat sie gehabt mit 40 und mehr Kindern. Sie hat ihnen allen Lesen und Schreiben beigebracht. Heute tun sich die Lehrer mit 15 Kindern schwer. Die Kinder haben heute keinen Respekt mehr vor dem Lehrer, im Gegensatz zu meiner Schulzeit. Die Lehrerin hat schon gewusst, wenn die Kinder das erste Mal in die Schule gekommen sind, ob sie gut oder schlecht lernen. Sie kannte schon das Elternhaus. Die Lehrer hat man sehr geachtet. Wenn die Lehrerin in die Klasse gekommen ist, sind wir selbstverständlich aufgestanden. Auch wenn sie an uns eine Frage gestellt hat, sind wir aufgestanden. Ein eigenes Kirchengewand für den Sonntag haben wir als Kinder nicht gehabt. Am Sonntag sind wir frisch angezogen worden. Mit einem Hemd sind wir eine ganze Woche gegangen. Wir haben nicht so viel die Wäsche gewechselt, wie es heute üblich ist. Die Großmutter hat mich als Kind einmal in der Woche in die Waschschüssel gestellt und gewaschen. Einmal hat sie festgestellt, dass ich einen Kittel für den Winter brauche. Von wo sollte der Großvater einen solchen kaufen, er hat ja kaum Geld gehabt, er war als Mau323

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rer Taglöhner. Da ist er nach Tilișca, das rumänische Nachbardorf, gegangen. Dort hat er Freunde gehabt, ein rumänisches Paar, es hatte keine Kinder. Die haben ihm einen braunen Wollstoff gegeben, damit die Großmutter für mich daraus einen Kittel machen kann. Aus irgendetwas Altem hat sie ein schwarzes Leibl gemacht. Jetzt habe ich für den Winter einen warmen Kittel gehabt. Der Großvater ist also betteln gegangen für mich. So war er. Ich habe auch meinen Bruder gefragt, ob er sich erinnern kann, ob der Großvater irgendwann einmal geklagt hat. Der Bruder hat gesagt, er könne sich nicht erinnern. Der Großvater hat nie geklagt, obwohl ihn die Kommunisten viel schikaniert haben. Sie haben ihn als Bojaren, als Großgrundbesitzer, hingestellt, als einen reichen Mann, einen Kapitalisten, aber er war keiner. Großpold hat nicht so viel Grund, dass man reich werden kann. Dem Großvater waren die Bäume auf der Wiese und im Weingarten wichtig. Er kümmerte sich um die Bäume, die er als junger Mann gesetzt hat. Auf einer großen Wiese hat er 75 Bäume gesetzt. Hie und da mussten wir ein Schwein den Kommunisten abliefern. Viel haben sie uns weggenommen und haben den Großvater sekkiert. In die Schule bin ich gerne gegangen. Wahrscheinlich, weil ich schon als Kind daheim viel arbeiten musste. In der Schule war es daher für mich angenehm. Geld haben wir nie viel gehabt. Die Grousso hat keine Rente bekommen, obwohl der Großvater eingezahlt hat für sie. Die Mutter hat am Kollektiv, dem kommunistischen Gemeinschaftsfeld, gearbeitet, so viel, dass wir das Essen gehabt haben. Nach der zweiten Klasse sind wir auf die Bahn gegangen zum Grasputzen, damit wir uns die Bücher kaufen konnten für die Schule. Wir waren froh, wenn wir Bücher von den Älteren bekommen haben. Zwei Jahre bin ich auf die Bahn gegangen, um etwas zu verdienen. Nach der fünften Klasse im Sommer bin ich mit der Mutter zum Kollektiv gegangen, wir haben gemeinsam in einer Gruppe gearbeitet. Geld haben wir dafür keines bekommen, diese Arbeit war Pflicht – im Gegensatz zur Arbeit auf der Bahn. Auf dem Kollektiv haben wir nur Früchte bekommen. Mit der Schule habe ich mit 14 aufgehört. Dann bin ich jeden Tag auf das Kollektiv gegangen zur Arbeit.“ 324

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Die freie Zeit – das Vergnügen Ich frage Anneliese, wie es bei ihr in jungen Jahren mit der Freizeit und dem Vergnügen bestellt war. Die Vergnügen der jungen Leute in dieser Welt der Kleinbauern waren höchst bescheiden, noch dazu in der Zeit des Kommunismus. Sie erzählt: „Vergnügen war, wenn wir noch Lust hatten, nach des Tages Arbeit auf die Gasse zu gehen. Aber wir hatten nicht immer Lust, wir waren oft zu müde und sind in das Bett gefallen. Ich bin in den Kirchenchor gegangen. Ich war ja nicht angestellt bei den Kommunisten. Die meisten durften nicht in die Kirche gehen, um keine Probleme mit den Kommunisten zu bekommen. Der Lehrer Fieder musste den Kirchenchor auflassen, da zu wenige von uns im Kirchenchor gesungen haben. Wie er in Rente gegangen ist, hat er den Kirchenchor wieder aufleben lassen. Es war schon allerhand. Ein Vergnügen war für uns der Liesentag am 19. November, der Namenstag der Grousso – es war auch mein Namenstag, denn ich heiße Anneliese, und meine Grousso war die Lies. An diesem Tag hat sie immer Krapfen gebacken. Wir haben uns immer darauf gefreut. An diesem Tag war früher auch Markt bei uns im Dorf.“ Trotz des Kommunismus haben sich alte bäuerliche Formen des Zusammenseins erhalten. Es gab für die Burschen die Bruderschaft und für die Mädchen die Schwesternschaft. Dadurch kamen die jungen Leute im Dorf zusammen, wurden zu gemeinsamen, vor allem kirchlichen Festen angehalten, aber auch kontrolliert. Der Chef der Burschen war der Altknecht und die Chefin der Mädchen das Altmensch. Das Wort Altmensch verweist auf die österreichische ländliche Bezeichnung Mensch für Mädchen. Es gab im Dorf mehrere landlerische Schwestern- und Bruderschaften, aber auch eine sächsische (siehe dazu näher in meinem Buch „Verbannt und vergessen“, Linz 1992). Die diversen Aufgaben der Jugendgruppen wurden von sogenannten Irtenträgern und Irtenträgerinnen ausgeführt. Anneliese geht auf dieses Thema ein: „In der Schwesternschaft waren wir, bis wir geheiratet waren. Die Madeln mussten in die 325

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Kirche gehen. Die Irtenträgerinnen mussten den anderen Schwesternschaften ansagen, dass nicht alle auf einmal in die Kirche gehen sollen. Nacheinander mussten sie den Hof kehren, den Platz. Tanzen sind wir auf die Straße gegangen. Einer hat mit einer Harmonika musiziert und wir haben dazu getanzt. Im Gemeinschaftssaal des Dorfes haben wir nur zu den Feiertagen getanzt. Um nicht gleichzeitig mit den Rumänen im Saal zu tanzen, haben wir es so geregelt, dass an dem einen Tag wir den Saal hatten und am nächsten Tag die Rumänen.“

Heirat und Kinder Ich will wissen, wie Anneliese ihren Andreas kennengelernt hat. Anneliese erzählt: „Ich habe Andreas nicht gekannt, er ist am Bach groß geworden. Wie der Andreas aus der Stadt heimgekommen ist und einmal länger da war, hat auch er am Kollektiv gearbeitet. Wir haben uns gesehen, weil ich ja auch dort gearbeitet habe. Andreas und seine drei Kameraden haben uns oft zum Tanz mitgenommen. Irgendwann hat es gefunkt zwischen uns. Wie ich geheiratet habe, war ich nicht ganz 22, der Andreas war 25. Wir haben vier Kinder. Das erste Kind, die Anneliese, ist am 29. Dezember 1963 zur Welt gekommen. Wir waren nur zwei Monate zusammen, dann ist er zum Militär eingerückt. 15 Monate durfte er nicht heimkommen. Er war weit weg in den rumänischen Bergen als Soldat. Nur drei Tage hat er einmal frei für die Hochzeit seines Bruders bekommen. Dann musste er wieder zurück. Drei Monate war er dann noch beim Militär, dann hat man ihn entlassen, weil er angeblich ‚schlechte Wurzeln‘ hatte. Die Kommunisten haben herausgefunden, dass zwei Brüder des Vaters von Andreas, also meines Schwiegervaters, in Amerika waren und sein Vater beim deutschen Militär. Jemand, der eine solche Verwandtschaft im Ausland hat, war damals nicht würdig für den Dienst mit der Waffe, sondern höchstens für die Schaufel – als bloßer Arbeiter. Von dem hat man gesagt, er hat keine ‚gesunden Wurzeln‘.“ 326

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Anneliese erzählt weiter: „Ich glaube schon, dass die Kinder eine schöne Kindheit hier hatten. In einem Zimmer zur Straße haben wir alle geschlafen, die Eltern und die Kinder. Es hat nicht jeder ein Zimmer gebraucht. Wir haben kein Babyfon oder so etwas nötig gehabt. Als Mutter hört man, wenn sich die Kinder umdrehen in der Nacht. 1972 ist Andreas zu den Traktoristen gegangen. Vorher war er am Kollektiv.“ Ich sitze mit Anneliese im Hof, im nächsten Jahre wird sie 70, sie und Andreas wollen nicht weg aus Großpold, obwohl ihre Kinder und Verwandten von hier weggezogen sind und irgendwo in Österreich und Deutschland verstreut sind. Hie und da kommt einmal ein Kind der Pitters auf Besuch, oder auch ein Enkelkind. Anneliese sinniert über ihr Leben: „Jetzt ist man alt und denkt, was hat es einmal hier für ein Leben gegeben. In der Bibel heißt es: Wenn es köstlich gewesen ist, war es Mühe und Arbeit.“ Und noch etwas sagt sie, und zwar auf Landlerisch: „Um die Leut soll man nicht plärren (weinen), die enter (früher) sterben, denn denen wird erspart das hohe schware Alter. Es ist nicht schön, wenn man auf Pflege angewiesen ist.“ Aber noch arbeitet Anneliese am Hof und kümmert sich um die Tiere und den Garten.

Das Ende des Landwirtschaftsvereins – der Untergang der alten Bauernkultur Ein großer Wandel vollzieht sich bei den deutschen Bauern in Rumänien. Nach dem Niedergang des Kommunismus wurde in Großpold der Landwirtschaftsverein gegründet, durch den die an die Bauern zurückfallenden Grundstücke gemeinsam verwaltet wurden. Die Felder wurden gemeinsam gepflügt und bebaut. Wenn die Pflanzen zu sprießen begannen, kümmerte sich ab diesem Zeitpunkt jeder Bauer für den ihm zustehenden Teil des Feldes, der durch Los ermittelt wurde. Ich wurde Zeuge einer solchen Verlosung, es ging um das Rübenfeld, das nach Anzahl der Bauern geteilt wurde. Aus einem Nachbarschaftskrug wurden an einem 327

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Sonntag nach dem Kirchgang im Gemeinschaftshaus neben der Kirche die Lose gezogen und so hatte jeder Bauer seinen Feldanteil. Dieser Verein entspricht dem Nachbarschaftsdenken der alten Bauern, in Großpold gab es 18 Nachbarschaften, die strenge Regeln hatten, aber allmählich verschwanden. Von Andreas Pitter erfahre ich im Juni 2010, dass der Verein sich auflöst und die Felder an Ausländer verpachtet werden: „Zehn Hektar besitzen wir, die hatte ich mit allen zusammen im Verein. Dieser hatte ursprünglich insgesamt über 200 Hektar, heuer hat er nur mehr 50. Der Rest wird verpachtet, das sind die Gründe von den Bauern, die weggezogen sind, und von jenen, die nicht mehr mittun wollten. Aber verkaufen will noch keiner von uns. Der Pächter ist ein Holländer, er betreibt Landwirtschaft, gemeinsam mit einem Deutschen. Tausend Hektar haben sie im Umkreis gepachtet.“ Ich habe bei meinen Wanderungen Obstplantagen in der Nähe von Reußmarkt, dem Nachbarort von Großpold, entdeckt und frage Andreas, wem diese gehören. Von ihm erfahre ich: „Diese Obstplantagen gehören IKEA. Das ist eine Firma, die Holz verarbeitet, die hat hier große Flächen gepachtet und eine Fabrik gebaut. Die stellen dort Bilderrahmen her.“ Ich meine, dass es zu einem Ausverkauf des Landes kommt. Andreas erhebt die Stimme und sagt: „Es kann ja niemand hier bestehen. Die Ausländer bekommen viele Subventionen für ihre Aktivitäten und wir bekommen nichts. Bei Urwegen macht der Holländer auch Viehzucht, er hat dort Stallungen gebaut. Er baut allerhand an, Mais, Weizen, Senf, Rüben. Die Rüben braucht er für die Viehzucht.“ Traurig fügt Andreas hinzu: „Im nächsten Jahr habe ich alles verpachtet. Das ist sehr traurig, denn ich kann nicht mehr, ich bin zu alt. So bekomme ich wenigstens etwas Geld für die Pacht. Der Verein wird heuer nach der Ernte aufgelöst.“ Als ich meine, dass eine alte Bauernkultur zugrunde geht, sagt Andreas: „Die Bauern gehen zugrunde. Die Rumänen machen auch nichts mehr, sie gehen nach Spanien arbeiten. Wenn du nicht imstande bist, mit dem Ertrag vom Grund Maschinen oder Diesel zu kaufen, was soll man dann? Hier sind nur mehr die Alten, auch bei den Rumänen sind nur mehr die 328

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Alten da. Sie verpachten auch ihre Gründe. Der Holländer arbeitet fast nur mit Maschinen. Die paar Leute, die er braucht, holt er aus der Nähe von Hermannstadt gegen Mediaș zu.“ Mit dem Verpachten ihrer Felder hört eine alte Bauernkultur auf.

Eine kleine Theorie der Verbannten und des alten Bauerntums – der Geruch „echten“ Heus und die Schwalben Die Landler, zu denen Anneliese sich sprachlich bekennt, obwohl zu ihren Vorfahren Landler und Sachsen zählen, wurden wegen ihres Glaubens zu Zeiten der Gegenreformation, als man die Evangelischen mit Gewalt „katholisch machen wollte“, um 1750 nach Siebenbürgen verbannt. Als Verbannte passten sich die Landler einerseits den dort lebenden Sachsen an, deren Vorfahren bereits seit dem 12. Jahrhundert aus dem Gebiet der Mosel eingewandert waren, andererseits bemühten sie sich, ihre eigene altösterreichische Bauernkultur weiterzuführen. Sie blieben ihrer Sprache und gewissen Bräuchen treu, dennoch gingen sie eine Symbiose mit den Sachsen ein. Gemeinsam mit diesen werden sie von den Rumänen als Deutsche bezeichnet. Charakteristisch ist für verbannte Gruppen, dass sie versuchen, ihr altes Gemeinschaftsleben mit seinen Symbolen, zu denen vor allem die Sprache gehört, weiterzuführen. Verbannte können demnach über Jahrhunderte und sogar über Jahrtausende kulturell überleben, gute Beispiele dafür sind Juden, Armenier und auch Zigeuner. Noch etwas faszinierte mich bei meinen Forschungen in Siebenbürgen, nämlich das Überleben einer alten Bauernkultur, für die Autarkie, Selbstständigkeit, typisch ist. Dazu gehören Kühe, Hühner und Schweine sowie ein paar Felder für Brotgetreide, ein fruchtbarer Garten und Wiesen für das Heu. Der Bauer kann von dem leben, was er selbst produziert. Die Hühner spazieren auf dem Misthaufen, den es bei uns in der klassischen Form kaum mehr gibt. Das Kalb bleibt im Gegensatz zu unserer Milchwirtschaft nach der Geburt noch eine Zeit bei der Mutterkuh. Während der 329

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warmen Jahreszeit werden die Kühe – hier haben sie noch Hörner – von einem Gemeindehirten auf die sich im Eigentum der Dorfgemeinschaft befindende Hutweide geführt. Die alten Bauern wissen noch, wie Brot herzustellen und Wein zu keltern ist. Mir fällt bei ihnen die Achtung vor dem natürlichen Wachstum auf. In Siebenbürgen habe ich noch bunte Blumenwiesen gefunden, die es bei uns kaum mehr gibt. Hier kann man noch das Heu riechen, während es bei uns in Plastikhüllen verpackt wird. Ich sage zu Anneliese, dass es bei uns in Österreich lediglich grüne Wiesen ohne bunte Blumen gibt, und frage sie, warum dies so sei. Anneliese antwortet in Landlerisch: „Weil sie nur noch gsaats Gras habmd, darum seind kane Wiesnbuschn. Und bei uns geahst auf die Wiesn, da findst alles Megliche, da findst Gänsbleamerl, da findst Esparsetten und an gölbm Klee. Und das blüht alles, da riecht das Heu ja ganz anders, wenn wir das in die Scheune bringen tun. Die ganze Scheune riecht. Heun tun wir nur einmal. Das zweite Mal ist die Groamat (R. G.: Grünfutter), wir sagn, es is fetta. Groamat derf ma nur a bisserl fuattern. Heu kann man zwoa Gabln gebm der Kuah. Mit Groamat fuattern is guat für die Mülch.“ Bei den Landlern können noch Blumen wachsen, unsere Wiesen werden mehrmals gemäht, noch bevor die Blumen da sind. Außerdem werden die Wiesen der Landler noch mit echtem Mist aus dem Stall gedüngt. Heu, das auf Kunstdünger wächst, ist „goarstig“, wie Anneliese meint. Noch etwas fiel Anneliese bei einem Besuch unserer Bauern auf: „Es giabt a kane Fliagn bei euch, und es sand auch kane Schwalbm. Wir habm überall Schwalbn, in der Scheur, im Stall, und auch im Schweinstall, am Tor, überall san Schwalbm. Es ist stark schad, dass die Bauernwirtschaft kaputt geaht. Unsere Grousso hot gsagt, das Weglafen gang guat, das Zruckkemman war schwar.“

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12. Freund des Fahrrades und Höhlenforscher – Werner Hollender Vorgeschichte – Studentenverbindung und Fahrradgeschäft Mit Werner Hollender verbindet mich die Freude am Fahrradfahren. Seit früher Jugend bis heute, er ist 80 Jahre alt, ist er mit dem Fahrrad unterwegs, sowohl in der Stadt, aber auch in Niederösterreich in Richtung tschechischer Grenze, die ihn zu faszinieren scheint. Bald nach dem Öffnen der Grenzen, im Jahre 1990, radelten Werner und ich von Wien in ein tschechisches Dorf, wo wir es uns nach einer Besichtigung der dortigen Schlossanlagen in einem noblen Restaurant gut gehen ließen. Ich wunderte mich damals, wie schnell Werner radelt. Auch sonst machte ich mit ihm einige Touren vor allem entlang der Donau. In früheren Zeiten war Werner nicht nur Radfahrer, sondern auch Gesellschafter einer Fahrradfirma, wie ich noch schildern werde. Heute hat sich Werner in der Stadt vor allem auf das Fahren mit dem Fahrrad verlegt, in den 1960er-Jahren und auch noch später, wie ich mich erinnere, war Werner auch verwegener Autofahrer. Werner Hollender kenne ich seit Anfang der 1960er-Jahre von unserer unpolitischen Studentenverbindung her, dem liberalen Corps Symposion. Er ist ein ruhiger, liebenswürdiger Zeitgenosse mit einem Hang zum Abenteuer und zu eigenwilligen Ideen. Sein Vater war bereits Mitglied dieser Verbindung, ebenso mein Großvater und Vater. Der Name Symposion deutet darauf hin, dass diese Gemeinschaft von Studenten und fertigen Akademikern, man nennt sie „Alte Herren“, sich zum gemeinsamen Gespräch und disziplinierten Umtrunk getroffen hat – ganz im Stile Platons, schließlich bedeutet Symposion wörtlich so viel wie „gemeinsam trinken“ oder „Trinkgelage“. Diesem Corps gehörte dereinst der Komponist und Violinvirtuose Fritz Kreisler an und in engem 331

12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

Kontakt mit dem Corps stand der Entdecker der Blutgruppen und Nobelpreisträger Karl Landsteiner. Interessant ist, dass Karl Kraus dem Ehrenmitglied und Lateinprofessor Heinrich Sedlmayer ein Gedicht widmet. Über ihn soll er gesagt haben, er habe in seinem Leben nur zwei anständige Menschen kennengelernt, einer von diesen sei Sedlmayer gewesen. Im Corps Symposion herrschte heiteres Leben, an dem Werner Hollender mit Freuden teilnahm. Er war im Fahrrad-Großhandelsgeschäft seiner Familie „Bock & Hollender“ im 3. Bezirk in der Landstraße Hauptstraße, sein Vater war Seniorchef der Firma, tätig und erwies sich mir gegenüber stets als nobler und spendabler Herr. Als armer Student, der kaum Geld hatte, war ich froh, wenn mich Werner hie und da in ein Gasthaus zu einem Essen einlud. Besonders liebte Werner die Fischrestaurants an der Donau. Manchmal lud er auch mich in ein solches ein, was mich besonders erfreute.

Als Ausführer von Fahrradteilen Während der Sommermonate suchte ich Anfang der 1960er-Jahre Arbeiten, um zu etwas Geld zu kommen. So war ich einmal bei der Brauerei Schwechat im Lager Floridsdorf als Bierausführer tätig, aber mehrere Jahre hindurch arbeitete ich bei Werner in der Firma Bock & Hollender, ebenso wie mein Bruder Dieter. Unsere Tätigkeit bestand darin, in der Früh und am Vormittag bestellte Fahrradersatzteile mit einem VW-Bus zu Fahrradgeschäften zu bringen. An heißen Tagen wusste ich es so einzurichten, dass ich während der Arbeitszeit an der Alten Donau vorbeifuhr, dort rastete und kurz in das Wasser sprang. An den Nachmittagen war es meine Aufgabe, verpackte Fahrräder zum Bahnhof zu bringen, auf die Kunden in der Provinz warteten. Der Name Bock & Hollender hatte einen guten Ruf im Fahrradhandel. Als ich 1964 als Student heiratete, war ich froh, in Werner einen Freund und „Brotgeber“ zu haben, bei dem ich mir etwas Geld als Fahrradarbeiter verdienen konnte. 332

12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

Werner, der zum Höhlenforscher wurde, ist bis heute mein Freund geblieben. Einmal nahm er mich in eine Höhle zu einer Bootsfahrt auf einem unterirdischen See bei Wien mit. Mir behagte die ganze Sache wenig, denn es war denkbar ungemütlich in dieser Höhle mit dem nassen Lehm, über den man schritt, und dem Wasser, das von überall eindrang. Jedenfalls ist mir das Klettern auf Felsen in freier Natur lieber als das Klettern durch Höhlen. Dennoch habe ich großen Respekt vor tüchtigen Höhlenforschern, wie eben Werner einer ist.

Zugang Werner und ich trafen uns zu dem Gespräch, das seiner Geschichte zugrunde liegt, im Wiener Kaffeehaus Landtmann. Werner hatte einige Berichte über die Fahrradfirma Bock & Hollender und über seine Taten als Höhlenforscher mitgenommen. Bei einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen erfuhr ich spannende Geschichten aus dem Leben Werners. Allerdings ist es nicht immer leicht, ihm solche zu entlocken, da er ein überaus wortkarger Herr ist. Für einen Kulturwissenschafter ist es eine schwierige Aufgabe, mit Leuten von der Art Werners zu sprechen und auch die erhofften Geschichten erzählt zu bekommen.

Die alte Fahrradfirma Bock & Hollender, die auch Automobile erzeugte Werner erzählt: „1931 bin ich in Wien geboren worden. Mein Großvater Franz Hollender war Kaufmann. Er führte Fahrräder aus England ein und erzeugte dann selbst Fahrräder und auch Motorräder. Die Firma, die er dafür 1896 gemeinsam mit Herrn Bock gründete, hieß Bock & Hollender. Herr Bock ist allerdings gleich nach der Gründung aus dem Geschäft ausgeschieden. Der Großvater hat sich dann mit Ferdinand Trummer, einem Techniker, 333

12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

zusammengetan. Das Geschäft und die Werkstätte wurden von meinem Großvater im 3. Bezirk in der Landstraßer Hauptstraße 72 aufgemacht.“ Die drei Herren müssen tüchtige Leute gewesen, denn sie entwickelten sogar ein Auto, wie ich einem Aufsatz von Dr. Nikolaus Engel in der „Motor Veteranen Zeitung“ (Nr. 122, Seite 2) entnehme. Unter der sensationellen Überschrift „Automobile aus Wien“ heißt es: „Die wechselvolle Geschichte der WAF (Wiener Automobil-Fabrik) in Favoriten hat im Prinzip ihre Wurzeln in Wien Landstraße und drei Hauptpersonen: Einerseits den Handwerker Ferdinand Trummer, andererseits den Kaufmann Franz Hollender und drittens den Gesellschafter Heinrich Bock. Die Geschichte der WAF beginnt in der Landstraße Hauptstraße 72, wo auch Johann Berndl seine mechanische Reparaturwerkstätte für Velocipedes (R. G.: Fahrräder) betreibt. In Anton Trummers Bäckerei in Stadl erblickt am 19. Februar 1831 Ferdinand Trummer das Licht der Welt. 1878 trennen sich die Wege der beiden Trummers, weil Ferdinand das Mechanikerhandwerk lernen wollte, sein Vater aber in ihm bis dahin seinen Nachfolger gesehen hatte. 1884 kommt Ferdinand Trummer, nachdem er als Handwerksbursche durch Deutschland gezogen war, wieder nach Österreich zurück: Er wird Dreher im Militärbetrieb des Wiener Arsenals … Die Faszination für das damals aufkommende Fahrrad und seine Kenntnisse führen ihn in die Landstraßer Hauptstraße 72, wo unter gleicher Nummer Heinrich Bock ein ‚Lager englischer Velocipedes‘ und Johann Berndl eine ‚Reparaturwerkstätte für Velocipedes‘ betreibt. Dritter im Bunde ist der Prokurist Franz Hollender. Ferdinand Trummer kauft hier Teile für den Bau seines Wunschtraum-Velocipedes. Als er das Material einkauft und von seiner Konstruktion erzählt, wird er gebeten, sein Fahrzeug nach der Fertigstellung vorzuführen. Das Endprodukt fällt so beeindruckend aus, dass Trummer finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt bekommt, um in dem 1896 eingetragenen Unternehmen Bock & Hollender erst Fahrräder, später Motocycletten unter der Marke Regent zu fertigen. Ein Nachweis der Automobilproduktion findet sich in der ‚Allgemeinen Automo334

12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender Abb. 12: Werner Hollender, der Höhlenforscher. Foto: Edith Bednarik.

bil-Zeitung‘, die Bilder von der ‚Wiener Automobil-Ausstellung‘ bringt und die ausgestellten Fahrzeuge beschreibt. … Am 31. März 1911 wird die Wiener Automobil-Fabrik Gesellschaft m.b.H. WAF mit dem Firmensitz in Wien 10, Holbeingasse 10 gegründet …“ Der Aufsatz endet mit den Worten: „Am 8. 2. 1935 ist die WAF endgültig gelöscht.“ Die Firma Bock & Hollender als Fahrradfirma schließt erst am 26. März 1980 ihre Pforten. Werner erzählt über seine Familie und die Firma weiter: „Franz Hollender hat drei Kinder gehabt. Das eine war mein Vater Ludwig Hollender, das zweite Onkel Albert, und das dritte eine Schwester, die dann geheiratet hat. Diese drei wurden schließlich die Gesellschafter der Firma. Von der Schwester gibt es noch Nachkommen. Ich bin später aus der Gesellschaft ausgeschieden.“ Werner hat auf einem Blatt, das er mitgebracht hat, die wichtigsten Daten aus seiner Familiengeschichte aufgezeichnet. Danach ist sein Großvater Franz Hollender 1859 in München geboren worden, er starb 1939 in Baden bei Wien. Sein Vater Ludwig Hollender kam 1889 in Wien zur Welt und starb hier 1971. Ich habe diesen in der Stu335

12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

dentenverbindung als einen ruhigen und ernsten alten Herrn kennengelernt. Werners Mutter Olga, die bereits mit 60 Jahren starb, ist 1893 in Bukarest geboren worden, sie ist aber keine Rumänin. Ihr Vater war dort Maler. Ob er ein Kunstmaler oder ein sonstiger Maler war, weiß Werner nicht zu sagen.

Die sportbegeisterten Eltern – das Ende der Firma Seine Mutter zog aus Bukarest nach Wien, wo sie seinen Vater kennenlernt. Werner erzählt weiter: „Meine Eltern waren beide ausgezeichnete Skifahrer. Meine Mutter war außerdem begeisterte Motorradfahrerin. Mein Vater hat mit seinen Geschwistern die Firma übernommen. Der Onkel war in der Wiener Kaufmannschaft führend, wo er mehr tätig war als im Betrieb. Leider ist er früh gestorben. Seine Frau war eine Zeit stille Gesellschafterin. Wie mein Vater 1971 mit 80 Jahren gestorben ist, waren wir nur mehr zwei Gesellschafter. Nun ist die Tochter der Tante, meine Cousine, in die Gesellschaft gekommen. Ich war noch eine Zeit geschäftsführender Gesellschafter. Wir hatten nur mehr einen Großhandel für Fahrräder, die Erzeugung hatten wir schon früher aufgegeben. Den Gewerbeschein habe ich noch immer. 1975 bin ich aus dem Fahrradgeschäft ausgestiegen. Die Firma Puch hat damals ihre Sachen nicht mehr über Großhandel vertrieben, sondern selbst gemacht. Die Cousine, die mich praktisch aus der Firma geworfen hat, hat diese noch bis 1980 weitergeführt. Dann hat sie unsere alte Firma endgültig zugesperrt.“ Ich denke mit Wehmut an die Firma Bock & Hollender zurück. Das Gebäude, in dem sie untergebracht war, hatte einen Hof, von dem man in die Lagerräume kam. In diesem Hof parkte und belud ich das Firmenauto, mit dem ich die Fahrradersatzteile zu den Radgeschäften in und um Wien brachte.

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12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

Das Geschäft mit der Höhlenausrüstung Nach seinem Ausscheiden aus der Firma im Jahr 1975 behielt Werner seinen Gewerbeschein. Aufgrund dieses Berechtigungsscheins macht er im selben Jahr ein Geschäft für Gegenstände auf, die man für Forschungen in Höhlen benötigt, dazu gehören Kletterseile, Kletterhaken, Karabiner, Helme, wasserabstoßende Kleidung, Kletterschuhe und vieles mehr. Dieses Geschäft samt Lager befand sich in seiner Wohnung im 3. Bezirk in der Rasumofskygasse, in der ich ihn öfter aufsuchte, um Klettersachen zu kaufen. Das Geschäft führte Werner gemeinsam mit Frau Erika Kittel, einer Witwe, die zehn Jahre älter als er war. Er hatte sie beim Höhlenforschen kennengelernt. Frau Erika war Gesellschafterin in Werners Firma, aber auch seine Gefährtin bei seinen Höhlenfahrten. Sie war eine tüchtige Dame. Leider starb sie 1990, im Alter von 70 Jahren. Werner bemerkt zu ihr: „Sie hat sich einen Namen gemacht als Felsritzzeichenforscherin in ganz Europa. Sie war sogar in Kuba bei einem internationalen Kongress für Felsritzzeichen.“ Daneben ist Werner noch eine Zeit als freier Mitarbeiter im Bundesdenkmalamt tätig, und zwar als Schriftsetzer. So setzt er Kulturgüterlisten im Sinne der „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut“. Dazu gehören die denkmalgeschützten Häuser, die mit speziellen Tafeln gekennzeichnet sind. Hier lernt er das Setzen von Büchern. Daher wird er auch von den Salzburger Höhlenforschern gebeten, den ersten Band der „Salzburger Höhlenbücher“ zu setzen. Darauf ist Werner stolz. Herausgegeben wurde das Buch 1975 vom Landesverein für Höhlenkunde. An dem Buch haben übrigens angesehene Leute wie Hans Baumgartlinger, Walter Klappacher und Gottfried Tichy mitgearbeitet, aber auch Erika Kittel, Werners Partnerin. Auch in der Abteilung für Höhlenkunde im Naturhistorischen Museum arbeitet Werner bisweilen mit. Schließlich beendete er diese Tätigkeiten, um sich voll seinem Geschäft mit Höhlenausrüstung zu widmen.

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Werner als Höhlenforscher Wir sind bei dem für Werner wichtigen Thema des Höhlenforschens. Dazu schildert er: „Zum Höhlenforschen bin ich 1963 aus eigenem Interesse gekommen. Ich las von einem Ausflug des Wiener Landesvereins für Höhlenkunde, doch der Verein war schwer zu finden, denn damals hatte er noch kein Telefon. Jedenfalls fand ich ihn, nahm an dem Ausflug teil und wurde Mitglied. Es gab einige Gruppen, die Touren und Expeditionen durchgeführt haben, einer solchen Gruppe habe ich mich angeschlossen. Damals erschien auch das Buch „Die Höhlen Niederösterreichs“, das aufgrund unserer Forschungen und Begehungen entstanden ist. Die Höhlenexpeditionen haben mir sehr gefallen. Besonders die Dachstein-Mammuthöhle hatte es mir angetan, fast jedes Jahr war ich mit dem Verein während des Winters für jeweils eine Woche drinnen. Bei solchen Höhlen in großer Höhe muss man oft ein bis zwei Tage gehen, um zu dem Gebiet zu kommen, in dem man forschen will. Dazu mussten wir uns abseilen und durch Schlürfe kriechen. Diese Art des Forschens hat mich sehr interessiert, ich habe viel dabei gelernt.“

Dunkelheit und Kameradschaft – der Vorteil der Zugfahrt Werner liebt das Abenteuer in der Höhle und der Dunkelheit in dieser. Er wagte sich daher – im Gegensatz zu seinen Freunden – auch ohne Licht in Höhlen. Er entwickelte ein Gefühl dafür, unbeschadet wieder an das Tageslicht zu gelangen. Werner erzählt mir dazu ein Höhlenabenteuer: „Bei einem Badeaufenthalt bei den Plitvicer Seen in Slowenien ging ich alleine in der Badehose spazieren. Ich kam zu einer Höhle, durch ein Loch bin ich hineingelangt. Ich ging ein langes Stück in das Höhleninnere. Plötzlich war das Licht weg. Ich wusste nicht mehr, wie ich zurückkomme. Ich hatte die Orientierung verloren. Ich habe überlegt und wusste, dass es dort, wo ich hineingegangen bin, getropft hat. Nun bin ich 338

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so lange in der Höhle herumgeirrt, bis ich ein Tropfen wahrgenommen habe. Es war das Tropfen, das ich beim Eingang gehört hatte. So habe ich den Ausgang der Höhle gefunden und bin wieder ins Freie gelangt.“ Als ich Werner frage, ob er Angstzustände in der vollkommenen Dunkelheit gehabt habe, da er nicht wusste, wo er eigentlich sei, verneint er, denn er erinnerte sich an das Tropfen. Ich frage ihn, ob ihn die Dunkelheit abschrecke. Werner antwortet: „Im Gegenteil, beim Höhlenforschen hat mir die Dunkelheit gefallen, aber auch die Kameradschaft. Damals in den 1960er-Jahren sind wir zu den Höhlen noch mit der Eisenbahn gefahren und zu Fuß gegangen. Später hat dann jeder ein Auto gehabt. Durch das Zugfahren wurde die Kameradschaft gepflegt. Man ist gemeinsam hingefahren und gemeinsam heimgefahren.“ Ähnliches erlebte ich auch, als ich noch im Zug mit Freunden zum Klettern in das Gesäuse und zum Peilstein gefahren bin.

Ausgrabungen in Höhlen Spannend ist, dass Werner auch bei urgeschichtlichen und paläontologischen Ausgrabungen in Höhlen teilgenommen hat. Dazu erzählt er: „Einmal war ich bei einer Ausgrabung in der SchlenkenDurchgangshöhle in Salzburg dabei. Wir haben die Erde gesiebt und dabei nach menschlichen Erzeugnissen und Höhlenbärenknochen gesucht. Wir haben auch viel gefunden. Der Anmarsch zur Höhle war lang und beschwerlich. Daher stellte uns das Bundesheer Haflinger als Tragtiere zur Verfügung. So bei zehn Leuten waren wir damals, die in der Höhle gegraben haben. Diese Ausgrabung ging vom Salzburger Höhlenverein aus, er ist der zweitgrößte Höhlenverein in Österreich. Ich bin beim ‚Landesverein für Höhlenkunde in Wien und Niederösterreich‘. Auch mit der Universität haben wir zusammengearbeitet.“ Ich erzähle Werner, dass bei mir am Institut der Höhlenforscher Gerald Hubmayr aus Wels studiert und seine Dissertation ge339

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schrieben hat. Er hat zwei soziologische Bücher geschrieben, eines über Schwarzfahrer in der Straßenbahn. Werner bot dieses in seiner Firma zum Verkauf an. Leider kam der Autor beim Höhlenforschen ums Leben, auch dabei dürfte es sich um eine Ausgrabung gehandelt haben. Werner erinnert sich: „Gerald war allein in einer Höhle. Nachdem er ein steiles Stück zum Ausgang hinaufgeklettert ist, war er fast schon aus der Höhle draußen, dabei ist er ausgerutscht und abgestürzt. Diese Höhle, in dem das Unglück geschah, befindet sich im Rettenbachtal bei Bad Ischl.“ Werner fügt noch hinzu: „Man sollte eigentlich nie alleine in eine Höhle einsteigen.“

Die Hermannshöhle Freude hatte Werner an der Hermannshöhle im südlichen Niederösterreich, in der er als Führer tätig war. Auch ich hatte einmal die Ehre, mit meiner Familie und Freunden von ihm durch die Höhle geführt zu werden, die Höhlenforschern gehört. Dazu erzählt Werner: „Es hat sich ergeben, dass der Besitzer der Hermannshöhle diese verkaufen wollte. Beim Kauf wurde nicht der Höhlenverein aktiv, denn dieser hatte schon einmal draufgezahlt. Vor dem Krieg hatte er die Seegrotte bei Hinterbrühl erworben, um ein Geschäft damit zu machen, ist aber damit in Konkurs gegangen. Man hat viel in die Höhle gesteckt, aber sie hat kaum Besucher gehabt. Darum wurde beim Kauf der Hermannshöhle beschlossen, dass einzelne Mitglieder sich zu einem gemeinnützigen Verein zusammenschließen, um die Höhle zu kaufen und zu einer Schauhöhle für Besucher auszubauen. Mit den Eintrittsgeldern macht man zwar keinen Gewinn, aber man muss auch nichts dazuzahlen. Ich habe viel beim Ausbau der Höhle mitgearbeitet. Vorher war sie mit Holz ausstaffiert, jetzt ist alles aus Stahl und Beton. Man kann als Besucher nur in einen kleinen Teil der Höhle, aber dort gibt es schöne Tropfsteine, die sich besonderer Beliebtheit erfreuen.“

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12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

Das Interesse am Unterirdischen – Forschung in Kellern, Häuserruinen, Erdställen und Luftschutzstollen – ein unterirdischer jüdischer Friedhof Werners Interesse gilt nicht nur den natürlichen Höhlen, sondern auch den vom Menschen verlassenen, höhlenähnlichen Behausungen, wie Kellern, verfallenen Häusern und Erdställen. Dies bringt ihn mit Herrn Norbert Siegl, dem Gründer des Instituts für Graffiti-Forschung (ifg), in Kontakt. Dieses wurde 1996 in Wien gegründet und beschäftigt sich mit dem Erforschen von Graffiti in weitgehend verschlossenen unterirdischen Räumen und Örtlichkeiten. (Berichte und Bilder unter www.graffitieuropa.org) Durch Werner lernte ich Norbert Siegl kennen, ich beteiligte mich sogar an einer kleinen Expedition in verfallene Häuser, in denen Jugendlich allerlei Graffiti mit Gewaltsymbolen und Nazi-Zeichen angebracht hatten. Zwischen Werner und Norbert hatte sich offensichtlich eine Freundschaft entwickelt, die der Forschungsarbeit nützlich war. Norbert, der 2001 eine Graffiti-Enzyklopädie mit dem Titel „Von Kyselak bis HipHop-Jam“ herausgebracht hat, zog mit Werner durch verfallene Häuser und in verlassene Keller auf der Suche nach Graffiti, um diese zu dokumentieren. Werner verweist nicht ohne Stolz darauf, dass sie beide in einem Keller unterhalb eines Sandabbaues Ritzzeichnungen entdeckt haben. Darüber existiert ein Foto mit Werner. Auf den Ritzzeichnungen sind Leute mit Zylinder und Kleidern, die man vor 100 Jahren trug, zu erkennen. Interessant ist auch ein Hinweis Werners auf Zeichnungen oder Graffiti von Häftlingen des Konzentrationslagers Ebensee, die diese in Stollen oder auf inzwischen verfallenen Mauern des Lagers angebracht hatten. Norbert ist dankbar für die Begleitung Werners in diese zum Teil unterirdischen Welten mit ihren spannenden Graffiti. Werners Kenntnisse, die er bei der Erforschung von Höhlen gesammelt hat, kamen Norberts Expeditionen zugute. Auch Industrieruinen interessieren Werner, wie er erzählt: „Es gibt alte Industriebauten in der Nähe von Melk, in denen ich auch 341

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schon zu tun hatte. Ein gewisser Pater Dr. Jeremia Eisenbauer vom Stift Melk hat sie mit seinen Schülern vermessen. Er ist auch Höhlenforscher und hat damit angefangen, wie ich mit der Firma für Höhlenausrüstung begonnen habe. Daher hat er bei uns das Material gekauft. Damit niemand in die Industrieruine bei Melk hineinkann, wurde sie zugemauert, aber von oben haben sich junge Leute durchgestemmt. Das wird geduldet, denn es hat keinen Sinn, wenn man das Loch zumacht, weil daneben ein neues Loch aufgemacht wird. Früher waren dort die Steyr-Kugellagerwerke, die zum Teil gesprengt wurden. Nun erinnert nur mehr diese Industrieruine daran. Innen ist lauter Sand. Es ist anstrengend, drinnen zu gehen. Solche Ruinen sind sehr beliebt bei den Neonazis.“ Ein anderes Interessengebiet Werners gilt den Erdställen. Darunter versteht man von Menschen während des Mittelalters geschaffene, unterirdische, nicht gemauerte Gänge, vor allem im Waldviertel, im Mühlviertel und in Bayern. Mit Ställen im Sinne von Viehställen haben sie nichts zu tun. Es gibt einige Theorien zu den Erdställen. Einige meinen, dass sie während der Kriege Zufluchtsstätten gewesen seien, andere wieder halten sie für Kultstätten. Werner erzählt dazu: „Unser Höhlenverein ist zwar nicht an künstlichen Höhlen interessiert, aber dennoch ist so ein Erdstall spannend. Ein Bekannter von mir, Herr Franz Bednar, beschäftigt sich sehr damit, er versucht, die Erdställe bei uns zu dokumentieren. Es gibt auch einen Arbeitskreis für Erdstallforschung mit Mitgliedern aus Österreich und Bayern. Ich bin auch Mitglied. Jedes Jahr haben wir eine Tagung, einmal in Österreich und einmal in Bayern. Als Mitglied bekommt man jedes Jahr das Heft ‚Der Erdstall‘.“ Ich frage Werner nach seiner Theorie zur Entstehung von Erdställen. Er meint: „Was wir wissen, ist nur, dass die Erdställe annähernd tausend Jahre alt sind. Während des Dreißigjährigen Krieges haben sich die Leute sicherlich in den Erdställen versteckt. Aber deswegen wurden sie nicht errichtet. Warum sie hergestellt wurden, das weiß man eigentlich nicht. Es ist interessant, dass sie je nach Gegend ähnlich sind. Einmal gibt es Rundgänge, dann wieder Kammern. Für Wohnungen waren sie zu niedrig und zu feucht. 342

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Wahrscheinlich hat man sie als Verstecke benutzt.“ Ich frage Werner, ob er Angstgefühle hat, in so einem Erdstall, der nur in Erdreich, meist in Löss, gegraben ist, zu kriechen. Er antwortet: „Nein, denn ich sag mir, wenn die Erdställe tausend Jahre alt sind, warum sollen sie dann gerade jetzt, wenn ich drin bin, zusammenfallen?“ Noch ein Interessengebiet zeichnet meinen Freund Werner aus, es sind die Luftschutzstollen und Luftschutzräume. Darüber berichtet Werner: „Spannend sind heute auch Luftschutzstollen. Im Zweiten Weltkrieg brachte man die Industrie wegen der Bombengefahr in Höhlen in ganz Großdeutschland unter. Aber auch die Luftschutzräume, in denen die Wiener während der Bombenangriffe Schutz suchten, interessieren mich. Ein gewisser Dr. Marcello La Speranza, er arbeitet bei der Gemeinde, hat einiges über Luftschutzkeller in Wien geschrieben, er machte sogar eine gute Ausstellung darüber.“ Als Spezialist für unterirdische Bauten findet Werner auch die während des Krieges errichteten militärischen Bunker attraktiv. Er erzählt darüber: „Auf dem Wilhelminenberg bei der Jubiläumswarte gibt es den sogenannten Schirach-Bunker aus dem Krieg. Er wurde von Bochumer Bergleuten errichtet, die während des Krieges extra hierhergekommen sind. Jetzt ist er offiziell geschlossen. Es gab eine Ausstellung im Bezirksmuseum Ottakring darüber. Nicht nur die Bunker bei uns, sondern auch die in Tschechien interessieren mich. Diese wurden in den 1930er-Jahren nach französischer Planung gegen die Nachbarn rundherum errichtet. Teilweise werden sie heute als Museen im damaligen Zustand eingerichtet.“ Ich unterbreche und werfe ein, dass es ähnlich in der Normandie ist, wo die ehemaligen Bunker der Deutschen stehen, von denen aus feindliche Schiffe beschossen wurden. Diese Bunker sind heute eine Fremdenverkehrsattraktion. Verbunden mit diesem Interesse Werners an tschechischen Bunkern ist auch sein Hang zum Radfahren. Da ihn Grenzen faszinieren, fährt er regelmäßig mit seinem Fahrrad zur tschechischen Grenze. Einige Male begleitete ich ihn dabei. Werner sagt dazu: „Ich fahre noch immer mit dem Fahrrad. Ich fahre gerne zur Gren343

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ze, schließlich befinden sich dort die Bunker. An der ungarischen Grenze hatte sich ein ungarischer General gegen Kriegsende einen Fluchtbunker bauen lassen, darauf bin ich gekommen. Nun wird dieser Bunker als Museum hergerichtet.“ Noch etwas erzählt Werner, das sein Interesse an dem „Unterirdischen“ deutlich macht: „Ein bemerkenswertes Objekt ist auch ein unterirdischer jüdischer Friedhof in Pressburg. In den 1940erJahren hat man einen Straßentunnel durch den Burgberg gebaut, beim Ausgang lag der Friedhof. Ein jüdischer Friedhof darf ja nicht verändert werden, daher hat man eine Platte darübergelegt. Es ist verwunderlich, dass die Nazis darauf Rücksicht genommen haben. Auf der Platte errichtete man eine Straßenbahnstation, daneben war der Eingang in den Friedhof. Da man jetzt die Station verlegt hat, fand ich ihn nicht. Zuerst bin ich zum jüdischen Museum in Pressburg gegangen und habe nach dem Friedhof gefragt. Dort hat man gesagt, ich müsse zu einer Frau in der Nähe des Museums gehen, die würde mir den Eingang zeigen. Ich bin mit dem Rad zu der Frau gefahren, sie ist mit der Straßenbahn zum Friedhof gefahren und ich mit dem Rad hinterher. Das war vor zehn Jahren.“

Werner, der alte Freund Wir nähern uns dem Ende unseres Gesprächs. Ich lade Werner gerne zu seiner Zeche im Café Landtmann ein, schließlich war er in früheren Zeiten, als ich kaum Geld hatte, mir gegenüber, wie ich schon erzählt habe, äußerst spendabel. Übrigens gehörte Werner auch zum Freundeskreis von Ioannes Wohlmeyer, dem das erste Kapitel des Buches gilt. Kennengelernt hat er ihn durch mich. Ioannes dürfte von Werners Lebenseinstellung angetan gewesen sein. Jedenfalls gehörte Werner auch zu jenen Begünstigten, die Ioannes Wohlmeyer tagtäglich angerufen hat, um ihnen mitzuteilen, wo es gute Exkursionen, Vorträge und Buffets gibt. Werner weiß auch dazu etwas zu erzählen: „Einmal waren wir in Herzogenburg bei einer Führung. Die Gruppe wollte schon essen gehen, aber die 344

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beiden Wohlmeyers haben immer wieder unseren Führer mit allerhand Fragen gelöchert. Die anderen Teilnehmer an der Exkursion mussten warten, bis die Wohlmeyers mit ihren Fragen zu Ende waren.“ Werner lacht. Ich bedanke mich bei ihm. Wir verlassen gemeinsam das Kaffeehaus und besteigen unsere Fahrräder.

Anekdoten um Werner aus seiner Zeit als Höhlenforscher In einem Aufsatz, den Heiner Thaler gemeinsam mit Karl Mais und Günter Stummer 2001 zum 70. Geburtstag von Werner in den Mitteilungen des „Landesvereins für Höhlenkunde in Wien und Niederösterreich“ verfasst hat, werden einige nette Anekdoten über Werner gebracht. In einer wird geschildert, wie Höhlenforscher in Höhlen nächtigen und frühstücken: „Bei unseren großen Höhlenexpeditionen kochte ich im Biwak immer mit Werner zusammen. Das hatte den Vorteil, dass ich immer extreme Leckerbissen als Nachspeise hatte, den Nachteil aber, dass ich alle Arbeit selber machen musste. Wenn nach einer langen Biwaknacht alle Benzinkocher zwischen den Schlafsäcken pfauchten und der erste Teeduft verlockend durch den Sanddom der Dachstein-Mammuthöhle zog, regte sich auch Werners Schlafsack. Der Reißverschluss ging sparsam auf, eine schwarze Wollmütze und ein Vollbart kamen zum Vorschein. Dann eine behandschuhte Faust, die etwas unsicher nach einem Löffel tastete. Auf den linken Ellbogen gestützt, in der Rechten den Löffel wie ein silbernes Szepter gehalten, starrte er mich dann still, mit melancholischen Augen an, bis die dampfende Teetasse vor ihm stand. Das ging bis zehn Tage so. Wer diese fürchterlich kalten, kaum erholsamen Höhlennächte erlebt hat, weiß, was ich litt und wie gern auch ich einmal das Frühstück ‚ans Bett‘ gebracht haben mochte.“ Werner Hollender wird hier als ein nobler Höhlenforscher geschildert, der sich daran erfreut, dass man ihm das Frühstück bringt. Von Werners Großzügigkeit erzählt eine andere Geschichte: „Die donnerstäglichen Vereinsabende beschlossen wir ‚Original345

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Mammutisten‘ (die echten Forscher der Dachstein-Mammuthöhle) und Gleichgeartete stets im Gasthof Marhold. Es wurden dort mehrere Biere eingenommen und dazu bestenfalls von uns Pommes frites oder trockene Semmeln gegessen (aus Sparsamkeit). Für Werner war das einmal die Woche eine Gelegenheit, in Gesellschaft zu speisen, was er denn auch jedes Mal ausführlich tat. Gerichte wie ‚Indisches Mandelsteak‘ und nachfolgend ‚Eskimoschlitten‘ konnte er für sich zwar bestellen, aufgegessen hat er sie nie alleine. Großzügig ließ er uns reihum kosten. Den kümmerlichen Rest hat er dann selber genossen. Seiner Großzügigkeit und dem Umstand, dass er manchmal keinen Führerschein (weil ihn die Polizei abgenommen hatte) besaß, haben wir unsere ersten Dachsteinreisen mit dem Auto zu verdanken. Mitte der Sechzigerjahre waren die meisten aus unserer Gruppe mittellose Studenten oder ans Kreuz geschlagene Familienväter – ebenso ohne fahrbaren Untersatz. Werner hatte Autos und Carli einen Führerschein. So stieß er damals zur sich eben konstituierenden Gruppe der ‚Original-Mammutisten‘ und war nach wenigen gemeinsamen Fahrten nicht mehr wegzudenken. Still und unauffällig stellte er seinen Mann, war immer da und fehlte, wenn er nicht da war. So sehr kann man sich an Stille gewöhnen. Werner ist ein lauter Stiller.“

Eine kleine Theorie der Höhlenforscher Den Höhlenforscher fasziniert die Dunkelheit, die voll des Geheimnisses ist. Es ist vorstellbar, dass Forscher immer tiefer in Höhlen eindringen auf der Suche nach dem Unglaublichen. Die modernen Höhlenforscher erinnern mich an jene Helden, die im alten Griechenland in den Hades, die Unterwelt, vordringen, um Verborgenes zu erfahren. Die Erde, in die man eindringt, ist etwas Heiliges. Vor diesem Hintergrund ist wohl zu verstehen, dass die griechische Göttin der Fruchtbarkeit, Persephone, von Hades, dem Gott der Unterwelt, in diese gebracht wird. Dort leben den Sagen nach auch wunderliche Geschöpfe, die dem Menschen hel346

12. Freund des Fahrrades – Werner Hollender

fen oder ihn auch ärgern, nämlich die Zwerge, die Kobolde und die Gnome. Zwerge schaffen Schätze aus dem Inneren der Erde, sie wissen, wo Goldadern sind, und schließlich kennen sie die verborgenen Kräfte der Natur. Die Geheimnisse, die unter der Erde verborgen sein mögen oder geahnt werden, sind es wohl auch, die Werner und seine Freunde veranlassen, die Dunkelheit des Berges zu suchen. Diese Außeralltäglichkeit, verbunden mit gemeinschaftlichem Handeln in einer mitunter bedrohlichen Welt, ist es wohl, was die echten Höhlenforscher zu begeistern vermag.

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13. Die Lieblingsschwägerin des Wildschützen – Edith Walder Vorgeschichte – der Tod des ehrbaren Wildschützen Pius Walder in Osttirol Am 8. September 1982 gegen Abend geschah in Kalkstein auf der Hölleiten in Innervillgraten in Osttirol etwas Furchtbares. Zwei Jäger hatten es auf den Wildschützen Pius Walder abgesehen, der eine trieb ihn mit Schüssen aus seiner Deckung und der andere streckte ihn, der schon auf der Flucht war, mit einem Schuss nieder. Pius sackte zusammen, kollerte einige Meter den Steilhang hinunter und lag stundenlang röchelnd in seinem Blut. Spät kam Hilfe. Er muss eine robuste Natur gehabt haben, denn er starb erst nach einigen Stunden im Krankenhaus. Die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Nach den mir vorliegenden Unterlagen und den Ergebnissen der Gerichtsmedizin war es ein glatter Mord, der an Pius begangen wurde, denn die Kugel traf ihn in den Hinterkopf. Ein eindrucksstarkes Bild ging damals durch die Zeitungen, nämlich das Bild vom Racheschwur der Walder-Brüder am offenen Grab ihres Bruders Pius. Für viele Menschen wurde dieses Bild geradezu zum Symbol des Widerstands gegen die Willkür von Jägern. Dieser Schwur zeigt den unbändigen Freiheitswillen von Menschen, die sich Ungerechtigkeiten, die sie als solche sehen, nicht gefallen lassen. Er steht durchaus in der Tradition von Andreas Hofer, der als konservativer Rebell es sich nicht gefallen ließ, dass ihm eine fremde Macht ungefragt ihren Willen aufzwingen wollte. So fordert auch Hermann Walder immer wieder Gerechtigkeit, wie er sie sieht, in allen Dingen des Lebens. Aber dies bringt ihm oft Schwierigkeiten und Ärger mit der Behörde. Um Pius Walder zu ehren, fuhr ich ein paar Jahre nach seinem Tod nach Kalkstein zum Friedhof. Der imposante, aus Marmor 348

13. Die Lieblingsschwägerin des Wildschützen – Edith Walder

geschaffene Grabstein verweist auf die Dramatik des damaligen Geschehens. Neben dem eingemeißelten Gesicht von Pius Walder ist zu lesen: „Hier ruht PIUS WALDER geb. 4. 4. 1952 Ich wurde am 8. September 1982 in Kalkstein von zwei Jägern aus der Nachbarschaft kaltblütig und gezielt beschossen und vom 8. Schuss tödlich in den Hinterkopf getroffen“ Auf einer Ansichtskarte, die Hermann Walder drucken ließ, sind der ermordete Wildschütz Pius, die Unglücksstelle und der Grabstein zu sehen. Auf der Rückseite der Karte hat Hermann Walder diesen Text schreiben lassen: „Im Alter von 30 Jahren wurde der Wildschütz Pius Walder am 08. 09. 1982 in Kalkstein erschossen. Der Aufsichtsjäger trieb Pius mit 3 Schüssen in die Schusslinie des zweiten Jägers, und dieser schoss aus dem Hinterhalt weitere 5 x auf den Flüchtenden und streckte ihn mit dem letzten Schuss in den Hinterkopf nieder. 1 ½ Stunden ließen sie ihn hilflos liegen. Jemanden von hinten zu erschießen ist Meuchelmord, doch daraus machte die Justiz eine vorsätzliche Körperverletzung mit tödlichem Ausgang. Nur 1 ½ Jahre Gefängnis für den feigen Jäger – wahrlich eine Schande der österreichischen Republik.“ Pius war typisch für die alte bäuerliche Kultur, ein ehrenhafter Wildschütz, der sich an die Schonzeiten des Wildes hielt. Er erinnert an jene Bauernburschen, die in früheren Jahrhunderten als Helden der kleinen Leute für ihr angestammtes bäuerliches Jagdrecht mit jenen Mitteln kämpften, die ihnen zur Verfügung standen, nämlich mit Mut, Stärke und Treue. Diese Treue ist den Brüdern Walder eigen. Pius Walder ist mittlerweile eine Legende, weit über Kalkstein, das kleine Osttiroler Örtchen nahe der Südtiroler Grenze, hi­ naus. Sein Grab wurde zu einem touristischen A ­ nziehungspunkt 349

13. Die Lieblingsschwägerin des Wildschützen – Edith Walder

in der Gegend. Im Wilderermuseum zu St. Pankraz, dessen wissenschaftlicher Betreuer ich bin und das von der Puppenspielerin Eva Bodingbauer gestaltet wurde, wird das Andenken an Pius Walder in Ehren gehalten. Zu sehen ist neben Berichten vom Geschehen in Kalkstein auch seine Büchse, mit der er damals unterwegs war. Sie wurde von Hermann Walder als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Außer dem Gewehr ist noch ein angekohlter Korken zu sehen, mit dem Pius sein Gesicht im Stile alter Wildschützen schwärzte, und auch andere Utensilien aus dem Nachlass.

Zu Gast bei Familie Walder Im Jahre 1993 besuchte ich mit dem Fahrrad, ich kam über das Sellajoch ins Pustertal, die Familie Walder in Sillian. Ich wurde gastlich aufgenommen. Hermann Walder und seine Frau Edith bereiteten mir in ihrer über Sillian gelegenen Pension einen schönen Abend. Seit damals sind wir Freunde. Zur Eröffnung des Wilderermuseums in St. Pankraz bei Windischgarsten im Jahre 1998 reisten auch Hermann und Edith Walder an. Hermann sah sich hochgeehrt, dass ihm der anwesende oberösterreichische Landeshauptmann die Hand reichte. Er meinte, in Tirol würde ihm so etwas nicht passieren.

Gedenkfeiern für Pius – der geharnischte Brief an den Bischof Ich wurde von Edith und Hermann Walder gebeten, anlässlich des 20. Todestages von Pius am 8. September 2002 bei einer Gedenkfeier auf dem Friedhof in Kalkstein eine Rede zu halten. Das war für mich eine Ehre. Zu der Feier wanderte ich von Sillian zu Fuß 18 Kilometer nach Kalkstein. Ein Pfarrer aus dem Nachbarort – der zuständige Pfarrer wollte die Messe nicht lesen – las den Trauergottesdienst. Als er geendet hatte, verließ er in großer Eile den 350

13. Die Lieblingsschwägerin des Wildschützen – Edith Walder

Abb. 13: Edith Walder am Grab des erschossenen Wildschützen Pius Walder.

Altar, zog sich um, warf die Kirchentüre ins Schloss und flüchtete. Offensichtlich wollte er mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Ich hielt in meiner Rede fest, dass Pius nicht nur ein guter Mensch gewesen ist, sondern auch ein ehrbarer Wildschütz. Nach dieser Rede spielte ein Ziehharmonikaspieler eine traurige Melodie. Ich fragte, welche Melodie dies gewesen sei. Der Harmonikaspieler meinte: „Der Untergang der Titanic“, also eine Melodie, die eher für Gedenkfeiern für im Meer Ertrunkene geeignet ist als für ermordete Wildschützen. Während der Rede achtete übrigens meine Frau im Hintergrund darauf, dass niemand von den Steilhängen neben dem Friedhof seine Waffe auf mich richtet. Diese Gedenkfeier zu Ehren des Pius Walder hatte ein Nachspiel, da der Pfarrer des Dorfes sich geweigert hatte, eine Messe zu lesen. Dies sah Hermann Walder als Angriff auf die Ehre seines Bruders an und schrieb einen geharnischten Brief an den Tiroler Bischof, der ihn vor Gericht brachte. Darüber berichtete eine Zeitung, die ich auszugsweise zitieren will: „Der Bruder des vor 20 351

13. Die Lieblingsschwägerin des Wildschützen – Edith Walder

Jahren beim Wildern in Osttirol erschossenen Pius Walder, Hermann Walder, ist am Freitag am Bezirksgericht Lienz einvernommen worden. Grund war ein Brief an den Innsbrucker Diözesanbischof Alois Kothgasser, in dem sich Walder beschwert hatte, dass der zuständige Pfarrer seinem Bruder zum Jahrestag keine Messe lesen wollte. ... Der zuständige Richter untersuchte den Verdacht der Nötigung. Walder protestierte bei seinem Auftritt vor Gericht mit einer umgehängten Tafel in Reimform gegen die Anzeige des Bischofs. ... Seinen Ärger über die Kirche und den Bischof werde er nun auch in einem Schreiben an den Heiligen Vater darlegen. ...“ (Innsbruck, Austria Presse Agentur, September 2002) Tatsächlich schrieb Hermann danach einen Brief an den Papst. Ob dieser geantwortet hat, weiß ich nicht. Auch 2007 wurde ich von Hermann gebeten, eine Rede zum Gedenken an Pius zu halten. Diesmal fiel mir auf, dass der Pfarrer die Messe langsam und würdig las. Statt einer Ziehharmonika sangen diesmal die fünf Töchter von Edith und Hermann. Ich fragte nachher, woher dieser Pfarrer käme, ob er aus der Gegend stamme. Man antwortete mir, der Herr Pfarrer sei ein Sommergast aus Berlin. Der Mann hatte also keinen Ärger mit Gegnern der Walders zu befürchten.

Zugang Bei meinen Radtouren nach Ost- und Südtirol erlebe ich oft die Freude, in der schönen Pension von Edith und Hermann Walder in Sillian an der italienischen Grenze zu nächtigen. Über die liebenswürdige Gastfreundschaft der beiden und ihrer fünf Töchter samt Enkelin bin ich stets hocherfreut. Auch treffe ich Edith und Hermann meist um die Weihnachtszeit, wenn ich mit dem Zug auf der Fahrt von Matrei nach Wien bin, in einem Kaffeehaus in Lienz. Dabei kam ich auf die Idee, dieses Kapitel über Edith zu schreiben. Beide waren damit einverstanden. Auf Gesprächen mit Edith und diversen Berichten beruhen die folgenden Ausführungen. 352

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Edith Walder Edith wurde am Sonntag, dem 29. März 1953, in Matrei geboren Ihr Mädchenname ist Wiedemair. Die Mutter arbeitete als Köchin im Gastgewerbe von Sillian, ihr Vater zeitweise im Sägewerk und während der Sommermonate als Hirte auf den Almen. Edith hat einen Bruder, sie ist mit ihm und den beiden Töchtern ihrer verstorbenen Tante zusammen aufgewachsen. Dazu kamen auch Buben aus dem Lesachtal, die in Sillian eine Lehre machten und gegen Entgelt bei ihnen wohnten. Nach der Hauptschule kam Edith zu den Dominikanerinnen in Lienz, bei denen sie die Handelsschule absolvierte. Nach dieser arbeitete sie – sie absolvierte noch einen Servierkurs – während der Saison als Kellnerin. Über ihre Erlebnisse als Kellnerin erzählte sie mir einiges, das ich in meinem Buch über Kellner mit dem Titel „Herrschaften wünschen zahlen“ eingebracht habe. Hermann Walder meint, Edith sei die hübscheste und freundlichste Kellnerin gewesen. Ihre Freundlichkeit war nicht gekünstelt, sie war echt, das hätte den Gästen gefallen. 1972 bis 1974 arbeitet Edith im Hotel Sonne in Lienz, leider ging es in Konkurs. Ihr Chef schaute jedoch, dass sie und ihre Freundin in einem Nobelhotel in Bad Homburg, das zur Hotelkette Steigenberger gehörte, angestellt wurden. Von der Rezeption wechselte Edith in den Einkauf einer großen Autozubehörfirma. Bevor sie jedoch nach Deutschland ging, dürften die ersten zarten Bande zwischen Hermann und Edith entstanden sein. Im Mai 1977 heirateten die beiden. Fünf Töchter hat Edith großgezogen, sie vermietet Gästezimmer und kümmert sich gemeinsam mit Hermann um ihren prachtvollen Garten, in dem sogar Ziegen ihre Lebenswelt haben.

Edith als verwegene und rebellische Dame Edith heiratete also Hermann Walder, einen Mann, der durch den Tod seines jüngsten Bruders zutiefst getroffen und geprägt wur353

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de. Den Jägern, die Pius in die Enge getrieben haben, bevor einer ihn erschoss, gilt Hermanns Zorn und Unverständnis. Er versteht nicht, dass der Mord an seinem Bruder nicht gesühnt wurde, denn der Mörder wurde kaum bestraft. Hermann kämpft mit Flugzetteln, Schriften und Ansichtskarten seit dem Tod des Bruders gegen die seiner Meinung nach Unverschämtheit des Staates und seiner Behörden. Aber auch sonst lässt er sich von diversen öffentlichen Stellen nichts gefallen. Edith unterstützt ihn dabei heftig, er kann stets mit ihrem Beistand rechnen. Sie ist eine rebellische Frau, die ihren Mann Hermann liebt und hinter ihm steht. Darüber wird nun beispielhaft zu erzählen sein.

Das Gedicht zur Erinnerung an Pius Walder In einem Gedicht, das Edith zur Erinnerung an ihren Lieblingsschwager Pius verfasst hat, wird ihre Zuneigung zu ihm sichtbar, aber auch ihr Unverständnis über die Gemeinheit der Jäger und des Staates. Wenn Edith von Schaller Pius schreibt, so ist mit Schaller der bäuerliche Hausname gemeint, der amtliche Name ist Walder. Das war Pius Als Schaller Pius war er bekannt, man hat ihn überall so genannt. Er war ein Mann, das kann man sagen, stets ohne Furcht und ohne Tadel. Seine Geschwister waren bald groß – er war noch klein, denn einer muss der Jüngste sein. Es gibt noch viele ältere Leut, die wissen es genau noch heut, wie froh der Schaller Vater war, als ein Bub war wieder da. Er war der Stolz im Familienkreis, und seine Haare waren fast weiß. Schon immer hatte er eine kräftige Figur, 354

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kurz gesagt, eine schöne Statur. Die Kraft wuchs bald von Tag zu Tag, vor Energie er zu strotzen vermag. Doch schon im Alter von 16 Jahren musste er ein trauriges Los erfahren. Der geliebte Vater ging für immer, die gute Mutter war auch bald nimmer. Es prägte gewiss den jungen Mann, er fing ein neues Leben an. Mit seinen Brüdern ging er zur Waldarbeit, war bald bekannt weit und breit, für seine Leistung, seine Kraft, kaum jemand, der so etwas schafft. Die Förster sagen heut noch klar, dass der Pius was Besonderes war. Er arbeitete auch mit alten Sachen, obwohl sie ihm nie recht Freude machten. War er dabei, war alles recht, ging alles ordentlich und korrekt. Sein Ehrgeiz, seine Sparsamkeit waren Vorbild für so manche Leut. In seiner Arbeit war er tüchtig, verlässlich, ehrlich und aufrichtig. Ein Mann – ein Wort, man konnte ihm vertraun, in jeder Hinsicht auf ihn baun. Pünktlichkeit und Ordnungssinn waren bei ihm ganz einfach drin. Er hatte ein Ohr, ein offenes Herz, für jede Bitte, jeden Schmerz. Überall, wo Not am Mann, war dann halt der Pius dran. Er war gern im Kreis der Kleinen, tat so, als wären es die Seinen. Doch auch die Jugend verehrte ihn, ein jeder saß gerne bei ihm. 355

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Für seinen Witz, seinen Humor fand er überall ein Ohr. War er dabei beim Späßemachen, dann konnte er so herzlich lachen. Die Schale etwas rau, der Kern so weich, er war an Tugenden so reich. Die Seele rein, der Blick so klar, er war ein guter Mensch, fürwahr. Es gibt wohl wenige solche Kerle, er war ein Mensch wie eine Perle. Er fand die freie Natur so schön und liebte am meisten die Bergeshöhn. Er war voller Pläne und Zuversicht, als alles dann so plötzlich zerbricht. Ein Schuss, gezielt von Jägershand, zerriss für uns dies schöne Band. Sie schreit zum Himmel, diese Tat, die man an ihm vollendet hat. In Dankbarkeit gedenken wir dein. Du wirst uns unvergessen sein.

Die Rauferei am Friedhof – Edith als Siegerin Besondere Achtung erwarb sich Edith, als sie in eine Rauferei mit den Frauen der Jäger, die Pius auf dem Gewissen haben, verwickelt war. Am Allerheiligentag 1983 sprach Hermann Walder, der mit seiner Edith am Friedhof in Kalkstein war, Nothburga Schaller an, die Frau des Jägers Schaller, der mit dem Jäger Schett den Pius gestellt hatte: „Du hast keinen Grund, in die Kirche zu gehen.“ Daraufhin kam es zu einer wilden Auseinandersetzung zwischen Edith auf der einen Seite und Nothburga Schaller und Emma Schett, der Frau des Todesschützen, auf der anderen Seite. Edith schilderte den Vorfall der Gendarmerie so: „Es war am Nachmittag nach einem Gräberbesuch in Kalkstein, die meisten Leute waren 356

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schon weg, als ich merkte, dass mein Mann unter der Treppe vor dem Friedhof die Nothburga Schaller zur Rede stellte. Die beiden standen ganz nahe beisammen, und dabei muss Hermann, mein Mann, der Schallerin in die Haare gefahren sein, denn plötzlich hatte er ihren künstlichen Haarschopf in der Hand. In dem Augenblick schrien hinter mir zwei Frauen. Es waren Emma Schett und Johanna Vötter. Ich hörte, wie eine schrie: ‚Burgi, wir machen Zeuge!‘ Sie sprangen herab und schrien laut, und ich sagte dazwischen: ‚Was mischt ihr euch da ein?‘ Darauf sprang Emma auf mich zu, zog auf und schlug gegen mich. Zugleich sagte sie: ‚Halt die Fotzen, du moderne Sau.‘ Das Wort ‚Sau‘ ist dabei öfters gefallen. Ich konnte dem Schlag beinahe ausweichen, sodass sie mich nur bei den Haaren und beim Ohr streifte. Nun ging auch ihre Begleiterin gegen mich vor, das ist die Hanni. Ich hatte gerade zu tun, die beiden Frauen mit den Händen wegzutauchen, und dabei kam ich in die Haare der Emma. Wenn ich ein Büschel Haare ausgerissen habe, dann deswegen, weil ich sie mir vom Leibe halten musste. Ich glaube nicht, dass ich mich beim Wehren meiner Füße bediente. Absichtlich habe ich auf keinen Fall mit den Füßen gestoßen.“ (zitiert aus Winfried. W. Linde, Die Walder Saga, 1986, S. 113)

Ein Jagdpächter richtet die Waffe auf Hermann Auch in einer anderen Sache zeigt Edith durch ein Gedicht an, dass Unrecht widerfahren ist, diesmal ihrem Mann Hermann. In einem Gedächtnisprotokoll von Hermann, nach dem ein Jagdpächter die Waffe auf ihn richtete und mit dem Erschießen drohte, heißt es auszugsweise: „Der Vorfall ereignete sich am 28. April 1986 um ca. 20:15 Uhr. Ich spazierte mit meiner Schwester Paula, meinem Neffen und meiner Nichte Richtung Ampasser Kirche, als uns plötzlich ein Range Rover mit dem Jagdpächter von Ampass mit noch zwei Personen entgegenkam. Mein Neffe sagte noch: ‚Jetzt kommen schon wieder 357

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diese Jäger!‘ Dies mussten die Leute im Range Rover wohl gehört haben, da das Fenster etwas offen war. Der Plattner, der Jagdpächter, schrie auf jeden Fall: ‚Was hast du da gesagt? Sag das noch einmal!‘ Mein Neffe antwortete: ‚Ich rede mit dir nicht!‘ Daraufhin stieg Plattner aus dem Auto, ging mit schnellem Schritt auf mich zu und schupste mich zurück. Er meinte wohl, dass ich etwas gesagt hätte. Daraufhin schupste auch ich ihn zurück mit den Worten: ‚Lass mich in Ruh!‘ Plattner schrie zu seinem Aufsichtsjäger: ‚Geh und hol die Büchse!‘ Dieser meinte aber: ‚Ach lass das doch und hör auf!‘ Plattner war wütend geworden und schrie noch lauter: ‚Dann hol ich sie und erschieß einen!‘ Er ging nun selbst zum Auto und holte das Gewehr. Dieses richtete er genau auf mich. Ich sagte noch zu ihm: ‚Nimm die Waffe weg, denn auf die bin ich allergisch!‘ Ich erkannte sofort die Gefahr, sprang zur Seite und riss das Gewehr in die Luft, jedoch nicht aus Plattners Hand. Auch der Aufsichtsjäger nahm sich der Situation an, griff auch nach der Waffe, um Schlimmeres zu verhindern. Er musste wohl aus Erfahrung wissen, wie fanatisch Plattner reagieren kann! In dieser Situation forderte der Aufsichtsjäger Plattner auf, ihm die Waffe zu überlassen, damit er sie ins Auto bringen könne. Schließlich tat er dies auch und beide Jäger gingen wieder zurück zum Auto. Plattner sagte noch zu uns, dass er ohnehin keine Munition im Gewehr gehabt hätte. Daraufhin meinte mein Neffe: ‚Bei einem Banküberfall spielt es auch keine Rolle, ob man die Waffe geladen hat oder nicht, dran ist man immer!‘ Plattner besaß noch die Frechheit, den Vorfall anzuzeigen, und es kam zur Verhandlung. Meine Anzeige gegen Johann Plattner, der auch Chef der Müllabfuhr in Innsbruck ist, wegen gefährlicher Drohung wurde zurückgewiesen. Die Staatsanwaltschaft fand keine genügenden Gründe, ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten. So ungerecht hat man da wieder gehandelt. Es zeigt deutlich, dass man in Jagdsachen keine Chance auf Gerechtigkeit hat.“ Das Gedächtnisprotokoll Hermanns wird wohl auch der Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zugrunde gelegen haben. Jedoch dürfte es weitgehend ignoriert worden sein. Auch Edith ärgerte sich über die dreiste Drohung des Jagdpächters und verfasste dieses Gedicht: 358

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In Ampass in dem schönen Wald der Plattner viel und oftmals knallt. Man sieht ihn auch in fremd Revieren, wo bleiben da die Jagdmanieren? Und schießt er nicht, ist er am Saufen, vielleicht will er sich Freunde kaufen. Auch seine Gattin ist lieber allein, schläft besser ohne Plattner ein. Bei Plattner nimm dich stets in Acht bevor es bei ihm plötzlich kracht, denn so fanatisch, wie er ist, nicht nur auf Rehlein er gern schießt. Und ist‘s ein Mensch, ist‘s ihm egal, er zielt einmal auf jeden Fall. Ein Pärchen war im Wald allein, da kam dann dieses Plattnersch… und spielte sich dann plötzlich auf, doch dann bekam er eine drauf. Und auch den Walder wollt er erschießen, der war zwar nur am Luftgenießen, doch das schien Plattner einerlei, er suchte Streit so nebenbei. Und Plattner war gar nicht verlegen, den Walder einfach reinzulegen. Doch wie er‘s dachte, ging es nicht, es lief dann anders bei Gericht. Der Plattner log – es war nicht gut, der Richter kriegte eine Wut. In einen Blutrausch sei er verfallen, der Richter wär bald umgefallen. Es nützte nichts, der Chef der Müllabfuhr Innsbruck zu sein, zum Müll gehört das Plattnersch …! Edith zeigt noch in anderen Gedichten, dass sie es sich nicht gefallen lässt, wenn Hermann oder der erschossene Pius verunglimpft werden. 359

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„Hexenschaum Edith“ und das Pius Walder-Menü In Erinnerung an Pius Walder haben Frau Eva Bodingbauer und ich in dem von uns herausgegeben Wildererkochbuch ein Menü zu Ehren von Pius zusammengestellt. Die Nachspeise ist jedoch unserer Edith, der Kämpferin gegen Unrecht, gewidmet. Zuerst wird ein Rehragout serviert, auch Pius liebte solche Speisen, zu diesen gehören die „Blutströpferl“ (Vogelbeeren in Rotwein), denn Blut floss viel in dieser Geschichte, und schließlich wird ein „Hexenschaum Edith“ kredenzt. Mit „Hexen“ hatte es Edith Walder zu tun, so meint sie, als sie für die Ehre von Pius auf dem Friedhof kämpfte. Hexenschaum Edith 4 Äpfel 2 Eiklar 2 Esslöffel Ribiselmarmelade 1 Esslöffel Feinkristallzucker Salz Die Äpfel braten und passieren. Die Eiklar mit eine kleinen Prise Salz schlagen, den Zucker einrieseln lassen, weiterschlagen, bis der Schnee steif ist. Die passierten Äpfel mit der Ribiselmarmelade mischen und unter die Schneemasse heben. Auf Schalen verteilen, mit einem Tupfen Marmelade verziert servieren.

Eine kleine Theorie zur Rolle der Frau in der Welt der Wildschützen Edith entspricht den Vorstellungen der alten Wildschützen, die meinten, wie auch in einem anderen Kapitel zu lesen ist: „Was braucht denn der Schütz, er braucht nix als a schwarzaugats Madl und a Abschrauberbüchs.“ Ein guter Schütze braucht also eine gute Frau und ein gutes Gewehr. Ähnlich ist es auch bei der kalabrischen Mafia, wonach der Mann zwei Sachen benötigt, wie es in einem Lied heißt: amuri donna e cori di briganti (die Liebe 360

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einer Frau und das Herz des Räubers). Edith entspricht diesen Forderungen, wie sie typisch für bäuerliche Rebellenkulturen zu sein scheinen.

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14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“ von Mitterweng Die kleine „Hochschule“ im Gebirge Harald Thallinger nennt sich heiter und nicht ohne Stolz Hochschuldirektor von Mitterweng. Er ist dies auch, nämlich Lehrer und Direktor der kleinen, hoch gelegenen Volksschule für die Kinder der Bergbauernregion von Mitter- und Oberweng, so heißt die Gebirgsgegend zwischen Spital am Pyhrn, Edlbach und Windischgarsten. Die Volksschule liegt in Mitterweng und gehört zum Gemeindegebiet von Edlbach. Oberweng wieder ist Teil der Gemeinde Spital am Pyhrn. Aus zwei Gemeinden also wanderten früher Bauernkinder zur Mitterwenger Volksschule. Heute ist es wohl die Minderzahl von Kindern, die zu Fuß zur Schule geht, die meisten werden mit dem Schulbus gebracht. Früher wohnte der Lehrer bei der Schule, Harald Thallinger wohnt in Windischgarsten und fährt jeden Tag mit dem Auto zu seiner „Hochschule“. Aber er kennt noch die alte Kultur der Lehrer seiner ein- oder zweiklassigen Volksschule. Harald ist ein interessanter Mensch, der für die Belange der Gemeinde ein offenes Herz hat und sich in vielerlei Hinsicht öffentlich, sowohl in der Gemeinde als auch in der Pfarre, durch Jahre hindurch einbrachte. Er erhielt vor einigen Jahren für seine ehrenamtlichen Tätigkeiten das „Goldene Ehrenzeichen der Gemeinde Windischgarsten“. Darauf ist er sehr stolz – freilich in aller Bescheidenheit.

Zugang Um mit Lehrer Thallinger zu sprechen, wandere ich von Spital am Pyhrn zu Fuß über Oberweng und Mitterweng zu seinem Haus 362

14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“

in Windischgarsten, das am Weg nach Edlbach liegt, knapp vor der Ortstafel. Sein Haus ist kein gewöhnliches Haus, es wurde als Jagdvilla aus Holz errichtet. Diese hatte dereinst einem noblen Jagdherrn gehört. Harald bittet mich, in einem Zimmer mit herrlicher Aussicht auf das Garstnertal Platz zu nehmen. In diesem gemütlichen Holzhaus sitze ich mit Harald, seine Frau Luzi bringt uns Kekse und Tee.

Die noble Holzvilla Über die von Harald und seiner Familie bewohnte Villa erfahre ich, dass sie früher dem belgischen Grafen Villeneuve van der Straten gehört hat. Er soll hier im Alter von einer gewissen Schwester Lina gepflegt worden sein. Aus Dankbarkeit dafür vermachte der Graf ihr die Villa. Und diese Lina gab die Villa weiter an eine Verwandte des Grafen, nämlich an Sophie Scholten, eine geborene Gräfin van der Straten-Ponthoz, sie war die Mutter von Rudolf Scholten, dem früheren Unterrichtsminister. Harald erzählt: „Wenn die Scholtens hierhergekommen sind, habe ich als Kind ihnen täglich das Gebäck von unserer Bäckerei hinaufgebracht. ‚Die Herrschaft ist da‘, hat es geheißen, ‚Bub, renn, sie braucht die Kipferl zum Frühstück.‘ Die Scholtens sind immer seltener gekommen. Eines Tages habe ich gehört, dass sie sich mit dem Gedanken tragen, das Haus zu verkaufen. Es hat mir als Kind schon gefallen, ich habe es Knusperhäuschen genannt, weil es ein Holzhaus ist. Ich habe ihnen gesagt, wenn sie das Haus verkaufen wollen, so wäre ich interessiert, aber ich bin nur ein Schullehrer mit vier Kindern und ich weiß nicht, ob ich mir so etwas leisten kann. So bin ich mit ihnen ins Gespräch gekommen. Wir haben gut verhandelt und ich habe das Haus gekauft. Nach sechs Jahren harter Arbeit war es saniert.“

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14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“

Der Urahne, der die Zementindustrie revolutionierte Bevor Harald auf seine Mutter und seine Geburt eingeht, erzählt er kurz über seinen Ur-Ur-Ur-Onkel Hans Hauenschild (1842– 1901), mit dem er über seine Großmutter verwandt ist. Ich füge ein, dass ich vor Jahren, als noch keiner etwas hier in Windischgarsten von Professor Hans Hauenschild wusste, ihn in meinem Buch „Aschenlauge“ wieder in Erinnerung gerufen habe. Ich war bei der Durchsicht der ersten Jahrbücher des Alpenvereins (ab 1865) auf ihn gestoßen, in denen er wunderbare Beschreibungen vor allem des Toten Gebirges und des Warschenecks bringt. Davon habe ich in Windischgarsten erzählt und man wurde neugierig. Harald gibt mir recht und erzählt weiter: „Hans Hauenschild ist eigentlich heute der berühmteste Windischgarstner als Erfinder des Zementbrennens. Er hatte als Kind ein Armenzeugnis und ist nach Kremsmünster ins Gymnasium gekommen. Dort wurde er Pater und Professor für Biologie, Physik, Chemie und Mathematik. Schließlich wurde er nach Wien berufen, um adelige Kinder zu unterrichten. Dabei lernte er auch die Erzieherin dieser Kinder kennen, Maria Wittmann hieß sie, und verliebte sich in sie. Er ist aus dem Kloster ausgetreten, weil die Liebe stärker war, und hat den Priesterberuf an den Nagel gehängt. Er musste mit seiner Frau aus dem katholischen Österreich auswandern und trat schließlich zum Protestantismus über. Er ließ sich in Berlin nieder, wo er Universitätsprofessor für technische Chemie wurde. Sein Erfindergeist revolutionierte die Zementherstellung europaweit. Insgesamt hatte er mit seiner Frau zwölf Kinder. Der Vater von Hans Hauenschild ist also mein Ur-Ur-Ur-Großvater mütterlicherseits.“

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14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“

Die Mutter aus der Zuckerbäckerei – der Vater aus dem Lazarett Harald erzählt nun über seine Herkunft: „Geboren bin ich am 9. Februar 1951. Also vor 60 Jahren habe ich das Licht der Welt erblickt, wie man so sagt. In meinem Leben war fast alles unter widrigen Umständen, wie man mir erzählt hat, aber Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen. Ich habe für mein Leben relativ ungerade Zeilen vorgegeben bekommen, dennoch habe ich einen schönen geraden Lebensweg genommen. Meine Mutter, Margareta hat sie geheißen, war die älteste Tochter im Bäcker- und Zuckerbäckereibetrieb Thallinger in Windischgarsten. Sie wurde Krankenschwester, und nicht so, wie sie es im Hause Thallinger wollten, Bäckerin oder Konditorin. Sie hatte zwei Geschwister, ihre jüngere Schwester Karoline und ihren Bruder Alois, einen Nachzügler, den meine Großmutter noch mit 40 Jahren bekommen hat. Dieser Alois Thallinger ist also ein junger Onkel von mir, er ist bloß zehn Jahre älter als ich. Er hat für mein Leben Bedeutung, er war sogar einmal mein Vormund. Als bildhübsche junge Krankenschwester kam meine Mutter gegen Kriegsende nach Nürnberg in ein Lazarett, dort waren schon viele Verwundete vom Russlandfeldzug. In dieses Lazarett wurde ein schwer verwundeter deutscher Soldat aus Dresden eingeliefert. Er hatte einen Lungendurchschuss. Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben, er wurde nicht einmal ordentlich operiert, weil man gemeint hat, er überlebt nur mehr ein paar Tage. Meine Mutter hat ihn aber gesund gepflegt und sich in ihn verliebt. Er hieß Karl Albert und hatte einen lustigen Familiennamen, nämlich Obst. Dieser Herr Obst ist der Vater von mir und meinem Bruder. Da Vater und Mutter nicht geheiratet haben, bekam ich von meinem Vater den Familiennamen Obst. Mir ist der Name Thallinger selbstverständlich lieber. Die Familie meines Vaters stammt aus Dresden, es waren zwölf Geschwister, von diesen haben nur zwei überlebt. Sein Elternhaus in Dresden ist zerbombt worden, seine Verwandtschaft ist zum größten Teil im Bombenhagel umgekommen. Der Vater 365

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meines Vaters war Professor an der Musikhochschule in Dresden. Mein Vater war Konzertsänger in Dresden. Meine Mutter hat in den Nachkriegswirren den Karl Albert Obst nach Österreich geschleppt, nach Windischgarsten in ihr Elternhaus. Er war staatenlos und konnte wegen seiner Kriegsverletzungen seinen Beruf nicht mehr ausüben. Er hat schwer geatmet und konnte nicht mehr singen, daher hat er sich auf das Orgelspiel konzentriert. Obwohl er eine Belastung war, denn er war invalid, hatte keinen Beruf, keine Staatsbürgerschaft und kein Geld, hat meine Mutter zu ihm gehalten und von ihm zwei Buben bekommen. Mein älterer Bruder ist 1949 geboren worden. Gewohnt haben meine Eltern mit uns in engen Verhältnissen im Haus Thallinger. Besonders erwünscht war mein Vater in der Familie nicht, aber die Mutter hat ihn geliebt. An eine Heirat war nicht zu denken, erstens hat damals keiner Geld gehabt und zweitens wäre eine solche Ehe nicht standesgemäß gewesen. Die Tragik war, dass er wegen der Staatsbürgerschaftsabwicklung zurück nach Deutschland musste. Meine Mutter ist nun mit uns zwei Kindern vollkommen alleine dagestanden. Sie bekam keine Alimente. Sie wusste nicht, wo er ist. Es gab keinen Kontakt mehr zu ihm. Unsere Mutter hat uns abgöttisch geliebt, sie hat alles getan für uns beide. Mit zwei Kindern konnte sie keinen Beruf ausüben, im elterlichen Betrieb hat sie jedoch etwas mitgeholfen. Es war sicher nicht leicht für sie mit zwei ledigen Kindern. Der Bäckereibetrieb ist nach dem Krieg auch nicht sehr gut gelaufen. Es war halt gerade ein Durchkommen. Der Großvater ist 1949 gestorben. Der Alois, der Onkel, war damals neun Jahre alt, wie sein Vater gestorben ist. Den ganzen Betrieb haben drei Frauen geführt: die herz- und magenkranke Großmutter, die gute Tante Karoline und ein bisserl meine Mutter.“

Die Mutter stirbt – der Kampf der Großmutter gegen die Fürsorge Harald kommt zu einem traurigen Kapitel seiner Kindheit: „Jetzt kommt die große Tragik: Am 5. Dezember 1956, mein Bruder war 366

14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“

sieben und ich 5 ½ Jahre alt, stirbt meine Mutter. Wir haben das als Kinder nicht richtig realisieren können. Sie wurde aufgebahrt in der Leichenhalle. Ich weiß noch, wie ich zur toten Mutter gegangen bin und gesagt habe: ‚Mama, komm heim, da ist es viel zu kalt. Hier sind wir nicht daheim, da kannst du nicht schlafen, wir haben eh unsere Wohnung. Komm mit heim!‘ Wie die Mutter begraben wurde, das weiß ich heute noch, habe ich das Ganze einfach nicht verstanden. Für uns Kinder war es ein Schock. Jetzt kommt die nächste Tragik: Da keine Eltern da waren, nur eine kranke Großmutter, ist die Fürsorgerin gekommen und hat gesagt: ‚Die zwei Buben müssen wir in ein Waisenheim geben.‘ Ich sehe heute noch meine Großmutter mit erhobenem, fuchtelndem Zeigefinger vor der Fürsorgerin – diese Damen waren früher sehr streng und gefürchtet. Ich habe mich bei ihrem Kittel festgeklammert, denn es hat schon vorher geheißen: ‚Buben, Ihr werdet abgeholt, Ihr müsst in ein Waisenheim.‘ Ich habe geschrien: ‚Oma, Oma, ich will doch bei dir bleiben. Ich will nicht weg.‘ Und sie hat gesagt: ‚Ihr bleibt bei mir!‘ Das war 1956, die Großmutter war genau 56 Jahre alt. Ich sehe sie heut noch, wie sie der Fürsorgerin laut gesagt hat: ‚Und die Buben bleiben da im Haus. Und wenn ich zum Advokaten gehen muss und es mir erstreiten muss.‘ Die Großmutter hat sich durchgesetzt und die Vormundschaft über uns übernommen. Neben der Großmutter war auch noch unsere Tante Lilli da, die nahm sich um uns Buben aufopfernd an. Sie wurde uns zur zweiten Mutter. Fürsorglich versorgte sie uns, obwohl sie selbst auch ihre leibliche Tochter Evelyn aufzuziehen hatte. Evelyn und ich verstanden uns bestens. Sie war für mich wie eine Schwester. Beiden verdanke ich sehr viel. Der Alois war damals auch noch ein junger Bursch. Dann kam er nach Steyr als Bäckerlehrling und nach Linz als Konditorlehrbub. Die beiden Frauen waren es also, die das Geschäft allein geschupft haben. Von der Früh bis auf d‘ Nacht. Es war damals schwierig, die Geschäftssituation positiv zu halten. Ich kann mich noch erinnern, dass die Müller das Mehl zurückbehalten haben, weil wir nicht zahlen konnten. Aber es ist Gottseidank weitergegangen. Die zwei 367

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Frauen haben toll durchgehalten. Ich bin dann in die Schule gekommen.“ Harald ist seiner Großmutter sehr dankbar, dass sie sich um ihn und seinen Bruder angenommen und bei sich behalten hat, obwohl die Fürsorgerin etwas anderes mit den beiden vorhatte. Harald erzählt weiter: „1965 starb unsere Oma. Onkel Alois übernahm die Vormundschaft und war nun der Chef im Geschäft. Er machte uns zu tüchtigen Menschen, wurde uns zum Vorbild und erzog uns streng.“ Harald fügt noch hinzu: „Das hat uns nicht geschadet.“

Brotausträger und Ministrant – die Schürzen der Großmutter Aus seinen frühen Jahren, in denen er zum Brotausträger wird, erzählt Harald weiter: „Als sechsjähriges Kind musste ich täglich vor dem Schulgehen zwei Stunden Brot austragen. Und mein Bruder mit 7 ½ Jahren auch. Um 5 Uhr mussten wir aufstehen und unsere Brotkörbe selbst füllen. Unsere Abnehmer waren die Gasthäuser und die Geschäftsleute. Ich habe unter anderem die Gasthäuser Kemmetmüller, den Zöls und die Blaue Sense, aber auch die Fleischhauerei Kapfenberger beliefern müssen. Ich musste sogar hinunter bis zum Gamswirt. Ich war als Kind sehr schwach, Biafraflüchtling hat man zu mir gesagt, weil ich so dünn war. Nach jedem Besuch eines Gasthauses oder einer Fleischhauerei musste ich heim in die Bäckerei, den Korb neu füllen und zum nächsten Kunden gehen – auf einmal hätte ich dies alles nicht tragen können. Ich musste schnell sein, denn die Wirte haben das Brot und die Semmeln schon in der Früh gebraucht. Erst wie diese Arbeit fertig war, haben wir Zeit gehabt, selbst schnell ein Kipferl oder Semmerl zu verdrücken mit ein wenig Kaffee, um sie hineinzutunken. Dann haben wir die Schultasche geschnappt. Dabei haben sie mir jeden Tag noch schnell zwei Körbe links und rechts angehängt, um das Brot zu den Häusern am Weg zu bringen: zum Eckerstorfer, zum Dr. Hof, hinunter zur Frau Dr. Frisch, der Frau des Tierarztes. Erst dann konnte ich zur Schule 368

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gehen. Damit mich die Kinder nicht sekkieren und mich niemand verlacht, habe ich die leeren Körbe vor der Schule in einem lebenden Zaun, der war innen hohl, versteckt. Nach der Schule war nicht daran zu denken, eine Aufgabe zu machen. Es hat sofort geheißen: ‚Buben, bringt das Brot dorthin, die Mehlspeise dorthin.‘ Beim Thallinger hatten sie kein Auto, die anderen Bäcker schon. Wir haben alles zu Fuß ausgetragen, dadurch sind wir ein wenig in das Hintertreffen gekommen. Wir hatten keine Angestellten, bei uns war alles im Familienbetrieb. Mein Bruder und ich sind den ganzen Nachmittag nur herumgerannt, um Brot und Gebäck zu den Kunden zu bringen, denn die Wirte haben oft angerufen, sie brauchen Semmeln oder Brot, denn ein Bus mit Gästen ist wieder angekommen. Oder wir mussten zum Sessellift auf den Wurbauer, den hat man damals gerade eröffnet, um Gebäck zu bringen. Oder es hat geheißen: ‚Kommt, Buben, helft in der Backstube, Kuchenformen schmieren, Linzerradl ausstechen, Marmelade hinaufstreichen und Creme rühren.‘ Wir haben gearbeitet bis zum Abend. Wir waren schon saumüde, nun haben wir daran gedacht, dass wir noch eine Aufgabe für die Schule haben. So war es damals. Das war meine Kindheit. Jetzt kommt das Nächste: Ich bin Ministrant geworden, begonnen hat es nach der Erstkommunion. Ich war begeistert von den Ritualen bei der Messe und auch von den Kaplänen mit ihrer Dynamik. In denen habe ich auch ein Vaterbild gesehen, da ich ja nur Großmutter und Tante hatte. Mein Bruder und ich gehörten zu den eifrigsten Ministranten. Wir haben neben unserer Arbeit als Brotausträger fast jeden Tag ministriert. Damals hat man noch auf Lateinisch gebetet. Das ‚Ad deum qui laetificat‘, das der Ministrant am Beginn der Messe beim Stufengebet aufsagen musste, mussten wir als Volksschüler noch auswendig lernen. Wir haben aber nicht verstanden, was wir da sagten. Damals ist mein Onkel Alois zurück in das Geschäft gekommen, er hatte die Lehre hinter sich, er war nun ausgelernter Bäcker und Konditor. Er hat gesagt: ‚Die beiden Buben sind tüchtig.‘ Zu mir hat er gesagt: ‚Du wirst ein Bäcker.‘ Und zu meinem Bruder: 369

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‚Du wirst ein Konditor. Und Ihr arbeitet bei mir.‘ Auf jeden Fall habe ich zu ihm gesagt: ‚Nein‘, ich war damals so begeistert vom Ministrieren und von der Kirche, ‚ich werde nicht Bäcker, sondern werde Pfarrer.‘ Ich hatte damals daheim schon in einem Dachbodenzimmer, das ich ausgeräumt habe, das Innere einer Kirche hergestellt, mit Altar, den ich mit der Laubsäge gemacht und vergoldet habe. Ich habe einen silbernen Eisbecher aus dem Geschäft verschwinden lassen, den brauchte ich als Messkelch. Ich habe ihn nicht gestohlen, sondern nur verlagert. Im Sommer, in der Eiszeit, habe ich ihn wieder in das Geschäft getragen. Die übrige Zeit habe ich damit Messe gespielt. Von der Backstube habe ich mir noch die Oblaten genommen, die habe ich rund ausgestochen, um sie für die Wandlung verwenden zu können. Wie meine Großmutter daraufgekommen ist, dass ich so brav ministriere und jeden Tag eine Messe feiere, und zwar in Latein, war sie von mir begeistert. Ich hatte im lateinischen Schott schon in der Volksschule gelesen. Die Messen habe ich meistens am Abend gehalten. Ein Freund von mir musste ministrieren, dies war der Lechner Wolferl. Als Messgewand habe ich eine Dirndlschürze genommen, eine rote, wenn im Kirchenjahr die Farbe Rot dran war, eine grüne, wenn Grün dran war. Wenn die Großmutter gefragt hat: ‚Wo ist meine grüne Dirndlschürze?‘, habe ich geantwortet: ‚Oma, die habe ich, denn jetzt haben wir die grüne Farbe im kirchlichen Jahreskreis, da muss ich Grün als Messgewand anziehen.‘ Dann habe ich wieder für Trauermessen die schwarze Schürze entführt, dann wieder die rote oder die violette in der Fastenzeit. Die Großmutter hat ihren Freundinnen wie der Frau Kemmetmüller und der Frau Kapfenberger erzählt, dass ihr Haralderl, so hat sich mich genannt, Pfarrer werden will. Sie hat zu ihnen gesagt: ‚Ihr müsst einmal zu einer Messe kommen, zum Harald. Er liest so schöne Messen, sogar predigen tut er.‘ Jetzt sind die alten Damen gekommen, die Windischgarstner Bürgerinnen, zu mir in das Dachbodenzimmer. Aber wenn die gekommen sind, habe ich die Messe sogar im Wohnzimmer beim Thallinger lesen müssen. Ich habe den Tisch vom Dachboden heruntergetragen 370

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und aufgebaut. Dann habe ich die Messe gefeiert vor den drei oder vier alten Damen. Meiner Großmutter sind dabei die Tränen heruntergekollert. Nun sagte ich in der vierten Klasse Volksschule: ‚Ich werde nicht Bäcker, ich werde Pfarrer.‘ Der Onkel Alois hat darauf gleich gesagt: ‚Das kommt doch nicht in Frage. Wer soll denn das Studieren bezahlen? Das Gymnasium kostet Geld. Nichts, das geht nicht, du wirst Bäcker!‘ Der Onkel Alois hat das nicht böse gemeint, er hat das realistisch so gesehen. Zum weiteren Leben meines Bruders Adalbert möchte ich noch kurz hinzufügen, dass er einen interessanten Weg gegangen ist. Statt Konditor zu werden, erlernte er den Beruf des Mechanikers, kam zur ÖBB in die Werkstatt als Diesellokomotiventechniker, wurde später Fahrschullehrer, Einkaufsassistent und schließlich Einkaufsleiter in Betrieben. Als Wirtschaftskonsulent bereiste er viele Länder der Erde. Schlussendlich brachte er es bis zum Universitätsdozenten für Wirtschaftsethik und Europäische Kulturentwicklung. Er stand mir zeitlebens sehr nahe.“

In der Priesterschmiede „Petrinum“ – Internat und Heimweh Harald will unbedingt Priester werden, er will daher in ein geistliches Gymnasium. Zunächst steckt man ihn jedoch in die Hauptschule. Nach der ersten Klasse gelingt ihm schließlich mit der Unterstützung des Pfarrers der Übertritt. Harald führt dazu aus: „Nach der vierten Klasse Volksschule musste ich in die Hauptschule gehen, man wollte nicht, dass ich Pfarrer werde, man wollte mich zum Bäcker machen. Das ganze Jahr habe ich gesagt: ‚Ich werde ein Pfarrer! Und ich werde Pfarrer!‘ Dem Pfarrer Kierner und den Kaplänen habe ich das auch gesagt. Diese sind dann zur Großmutter und zum Onkel Alois, ich weiß noch, wie sie bei uns am Tisch gesessen sind und gesagt haben: ‚Wenn der Bub wirklich Pfarrer werden will, könnt Ihr ihm das nicht verwehren. Es gibt eine Berufung. Wenn er von Gott den Ruf spürt, dann könnt Ihr nicht sagen, er darf das nicht werden. Das wäre doch gegen Gottes 371

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Plan.‘ Und ich habe zur Großmutter und zum Onkel Alois gesagt: ‚Seht Ihr das!‘ Auf jeden Fall hatte ich es erkämpft, auf ein Gymnasium für künftige Priester gehen zu dürfen. Man hat sich nun gefragt, in welches. Es kamen das Kloster Schlierbach, das Kloster Kremsmünster oder das Petrinum in Frage. Kremsmünster war zu teuer, Schlierbach hatte in diesem Jahr keine erste Klasse, eine solche gab es nur alle zwei Jahre. Nun hat der Pfarrer gesagt: ‚Der Bub kommt in das Petrinum in Linz. Das ist die Priesterschmiede.‘ Ich habe sofort gesagt: ‚Ich gehe ins Petrinum.‘ Ich habe nicht gewusst, was mir da blüht. Jetzt bin ich nach der ersten Klasse Hauptschule in Windischgarsten in Linz in die erste Klasse gekommen. Das Petrinum gehört der Diözese Linz und liegt in Urfahr am Fuße des Pöstlingberges, es ist ein Riesenhaus mit tausend Fenstern. Es ist dem heiligen Petrus geweiht, daher der Name. Das Petrinum war die Priesterschmiede für die Weltpriester, ein bischöfliches Gymnasium als Vorstufe für das Priesterseminar. Die Erzieher waren alle aus dem geistlichen Stand. Von den Professoren waren damals zwei Drittel Priester, ein Drittel war schon weltlich. Dazu kam ein sehr strenges Internat. Wichtig war eine intensive religiöse Erziehung. Man hat uns gleichsam schon als junge Theologen gesehen. Neben der humanistischen Ausbildung, wir hatten sechs Jahre Latein und acht Jahre Altgriechisch, wurden wir täglich mit geistlichen Lesungen bombardiert. Zweimal in der Woche gab es Glaubensstunden, und jeden Tag eine Morgenbetrachtung und eine heilige Messe. Dies acht Jahre lang! Sehr streng war das ‚silentium religiosum‘, also das religiöse Schweigen, es dauerte vom Abendgebet um 7 Uhr bis zum nächsten Tag nach dem Frühstudium und dem kurzen Frühstück um ½ 8 Uhr, bevor wir in die Schule gegangen sind. In dieser Zeit herrschte absolutes Stillschweigen. Vom Abendgebet weg sollte man sich nur mehr mit Gott beschäftigen, studiert hat man aber noch. Wir waren am Anfang 40 Schüler in einem Schlafsaal mit einem Waschraum mit kaltem Wasser. Es gab nur ungefähr zehn Waschmuscheln und ein Fußwaschbecken. Die Räume waren fast ungeheizt.“ 372

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Ich unterbreche und füge ein, dass meine Erlebnisse im Konvikt von Kremsmünster ähnlich waren. Dieses dauernde Beisammensein mit anderen war nicht leicht. Seitdem bin ich gerne alleine, sage ich. Ihm gehe es ähnlich, meint Harald und erzählt weiter: „Wenn man nicht gleich eingeschlafen ist, hat man ohnehin nicht mehr schlafen können. Die einen haben geschnarcht, die anderen im Schlaf geredet, der Nächste ist mit Schlapfen auf das Häusel gegangen. Zwischen zwei Schlafsälen haben die Präfekten ihr Zimmer gehabt. In der Nacht haben sie immer die Türen ein bisserl aufgemacht, damit sie horchen können, ob ja Ruhe ist. Manchmal ist es passiert, dass einer fantasiert hat. Der Präfekt ist deswegen hereingeschossen, hat das Licht aufgedreht und alle aus den Federn gejagt. Dann hat er gerufen: ‚Wer hat hier geschwätzt? Wer hat da das silentium religiosum gebrochen?‘ Dabei hat keiner mit einem anderen geredet, sondern einer hat bloß fantasiert im Schlaf. Wir durften nur fünfmal im Jahr heimfahren: zu Allerheiligen, Weihnachten, Ostern, Pfingsten und in den Ferien. Das alles habe ich nicht gewusst, wie ich gesagt habe, ich möchte Pfarrer werden. Ich habe nicht geahnt, was ich mir einhandle an Härte und hartem Training. Ich weiß noch, wie ich nach Weihnachten wieder nach Linz gefahren bin. Kalt war es und die alten Dampflokomotiven gab es noch. Wie der Zug Windischgarsten verlassen hat und ich von Pichl aus den Kirchturm das letzte Mal gesehen habe, habe ich geglaubt, mich zerreißt es, so schwer war mir ums Herz. Es waren noch zwei andere, die in das Petrinum gefahren sind: die beiden Habersack-Buben. Der eine ist jetzt Richter in Enns, der andere Hauptschullehrer. Pfarrer ist keiner von uns geworden. Voreinander hat man sich keine Blöße gegeben und zugegeben, dass uns der Abschied schwerfällt. Wie wir Windischgarsten nicht mehr gesehen haben, haben wir schon geblödelt. Ich habe in den Nächten im Petrinum einige Tränen vergossen. So erfuhr ich, was es heißt, Heimweh zu haben. Ich bin härter geworden und gereift, habe eine intensive Bildung und eine tolle religiöse Erziehung erhalten. Vergelts Gott, hochgeschätzte Professoren und Präfekten, ich möchte das Petrinum nicht missen. Es 373

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war meine Chance zu studieren, ich wäre sonst nie zur Matura gekommen. Es gab ja damals kein öffentliches Gymnasium bei uns im Bezirk, nur geistliche Schulen. Ich habe vorher nicht gewusst, was ich studieren werde, ich war ein durchschnittlich guter Schüler und habe nie eine Nachhilfe bekommen, nicht eine einzige Stunde. Eine solche hätte auch niemand gezahlt. Ich habe mich auch in schwierigen Zeiten immer durchgeschlagen. Komplett alleine! Im Kopf habe ich nur den Gedanken gehabt: Ich will Pfarrer werden. Bis zur Matura habe ich noch angegeben, ich werde Pfarrer. Ich war ein ruhiger und unauffälliger Schüler. Kein Revoluzzer! Damals um 1968 haben einige Schüler schon begonnen, gegen gewisse Zwänge zu revoltieren. Ich nicht. Wir waren eine kleine Gruppe, die wir uns an die strengen religiösen Regeln gehalten haben, wir sind sogar in der Nacht aufgestanden und haben in der Kapelle freiwillig ein Nachtgebet gesprochen. Das wusste niemand. So waren wir, wir machten geistliche Fleißaufgaben. Im Advent sind wir schon um 5 Uhr in der Früh auf den Pöstlingberg gegangen zur Rorate, dem sehr frühen morgendlichen Gottesdienst an den Werktagen. Wir waren richtige ‚Pfarrerstreber‘. Keiner hätte damals daran gezweifelt, dass aus mir ein Pfarrer wird. Jeder hat geglaubt, dass gerade ich Priester werde. Aber es sollte anders kommen.“

Das kleine Untermietzimmer – die Pädagogische Akademie Spannend geht es im jungen Leben von Harald weiter: „1970 maturierte ich. Immer wieder beschäftigte mich die Frage nach meiner Identität. Ich wollte meine Wurzeln erkunden. So machte ich mich auf die Suche nach meinem leiblichen Vater, meinem Erzeuger. Nach langem Forschen fand ich ihn in einer oberösterreichischen Stadt. Er hatte eine Österreicherin geheiratet. Er lebte mit ihr in bescheidenem Glück, spielte Orgel und hielt Lichtbildervorträge. Aber mit uns, seinen Kindern, wollte er eigentlich nichts zu tun haben. Er hat auch nie für uns bezahlt. Er musste mir Rede und 374

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Antwort stehen. Ich erfuhr seine bittere Lebensgeschichte, die eng mit dem zerstörten Dresden, seiner Heimat, verbunden ist. Ich verstand nun, dass er sich nicht um uns kümmern konnte. Nach tagelangen Gesprächen wünschten wir einander viel Glück und wollten unsere Lebenskreise gegenseitig nicht weiter stören. In den Ferien nach der Matura wanderte ich viel und spürte meine Heimatverbundenheit. Auch die Sehnsucht nach Liebe, Familie und Geborgenheit überkam mich sehr heftig. Die Ehelosigkeit des Priesters stellte sich plötzlich für mich als Problem dar. So reifte in mir der Wunsch, Lehrer zu werden. Im September 1970 inskribierte ich an der Pädagogischen Akademie in Linz. Geld hatte ich so viel, wie ich durch meine Nachhilfestunden bekommen habe. Und als ich während der Ferien beim Alois gearbeitet habe, hat er mir etwas Taschengeld gegeben. Dies habe ich gespart und damit in Linz ein Zimmer genommen in der Wohnung einer schweren Alkoholikerin. Für diese Frau habe ich Botendienste gemacht und bin einkaufen gegangen. Dafür habe ich um 50 Schilling dieses Kammerl bekommen, vier Quadratmeter, nicht größer als eine Bettlänge. Auf dem Flohmarkt habe ich mir ein Bett gekauft und ein kleines Tischerl. Mein Koffer war mein Kasten, mehr hat nicht Platz gehabt. Es gab ein kleines Fensterl in den Hinterhof hinaus. Die erste Zeit habe ich mich mit Nachhilfestunden durchgeschlagen, dann bekam ich ein Stipendium. Das Lehrerwerden faszinierte mich, denn ich habe Freude im Umgang mit Kindern. So konnte ich mein Lehramtsstudium nach vier Semestern mit Auszeichnung abschließen. Nichts konnte mich jetzt mehr in der Stadt halten. Ich kehrte heim in meine geliebte Heimat.“

Die hübsche Luzia taucht in der Konditorei auf Nun wird das Leben für Harald aufregend, die Liebe stellt sich ein: „Jetzt kommt der nächste Schritt meines Lebens. Im Juli 1972 musste ich, wie auch sonst in den Ferien, beim Alois in der Konditorei arbeiten. Ich musste servieren, kassieren und alles managen. 375

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In diesem Jahr hat der Alois das Geschäft ausgebaut, ein oberer Stock kam dazu. Zu mir hat er gesagt: ‚Du führst den oberen Stock. Du bekommst dazu noch eine Ferialassistentin. Es kommt eine von der Handelsschule, die möchte in den Ferien etwas bei uns verdienen.‘ Ich war nun Geschäftsführer für den ersten Stock. Genau in dem Raum, in dem ich geboren bin und meine Mutter mit uns Buben gelebt hat. Am ersten Tag hat Alois zu mir gesagt: ‚Schau, dass alles hinhaut, heute kommt die Praktikantin.‘ Es war der 14. Juli 1972, diesen Tag werde ich nicht vergessen. Ich wartete also, und dann tippelte ein hübsches junges Mädchen mit einem strahlenden Lächeln die Stiege hinauf. Bezaubernd! Mit einem Minirockerl in Karo! Ich war fasziniert, es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben uns bei unserem ersten Treffen zusammengesetzt, ich habe ihr mit dem Schlagobers ein Tupferl auf die Nase gemacht. Das war meine erste Liebe! Und dieses hübsche junge Mädchen ist meine jetzige Frau. Sie war in Steyr in der Handelsakademie. Ich war damals 21 Jahre alt, sie war 16. Ein halbes Jahr später haben wir uns geheim verlobt.“

Lehrer in Rosenau und Heirat Harald ist verliebt, in das Priesterseminar kehrt er nicht mehr zurück, sondern bemüht sich um eine Anstellung als Lehrer, wie er erzählt: „Ich habe um eine Anstellung als Volksschullehrer angesucht. Sofort stellte man mich ein, und zwar in Rosenau am Hengstpass. Meine Luzia musste im Herbst wieder in die Schule. Jedes Wochenende bin ich nun mit meinem Auto, einem Puch 500, nach Steyr zu ihr gefahren. Am Freitag habe ich sie geholt und vor der Schule auf sie gewartet. Am Sonntag habe ich sie wieder nach Steyr geführt. Wenn ich sie abgeliefert hatte, bin ich immer traurig heimgefahren. Ein halbes Jahr später haben wir uns verlobt, mit echten Verlobungsringen. Niemand wusste etwas, auch ihre Eltern nicht. Am Jahrestag, an dem wir uns kennengelernt haben, haben wir geheiratet. Am 14. Juli 1972 haben wir uns das erste Mal 376

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gesehen in der Konditorei Thallinger und am 14. Juli 1973 haben wir geheiratet.“

Die Bergbauernschule Mitterweng – der jüngste Direktor im Bezirk Harald will ein guter Lehrer sein und er ist es auch: „Eines Tages hörte ich, in Windischgarsten soll eine Sonderschule eingerichtet werden. Man suchte nach einem Lehrer, der sie aufbauen sollte. Ich dachte mir, das wäre etwas für mich. Ein begabter Lehrer bin ich auch, meinte man. Ich studierte neben dem Beruf Heilpädagogik und wollte Sonderschuldirektor werden. Gerade in diesem Jahr, 1981, ist die Bergbauernschule in Mitterweng frei geworden. Ich habe mir gesagt: ‚Um diese Schule bewirbst du dich, denn dort sind sicher viele Kinder, die eine besondere Betreuung brauchen, schließlich bin ich auch Sonderschullehrer.‘ Ich war schon immer der Typ, der nicht mit der Masse gehen will und der keine großen Schulen liebt. Ich wollte schon immer eine leicht überschaubare Schule haben und auch da oben bei der Schule wohnen. Unsere Wohnung im Ort war uns eh zu klein. Wir sind dann in das Lehrerwohnhaus bei der Mitterwenger Schule gezogen. Meine Frau hat die Schulküche übernommen. Sie hat gekocht und ich habe unterrichtet.“

Die Betreuung des „ganzen Menschen“ in der Bergschule Ich habe sofort erkannt, dass die Schüler eine besondere Betreuung brauchen. Ich mache aus den mir anvertrauten Kindern einfach das Beste, dachte ich mir. Ich war ein Pionier der Integration für Kinder mit ‚Lern- und Leistungsdefiziten‘, die in einer Normalschule bleiben durften und dort von einem geprüften Sonderschullehrer betreut werden. Für Kinder mit Lese- und Lernschwie377

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rigkeiten und Ähnlichem braucht man das Doppelte der Zeit. Sie brauchen eine spezielle Förderung und spezielle Hilfen. Das alles habe ich zusätzlich an meiner Schule gemacht. Darüber habe ich sogar Berichte geschickt und vor Lehrern Vorträge gehalten. Ich bin Bezirksarbeitskreisleiter für Kleinschulen geworden und habe an Landesarbeitsgemeinschaften teilgenommen. Wir haben für die Kleinschulen die Lehrpläne begutachtet und Strategien entwickelt. Dafür gab es im Laufe des Jahres einige Treffen, bei denen ich mitbestimmt habe. Daneben war ich immer noch für die Lehrerfortbildung tätig. 30 Jahre bin ich jetzt schon in Mitterweng in der Schule. Alle Kinder haben bei uns oben am Berg die beste Betreuung bekommen. Wegen der Abgeschiedenheit der Schule und der Schwierigkeit im Winter mit dem Autofahren sind die Lehrer nicht sehr lange geblieben. Sobald sie einen leichteren Posten bekommen haben, waren sie dahin. Es gab eine relativ große Fluktuation an Lehrern. Seit September 2009 ist die Schule einklassig, weil wir die entsprechende Schülerzahl nicht mehr haben. Bis dahin gab es zwei Lehrer. Ich war Leiter der Schule und hatte trotzdem zwei Klassen zu betreuen. Ich habe meist die größeren Kinder unterrichtet. Die erste und zweite Schulstufe war die erste Klasse, die dritte und vierte Schulstufe war die zweite Klasse. Jede Lehrkraft hatte zwei Klassen und jeweils zwei Schulstufen zugleich zu unterrichten. Das ist sicher schwieriger, als wenn man nur eine Schulstufe zu unterrichten hat. Aber andererseits konnte man gute Schwerpunkte setzen, wie familiäre Schule und Teamwork. Wir haben viel gemeinsam gemacht, wichtig waren uns Gemeinschaftserlebnisse, wir mussten immer Verantwortung übernehmen. Wir haben auf Charakterbildung und Persönlichkeitsentfaltung geachtet und sehr auf Allgemeinbildung geschaut. Wir haben viel musische Bildung gemacht und auch Sport. Eine gute Gesamtpersönlichkeitsbildung war uns wichtig. Ich habe geschaut, dass der ganze Mensch über Sport, Musik, Gemeinschaftsleben, Fest und Feier erfasst wird. Ich habe zum Beispiel mit meinen Schülern Weihnachtsfeiern für das Altenheim veranstaltet. Auch Weihnachtsspiele für Vereine haben 378

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wir durchgeführt. Die Lehrer des Gymnasiums in Admont, der Hauptschule und anderer Schulen, in die unsere Schüler kamen, haben immer gesagt: ‚Die Kinder aus der Mitterwenger Schule haben ein Pflichtbewusstsein und eine Vorbildung, das zählt mehr als Lesen und Schreiben. Und Gemeinschaftssinn haben sie auch!‘ Das war mein Ziel, meine Vision. Es hat mir gut gefallen: Ich hatte auch die Chance, in einer größeren Schule Direktor zu werden. Ich hatte sogar einmal eine Berufung in die Pädagogische Akademie bekommen, habe sie aber abgelehnt. Erstens bin ich kein Stadtmensch und zweitens habe ich das Familiäre und Überschaubare gerne, und hier kann ich mit meiner Persönlichkeit wirken.“

Unterricht im alten Schulhaus Mich interessiert, wie der Unterricht früher war und wie Harald mit den Problemen des Schulalltags fertigwurde. Eine Schule für die Bergbauernkinder in Mitterweng gibt es erst seit 1876. Vorher ging man hier heroben sehr großzügig mit der seit Maria Theresia bestehenden Schulpflicht um. Es gab sogenannte Notschulen in Mühlen und Bauernhütten, in denen Schneider, Müller und andere tüchtige Leute den Kindern Rechnen, Schreiben und Lesen beizubringen versucht haben. Es war daher ein echtes Fest, als die Schule in dem Bergbauernhof eingerichtet wurde. Tüchtige Lehrerinnen und Lehrer unterrichteten hier, die wussten, wie schwierig es für die Kinder war, den oft weiten Weg zur Schule zu schaffen, vor allem im Winter. Die Bergbauernkinder wuchsen bis in die 1960er-Jahre sehr bescheiden auf. Schon sehr früh wurden sie zur Arbeit am Hof eingesetzt. Frau Erna Degelsegger, sie besuchte die Schule in den 1950erJahren, erzählt: ‚Wenn ich von der Schule heimgekommen bin, musste ich zuerst am Acker arbeiten, Erdäpfel klauben oder bei der Heuernte helfen. Erst dann hatte ich Zeit, die Schulaufgaben zu erledigen.‘ Damals hatte die Schule nur einen Klassenraum. Die Kinder von der ersten bis zur dritten Klasse wurden am Vormittag 379

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unterrichtet und die Kinder von der vierten bis zur achten Klasse am Nachmittag. Der Turnunterricht sah damals so aus, dass die Kinder auch für diverse Arbeiten eingesetzt wurden. So mussten sie auf Wunsch des Lehrers das Holz schlichten, das ein Bauer für das Beheizen der Schule gebracht hat. Ähnliches erzählt auch Elmar Baumschlager, der um 1970 die Schule besucht hat. Oft wurden sie auch während anderer Unterrichtsstunden angehalten, gewisse Arbeiten für die Schule zu erledigen. Die älteren Bauernburschen setzte der Lehrer sogar dafür ein, Äste der Obstbäume, die zum Lehrerhaus gehörten, zu schneiden. Elmar meint, sie hätten dabei viel für das Leben gelernt. Insofern hat die alte Bergbauernschule auch ihre besondere Bedeutung. Harald erzählt von den spartanischen und bescheidenen Zuständen im alten Schulhaus: „Begonnen zu unterrichten habe ich vor 30 Jahren. Das Schulgebäude war ein altes, adaptiertes Bauernhaus. Es hat geheißen Dreilingbach, weil dort drei Bäche zusammenfließen. Bachlbauerngut hat man es genannt. Die Gemeinde Edlbach hat dieses leer stehende Bauernhaus gekauft und eine einklassige Volksschule eingerichtet. In zwei Räumen hat der Schulleiter gewohnt, in einem Raum war die Klasse. Bis zu meiner Zeit war in diesem kalten, modrigen Bauernhaus die Schule. Wir haben selbst eingeheizt, wir haben den Ofen bis zur Glut gebracht und trotzdem nicht mehr als 16 Grad in diesem Raum gehabt. Hinten in der Klasse haben die Kinder schon geschwitzt und einen roten Kopf gehabt und ich bin vorne bei der Tafel, wo ich meinen Schreibtisch hatte, mit Wollpullover und Filzschlapfen gestanden. Wenn ich nichts auf der Tafel zu schreiben hatte, sondern nur etwas zu erzählen, bin ich gleich zurück zu den Kindern, wo es warm war. Mit dem Rücken zum Ofen habe ich mich wieder aufgewärmt, bis ich wieder eine resche Kruste wie beim Schweinsbraten gehabt habe. Wenn ich etwas angegrillt war, bin ich wieder nach vorne gegangen. Die Kinder haben alle Viertelstunden im Kreis den Sessel getauscht, damit jedes Kind zumindest eine Viertelstunde beim Ofen sitzen konnte, um sich wieder aufzuwärmen. Das war so bis zum Jahre 1990. Zehn Jahre habe ich in der alten Schule unterrichtet.“ 380

14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“ Abb. 14: Harald Thallinger und die Bergbauernschule.

Der Kampf um den Bestand der Bergbauernschule – das neue Schulhaus Wenn ich mit dem Fahrrad nach Mitterweng unterwegs bin, muss ich kräftig in die Pedale treten, denn steil steigt die Straße an. Ich komme an Wäldern, Wiesen und schönen Bergbauernhäusern vorbei. Still ist es hier heroben hoch über dem Tal. Vor einer Marmortafel, auf der „Volksschule Mitterweng“ steht, halte ich mein Fahrrad an und schiebe es zu dem Haus dahinter, der Bergbauernschule, in der die Kinder von Mitterweng und Oberweng unterrichtet werden. Hier erwartet mich mein Freund Harald Thallinger, der Lehrer und Direktor dieser kleinen Schule 381

14. Harald Thallinger – der „Hochschuldirektor“

ist. Bald ist er hier nur mehr der einzige Lehrer. Er meint, die Geburtenfreudigkeit der Bergbauern habe nachgelassen. Ab Herbst wären es nur mehr 18 Kinder zwischen sechs und zehn Jahren, die diese kleine Schule besuchen. Bis jetzt betreute eine Lehrerin die jüngeren Schüler und er die älteren. Das Prinzip dieses Unterrichts ist, dass Kinder mehrerer Schulstufen gleichzeitig unterrichtet werden. Während zum Beispiel die Kinder der ersten Schulstufe das Lesen üben, bereiten sich die Kinder der zweiten Schulstufe still für die kommende Rechenprobe vor – und so weiter. Frau Sigrid Feßl, eine Bergbäuerin und Lehrerin, unterstützte ihn zeitweise im Lehrbetrieb. Während der Schulstunden bis zu Mittag sind die Schüler aller vier Schulstufen gleichzeitig zu unterrichten. Dies ist wahrlich eine Kunst, die der Herr Direktor in den letzten 30 Jahren praktiziert hat. Harald fürchtet um den Bestand der Schule in Mitterweng, wenn er in Pension ist: „Das Lustige war, wie ich mich um die Schule beworben habe, haben sie mir gesagt: ‚Alt werden kannst du in dieser Schule nicht mehr. Die Schule werden wir früher oder später auflösen.‘ Am grünen Tisch hat man schon verhandelt gehabt, die Schüler aufzuteilen: die Oberwenger nach Spital, die vom Zottensberggebiet nach Rosenau und die anderen nach Windischgarsten. Irgendwie war diese Aufteilung bei den Behörden schon klar. Man hat aber nicht damit gerechnet, dass ein junger, dynamischer und ehrgeiziger Leiter in die Schule kommen wird. Wäre jemand Leiter geworden, dem die Sache egal ist, wäre die Schule schon längst zugesperrt. Wie ich gespürt habe, dass man die Schule auflösen will, habe ich sofort die Initiative ergriffen und mich mit den Eltern zusammengetan. Ich hatte auch das Glück, dass der Bürgermeister gewechselt hat. Wie der Sölkner Walter Bürgermeister wurde, er ist selbst schon in diese Schule gegangen und seine Mutter war früher Schulwartin, hat sich das Blatt gewendet. Der Sölkner hat gesagt: ‚Die Schule muss bleiben, sie ist ein Segen für die Kinder.‘ Ich habe auch gesagt: ‚Diese Schule muss bleiben, sie hat einen großen Wert für die Kinder, sie ist gemeinschaftsfördernd, sie gehört zur Infrastruktur für dieses abgelegene Gebiet. Die Schule ist eine Stätte der 382

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Begegnung. Wenn eine solche Schule aufgelassen wird, sind Landgebiete wie Oberweng und Mitterweng bald bedeutungslos.‘ Zehn Jahre haben wir für den Erhalt der Schule gekämpft. Zuerst wollten wir die Schule sanieren, dafür haben wir kein Geld bekommen. Ich habe gesagt, wir brauchen auch einen ordentlichen Turnsaal. Nun hätte ich fünf Millionen Schilling für die Sanierung der alten Schule bekommen. Ich hatte damals das Glück, dass zwei meiner Professoren auf der Pädagogischen Akademie Landeshauptmannstellvertreter geworden sind. Mit denen war ich per Du, weil ich sehr gute Arbeiten erbracht habe. Ich bin einige Male mit dem Bürgermeister zu ihnen gefahren und habe beide auch hierher eingeladen. Sie haben die Schule und ihren miesen Zustand angeschaut – wir haben für die ganze Schule nur ein WC gehabt, das wir mit einem Strahler im Winter eisfrei halten mussten. Sie haben gesagt, weil wir so hinter der Schule stehen, bekommen wir fünf Millionen Schilling. Unverschämt, wie ich war, habe ich gesagt: ‚Das ist mir zu wenig. Was nützt mir die schön sanierte Schule, wenn ich keinen Turnsaal habe. Ich brauche einen Zubau.‘ Da haben sie gesagt: ‚Gut, jetzt bekommst du einmal fünf Millionen, sanier die Schule. In fünf Jahren bekommst du wieder fünf Millionen. Damit baust du einen Turnraum dazu.‘ Das hat mich nicht in Ruhe gelassen und ich habe ihnen gesagt, das sei nicht recht logisch, ich brauche jetzt und möglichst schnell Geld für eine gescheite Schule. ‚Gebt mir zehn Millionen Schilling gleich und wir bauen anstelle der alten Schule eine komplett neue. Was will man mit dem alten Bauernhaus mit den kalten Steinmauern?‘ Der Landeshauptmann Ratzenböck hat dann gesagt: ‚Wenn du um zehn Millionen Schilling eine Schule hinbringst, dann bekommst du das Geld sofort. Aber ich sag dir gleich, wir haben Erfahrung, mit zehn Millionen kannst du keine Schule bauen mit Einrichtung und allem Drumherum.‘ Daraufhin habe ich gesagt: ‚Das werden wir schaffen.‘ Das heutige Schulhaus hat also mein planerisches Grundkonzept.“ Ich werfe ein, dass man diese Schule eigentlich nach ihm benennen müsste. Harald hat einen anderen Vorschlag: „Der Bürgermeister war damals der Sölkner und ich war der Schulleiter. 383

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Demnach könnte man sie ‚Sölk-Thall-Schule‘ nennen. Das ist ein Spaß! Sicherlich waren es der Sölkner und ich, die den Bau der heutigen Schule vorangetrieben haben.“

Eine kleine Theorie des Bergschullehrers Der Bergschullehrer, wie er hier geschildert wurde und wie ihn Harald gelebt hat, unterscheidet sich von anderen Volksschullehrern dadurch, dass er auch nach außen hin eine sehr enge Beziehung zu den Kindern aufbauen kann, aber auch zur bäuerlichen Welt, der die Kinder entstammen. Als Lehrer einer einklassigen Volksschule unterrichtet er im gemeinsamen Klassenraum die Kinder mehrerer Schulstufen, dadurch kann er das Gemeinschaftsgefühl unter Kindern verschiedenen Alters stärken, wobei die jüngeren Schüler von den älteren während des gemeinsamen Unterrichtes lernen können. Er kann aber auch, dies war Harald wichtig, das Kind in seiner Gesamtheit erfassen. Dem Kind kann klargemacht werden, wie wichtig gemeinsame Hilfe – ganz im Sinne der alten bäuerlichen Nachbarschaften – ist. Schließlich ist die Kinderzahl in solchen Bergschulen grundsätzlich gering, wie wir gesehen haben. Es ist zu hoffen, dass die Bergschule in Mitterweng weiterhin bestehen bleibt, schließlich ist sie das Lebenswerk des Harald Thallinger. Bürgermeister Johann Feßl und die gesamte Schulelterngemeinschaft lieben ihre Schule.

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15. Der Mann, der die Grottenbahn rettete – Milan Brantusa Zugang – der Fotograf des Praters Herrn Milan Brantusa, Vizepräsident des Wiener Praterverbandes, habe ich durch meinen Freund DDr. Franz Josef Mayr kennengelernt. Dieser hat eine großartige Dissertation mit dem Titel „Der Wiener Prater. Ein kultur- und randkultursoziologischer Streifzug von der Vergangenheit zur Gegenwart“ unter meiner Betreuung als Dissertationsvater an der Universität Wien verfasst. Milan, zu dem bald ein freundschaftlicher Kontakt entstand, fiel mir durch seine Fotografierkünste auf. Seine Fotos sind auf der Website www.prater.at, deren Inhaber und Chefredakteur er ist, zu bewundern. Er schreibt zum Programm: „Vor zehn Jahren wurde mit www.prater.at begonnen, der mediale Erfolg hat uns recht gegeben. 2008 wurde die Informations-Website für alle Praterbesucher und Praterunternehmer neu gestaltet. Das ist für uns Ansporn, die Aktualisierung der Bilddokumentation und Berichterstattung über den Prater und sonstige Tagesneuigkeiten zu verbessern.“ Unter www.freizeitparkfun.de/wr__prater_3.htm sind Milan Brantusas prächtige Bilder von Praterunternehmen, wie eben der Grottenbahn, zu sehen. Aber nicht nur die Fotos faszinierten mich, sondern auch seine Geschichten vom Prater und von den Schaustellern. Für mich ist Milan der klassische Vertreter der alten Praterkultur mit Buden, Ringelspielen, Riesenrad, Autodromen, Schießbuden, Geisterbahnen, dem berühmten Kasperltheater und Wirtshäusern. Milan gehört zur Geschichte des auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Wiener Praters.

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15. Der Mann, der die Grottenbahn rettete – Milan Brantusa

Der Wurstelprater Nicht der ganze Prater, zu dem auch Wälder, Wiesen, Sportplätze und Teiche gehören, ist das Revier von Milan Brantusa, sondern vor allem der „Wurstelprater“, wie die Wiener den Vergnügungsbereich rund um das Riesenrad nennen. Im Wort „Prater“ steckt das lateinische Wort „pratum“, das „Wiese“ heißt. Dem gewöhnlichen Volk war das Betreten des Praters in früheren Zeiten verboten, denn der Kaiser und der hohe Adel wollten hier vor allem bei der Jagd ungestört sein. Erst Kaiser Joseph II. öffnete 1766 den Prater der Allgemeinheit und erlaubte die Ansiedlung von Kaffeesiedern und Wirten. Belustigungen lockten die Wiener an und die Kinder erfreuten sich an den Puppenspielen, deren Hauptfigur der lustige Hanswurst war. Von daher stammt für diesen Teil des Praters die Bezeichnung „Wurstelprater“. 1897 wurde nach den Plänen der englischen Ingenieure Walter Basset und Harry Hitchins das Riesenrad errichtet. Ich treffe Milan Brantusa gemeinsam mit Franz Josef Mayr im Wiener Café Landtmann. Milan ist begeistert von meiner Idee, über Leute zu schreiben, die ihre eigenen Wege gehen oder gegangen sind. Er gehört zu solchen, meint er selbstbewusst.

Der bastelnde Großvater – die alte Frau Happel, die Mutter des Fußballers Milan erzählt über seine Herkunft aus Wien, und zwar aus dem 9. Bezirk, dessen Bewohner darauf stolz sind, dass Franz Schubert hier geboren wurde. Vielleicht wird man einmal darauf stolz sein, dass auch Milan Brantusa, der Retter der Grottenbahn im Prater, hier das Licht der Welt erblickt hat. Ähnlich wie Schubert hat Milan seine künstlerischen und andere Fähigkeiten hier entwickelt. Milan trinkt seinen Kaffee und führt aus: „Ich bin am 6. Oktober 1947 in Wien in der Wohnung meiner Großeltern im 9. Bezirk in der Seegasse zur Welt gekommen. Meine Eltern haben knapp 386

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davor geheiratet. Ich glaube, es war eine Notheirat, da ich schon unterwegs war. Die beiden haben im 9. Bezirk in der Tendlergasse eine Wohnung gehabt, in der bin ich aufgewachsen. Die Tendlergasse liegt hinter dem Allgemeinen Krankenhaus, parallel zur Währingerstraße. Ob die Mutter zu meiner Geburt bei den Großeltern war, weiß ich nicht. Ich weiß nur durch meine Geburtsurkunde, dass ich bei ihnen auf die Welt gekommen bin. Zu den Großeltern habe ich guten Kontakt gehabt, ich war viel bei ihnen. Mein Großvater war ein Bastler. Er war der erste MacGyver, einer, der aus allem etwas machen konnte. Dieses Talent habe ich von ihm geerbt. Wenn ich etwas machen muss, nehme ich mir von da ein Trumm und von dort etwas, und die Sache ist erledigt. Ich kann aus allem etwas machen. Meine Eltern haben mich in die französische Schule gleich in der Nähe von uns gesteckt, in das Lycée Français an der Währingerstraße. Später war ich stolz, in diese Schule gegangen zu sein. Mein Vater hatte ein Espresso und ein Autohaus, meine Mutter ein Nachtlokal, den Alserkeller neben dem Café Kolosseum. Damals, so um 1955, war dort eine Kegelbahn und im Alserkeller hat eine zehn Mann starke Zigeunerkapelle gespielt. Das Lokal von meinem Vater war in der Thurngasse, gleich gegenüber der Medizinischen Uni, es hieß ‚Autoespresso‘. Dieses Lokal hat vorher der alten Frau Happel gehört, der Mutter des Fußballspielers Ernst Happel, nach dem das Stadion benannt ist. Sie war ein kleines Mutterl mit einem Kopftuch und einer Schürze. So habe ich mir eine alte Bäuerin vorgestellt.“ In einer Zeitung habe ich einmal über Milan und seine Beziehung zum Prater geschrieben. Dies las der Neffe von Ernst Happel, der gegenüber von Milan gewohnt und ihn im Prater aufgesucht hat. Dazu erzählt Milan weiter: „Im Gespräch mit ihm erinnerten wir uns unserer Kindheit. Der junge Happel ist um ein Jahr älter als ich. Der hat natürlich viel mehr Geschichten aus unserer Kindheit gewusst als ich. Ich kann mich noch erinnern, wie wir beide Hiebe bekommen haben, weil wir auf einem Dachboden geraucht haben. Mein Vater hat gesehen, dass es aus dem Dachboden he­ 387

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rausraucht. Er hat geglaubt, es brennt, aber es waren unsere Zigaretten. Ich bin ein Einzelkind. Ich hätte gerne ein Geschwister gehabt, wegen der Unterhaltung und Ansprache. Die Erwachsenen waren für mich unmöglich und so alt. Ich kann mich an die Frau des Baumeisters Jo erinnern, die das Café Kolosseum geführt hat, sie war für mich damals eine uralte Frau. Als ich älter wurde, in ein reiferes Alter kam, bin ich einmal dorthin gekommen und habe sie wieder gesehen. Sie war wohl schon alt, hat aber bezaubernd ausgeschaut. Sie wird damals ein bildhübsches Madl gewesen sein, aber für mich war sie uralt. Wie ich sie jetzt wieder gesehen habe, war ich überrascht und habe mir gedacht: ‚Ich kann mich doch erinnern, als ich so klein war, war sie uralt, sie ist doch jetzt viel jünger, als wir damals waren.‘ Während der Volksschulzeit war ich also im Lycée. Man war gezwungen, den ganzen Tag französisch zu reden. Mein Wortschatz ist der eines Zehnjährigen, aber für eine seichte Unterhaltung reicht es heute noch. Ich erlebe oft lustige Sachen. Wenn ich mich mit einem Franzosen unterhalte, fragt mich der nach ein paar Minuten, woher ich komme. Sie können den Dialekt nicht zuordnen. Sie kommen nicht auf die Idee, dass ich kein Franzose bin. In der Zwischenzeit hat sich mein Geheimnis gelüftet. Der französische Dialekt, den ich spreche, ist der, der in der ganzen Schule gesprochen wird. Die Schule ist wie ein Dorf, in der es einen eigenen Dialekt gibt. Deutsch war bei uns eine Fremdsprache, wir hatten, glaube ich, zwei Stunden Deutsch in der Woche. Das Problem war die Rechtschreibung. Bevor es den Computer gegeben hat, der die Fehler aufzeigt, habe ich mich sehr mit dem Rechtschreiben geplagt. Von der Ausdrucksweise her war es kein Problem.“

Die Pony-Bar des Vaters – Kunststofftechniker und Papierarbeiter Als meine Mutter gestorben ist, ich war zehn Jahre alt, sind mein Vater und ich nach Mautern an der Donau gegenüber von Krems 388

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gezogen. Mein Vater hat dort ein Gasthaus und eine Bar aufgemacht, die sehr gut gegangen ist. Die Pony-Bar war die erste Bar in der Gegend, die Sitze waren mit Pferdefellen überzogen. Zuerst bin ich noch ein halbes Jahr in die Volksschule in Mautern gegangen, dann 2 ½ Jahre in die Hauptschule in Stein an der Donau. Mein Vater bekam bald größere Probleme, jedenfalls war er weg vom Fenster. Mich hat man in ein Internat gesteckt, nach Judenau in der Nähe von Sieghartskirchen. Das war 1956, als die Ungarnflüchtlinge hier waren. Damals habe ich versäumt, Ungarisch zu lernen, aber ein bisserl verstehe ich es. Wir haben aber versucht, ihnen Deutsch beizubringen. Dann bin ich nach Wien gekommen, ins TGM. Angefangen habe ich mit Maschinenbau, nach zwei Jahren habe ich Kunststofftechnik weitergemacht. Wir waren eine furchtbar schlimme Klasse, noch vor der Matura habe ich die Schule verlassen. Mit meinen Schulkollegen von damals bin ich noch immer in einem sehr guten Kontakt. Zu einem Klassentreffen laden die Maturanten mich als einzigen Nichtmaturanten regelmäßig ein. Ich hätte damals vom Vater einen Tritt in den Hintern gebraucht, dann hätte ich vielleicht maturiert. Aber er war damals weit weg, er hat in Kärnten Automaten aufgestellt und repariert. Ich bin schließlich auch nach Kärnten gegangen. Mit dem Vater zusammen wollte ich aber nicht arbeiten, ich wollte alleine sein. Ein Jahr habe ich als Dachdecker gearbeitet und eine Zeit als Kunststofftechniker. Die Leute dort haben mich aber immer als Welthandelsstudent bezeichnet, Kunststofftechnik war ihnen zu kompliziert. Das war so wie beim Sowinetz: ‚Wie heißt du?‘ ‚Herwig.‘ ‚Bei mir heißt du Karl!‘ Einer meiner Freunde, Ing. Wolfgang Frauenfeld, hat mich eines Tages angerufen und gesagt: ‚Du, wir brauchen in der Firma einen Techniker, der die Qualitätskontrolle übernimmt.‘ Ich habe ihm geantwortet: ‚Das ist kompliziert, da muss man schon mehr wissen als ich.‘ Darauf er: ‚Das ist kein Problem für dich. Ich weiß, du kannst es.‘ ‚Na gut‘, habe ich mir gedacht, und habe dort angefangen. Der Prokurist hat gesagt: ‚Schauen Sie, wir machen es mit Statistik.‘ ‚Ja, ja‘, habe ich gesagt. ‚Das ist ganz einfach‘, hat 389

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er gesagt, ‚Sie werden es schon machen.‘ Ich bin nun auf die Uni gegangen und habe Kurse in Statistik gemacht. Mengenlehre habe ich damals gelernt. Zuerst waren acht Leute in dieser Abteilung, in der ich gearbeitet habe, die haben sie alle hinausgeworfen. Ich habe gefragt, was los sei: ‚Ich habe mir gedacht, das wäre ein Dauerjob, jetzt haut Ihr alle raus.‘ Der Prokurist hat gemeint: ‚Die brauchen wir alle nicht mehr, du machst es nämlich alleine.‘ So war es auch. Ich hatte lustige Erlebnisse. Es war ein Dreischichtenbetrieb. In der Firma wurden hauptsächlich Kunststoffsachen erzeugt. In der Nacht hatten sie die Maschinen laufen, dabei ist ihnen ein Einsteller ausgefallen. Der Prokurist fragte: ‚Herr Brantusa, Sie waren doch am TGM, Sie haben dort Kunststofftechnik gelernt?‘ ‚Ja freilich‘, sagte ich. ‚Wissen Sie‘, meinte er, ‚bei uns ist ein Einsteller ausgefallen, könnten Sie nicht die Nachtschicht übernehmen?‘ Nachdem ich sehr mit meinem Können geprahlt habe, konnte ich nicht mehr zurück, obwohl ich von den Maschinen keine Ahnung hatte. Der Hilfsarbeiter hat mir gezeigt, wie man das macht. Nach einer Woche habe ich dort bereits als Maschineneinsteller perfekt gearbeitet. Es war kein Problem für mich. Ich habe immer solche Jobs gehabt, bei denen man geistig beweglich sein musste. In meiner Jugend wollte ich keinen fixen Arbeitsplatz. Es hat lange gedauert, bis mir der Knopf aufgegangen ist. Einmal habe ich in einer Firma als Maschineneinsteller gearbeitet. Es gab automatische Drehbänke, bei denen ich die Eisen hinten hineinschieben musste. Der Vorarbeiter hat immer herumgeschrien. Eines Tages gehe ich ins Büro, er sitzt dort und sagt zu mir: ‚Hören Sie, ich habe keine Zeit, ich mache einen Werkmeisterkurs.‘ Ich sage zu ihm: ‚Das ist eh ganz einfach.‘ ‚Wieso wissen Sie das?‘, hat er gefragt. Ich antworte: ‚Ich war im TGM.‘ Jetzt habe ich für den Vorarbeiter die Hausübung gemacht. Ich habe deswegen auch nicht mehr bezahlt bekommen, aber der Mann hat jetzt weniger geschrien mit mir. Da es nicht meine Aufgabe war, dem Vorarbeiter den Werkmeisterkurs zu ermöglichen, habe ich mir einen anderen Job gesucht. Ich habe bei Bene angefangen. Dort hat man mich gefragt: ‚Was können Sie?‘ Ich sagte: ‚Nichts.‘ Ich 390

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habe mich komplett dumm gestellt. Man hat mich zu einen Fließband gesetzt. Einer hat die Löcher in die Ordner gemacht, meine Aufgabe war, die Ösen hineinzustecken. Mir gegenüber ist einer gesessen, der hat sie vernietet. Dieser Mann war ziemlich lang, also ein Langer. Er hat nur einen Zahn gehabt und ein Spitzhauberl. Ich musste über ihn lachen, wenn ich ihn nur angeschaut habe. Bei dieser Arbeit habe ich mich wohlgefühlt, denn ich konnte mich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigen. Nach vier Tagen war diese Idylle vorbei. Was ist passiert? Der Chef von Bene, ein Herr Konsul, geht eines Tages durch den Betrieb, rechts von ihm seine ‚rechte Hand‘, das war mein Onkel. Wie der mich sieht, sagt er zu mir: ‚Was machst du da?‘ Ich erwiderte: ‚Siehst eh, Onkel Hansi, die Ösen gebe ich in die Löcher.‘ Sagt er: ‚Das geht doch nicht.‘ Ich war damals ungefähr 20 Jahre alt. Was war die Folge? Ich bin schon am nächsten Tag mitten in der Riesenhalle an einer großen Papierschneidemaschine gestanden und habe Papier geschnitten. Das war genauso eine Trottelarbeit wie die andere, aber für die Kollegen war das ein Aufstieg. Für mich war dies allerdings keine größere geistige Herausforderung. Als ich einmal bei meinem Onkel im Büro gesessen bin, sagt er zu mir: ‚Ich müsste hier etwas konstruieren, hast du keine Idee?‘ ‚Nein.‘ Ich habe dann in dieser Firma wieder aufgehört, weil ich befürchtet habe, die Arbeit des Onkels machen zu müssen. Er soll sie selber machen, er wird ja dafür bezahlt. Aber er war ein lieber Kerl, er ist es heute noch.“ Ich unterbreche Milan und erzähle, dass ich als Student in einer kleinen Papierfabrik im Wiener 5. Bezirk gearbeitet habe. Ich denke mit Schaudern an diese Arbeit, bei der ich Papiersäcke kleben musste. Milan bestätigt: „Das sind ja alles fade Arbeiten.“

Die Automaten und der Prater Milan erzählt weiter, wie er Zugang zum Prater gefunden hat. Dies ging über die Automaten: „Irgendwann bin ich durch meinen Vater zu den Automaten gekommen. Eine Zeit lang habe ich 391

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gemeinsam mit ihm Automaten repariert. Aber das ist nicht lange gut gegangen. Eines Tages war mein Vater pleite. Immer wenn ich etwas gebraucht habe, habe ich zu ihm gesagt: ‚Papa, ich brauche Geld. Ich möchte ausgehen.‘ Darauf hat er gesagt: ‚Wir haben kein Geld, ich muss einen Wechsel bezahlen.‘ Ich dachte mir, das spielt ja keine Rolle, die Firma gehört dir sowieso einmal. Als er mir aber gar nichts mehr gegeben hat, hatte ich es satt und habe mich von meinem Vater getrennt. Ich habe mir eine eigene Wohnung genommen. Der Vater hat bei mir gewohnt, weil er nichts mehr gehabt hat. Bald habe ich nur mehr als Automatenmechaniker gearbeitet. Zeitweise lebte ich ganz nobel, mir ist es herrlich gegangen. Ich hatte mich auf Geldspielautomaten und Flipper spezialisiert.“ Ich erzähle von den alten Spielhallen mit den mechanischen Flipperautomaten, mit denen Birgitt und ich gerne gespielt haben. Es war ein schönes Spiel. Dies betont auch Milan: „Die Leute haben gerne mit den Flipperautomaten gespielt. Beim Schweizerhaus gibt es noch eine Halle, in der stehen noch so alte mechanische Flipper wie in den 1960er-Jahren. Das Hinausschießen der Kugel erfolgte mechanisch, alles andere aber elektrisch. Elektronische Bildschirme gibt es keine bei diesen alten Automaten. Als Automatenmechaniker habe ich gut verdient. Auf d‘ Nacht bin ich gerne nach Grinzing gefahren zum Heurigen. Dort habe ich gehorcht, ob jemand französisch spricht, dann habe ich mich dazugesetzt. Auch zu Engländern habe ich mich gern gesetzt. Wenn man ein paar Achtel Wein trinkt, hat man weniger Scheu beim Reden. Sonst geniert man sich, wenn man einen Fehler macht. Durch die Konversation lernt man, sich besser in der fremden Sprache auszudrücken. Das Übersetzen ging bei mir fließend. Ich war dadurch öfter privat eingeladen, einmal sogar in der belgischen Botschaft. Ich habe viele Leute beim Heurigen kennengelernt. Es hat mir gefallen, mich mit ihnen zu unterhalten. Zuerst habe ich im Prater freiberuflich bei mehreren Unternehmern gearbeitet. Dann aber nur mehr für einen, denn bei dem hatte ich mein fixes Gehalt. Das war in der Glashalle beim Marcel. Heute steht dort das Haus mit den Dinosauriern vom Dostal.“ Ich 392

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frage Milan, ob er nicht im Prater wie ein Fremder gewesen wäre, da er nicht aus einer Praterfamilie stammt. Milan nickt: „Richtig, ich bin heute noch irgendwie fremd im Prater. Meine Frau stammt allerdings aus einer berühmten Schaustellerfamilie im Prater. Ihre Mutter Liselotte Lang ist eine geborene Schaaf.“

Die Praterfamilie Schaaf und der Rumpfmensch Die Schaafs nennen sich selbst stolz „Praterdynastie“ oder „Praterfamilie“. Zu diesen gehören auch die Langs, die Wilferts und die Kobelkoffs (www.praterdynastien.at). Gleich aristokratischen Familien sind sie untereinander verwandt und verschwägert. Mich interessiert, wie Milan zu einer Frau aus altem Prateradel gekommen ist. Er erzählt: „Das war ein reiner Zufall. Ich kannte ihre Schwester, die Silvia, sie hatte mit Automaten zu tun. Die Schaafs sind schon über 150 Jahre im Prater. Es ist eine eigene Geschichte, wie sie aus Ostdeutschland in den Prater gekommen sind. Da gab es den alten Schaaf, einen reisenden Schausteller, der hatte unterwegs den Kobelkoff, den Rumpfmenschen, den Mann ohne Hände und Füße, kennengelernt. Diesen hat es wirklich gegeben er hatte acht Kinder.“ Mein Freund Franz Josef trägt bei: „Es gab noch den Schaaf, der mit einer Menagerie aus Deutschland gekommen ist, der war schon vor den Kobelkoffs hier.“ Milan klärt die Verwirrung auf: „Dieser Schaaf war auf der Reise; und der Kobelkoff ist bei ihm aufgetreten. Die beiden haben ein irres Geld verdient und sind dann in den Prater gekommen. Dort haben sie die zwei Wilfert-Schwestern geheiratet. Kobelkoff ist auf einen Sessel gesetzt worden. Er war Kunstschütze und Kunstmaler – gemalt hat er mit dem Mund. Er hatte eine starke Psyche. Kobelkoff war die Sensation in Europa, er hat sehr gut verdient. Es gab sogar ein Video über ihn im Internet, das aber aus Urheberrechtsgründen wieder verschwunden ist.“ Dieser Kobelkoff interessiert mich. Ich erfahre, dass er 1851 in Russland geboren wurde und 1933 in Wien starb. Er hat ein Ehren393

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grab auf dem Zentralfriedhof. Er stammte aus einer Bauernfamilie, es heißt, er kam er als 14. Kind zur Welt. Bis auf kurze Stümpfe fehlten ihm sämtliche Gliedmaßen. Trotz dieser enormen Behinderung lernte er Schreiben und Zeichnen, indem er den Bleistift oder ein anderes Schreibgerät zwischen Kinn und Armstumpf klemmte. Bereits ab 1870 war Kobelkoff auf Jahrmärkten und Kuriositätenschauen unterwegs. Bald war er eine Berühmtheit, sowohl in Europa als auch in Amerika. 1876 heiratete er Anna Wilfert und 1913 errichtete er im Prater den sogenannten Toboggan, einen Rutschturm, den ich seit meiner Kindheit kenne und von dem man auf einer Sackleinwand in Serpentinen hinunterrutschte. Bis in die 1970er-Jahre befand sich dieser Toboggan im Besitz der Familie Kobelkoff.“ Milan gehört durch Heirat zu den Praterfamilien. Wie es dazu kommt, erzählt er nun: „Durch die Silvia Lang habe ich meine Frau, eine geborene Schaaf, kennengelernt. Wir sind gemeinsam einmal fortgegangen in eine Art Disco. Es hat sofort zwischen uns gefunkt, beide waren wir frisch geschieden. Meine erste Frau war vielleicht nicht der richtige Partner für mich. Fast zwei Jahre war ich verheiratet. Ich war damals in Frankreich auf Urlaub und wie ich zurückgekommen bin, habe ich mir gedacht: ‚Jetzt bist du schon 30, es ist Zeit zu heiraten.‘ Da lief mir eine Bekannte über den Weg und ich habe mir gedacht: ‚Warum nicht?‘ Ich habe diese Frau also geheiratet und habe mit ihr ein Kind. Als es fünf Jahre alt war, ist sie mir mit ihm abgepascht. Damals habe ich sie das letzte Mal gesehen. Ein zweites Kind habe ich mit meiner jetzigen Frau. In eine Praterfamilie einzuheiraten, war nicht von mir geplant. Geld war für mich immer nebensächlich, ich möchte nur meine Ideen umsetzen, dann bin ich glücklich. Ideen habe ich pausenlos.“

Die Rettung der Grottenbahn Nun wird das Gespräch mit Milan interessant, denn jetzt kommt er auf die Grottenbahn zu sprechen: „Mit ihrem ersten Mann woll394

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te meine zweite Frau, die geborene Schaaf, die Grottenbahn, die sie gekauft hatte, wegreißen. Das war so vor 30 Jahren. Sie sind aber nicht dazugekommen, dies zu tun. Die Grottenbahn hat damals schon recht schäbig ausgesehen. Ich habe zu meiner Frau nach der Hochzeit gesagt: ‚Wir reißen die Grottenbahn nicht ab, wir richten sie wieder her. Das Wegreißen kostet viel Geld, aber etwas Neues aufbauen kostet auch viel Geld.‘ Die Grottenbahn gefiel mir, sie hat etwas Liebes und Bezauberndes, und ich fühlte mich sofort angezogen von dieser Attraktion. Heute ist meine Frau glücklich mit der Grottenbahn und würde sie um keinen Preis der Welt hergeben. Ich habe die Grottenbahn mit einem Helfer selbst renoviert, wir haben viel Geld hineingesteckt. Die Fassade, die wir jetzt haben, hat ein Bildhauer gemacht. Den hatte ich gesucht, da ich schon eine Vorstellung hatte, wie die Grottenbahn aussehen soll.“ Franz Josef meint nun zu Milan schwärmend: „Du hast in die Schaaf-Dynastie hineingeheiratet, in einen Zweig davon. Die Dynastie war die bekannteste, älteste und zugleich auch größte und verzweigteste Schaustellerfamilie im Wiener Prater. Liselotte Lang ist die älteste noch immer aktive Schaustellerin im Prater, von der Wiener Rutsche. Sie ist eine geborene Schaaf und eine großartige Persönlichkeit. Sie wurde im Prater auf Parzelle 28 geboren und ist seit ihrem achten Lebensjahr ohne Unterbrechung als Schaustellerin tätig. Diese tüchtige Frau ist für mich die wahre Grande Dame des Wiener Praters. Sind die Schaafs stolz auf ihre Familie?“ Milan meint: „Die Silvia ist stolz, dass sie eine Lang ist.“ Franz Josef berichtet, dass Kommerzialrat Eduard Lang auch Präsident des Praterverbandes gewesen ist und sogar ein Weg im Prater nach ihm benannt wurde. Zur Familie Schaaf meint Milan noch: „Die Schaafs sind leider schon weniger geworden.“ Auf meine Frage, ob es einen König des Praters gibt, meint Milan: „Die Könige des Praters sind nicht die Schausteller, sondern die, die das Geschäft mit den Automaten machen. Der alte Koidl hat die Spielautomaten in den Prater gebracht. Geholfen hat ihm dabei der Lang, er vermittelte ihm die Halle, in der er dann mit den Automaten sein Geld verdient hat. 395

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Gekauft hat er sie von einer Frau, die mit einem Kobelkoff verheiratet war. Die erste Spielhalle im Prater hat also einer Kobelkoff gehört. Seit dieser Zeit sind die Automaten gegangen wie der Teufel. Weil die Frau Kobelkoff die Erste mit den Automaten war, hat sie mitunter sehr üppig zu leben gewusst. Sie ist zum Beispiel einmal fortgegangen aus der Halle und hat einem der Spieler die Schlüssel zum Aufpassen gegeben. Wie soll denn das gehen? Wie soll dann Geld überbleiben, wenn die Spieler den Kassenschlüssel haben? Das muss man sich einmal vorstellen! Das ist unvorstellbar!“ Franz Josef fragt nochmals, ob es „Könige des Praters“ gibt, wie es in alten Zeiten das jeweilige Oberhaupt der großen Schaustellerfamilien gewesen ist, zum Beispiel Alexander Schaaf. Milan meint: „Es gibt keinen König mehr. Das ist vorbei, wir haben andere Probleme. Wir haben keine Hierarchien im klassischen Sinn. Finanziell der Größte ist sicher der Koidl. Mit dem Heinrich Koidl hat mich eine große Freundschaft verbunden. Er hat mir viele Jahre seine damaligen Betriebe vermietet, Blumenrad, Break Dance, Turbo Boost etc. Die Vereinbarungen wurden damals zwischen uns nur durch Handschlag besiegelt und es gab auch nie von seiner oder meiner Seite ein Problem. Er war noch ein Vertreter der Handschlagqualität. Die größten Betriebe im Prater gehören heute einem Tiroler, er ist ein Selfmademan ohnegleichen. Walter Pondorfer, er kommt aus Dölsach in Osttirol, das ist der Ort mit der höchsten Postleitzahl von Österreich. Eigentlich ist er ein gelernter Dachdecker, der Kirchtürme reparierte und Dächer deckte, dabei musste er immer hoch hinaufklettern. Dadurch hat er eine Affinität zu solch waghalsigen Unternehmungen bekommen. Angefangen hat er mit der Attraktion Bungee-Jumping. Er hat selbst die Geräte dazu gebaut und ein paar verkauft. Dann hat er die Kugel zum Hinaufschießen mit Gummiband konstruiert. Nach zwei Jahren hat er sich gesagt, das baue ich um, statt des Gummibandes mache ich das Gerät mit Federn und Seilwinden. Von den Italienern hatte er die Idee zu einer weiteren Attraktion, zum Turbo Boost. Das ist eine irrsinnig lange Stange, 40 Meter lang, die dreht sich in einem Höllentem396

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po im Kreis. Wie er das bei den Italienern gesehen hat, hat er es sofort nachgebaut. Aus dem Stegreif – in seiner kleinen Fabrik. Diese Geräte werden vom TÜV genau überprüft. Alleine, dass er sich über solche Sachen drübertraut, ist zu bewundern.“ Wie er zu den Plätzen für diese Geräte gekommen, will Franz Josef wissen. Milan sagt: „Er hat die schlechtesten Plätze ganz hinten, die keiner wollte. Er war Subpächter, den ersten Betrieb hatte er beim Popp im Prater, dort hatte er das Bungee-Jumping und die Kugel aufgestellt. Die anderen waren froh, dass ein Neuer gekommen ist, der interessante Geschäfte hat und dabei gut verdient. Ich bewundere den Mann.“ Während Milan dies erzählt, beginnt im Hintergrund, wir sind im Café Landtmann, der Klavierspieler zu spielen, es ist schon gegen 20 Uhr. Wir scherzen, dass in den Wildwestfilmen die Klavierspieler meist erschossen werden. Milan meint, dies müsse einen Grund haben. Er bezieht sich nun wieder auf den von ihm bewunderten Osttiroler Maschinenbauer: „Hut ab vor diesem Mann aus Tirol, dem Walter Pondorfer! Er hat auch gute Techniker und Statiker angestellt, die ihn unterstützen, aber die Ideen sind von ihm. Dadurch, dass er viel verdient, hat er sich eine Firma aufgebaut, die auch große Anlagen herstellen kann. Der Mann hat eine gute Infrastruktur, das hat natürlich viel Geld gekostet. Im Prater hat er den Vorteil, er baut die Anlagen und verkauft sie auch. Er hat dadurch eine permanente Ausstellung, hier kann man alles besichtigen. Er muss nicht mit seinen Sachen von einer Messe zur anderen fahren und ist nicht gezwungen, seine Geräte für vier Tage auf- und abzubauen und dann wegzuführen. Hier im Prater zahlt er zwar auch Platzmiete, verdient aber noch Geld dabei, denn seine Anlagen sind beliebt, und er kann den Interessenten vorführen, wie alles funktioniert. Jetzt hat er schon vier oder fünf Anlagen hier stehen, lauter eigenartige Geräte. Das eine ist eine Schaukel mit einem zackigen Blitz, der sich dreht und auf dem eine Schaukel hängt. Ich habe ihn gefragt, wie er auf diese Idee gekommen ist. Er meint, daheim habe er ein Schnürl mit einem gebogenen Draht verbunden, das habe er gedreht, und gesehen, dass es funktioniert. 397

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Dann habe er dasselbe nur 50 Meter hoch gebaut. Er klettert auch selbst überall hinauf und arbeitet da oben. Wie er den Praterturm gebaut hat, habe ich zu ihm gesagt: ‚Walter, du heißt bei mir nur mehr Eiffel. Wenn ich mir euren Turm anschaue, erinnert er mich an den Eiffelturm, er schaut genauso aus.‘ Der Praterturm ist bis zur Spitze 117 Meter hoch. Es ist ein ganz gewöhnliches Kettenkarussell, das aber über 100 Meter in die Höhe geht. Die Fahrgäste sind mit einem Gurt gut gesichert, sie können nicht hinausfallen.“ Tatsächlich sind die Anlagen im Prater sicher, es kann kaum etwas passieren, außer ein Besucher macht einen Blödsinn. Ich erzähle von einem Unfall im Prater, über den ich in der Zeitung gelesen habe. Zu dem Unfall kam es, weil ein Mann bei einem sich drehenden Karussell ein Handy aufheben wollte, dabei kam er in die Nähe des Gerätes und wurde tödlich verletzt. Ich erkundige mich nach Konkurrenz unter den Schaustellern. Milan erzählt dazu: „Der Neid ist relativ groß, wie überall auf der Welt. Wir picken mit unseren Geschäften sehr zusammen. Wenn viele Besucher im Prater sind, verdienen alle etwas. Wenn keiner da ist, verdienen wir nichts. Wenn es darauf ankommt, halten alle sowieso zusammen.“ Meine nächste Frage gilt der Grottenbahn. Milan schildert: „Ich bin eigentlich sehr zufrieden. Sie ist schon lange amortisiert. Die Investitionen halten sich in Grenzen. Die Eltern fahren mit ihren Kindern. Wenn Jugendliche vorbeigehen, hört man sie sagen: ‚Jö, da bin ich auch einmal gefahren.‘ Wenn so ein Mädchen dann das erste Kind bekommt, wird sie mit dem auch wieder mit der Grottenbahn fahren, und dieses Kind kommt auch wieder. Das ist, wie Konrad Lorenz meint: ‚Sie sind alle geprägt.‘ Das ist wunderschön so! Die Grottenbahn muss nicht nur den Kindern gefallen, sondern sie gefällt auch den Erwachsenen. Meine Grottenbahn gibt es seit 1951. Vor dem Krieg gab es gewaltige Grottenbahnen, sie sind mit den heutigen nicht zu vergleichen.“ Franz Josef ergänzt: „Die berühmteste Grottenbahn hat Frau Stefanie Holzdorfer gehabt.“ Milan geht darauf ein: „Diese Grottenbahn hat ja nicht sie gebaut, sondern der Hans Pretscher. Sie 398

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Abb. 15: Milan Brantusa – der Retter der Grottenbahn.

hieß Lindwurm-Grottenbahn, meine heißt ‚Altwiener Grottenbahn‘. Damals nach dem Krieg hatten drei Unternehmer drei Grottenbahnen im Prater gebaut. Der Pretscher, der Buchner und noch einer. Auch Geisterbahnen haben sie gebaut. Jeder hat dem anderen dabei geholfen.“ Ich zeige das Buch von Felix Salten, das ich mithabe und in dem Bilder über das Leben im Prater mit Geisterbahnen, Buden und Wirtshäusern zu sehen sind. Franz Josef hält fest: „Es heißt bei einer Geisterbahn, dass sie die älteste und längste Geisterbahn Europas ist. Der Besitzer dieser Bahn, Hermann Molzer, ist auch erfolgreicher Regisseur am Theater. Die Bahn wurde von seinem Vater erbaut, der sich auch als Maler einen guten Namen gemacht hat. Er hat die Fassaden vieler Schaustellerbetriebe gestaltet und bemalt. Die wunderbaren Grotten- und Geisterbahnen im Prater waren vor dem Krieg riesige, imposante Prachtbauten. Sie haben traumhaft ausgesehen und die Besucher begeistert.“ 399

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Abenteuerliche Betriebe im Prater – mit Helmut Qualtinger unterwegs Franz Josef erwähnt: „In meiner Doktorarbeit zitiere ich zuerst das Lied: Schön ist so ein Ringelspiel! Das is a Hetz und kost net viel. Damit auch der kleine Mann sich eine Freude leisten kann. Milan meint zu diesem alten Wiener Lied, dies würde alles nicht mehr stimmen, denn heute haben die Leute Geld, aber Ringelspiel fahren sie auch kaum mehr. Ihm fällt etwas ein und er schweift ab, und zwar zum Kabarettisten Helmut Qualtinger, dem er sich kongenial verbunden fühlt: „Am Graben hatte ich ein lustiges Erlebnis. Ich habe zufällig den Qualtinger getroffen. Sein Sohn ist am Judenplatz in einem Lokal als Musiker aufgetreten. Deswegen war ich dort. Auf einmal taucht sein Vater auf. Jetzt hat mich der Bua nicht mehr interessiert, ich habe mich nicht mehr vom Helmut Qualtinger gelöst. Ich bin mit ihm quer durch Wien und wir haben einiges getrunken. Um eins oder zwei in der Früh waren wir am Graben. Bei der Pestsäule sind tiefer gelegene Toiletten, die waren aber zu. Wir beide mussten aber dringend pinkeln. Daher haben wir gemeinsam durch das Gitter hinuntergepinkelt. Da geht einer vorbei und schaut uns böse an. Darauf schaut ihn der Qualtinger an und schreit laut: ‚A Kinderverzahrer!‘ Der Betreffende ist gelaufen. Typisch Qualtinger.“ Franz Josef kommt wieder zurück auf den wunderbaren Prater: „Ich habe heute ein interessantes Gespräch mit Herrn Peter Petritsch geführt, dem Miteigentümer des Riesenrades. Das Restaurant Eisvogel vor dem Riesenrad besitzt er jetzt auch. Er ist meiner Meinung nach ein interessanter und sehr sympathischer Mann, der mit dem Riesenrad seit vielen Jahren ein besonderes Wahrzeichen von Wien pflegt.“ Ich stimme Franz Josef zu, zumal ich vor vielen Jahren eine liebe Studentin hatte, die mir erzählte, ihre Eltern wären Mitbesitzer des Riesenrades. Ich beneidete sie darum. 400

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Ob sie Petritsch geheißen hat, kann ich mich nicht mehr erinnern, möglich ist es. Genaueres weiß Franz Josef zu den Familienverhältnissen der jetzigen Riesenradbesitzer: „Der Wiener Rechtsanwalt Dr. Karl Lamac hat im Jahr 1961 alle Anteile des Wiener Riesenrades von den Erben des ehemaligen Eigentümers, Eduard Steiner, gekauft. Seit dieser Zeit befindet sich dieses wunderbare Wahrzeichen Wiens in Familienbesitz. Nach seinem Tod im Jahr 1972 erbten seine beiden Kinder, Dr. Karl Lamac junior und Dr. Elisabeth Petritsch, die Mutter von Peter Petritsch, beide ebenfalls Rechtsanwälte, das Riesenrad. Derzeit sorgen Geschäftsführer Peter Petritsch und seine Cousine, Dr. Dorothea Lamac, im Sinne alter Familientradition mit großem Erfolg dafür, dass die vielen Besucher des Riesenrades in den einzigartigen, denkmalgeschützten Holzwaggons einen traumhaften Ausblick über den Prater und Wien genießen können.“

Milan, der Medienspezialist – das Problem des Platzes vor dem Riesenrad Franz Josef hält fest: „ Milan, du bist der Medienmensch im Prater. Wenn es dich nicht geben würde, wüssten die Leute nicht so viel über die Familie Schaaf. Du machst sie präsent. Dich kennt jeder.“ Milan verweist auf die oben schon genannten Hinweise im Internet über ihn und den Prater, er meint dazu: „Was im Internet über mich steht, kann man natürlich veröffentlichen. Und die Familie Schaaf hatte schon sehr viele Leute in ihrer Geschichte, die sie sehr populär gemacht haben. Durch das Internet ist hier wieder ein neuer Schwung in die mediale Präsenz der Personen und Ereignisse gekommen. Ich bin im Pratervorstand, das weiß jeder.“ Ich bringe nun die Sprache auf den neuen Vorplatz des Praters, der von manchem mit gutem Grund als kitschig und wenig gefällig gesehen wird. Milan gibt seine Meinung dazu kund: „Der alte Platz war renovierungsbedürftig, aber dass man gleich so etwas, wie jetzt zu sehen ist, vor das Riesenrad hinbaut, ist nicht gut! Ein Architekt 401

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hat dazu gesagt: ‚Venedig in Wien – so etwas gab es einmal im Prater – war schon super. Wien in Venedig wäre klass, aber Wien in Wien ist eine matte Sache.‘“ Milan lacht und Franz Josef meint: „Der Eigentümer des Riesenrades wird sich freuen, dass es diesen neuen Platz gibt, da doch einige neue Geschäfte eröffnet wurden, wie das Restaurant ‚Eisvogel‘. Der alte Platz war ja auch nicht gerade ein attraktiver Eingangsbereich.“ Milan zweifelt an, dass dies ernst gemeint ist: „Das glaube ich nicht. Erstens hat das sehr viel Geld gekostet. Zweitens haben sie ihm dadurch das Riesenrad verbaut. Der Platz kann dem Besitzer nicht gefallen, er wird das aber nicht zugeben. Normal müsste er mit dem Bagger kommen und das Glumpert wegreißen, damit man das Riesenrad wieder besser sieht. Er macht das nicht, weil er ein höflicher Mensch ist. Ich wäre das nicht. Ich wäre den Planern mit dem Baseballschläger nachgelaufen.“ Ich meine, der Platz würde mich an eine Kulisse, an eine Theaterlandschaft erinnern. Viele haben wohl dabei mitgespielt, weil sie sich etwas erwartet haben. Wir kommen langsam zum Ende unseres Gesprächs. Kellner Rudi kommt, ich bitte ihn, zum Spiel des Mannes am Klavier etwas zu singen. Herr Rudi lacht und meint, es sind ohnehin so wenig Leute hier im Kaffeehaus, die würde er, wenn er singt, vertreiben. Ich frage Milan, ob er mit seiner Frau Zeit habe, auf Urlaub in andere Länder zu fahren. Er erzählt dazu Heiteres: „Erst die letzten Jahre konnten wir ein wenig wegfahren. Jetzt bin ich auch schon 63. Wir waren aber schon in Südamerika – traumhaft war es dort. Solche Reisen sind für uns teuer, denn ich fahre nicht nach Brasilien, um bloß am Strand zu liegen. Wir waren in Manaus, in einer Stadt am Amazonas. Dort gibt es ein wunderschönes Opernhaus, wo wir eine Führung mitmachten. Die Führerin erzählte uns, dass bei einer Aufführung die Leute auf der Bühne sitzen würden. Ich habe gefragt, warum sie nicht unten auf ihren Sesseln sitzen. Da meinte sie, dass man die Leute aus der Gegend hier doch nicht auf diesen teuren Sesseln sitzen lassen könnte.“ Das war für uns sehr sonderbar. 402

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Ich bezeichne Milan als Lebenskünstler. Diese Feststellung dürfte ihm gefallen, er sagt: „Es hat keinen Sinn, mit Gewalt gegen etwas anzurennen. Einen Schmäh braucht man, man muss auf die Leute zugehen können. Man muss dabei ehrlich sein. Ich lasse mir aber auch nichts gefallen.“

Die Grottenbahn wird zu Milans Lebensglück Abschließend kommen wir noch einmal auf die Grottenbahn zu sprechen. Mit dieser hat Milan sein Lebensglück gefunden. Er schlug sogar ein Angebot von Johann Graf aus, der ein Glücksspielunternehmen großen Stils mit dem Namen Novomatic aufgebaut hat und unglaublich viel dabei verdient. Im Prater hatte er das größte Wett-Casino Europas mit ungefähr 250 Spielautomaten aufgemacht, vom Video-Slot über Poker-Automaten bis zu BingoMaschinen. Spielbegeisterte können dort zwischen Marmorpalmen und vergoldeten Spiegelwänden ihr Glück versuchen. Dieser Herr Graf, der es sogar zu einem Professorentitel gebracht hat, wollte vor über 20 Jahren, als Milan noch mit Automaten zu tun hatte, mit ihm eine leer stehende Halle mieten, um in dieser 100 Automaten aufzustellen. Doch Milan war die ganze Sache zu unsicher. Er sagt zu Johann Graf: „Hansi, bist du verrückt, das kostet viel zu viel. Vor allem die Vergnügungssteuer ist zu hoch dafür. Stell dir vor, wenn wir das nicht einnehmen, können wir uns die Kugel geben.“ Milan wollte sich in keine spekulativen Geschäfte einlassen. Mit der Heirat erwarb er auch die Grottenbahn, die schien ihm bei weitem sympathischer als die diversen Spielautomatenhallen. Mit der Grottenbahn hat er etwas Handfestes übernommen und es wunderschön ausbauen lassen. Der Belastung mit den Automaten ist er ausgewichen. Dennoch entstand eine Freundschaft mit dem Automatenkönig Johann Graf, wie Milan erzählt: „Graf und ich waren sehr befreundet. Sehr oft sind wir mit unseren Frauen in das Theater gegangen. Meine Frau hat immer die Karten besorgt. Er hätte keine Zeit dazu gehabt.“ 403

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Herr Rudi, der Kellner, kommt mit der Rechnung. Ich zahle für meine Gäste. Rudi bedankt sich und wünscht uns einen schönen Abend. Ich meine noch zu Milan, wie wichtig für einen Mann eine gute Frau sei. Ohne eine gute Frau habe man wenig Chancen. Franz Josef meint, ohne seine Frau wäre er ein Sozialfall. Mir geht es genauso. Milan betont die Wichtigkeit einer guten Frau: „Mit meiner Frau verstehe ich mich gut. Wir versuchen, das Beste in der kurzen Zeit, in der wir da sind, zu machen. Wir sollten das Vernünftigste machen. Ohne Glück geht aber nichts. Man muss aber, um Glück zu haben, zu vielen Sachen nein sagen können. Auch wenn sie gut ausschauen. Es war für mich kein Fehler, dass ich mit dem Graf nichts gemacht habe. Es wäre vielleicht schön, wenn ich in dem Novomatic-Konzern einen hohen Posten hätte, aber vielleicht wäre ich auch fertig mit den Nerven. Ich hatte eine gewisse Vorstellung von dem, was ich werden wollte, und von den Herausforderungen, die ich bewältigen könnte. Ich hatte auch die Vorstellung, wie die Grottenbahn aussehen soll. Ich brauchte also einen guten Künstler, der sie gestaltet, und ich hatte das Glück, einen solchen zu finden. Deswegen fuhr ich einmal auf die Schallaburg, dort habe ich einige Künstler kennengelernt. Es hat mir gefallen, was sie gemacht haben. Nachher habe ich mit diesen Künstlern Gespräche geführt. Aber sie waren so abgehoben, dass es für mich sinnlos war, mit ihnen etwas für die Grottenbahn zu machen. Ein anderes Mal habe ich auf einer Messe das Modell vom Heck eines Autos gesehen. Das hat mir gefallen und ich habe gefragt, wer das gemacht hätte, denn diesen Künstler brauche ich. Ich wurde mit ihm zusammengebracht, Robert Tar heißt er, und habe ihm erklärt, dass ich für die Grottenbahn eine schöne Fassade brauche. Ich habe ihm meine Vorstellungen erzählt und er hat sie wunderbar in die Realität umgesetzt. Ich sagte: ‚Robert, wenn das so wird, wie wir uns das vorstellen, hast du im Prater eine permanente Reklame.‘ So kam es auch, dass er noch viele andere Aufträge dadurch erhalten hat. Zum Beispiel stammen in St. Margarethen die Figuren in dem Märchenpark fast alle von ihm. Es gibt auch im Prater schon sehr 404

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viele Arbeiten von meinem Freund. Er arbeitet nun auch für das Theater.“ Milan ist ein gebildeter Herr, der sich in vielerlei Weise weiterbildet. So liest er regelmäßig unter anderem die Zeitschriften „Bild der Wissenschaft“ und „Psychologie Heute“, wie er betont. Milan hat einen weiten Horizont und ist gewitzt genug, auf die Geschicke des Praters einzuwirken. Er ist glücklich mit seiner Frau und der Grottenbahn, die ich demnächst wieder einmal besuchen werde. Ich verabschiede mich von Milan. Es war mir eine Freude, mit diesem originellen Herrn vom Wiener Prater gesprochen zu haben. Originalität und Spürsinn sind es auch, die den Prater immer wieder neu – oder ewig jung – erscheinen lassen. Auch verabschiede ich mich von meinem Freund Franz Josef, der mit seinen Zwischenfragen und Erzählungen zum Thema Prater und Grottenbahn Wichtiges beigetragen hat. Ich werde auf das Wohlsein beider in den nächsten Tagen ein Glas Bier im Schweizerhaus trinken.

Eine kleine Theorie der Fahrgeschäfte und Schausteller Milans Grottenbahn gehört zu den sogenannten Fahrgeschäften, genauso wie Geisterbahnen, Karussells, Achterbahnen, Rutschbahnen und Riesenräder. Die Betreiber all dieser Fahrgeschäfte sind in einem weiten Sinne Schausteller, die wie Artisten, Seiltänzer, Messerwerfer, Volkssänger und Leierkastenleute die Besucher von Jahrmärkten und Vergnügungsparks gegen gutes Geld zu erfreuen suchen. Über Schausteller wurde schon im Altertum berichtet. Während des Mittelalters gab es kaum sesshafte Schausteller, sie zogen herum und wurden zum „Fahrenden Volk“, das dauernd zu Jahrmärkten unterwegs war und dort auftrat. Mit den Schaustellerberufen sind meist großes Wissen und tradierte Tricks verbunden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schaustellerfamilien untereinander heiraten und miteinander verwandt sind. Vor allem die Inhaber von Fahrgeschäften sind daran 405

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interessiert, dass ihre Betriebe innerhalb der Familie weitergegeben werden. Dabei hat sich ein gewisser Stolz auf die eigene Familie, wie bei der Familie Schaaf oder bei der Familie Lang, entwickelt. Es ist nicht leicht für einen Außenstehenden, zu einem Fahrgeschäft im Prater zu gelangen. Grundsätzlich geht dies nur, wenn man in eine entsprechende Familie einheiratet, wie dies bei Milan geschehen ist, dessen Heirat allerdings eine Liebesheirat war. Die Zusammenarbeit der beiden hat dazu geführt, dass die von ihnen betriebene Grottenbahn künstlerisch auffällig ist und auch die Menschen anzieht. Das an Sonn- und Feiertagen durch den Prater strömende Volk ist fasziniert von den Fahrgeschäften, die, wie ich angedeutet habe, höchst abenteuerlich sein können. Die Grottenbahn allerdings leitet ihre Beliebtheit vom Zauber der Märchen ab, der nicht nur Kinder begeistert. Dies weiß Milan Brantusa.  

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16. Schweizerhaus-Wirt Karl Jan Kolarik – Gastfreundschaft Vorgeschichte – die Romantik des Schweizerhauses Mit meiner lieben Frau wanderte ich in jungen Jahren gerne während des Sommers in den Prater, um dort in einer Halle zu „flippern“. Heute gibt es diese alten mechanischen Flipperautomaten nicht mehr, sie sind neuen elektrischen Geräten gewichen. Mitte der 1960er-Jahre pflegten wir uns nach dem „Flippern“ in den Gastgarten des Schweizerhauses zu setzen und gutes Budweiser Bier gemeinsam mit einem Radi (Rettich) zu uns zu nehmen. Seitdem hat das Schweizerhaus meine Sympathie. Noch eine Beziehung habe ich von früher zum Schweizerhaus. Ich hielt einmal im Salzburgischen einen Vortrag über historische Trinksitten und ihren Wandel. Unter den Zuhörern befand sich Herr Diplomkaufmann Karl Jan Kolarik vom Schweizerhaus. Nach dem Vortrag kam er zu mir, sprach anerkennende Worte über diesen und überreichte mir seine Visitenkarte, auf der das Schweizerhaus vermerkt ist. Auf der Rückseite steht mit Hand geschrieben: „Gutschein (Gutschrift) für 6 Krügel Bier. Diese Krügel sind im Schweizerhaus einzulösen.“ Ich halte diese Visitenkarte in Ehren, sie steckt in meiner Brieftasche. Bis jetzt habe ich diesen Gutschein nicht eingelöst. Ich empfinde seit damals Sympathie für Herrn Karl Jan Kolarik. Der Name „Schweizerhaus“ leitet sich von der „Schweizer Hütte“ ab, die es an dieser Stelle schon vor 1766 gab. Sie hatte ihren Namen von den Schweizer Jagdtreibern, die hier ihre kaiserlichen Herrschaften bewirteten. 1920 übernahm der legendäre Karl Kolarik das „Schweizerhaus.“ 1926 reiste er nach Böhmen, wo er Gefallen am Budweiser Bier fand. Er kaufte einen ganzen Wagen davon und brachte es nach Wien. Der alte Kolarik unterhielt sich immer mit seinen Gästen. Man merkte, er mochte sie. Seine Tochter, Frau Lydia Kolarik, lernte ich vor einigen Jahren kennen, sie besuchte 407

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sogar meine Vorlesungen an der Universität. Sie erzählt mir von ihrem 1993 verstorbenen Vater, der es verstanden hat, die Gäste mit Bier, Stelzen und Kartoffelpuffern zu erfreuen. Ihre Mutter, eine nette alte Dame, saß damals in der Küche und überblickte von da aus das Geschehen. Auch sie ist inzwischen verstorben. Durch Frau Lydia lernte ich einen der Kellner des Schweizerhauses kennen, und zwar den Herrn Gerhard. Für mein Kellnerbuch „Herrschaften wünschen zahlen“ erzählte er mir einiges aus seinem Leben und über die Gäste des Schweizerhauses. Herr Gerhard ist in den Beruf des Kellners hineingewachsen. Mit viel Gespür hat er gelernt, mit Gästen umzugehen, ohne eine spezielle Kellnerausbildung zu haben. Er gehört für mich daher zu den „klassischen“ Kellnern, die gut mit den Gästen umzugehen wissen. Allerdings ist er in einem Wirtshaus im Mürztal in der Steiermark aufgewachsen. Diese Beziehung zum Wirtshaus – Gerhard ist gelernter Installateur – genügte offensichtlich, dass man ihn im Schweizerhaus einstellte. Frau Lydia und ihr Bruder, die jetzigen Inhaber des Schweizerhauses, sind höchst zufrieden mit Herrn Gerhard, der sich zu einem tollen Kellner entwickelte. Er ist beliebt bei den Gästen, er hat in vielen Jahren Praxis gelernt, mit Menschen umzugehen.

Der Tormann Walter Zeman im Schweizerhaus – die Stammgäste Besondere Beliebtheit erfreut sich das Schweizerhaus bei Besuchern des nahen Fußballstadions, wie Herr Gerhard meint. Mir erzählte ein früherer Nationalspieler, er spielte in den 1950er-Jahren für Österreich, dass er mit dem berühmten Tormann Walter Zeman, wenn sie zum Training ins Stadion gingen, vorher meist noch im Schweizerhaus eingekehrt ist und ein Bier getrunken hat. Aber nicht nur die Fußballspieler, sondern vor allem die Besucher eines Matches fühlten und fühlen sich vom Schweizerhaus angezogen. Herr Gerhard erzählt, dass bereits vor den Matches Fußballanhänger noch schnell ein Bier im Schweizerhaus trinken. Er 408

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fügt hinzu: „Ich habe einige Stammgäste, die sind Fußballfans. Ich wette mit ihnen oft, wer gewinnt, wenn Austria gegen Rapid spielt. Ich tippe auf einen Sieg von Austria. Wir wetten höchstens um ein oder zwei Bier. Das macht Spaß, es soll ja eine Hetz sein. … Mit einem Stammgast habe ich aber einmal um zehn Bier gewettet, dass Austria Meister wird. Das kommt selten vor, aber damals ist Austria Meister geworden. Jeden Tag war dieser Mann bei uns, aber als er die Wette verloren hatte, ist er lange Zeit nicht mehr gekommen. Seine Freunde haben ihn dann wieder mit ins Schweizerhaus genommen.“ Herr Gerhard ist ein guter Psychologe, der sehr geschickt mit seinen Gästen umgeht. So erzählt er mir: „Ich habe viele alte Leute als Stammgäste, eben weil ich schon so lange hier bin. Die erzählen mir viel, da erlebt man oft die ganze Familiengeschichte. Zu mir kommt schon die zweite oder dritte Generation, zuerst waren es die Eltern mit den Kindern, jetzt kommen schon die Kinder. Eine Frau an die 80, deren Mann gestorben ist, war beim Arzt. Sie hat zu ihm gesagt, sie nimmt keine Medikamente, geht aber fünfmal in der Woche in das Schweizerhaus. Sie kommt von Meidling, geht die Hauptallee bis zum Lusthaus und zurück. Dann trinkt sie bei uns ein Bier, zwei Achtel roten Wein und dann einen Nussschnaps. Der Arzt hat zu ihr gesagt, sie solle nur so weitermachen.“ Das Schweizerhaus ist eine der großen Attraktionen im Prater in den warmen Monaten von März bis Oktober, während des Winters ist geschlossen. Es bietet den zahlreichen Gästen eine angenehme Atmosphäre, die zur Gesundung beitragen mag, wie Herr Gerhard meint. Diese Einzigartigkeit war auch der Grund, warum ich Herrn Kolarik bat, mir aus seinem Leben, das eng mit dem Schweizerhaus verbunden ist, zu erzählen.

Zugang Es ist ein Abend im Juli, an dem ich meinen Freund DDr. Franz Josef Mayr vor dem Schweizerhaus treffe. Es regnet leicht. Der 409

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Gastgarten ist voll, im hinteren Bereich des überdachten Teils sind weniger Leute, hier setzen wir uns. Nach einer Zeit kommt Herr Karl Jan Kolarik. Wir begrüßen einander freundlich. Er lädt uns beide auf ein Bier ein. Ich rede mit ihm über mein Buch „Eigenwillige Leute“. Ihm gefällt die Idee. Gerne möchte er zu dem Buch etwas beitragen. Ich freue mich, dass wir per Du werden.

Die Mutter aus Ostfriesland Ich erhebe mein Glas auf das Wohlsein von Karl Jan Kolarik, der nun zu erzählen beginnt: „Geboren bin ich im Oktober 1945 in Ostfriesland. Mein Vater war Obergefreiter bei der Deutschen Marine. Als fast 40-Jähriger war er mit anderen Wiener Rekruten im Dianabad zur Assentierung (R. G.: Musterung) vorgeladen. Auf einmal kam das Kommando: ‚Wer schwimmen kann, vortreten!‘ Mein Vater hat sich mit anderen Zivilisten gemeldet. Alle Wiener fanden sich bald bei der Marine an der Nordsee wieder. Sein Glück war, dass er einen LKW-Führerschein hatte, daher wurde er Kraftfahrer. Dabei hat er meine Mutter in Ostfriesland kennengelernt. So bin ich ein halber Ostfriese und ein halber Böhm. Ich habe böhmische Wurzeln, wie ich noch erzählen werde. Als ich zur Welt gekommen bin, war mein Vater als Kriegsgefangener in einem Uranbergwerk in Nordböhmen bei Joachimsthal. Er hat das Glück gehabt, relativ schnell aus diesem Bergwerk in ein Büro zu kommen. Man hat jemanden gesucht, der sich mit einer Buchhaltungsmaschine auskennt. Mein Vater meldete sich und probierte so lange an der Maschine herum, bis er sich endlich ausgekannt hat. 1947 ist er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden und nach Wien zurückgekommen. Hier war alles zerstört, das Schweizerhaus war abgebrannt.“ Seine Generation hat viel mitgemacht, was uns später Geborenen erspart geblieben ist.

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Die böhmischen Großeltern – der Erste Weltkrieg – das vakante Schweizerhaus Karl Jan Kolarik – Karl ist der Name des Vaters und Jan war ein elterlicher Kompromiss, der sowohl an die Nordsee als auch an Böhmen erinnert – erzählt nun über seine slawischen Wurzeln: „Die Großeltern sind 1890 aus Böhmen nach Wien gekommen und haben sich hier kennengelernt, und zwar im Wiener Prater. 1901 ist mein Vater in Wien als zweites Kind geboren worden. Mein Großvater war Fleischer und Selcher. Er hat Schweine aus Ungarn gekauft, sie zu Schinken und Speck verarbeitet und diesen bis nach Böhmen verkauft. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg herrschte im sehr klein gewordenen Österreich und besonders in Wien große Armut, der Markt für Fleisch wurde eng. Mein Vater hat mir die damaligen Umstände so geschildert: ‚1920 war kein Geld da, der Weltkrieg war verloren. Viele Altösterreicher aus Galizien sind nach Wien geflüchtet und in Wohnungen eingeteilt worden. Sie haben die Fußböden herausgerissen und verheizt. Niemand hat sich zu der Zeit einen Wirtshausbesuch leisten können.‘ Doch, wie so oft in Krisenzeiten, ergab sich plötzlich eine Chance. Das Lieblingslokal meines Großvaters, das Schweizerhaus, wurde nach dem Tod Jan Gabriels, eines berühmten Bierwirtes, zum Verkauf angeboten. In dieser schwierigen Zeit hat sich keiner gefunden, der es übernehmen wollte. Damals hat die Saison im Mai begonnen und Anfang September schon wieder aufgehört. Mein Vater hatte zuerst die Fleischhauerei gelernt und gleichzeitig die Handelsschule gemacht. Danach hat er gerade die letzte Klasse der Handelsakademie besucht. Mein Großvater hat zu ihm gesagt: ‚Das Schweizerhaus ist zu haben, traust dich drüber?‘ Und mein Vater als 19-Jähringer hat gesagt: ‚Warum nicht?‘ Dazu musste er damals vorher noch für großjährig erklärt werden. Mit dem Pachtvertrag – der Grund gehört auch heute noch der Stadt Wien –, großen Hoffnungen und sehr verschuldet ging es dann als Selbstständiger weiter. Der Großvater hat ihm als Fleischer die Würstel geliefert.“ 411

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Herr Kolarik zeigt uns Bilder vom alten Schweizerhaus und erzählt dazu: „Damals gab es Konzertpreise und die normalen Preise. Wenn es Musik gab, hat man etwas mehr genommen. Von dem zusätzlichen Geld ist die Musik gezahlt worden. Im Schweizerhaus spielten berühmte Musiker, zum Beispiel der sehr beliebte Kapellmeister Karel Vacek. Später kam auch Jaromír Vejvoda, der Komponist des bekannten Liedes ‚Rosamunde, schenk‘ mir dein Herz und dein Ja. Rosamunde, frag‘ doch nicht erst die Mama‘.“ Karl zeigt mir ein Bild vom Schweizerhaus mit einigen Herren und erklärt: „Hier im Mittelpunkt sitzt der Vater, links ist sein Vater bei uns im Garten. In den Zwischenkriegsjahren ist der Vater immer finanziell geschwommen. Viele Wirtshäuser haben damals zugesperrt. 1939 ist der Vater zur Marine eingezogen worden. Aus dem Schweizerhaus wurde während des Krieges ein Rekonvaleszentenheim für Offiziere. Beinahe bis 1950 war der Betrieb zu.“

1945: Hauptkampflinie durch das Schweizerhaus – Fahrt nach Wien Über das Kriegsende erzählt Karl: „Im April 1945 ist durch den Wiener Prater die Hauptkampflinie gegangen. Das Schweizerhaus wurde von der Prater Hauptallee aus beschossen und ist, wie fast alles im Prater auch, in Flammen aufgegangen. Auch das Riesenrad hat gebrannt. Jetzt hat es nur mehr die Hälfte der alten Waggons. Es hat einen einzigen Betrieb gegeben, der überlebt hat, die Meierei an der Hauptallee. Auf dem alten Gebäude ist eine Weltkugel mit einem Adler abgebildet. Es war der amerikanische Pavillon bei der Wiener Weltausstellung. Jedenfalls das Schweizerhaus war niedergebrannt. Mein Vater hat das alles erst 1947 nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft voll mitbekommen. Meinen Vater hab ich das erste Mal als Vierjähriger gesehen. Ich war ja in Ostfriesland mit meiner Mutter alleine. Erst 1949 sind wir nach Wien gekommen. Meine Erinnerung an die Umsiedlung ist, dass alles so neu und anders war. Zuerst sind wir mit einem großen Lastwagen gefahren. Dann haben wir aus einem Zug hi412

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nausgeschaut, und ich habe meine ersten Berge gesehen. Meine Mutter hat mich auf das vorbereitet, was auf mich zukommt. ‚Jetzt siehst du deinen Papa‘, hat sie gesagt. Alle anderen haben einen Papa gehabt, nur ich hatte bis dahin keinen. Das war für mich als Vierjährigen etwas Aufregendes. In Salzburg ist mein Vater dazugekommen. Meine Mutter meinte, dass ich ihm freudig und sehr offen entgegengetreten bin, daran erinnere ich mich aber nicht mehr. Wir hatten dann irgendein Problem mit den Russen, um über die russische Grenze bei Enns zu kommen. Wahrscheinlich habe ich keine richtigen Papiere gehabt. Jedenfalls haben wir uns durchgeschwindelt und sind irgendwie doch nach Wien gekommen. Damals habe ich Plattdeutsch gesprochen, wie man es bei den Ostfriesen spricht, und etwas Hochdeutsch. Es war für mich schwierig, den Kindern zu folgen. Für mich war das Wienerische so etwas wie eine Fremdsprache.“

Zwei Fremdsprachen: Wienerisch und Tschechisch – in der tschechischen Schule Ich werfe ein, dass ich während des Krieges als Kind mit meiner Mutter und meinem Bruder in der Lüneburger Heide gewesen bin. Mein Vater lag damals schwer verwundet dort in einem Lazarett. Nach zwei Jahren, um 1946, fuhren wir wieder zurück nach Österreich und irgendwann waren wir in Wien. Von den Wienern wurden wir Buben wegen unserer Sprache, wir hatten inzwischen Plattdeutsch gelernt, als Piefke bezeichnet. Karl meint dazu: „Ähnlich ist es mir 1949 ergangen. Als ich nach Wien kam, war es für mich am Anfang nicht leicht. Für die Leute war ich ein Piefke und ich wurde auch verspottet, weil ich nicht Wienerisch konnte, das ist klar. Wenn man nichts versteht, hat man es gerade unter Kindern schwer. Die Sprache ist ein wichtiges soziales Mittel, das wichtigste Bindeglied. Wenn man sie in der Gruppe nicht kann, in der sie gesprochen wird, gehört man nicht dazu. Der Vater hat mich bald in den tschechischen Kindergarten gegeben – gegen den 413

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Willen meiner Mutter. Dieser Kindergarten war in der Vorgartenstraße im 20. Bezirk. Dort war auch die tschechische Volksschule, in die ich dann ging. In meiner Klasse waren zwölf Kinder, sechs Madeln und sechs Buben. Im 10., im 3. und im 16. Bezirk hat es auch je eine tschechische Schule gegeben. Mein Vater hat sich eingebildet, dass ich Tschechisch lerne. Er hat dies für wichtig empfunden. Im Kindergarten war es die zweite Sprache, die ich lernen musste, neben dem Wienerischen. Das hatte ich mit Ach und Krach erlernt, und auf einmal habe ich nicht mehr deutsch reden dürfen. Es hat geheißen, jetzt muss ich tschechisch mit dem Vater und den Freunden reden, auch außerhalb der Schule, damit ich es als Umgangssprache lerne. Es ist heute für mich schön, dass ich Tschechisch kann, aber damals habe ich es nicht so gesehen, es war nicht leicht für mich. Tschechisch ist eine schwere Sprache, sie hat sieben Fälle. Die Aussprache kann man lernen, die Hürde ist die Grammatik. Natürlich haben wir, meine beiden Schwestern und ich, auch deutsch gesprochen, wie eine Fremdsprache haben wir es gelernt, mit zwei oder drei Wochenstunden in der Schule. In der Schule wurde nur tschechisch gesprochen. Es war eine schöne Zeit in der Volksschule, das war eine Privatschule, sie wurde sehr familiär geführt. Wir haben das Leben in der Schule genossen. Es gab schon damals eine Ganztagsbetreuung dort. Die ersten zwei Klassen waren schwierig, da habe ich nicht brilliert. In der dritten und vierten Klasse ist es mir immer besser gegangen. Nach der Volksschule kam ich in die tschechische Hauptschule am Sebastianplatz im 3. Bezirk, es ist die Komenský-Schule, die nach Comenius benannt ist. Es gibt sie heute noch. Ich habe mich aber trotz des tschechischen Unterrichts immer als Österreicher gefühlt und nicht als Tscheche. Und je länger ich hier war, desto mehr habe mich als Wiener gesehen. Ich bin heute Wiener mit Herz und Seele. Wenn ich wegfahre, so geht mir Wien immer ab. Ich fahre auch nicht gerne weg und komme sehr gerne wieder heim. Wien hat heute eine Lebensqualität, die früher nicht vorstellbar gewesen wäre. Um in Wien zu 414

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leben, gehört die Sprache dazu. Es ist ein Versäumnis der Politiker, dass sie zu spät Druck gemacht haben, dass die Einwanderer Deutsch lernen. Ich würde die Familienbeihilfe mit einem Sprachkurs oder einem Sprachmindestsatz verbinden. Wenn die Politiker schon vor 30 Jahren gesagt hätten, Kinderbeihilfe bekommen die Familien nur dann, wenn sie deutsch sprechen können, hätten wir uns viel Kummer erspart. Ich frage Karl nun: „Kann man also sagen, dass du dich erst nach dem Erlernen der Sprache der Wiener als Wiener gefühlt hast?“ Karl nickt: „Ja, absolut. In der Hauptschule waren wir schon 20 Kinder in der Klasse, in der Volksschule ja nur zwölf. 20 ist mir damals schon sehr viel vorgekommen. In der Schule waren vorwiegend Kinder von Wiener Tschechen. Um 1900 sind viele Tschechen nach Wien gekommen. Als Minderheit sind sie immer sehr gut integriert gewesen. Die Tschechen haben ja gewisse Ähnlichkeiten mit den Wienern, von der Religion her und von der Mentalität her, insofern sind die Tschechen uns die Nächsten. Die Ungarn sind vielleicht ein bisserl temperamentvoller, hitziger, die Slowaken auch. Die Italiener wieder sind ganz anders als die Österreicher.“ Franz Josef verweist auf das Lied, das Heinz Conrads gesungen hat: „Wie Böhmen noch bei Österreich war.“ Karl sieht die Gemeinsamkeit der Wiener mit den Böhmen: „Wenn ich durch Böhmen fahre, komme ich mir vor, als ob ich bei Verwandten wäre. Von der Mentalität her sind wir einander ähnlich. Ich war jetzt in Böhmisch Krumau, eine der schönsten Städte, die ich kenne. Der Brauereidirektor von Budweis hat mich dorthin eingeladen. Ich verstehe mich gut mit ihm, ich kenne ihn schon ewig. Zu ihm habe ich schon ein paar Mal gesagt, ich komme mir vor wie unter Cousins, wenn ich bei ihm bin. Wir beide reden miteinander tschechisch. Wenn meine Frau dabei ist, reden wir deutsch, seine Frau kann leider nur englisch. Je nachdem, mit welchen Leuten wir beisammen sind, reden wir tschechisch oder deutsch.“ Ich verweise darauf, dass die Deutschen von den Tschechen einige Wörter übernommen haben, wie Topfengolatsche und Powidl, und die Tschechen ebenso von uns Wörter. Karl ergänzt: „Manche Tsche415

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chen sagen in der Umgangssprache ‚dej mi Hamr‘, also: Gib mir den Hammer.“

Das Schweizerhaus – der Ventilator und die Stelzen Karl geht nun auf darauf ein, wie das Schweizerhaus sich in den 1950er-Jahren entwickelt hat: „Zu der Zeit, als ich in der tschechischen Schule war, war das Schweizerhaus noch klein und im Aufbau. Davor stand eine kleine Bude, aus einem alten Waggon vom Riesenrad. Das war um 1956, es gibt noch Bilder davon. Ein würdig aussehender Serbe mit einem Bart, Perevits hat er geheißen, an den erinnere ich mich noch genau, hat dort Spanferkel gegrillt und Cevapcici gemacht. Etwas Besonderes war damals für mich das sogenannte Cevapcici-Semmerl, in das ein faschiertes Würstchen, Senf und Zwiebel gelegt wurden. Solche Semmerl gibt es heute kaum noch, sie wurden von den Hamburgern verdrängt.“ Franz Josef mischt sich ein: „In diesem Riesenradwaggon, das hat mir die Mutter von Herrn Kolarik erzählt, sind auch Rohscheiben verkauft worden.“ Karl fährt fort: „Das war die Zeit, in der mein Vater eine Baracke gekauft hat. Auf die hat er geschrieben: ‚Provisorischer Bau aus dem Jahre 1949‘. Dort haben wir einen Verschlag mit Erdäpfeln gehabt. So haben wir nach dem Krieg angefangen, die Rohscheiben in kleinen Mengen abzubraten. Mein Vater hat das so erklärt: Wir hatten eine englische Fischbratküche. Die Fische waren damals billig und die Würstel teuer. Er ist aber mit den Fischen auf die ‚Goschen‘ gefallen, das heißt, er hat nichts verdient damit, denn die Wiener wollten keinen Fisch essen. Immerhin hat er es probiert. Meine Eltern sind erst 1950 fix in den Prater gekommen. Vorher hat der Vater ab 1947 das Gasthaus ‚Zur blauen Donau‘ in der Engerthstraße, es war ein Arbeiterwirtshaus, bewirtschaftet. Hier, wo das Schweizerhaus heute steht, war verbrannte Erde, hier war gar nichts, hier war kein Baum, nur Trümmer gab es, hier war kein Geschäft zu machen. Wir haben 416

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zwar 3.000 Quadratmeter gepachtet gehabt, konnten sie aber nicht nutzen. Mit dem alten Waggon ging es wieder los. Die Leute haben damals kein Geld gehabt, sie konnten nichts kaufen, es war nichts da. Auch wir hatten nichts, aber wir Kinder haben es nicht gemerkt, es ging ja allen so. Der Vater hat alles, was er an Geld hatte oder ausborgen konnte, in das Geschäft hineingesteckt. Ich erinnere mich, wie er 20 Föhren gekauft und eingepflanzt hat. Meine Mutter war entsetzt, dass er Bäume gekauft hat, obwohl es an vielem anderen gefehlt hat. Dass er die Bäume gekauft hat, war vom Vater gescheit, wenn auch nicht gut kommuniziert. Er hat investiert und daraus ist ein Gastgarten geworden.“ Franz Josef meldet sich wieder zu Wort: „Deine Frau Mutter hat erzählt, dass der Vater einen Ventilator gebaut hat, damit der Geruch der Stelzen hinaus in den Prater zu den Besuchern geblasen wurde.“ Karl bejaht: „Die Leute rochen den Duft der gebratenen Stelzen und kamen. Er hat dies in der Vorkriegszeit auch schon probiert, aber erst 1970 waren die Stelzen preislich erschwinglich. Die Kaufkraft war vorher gering. Wenn man von seinem Gehalt 50 Prozent für Wohnen ausgibt und 40 Prozent für das Essen, bleibt nicht mehr viel übrig, dann muss man daheim essen.“

„Salzstangerl, Brezerl“ – das kommunistische Jugendlager Karl erzählt über seine Bubenjahre um 1955, in denen er im Schweizerhaus als „Schanibua“ mitgearbeitet hat: „Während ich in der Volksschule war, bin ich als Zehnjähriger mit einem Körberl durch den Gastgarten gegangen und habe gerufen: ‚Salzstangerl, Brezerl.‘ So ein Salzstangerl hat damals 50 Groschen gekostet. 10 Groschen durfte ich behalten, das war mein Verdienst und eine Aufbesserung meines Taschengeldes. Einmal war ein amerikanischer Offizier in einer tollen Uniform bei uns. Der war so begeistert von mir, dass er mir einen großen Aluminium-Fünfer, ein 5-Schilling-Stück, gegeben hat. Ich bin erstarrt und habe gedacht: ‚Der hat sich geirrt!‘ 417

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Als ich das Geld zurückgeben wollte, sagte er: ‚No, it‘s for you!‘ Das war für mich das Taschengeld von einem Monat. In der Schule mussten wir uns um das Essen anstellen, es war eine Ausspeisung. Da gab es ein Mädchen, das mich nachgeäfft hat. ‚Salzstangerl, Brezerl‘, hat sie gerufen. Das war mir peinlich, ich wäre fast versunken. Irgendwann habe ich mir gesagt, es ist mir egal, die anderen sollen es nur wissen, dass ich Gebäck austrage. Aber am Anfang war ich peinlich berührt, wenn man mich darauf angesprochen hat Von der Schule aus sind wir auf Sommerlager in die Tschechoslowakei verschickt worden, um im Land die Sprache zu lernen. Diese Ferienlager haben geheißen ‚mezinárodní tábor míru‘, übersetzt ‚Internationales Friedenslager‘, schließlich wurde das von der kommunistischen Regierung organisiert, für die tschechischen Jungpioniere mit ihren roten Tücheln und auch für uns ‚Sprachschüler‘ aus Wien. Für die waren wir westlich orientierte Kapitalistenkinder. Ich erinnere mich, wie wir über die Enns – hier endete die Russenzone – gefahren sind. Da hat man uns Kinder singen lassen: ‚Go home, Ami, Ami, go home, lass die Hände weg vom Donaustrom, denn für deinen Way of Life, sind wir nun ja doch nicht reif!‘ Die Lehrerin wollte, dass wir dies singen. Als Neunjährige haben wir es nicht verstanden. Aber wir haben das Lied gesungen, zur Freude eines russischen Grenzsoldaten. Im ‚Friedenslager‘ ging es ziemlich militärisch zu, mit ‚Antreten und Standeskontrolle‘ und mit dem Hissen der Fahne in der Früh. Unter der Fahne war ein roter Stern aus Ziegelstaub, umfasst von Tannenzapfen. Den haben wir Wiener Kinder einmal in der Nacht zerstört. Es gab dann ziemliche Wickel, aber gottlob hat man uns dabei nicht erwischt. Tschechische Verwandte haben uns dort besucht und von ihren teilweise extrem schlimmen Schicksalen nach 1945 erzählt. Das hat uns persönlich und natürlich auch politisch beeinflusst. Es war für uns wirklich spannend, in eine andere Lebenswelt, so nahe von uns und doch so anders, einzutauchen!“

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Schankbursch – auf der Handelsakademie „Mit dem Besuch der Handelsschule und der Handelsakademie“, erzählt Karl, „verband sich für mich der Wechsel von der tschechischen zur deutschen Sprache im Alltagsleben. Es war mein Entschluss, diese Schulen zu besuchen.“ Nach der tschechischen Hauptschule wechselt Karl in die Handelsschule Weiss. Er meint dazu: „Dieser Übergang war von der Sprache her schwierig. Ich wusste zwar, wie beispielsweise eine Erle auf Tschechisch heißt, nicht aber auf Deutsch. Ich hatte einen etwas eingeschränkten deutschen Sprachschatz. Gerne wollte ich arbeiten, das konnte ich nebenbei bei uns in der Bierschank, und es hat mir Spaß gemacht, dort zu arbeiten, da hat sich etwas getan. Ich habe am Nachmittag Unterricht gehabt und bin erst am Abend heimgekommen. Ab 18 Uhr habe ich im Schweizerhaus Bier eingeschenkt, anstatt zu lernen. Bald habe ich mir gedacht, was ich in der Handelsschule lerne, das ist zu wenig, ich habe daher auf die Handelsakademie gewechselt, in die sogenannte Zweier-HAK am Hamerlingplatz. Mir hat es dort gefallen, wir waren eine sehr kollegiale Klasse, die Freundschaften halten jetzt noch. Beeindruckt hat mich das ökonomische Prinzip, dass mit dem geringsten Aufwand der höchste Erfolg zu erzielen ist. Als Schüler haben wir uns gerne danach verhalten, wenn auch gerade nicht zur Freude unserer Eltern. Auf Skikurs waren wir einmal in Hinterglemm. Da sind wir in der Nacht aus dem Heimfenster ausgestiegen und haben irgendwo beim Zwölferkogel musiziert und dabei einen – alkoholischen – Preis gewonnen. Danach sind wir in das Schülerheim zurückgetaumelt, unser Sänger wäre fast in den teilweise zugefrorenen Bach gefallen. Unser strenger Turnprofessor, der mit am Skikurs war, ist uns draufgekommen, wie wir besoffen heimgekommen sind. Ich bin über meinen Schlafsack gestolpert, den ich als Attrappe in mein Bett gelegt hatte. Das Professorenkollegium hat überlegt, ob man uns gleich zurückschickt, das hat aber nicht geklappt, doch richtig schön wurde es für uns dort doch nicht mehr. Zurück in Wien, haben wir einen Karzer bekommen. Das mit dem Karzer 419

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war nicht so gut, der Vater musste in die Schule. In Betragen habe ich einen Zweier bekommen. Um den Karzer abzusitzen, mussten wir für ein paar Nachmittage in die Schule, als die anderen schon Freizeit hatten. Unser Klassenvorstand, der Professor Cerny, musste uns beaufsichtigen und hat still geschmunzelt, ihm hat die Geschichte irgendwie getaugt. Er hat unsere Fußballer als Klassenmannschaft sehr gefördert, auf die war er besonders stolz. Auch unsere Musikgruppe wollte er, sie war etwas Besonderes, sie war die einzige in der HAK. Er hat sich wohl insgeheim gefreut, dass wir den Preis gewonnen haben. Es blieb uns noch genug Zeit, anschließend eine Musikgruppe zu gründen, zunächst die ‚Vienna Boys‘ und dann die ‚Five Big Beats‘, in der ich mich als Schlagzeuger versuchte. Wir waren fünf Freunde. Der Beat war noch in den Kinderschuhen. Beeindruckt waren wir von den Rolling Stones und den Beatles. Gespielt haben wir in Wien in einem Klub in der Kegelgasse, aber auch in Deutsch Wagram. In Windischgarsten in der ‚Blauen Sense‘ hatten wir unsere ersten größeren Auftritte. Das hat unser Taschengeld aufgebessert. Sogar nach Karlsbad ins damals bekannte Tanzcafé Elite sind wir durch meine böhmischen Verbindungen gekommen. Dort haben sie uns dann aber nicht auftreten lassen. Eine Woche vorher wurde in London ein Konzertsaal nach einem Auftritt der Stones zerstört. Dadurch haben auch wir harmlosen Hascherln ein Spielverbot bekommen. Wir waren wohl ein bisschen stolz, aber auch sehr enttäuscht. Nach vielen Interventionen bei der Karlsbader Polizeibehörde haben wir dann doch noch im nahen Joa­chimsthal spielen dürfen. Das war eine tolle und lustige Zeit.“

Abenteuerliche Matura Bei der Matura war eine lustige Situation. Ich hatte im Schweizerhaus ein Zimmer, in dem ich gelernt habe, leider viel zu wenig. Daher habe ich noch am Vormittag der Matura gelernt, ich sollte erst am Nachmittag an die Reihe kommen. Draußen ist die Lili420

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putbahn mit lautem Pfeifen vorbeigefahren. Das hat mich kurz herausgerissen, dann habe ich weitergelernt. Ich war sehr nervös. Um 10 Uhr klingelt das Telefon, eine Stimme sagt: ‚Guten Morgen, Steininger.‘ Ich: ‚Ja, was willst du wissen?‘ Die Stimme noch einmal, etwas lauter: ‚Steininger.‘ Ich nervös: ‚Ja, der Steininger aus der Parallelklasse, was willst du denn von mir?‘ Nun der Anrufer: ‚Hier spricht der Doktor Steininger von der Handelsakademie.‘ Ich erschrocken: ‚Oh, Grüß Gott, Herr Direktor.‘ Dieser kurz: ‚Kolarik, kommen Sie sofort zur Prüfung!‘ Ich sage, ich käme erst am Nachmittag dran, ich müsse noch lernen. Das ist mir so he­ rausgerutscht. Darauf der Direktor: ‚Was Sie jetzt nicht können, das erlernen Sie eh nicht mehr.‘ Ich frage, was denn passiert sei. Der Direktor meint, dass der Franz Himmer nicht erschienen ist und ich jetzt statt ihm an die Reihe käme. Mir war direkt schlecht, aber ich bin zur HAK gedüst. Ich hatte eh so einen Schiss vor der Matura. Ich komme dorthin und mache die Tür auf. Der Vorsitzende der Maturakommission sagt vorwurfsvoll: ‚Endlich, endlich sind Sie da!‘ Ich schaue ihn entsetzt an, nun wirft ein anderer Professor ein: ‚Das ist nicht der, der geprüft werden sollte, sondern nur der, der für ihn einspringt.‘ Mit einem flauen Gefühl habe ich mich dann hingesetzt. Endlich wurde ich aufgerufen. Ich kam in Geografie dran, Spezialgebiet Tschechoslowakei, doch zunächst meinte der Herr Professor: ‚Herr Kolarik, Sie habe ich nicht auf meiner Liste.‘ Ich sage: ‚Ich maturiere aber bei Ihnen.‘ Er antwortet: ‚Nein, nein, bei mir maturieren Sie nicht.‘ Dann hat der etwas verwirrte Professor mich doch noch auf seiner Liste gefunden und rasch bin ich dann – sehr erleichtert – durchgekommen. So gut wie nach der Matura habe ich mich nie wieder gefühlt. Aber so viel Druck wie vor der Matura habe ich auch nie mehr verspürt.“

Bundesheer und Studium Karl Kolarik erzählt weiter über die Zeit nach der Matura: „Nach der Matura in der Handelsakademie ging ich zum Bundesheer. Dort 421

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hat man mich gefragt: ‚Wo wollen Sie denn hin?‘ Ich habe mir gedacht, beim Fliegerbodenpersonal wäre es gut, denn da könnte ich endlich ordentlich Englisch lernen. Bei den Funkern hätte es mir auch getaugt. Die Herren beim Bundesheer haben gemeint, dies wäre nur möglich, wenn ich ein Jahr freiwillig zum Heer gehe. Ich meinte: ‚Ja, die drei Monate mehr sind mir recht, wenn ich nur zu den Fliegern komme oder Funker werde.‘ Sie haben mich nach Glasenbach bei Salzburg einberufen. Als ich in der Kaserne ankam, habe ich, weil ich auf keiner Liste gleich zu finden war, im Spaß gesagt: ‚Na, da kann ich ja gleich wieder heimfahren.‘ Als Maturant habe ich geglaubt, jetzt reißt du die Welt nieder und erfindest sie neu. Das war kein guter Einstieg für mich. Darauf bin ich ordentlich ‚betoniert‘ worden, unter dem Motto: Dem depperten Wiener werden wir gleich eine auflegen. Zu meiner Enttäuschung waren weit und breit keine Flieger. Ich habe zu den Leuten vom Bundesheer gesagt: ‚Ich habe ja nur deshalb für ein Jahr unterschrieben, um zu den Fliegern zukommen‘. Man erwiderte: ‚Die Grundausbildung ist bei allen gleich, da müssen Sie durch. Danach können Sie sich bewerben, wohin Sie wollen.‘ Damit habe ich mich abgefunden. Ich bin dann statt in die Fliegerschule zum EF-Zug der TelTruppe gekommen. Das war nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Wir sind mit vollem Gepäck und dem schweren Maschinengewehr in die Berge gegangen. Ich war immer ein überzeugter Flachländer aufgrund meiner damals überschlanken ostfriesischen Figur mit nur 64 Kilo. Das hat mir überhaupt nicht getaugt, mit 20 Kilo am Buckel bergaufwärts zu gehen und von dort in voller Montur – auf Schnee und Eis liegend – stundenlang hinunter nach Feinden zu spähen. Das war eine Scheißsituation. Die Grundausbildung war im Winter. Nach zwei Monaten hat es geheißen: ‚Jetzt kommt der Leistungstest. Und danach kommt Ihr dorthin, wohin Ihr wollt.‘ Ich also zum Fliegerbodenpersonal. Die Tellerkappen der Flieger haben mir gut gefallen. Die Jägerkappe mit dem Edelweiß, das war nicht meine Sache. Den Leistungstest habe ich gemacht und zu meiner Überraschung ausgezeichnet bestanden. Ich habe zunächst gedacht, das ist eine Verwechslung. Jetzt war ich 422

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ganz sicher, nach Hörsching zu den Fliegern zu kommen. Aber nach einer Woche hat es bei mir geheißen: Jägerschule Glasenbach. Mir ist alles hinuntergefallen. Der dortige, überaus ehrgeizige Leutnant war der Meinung, dass wir vom EF-Zug ohnehin alle Flaschen sind. Der hat uns gesagt: ‚Jetzt zeige ich euch, was los ist.‘ Er hatte für uns eine Spezialausbildung vorbereitet. Ich habe mir gedacht, hoffentlich schaffe ich das, Laufschritt bergauf, Decken, Weiterlaufen. Keinen Urlaub, mit der Bemerkung, die Soldaten in Vietnam hätten ja schließlich auch keinen! Nach vier endlosen Wochen endlich ein Wochenende Urlaub in Wien. Zu Hause habe ich von meinen Erfahrungen erzählt, auch habe ich gesagt, mir taugt es in Salzburg nicht, man hat mich unter falschen Voraussetzungen dorthin gelockt, ich fühlte mich beschissen. Mein Vater war damals mit einem pensionierten General befreundet und hat ihm meinen Fall geschildert. Der General hat sich dann für mich eingesetzt. Auf einmal fand ich mich in der Heereswirtschaftsschule in Wien wieder, dort waren unter 22 Akademikern nur zwei Nichtakademiker, einer von diesen war ich. Wien, mein Wien, das war schon eine ganz andere Situation als bei den Salzburger Jägern. Viel Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht habe ich hier gelernt. Mit dem anderen Nichtakademiker war ich immer im letzten Leistungssegment. Als einer der zwei Jüngsten war es nicht einfach für mich, aber sehr interessant. In der Ernährungswissenschaft hatten wir einen sehr aufgeschlossenen Arzt. Wir haben sehr viel über Lebensmittel, Hygiene und Sexualität gelernt, aber auch einige Sachen, mit denen man wenig anzufangen weiß, wie über den Rotlauf beim Pferd. Diese Schule war für mich ein guter Anschluss an die Handelsakademie. Viele nette Leute habe ich dort kennengelernt, ich habe heute noch Freunde aus meiner damaligen Zeit. Beim Bundesheer habe ich etwas gelernt, es war für mich keine verlorene Zeit. Über Leerlauf, wie man es heute oft hört, konnte ich nicht klagen. Entweder wir haben gestuckt oder waren sportlich im Gelände unterwegs. Auch meine Mitmenschen konnte ich dort gut beobachten, dieses Studium macht mir auch heute noch Spaß. 423

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Damals wollte ich nicht studieren. So hatte ich es mir zumindest gleich nach der Matura vorgenommen. Aber beim Bundesheer habe ich mir gedacht, fein wäre es, wenn ich doch studieren könnte. Die Gärungstechnik hat mich interessiert und so habe ich an der Hochschule für Bodenkultur inskribiert. Dort war ich genau zwei Monate, dann bin ich daraufgekommen, dass ich einiges nachlernen müsste. Ich hatte mir das Studium dort nicht so schwer vorgestellt. Mathematik und Chemie hatten nicht meine Sympathie, das Latinum wäre zum Nachholen gewesen. Danach habe ich mich kurzfristig entschieden, auf die Hochschule für Welthandel, heute die Wirtschaftsuniversität, zu gehen, dort würde ich eh alles können, zumindest am Anfang. Das war natürlich nicht so, aber ich habe die Hochschule abgeschlossen. Rückblickend betrachtet, war die Hochschulzeit die schönste Zeit für mich. Dort habe ich auch meine liebe Frau, die Hanni, im Hörsaal mit einer Gruppe anderer Mädchen kennengelernt. Damals gab es wenig Stress auf der Universität, es war gemütlich und ziemlich familiär. Wir sind oft in das Krapfenwaldlbad gegangen. Im Auge Gottes haben wir Ei mit Knödel und Salat mit einem Seidel Bier genossen und gerne waren wir am Kahlenberg. Heute, so hörte ich von meinem Sohn Karl, ist der Stress viel größer.“

Eine liebe Frau und vielversprechende Kinder Karl kommt kurz auf seine Heirat und seine Kinder zu sprechen: „Geheiratet habe ich 1972. Meine Frau, die Hanni, hat Werbung studiert und war damals in einer renommierten PR-Agentur, der Publico. Seit dem Tode meines Vaters vor bald 20 Jahren arbeitet sie sehr intensiv im Schweizerhaus mit. Sie sieht alles, ist sehr tüchtig und kann auch sehr gut mit den Gästen umgehen. Ohne ihren ungemeinen Einsatz – wir haben ja keinen Ruhetag während der Saison – hätte ich niemals den Getränkehandel Kolarik & Buben erfolgreich entwickeln können. Ihre großen Leidenschaften sind das Reisen und die Oper. Wir haben drei Kinder. Das ist schon 424

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eine Aufgabe, aber wir haben mit allen wirklich Glück gehabt, was für uns nicht selbstverständlich ist. Die älteste ist Ärztin, sie absolviert den Turnus. Sie arbeitet jetzt für ein Jahr sehr intensiv in Leer in Ostfriesland. Turnusärzte dürfen bei uns in Österreich nur wenig selbstständig machen. Dort darf sie mitoperieren und vieles alleine machen. Die mittlere, die Regina, ist hier irgendwo im Schweizerhaus.“ Ich erinnere mich, dass wir beim Eingang zum Gastgarten von einem hübschen Mädchen begrüßt wurden. Karl nickt: „Das ist sie. Sie war nach dem Studium fast zwei Jahre in München in einem guten, großen Lokal, im Weissen Bräuhaus. Anschließend war sie in einem noch größeren Betrieb, im Hofbräuhaus. Dort hat sie sich die Hörner abgestoßen. Bei uns ist sie jetzt Assistentin. Wir schauen, dass wir sie gut ausbilden, damit sie Verantwortung übernehmen kann. Unser Jüngster, der Karl, beendet gerade die Wiener Wirtschaftsuniversität, seine Fachrichtung ist die ‚Internationale Betriebswirtschaft‘. In Prag hat er sein Auslandssemester gemacht, was ihm nicht nur ausgezeichnete tschechische Sprachkenntnisse gebracht hat. Voriges Jahr durfte er als erster Ferialpraktikant in der Budweiser Budvar Brauerei arbeiten. Er konnte sich dabei intensiv von der Qualität und Tradition dieser ungewöhnlichen Brauerei überzeugen. Dort durchlief er viele Stationen, vom Fässerauswaschen bis zum Eventmarketing. Er würde gerne in den Getränkehandel einsteigen, sagt er heute, und will für zwei Jahre nach Deutschland gehen. Dann werden wir sehen, was er wirklich macht.“

Der Getränkehandel – das Budweiser Bier Karl erzählt, wie er nach dem Studium in das Geschäft mit dem Bier einsteigt: „Als ich mit der Wirtschaftsuniversität fertig war, hatten wir einen Biergroßhandel in der Augasse 11. Mein Vater hatte diesen 1937 übernommen, aber trotz kriegsbedingter Unterbrechungen blieb der Kontakt zum Budweiser Bier immer er425

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halten. Herr Buben hat den Getränkehandel während der Kriegszeit weitergeführt und nach dem Krieg hat ihn der Vater in die Gesellschaft aufgenommen. Daher hieß die Gesellschaft ‚Kolarik & Buben‘, jetzt heißt die Firma ‚Kolarik & Leeb‘, weil wir den Getränkehandel Leeb fusioniert hatten und den Mitarbeitern mit dem gemeinsamen Namen ein wenig Heimat geben wollten.“ Ich mache einen Schluck aus meinem Bierkrug und lobe das Budweiser, weil es herb, aber nicht zu herb sei. Dazu Karl: „Es ist sehr süffig zu trinken. Das original Budweiser wird noch immer nur in Budweis gebraut. In Amerika gibt es eine Marke Budweiser – ‚Badweiser‘ ausgesprochen –, sie gehört heute zu einem südamerikanischen Konzern. Der Gründer der Brauerei Anheuser-Busch, der Herr Busch, hat sich vor 1900 den Namen angeeignet. Später hat er dazu vor Gericht ausgesagt, er habe in Europa ein Bier getrunken, das ihm so geschmeckt habe, dass er sich vornahm, für seine deutschen Kunden so ein Bier zu brauen und es Budweiser zu nennen. Dieses Budweiser schmeckt aber total anders als unseres in Europa. Ich habe es in Amerika verkostet, denn ich verkoste alle Biere. Wir haben hier mit unserem Budweiser einen Markenschutz. Nach der Herkunftsbezeichnung darf unser Bier nur aus Budweis kommen, damit es auch als Budweiser verkauft werden kann. Über diese Markenrechte streiten schon seit bald 100 Jahren die Anwälte. Die amerikanische Firma Budweiser ist die größte Biermarke der Welt, aber aus meiner Sicht steht ihnen diese Herkunftsbezeichnung nicht zu. Das wird noch lange Juristen beschäftigen.“ Ich frage: „Wie oft kommt das Bier aus Budweis während des Sommers hierher?“ Karl: „Wenn das Wetter gut ist, zweimal in der Woche.“

Das Geheimnis des Bieres im Schweizerhaus Ich komme auf die Besonderheit des Bieres im Schweizerhaus zu sprechen. Wichtig war und ist, meine ich, dass das Bier schmeckt, also angenehm die Kehle hinunterrinnt. Das ist für mich das Ge426

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heimnis des Schweizerhauses, füge ich hinzu. Darauf sagt Karl: „Es geht um die Kohlensäure. Wenn zu wenig Kohlensäure im Bier ist, ist das Bier schal, und zu viel Kohlensäure ist auch nicht gut. Damit das Bier schmeckt, zapft man so, dass viel Kohlensäure mit dem Schaum entweicht. Dadurch ist das Bier bekömmlicher.“ Mir fällt auf, dass Karl einen „Schnitt“ bestellt. Es wird ihm da­ rauf ein Krügerl mit viel Schaum vorgesetzt. Karl klärt mich auf: „Der Schnitt, das ist das Maß des Wirtes. Der Name stammt von der Handbewegung beim Drehen des Bierhahnes, dem Schneiden. Der Wirt, oder auch der Brauer, füllt sich dabei in ein großes Glas relativ wenig Bier mit viel Schaum ein. Das Bier bleibt frisch und der Wirt kann auch öfter mit seinen Gästen anstoßen, ohne gleich beschwipst zu werden. Er kann ja nicht nach dem Zusperren betrunken heimgehen. Das wäre eine Katastrophe.“ Karl fügt noch hinzu: „Der Vater ist gerne bei den Gästen gesessen und hat sich mit ihnen unterhalten. Manchmal zum Leidwesen meiner Mutter. Der Vater hat oft nicht nur zwei Schnitte, sondern mehr getrunken. Noch als 88-Jähriger hat er seine vier, fünf Krügel Bier am Tag locker getrunken. Man hat es ihm nicht angemerkt. In den 1960er-Jahren war das Schweizerhaus noch ein kleiner Betrieb, damals haben wir nur 20 Prozent der heutigen Plätze gehabt und die persönliche Ansprache der Gäste war noch notwendiger als heute.“ Zur Wichtigkeit des guten Bieres erzählt Karl noch: „Bis zur Matura hatte ich kaum Alkohol getrunken. Beim Bundesheer war ich in Salzburg, die Jungmänner tranken alle Bier, da wollte ich auch nicht danebenstehen. Dort habe ich das heute nicht mehr existierende ‚Blattl Bier‘ getrunken. Es hat mir gar nicht geschmeckt. Als ich wieder in Wien war, bin ich zum Smutny in der Elisabethstraße im 1. Bezirk gegangen. Dort habe ich ein Budweiser Bier getrunken, dabei ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich habe gemerkt, zwischen dem Salzburger Bier und diesem beim Smutny liegen Welten. Das hat mich bewogen, Gärungstechnik zu studieren. Daraus ist aber nichts geworden, das war ein Glück für mich.“ 427

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Ich frage Karl noch, wann dieser Gebäudeteil des Schweizerhauses am Rande des Gastgartens, in dem wir gerade sitzen, erbaut wurde. Karl erklärt: „Alles, was du hier siehst, ist ungefähr zwischen 1975 und 1999 gebaut worden. Da auf der Seite waren früher weiße Türen, sie stammten, darauf war der Vater sehr stolz, aus dem Kaiserbad. Die haben hier genau hineingepasst. Durch eine dieser Türen soll schon Kaiser Franz Joseph gegangen sein.“

Die Gastfreundlichkeit des Wirtes Bevor wir unser Beisammensein beenden, habe ich noch eine Frage an Karl, wie seine Beziehung zu den Gästen hier sei, die sich im Schweizerhaus unter den Kastanienbäumen beim Bier einfinden. Karl lacht und führt weit aus: „Es ist schön, gastfreundlich zu sein. Bei dieser Arbeit bekommt man unmittelbar die Zufriedenheit, aber auch die Unzufriedenheit der Gäste mit. Alle Gäste sind kompetent, über Essen und Getränke zu urteilen, sie sind alle Spezialisten beim Essen und Trinken. Die Gastronomie steht jeden Tag auf dem Prüfstand und wird von einer Unzahl von Gästen beurteilt. Man ist als Gastgeber manchmal Psychologe für den Gast, indem man einfach zuhört, wenn er mit seiner Frau einen ‚Wickel‘ gehabt hat, wenn der Chef etwas Böses gesagt hat oder wenn der Bub in der Schule versagt hat. Das tut dem Gast gut. Es ist nicht einfach für mich und meine Mitarbeiter, mit solchen Gästen, die Probleme haben, richtig umzugehen. Der unglückliche Gast kommt, setzt sich hin und ist fertig. Der Kellner beklagt sich dann vielleicht bei mir: ‚Warum ist der so grantig, so unfreundlich zu mir?‘ Dann sage ich zu dem Kellner: ‚Wer weiß, was der heute schon mitgemacht hat.‘ Ich freue mich, wenn solche Gäste gelockert und gelöst von uns gehen. Das ist das Schöne an der Gastronomie, sie ist in der Regel zum Wohlbefinden des Menschen da. Der Gast kommt hoffentlich aus einem Gasthaus glücklicher heraus, als er hineingeht. Dazu etwas beizutragen, das ist die Herausforderung für den Wirt.“ 428

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Zur Gastfreundlichkeit des Schweizerhauses gehört wohl auch, dass mit der Sperrstunde großzügig umgegangen wird. In diesem Sinn meint Karl: „Um 23 Uhr läuten zwei alte Schiffsglocken, das ist der ‚last call‘. Das letzte Bier und die letzten Getränke werden bei den Kellnern bestellt und von ihnen gebracht. In der Regel leert sich ab ½ 12 Uhr der Garten. Wenn ein Match im nahen Stadion war, wird es meist später.“ Ich frage Karl, wie es kommt, dass das Schweizerhaus einmal zum besten Gasthaus von Wien gekürt wurde. Karl denkt nach: „Das ist schwer zu sagen, das hat einige Gründe. Wir versuchen, die Tradition des Schweizerhauses zu pflegen. Tradition braucht Innovation, ohne diese stirbt sie. Wir investieren laufend, vor allem während des Winters, die Änderungen sollten bei uns dem Gast nicht auffallen. Wir haben sehr viele Stammgäste, die oft viermal die Woche kommen. Das ist eine wirklich treue Fangemeinde, die gerne ihre Freunde mitbringt. Bei uns sitzt der Generaldirektor neben dem Hilfsarbeiter, und alle fühlen sich hier wohl und plaudern gerne miteinander. Das gute Bier verbindet, es macht nicht aggressiv, sondern kommunikativ. Die Leser der Kronen Zeitung haben uns vor wenigen Jahren zum Lieblingsplatz der Wiener gekürt. 2009 bekamen wir den Wiener Tourismuspreis, mit dem vorher der Steffl ausgezeichnet wurde. Wichtig für ein gutes Gasthaus ist, dass der Gast nicht enttäuscht wird. Im Idealfall übertrifft man seine Erwartungen. Das ist nicht leicht. Das ist, wie gesagt, eine He­ rausforderung für den Wirt. Der Gast kommt mit gewissen Vorstellungen ins Lokal, er freut sich auf den Garten, in dem er sitzen kann, auf eine freundliche Umgebung, auf ein gutes Bier und auf ein gutes Essen. Der Gast muss sich die Konsumation auch leisten können. Er muss wissen, was ihn erwartet, dabei dürfen wir ihn niemals enttäuschen. Manche Betriebe richten ihr Geschäft ganz auf Touristen und Autobusse aus, das kann problematisch werden. Das wäre kein guter Weg für uns, wir sehen uns ja als Garten der Wiener, die gerne ihre Freunde aus dem In- und Ausland mitbringen. Zur Touristenattraktion wollen wir nicht verkommen. Kurzfristig bringt der Bus 429

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wohl mehr ‚Kohle‘ ins Geschäft, mittelfristig vertreibt er aber den einen oder den anderen Gast. Man wird dann zum Busgeschäft, das wollen wir nicht, da sind wir restriktiv. Wenn du 25 Prozent oder mehr mit den Bussen machst, dann kannst du es dir nicht mehr leisten, Busse abzusagen. Wir wollen sicher nicht von Bussen abhängig sein.“

Die Faszination des Gastgartens Ich spreche Karl auf den Gastgarten des Schweizerhauses an, der auf mich seit jeher eine große Faszination ausübt. Karl antwortet: „Der Garten ist für uns sehr wichtig. Die Gäste kommen hierher, in Erwartung, gemütlich im Garten zu sitzen. Das ist die He­ rausforderung für uns. Wenn es regnet, kommt der Gast nicht so gerne, denn er will ja im Garten sitzen. Falls er reserviert hat und es regnet, dann überlegt er, ob er absagen und woanders hingehen solle. Obwohl wir sehr viele wirklich schöne Räume im ersten Stock haben, die sogar klimatisiert sind, wollen die Gäste am liebsten im Freien sitzen.“ Milan wirft ein: „Das Schweizerhaus behält seine Stammgäste, sie fühlen sich immer wohl, weil baulich nie viel verändert wird.“ Ich erzähle über eine Episode im Gastgarten vor über 30 Jahren. Mit meiner Familie habe ich nach der Firmung meines Neffen Andreas das Schweizerhaus aufgesucht. Wir saßen im Garten. Andreas und Roland, mein Sohn, begannen zu streiten. Roland verabreichte Andreas eine Ohrfeige. Ich sagte zu Andreas, er solle seinem Cousin verzeihen und ihm keine Ohrfeige geben, damit der Streit nicht weiter eskaliert. Ja, meinte er‚ er würde ihm schon verzeihen, aber vorher haue er ihm noch eine herunter. Ähnliche Streitigkeiten im Gastgarten nach Firmungen oder nach dem Besuch von Fußballmatches dürften mit Budweiser Bier versöhnlich beendet worden sein. Karl erzählt noch: „Wir sind das Lokal der Wiener. Deswegen haben wir Teile des Gastgartens nach den Wiener Bezirken 430

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b­ enannt. Wenn einer, der reserviert hat, kommt, so sagt der Kellner zu ihm: ‚Ich habe für Sie in Sievering reserviert.‘ So kann es vorkommen, dass der Gast sagt: ‚Ich wollte nicht in Sievering etwas reserviert haben, sondern hier im Prater.‘ Nun wird der Gast aufgeklärt, dass die Region im Schweizerhaus Sievering heißt, wo man für ihn reserviert hat. Alle Bezirke sind leider nicht im Garten vertreten. Eine Bezirksvorsteherin meinte, ihr Bezirk fehle, sie hätte es gerne, dass eine Station danach benannt werde, sie würde sogar das Taferl dafür zahlen. Leider konnten wir ihr nicht helfen. Von den 23 Wiener Bezirken und Bezirksteilen haben wir 14 im Gastgarten. Die Namen haben wir sehr bewusst ausgesucht. Eine Ausnahme ist die Bierschank, die Station heißt ‚Franz-JosefsBahnhof‘. Das kommt daher, dass früher das Budweiser Bier über diesen Bahnhof nach Wien gekommen ist, aber auch, weil dort so viele ‚Züge‘ gehen!“ Interessant ist auch die Wintersperre des Schweizerhauses vom 31. Oktober bis zum 15. März. Während des Winters wird meist etwas umgebaut und einiges renoviert. Die Stammgäste freuen sich jedes Jahr auf die Eröffnung. Karl meint dazu: „Die Erwartungshaltung des Gastes ist groß, er darf nicht enttäuscht werden. Er freut sich auf den 15. März. Das war nicht immer so, 1930 hat mein Vater erst am 1. Mai aufgesperrt und Anfang September zugesperrt, weil niemand mehr gekommen ist.“ Karl führt uns noch durch den Keller. Wir bewundern die hier gelagerten Bierfässer. Wir gehen zur Schank und beobachten die Schankburschen, sie sind zu dritt. Der erste lässt das Bier aufschäumen, so wird ein Teil der Kohlensäure zu festem Schaum, es heißt: Er schenkt vor. Er beherrscht die Kunst, herrliche Schaumkronen zu setzen, virtuos. Der zweite füllt etwas später das Glas nach und lässt das Bier etwas stehen, dann setzt es sich etwas. Der dritte füllt das Krügerl auf und vollendet die ‚Haube‘. Dann wird das Bier serviert. Von Karl Kolarik verabschiede ich mich herzlich, ich bedanke mich für den Abend und das Bier. Auch Franz Josef und Milan verabschieden sich. Mit ihnen wandere ich noch durch den Prater. 431

16. Schweizerhaus-Wirt Karl Jan Kolarik – Gastfreundschaft

Eine kleine Theorie des Gastwirtes und der Gastfreundschaft In der Antike gehörte Gastfreundschaft zu den obersten Pflichten. Sich dieser Pflicht zu verschließen, war Frevel. Die Götter bestraften Ungastlichkeit, belohnten aber Gastfreundschaft. Für die Griechen war Gastfreundschaft ein Kennzeichen des zivilisierten Menschen (vgl. dazu das Buch von Otto Hiltbrunner, Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, Darmstadt 2005). Der Komödiendichter Aristophanes lobte die Gastfreundschaft in Athen und meinte, dass alle, die sich gegen den Gast vergehen, an der ersten Stelle unter den Verdammten stehen: Sie bleiben bereits am Weg zur Hölle in Sumpf und Kot stecken. Von Gasthäusern wird auch aus Pompei berichtet, allerdings gab es schon damals Kritik an jenen Gastwirten, die den Wein zu viel verdünnten. Die Römer hielten Gastwirte und Köche als nicht wehrfähig, da sie in einem verweichlichenden Gewerbe tätig seien. Diese Einstufung besteht zu Unrecht, denn Gastwirte und Kellner wissen sich mit Nachdruck gegenüber jenen Gästen zu wehren, die ihre Pflicht als Gast verletzt haben. Zu diesen Pflichten gehört, dem Wirt und anderen Gästen achtbar zu begegnen, keinen Raufhandel zu beginnen und gesittet zu zechen. Nach dem Autor Plinius war es für die römische Oberschicht keine Schande, zumindest einen Teil ihres Geldes als Gastwirte zu verdienen. Einem guten Gastwirt ist die Gastfreundschaft heilig. Der Gast muss beim Betreten der gastlichen Stätte fühlen, dass er gerne gesehen ist und dass man sich um sein Wohlergehen kümmern und seine Wünsche nach Bier oder Wein und einem guten Mahl erfüllen wird. Der Gastwirt und auch der Kellner freuen sich, wenn der Gast, nachdem er gezahlt hat, das Haus gut gelaunt verlässt. Es dient dem Ansehen des Gastwirtes, vor allem eine Atmosphäre zu schaffen, die den Gast erfreut. Ein guter Gastwirt hat etwas Nobles an sich, wenn er dem Gast, der Sorgen und Ärger hat, mit Verständnis begegnet, aber auch mit gediegenem Witz und Großmütigkeit. 432

16. Schweizerhaus-Wirt Karl Jan Kolarik – Gastfreundschaft Abb. 16: Karl Jan Kolarik im Schweizerhaus.



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17. Der Herr, der tausend Leute unter sich hat – Totengräber Sepp Rappold Vorgeschichte – ein Begräbnis in Siebenbürgen – Forscher als Totengräber Bevor ich auf Sepp Rappold, den Totengräber von Windischgarsten, eingehe, möchte ich festhalten, dass ich selbst einmal als Totengräber fungierte, und zwar in dem siebenbürgischen Bauerndorf Großpold (rumänisch Apoldu de Sus) in der Nähe von Hermannstadt (Sibiu). Jährlich fahre ich mit einigen freundlichen Studentinnen und Studenten der Universität Wien nach Großpold. Die kleine Welt des Dorfes hat sich verändert. Es sind nur mehr wenige ältere und alte Bäuerinnen und Bauern dort, denn fast alle jungen Leute sind nach Österreich und Deutschland ausgewandert, weil sie meinten, dort wäre das Leben schöner, einfacher und es gäbe bessere Verdienstmöglichkeiten. Wichtig für die alten Bauern war die Nachbarschaft. Man hilft sich in jeder Lage des Lebens gegenseitig. Stirbt jemand, so sind es die Nachbarn und Patenkinder, die sich um das Grab und die Durchführung des Begräbnisses kümmern. Im Jahr 2005, als ich wiederum in Großpold war, starb ein Bauer, Sam Roth hieß er. Nun fehlte es an jungen Leuten, die für Grab und Begräbnis zuständig sind. So werden wir gefragt, ob wir nicht beim Grabschaufeln helfen könnten. Mit zwei Studenten, Konrad und Reinhard, und einem jungen Deutschen gehe ich daran, die Erde des Grabes im Freidhof – so nennt man hier den Friedhof – auszuheben. Unter der Anleitung und Mitarbeit von Andreas Sonnleitner, einem Landler, um die 64 Jahre alt. Mit vier waagrechten Brettern, die sich gegenseitig stützen, wird das Grab, in dem ein Mitglied der Familie Roth bereits 1917 begraben worden war, abgesichert. Abwechselnd graben wir, der Letzte, der in die Grube steigt, bin ich. Das Grab ist bereits einen Meter achtzig tief. 434

17. Totengräber Sepp Rappold

Eine Leiter gibt mir die Sicherheit, wieder herauszukommen. Ich finde noch einen Nagel vom letzten Sarg, den ich mir aufhebe. Auf Geheiß von Andreas Sonnleitner, der selbst nicht in das Grab steigt, weil er an Platzangst leidet, wie er erzählt, glätte ich die Wände und den Boden. Dann will ich aus dem Grab steigen, doch die Leiter fehlt. Sie wurde aus Scherz von Konrad entwendet. Ich bitte höflich um die Leiter. Nun kann ich aus dem Grab steigen, das Leben hat mich wieder. Wir, die Grabmacher, werden nach alter Tradition zu einer heißen Suppe und einem Schluck Wein in die Friedhofshütte gebeten. Am Nachmittag suchen wir feierlich gekleidet die gute Stube des Bauernhauses der Familie Roth auf. Der Tote ist den dritten Tag im Sarg aufgebahrt, auch bei uns war es früher so. Die Angehörigen sitzen um den Sarg, wir, die Sargträger, nehmen hinter ihnen Platz. Der Kirchenvater erscheint und sagt in landlerischem Dialekt: „Grüß enk Gott, wir holen jetzt unsern liaben Bruader Sam zum Freidhof.“ Die Angehörigen gehen aus der Stube. Nun tragen wir den Sarg in den Hof, wo schon der Pfarrer und die Sänger warten. Nach Gebet und Gesang ziehen wir zum Friedhof. Konrad, Reinhard, ein Landler und ich lassen den Sarg auf Seilen in das Grab. Der Pfarrer wünscht eine „fröhliche Wiederauferstehung“. Dann geht es zum sogenannten „Tränenbrot“ in das Haus der Roths. Die Familie, die Freunde und die Nachbarn, einige sind aus Deutschland gekommen, nehmen beim gemeinsamen Mahl, bei dem Hühnersuppe und guter Wein kredenzt werden, Abschied vom Toten. Auch für uns Grabmacher ist gedeckt. Wir trinken zur Erinnerungen an den toten Bauern, der allen im Dorf abgehen wird, guten Großpolder Wein. Diese Erfahrung als Totengräber ist wichtig für mich als Kulturwissenschafter, da der Umgang mit dem Tod ein wesentlicher Bereich jeder Kultur ist. Als Totengräber befindet man sich geradezu in direktem Kontakt zu den Ritualen des Todes. Dies wurde mir so richtig bewusst, als ich beim Grabschaufeln auf Schädelknochen von früher hier bestatteten Menschen stieß und diese fein säuberlich zuunterst in die Grube legte. 435

17. Totengräber Sepp Rappold

Zugang Sepp Rappold, den Totengräber von Windischgarsten, kenne ich schon lange, er ist ein heiterer Herr. Auf seinem Adressenstempel ist unter seinem Namen als Bezeichnung seiner Tätigkeit „Grab­ arbeiten“ zu lesen. Ich treffe ihn öfter auf dem Friedhof oder wenn er mit der Müllabfuhr unterwegs ist. Mich fasziniert diese Verbindung beider Berufe. Vor einiger Zeit fragte ich ihn, ob ich über ihn etwas schreiben dürfe. Er hatte nichts dagegen und wir vereinbarten ein Treffen. Dieses findet im August 2010 im Gastgarten des Kaffeehauses Kemetmüller in Spital am Pyhrn statt. Es ist ein warmer Tag, gegen 17 Uhr betritt Sepp das Café, ich bin kurz vorher gekommen. Ich lade ihn zu einer Jause ein und erkläre ihm, was ich mit dem Buch bezwecke, nämlich über Leute zu schreiben, die ihren eigenen Weg gehen oder gegangen sind. Ihm gefällt die Idee.

Der lange Schulweg – die Landwirtschaft der Eltern – die Lehre Sepp Rappold ist seit über 31 Jahren Totengräber, er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Rading bei Windischgarsten. Er beginnt zu erzählen: „Geboren bin ich am 10. Dezember 1956 in Dambach in Rosenau beim Hengstpass, dort hat mein Vater ein kleines Haus gehabt. Er hat damals noch in der Danubius, einem Holzwerk, gearbeitet. An der Straße war ein Gasthaus, dessen Wirtin jung gestorben ist und die ich auch eingrab‘n hab. Meine Mutter wollte immer Landwirtschaft betreiben. Daher haben die Eltern das Haus um 50.000 Schilling verkauft und sind zum Koppen in ein Bauernhaus in Richtung Pießling gezogen. Dort haben sie die Landwirtschaft mit Wiesen und Haus gepachtet, die Pacht war nicht viel, 4.000 Schilling im Jahr. Viel Viecher konnte man auch nicht haben bei 15 ½ Bergwiesen. Das Gebiet hat damals noch dem Pießlinger gehört, der war ein reicher Mann, er hatte auch ein Sensenwerk und ein Sägewerk. Er war schon 90 Jahre alt und hat das Geschäft noch immer alleine geführt. 1967 sind 436

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die Hämmer noch gerannt. Es hätte viel renoviert werden müssen, aber er konnte es nicht mehr. Es wurden Schulden gemacht und so musste viel verkauft oder verpachtet werden. Im Jahr 1961 sind wir also von der Rosenau zum Koppen gezogen, das war am Ende der Welt. Von dort geht ein Waldweg über die Kleine Hühnersteige nach Pießling, das war mein täglicher Schulweg. 1 ½ Stunden habe ich für eine Strecke gebraucht, drei Stunden hin und zurück bin ich an jedem Schultag unterwegs gewesen. Es war eine kleine Volksschule, in der wir täglich nur drei Stunden Unterricht hatten. Ein einziger Lehrer, Karl Schimpl hieß er, musste alle acht Klassen unterrichten, am Vormittag die Großen bis zur vierten Klasse und am Nachmittag die Kleinen. Im Sommer und im Winter sind wir zu Fuß zur Schule gegangen. Nach den Weihnachtsferien haben sie uns die Lawinen aus dem Schulweg geschaufelt. Das hat uns nichts gemacht, wir sind ohne Angst marschiert. Am Koppen, wo wir wohnten, gab es damals noch keinen Strom. Meine Eltern haben Landwirtschaft mit Milchwirtschaft betrieben. Daher kauften sie einen Motormäher und drei Kühe, dann war das Geld aufgebraucht. Die Mutter war mehr dahinter, denn sie kommt aus der Landwirtschaft. 1968 haben sie das Haus und die Wiesen gekauft – mit einem langfristigen Kredit. 1977, da wohnte ich noch bei meinen Eltern, haben sie ein neues Haus gebaut am Koppen. Dort habe ich auch noch bis 1989 gewohnt. Wir waren fünf Kinder, drei Buben und zwei Madeln. Im Großen und Ganzen verstehen wir uns gut. Beide Eltern leben noch, die Mutter ist 82 und der Vater 79. Die Eltern und ein jüngerer Bruder wohnen immer noch im Haus am Koppen. Der Bruder, er ist zehn Jahre jünger als ich, hat den Hof übernommen.“ Die Erinnerungen von Sepp an seine Schulzeit dürften trotz der weiten Wege schöne sein: „Erst habe ich die Volksschule in Pießling besucht, dann die Hauptschule in Windischgarsten und dazu noch das Polytechnische, also neun Jahre Schule. In der Hauptschule habe ich Rudolf Kusché als Lehrer gehabt. Er hat überall geforscht bei den Bauern, über ihre Häuser. Er war ein guter Mann.“ 437

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Über die Jahre nach der Schulzeit erzählt Sepp weiter: „1972 bin ich in die Lehre gekommen, als Fleischhacker zum Moser. Damals gab es drei Fleischhackereien in Windischgarsten: den Moser, den Zöls und den Kapfenberger. Heute gibt es sie nicht mehr, man hat sie ausradiert, so ähnlich wie viele Bauern. Heute muss alles EUgerecht sein. Die Bauern früher wussten zum Beispiel genau, wie man Schweine gut füttert. Heute dürfen sie nicht mehr so füttern, das will die EU nicht.“ Die Kellnerin bringt uns etwas zu trinken. Sepp kennt sie und sagt: „Für ihre Großeltern habe ich damals die Sauen abgestochen. Die Großeltern sind die Weiß, sie kommen eh aus Spital am ­Pyhrn. Der Andreas Weiß ist ihr Großvater.“ Die junge Kellnerin hört uns zu und sagt stolz: „Der Uropa Weiß war der Kapellmeister hier in Spital. Die Weiß sind als Deutsche aus Ungarn nach dem Krieg eingewandert.“ Sepp erzählt weiter über seine Lehrzeit: „Meine Lehrzeit habe ich also beim Moser in Windischgarsten gemacht. Sieben Jahre war ich dort, dann habe ich den Beruf gewechselt. Die Fleischhackerei ist nicht meine Sache, den ganzen Tag in dieser Wurschtbude, im Schlachthaus, zu stehen, das war mir zu viel. Es ist eine ungesunde Arbeit, einmal ist man im Kühlhaus und dann wieder im Heißen. Ich habe jedes Jahr mindestens einmal Angina gehabt. Fast den ganzen Tag war ich in den Gummistiefeln.“ Ich meine, mir würden die Tiere leid tun, überhaupt wenn sie schreien. Sepp meint, dies wäre auch ungut, man müsse es aber wegstecken.

Bei der Müllabfuhr – der Onkel als Pionier Sepp kommt nun zu einem wichtigen Schritt in seinem Leben: „1979 habe ich aufgehört mit der Fleischhauerei, ich wollte etwas anderes machen. Für mich war interessant, dass mein Onkel 1975 mit der Müllabfuhr in Windischgarsten und Umgebung begonnen hat. Auf die Idee ist mein Onkel durch deutsche Gäste gekommen, die in Deutschland mit Müll zu tun hatten. Von der Stadt Mann438

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heim hat er 1975 einen Müllwagen gekauft. Damals wusste man noch nicht, was man mit dem Müll machen soll. Hinter dem Kalvarienberg in Windischgarsten gab es zu der Zeit eine große Deponie. Dort haben die Gemeinden den ganzen Müll hingeworfen, und der liegt heute noch drinnen. Es werden immer wieder Proben aus der Deponie genommen, um zu schauen, ob dort Schädliches gelagert ist, wenn sich zum Beispiel eine Flüssigkeit absondert. Gott sei Dank gibt es bis heute kein Problem. Bevor es diese Deponie gegeben hat, ist alles, was man nicht brauchen konnte, in einen Graben oder in den Bach geworfen worden.“ Ich erwähne, dass meine Eltern, die Ärzte von Spital am ­Pyhrn, früher sogar Verbandszeug in den Trattenbach, der hinter dem Arzthaus fließt, geworfen haben. In Wien ist vieles auch in den Donaukanal, in dem gefischt wurde und wird, geworfen worden. Damals gab es den berühmten „Präservativkarpfen“. Sepp lacht und meint: „Man darf sich nichts denken, denn die Fische sind so gewachsen, weil alles in die Bäche geronnen ist. Mein Onkel hatte auch den Kanaldienst über. Allein von dem, was von den Fleischhauereien in die Bäche entsorgt worden ist, haben die Fische gut gelebt. Überall gab es damals einen Haufen Fische, heute werden sie immer weniger. Die Gewässer sind alle so sauber, es kommt nichts mehr zum Fressen daher. Was damals an Blut in den Bach geronnen ist, ist unglaublich! Aber genug Fische hat es gegeben.“ Mich interessiert der Beginn der Müllabfuhr und der Mülltrennung. Sepp erzählt: „Mülltrennung gab es damals noch nicht, zuerst haben die Gemeinden den Müll selbst weggeführt. In Windischgarsten ist alles zusammen zur Deponie hinter den Kalvarienberg gebracht worden. Vorderstoder und Hinterstoder hatten eigene Deponien, auch in Oberweng gab es eine und in Spital am Pyhrn. Altstoffzentren sind erst vor Kurzem entstanden. Heute kommt alles aus dem Bezirk in das Abfallwirtschaftszentrum nach Inzersdorf. Dort wird am Förderband grob sortiert, dann wird verschickt, das eine dahin, das andere dorthin, der Rest wird in Wels verbrannt. 1979 hat der Onkel gesagt, er würde jemanden ganztägig einstellen wollen, vorher hatte er bloß hie und da Tagelöhner. 439

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Er selbst fuhr mit dem Müllwagen, auch seine Frau fuhr damit. Ich war der Erste, der ganztägig bei ihm angefangen hat. Er hat für die Müllabfuhr einen Wagen gehabt und einen für den Gruben- und Kanaldienst. Den brauchte er zum Ausheben von Gruben der Klosetts, der sogenannten ‚Häuseln‘. Der Onkel hat auch eine kleine Landwirtschaft gehabt. Der Dreck aus den Gruben und den Kanälen ist irgendwo auf die Seite gespritzt worden, auf die Wiesen. Daheim hat der Onkel einen großen Teich mit einem Erdwall herum angelegt, dort ist alles hineingelassen worden und versickert. Die Behörde war froh, dass jemand da war mit so einem Teich. Man hat ja nicht gewusst, wohin mit dem Dreck. Das Problem sind die Waschmittel. Heute kommt alles in die Großkläranlage in Roßleithen.“ Sepp kommt auf seinen Dienst bei der Müllabfuhr heute zu sprechen: „Einmal in der Woche kommen wir mit dem Müllwagen zum Beispiel nach Spital am Pyhrn, um den gesammelten Müll zu holen. Die Säcke bekommen die Leute von den Gemeindeämtern, sie kosten Geld. Wir rechnen mit den Gemeinden ab. Private Säcke dürfen wir nicht annehmen, aber bei den Sammelstellen ist die Gefahr, dass die Leute auch solche Sackerl hinstellen. Irgendwann muss man sie mitnehmen, entweder wir oder die Gemeinde. Wir haben schön langsam angefangen, heute betreuen wir neun Gemeinden, bis Klaus hinaus.“ Ich unterbreche Sepp und erzähle, dass ich auch einiges ausgegraben habe während meines Urgeschichtestudiums. Dabei habe ich gesehen, dass man am Müll von Menschen gut erkennen kann, wie diese gelebt haben, was sie gegessen haben und vieles mehr. Ich erzähle auch von einem amerikanischen Professor, der seine Studenten ausgeschickt hat, den Müll in einer Stadt zu untersuchen. Es gab eine Fragebogenstudie, die Leute wurden gefragt, was sie trinken. Die einen haben gesagt, sie trinken viel Wasser, die anderen Apfelsaft, aber nur selten Bier. Aber in der Müllanlage lagen jede Menge Bierdosen. Es konnte also nicht stimmen, was die Leute erzählt haben. Darauf meint Sepp: „Das ist eh klar, so etwas kann man herausbekommen. Bei der heutigen Mülltrennung muss 440

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man die Bierdosen extra entsorgen und die Plastiksachen auch. Normalerweise ist es nicht richtig, die Getränke aus Plastikflaschen zu trinken, aber am einfachsten ist es. Das sind alles Arbeitsplätze für die Plastikindustrie. Auch bei Tetra Pak ist Kunststoff oder Alu dabei. Man kann sie zum Plastik geben.“ In der Einstellung der Menschen zum Müll hat sich einiges geändert, wie Sepp ausführt: „Früher haben Leute zu uns gesagt, wir brauchen keine Mülltonne. Heute gibt es niemanden mehr, der keine hat. Heute muss man eine nehmen, weil die Gemeinde es will. Es ist ein Wahnsinn, wie viel Müll anfällt. In zwei Wochen kommt man mit einer Tonne nicht aus. Früher ist man mit einem Sackerl in das Geschäft gegangen und hat eingekauft. Die Milch hat man mit der Kanne geholt, heute kauft man sie im Packerl. Man darf nicht darüber nachdenken, wie alles doppelt und dreifach verpackt ist. Gerade als Müllfahrer macht man sich aber da­ rüber Gedanken. Wo das einmal mit den Verpackungen und dem Müll hinführt?!“ Ich meine: „Solange der Müll verwertet wird, ist es in Ordnung. Früher wurde bei den Bauern alles verwertet, sie haben ja nichts weggeworfen. Die leeren Gläser wurden zum Beispiel als Marmeladegläser verwendet.“ Sepp sagt: „Wenn man denkt, so ein Kilo Müll kostet 50 Cent. Manches Lebensmittel ist nicht so teuer. Aus dem Müll kann man auch Wertvolles herausholen. So habe ich zwei Wildererbilder gefunden, die ich euch für das Wilderermuseum geborgt habe.“ Sepp hat Sympathien für die alten Wilderer. Ihm gefällt, dass sein Bruder die Tochter des bekannten Annerl, wie er mit dem Hausnamen geheißen hat, eines berühmten Wilderers in der Nähe des Gleinkersees bei Windischgarsten geheiratet hat. Als ich meine, dass das Grabmachen und die Müllabfuhr sichere Geschäfte seien, bejaht Sepp dies und meint gerade in Hinsicht auf den Kanaldienst, den seine Firma auch ausübt, dass man mit jedem „Dreck“ heute gutes Geld verdienen könne.

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Der Beginn als Totengräber – kein schlechtes Geschäft Wie Sepp zum Totengräber wird, schildert er so: „Am 2. Mai 1979 habe ich bei der Müllabfuhr begonnen und am 7. August habe ich schon mein erstes Begräbnis gehabt. Dass ich als Totengräber angefangen habe, hat sich durch meinen Onkel, den Chef von der Müllabfuhr, ergeben. Er war mit dem Herrn Perner, dem Bestatter von Windischgarsten, viel beisammen, sie waren gemeinsam im Reitverein. Da hat mein Onkel einmal gehört, dass der Perner keinen Totengräber hat, denn der alte Totengräber hat aufgehört. Der Bestatter hat nun selbst zwei Monate hindurch die Gräber geschaufelt. Als mein Onkel mir das erzählt hat, habe ich mir gedacht, dass die Arbeit als Totengräber kein schlechtes Geschäft ist, denn damals ist für das Grabschaufeln noch gut gezahlt worden. Bei der Müllabfuhr habe ich 7.150 Schilling im Monat verdient und für das Schaufeln eines Grabes habe ich 1.400 Schilling bekommen. Mit drei Gräbern verdiente ich also schon über 4.000 Schilling. Ich bin der einzige Totengräber in der Gegend. In Vorderstoder gibt es noch einen, der springt für mich ein, wenn ich einmal krank bin. Auch mein Bruder hat mir öfter geholfen, wenn Not am Mann war. Am gleichen Tag, als ich gehört habe, dass der Perner einen Totengräber sucht, bin ich zu ihm auf den Reitplatz gefahren und habe ihm gesagt, dass mich diese Arbeit interessiert. Er hat zu mir gesagt: ‚Du kannst heute schon anfangen auf d‘ Nacht, denn morgen haben wir ein Begräbnis.‘ Er ist mit mir gleich zum Friedhof gefahren und ich habe sofort das Grab geschaufelt – alles mit der Hand, mit Krampen und Schaufel, ohne Maschine. In der ersten Woche habe ich gleich drei Begräbnisse gehabt. Ich habe geglaubt, ich komme hinten und vorne nicht zusammen, denn ich hatte so etwas vorher nicht getan. Am Tag war ich bei der Müllabfuhr von 7 Uhr in der Früh bis 5 Uhr am Abend. Die Zeit haben wir später geändert auf 7 Uhr bis 4 Uhr – normalerweise, denn ich kann nicht um 4 Uhr aufhören, wenn wir noch nicht mit der Müllabfuhr fertig sind. 442

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Abb. 17: Sepp als Totengräber, sein Reich überblickend.

Das Grabschaufeln war eine harte Arbeit. Am Anfang habe ich auf d‘ Nacht und in der Früh gegraben. Um 5 Uhr bin ich oft schnell zum Friedhof gefahren und habe weitergeschaufelt. Heute ist es nicht mehr so anstrengend. Es hat sich mittlerweile einiges geändert, weil viele Tote verbrannt werden. Die Urnenbegräbnisse macht der Bestatter selber. Das ist gut, denn ich bin jetzt auch schon älter. Bei den Urnen braucht man auch weniger Grabpflege, das ist gut für die Jungen, die sich um das Grab kümmern sollen. Die Urne kann man überall hinstellen, in eine Urnennische am Friedhof zum Beispiel.“ Ich erzähle, dass die Asche meines Freundes Wolfbauer Gust aus Spital am Pyhrn, der als Senner in der Nähe der Wurzeralm tödlich abgestürzt ist, in einen Blumentopf in seinem Garten gegeben wurde. Sepp meint: „Das darf man heute. Man muss dazu bei der Gemeinde ansuchen. Man zahlt ein bisserl dafür und kann die Urne bei sich zu Hause hinstellen – wenn es den Angehörigen nichts ausmacht, dass sie die Asche des Toten bei sich in der Wohnung haben.“ 443

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Der konservative Pfarrer – LASK-Anhänger Wir sprechen über den Sinn und den Vorteil von Verbrennungen. Früher war die katholische Kirche strikt gegen Verbrennungen und Urnenbestattungen, weil diese eng mit den Freimaurern und den Sozialisten in Verbindung gebracht wurden. Man sah das Verbrennen des Toten als einen geradezu ketzerischen Akt an. Ich erinnere mich, dass die Patres in der Klosterschule zu Kremsmünster sich in den 1950er-Jahren über Verbrennungen und Urnen belustigt haben. So erzählte Pater Altmann diesen Witz: „Eine Dame fährt im Zug, ihr gegenüber sitzt ein Pfarrer. Die Dame kommt ins Gespräch mit ihm und sagt provozierend, sie würde sich verbrennen lassen, denn sie sei gegen die Erdbestattung. Darauf der Pfarrer spöttisch: ‚Ich kann mir gut vorstellen, dass dem Teufel eine verbrannte Gans lieber ist als eine verfaulte.‘“ Noch an einen anderen Witz erinnere ich mich: „Zwei alte Herren gehen von der Einäscherung der Frau des einen nach Hause. Der Witwer trägt die Urne mit der Asche bei sich. Es ist Winter und Glatteis. Die beiden haben Schwierigkeiten, nicht auszurutschen. Da sagt der eine zu dem anderen mit der Urne: ‚Geh, streu dei Alte aus!‘“ Ich erwähne gegenüber Sepp noch, dass einige frühgeschichtliche Kulturen, so die Urnenfelderkultur, ihre Toten verbrannt haben. An den Funden der Urnen, die spezifische Formen haben, kann man die Wanderung dieser Kultur und der Menschen nachvollziehen. Nachkommen dürften um 1200 vor Christus in Indien eingefallen sein und die Leichenverbrennung dorthin gebracht haben. Sepp hört aufmerksam zu und sagt: „Der Pfarrer Wagner von Windischgarsten ist dennoch gegen Verbrennungen. Er ist sehr konservativ, aber er hat viele Anhänger. Die halten fest zu ihm. Privat ist er ganz lustig.“ Ich erzähle die Geschichte, wie ich mit dem Herrn Pfarrer und Eva und Manfred Bodingbauer im Gasthaus gesessen bin. Der Pfarrer wies darauf hin, dass er ein treuer Anhänger des LASK sei, des traditionellen Linzer Fußballvereins. Darauf erwiderte Manfred Bodingbauer, der frühere Direktor des Gymnasiums in 444

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Kirchdorf, nicht ohne Stolz, dass er Rapid-Anhänger sei. Wie der Pfarrer dies hörte, ist er aufgestanden, hat Herrn Bodingbauer in gespieltem Ernst angesehen und gefragt: „Ist das eine Beichte?“ Obwohl der Pfarrer eine gewisse katholische Eigenwilligkeit hat, hat er doch Witz. Sepp meint dazu: „Er ist wie der Papst, er hält sich an die Regeln. Er ist sicher verlässlich.“

Auch die Totengräber sind gegen Verbrennungen Auch für die Totengräber ist die Feuerbestattung ein Problem, wie Sepp lächelnd meint: „Wir als Totengräber haben freilich geschaut, dass sich nicht zu viele Leute verbrennen lassen, damit wir etwas verdienen. Wir haben daher den Leuten erzählt, wenn man sich verbrennen lassen will, muss man einen Zettel holen, auf dem alles steht, was man mitnehmen muss. Da steht auch, dass man drei Tage vor dem Sterben keinen Alkohol trinken darf wegen der Explosionsgefahr. Man muss ein Reindl für das Schmalz mitnehmen und eines für die Grammeln. Der Hetz halber haben wir das den Leuten gesagt. Manche haben es vielleicht geglaubt. Mit dem Verbrennen habe ich nichts zu tun, obwohl es Totengräber gibt, die auch beim Begräbnis dabei sind, sie tragen die Urne und graben sie ein. Mir fällt auf, dass seit 2008 sich immer mehr Leute verbrennen lassen. Früher waren es vielleicht 10 bis 15 Prozent der Toten, die verbrannt wurden. In der besten Zeit habe ich in einem Jahr 94 Begräbnisse gehabt, jetzt sind es bloß 40 oder 50. Das ist mir angenehm, weil ich auch schon älter bin. Man sieht es nicht, aber trotzdem lässt die Kraft des Körpers nach!“ Vor Kurzem ist der Jörg, der Sohn von Rosemarie und Sepp Fasching, gestorben. Der Sarg wurde in die Kirche getragen, aufgebahrt und nach dem Trauergottesdienst mit einem größeren Auto nach Linz zur Verbrennung gebracht. Dazu erzählt Sepp: „Es dauert für gewöhnlich ein oder zwei Wochen, bis die Urne beigesetzt werden kann. Die Urne von Jörg habe ich eingegraben. Das Loch habe ich circa einen halben Meter tief gemacht, dass man mit der 445

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Schaufel hineinkommt. Der Bestatter, der junge Perner, konnte das nicht, weil er einen Unfall mit dem Pferd hatte. Er hat sich dabei das Handgelenk, eine Rippe und das Schulterblatt gebrochen. So musste ich die Urne tragen, die Beisetzung fand in engstem Familienkreis statt. Der Bestatter hat aber die Urne in das Loch gegeben und ich bin dann später, wie die Leute bereits weg waren, nochmals gekommen, um das Loch zuzugraben.“ Ich werfe ein, dass ich bei der Verabschiedung auf dem Windischgarstner Friedhof dabei war, die Eltern von Jörg sind Jugendfreunde von mir.

Die Arbeit des Totengräbers – Totengraben als freies Gewerbe Ich will von Sepp wissen, wie seine Arbeit am Beginn der Tätigkeit als Totengräber war. Er führt aus: „Der Bestatter hat mir gezeigt, wie das geht. Mit der Scheibtruhe habe ich die Bretter zum Friedhof geführt und zuerst den Grabstein weggegeben, bevor ich zu graben begonnen habe. Das war bei meinem ersten Grab. Das zweite Grab habe ich dann schon alleine gegraben. Alles muss richtig stehen. Man darf nicht zu eng anfangen, damit der Sarg auch hineinpasst. Gott sei Dank habe ich bis jetzt noch nie ein Problem gehabt. Ich schau immer, dass das Grab breit genug ist. Wenn das nicht so ist, besteht die Gefahr, dass die Erde recht drückt und das Grab schmäler wird.“ Sepp zeigt ein Bild und erklärt: „Dieses Bild zeigt mich, wie ich im Grab stehe, ich beginne da gerade mit dem Graben. Hier wird die Umrandung aufgestellt, die anderen Gräber muss ich abdecken, denn dort kommt die Erde hin. Das Grab hier ist 2 Meter 20 lang, 80 Zentimeter vorne breit und hinten 70 Zentimeter, es ist ein bisserl konisch. Das Tiefgrab hat 1 Meter 80 Tiefe. Man soll graben, so weit es geht. Wenn ich auf einen alten Sarg stoße, der nicht ausgegraben werden soll, so lass ich das. Für gewöhnlich muss ich da zuerst ein tiefes Grab machen, dass auch der Partner Platz hat.“ So dürfte das Grab meiner Eltern beschaffen sein, das auch von Sepp gegraben wurde. 446

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Ich meine, dass in einem Grab, in dem schon mehrere bestattet sind, es doch sein kann, dass der zuletzt Begrabene noch nicht ganz verwest ist. Sepp nickt und sagt: „Zum Großteil sind die vorher Begrabenen schon verwest, bevor der neue Sarg in das Grab kommt. Ein großes Problem haben wir in den 1970er-Jahren gehabt. Damals hat man die Toten in Plastiksäcken eingepackt, in denen sie sehr lange nicht verwesen. Das hat sich dann aufgehört. Nur unten in den Sarg kommt Plastik, damit nichts ausrinnen kann, aber oben soll Luft dazukommen. Die Verwesungszeit ist mindestens 20 Jahre in unserer Gegend. Wenn die Leichen verwest sind, kann man weit hinunter. Knochen hat man immer, die sind kein Problem. Sie werden gesammelt und unten hineingelegt. Wenn noch Angehörige in das Grab kommen sollen, muss ich ein Tiefgrab machen. Auf drei Friedhöfen grabe ich. Windischgarsten ist der Hauptfriedhof, dann habe ich noch Spital am Pyhrn und St. Pankraz. In diesen drei Pfarren gibt es ungefähr 8.000 Seelen, ein Prozent von diesen stirbt im Jahr. 17 Jahre lang habe ich alles mit der Hand gegraben, dann habe ich einen Friedhofsbagger gekauft. Einen solchen muss man in fünf Teilen zum Grab führen und dann zusammenbauen. Auch das ist viel Arbeit. Die Ölpumpe des Baggers wird elektrisch angetrieben. Man braucht mit dem Bagger mehr Platz, damit man sich rühren kann. Mit der Ablagerung der Erde ist es auch nicht so einfach. Ich grabe trotzdem die Hälfte mit der Hand. Anfangen muss ich ohnehin mit der Hand, damit alles stabilisiert wird. Es ginge schon fast schneller mit der Hand, aber man muss sich mehr schinden als mit der Maschine. Die Tiefgräber sind so 1 Meter 80 vom Boden weg, wie ich schon gesagt habe. Die Normalgräber sind 1 Meter 40 oder 1 Meter 50 tief. Noch bin ich ohne Leiter aus dem Grab gekommen. Ich muss ja unten das Grab auch pölzen, dass es nicht zusammenfällt. Es kommt auf das Erdmaterial an. Am Zentralfriedhof wird nichts gepölzt, weil die Erde fest ist, die hauen sie nur so hinaus. Wenn die Erde aus zu viel Lehm besteht und es regnet, kann es gefährlich sein. Man muss pölzen, sonst beginnt die Erde zu rutschen. 447

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Das Totengraben ist kein schlechtes Geschäft, aber man darf nicht vergessen, von den Einnahmen Steuern zu zahlen. 1987 bin ich vom Finanzamt ordentlich geschröpft worden. Zuerst ist alles ohne Steuern abgegangen, aber dann ist auf einmal die Steuerprüfung gekommen. Bis 1984 zurück haben sie geprüft und im Jahr 1988 musste ich 100.000 Schilling nachzahlen. Ich werde nicht per Stunde bezahlt, sondern ich bekomme eine Pauschale von ungefähr 350 Euro für das Schaufeln von einem Grab. Fünf Stunden Arbeit rechne ich dafür. Ich bin nicht angestellt, ich bin selbstständig. Als Totengräber übt man ein freies Gewerbe aus. Jetzt schreibe ich auch selber die Rechnung. Früher ging es über den Bestatter, der hat aber keine eigene Rechnung ausgestellt für meine Arbeit, sondern er hat einfach einen Zahlschein zur Bestatterrechnung gegeben. So bin ich bezahlt worden. 1979 bis 1984 habe ich also schwarz gegraben. Zu meiner Arbeit zählt nicht nur das Aufgraben, sondern auch das Zugraben, das Wegtragen der Kränze und das Nachschaufeln des Hügels. Ich bin oft am Friedhof, um dort zu arbeiten. Ich schau immer wieder, ob alles in Ordnung ist. Mich kontrolliert niemand bei meiner Arbeit. Ich hatte auch nie Probleme. 31 Jahre lang mache ich das Totengraben schon. Ich mache meine Arbeit schön, ich bin sehr verlässlich. Ab und zu helfe ich auch dem Perner, wenn er sonst niemanden hat, beim Abholen der Toten.“ Ich erzähle, dass mir der Bestatter einmal gesagt hat, ihm sei es wichtig, dass der Tote noch eine Zeit im Haus bleibt, damit sich die Angehörigen verabschieden können. Früher war der Tote, wie heute noch in Siebenbürgen, drei Tage aufgebahrt. Man saß am Abend beim Toten, sang Lieder und betete. Danach wurden bei uns noch Most und Brot angeboten. In meinem Buch „Aschenlauge“ habe ich dies beschrieben. In Gegenwart des Toten wurde also gegessen und getrunken. Mir wurde auch erzählt, dass manche Beteiligte sich dabei sogar betrunken hätten.

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Das falsche Grab Sepp weist noch einmal darauf hin, dass es vom Bestatter abhängig ist, ob er ein Grab machen darf. Offensichtlich erteilt dieser ihm den Auftrag dazu. Sepp weiß auch von Schwierigkeiten zu berichten, es gab Missverständnisse, die schließlich aber beseitigt wurden. Sepp dürfte sich gut mit dem Bestatter verstehen. Er meint dazu: „Der Perner kann sich voll auf mich verlassen. Ich habe ihm jedes Grab gemacht, das er wollte. Es kann aber auch passieren, dass ein falsches Grab angesagt wird und man ein falsches Grab erwischt. Das ist mir ein paar Mal passiert. Im letzten Moment habe ich doch noch das richtige Grab ausgegraben und das andere wieder zugeschaufelt und alles hergerichtet.“

Erlebnisse als Totengräber Ich frage Sepp nach seinen Gedanken zum Tod, ob er sich solche überhaupt mache. Sepp nickt und sagt: „Man macht sich sicher genug Gedanken. Oder ich frage mich: ‚Warum tust du dir diese Arbeit überhaupt an?‘ Es ist doch viel zu tun. Einige Male bin ich bis Mitternacht im Friedhof gestanden. Im Winter ist die Erde oft viele Zentimeter tief gefroren, 1988 waren es 70 Zentimeter. Da musste ich alles mit der Hand machen, mit dem Krampen. Damals war ich aber noch jünger. Heute schremme ich mit dem elektrischen Schremmhammer die Erde heraus.“ Sepp legt mir ein Bild vom Spitaler Friedhof vor. Er ist schön mit seinen Grabkreuzen am Fuße des Felsens mit der gotischen Friedhofskirche. Dazu meint Sepp: „In Spital ist es gefährlich, im Winter neben der Kirche zu graben, weil der Schnee herunterfallen kann. So eine Dachlawine kann tödlich sein. Einmal ist mir so etwas passiert. Da bin ich nach Spital zum Zugraben gefahren. Wie ich hinkomme, ist gerade der schwere Schnee vom Dach auf das Grab gefallen. Wenn ich etwas früher gekommen wäre, hätte es mich erwischt. Der Schnee war hineingepresst in das Grab, 449

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mit dem Krampen musste ich ihn rausholen. Wenn der Schnee heruntergekommen wäre, als die Träger den Sarg hinuntergelassen haben, dann hätte es sie alle erwischt. Auf diesem Bild ist der Huemer Franz zu sehen, er ist der Friedhofsnachbar in Spital. Er kommt immer nachschauen, wenn ich in Spital zu graben habe.“ Zu einem anderen Bild meint Sepp: „Das ist ein Bild vom Windischgarstner Friedhof vom Frühjahr, da liegt der ganze Dreck, wenn der Schnee schmilzt.“ „Erleben tut man etwas als Totengräber! Einmal, ich war gerade am Friedhof, hat sich ein junger Bursch gleich bei der Leichenhalle in Windischgarsten erschossen. Es war der Sohn vom G., er war erst 25 Jahre alt. Ich habe jemanden schreien gehört, das war sein Freund. Ich habe ein wenig gehorcht, auf einmal habe ich einen Schuss gehört. Ich bin von der Leichenhalle mit dem Auto weggefahren. Ich habe nicht gesehen, dass der Bursch in der Wiese liegt. Die Nachbarn haben geschaut, wer weggefahren ist. Man hat mich verdächtigt und gefragt, was ich am Friedhof gemacht habe. Wie ich gesagt habe, ich bin der Totengräber, war alles klar. Der junge Mann hatte sich selbst erschossen.“

Das Begraben von Freunden und Gleichaltrigen – Aberglaube bei „eigenen Leuten“ „Auch einen meiner guten Freunde habe ich eingegraben, er ist mit dem Motorrad verunglückt. Baumgartner Anton hat er geheißen. Bei ihm bin ich ‚Ansagen‘ gegangen zu den Leuten.“ So nennt man in Oberösterreich die Benachrichtigung der Dorfbewohner vom Tode eines der Ihren. Der Ansager geht von Haus zu Haus oder von Hof zu Hof und teilt den Leuten mit, dass jemand gestorben ist und wann das Begräbnis und die Betstunden für den Toten sind. Sepp erzählt weiter: „Mein Freund war 27 Jahre alt, so alt wie ich. Ich habe es als Freundschaftsdienst gesehen, ihn einzugraben, und daher auch nichts für meine Arbeit verlangt. Seine Mutter und seine Schwester sind ein paar Tage nach dem 450

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Begräbnis zu mir gekommen und haben mir ein paar Geschenke gebracht. Einige habe ich schon eingegraben, die an einer Krankheit gestorben sind und so alt waren wie ich oder sogar jünger. Das berührt mich schon, überhaupt wenn ich die Angehörigen sehe, wie sie weinen. Andererseits darf man sich auch nicht zu viel denken dabei, es ist eben mein Beruf. Den Schwiegervater haben wir letztes Jahr eingegraben, das habe ich aber nicht selbst gemacht. Ich weiß zwar nicht, warum man Leute aus der eigenen Familie nicht eingraben soll, auch die Großeltern nicht. Ich habe gehört, dass man das nicht unbedingt tun soll. Einen Onkel habe ich aber eingegraben.“

Die Zehrung Interessant sind auch Sepps Gedanken zur „Zehrung“, dem klassischen Leichenschmaus, wie man dieses Essen nach dem Begräbnis nennt: „Meistens kommen die Angehörigen nach dem Begräbnis zu mir, hie und da laden sie mich zur Zehrung ein. Es ist aber nicht mehr so wie früher, dass man selbstverständlich dazu eingeladen wird. Oft denken sie nicht daran. Ich habe mein Gasthaus in Windischgarsten, den Kemmetmüller, wenn dort eine Zehrung ist, schreibt der Wirt schon für mich ein Essen auf. Ich kann jederzeit hinkommen. Auch die, die nur den Sarg tragen, gehen zu der Zehrung. Die meiste Arbeit habe aber ich. Der Bestatter selber hat es am schwersten. Es ist nicht leicht, die Leiche abzuholen. Wir haben schon einige miteinander geholt. Aber sonst habe ich mit dem nichts zu tun.“

Der Aufenthalt auf dem Friedhof – Tratsch und Arbeit Ich frage, ob ihn der Aufenthalt auf dem Friedhof hie und da beunruhigt, er ist doch zwischen lauter Toten. Sepp meint: „Überhaupt nicht. Ich habe einmal bei einem Donnerwetter gearbeitet. 451

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Was hätte ich machen sollen? Das Grab musste am nächsten Tag fertig sein. Trotz des Gewitters habe ich mit Krampen und Schaufel weitergegraben. Auf einmal drehe ich mich und sehe hinter mir einen Mann mit einem Wildwesthut und mit einem Gummimantel. Er hat nur in den Friedhof geschaut, er ist zum Grab seiner Frau gegangen. Da schreckt man sich schon, wenn so einer hinter einem steht. Man darf sich bei der Arbeit auch nicht vertratschen. Es kommt immer wieder einer daher, während ich arbeite. Viele möchten ein wenig reden mit mir. Ich tue dies auch, es ist etwas Abwechslung. Ab und zu muss man ohnehin etwas rasten beim Graben. Aber wenn man zu viel mit den Leuten tratscht, kommt man mit der Arbeit nicht weiter. Ich will doch schnell fertig werden. Am Anfang habe ich nicht einmal ein Licht gehabt beim Grabmachen. Heute mache ich viel bei elektrischem Licht. Ich lege mein Kabel hin und die Lampe dazu. So bin ich an keine Tageszeit gebunden. Am Anfang, als ich meine ersten Gräber hatte, ist es mir öfter finster geworden. Sommerzeit hatten wir damals noch keine. Nun musste ich um 5 Uhr in der Früh wieder zum Friedhof fahren, um schnell das Grab fertig zu graben. Nachher fuhr ich zu meiner Arbeit bei der Müllabfuhr. Und am Tag darauf musste ich das Grab wieder zugraben. Ein anderes ist vielleicht wieder zum Aufgraben. Da hat man es eilig.“

Die Oma, die einen Kopfstand machte Eine Geschichte fällt Sepp noch ein: „Während des Winters muss ich auch Schnee schaufeln. Oft haben wir zwei Meter Schnee, sodass oft nichts herausschaut, kein Grabkreuz. Da ist mir einmal etwas Blödes passiert. Es hat an diesen Tagen sehr viel geschneit. Der Friedhofsverwalter hat vor einem Begräbnis den Schnee von den Wegen weggeräumt. Er hat nicht aufgepasst, dass ich bereits ein Grab freigeschaufelt habe, und hat viel Schnee in das leere Grab gefräst. Meine Bretter zum Pölzen waren noch unten im 452

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Grab. Wie ich nach dem Begräbnis zum Grab komme, lag der Sarg nicht am Boden des Grabes, sondern auf dem Schnee, der ziemlich hoch war. Ich habe mich gefragt: ‚Was tue ich jetzt? Ich bring den Sarg nicht heraus.‘ Also habe ich den Sarg aufgestellt. Dabei habe ich ihn an einem Ende mit einem Strick aufgehoben und habe den Schnee darunter etwas weggeputzt, damit ich meine Bretter erwische, also die Schalung, die unten liegt. Während ich so herumwerke, kommt eine Enkelin der toten Großmutter, die in dem Sarg war. Jetzt schaut sie, was ich da tue mit dem Sarg. Mir war die Situation peinlich. Ich habe ihr erzählt, dass ich meine Bretter, die im Grab sind, brauche. Darauf hat sie gesagt: ‚Das habe ich mir nicht gedacht, dass die Oma noch einen Kopfstand macht.‘

Die heiteren Treffen der Totengräber – der Witz des Totengräbers Ich frage Sepp, ob es Gruppen von Totengräbern gibt, die sich auch regelmäßig treffen. Er nickt und erzählt: „Es gibt bei uns die ‚Vereinigten Totengräber von Oberösterreich‘. Ich war in Tunesien auf Urlaub. Wie ich mit Mitreisenden ins Reden komme, fragt mich eine Frau, was ich von Beruf bin. Ich habe geantwortet: ‚Ich habe 1.000 Leute unter mir!‘ Sie hat mich darauf sofort gefragt: ‚Bist du vielleicht ein Totengräber?‘ Sage ich: ‚Ja, wie kommst du darauf?‘ Sagt sie: ‚Ja, mein Bruder ist auch Totengräber.‘ Es hat sich herausgestellt, dass ihr Bruder der Schriftführer war von dem Verein. Durch diese Frau bin ich schließlich Mitglied geworden.“ Sepp zeigt mir einige Bilder von heiteren Veranstaltungen. Er erzählt dazu: „Im Jahre 1998 bin ich das erste Mal bei einem Treffen der ‚Vereinigten Totengräber‘ gewesen. Jedes Jahr trifft man sich irgendwo, dabei werden Meinungen ausgetauscht und Ratschläge gegeben. Bestatter sind nicht dabei, nur wir Totengräber. Am 24. April 2005 habe ich selbst ein solches Treffen im Hotel Sperlhof bei Windischgarsten organisiert.“ Er zeigt mir ein Gruppenfoto, das vor der Windischgarstner Kirche aufgenommen wurde. Auf 453

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einem Bild sieht man den Heimatforscher Jörg Strohmann, der die Totengräber durch die Kirche führt. Auf einem anderen Bild sieht man die Mitglieder des Vereins in heiterer Ausgelassenheit im Gasthaus. Sepp zeigt auf ein Bild und erklärt: „Hier siehst du meinen Bruder mit der Quetschen, der Ziehharmonika.“ Auf einem Bild ist eine heitere Dame mit einem komischen Musikinstrument zu sehen, einer Art Trompete. Sepp sagt dazu: „Diese Frau hat nichts mit den Totengräbern zu tun, sie hat für uns lustige Musik gemacht, wir haben sie nur zum Witzeerzählen eingeladen. Resi hat sie geheißen, sie ist eine Freundin meiner Frau. Sie ist, glaube ich, eine Linzerin, sie hat fest geblasen.“ Zu einem anderen Bild meint Sepp: „Hier ist ein Totengräber von Haag im Hausruck zu sehen. Dieses Bild ist von meinem ersten Treffen der Totengräber. Die Treffen sind immer sehr interessant. Man redet viel über die Arbeit, aber auch über die Klienten.“ Sepp lacht und ergänzt: „Auch Frauen sind dabei. Es gibt Frauen, die mithelfen beim Totengraben. Meine Frau hätte das nie getan. Sie macht das nicht.“ Jedenfalls dürfte das von Sepp organisierte Treffen ein voller Erfolg gewesen sein. Sepp zeigt noch ein weiteres Bild von einem Ausflug der „Vereinigten Totengräber“ nach Tirol, wo sie einen prächtigen Friedhof anschauten. Man ist also auch an Weiterbildung interessiert. Zu einem anderen Bild erklärt Sepp: „Auf diesem Bild sieht man unser Totengräber-Treffen in Schladming. ‚Versenkungsräte‘ sagen die Kollegen zu uns Totengräbern.“ Ich rede ihn nun mit dem Titel „Versenkungsrat“ an. Dies erheitert ihn. Sepp erzählt weiter: „Zunächst waren in unserem Verein die Totengräber von Salzburg und die von Oberösterreich beisammen. Dann waren wir schon zu viele und trennten uns, jetzt sind wir Oberösterreicher alleine.“ Sepp zeigt mir noch ein Bild von einem weiteren lustigen Treffen und sagt: „Hier sind die Oberösterreicher zu sehen. Hier bin ich. Das war eine Mordsgaudi. Es war auch ein Zauberer dabei. Das war im Herbst auf der Planai in Schladming.“ Die „Vereinigten Totengräber“ sind also heitere Herren, wie diesen Bildern zu entnehmen ist, die durch Witz und Humor mit 454

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dem den Menschen bedrückenden Problem des Todes fertig werden und als etwas Alltägliches zu begreifen versuchen. Dazu gehört auch folgender, nicht ganz taktvoller Witz, den mir Sepp erzählt: „Eine sehr alte Frau irrt am Friedhof herum, trifft den Totengräber und fragt ihn: ‚Könnten Sie mir das Grab mit der Nummer 110 zeigen?‘ Darauf der Totengräber: ‚Warum kletterst du heraus, wenn du nicht mehr nach Hause findest!‘“ Ich frage Sepp, wie die Leute reagieren, wenn er ihnen sagt, dass er Totengräber sei. Sepp meint: „Sie schauen überrascht, aber dann finden sie nichts dabei. Hie und da mache ich mir auch einen Spaß damit, dass ich betone, ein Totengräber zu sein. Als Totengräber ist man etwas Besonderes, sicher ist man interessant. Manche schrecken sich aber, wenn man sagt, dass man Totengräber ist. Meine Frau hätte sich nie gedacht, dass sie einmal mit einem Totengräber verheiratet ist.“ Ich erzähle Sepp, dass ich einmal bei einem Fortbildungskurs der Bestatter in Wien war. Es war einer der lustigsten Nachmittage, die ich verbracht habe. Bei diesem Kurs trat ein professioneller Leichenredner auf, der, ohne den Toten zu kennen, aufgrund von Angaben der Angehörigen Lobreden über den Toten hält. Einmal sei es ihm passiert, so erzählte der Mann, dass bei einem Begräbnis eines Mannes auf der Kranzschleife des Kranzes, der direkt auf dem Sarg lag, stand: „Es war zu kurz – dein Spatzi!“ Sepp lacht hellauf und sagt dazu: „Für den Leichenredner ist das Leichenreden sein Alltag, der ist ja nicht traurig dabei. Man reißt ja oft einen Schmäh, auch wenn daneben ein Begräbnis ist. Innerlich hat man ja Abstand dazu.“

„Den habe ich eingegraben“ Zwischen dem Totengräber und dem von ihm Beerdigten scheint eine interessante Beziehung zu bestehen. Diese drückt sich darin aus, dass der Totengräber, wenn über einen Verstorbenen, den er begraben hat, gesprochen wird, er zunächst darauf verweist, dass 455

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er ihn begraben hat. Dies fällt mir auf, als ich mit ihm über meine Eltern, die auf dem Windischgarstner Friedhof begraben sind, rede. Ich erwähne zunächst das schöne schmiedeeiserne Grabkreuz von Lindermayr, dem Schmied von Spital am Pyhrn. Sepp erzählt dazu: „Ich kenne das Grab gleich bei der Kapelle. Ich habe ohnehin deine beiden Eltern eingegraben. Damals sind wir beide so richtig zusammengekommen, wir haben, wie ich das Grab deiner Eltern zugeschaufelt habe, über deine Eltern geredet und über den Tod philosophiert. Die Girtlers waren beliebt als Ärzte. Den Schmied, der das Kreuz gemacht hat, den habe ich auch eingegraben. Das war mein erstes Begräbnis in Spital am Pyhrn. Der Sohn vom Lindermayr, der Andreas, ist mit mir in die Schule gegangen.“ „Jedes Begräbnis“, erzählt Sepp, „ist für die Angehörigen traurig, auch wenn der Verstorbene schon alt war.“ Ich beginne über das Begräbnis von Edgar Zöls, dem früheren Wirt, zu erzählen. Wie ich den Namen ausspreche, fügt Sepp sofort hinzu: „Den habe ich auch eingegraben.“ Ich schildere nun: „Ich bin nach seinem Begräbnis zu spät zur Zehrung ins Gasthaus gekommen. Da ergab sich eine komische Situation. Die Trauergäste hatten schon angefangen, zu essen und zu trinken. Wie ich gekommen bin, waren sie alle schon lustig. Ich habe dem Sohn vom Edgar, dem Gerhard, mein Beileid ausgedrückt. Dieser, er war schon gut aufgelegt, musste nun ernst sein, als ich ihm die Hand gab. Nachher war er wieder lustig, und ich auch, als ich dann aß und trank.“ Sepp ergänzt: „So ein Leichenschmaus ist wichtig, überhaupt, wenn jemand sein Alter erreicht hat. Oft ist mit dem Tod eine Erlösung dabei.“

Der Herr über die Gräber Sepp meint, er hätte es heute finanziell nicht mehr nötig, als Totengräber zu arbeiten, aber er macht seine Arbeit am Friedhof gerne, ebenso wie die bei der Müllabfuhr. Aber der Friedhof hat eine besondere Faszination für Sepp, denn er hat direkt mit Menschen zu tun, die alle ihre Geschichte haben. So sagt er: „Wenn ich so 456

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grabe, lese ich oft die Grabsteine. Ich lese, wie viele junge Leute im Krieg gefallen sind, oft drei bis vier Burschen einer Familie. Oder wie jung manche waren, wie sie gestorben sind. Da mache ich mir meine Gedanken. Bei alten Leuten gehört das Sterben zum Leben!“ Sepp zeigt mir Bilder, die ihn zum Teil mit nacktem Oberkörper beim Grabschaufeln oder am Grab stehend zeigen. Auf einem Bild sieht man ihn im Schnee am Friedhof im Winter 2005, wo nur die Kreuze herausschauen. Auch die kleine Kapelle ist zu sehen. Dazu fällt Sepp ein: „In dieser Kapelle ist die Gruft für die Windischgarstner Pfarrer. Ich war dabei, wie die Gruft ausgeräumt wurde, in den 1980er-Jahren. In dieser waren drei Pfarrer beerdigt. Die Särge waren schon vermodert. Wir haben alles raus und die Knochen woanders eingegraben. Die Gruft haben wir sauber gemacht für den Pfarrer Kierner. Der ist dann dort in die Kapelle gekommen.“ Ich meine noch, dass an der Mauer des Friedhofes, wie ich sehe, die feinen Leute des Ortes sind, wie die Gastwirte, die Bäckermeister, die Apotheker und auch die Sensenschmiede. Sepp antwortet: „Normalerweise ist es so, denn ein Grab an der Wand ist teurer.“ Ich weise darauf hin, dass manche Gräber, wie die der Schröckenfux, die als Sensenschmiede echte Herren waren, historisch interessant sind und dass, wenn niemand mehr für diese zahlt, die Gemeinde diese doch erhalten müsste. Sepp gibt mir recht. Ich beklage mich, dass ein Grab der Familie von Franckenstein, die in der Vorkriegszeit in Windischgarsten Grund und Boden hatte und eine Art Herrenschloss, in dem heute die Büros des „Nationalparks Kalkalpen“ untergebracht sind, aufgelöst wurde. Dieses Grab war gleich bei dem meiner Eltern, daher fiel mir das Verschwinden auf. Sepp stimmt meinen Überlegungen zu. Abschließend meint Sepp: „31 Jahre lang mache ich schon dieses Geschäft. Ich mache auch selten Urlaub. Es ist so, dass man nicht weiß, wann zu arbeiten ist. Da ist einmal in einer Woche nichts, und dann sind in einer Woche drei zu begraben. Einmal habe ich einen Winter gehabt, das war 2005, da sind in 14 Tagen 13 Leute gestorben. Im Jänner 2005 waren also 13 Begräbnisse. Zum Skifahren 457

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war da keine Zeit.“ Ich danke Sepp für seine Ausführungen, auch er freut sich, dass er mit mir über seinen Beruf sprechen konnte.

Eine kleine Theorie des Totengräbers Der Totengräber, hier ähnelt er seinem Kollegen von der Müllabfuhr, hat die wichtige Aufgabe, die Toten einer Gemeinschaft an einem dafür vorgesehenen Ort, dem Friedhof, so zu „vergraben“, dass sie den Blicken der Menschen entzogen sind. Wesentlich ist, dass mit dem Herstellen des Grabes, der rituellen Beisetzung des Toten und des Errichtens eines Kreuzes oder eines Grabsteines mit dem Namen des Toten und seinen wichtigsten Daten diesem ein Denkmal des Erinnerns gesetzt wird. Der Tote, dies ist gerade in bäuerlichen Kulturen so, ist daher weiter Mitglied der Gemeinschaft, den man auch regelmäßig an bestimmten Tagen aufsucht und dessen Grab man schmückt. Eine besondere Nähe des Toten zu den Lebenden ist oft symbolisch dadurch gegeben, dass der Friedhof unmittelbar bei der Kirche liegt oder diese umgibt. Während die heutigen Totengräber ihre Arbeit als durchaus geachteten Beruf sehen, gehörten ihre Vorläufer im Mittelalter sogenannten „unehrlichen Berufen“ an. In die Literatur fanden Totengräber vor allem Eingang durch das Drama „Hamlet“ von Shakespeare. In diesem treten zwei Totengräber auf, die sich Gedanken auch über ihren Beruf machen. Der eine der beiden bezeichnet den Totengräber als einen uralten „edlen Beruf“. Er sagt zu seinem Kollegen, mit dem er eben dabei ist, ein Grab zu schaufeln: „Komm, den Spaten her! Es gibt keine so alten Edelleute als Gärtner, Grabenmacher und Totengräber: sie pflanzen Adams Profession fort.“ Tatsächlich meine ich, im Gespräch mit Sepp einen gewissen Stolz herausgehört zu haben. Schließlich hat er nicht nur mit der Erde, aus der alles Leben entsteht, zu tun, sondern auch mit dem Tod, dem sich alles Lebende zu beugen hat. Insofern sieht sich 458

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Sepp, ebenso wie seine Kollegen von den „Vereinigten Totengräbern“, als Herr über Leben und Tod, überhaupt wenn er auf die Frage nach seinem Beruf meint, er habe „tausend Leute unter sich“. Mit Feststellungen dieser Art ist auch viel Witz verbunden, der dem Tod seinen Schrecken nimmt.

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ROTWELSCH DIE ALTE SPR ACHE DER GAUNER, DIRNEN UND VAGABUNDEN

Von Aasgeier bis Zylindervergolder: die überarbeitete und erweiterte Neuauflage von Roland Girtlers Standardwerk zur Gaunersprache. Bei seinen Forschungen in der Welt der Stadtstreicher, Ganoven und Dirnen hörte der Autor Roland Girtler seltsame Wörter, die er nicht verstand. Er ging diesen Wörtern nach und fand heraus, dass diese zur alten Gaunersprache, dem Rotwelsch, gehören, die im gesamten deutschsprachigen Raum bis heute verbreitet ist. Das Rotwelsch ist eine lebende Sprache, die aus langen sprachlichen Traditionen schöpft: Neben mittelhochdeutschen und jiddischen Ausdrücken finden sich Begriffe aus romanischen, slawischen sowie vermehrt aus osteuropäischen Sprachen. 2., ERW. AUFLAGE 2010. 256 S. GB. 19 S/W-ABB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78548-4

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„HOLT‘S DEN VIECHDOKTOR!“ DIE ABENTEUERLICHE WELT DER ALTEN L ANDTIER ÄRZTE

Dem neuesten Buch Roland Girtlers liegen Gespräche mit alten und heute noch aktiven Landtierärzten und deren Angehörigen zugrunde. So erzählt ein Forstbeamter in Matrei in Osttirol von seinem Vater, der dort Landtierarzt war und sich im Ersten Weltkrieg als Militärtierarzt um die Pferde in der alten Armee zu kümmern hatte. Auch ist von einem Landtierarzt zu lesen, der in Viehdorf bei Amstetten tätig war, einem Ort, in dem der Pfarrer Stierschneider hieß. Es kommen Landtierärzte zu Wort, die den Wandel von der alten Bauernkultur, zu der noch die klassischen Kleinbauern gehörten, zur Massentierhaltung miterlebt haben.

2010, 380 S. GB. 43 S/W-ABB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78368-8

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DER ADLER UND DIE DREI PUNKTE DIE GESCHEITERTE KRIMINELLE KARRIERE DES EHEMALIGEN GANOVEN PEPI TASCHNER JUBILÄUMSAUSGABE AUS DEM VORWORT:

»Ein tätowierter Adler auf der Brust und drei tätowierte Punkte im Winkel von Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zieren neben anderen Tätowierungen den Mann, von dem dieses Buch handelt. Diese beiden in Gefängnissen angebrachten Tätowierungen haben einen besonderen Symbolcharakter. Der Adler soll dem Träger das Gefühl der Macht verleihen und die drei Punkte drücken das Gebot aus, niemanden zu verraten, genauer: ich sage nichts, ich höre nichts und ich sehe nichts. Das Leben, welches hier geschildert werden soll, wie ich es erfahren und mir erarbeiten konnte, ist ungewöhnlich. Es ist das Leben eines Unterweltlers, der in einer Antigesellschaft, in der Subkultur der Wiener Kriminalität, des verbotenen Glücksspiels und der Gefängnisse lebte.« 2007. 326 S. GB. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-77610-9

»Fazit: In diesem Milieu ist gegen Geld alles möglich. Nur in diesem?« Die Presse / Das Buch

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»HERRSCHAFTEN WÜNSCHEN ZAHLEN« DIE BUNTE WELT DER KELLNERINNEN UND KELLNER

Roland Girtler näherte sich mit grenzenloser Offenheit, mit entwaffnender Zuneigung und endlosem Wissensdurst der Welt der Kellnerinnen und Kellner. Der unkonventionelle Wissenschafter zeigt den Menschen sein wohlwollendes Interesse und bewegt sie ohne falsche Anbiederung zum offenen Erzählen. So entstand ein faszinierendes Buch aus der bunten Welt der Kellnerinnen und Kellner. 2008. 401 S. 16 S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-77764-9

»[L]ebendig, persönlich und wunderbar zu lesen, ohne dabei in Verdacht zu geraten, oberflächlich zu sein. Fundiertes Wissen wird so auf eine unnachahmliche Weise verbreitet und bietet so auch einem interessierten Laienpublikum ein wahres Lesevergnügen.« Anthropologischer Anzeiger

»Die Welt der Kellner schildert Girtler in seiner gewohnt wissenschaftlichen, leicht schrulligen, aber unterhaltsamen Manier.« KURIER / Wien – Chronik

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