Römisches Strafrecht nach Ulpian: Buch 7 bis 9 De officio proconsulis [1 ed.]
 9783428522576, 9783428122578

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Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 52

Römisches Strafrecht nach Ulpian Buch 7 bis 9 De officio proconsulis

Von

Alexander Nogrady

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDER NOGRADY

Römisches Strafrecht nach Ulpian

Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.

Neue Folge · Band 52

Römisches Strafrecht nach Ulpian Buch 7 bis 9 De officio proconsulis

Von

Alexander Nogrady

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Wintersemester 2005 / 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 25 Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0720-6704 ISBN 3-428-12257-7 978-3-428-12257-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Frau, meinen Eltern und dem Andenken meiner Schwiegermutter

Vorwort Bei vorliegender Schrift handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Breisgau im Wintersemester 2005/2006 vorgelegen hat. Sie geht auf meine Assistentenzeit am Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung zurück. Ich möchte mich an dieser Stelle von ganzem Herzen bei denen bedanken, ohne die diese Arbeit nicht entstanden wäre: zuerst bei meinem Lehrer und Doktorvater, Herrn Professor Dr. Detlef Liebs, der mich für das Römische Recht begeistert und das Thema angeregt hat und auf dessen guten Rat und große Hilfsbereitschaft ich stets bauen konnte; bei Herrn Professor Dr. Wolfgang Kaiser, der das zweite Fakultätsgutachten erstellt und mir wertvolle Anregungen gegeben hat; bei meiner Frau Barbara, die mich immer unterstützt und mir den Rücken freigehalten hat; bei meiner Mutter Barbara Nogrady, die den Großteil der Korrekturarbeit übernommen hat; bei der Freiburger Rechtshistorischen Gesellschaft und bei meinem Schwiegervater Dr. HansJörg Riethmüller, die durch einen großzügigen Beitrag die Drucklegung ermöglicht haben; und nicht zuletzt bei den Assistenten und Mitarbeitern des Freiburger Instituts für Rechtsgeschichte, vor allem bei Bettina Bubach, Andrea Karl und Margret Obladen, ohne die es die großartige Zeit am Institut nicht gegeben hätte. Stuttgart, im September 2006

Alexander Nogrady

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Autor: Ulpian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Werk de officio proconsulis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Überblick über den Inhalt der nicht untersuchten Texte . . . . . . . . . . . . . .

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9 de officio proconsulis . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Befugnisse zur Sicherung einer pacata atque quieta provincia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. D. 1, 18, 13 pr.: Umfassende strafrichterliche Kompetenz des Statthalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sicherung von Ruhe und Ordnung in der Provinz als Rechtsgrundlage des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenhang mit der coercitio? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahme vom Grundsatz der privaten Anklage. . . . . . . . . . . . . . . d) Der Grundsatz der förmlichen Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Datierung des caput mandatorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. D. 1, 18, 13 § 1: Behandlung Geisteskranker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. D. 11, 4, 3: Suche nach fugitivi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eindämmung der Sklavenflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einordnung des Textes bei Ulpian. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Laktanz, div. inst. 5, 11, 19: Strafrechtliche Beurteilung der Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das so genannte Institutum Neronianum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Christenbriefe von Plinius und Trajan (Plinius ep. 10, 96 und 97) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entwicklungen bis Marc Aurel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Reskript Hadrians an Minicius Fundanus . . . . . . . . . . . . . bb) Antoninus Pius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Neue Bestimmungen unter Marc Aurel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Commodus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Selbstanzeige von omnes Christiani civitatis beim Statthalter Asias. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Verurteilung des Callistus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Martyrium des Apollonius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Septimius Severus und Caracalla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Die Erwähnung der Christen bei Ulpian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis II.

Verfahren im regulären Strafprozess vor dem Statthalter . . . . . . . . . . . . . . 1. D. 48, 2, 7 pr. u. § 1: Allgemeiner Grundsatz der privaten Anklage. a) Bedeutung der subscriptio im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schriftliche oder auch mündliche Anklage im Strafverfahren? . . . 2. D. 48, 2, 7 § 2: Rechtskraft strafgerichtlicher Urteile . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtskraft von Strafurteilen nach Ulpian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Ansichten zur Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Legitimation zur Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 2, 7 § 3: Gründe für den Ausschluss des Anklägers . . . . . . aa) Anklageverbot wegen calumnia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Reskript des Antoninus Pius an Candidus . . . . . . . . . . . . . b) D. 48, 16, 14: Anklage des Tutors im Interesse seines Mündels . . 4. D. 48, 2, 7 §§ 4 u. 5: Gerichtsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Forum domicilii, forum delicti und Gerichtsstand des Aufenthaltsorts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung der Gerichtsstände im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . c) Mehrere fora delicti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Über präventiven Gewahrsam der Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 3, 3: Form des Gewahrsams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arten des Gewahrsams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gewahrsam in den Provinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unterschiedliche Wertung in D. 48, 3, 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) D. 2, 12, 9: Gefangenenverhör an Feiertagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gerichtsfreie Tage im Strafprozess der Provinzen . . . . . . . . . . bb) Ausnahmen wegen disciplina militaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausnahme bei cognitio custodiarum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Urheberschaft der Ausnahme bei Verhör von Gefangenen. . . ee) Ablauf des Verhörs Gefangener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Abwesende Angeklagte und Ankläger im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 19, 5 pr.: Abwesenheit des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verbot der Verurteilung Abwesender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abwesenheit des Angeklagten in der späten Republik . . (2) Entwicklung im Prinzipat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ausnahme vom Verbot bei contumacia. . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung . . . . . . . cc) Verbindung der dargestellten Reskripte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) D. 48, 19, 5 § 1: Abwesende Ankläger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das SC Turpillianum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fortbildung des SC Turpillianum im 2. und 3. Jh. n. Chr. . . .

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Inhaltsverzeichnis

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III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Straftaten nach der Lex Iulia peculatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 13, 7 (6): Sacrilegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutungen von sacrilegium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ursprünglicher Ort des sacrilegium in der Lex Iulia peculatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verselbständigung des sacrilegium in der cognitio extra ordinem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Abstufungen und Obergrenzen der Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Taten nach der Lex Iulia peculatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) D. 48, 13, 8 pr. (6 § 1): Furtum publicae monetae durch Angestellte der Münze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) D. 48, 10, 8: Strafbare Behandlung von Goldmünzen . . . . . . cc) D. 48, 13, 8 § 1 (6 § 2): Furtum ex metallis Caesarianis . . . 2. D. 48, 4, 1: Lex Iulia maiestatis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 4, 1 pr.: Nähe zum sacrilegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) D. 48, 4, 1 § 1: Hoch- und Landesverrat als Inhalt der Lex Iulia maiestatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der ursprüngliche Tatbestand am Anfang der Lex Iulia . . . . bb) Bestrafung der bloßen Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entwicklung der Lex Iulia maiestatis – vorübergehende Suspendierung des Gesetzes zwischen dem 1. und 3. Jh. n. Chr. 3. Lex Cornelia de sicariis et veneficiis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Coll. 1, 3, 1: de sicariis et veneficiis, Grundtatbestand der sicarii der Lex Cornelia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ursprünglicher Inhalt des republikanischen Gesetzes. . . . . . . bb) Entwicklung der quaestio inter sicarios in den Provinzen. . . b) Coll. 1, 3, 2: Interpretation Ulpians . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entwicklung der Lex Cornelia zum allgemeinen Gesetz über Totschlag. Die hadrianischen Reskripte zum Willenselement . . . aa) Coll. 1, 6: Das Willenselement beim Totschlag . . . . . . . . . . . (1) Formale Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Inhaltliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Coll. 1, 11: Fahrlässige Tötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Inhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erstreckung der Lex Cornelia auf neue Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) D. 48, 8, 4 § 2: Kastrationsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Entwicklung des Kastrationsverbotes vor Hadrian . . . . . (2) Neuerungen Hadrians zum Kastrationsverbot. . . . . . . . . . (3) Verfahrensrechtliche Besonderheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) D. 48, 6, 6: Raub eines freien Jünglings . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis e) Coll. 15, 2: De mathematicis et vaticinatoribus . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Coll. 15, 2, 1: Grundlage und Ausgangspunkt der Strafbarkeit der Astrologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Coll. 15, 2, 2: Bloße Kennerschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Coll. 15, 2, 3: Ausgestaltung der Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . dd) Coll. 15, 2, 3a bis 6: Strafbarkeit der Seher (vaticinatores) . . f) D. 48, 8, 4 pr.: Justizmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Palingenetische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entwicklung der Tatbestände zum Justizmord . . . . . . . . . . . . . cc) Die Aussage Ulpians . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) D. 47, 9, 12 und Coll. 12, 5: De naufragiis et incendiariis . . . . . . aa) D. 47, 9, 12 pr.: Einsammeln schiffbrüchigen Gutes. . . . . . . . bb) Coll. 12, 5, 1 (D. 47, 9, 12 § 1): Brandstiftung . . . . . . . . . . . . cc) Coll. 12, 5, 2: Unvorsätzliche Brandstiftung . . . . . . . . . . . . . . . 4. D. 48, 9, 6: Lex Pompeia de parricidiis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sitz des Fragments im ulpianischen Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lex Cornelia testamentaria nummaria. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 10, 9 pr. bis § 2: Geldfälschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Coll. 8, 7/D. 48, 10, 9 § 3: De poena legis Corneliae testamentariae – Erweiterungen der Lex Cornelia durch SCa. . . . c) D. 48, 10, 9 § 4: Erstreckung des SC Messalianum auf mittelbare Anzeigen in Fiskalsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ad legem Iuliam de vi publica et privata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 6, 7: Grenzen der coercitio gegen römische Bürger . . . . . . b) Coll. 9, 2: Ausschluss vom Zeugnis und Zeugnisverweigerungsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zeugenaussagen und peinliche Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einstiger Ort der Fragmente im achten Buch de officio proconsulis. 2. Gemeinsame Behandlung von Zeugenaussage und peinlicher Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. D. 22, 5, 19: Zeugnisverweigerungsrecht und Ausschluss vom Zeugnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. D. 48, 18, 1: Zeugenbefragung unter Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 18, 1 pr. bis § 4: Allgemeine Regeln zur Befragung unter Folter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) D. 48, 18, 1 §§ 5 bis 10: Folterverbot bei Nähe zum Angeschuldigten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) D. 48, 18, 1 §§ 11 bis 15: Grenzfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) D. 48, 18, 1 §§ 16 bis 20: Bewertung und Verwertung von Aussagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) D. 48, 18, 1 §§ 21 u. 22: Art und Weise der Befragung unter Folter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 188 192 194 195 198 199 199 201 202 203 207 209 210 210 211 214 215 217 221 222 223 231 234 234 236 237 239 240 242 247 249 253

Inhaltsverzeichnis f) D. 48, 18, 1 §§ 23 u. 24: Glaubwürdigkeit von Aussagen unter Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) D. 48, 18, 1 §§ 25 bis 27: Allgemeine Glaubwürdigkeitskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Straftaten grundsätzlich ohne kapitale Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Coll. 3, 3: De dominorum saevitia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. D. 47, 11, 6: Dardanarii und andere Gefährdungen der annona . . . . 3. D. 47, 20, 3: Stellionat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Coll. 13, 3: De termino moto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Diebstahl und verwandte Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Coll. 7, 4/D. 47, 17, 1: De furibus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) De abigeis: Viehdiebstahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Coll. 11, 7 (§ 1 = D. 47, 14, 1 pr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Coll. 11, 8 (= D. 47, 18, 1 §§ 1 bis 3). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) D. 47, 14, 1 § 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) D. 47, 18, 1: Expilatores und effractores. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) D. 47, 11, 7: Saccularii und derectarii. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) D. 47, 19, 2: Crimen expilatae hereditatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. D. 37, 14, 1: Undankbare Freigelassene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Leichtere Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. D. 47, 15, 2 und 48, 3, 4: Prozessdelikte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 47, 15, 2: Praevaricatores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) D. 48, 3, 4: Unzuverlässige Gestellungsbürgen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lex Iulia de annona und Lex Fabia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) D. 48, 12, 2: Lex Iulia de annona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Coll. 14, 3 und D. 48, 15, 2: Ad legem Fabiam . . . . . . . . . . . . . . . aa) Coll. 14, 3, 1 bis 4: Probleme der gerichtlichen Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Coll. 14, 3, 4 und 5: Tatbestand der Lex Fabia . . . . . . . . . . . . cc) D. 48, 15, 2: Senatsbeschluss über abwesende fugitivi . . . . . VII. Weitere Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. D. 47, 11, 8: Verrat von fremden Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. D. 47, 11, 9: Skopelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. D. 47, 11, 10: Schutz des Bewässerungssystems in Ägypten . . . . . . .

13

254 255 256 256 261 266 270 273 273 277 277 279 282 283 286 288 290 294 294 294 296 297 297 299 299 303 305 307 308 308 309

C. Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Verzeichnis der Abkürzungen und Zeichen ad h. l. AE a. E. AHDE ANRW

Apg. ArchGiur Bas. BGU BIDR CIL CJ col. Coll. CTh D. Dess. d.h. DNP FIRA Fn. Frg. Vat. HA HE HLL Hrsg. IG Ind. itp. Inst.

ad hoc locum L’Année Épigraphique. Revue des publications épigraphiques relatives à l’antiquité romaine, 1889 ff., Paris am Ende Anuario de historia del derecho español, 1924 ff., Madrid Temporini, Hildegard/Haase, Wolfgang (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, 1972 ff., Berlin Apostelgeschichte Archivio giuridico (Filippo Serafini), 1858 ff., Bologna-Modena Basilica Ägyptische Urkunden aus den Museen zu Berlin, Griechische Urkunden Bullettino dell’Istituto di Diritto romano (Vittorio Scialoja), 1888 ff., Roma-Milano Corpus inscriptionum Latinarum Codex Justinianus (Corpus Iuris Civilis II) columna Collatio legum Mosaicarum et Romanarum Codex Theodosianus (Theodosiani libri XVI) Digesta (Corpus Iuris Civilis I) Dessau, Hermann: Inscriptiones Latinae selectae das heißt Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hrsg).: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 1996 ff., Stuttgart-Weimar Fontes iuris Romani anteiustiniani Fußnote Fragmenta iuris Vaticana Historia Augusta (Scriptores historiae Augustae) Historia ecclesiastica Herzog, Reinhart/Schmidt, Peter Lebrecht (Hrsg.): Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, 1989 ff., München Herausgeber Inscriptiones Graecae Index interpolationum. Quae in Iustiniani Digestis inesse dicuntur (ed. L. Mitteis; E. Levy), 1929 ff., Weimar Institutiones (Corpus Iuris Civilis I)

Verzeichnis der Abkürzungen und Zeichen IURA JRS m. w. N. Nov. n. s. OSS

PIR P.Oxy. pr. PS RAC

RE

RHDFE RIDA SC/SCa SDHI s. o. s. u. SZ ThLL TR VIR z. B. ZPE

[] (. . .)

15

Iura. Rivista internazionale di Diritto romano ed antico, 1950 ff., Napoli Journal of Roman Studies, 1911 ff., London mit weiteren Nachweisen Novellae (Corpus Iuris Civilis III) nova series Otto, Carl Eduard/Schilling, Bruno/Sintenis, Carl Friedrich Ferdinand (Hrsg.): Das Corpus iuris civilis. In’s Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, 1830 ff., Leipzig Prosopographia imperii Romani saec. I. II. III., 1897/98; 2 :1933 ff., Berlin The Oxyrhynchus papyri principium Sententiae Pauli (Sententiarum receptarum ad filium libri V) Klauser, Theodor/Dassmann, Ernst/Schöllgen, Georg (Hrsg.): Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, 1950 ff., Stuttgart Wissowa, Georg/Kroll, Wilhelm/Mittelhaus, Karl/Ziegler, Konrat (Hrsg.): Paulys Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 1894 ff., Stuttgart (Nouvelle) Revue historique de droit français et étranger, 1870 ff., Paris Revue internationale des Droits de l’Antiquité, 1948 ff., Bruxelles Senatusconsultum/Senatusconsulta Studia et Documenta Historiae et Iuris, 1935 ff., Roma siehe oben siehe unten Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung, 1880 ff., Wien-Köln-Weimar Thesaurus Linguae Latinae, 1900 ff., Leipzig Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, 1918 ff., Haarlem-Groningen-Leiden Vocabularium iurisprudentiae Romanae, 1903 ff., Berlin zum Beispiel Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik, 1967 ff., Bonn Ergänzungen des überlieferten Textes Streichung überlieferten Textes Weggelassener Text

A. Einleitung „Die Strafrechtspflege in den römischen Provinzen ist ein dunkles Kapitel der Rechtsgeschichte.“ Diese Worte Bleickens aus dem Jahr 19621 beschreiben treffend, wie viel schlechter wir im Vergleich zum römischen Zivilrecht das Strafrecht kennen. Es wurde in der modernen Forschung vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Die vorliegende Arbeit beleuchtet einen bestimmten Bereich des „dunklen Kapitels“ des römischen Strafprozess- und materiellen Strafrechts. Den Mittelpunkt bildet die Untersuchung und Rekonstruktion der Bücher sieben bis neun de officio proconsulis Ulpians. In diesem Rahmen sollen Entwicklungen des römischen Strafrechts der Kaiserzeit in den römischen Provinzen bis zur Abfassung des ulpianischen Werks, d.h. vom 1. bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr., auch und gerade im Hinblick auf die Einflüsse der Rechtswissenschaft, dargestellt werden. Diese Vorgehensweise ist neu. Während bislang entweder das gesamte römische Strafrecht in seinen großen Linien behandelt wurde2 oder das Werk Ulpians für sich, meist unter formalen Gesichtspunkten mit bloßen Inhaltsangaben3, soll nunmehr versucht werden, anhand der strafrechtlichen Fragmente in Ulpians Werk das prozessuale und materielle Strafrecht der Provinzen im Verlauf der hohen Kaiserzeit darzulegen. Diese wechselseitige Bezugnahme wird zu neuen Erkenntnissen zum Aufbau des ulpianischen Werks und zum Inhalt strafrechtlicher Institutionen führen. 1

Senatsgericht, S. 166. Grundlegend – noch immer – Mommsen, Röm. Strafrecht, 1899 (zu Recht kritisch Liebs, Mommsens Umgang, S. 200 ff.; speziell zur Strafgewalt der Provinzstatthalter Kirner, Strafgewalt, S. 30 ff.); aus dem italienischen Sprachraum Ferrini, Diritto penale romano. Esposizione storica e dottrinale, in: Enciclopedia di Diritto, 1902, als selbständige Schrift 1976 wieder aufgelegt. Aus neuerer Zeit Santalucia, Diritto e processo penale nell’antica Roma, 2. Aufl. 1998, und Pugliese, Linee generali dell’evoluzione del diritto penale pubblico durante il principato, in: ANRW II.14, 1982, S. 722 ff. 3 Erstmals Rudorff, Über den liber de officio proconsulis, in: Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, 1865, S. 233 ff., mit Versuch einer Palingenesie S. 284 ff. Grundlegende Palingenesie bei Lenel, Pal. II, 1889, col. 966 ff. Am umfangreichsten Dell’Oro, I libri de officio nella giurisprudenza romana, 1960, S. 113 ff., jedoch in großen Teilen nur Übersetzung der Texte ins Italienische. Aus neuerer Zeit Mantovani, Il bonus praeses secondo Ulpiano. Studi su contenuto e forma dei libri de officio proconsulis, in: BIDR 96/97, 1993/94, S. 203 ff. m. w. N., ebenso Liebs, HLL 4 (1997) § 424.14, S. 181 f. 2

18

A. Einleitung

Vor diesem Hauptteil der Untersuchung ist kurz auf Autor und Werk, seine Überlieferung, die mutmaßlichen Adressaten und den Inhalt der nicht näher untersuchten Texte einzugehen.

I. Der Autor: Ulpian Domitius Ulpianus4, vielleicht mit vollem Namen Gnaeus Domitius Annius Ulpianus, wenn er nämlich mit dem Eigentümer der Villa in Centumcellae zu identifizieren ist5, wurde um 170 n. Chr.6 im syrischen Tyrus, dem heutigen Sur im Libanon, geboren.7 Von 205 bis 209 n. Chr. lässt sich der Jurist als (procurator) a libellis, d.h. als Libellsekretär zur Beantwortung von Anfragen Privater, nachweisen; faktisch formulierte er die Privatreskripte schon unter Aelius Coeranus, anscheinend dem Nachfolger von Papinian in diesem Amt.8 Nachdem er Septimius Severus nach Britannien begleitet hatte, ließ Ulpian sich nach dessen Tod und der constitutio Antoniniana im Jahr 212 n. Chr. in Rom nieder, um von 213 bis 217 n. Chr. fast sein gesamtes Werk von über 200 libri zu verfassen.9 In der Folgezeit wird er als praefectus annonae und praefectus praetorio erwähnt. In diesem Amt wird er, wohl 223 oder 224 n. Chr.10, bei einer Meuterei der Palastgarde ermordet.

4 Der Gentilname Domitius wird häufig erwähnt, vgl. nur D. 19, 1, 43 (Paulus, 5 quaest.); 27, 1, 13 § 2 (Modestin 1 excus.); Laktanz, Div. inst. 5, 11, 19; CJ 8, 37, 4; 4, 65, 4 § 1 (jeweils Alexander Severus, 222 n. Chr.) und insbesondere die berühmte Inschrift von Tyrus in AE 1988, 1051. 5 Vgl. CIL XI 3587 = XV 7773. Zu der genannten Lesart Honoré, S. 9. 6 So Liebs, HLL 4 (1997) § 424, S. 176. 7 Vgl. wiederum die Inschrift AE 1988, 1051, ferner D. 50, 15, 1 pr. (Ulpian, 1 cens.); 48, 22, 7 § 15 (Ulpian 10 de off. proc.). 8 Vgl. ausführlich Honoré, Ulpian, S. 18 ff. m. w. N.; Ders., Emperors, S. 81 ff.; Liebs, HLL 4 (1997) § 424, S. 176. 9 So Honoré, Ulpian, S. 22 ff. 10 Dieses Datum präferieren Honoré, Ulpian, S. 32; Liebs, HLL 4 (1997) § 424, S. 177. Unterstützung erhält diese These vor allem durch P. Oxy. 1966 Nr. 2565: Epagathus, der für den Fall Ulpians verantwortlich gemacht wurde, wird dort für Mai/Juni 224 n. Chr. als Präfekt von Ägypten nachgewiesen. Dieses Amt bekleidete er nach dem Tod Ulpians. Für 228 n. Chr. auf der Grundlage von Dio 80, 4, 2, welche Stelle im Zusammenhang mit dem Konsulat Dios im Jahr 229 n. Chr. steht, weiterhin Bauman, The death, S. 385 ff.

II. Das Werk de officio proconsulis

19

II. Das Werk de officio proconsulis 1. Mit den Zivilrechts-Kommentaren zum Edikt und ad Sabinum bildet de officio proconsulis für den Bereich des Strafrechts den Höhepunkt des literarischen Schaffens Ulpians.11 Bedeutung und Beliebtheit dieses ulpianischen Werks zeigen sich darin, dass es im Vergleich zu den beiden anderen bekannten Werken über die Befugnisse des Prokonsuln von Venuleius Saturninus12 und Paulus13 überhaupt oft zitiert und in den Digesten gründlich ausgewertet ist: 75 Fragmente14 sind erhalten, davon 42 aus den das Strafrecht betreffenden Büchern sieben bis zehn, diese meist in den so genannten libri terribiles15 47 und 48 der Digesten. Auch im Übrigen wurde das Werk häufig benutzt: In der Collatio16 vom Ende des 4. Jahrhunderts sind 13 Fragmente überliefert, die alle aus dem strafrechtlichen Teil de officio proconsulis stammen; ein Text in den Fragmenta Vaticana17 und eine Angabe bei Laktanz.18 Auf de officio proconsulis Bezug nehmen ferner eine Inschrift aus Ephesus um 300 n. Chr.19 und acht Auszüge des lateinisch-griechischen Glossars des Pseudo-Philoxenus.20 Insgesamt umfasst das Werk in Lenels Palingenesie gut 25 Spalten bzw. 1500 Zeilen, wobei auf das Strafrecht 19 Spalten mit etwa 1100 Zeilen entfallen. Das bedeutet im Bereich des römischen Strafrechts die umfangreichste Überlieferung einer sich diesem Thema widmenden Juristenschrift.21 11 In diesem Sinne bereits Rudorff, Über den liber, S. 258 ff. Vgl. auch Mantovani, Il bonus praeses, S. 205; Dell’Oro, I libri, S. 208. 12 Zu diesem Werk, das 4 libri umfasste und um 160 n. Chr. verfasst wurde, Liebs, HLL 4 (1997) § 419.5, S. 135. In den Digesten sind 8 Fragmente erhalten, die bei Lenel, Pal. II, col. 1216 insgesamt 38 Zeilen umfassen. 13 Das in 2 libri konzipierte Werk wurde nach 210 n. Chr. niedergeschrieben, vgl. Liebs, HLL 4 (1997) § 423.71, S. 170. Die justinianischen Kompilatoren haben 5 kurze Fragmente bewahrt, die bei Lenel, Pal. I, col. 1145 15 Zeilen umfassen. 14 Liebs, Gemischte Begriffe, S. 148 f. zählt noch D. 2, 1, 3, das unter dem Titel de officio quastoris geführt wird, hinzu. 15 Begriff aus Const. Tanta § 8a. 16 Zu ihr u. B. III. 3. vor a). 17 Frg. Vat. 119 aus Buch 2. 18 Zu ihm ausführlich u. B. I. 4. 19 AE 1966, 436. Rekonstruktion des Textes von Schönbauer, Drei interessante Inschriften, S. 108 ff. 20 In: Corpus Glossariorum Latinorum, Bd. II: Glossae latinograecae et graecolatinae S. 9, Z. 20; S. 14, Z. 48; S. 18, Z. 52; S. 19, Z. 1; S. 22, Z. 29; S. 28, Z. 53; S. 40, Z. 46; S. 42, Z. 7. Zur Zuordnung dieser Auszüge zum ulpianischen Werk ausführlich Rudorff, Über den liber, S. 235 ff.

20

A. Einleitung

2. Die Authenzität des Werkes wird in der modernen Forschung kaum mehr angezweifelt.22 Für die Entstehungszeit von de officio proconsulis ist terminus ante quem der Tod Caracallas am 8. April 217 n. Chr.23 In allen Konstitutionen dieses Kaisers, die Ulpian zitiert, wird er als lebend bezeichnet.24 Auf einen terminus post quem führt eine Konstitution aus dem dritten Buch de officio proconsulis: D. 50, 2, 3 § 1: (. . .) Imperator enim Antoninus edicto proposito statuit, ut cuicumque aut quacumque causa ad tempus ordine vel advocationibus vel quo alio officio fuisset interdictum, completo tempore nihilo minus fungi honore vel officio possit.

Ein Ausschnitt aus diesem Edikt begegnet auch in CJ 10, 61, 1, wo es in der Inskription genau datiert ist: auf den 11. Juli 212 n. Chr.; erst danach hat Ulpian obigen Text verfasst. Honoré geht noch einen Schritt weiter, indem er aufgrund des von ihm unternommenen Stilvergleichs und seiner Analyse der kaiserlichen Betitelungen im Werk eine Zuordnung zum Jahr 213 n. Chr. vornimmt.25 Aber auch wenn man dieser Feindatierung nicht folgen will26, bleibt der Zeitraum doch eng begrenzt: zwischen Mitte Juli 212 und Anfang April 217 n. Chr., also gut viereinhalb Jahre, innerhalb deren Ulpian das Werk abgefasst hat. 3. Die Adressaten des Werkes erscheinen auf den ersten Blick klar: Ein Werk de officio proconsulis kann sich nur an die Prokonsuln gerichtet haben, d.h. die Statthalter der senatorischen Provinzen, im Gegensatz zu den legati Augusti pro praetore, den Vorstehern der kaiserlichen Provinzen.27 Auffällig ist jedoch, dass in den Büchern 7 bis 10 sich fast ausschließlich der allgemeine Begriff praeses28 findet und nur vereinzelt proconsul, ferner Reskripte enthalten sind, die explizit an Statthalter kaiserlicher Provinzen 21 Marotta, Ulpiano e l’Impero II, S. 193 meint, von de officio proconsulis seien insgesamt nur etwa 5 % überliefert. Dabei handelt es sich um die durchschnittliche Exzerptionsquote der Kompilatoren, die in unserem Fall jedoch bei weitem überschritten ist. 22 Statt aller Schulz, Geschichte, S. 313, der trotz des im Vergleich zu anderen Werken Ulpians abweichenden Stils, entgegen Felgentraeger, Literatur zur Echtheitsfrage, S. 371 unter Verweis auf Beseler, eine tiefgreifende Umformung für wenig wahrscheinlich hält, und Honoré, Ulpian, S. 114 f., der anhand seiner stilvergleichenden Methode auch zu Echtheit von Texten mit praeses kommt, die Schulz noch verneint hatte. 23 Zum Datum Kienast, Röm. Kaisertabelle, S. 163. 24 Vgl. die Übersicht bei Honoré, Ulpian, S. 181 f. 25 Ulpian, S. 181 ff., insbes. S. 184. 26 Sehr kritisch gegenüber Honoré beispielsweise Mantovani, Il bonus praeses, S. 263 ff. 27 Diese Aufteilung geht auf eine Reform des Augustus aus dem Jahr 27 v. Chr. zurück. Vgl. den Bericht bei Cassius Dio 53, 12.

III. Überblick über den Inhalt der nicht untersuchten Texte

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gerichtet waren29, und sogar Bestimmungen wie die zum Skopelismus und zur Beeinträchtigung der Nildämme, die nur in kaiserlichen Provinzen Anwendung fanden. Diese Häufung von Abweichungen ist zu auffällig, um alle Texte, die nicht zum Titel des ulpianischen Werks zu passen scheinen, als interpoliert anzusehen. Vielmehr ist anzunehmen, wie auch Mantovani30 in seiner umfassenden Untersuchung zu dieser Fragestellung entwickelt hat, dass Ulpian bewusst, jedenfalls im Bereich des Strafrechts, eine allgemeine Rechtsgrundlage für die Vorsteher aller Provinzen schaffen wollte. Die Wahl des dann eigentlich zu engen Buchtitels mag zum einen traditionelle Gründe gehabt haben, da schon Venuleius Saturninus diesen Titel verwendet hatte. Andererseits wurden zu Beginn des Werkes bei den allgemeinen Pflichten und Befugnissen wirklich nur die Prokonsuln angesprochen. Wegen ihrer besonderen Stellung gegenüber den kaiserlichen Legaten, insbesondere weil sie nicht an Weisungen gebunden waren, gab es trotz Annäherung der beiden Statthaltertypen weiterhin Unterschiede.31 Jedenfalls im Bereich des Strafrechts wandte Ulpian sich also nicht nur an die Statthalter der senatorischen Provinzen, sondern entwickelte allgemeine Regeln für alle Provinzen unter Heranziehung von kaiserlichen Bestimmungen für beide Provinzarten. Auch diese, vielleicht erstmals durch Ulpian vorgenommene Zusammenführung der Provinzen rechtfertigt es, zur Untersuchung des römischen Strafrechts von de officio proconsulis auszugehen.

III. Überblick über den Inhalt der nicht untersuchten Texte Eingerahmt wird de officio proconsulis in D. 1, 16, 4 pr. bis § 5 und D. 1, 16, 10 mit Regelungen zur Ankunft in und Abreise aus der Provinz. Dies zeigt, dass Ulpian in diesem Werk besonders auf die Praxis zielte. Der Statthalter sollte von Beginn bis Ende seines Aufenthaltes alle für ihn wichtigen Regelungen erfahren, weshalb das Werk auch als „Handbuch des guten 28 Zu der allgemeinen Bedeutung von praeses insbes. D. 1, 18, 1 (Macer 1 de off. praes.): Praesidis nomen generale est eoque et proconsules et legati Caesaris et omnes provincias regentes, licet senatores sint, praesides appellantur: proconsulis appellatio specialis est. 29 Vgl. die umfassende Aufzählung bei Mantovani, Il bonus praeses, S. 237 ff. 30 Il bonus praeses, S. 217 ff. 31 Vgl. zu dieser auch von Ulpian beachteten Abgrenzung D. 1, 16, 9 § 6 aus dem 2. Buch, wo er im Zusammenhang mit Anhörungen durch den Prokonsul eigens feststellt: Quae etiam omnium praesidum communia sunt et debent et ab his observari.

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A. Einleitung

Statthalters“ bezeichnet wird.32 Dann aber musste das Werk auch eine klare Systematik bieten, so dass der Statthalter schnell eine Antwort auf ihn interessierende Fragen finden konnte. Bei der Untersuchung der Bücher 7 bis 9 wird sich diese Zielsetzung verifizieren lassen, während zu den Büchern 1 bis 6, aus denen nur wenige Fragmente erhalten sind, nur Mutmaßungen möglich sind. Ulpian lässt in Buch 1 auf die Ankunft die Übertragung der Gerichtsbarkeit auf die Legaten und die Grenzen der Übertragbarkeit folgen.33 Diese Delegation der iurisdictio bestimmt auch die weiteren in de officio proconsulis behandelten Materien. Nur solche werden behandelt, die nicht auf die Legaten übertragen werden können; und dazu gehört das Strafrecht. Dadurch erklärt sich auch, dass aus dem Bereich des Zivilrechts nur Randmaterien erwähnt wurden: der Zivilprozess mitsamt Formularverfahren war hauptsächlich Sache der Legaten. Insgesamt behandelte Ulpian also nur Materien, die vom Statthalter im außerordentlichen Verfahren, der cognitio extra ordinem, durchzuführen waren.34 Diese Erkenntnis ist bei der Untersuchung und Bewertung des strafrechtlichen Abschnitts des ulpianischen Werkes immer wieder zu berücksichtigen. Im Ablauf des Werkes folgen bis in Buch 2 Verhaltensregeln in der Provinz, die sich im Rahmen von lange dauernden Gewohnheiten gebildet haben35, und allgemeine Grundsätze der vom Statthalter auszuübenden Rechtsprechung.36 Bereits hier wird die Strafrechtsprechung pro tribunali von der de plano abgegrenzt37 und wird der Anklagegrundsatz festgehalten.38 Buch 3 beginnt mit tutela und cura39 und geht dann über in einen bis Buch 6 einschließlich reichenden Abschnitt über Gemeindeaufsicht und Munizipalrecht. Wie erneut Mantovani40 ausführlich nachgewiesen hat, sind 32

Erstmals Talamanca, Gli ordinamenti, S. 130. D. 1, 16, 4 § 6; 1, 16, 6 pr. – § 2. 34 In diesem Sinne auch Liebs, Rez. Bonini, S. 262 u. Fn. 42, der aber meint, die Materie der iudicia publica sei der cognitio extra ordinem ab Buch 8, 2. Viertel „merkwürdigerweise vorangestellt“. Diese Anordnung zeigt jedoch nur, dass auch die Straftaten der iudicia publica mittlerweile in der cognitio extra ordinem des Statthalters verhandelt wurden. Die prozessualen Regeln in Buch 7 galten mittlerweile für alle Straftaten. Unrichtig Dell’Oro, I libri, S. 207 u. S. 210, der das Zivilrecht zu stark betont. In diesem Sinne auch Talamanca, Gli ordinamenti, S. 130 Fn. 98; Mantovani, Il bonus praeses, S. 211. 35 Ausgangspunkt evtll. D. 1, 3, 33. Hierher gehören dann D. 1, 16, 6 § 3 über Gastgeschenke und D. 1, 16, 7 pr. – § 1 über das Bereisen der Provinz. 36 D. 1, 16, 7 § 2; 1, 16, 9; 27, 1, 25; 48, 2, 6; 4, 4, 42; 40, 13, 1;47, 1, 3; 48, 3, 1. 37 D. 1, 16, 9 § 3; 48, 2, 6. 38 D. 47, 1, 3. 39 D. 26, 5, 12; 27, 2, 5; 27, 9, 11. 33

III. Überblick über den Inhalt der nicht untersuchten Texte

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auch die das Zivil- und Strafrecht betreffenden Fragmente in Buch 5 und 6 mit der lex municipalis zusammenzubringen, dem abstrakt verstandenen Gemeinderecht, auf das der Statthalter in bestimmten Bereichen Einfluss ausüben konnte. Nach dem im Hauptteil untersuchten Abschnitt über das prozessuale und materielle Strafrecht folgt in Buch 9 und 10 noch ein breiter Abschnitt zu den strafrechtlichen Sanktionen.41 Eine genaue Untersuchung dieses Teils hätte den Umfang der vorliegenden Arbeit gesprengt, auf einzelne der dortigen Passagen wird aber immer wieder im Rahmen der detaillierten Untersuchung von Buch 7 bis 9 eingegangen werden. Mit Hilfe von Ulpians Werk sollte der Statthalter einen Überblick über die Verwaltung der Provinz und die von ihm wahrzunehmenden Rechtsprechungsmaterien erhalten. So sollte er in die Lage versetzt werden, anstehende Fragen und Probleme rechtlich richtig zu lösen.

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Il bonus praeses, S. 207 ff. D. 48, 9, 6; 48, 9, 8; 48, 22, 6; 48, 24, 1; 48, 22, 7; 48, 22, 9; 48, 22, 11; 48, 19, 9; 48, 20, 6. 41

B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9 de officio proconsulis I. Allgemeine Befugnisse zur Sicherung einer pacata atque quieta provincia 1. D. 1, 18, 13 pr.: Umfassende strafrichterliche Kompetenz des Statthalters42 Congruit bono et gravi praesidi 43 ut pacata atque quieta provincia sit quam regit. quod non difficile obtinebit, si sollicite agat ut malis hominibus provincia careat eosque conquirat; nam et sacrilegos latrones plagiarios fures conquirere debet et prout quisque deliquerit in eum animadvertere, receptoresque eorum coercere, sine quibus latro diutius latere non potest.44

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Lenel, Pal. II, col. 973 vermutet bei diesem Fragment den Titel de disciplina publica, während Rudorff, Über den liber, S. 293 keinen Titel angibt (entgegen der Anführung von Dell’Oro, I libri, S. 145); beide gehen aber davon aus, dass die Fragmente D. 1, 18, 13 pr., 1, 18, 13 § 1 und 11, 4, 3 am Beginn von Buch 7 standen. Irrig dagegen die Anführung von D. 2, 12, 9 bei Rudorff, Über den liber, S. 293, welches Fragment sich besser unter die Rubrik de custodia reorum stellen lässt (s. dort). Marotta, Multa, S. 255 f. geht davon aus, dass es sich um einen Obertitel handelt, unter den nach D. 1, 18, 13 pr. die Fragmente über das sacrilegium (D. 48, 13, 7), die Christen (aus Laktanz div. inst. 5, 11, 19) und die mathematici et vaticinatores (Coll. 15, 2) einzuordnen seien, vor allem weil Ulpian das in Form eines Mandats angeordnete allgemeine conquirere sacrilegos latrones plagiarios et fures mit konkreten Regelungen hätte anreichern wollen. Dagegen ist einzuwenden, dass nicht klar wird, warum Ulpian bei solch einer Gliederungsabsicht nicht auch die Regelungen über das plagium (Buch 9) und den Diebstahl (Buch 8) an dieser Stelle behandelt hat. Zum anderen ist es wahrscheinlicher, dass das sacrilegium im Rahmen der Gesetze der iudicia publica behandelt wurde, und zwar dort an erster Stelle, wie D. 48, 4, 1: proximum sacrilegio crimen est, quod maiestatis dicitur, deutlich macht, vgl. u. III. 2. a). 43 Solazzi, Note, S. 234 Fn. 17 und ihm folgend Balzarini, In tema, S. 233 Fn. 95 wollen praesidi durch proconsuli ersetzen, allerdings nur aufgrund des Werktitels des Fragments; dieser fordert aber keine durchgängige Ersetzung von praeses, s. o. A. II. 3. 44 Der Text wird allgemein als echt angesehen. – In der Folge wird bei der Untersuchung der einzelnen Texte von ihrer Echtheit ausgegangen und nur bei substantiierten Hinweisen auf Interpolationen oder Ausfälle dazu Stellung genommen. Bei der Wiedergabe von Inschriften wird das Leidener Klammersystem angewendet.

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a) Sicherung von Ruhe und Ordnung in der Provinz als Rechtsgrundlage des Strafrechts Dem bonus et gravis praeses war zur Sicherung von Ruhe und Ordnung der von ihm verwalteten Provinz die Verpflichtung zur Verfolgung von Übeltätern auferlegt, damit aber auch gleichzeitig seine allgemeine Zuständigkeit zur Strafverfolgung festgelegt worden. Zwei Texte von Marcian und Paulus besagen das Gleiche: D. 48, 13, 4 § 2 (Marcian 14 inst.): Mandatis autem cavetur de sacrilegis, ut praesides sacrilegos latrones plagiarios conquirant et ut, prout quisque deliquerit, in eum animadvertant. D. 1, 18, 3 a. E. (Paulus 13 ad Sab.): Nam et in mandatis principum est, ut curet is, qui provinciae praeest, malis hominibus provinciam purgare (. . .).

Alle zusammen legen nahe, dass es sich bei der von Ulpian genannten Vorschrift um ein caput mandatorum handelte.45 Dieses war dem so genannten liber mandatorum entnommen worden, einem Handbüchlein, das den Statthaltern vor ihrer Einreise in die Provinz übergeben wurde und worin allgemeine Pflichten zur Amtsführung, teilweise auch nicht-juristischer Art, aufgeführt waren.46 Die in den Texten aufscheinende Verbindung zwischen dem Aufspüren von Übeltätern (conquirere) und der daraufhin zu erfolgenden Bestrafung je nach Art der Tat (animadvertere, punire) zeigt die umfassende Kompetenz des Statthalters auf dem Gebiet des Strafrechts, als deren Rechtsgrundlage seine Aufgabe, Sicherheit und Ordnung in der Provinz zu gewährleisten, genügte. Sie zog ein schrankenloses Befassungsrecht des Statthalters im Bereich des Strafrechts nach sich.47 Das ermöglichte es, auch neue Entwicklungen strafwürdigen Verhaltens wahrzunehmen und zu ahnden.

45 So schon Balzarini, In tema, S. 233 Fn. 96. Nun auch Marotta, Mandata, S. 162 Fn. 88, der als weitere Belegstellen Tertullian, Apol. 2, 14; ad Scap. 4, 2 anführt. 46 Vgl. dazu ausführlich Marotta, Mandata, S. 71 ff. und Ders., Multa, S. 10 ff. Erstmalig erwähnt wird der Ausdruck bei Lukian, pro lapsu 13. Kirner, Strafgewalt, S. 69 und öfter bei der Behandlung der statthalterlichen Strafpraxis in Judäa anhand der Werke Flavius Josephus’, hat sicher Recht, wenn er der Persönlichkeit des Statthalters eine entscheidende Rolle bei der jeweiligen Reaktion im strafrechtlichen Bereich zuweist. Die völlige Abkoppelung von Rechtsvorschriften ist m. E. aber nicht vertretbar. 47 So auch für die Provinz Judäa im 1. Jh. n. Chr. Kirner, Strafgewalt, S. 51; S. 69.

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

b) Zusammenhang mit der coercitio? Die angeführten Befugnisse des Statthalters scheinen auf das aus seinem imperium fließende Recht zur coercitio zu verweisen. Diese umfasste am Ende der Republik auch das unmittelbare, dem Ermessen überlassene Einschreiten des Magistrats, um akuten Störungen von Ruhe und Ordnung in der Provinz abzuhelfen.48 Jedoch ist die Koerzition immer in Abgrenzung zur eigentlichen Strafjustiz der Geschworenengerichte betrachtet worden49, eine Unterscheidung, die sich im Laufe des Prinzipates in den Provinzen aufgelöst hat. Wie aus der folgenden Untersuchung der dem Strafrecht gewidmeten Bücher im Werk de officio proconsulis hervorgehen wird, lag die Befugnis zur justiziellen Ahndung von Straftaten nun allein in der Hand des Statthalters, ohne dass der Spruch einer Geschworenenbank nötig gewesen wäre. Diese richterliche Kompetenz konnte sich ohne weiteres aus dem bereits vorhandenen Koerzitionsrecht des Statthalters entwickeln; und die Verwendung des Begriffs coercere im 2. und 3. Jh. n. Chr. bei den Juristen für die Verhängung von Kriminalstrafen nach einem regulären Strafprozess50 scheinen diese Entwicklung zu bestätigen. Die in der Provinz durchgeführte cognitio extra ordinem in Strafsachen war ein reguläres gerichtliches Verfahren, das vom Statthalter persönlich geleitet und entschieden wurde. Die wiedergegebene Ulpian-Passage muss also einen anderen Hintergrund gehabt haben, nicht nur die Koerzitionsbefugnis des Statthalters. Dies zeigt sich im Übrigen auch bei Betrachtung von Inhalt und Einordnung des Mandates in das ulpianische Werk: So geht die Strafbefugnis mit dem umfassenden Begriff animadvertere51 viel weiter als die im Rahmen der coercitio zugelassenen Maßnahmen.52 Auf den Bereich der Strafjustiz weisen auch die beispielhaft aufgezählten Tätergruppen der sacrilegi, plagiarii und fures hin, werden sie doch alle in der Folge bei Betrachtung der einzelnen Tatbestände noch einmal genannt.53 Das bedeutet, dass es 48

Vgl. Kunkel/Wittmann, Staatsordnung, S. 175. So sehr klar Kunkel/Wittmann, Staatsordnung, S. 174, vor allem gegen Mommsen, Strafrecht, S. 142, der nicht klar zwischen Koerzition und Strafjustiz unterscheidet. 50 Vgl. die Nachweise bei Kunkel/Wittmann, Staatsordnung, S. 151 Fn. 193. 51 Animadvertere ist im Übrigen nach Brasiello, La repressione, S. 223 ff. der typische Ausdruck für die repressive Tätigkeit des Statthalters, allerdings nicht nur der außerordentlichen, sondern auch der ordentlichen der iudicia publica, wie hier in Bezug auf das plagium und in D. 48, 24, 1 in Bezug auf das Majestätsverbrechen, vgl. Spagnuolo-Vigorita, Imperium mixtum, S. 143 Fn. 47. 52 Vgl. nur Cicero de leg. III, 3, 6. 53 Sacrilegium u. III. 1. a); plagium u. VI. 2. b); furtum u. V. 4. a). 49

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auch hier um die Verfolgung von in der Vergangenheit liegenden, bereits begangenen Straftaten geht, nicht hauptsächlich um administrativ-polizeiliche Tätigkeit. Die Nennung der Tätergruppen hat andere Gründe.54 Ein Fragment aus dem zweiten Buch de officio proconsulis spricht für Einordnung von D. 1, 18, 13 pr. zur cognitio extra ordinem: D. 1, 16, 9 § 3: De plano autem proconsul potest expedire haec: ut obsequium parentibus et patronis liberisque patronorum exhiberi iubeat; comminari etiam et terrere filium a patre oblatum, qui non ut oportet conversari dicatur, poterit de plano; similiter et libertum non obsequentem emendare aut verbis aut fustium castigatione.

Die de plano, also ohne streitige Verhandlung zu sanktionierenden Taten sind nach Inhalt55 und den zu verhängenden Rechtsfolgen als leicht zu bewerten. Der Gegenschluss liegt nahe, dass alle sonstigen, schwereren Untaten, u. a. die in D. 1, 18, 13 pr. genannten, immer pro tribunali im Rahmen der cognitio extra ordinem verhandelt werden mussten.56 c) Ausnahme vom Grundsatz der privaten Anklage Löst man sich von der Anschauung, der untersuchte Text bekunde die Befugnis zur coercitio, so fragt sich, was er dann besagt. Sein Sinn erschließt sich, wenn man den Fortgang der strafrechtlichen Bücher 7 bis 9 betrachtet. Nach der in dieser Arbeit entwickelten Auffassung setzt die strafrechtliche Verfolgung jeder Straftat in der cognitio extra ordinem, sei sie dem ehemaligen ordo zugehörig oder extra ordinem entwickelt worden, eine Anklage eines Privaten, eine subscriptio in crimen, voraus, womit er die Verantwortung für die Strafverfolgung übernahm. Eine Strafverfolgung ex officio durch den Statthalter kam demnach grundsätzlich nicht in Betracht. Nur in den vom Mandat vorgesehenen Fällen wurde von diesen Grundsätzen eine Ausnahme gemacht. Im Interesse einer pacata atque quieta provincia wurde dem Statthalter und seinem Gefolge das conquirere, also die eigene Initiative bei der Verfolgung von Straftaten57 eingeräumt.58 Dies erklärt auch die 54

Dazu sogleich unter d). Vgl. dazu auch D. 48, 2, 6 (Ulpian 2 de off. proc.): Levia crimina audire et discutere de plano proconsulem oportet et vel liberare eos, quibus obiciuntur, vel fustibus castigare vel flagellis servos verberare. 56 Für eine cognitio extra ordinem in diesen Fällen spricht im Übrigen auch die Verwendung von delinquere: Volterra, „Delinquere“, S. 153 sieht prout quisque deliquerit als typische Formulierung in den kaiserlichen Konstitutionen an, die dem Provinzstatthalter volle Ermessensfreiheit bei Bestrafung im Rahmen der cognitio gewährt. 57 Zum Verständnis von conquirere in dieser Weise vgl. Santalucia, Crimen furti, S. 787; vgl. auch Lauria, Accusatio, S. 295; Levy, Gesetz und Richter, S. 450 u. Fn. 93 mit Verweis auf Plinius, ep. 10, 97. 55

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

Doppelnennung der Straftäter hier und später bei der Anführung der einzelnen Straftaten: Wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Provinz durch Taten von sacrilegi etc. gestört war, die unter den Oberbegriff der mali homines, also der Verletzer von Ruhe und Ordnung in der Provinz59, gefasst wurden60, etwa weil sich diese Verbrechen häuften, musste der Statthalter nicht erst auf subscriptio eines Privaten warten, sondern konnte aus eigener Initiative tätig werden. Das ausnahmsweise gestattete conquirere ist also das entscheidende Unterscheidungsmerkmal, das die Stellung des Fragments am Beginn des siebten Buchs rechtfertigt; ein Strafverfahren pro tribunali fand aber auch in diesem Fall statt. d) Der Grundsatz der förmlichen Anklage Der Verzicht auf einen privaten Ankläger bedeutete aber nicht, dass auch auf eine förmliche Anklage verzichtet wurde. Das Gegenteil geht aus einem bei Marcian überlieferten caput mandatorum sub edicto für die Provinz Asia, erlassen vom dortigen Prokonsul und späteren Kaiser Antoninus Pius um das Jahr 135 n. Chr.61, hervor, das die Aufgaben der Irenarchen festlegte: D. 48, 3, 6 § 1: Sed et caput mandatorum exstat, quod divus Pius, cum provinciae Asiae praeerat, sub edicto proposuit, ut irenarchae, cum adprehenderint latrones, interrogent eos de sociis et receptatoribus et interrogationes litteris inclusas atque obsignatas ad cognitionem magistratus mittant. Igitur qui cum elogio mittuntur, ex integro audiendi sunt, etsi per litteras missi fuerint vel etiam per irenarchas perducti. (. . .) Et ideo cum quis ÷nÜkrisin faceret, iuberi oportet venire irenarchen et, quod scripserit, exsequi; et si diligenter ac fideliter hoc fecerit conlaudandum eum, si parum prudenter non exquisitis argumentis, simpliciter denotare irenarchen minus rettulisse; sed si quid maligne interrogasse aut non dicta retulisse pro dictis eum compererit, ut vindicet in exemplum, ne quid et aliud postea tale facere moliatur.62 58 Daher ist die allgemeine Aussage, die aus dem ulpianischen Text gefolgert wird: auch im repressiven Bereich habe der Statthalter generell ex officio vorgehen können, unrichtig, vgl. Lauria, Accusatio, S. 294 ff.; Pugliese, Linee, S. 771; S. 782 ff.; zuletzt Santalucia, Crimen furti, S. 787; Ders., Diritto e processo, S. 241 ff. Richtig dagegen Zanon, Le strutture, S. 82 f. 59 Der von Bellen, Sklavenflucht, S. 14 gewählte Begriff „jegliches Gesindel“ ist hierfür zu eng, ebenso „Räuber“ bei Kirner, Strafgewalt, S. 175. 60 Anders als Finkelstein, Mandata, S. 157 Fn. 4 kann man gerade aufgrund der gemeinsamen Behandlung in D. 1, 18, 13 pr. (welche Stelle F. nicht berücksichtigt) davon ausgehen, dass es sich um ein einheitliches und nicht um zwei verschiedene mandata handelt, s. auch Bellen, Sklavenflucht, S. 14 Fn. 66. 61 Zur Datierung des Prokonsulats von Antoninus Pius vgl. PIR I2 A, 1513 (134/35 n. Chr.); Hüttl, Antoninus Pius I, S. 36 (135/36 n. Chr.); Kienast, Röm. Kaisertabelle, S. 134 (135/136 n. Chr.).

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Die Irenarchen, die seit Trajan bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. nur in Kleinasien bezeugt sind, waren lokale Polizeibeamte, die vom Statthalter aus einer Vorschlagsliste einer Stadt ausgewählt worden waren und mit ihm bei der Strafverfolgung zusammenarbeiteten.63 Sie hatten zunächst die Aufgabe, latrones aufzuspüren, später waren sie allgemein damit beauftragt, die Sicherheit und Ordnung in der Provinz durch Fahndung nach Ruhestörern aufrechtzuerhalten.64 Wie aus dem Mandat hervorgeht, mussten die Irenarchen ein erstes Verhör der von ihnen Aufgegriffenen durchführen, ein Protokoll (elogium) darüber abfassen und dieses zusammen mit dem Beschuldigten an den Statthalter überstellen. Die Niederschrift war Grundlage des Prozesses; war sie vorsätzlich falsch abgefasst worden, so war der Irenarch zu bestrafen; bei fahrlässig falscher Abfassung war eine Rüge auszusprechen. Im Ergebnis übernahm der Beamte damit die Rolle des Anklägers, das elogium diente als Anklageschrift und auch eventuelle Folgen einer falschen Recherche hatte der Irenarch wie ein privater Ankläger zu tragen.65 Aber auch in Italien und den anderen Provinzen gab es Personen, die als Hilfsorgane des Statthalters die in Kleinasien den Irenarchen zufallende Aufgabe wahrnahmen, Ruhe und Ordnung in der Provinz durch Fahndung nach Störern der öffentlichen Sicherheit aufrecht zu erhalten: Stationarii und beneficiarii, dem Statthalter direkt unterstellte Militärpersonen.66 Diese 62

Zur Stelle ausführlich Marotta, Mandata, S. 166 ff. Vgl. zu ihnen und ihrer Bestellung Marotta, Mandata, S. 164 ff.; Hirschfeld, Sicherheitspolizei, S. 602 ff.; Pfaff, Art. Irenarcha, S. 2032 ff.; Schultheß, Art. Eirhnarxai, S. 419 ff. Der munizipale Charakter dieses Amtes geht z. B. aus IG 4020 hervor. Berichte zur Bestellung zu diesem Amt bei Aelius Aristides 2, 44 (Keil) und or. 50 (Keil) Hieroi logoi 4, 72 ff. Keinesfalls kann davon gesprochen werden, dass die Aufgaben der Irenarchen im Laufe der Zeit vom Staat übernommen wurden (so aber Sordi, Die „Neuen Verordnungen“, S. 187 f.; Dies., La ricerca, S. 183). Vielmehr bestanden die munizipalen Polizeiorgane auch weiterhin neben den staatlichen Polizeikräften, da auch Marcian, der in der ersten Hälfte des 3. Jh. lebte, sie in D. 48, 3, 6 § 1 als noch bestehendes Amt anführt und sie auch im 4. Jahrhundert noch nachweisbar sind. 64 Vgl. D. 50, 4, 18 § 7 (Arcadius Charisius, lib. sing. de mun. civ.): Irenarchae (. . .), qui diciplinae publicae (. . .) praeficiuntur. 65 So sehr klar und überzeugend Zanon, A proposito di D. 48, 3, 6, S. 171 ff., die auch Marottas (Multa, S. 295; Mandata, S. 171 ff.) Einschätzung zurückweist, bei der inhaltlichen Überprüfung des elogium des Irenarchen handele es sich lediglich um eine Voruntersuchung und nicht um den regulären Prozess. Vgl. auch Zanon, Le strutture, S. 116 Fn. 36; S. 117 Fn. 39. Unrichtig Sordi, Die „Neuen Verordnungen“, S. 187, die in D. 48, 3, 6 irrig hineinliest, die Statthalter hätten die vom Irenarchen erzielten Ergebnisse überhaupt nicht berücksichtigt. 66 Zu ihnen vgl. die große Anzahl von Inschriften bei MacMullen, Enemies, S. 259 f.; Hirschfeld, Sicherheitspolizei, S. 593 ff.; Domaszewski, Beneficiarierpos63

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waren, was die ihnen zugewiesenen entsprechenden Aufgaben zumindest nahe legen, wohl gleichermaßen zur Abfassung einer Anklageschrift verpflichtet, die sie im Falle eines Prozesses zu vertreten hatten. e) Datierung des caput mandatorum Die beispielhafte Anführung von sacrilegos, latrones, plagiarios und fures (Tempel-, Straßen-, Menschenräuber und gemeine Diebe) zeigt wohl darüber hinaus, welche Taten besonders häufig in störender Weise vorgekommen waren, und kann dazu beitragen, die Entstehung des caput mandatorum zeitlich näher einzuordnen, wenn man sie mit besonderen Vorkommnissen in den Provinzen in Verbindung bringen kann. Die fures scheinen, wie sich aus dem Text bei Marcian ergibt, im Ursprungsmandat noch nicht vorgekommen, sondern erst später, vielleicht von Ulpian selbst, eingefügt worden zu sein.67 Dies ließe dann vielleicht auf eine besondere Virulenz von Dieben zu seiner Zeit schließen. Das Räuberunwesen dagegen war gewiss schon, als diese Vorschrift in die libri mandatorum aufgenommen wurde, in den Provinzen zahlreich aufgetreten. Bellen68 schließt aufgrund eines Vergleiches mit der epistula an den praefectus vigilum Iunius Rufinus69 auf eine Urheberschaft von Septimius Severus.70 Diese Datierung einer besonders intensiven Verfolgung von Räuberbanden ist allerdings sehr spät und steht auf wackligem Grund. Einziges Argument ist die Benutzung des Wortes conquirere bezogen auf fugitivi.71 Demgegenüber sprechen gute Gründe dafür, nicht ursprünglich ein einziges Mandat anzunehmen, sondern zunächst ein Mandat zur Verfolgung von Räuberbanden und seine spätere Erweiterung auf alle mali homines. ten, S. 158 ff.; Purpura, Art. Polizia, S. 106 f. m. w. N.; und allgemein Ott, Beneficiarier, S. 113 ff., S. 123 ff. Die latrunculatores in D. 5, 1, 61 § 1 (Ulpian 26 ad ed.) sind wohl keine privaten „Kopfgeldjäger“, sondern mit den stationarii identisch, da sie bei der Erörterung der Jurisdiktion angeführt werden. 67 So auch Mommsen, Strafrecht, S. 313 Fn. 1. 68 Sklavenflucht, S. 14 Fn. 66. 69 D. 1, 15, 4 (Ulpian l. s. de off. praef. urb.): Imperatores Severus et Antoninus Iunio Rufino praefecto vigilum ita rescripsit: „Insularios et eos, qui neglegenter ignes apud se habuerint, potes fustibus vel flagellis caedi iubere. Eos autem, qui dolo fecisse incendium convincentur, ad Fabium Cilonem praefectum urbi amicum nostrum remittes. Fugitivos conquirere eosque dominis reddere debes.“ 70 Richtiger aus der Zeit der Samtherrschaft von Septimius Severus und Caracalla, da das Reskript an C. Iunius Rufus auf das Jahr 203 n. Chr. zu datieren ist (vgl. CIL VI 220 = Dess. 2163; CIL VI 1055) 71 Vgl. nur die in ThLL IV Art. conquirere, col. 355 f. angeführten Belege aus früherer Zeit.

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Die stetige Zunahme von Räuberbanden war in der Kaiserzeit schon sehr früh als auch gesellschaftliches Problem erkannt worden, wie man insbesondere aus dem sich auf alle Provinzen ausbreitenden Netz von stationes72, militärischen Wachtposten, schließen kann, wo die genannten stationarii und beneficiarii unter anderem auch nach Straftätern zu fahnden hatten73; außerdem gibt es literarische Zeugnisse.74 Dass auch die Rechtspflege diesen Zuständen nicht tatenlos zuschaute, zeigt das caput mandatorum sub edicto des Antoninus Pius, worin, wie bereits angeführt, von den Aufgaben der Irenarchen beim Verhör von latrones berichtet wird.75 Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass der zweite Teil des von Ulpian, Paulus und Marcian erwähnten caput mandatorum, wonach sacrilegos latrones plagiarios et receptores eorum zu verfolgen sind, spätestens auf die Zeit von Antoninus Pius zurückgeht. Gerade seit dieser Zeit lassen sich in den Quellen Hinweise auf eine stärkere Verfolgung von Räuberbanden durch die Statthalter finden76, was nahe legt, dass sie zur Verfolgung und Bestrafung von Räuberbanden explizit verpflichtet wurden. Antoninus Pius wäre eine solche verallgemeinernde Regelung auch zuzutrauen, da er aus eigener Erfahrung als Prokonsul das Problem des Räuberunwesens in den Provinzen kannte und schon damals, beschränkt auf seine Provinz Asia, deren Verfolgung durch die Irenarchen neu geregelt hatte.77 Auch ist gut vor72 Begonnen unter Augustus in Italien (Sueton, Aug. 32, 1) und ausgeweitet durch Tiberius (Sueton, Tib. 37, 1) waren nach Tertullian, Apol. 2, 8 in allen Provinzen Soldaten zur Fahndung nach Räubern stationiert. Auch in den Briefen Plinius’ an Trajan ist eine größere Anzahl dieser stationes in Bithynien erkennbar (ep. 10, 77, 1 u. 2 f.; 74, 1; 19 f., dort auch über die Knappheit des Personals, über das der Statthalter einer senatorischen Provinz verfügte); vgl. auch Sherwin-White, The letters, S. 660 f.; S. 665 ff. m. w. N. 73 s. nur BGU II 372 (154 n. Chr.): Edikt des Präfekten von Ägypten über die Verfolgung von Räuberbanden auf dem Lande; P. Oxy. XII 1408 (210–214 n. Chr). 74 Z. B. der Brief Frontos an Antoninus Pius, worin er vor dem Antritt seiner Statthalterschaft (ca. 153/54) in Asien davon spricht, seinen Freund Iulius Senex mitzunehmen, der ihm beim Aufspüren von Räubern behilflich sein soll: ep. ad Ant. Pium 8, 15–18 (Naber 169); Apuleius, met. 2, 18. 75 D. 48, 3, 6 § 1 (Marcian 2 de iud. publ.); zu der Stelle ausführlich unter d). 76 Insbes. die Anführung der Irenarchen bei Aelius Aristides im Jahre 153/54 und auch BGU II 372, sowie Frontos selbstverständliche Mitnahme eines „Räuberjägers“. 77 Auch der Ausdruck recuperatores, der im Edikt von Antoninus Pius und auch im Mandat von D. 1, 18, 13 pr. erscheint, deutet darauf hin. Wenn dieser letzte Teil nicht bei Marcian D. 48, 13, 4 § 2 erscheint, bedeutet das nicht, dass er auch nicht im Ursprungs-Mandat stand; die Nennung des latro, als direkter Bezug auf den vorherigen Teil, und die Tatsache, dass der recuperatores-Abschnitt für Marcians Ausführungen ohne Belang war (wie auch der über die mali homines, die auch im Mandat erwähnt waren, vgl. D. 1, 18, 3), deuten darauf hin, dass Ulpian hier den originalen Text wiedergibt.

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stellbar, dass das caput mandatorum später auf alle mali homines erstreckt wurde78, vielleicht bedingt durch die wieder gestattete Verfolgung der Christen durch Marc Aurel, die als mali homines und Verletzer der Ruhe und Ordnung in der Provinz gelten konnten.79 Den Statthaltern konnte man dadurch ihre umfassende Kompetenz auf dem Gebiet der Strafverfolgung klar aufzeigen.80 Die Ausführungen von Septimius Severus und Caracalla in D. 1, 15, 4, die sich übrigens an einen stadtrömischen Beamten richteten, scheinen eher von dem bereits existierenden caput mandatorum auszugehen, als dass sie ihrerseits als Grundlage für besagtes caput gedient hätten.81 Mit diesem caput mandatorum beginnt Ulpian den Abschnitt über die strafrechtlichen Kompetenzen des Statthalters. Dabei führt er noch ganz zu Beginn den bonus et gravis praeses an, der für eine friedliche und ruhige Provinz zu sorgen habe. Gerade diese Einleitung vermag es, stamme sie nun aus dem Ursprungsmandat, seiner Erweiterung oder von Ulpian selbst, den von Ulpian intendierten Aussagegehalt der Passage darzustellen, nämlich die grundsätzlich unbegrenzte Kompetenz jeglichen Statthalters auf dem Gebiet des Strafrechts, um eine pacata et quieta provincia zu sichern.

2. D. 1, 18, 13 § 1: Behandlung Geisteskranker Furiosis, si non possint per necessarios contineri, eo remedio per praesidem obviam eundum est: scilicet ut carcere contineantur. et ita divus Pius rescripsit. sane excutiendum divi fratres putaverunt in persona eius, qui parricidium admiserat, utrum simulato furore facinus admisisset an vero re vera compos mentis non esset, ut si simulasset, plecteretur, si fureret, in carcere contineretur.

Unmittelbar nach der allgemeinen Befugnis zur selbständigen Verfolgung und Bestrafung von Straftätern, die die pacata atque quieta provincia störten, folgt in § 1 ein Sonderfall: Furiosi, Geisteskranke82, konnten zwar 78 Gerade auch deswegen, weil der generelle Begriff mali homines alle anderen genannten Kategorien mitumfasst, was eine spätere Erweiterung zumindest nahe legt. 79 s. zu dieser möglichen Zuordnung u. 4. e). 80 Das an die praesides gerichtete Apologeticum Tertullians aus dem Jahre 197 n. Chr. war vielleicht eine Antwort auf die neue Lage der Christen. 81 Kirners These (Strafgewalt, S. 69 u. S. 181 ff.) von einem weiten Freiraum des Statthalters im Rahmen seiner Strafgewalt spricht nicht gegen die hier vertretene Ansicht. Die Entwicklung verlief von einer stärkeren Bindungslosigkeit hin zu einer Verrechtlichung der Befugnisse des Statthalters. 82 Furiosi waren, wie sich insbesondere aus D. 1, 18, 14 (Macer 2 de iud. publ.) ergibt, nicht etwa nur vorübergehend unzurechnungsfähige Menschen, etwa aufgrund eines Wutausbruches oder Raserei im Affekt, sondern solche, die continua mentis alienatione omni intellectu careant. Vgl. dazu auch Höbenreich, Überlegungen, S. 281; Lanza, Ricerche, S. 180 ff., der mit Recht Solazzis Interpolationsver-

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ebenfalls in bestimmten Fällen mali homines sein, die die öffentliche Sicherheit der Provinz stören und die deshalb vom Statthalter selbständig verfolgt werden können. Die Besonderheit bestand bei ihnen jedoch darin, dass sie für ihr Verhalten nicht verantwortlich waren83 und deshalb ein animadvertere in einem regulären Strafprozess nicht möglich war. Mit den beiden von ihm angeführten Reskripten betonte Ulpian daher, dass in der Behandlung dieser Personengruppe durch den Statthalter anders als bei sonstigen mali homines vorgegangen werden muss.84 Schon das erste Reskript von Antoninus Pius macht diese Besonderheit deutlich: Furiosi, die von ihren necessarii, d.h. ihren Angehörigen85, nicht mehr in Gewahrsam gehalten werden konnten, hatte der Statthalter im Gefängnis zu verwahren. In erster Linie war also die Familie für den Geisteskranken und seine Bewachung zuständig.86 Wenn sie dazu jedoch nicht dacht bei diesem Ausdruck (I luicidi intervalli, S. 552; Furor vel dementia, S. 653) zurückweist. Dass es sich um eine Geisteskrankheit handelt und nicht um körperliche Gebrechen, geht aus zahlreichen Fragmenten hervor, z. B. D. 5, 2, 5 (Marcellus 14 ad ed.); 5, 2, 2 (Marcian 4 inst.; entspr. Inst. 2, 18 pr.); 28, 1, 2 (Labeo 1 poster.); 21, 1, 1 §§ 9–11 (Ulpian 1 ad ed. aed. curul.); 21, 1, 4 pr., §§ 1 u. 3 (Ulpian 1 ad ed. aed. curul.); Gai epit. 2, 2, 3 und auch Nardi, Squilibrio, S. 27 ff.; S. 34 ff. 83 So durchgängig im zivil- wie strafrechtlichen Bereich, vgl. beispielsweise D. 9, 2, 5 § 2 (Ulpian 18 ad ed.): actio legis Aquiliae; 47, 10, 3 § 1 (Ulpian 56 ad ed.): iniuria; 48, 8, 12 (Modestin 8 reg.): Lex Cornelia de sicariis; 29, 5, 3 § 11 (Ulpian 50 ad ed.): SC Silanianum. Ausführlich Lebigre, Quelques aspects, S. 32 f.; Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 278. 84 Die enge inhaltliche Verknüpfung von D. 1, 18, 13 pr. und § 1 spricht übrigens sehr dafür, dass beide Fragmente, wie von den Kompilatoren in die Digesten aufgenommen, auch ursprünglich im Werk Ulpians aufeinander folgten. Dagegen Lenel, Pal. II, col. 973, aber ohne Begründung. Wie hier Dell’Oro, I libri, S. 147 Fn. 154. 85 Nicht nur die nächste Verwandtschaft, wie Spruit, The penal conceptions, S. 135; S. 142; S. 144 meint, vgl. Heumann/Seckel, Art. necessarius 2), S. 363. Wie hier auch Nardi, Squilibrio, S. 81 Fn. 8. 86 Vgl. Nardi, Squilibrio, S. 79 u. Fn. 1 m. w. N. Diese Zuständigkeit geht schon aus den XII-Tafeln, 5, 7a hervor: si furiosus escit, adgnatum gentiliumque in eo pecuniaque eius potestas esto, s. FIRA I (Leges), S. 39 f. Der Geisteskranke erhielt einen Kurator, der für die Vermögenssorge, aber auch für die Gesundheit des Pfleglings zuständig war, vgl. D. 27, 10, 7 pr. (Julian 21 dig.): Consilio et opera curatoris tueri debet non solum patrimonium, sed et corpus ac salus furiosi. Wenn sich kein tauglicher Kurator aus der Familie fand, konnte auch ein Dritter von Amts wegen, in den Provinzen durch den Statthalter, als Pfleger bestellt werden, D. 27, 10, 13: Gaius 3 ad ed. prov. Allgemein hierzu Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 371 f. Ob es sich bei dem Gewahrsam über furiosi um einen Fall der cura handelte, ist unsicher; das Tätigkeitsfeld des Kurators erfasst diesen Fall nicht unbedingt, s. o. D. 27, 10, 7 pr. Auch spricht Ulpian von den necessarii und nicht von Kuratoren sowie ganz selbstverständlich von mehreren Personen. Zwar bestätigen auch andere Quellen, dass die cura furiosi auch von mehreren ausgeübt werden konnte, vgl. D. 27, 10, 7 § 3 (Julian, 21 dig.): an alteri ex curatoribus furiosi sowie D. 26, 7, 3 pr.

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in der Lage war87, bedeutete das eine Gefährdung anderer, eine Störung der öffentlichen Sicherheit, die zu seiner Einsperrung führen musste. Diese Verwahrung im Gefängnis88 war weder Bestrafung in Folge eines Strafprozesses, die gar nicht zulässig gewesen wäre89, noch Untersuchungs- oder Exekutionshaft:90 Der furiosus war für sein Verhalten ja nicht verantwortlich. Vielmehr handelt es sich um eine Befugnis des Statthalters, die auf sein dem Amt immanentes Koerzitionsrecht zurückgeht, um die Allgemeinheit vor akuten Gefährdungen zu schützen.91 Nur hier, wo ein reguläres Strafverfahren nicht möglich war, zeigt sich ausnahmsweise ein Recht des Statthalters zur Koerzition. Unterstrichen wird die soeben festgestellte Befugnis gegenüber furiosi im nachfolgenden Reskript, das auch von Modestin92 und Macer, von ihm sogar wörtlich93, zitiert wurde94 und wohl nicht von den divi fratres, sondern (Ulpian 35 ad ed.): in furiosi curatoribus (weitere Hinweise auf eine Mehrzahl von Kuratoren bei Nardi, Squilibrio, S. 92 Fn. 3). Jedoch spricht für die Trennung von cura und Zuständigkeit für Gewahrsam, dass in D. 1, 18, 14 (Macer 2 iud. publ., dazu sogleich) die sui für die Bewachung des Geisteskranken zuständig waren, also ein engerer Personenkreis als bei der cura vorgesehen; vgl. auch Heumann/Seckel, Art. suus 4), S. 576, der a suis custodiri in D. 1, 18, 14 mit per necessarios contineri aus D. 1, 18, 13 § 1 gleichsetzt. 87 Marotta, Multa, S. 273 stellt die Frage, ob für die Einkerkerung ein „atto sconsiderato“ des furiosus erforderlich war oder ob sie auch als reine Vorsichtsmaßnahme verhängt werden konnte. Aufgrund des sofort zu behandelnden Reskripts, in dem der furiosus ein Verbrechen begangen hatte, ist die Frage dahin zu beantworten, dass zur Einsperrung keine besondere Tat des Geisteskranken nötig war. Der Statthalter musste nur feststellen, dass die necessarii den furiosus nicht mehr in Gewahrsam halten konnten, was der Statthalter nach Ermessen entschied, eventuell unterstützt durch Gutachten. Dadurch wurde der Geisteskranke zum Verletzer der Sicherheit und des Friedens in der Provinz. 88 Carcer darf also nicht als Behindertenheim o. ä. verstanden werden, sondern als der Platz, an dem auch sonstige Straftäter einsaßen, vgl. nur Schulz, Classical Roman law, S. 197. 89 Vgl. D. 48, 19, 8 § 9 (Ulpian 9 de off. proc.): carcer enim ad continendos homines, non ad puniendos haberi debet. 90 Vgl. dazu auch Lovato, Il carcere, S. 61 f. 91 Zu diesem Verhaftungsrecht der Magistrate unabhängig von einem Strafverfahren Kunkel/Wittmann, Staatsordnung, S. 153 ff., insbes. S. 157 f. 92 D. 48, 9, 9 § 2 (12 pand.): Sane si per fuorem aliquis parentem occiderit, inpunitus erit, ut divi fratres re-scripserunt super eo, qui per furorem matrem necaverat. Nam sufficere furore ipso eum puniri, diligentiusque custodiendum esse aut etiam vinculis coercendum. 93 D. 1, 18, 14 (2 de iud. publ.): Divus Marcus et Commodus rescripserunt in haec verba: „Si tibi liquido compertum est Aelium Priscum in eo furore esse, ut continua mentis alienatione omni intellectu careat, nec subest ulla suspicio matrem ab eo simulatione dementiae occisam. Potes de modo poenae eius dissimulare, cum satis furore ipso puniatur. Et tamen diligentius custodiendus erit ac, si putabis,

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von Marc Aurel und Commodus stammte.95 Danach hatte der Statthalter, wenn ein Verbrechen (hier parricidium) begangen worden war, einen geltend gemachten furor genau zu prüfen. War dieser nur vorgetäuscht, musste der Täter im regulären Strafverfahren verurteilt werden96, war der Täter daetiam vinculo coercendus, quoniam tam ad poenam quam ad tutelam eius et securitatem proximorum pertinebit. Si vero, ut plerumque adsolet, intervallis quibusdam sensu saniore, non forte eo momento scelus admiserit nec morbo eius danda est venia, diligenter explorabis et si quid tale compereris, consules nos, ut aestimemus, an per immanitatem facinoris, si, cum posset videri sentire, commiserit, supplicio adficiendus sit. Cum autem ex litteris tuis cognoverimus tali eum loco atque ordine esse, ut a suis vel etiam in propria villa custodiatur. Recte facturus nobis videris, si eos, a quibus illo tempore observatus esset, vocaveris et causam tantae neglegentiae excusseris et in unumquemque eorum, prout tibi levari vel onerari culpa eius videbitur, constitueris. Nam custodes furiosis non ad hoc solum adhibentur, ne quid perniciosius ipsi in se moliantur, sed ne aliis quoque exitio sint. Quod si committatur, non immerito culpae eorum adscribendum est, qui neglegentiores in officio suo fuerint.“ 94 Macer schreibt das zitierte Reskript an Scapula Tertullus Marc Aurel und Commodus zu, die 176 bis 180 n. Chr. gemeinsam herrschten, vgl. Kienast, Röm. Kaisertabelle, S. 147. Ulpian und Modestin sprechen dagegen von einer Maßnahme der divi fratres (161 bis 169 n. Chr.). Die Übereinstimmungen zwischen den behandelten Materien sind jedoch so auffällig, dass nicht von zwei verschiedenen Maßnahmen ausgegangen werden kann. Modestin zitiert wörtlich aus dem Reskript Marc Aurels und Commodus’ (nam sufficere furore ipso eum puniri, diligentiusque custodiendum esse aut etiam vinculis coercendum), die von ihm angeführte Entscheidung hat übrigens einen Muttermord zum Gegenstand, vgl. Gualandi, Legislazione I, S. 73 ff.; Lanza, Ricerche, S. 123 Fn. 1; anders Noyen, Marc-Aurèle, S. 281, der meint, dass es sich um einen justinianischen Einschub handelt, ohne dafür aber einen überzeugenden Grund beizubringen. Auch Ulpian scheint das bei Macer angeführte Reskript zusammengefasst zu haben. Jedenfalls reicht es für die Annahme eines weiteren Reskripts nicht aus, geltend zu machen, es handele sich hier um parricidium, bei Macer dagegen um Muttermord (so anscheinend Spruit, The penal conceptions, S. 134 ff. und Noyen, Marc-Aurèle, S. 281), da parricidium auf der Grundlage der Lex Pompeia de parricidiis als Oberbegriff auch den Muttermord umfasste, vgl. D. 48, 9, 1 (Marcian 14 inst.) und auch Nardi, Squilibrio, S. 81 Fn. 10; Lanza, Ricerche, S. 123 Fn. 1. 95 Für Marc Aurel und Commodus als tatsächliche Aussteller des Reskripts spricht insbesondere, dass Macer das Reskript wörtlich mit dem Adressaten und dem Namen des Muttermörders wiedergibt, er den Text also vorliegen hatte. Die widersprüchlichen Ausstellerangaben könnten folgendermaßen zustande gekommen sein: Macer schrieb in Africa, vgl. Liebs, HLL 4 (1997) § 430.3, S. 214 m. w. N.; und auch der Empfänger des Reskripts, (P. Iulius) Scapula Tertullus, war Statthalter von Africa: zwischen 177 und 180 n. Chr., vgl. Alföldy, Konsulat, S. 195 Fn. 234; Thomasson, Fasti Africani, S. 71 m. w. N. Macer könnte also das Originalreskript im Archiv des Statthalters von Africa aufgefunden haben. Demgegenüber schrieben Ulpian und Modestin in Rom, wo in der archivierten Vorlage des Reskripts infolge der zeitweiligen damnatio memoriae des Commodus (dazu Liebs, OM 13, 1, S. 233) sein Name gestrichen worden, der Plural aber erhalten geblieben sein könnte, was später unrichtig komplettiert worden wäre.

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gegen tatsächlich geisteskrank, so war er einzusperren. Ein Strafprozess und reguläre Bestrafung für die begangene Tat konnte in diesem Fall also ebenso wenig stattfinden, nur vorbeugende Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit kamen in Betracht. Das zweite von Ulpian wiedergegebene Reskript ist auch unter einem anderen Gesichtspunkt der Betrachtung wert, erkennt man doch durch Vergleich mit der wörtlichen Wiedergabe des Reskripts bei Macer, dass Ulpian den Inhalt leicht verändert hat. Besonders die Rechtsfolge bei Feststellung von furor stimmt nicht vollständig überein. Während es im Reskript heißt: et tamen diligentius custodiendus erit ac, si putabis, etiam vinculo coercendus,

also grundsätzlich strenger Gewahrsam und nach Ermessen des Statthalters Fesselung97 des Geisteskranken. Ulpian fasst das mit den Worten zusammen si fureret, in carcere contineretur, also Verwahrung des furiosus im Gefängnis schlechthin. Zwar kann die Aussage im Reskript tatsächlich in der von Ulpian wiedergegebenen Weise verstanden werden98, es ist jedoch weniger wahrscheinlich, dass sie auch so gemeint war. Die Kaiser stellten die Person des furiosus und seinen Schutz ganz in den Mittelpunkt. Insbesondere mit cum satis furore ipso puniatur (der furiosus ist durch seine Krankheit bereits genug gestraft) und der Begründung des Gewahrsams: quod non tam ad poenam quam ad tutelam eius et securitatem proximorum pertinebit (der Schutz des Kranken steht gleichberechtigt neben dem seiner Umgebung), werden humanitäre Standards aufgestellt.99 Der im Reskript genannte Gewahrsam kann also auch so verstanden werden, dass er im Interesse des furiosus nach Ermessen des Statthalters auch durch seine Angehörigen wahrgenommen werden konnte und nicht allemal carcer die Rechtsfolge war. Ulpian dagegen berücksichtigt die Interessen des furiosus mit keinem Wort. Er scheint diese Sichtweise nicht praktikabel zu finden, insbesondere den Gewahrsam durch die Angehörigen als nicht ausreichend anzusehen, um eine friedliche und ruhige Provinz zu gewährleisten. Eine Erklärung dafür kann der Anschluss an das Reskript von Antoninus Pius bieten: Hatte der Geisteskranke ein Verbrechen begangen, so zeigte das, jedenfalls für 96

Zur Strafe des parricidium s. u. III. 4. b). Vincula meint hier nicht öffentlichen Kerker, sondern Fesselung, wie aus D. 50, 16, 216 (Ulpian 1 ad leg. Ael. Sent.) und 4, 6, 9 (Callistratus 2 ed. monit.) und auch aus proximorum in der weiteren Folge des Textes hervorgeht. In diesem Sinne auch Balzarini, Pene detentive, S. 2868 f. u. Fn. 11; S. 2877. 98 Zu weitgehend daher Lanza, Ricerche, S. 127; S. 174 u. Fn. 53; S. 175, der custodia im Reskript nur auf die Angehörigen bezieht. 99 Zum Einfluss des Stoizismus auf Marc Aurel, den man auch in diesem Reskript bemerken kann, vgl. Noyen, Marc-Aurèle, S. 279 f. 97

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Ulpian, dass die necessarii nicht (mehr) in der Lage waren, den furiosus selbst in Gewahrsam zu halten. Ulpian stellte den Schutz der öffentlichen Sicherheit in den Vordergrund, furiosi betrachtete er nicht als Kranke, denen geholfen werden musste, sondern allein als potentielle mali homines, die die Ruhe der Provinz stören konnten. Die Gegenüberstellung mit dem Originalreskript ergibt also, dass die römischen Juristen, insbesondere Ulpian, im Strafrecht unter dem Deckmantel der Zusammenfassung eines Kaiserreskripts eigene Vorstellungen einbringen und damit das Recht fortbilden konnten.

3. D. 11, 4, 3: Suche nach fugitivi100 Divus Pius rescripsit eum, qui fugitivum vult requirere in praediis alienis, posse adire praesidem litteras ei daturum et, si ita res exegerit, apparitorem quoque, ut ei permittatur ingredi et inquirere, et poenam eundem praesidem in eum constituere, qui inquiri non permiserit. sed et divus Marcus oratione, quam in senatu recitavit, facultatem dedit ingrediendi tam Caesaris quam senatorum et paganorum praedia volentibus fugitivos inquirere scrutarique cubilia atque vestigia occultantium.

a) Eindämmung der Sklavenflucht Der Text, der zwei zeitlich aufeinanderfolgende Konstitutionen von Antoninus Pius und Marc Aurel (von diesem als Alleinherrscher, also zwischen 169 und 176 n. Chr.) wiedergibt, betrifft die Suche nach entflohenen Sklaven, so genannten servi fugitivi. Die Sklavenflucht nahm im Laufe der Kaiserzeit in den Provinzen immer größere Ausmaße an und konnte zum wirtschaftlichen Ruin der Sklavenhalter führen.101 Neben den gesetzlichen Regelungen zur Verhinderung der Sklavenflucht102 kam es ebenso darauf an, nach geschehener Flucht den flüchtigen Sklaven aufzuspüren, zu ergreifen und dem rechtmäßigen Herrn zurückzugeben. Dafür standen zwei Wege offen: Die Verfolgung der fugitivi durch die zuständigen Beamten von Amts wegen103 und die bloße Unterstützung des 100 Lenel, Pal. II, col. 973 und ihm folgend Marotta, Multa, S. 270, gehen hier von einem umfassenden Titel de fugitivis aus. Es ist gut möglich, dass die Hilfe bei der Suche nach geflohenen Sklaven in einem größeren Abschnitt behandelt wurde, der sich allgemein mit dem Phänomen der fugitivi beschäftigte. s. dazu unter b). 101 Zum gesamten Phänomen ausführlich Marotta, Multa, S. 270 ff. Zu Ursachen und Triebkräften Bellen, Sklavenflucht, S. 126 ff. 102 Abgesehen von der Lex Fabia (zu ihr s. u. VI. 2. b)) seien insbes. die actio servi corrupti und die actio furti erwähnt (vgl. Bellen, Sklavenflucht, S. 46 ff.; S. 116).

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Herren bei der Suche nach seinem Sklaven. Zwar standen im zuletzt genannten Fall dem Herren Ansprüche auf Herausgabe gegen denjenigen zu, der den entflohenen Sklaven bei sich aufgenommen hatte.104 Zu deren Verwirklichung war es aber zunächst erforderlich, zu wissen, wo der Sklave sich überhaupt aufhielt. Dazu benötigte der Sklaveneigentümer Zugang zu fremden Grundstücken. Der Zutritt war aber häufig nur mit staatlicher Hilfe zu erreichen, weil viele Sklaven erst auf Veranlassung der Grundbesitzer, bei denen sie sich jetzt aufhielten, geflohen waren105 und diese daher kein Interesse an einer Rückführung zu ihren rechtmäßigen Herren hatten. Für Rom und Italien war wahrscheinlich bereits in der Lex Fabia eine Gestattung ad investigandum fugitivum enthalten106, die wahrscheinlich im 1. oder frühen 2. Jahrhundert durch ein SC unter dem Konsul Modestus bestätigt und erweitert wurde.107 Insbesondere sollte jetzt ein Magistrat ein amtliches Schreiben ausstellen und wurde bei verweigerter Kooperation gegen Magistrat und Grundeigentümer eine Geldstrafe von ursprünglich wahrscheinlich 10.000 Sesterzen108 angedroht. In den Provinzen ist keine einheitliche Regelung über staatliche Hilfe bei der Verfolgung flüchtiger Sklaven erkennbar. Erst das Reskript des Antoninus Pius, das, wie der Wortlaut vermuten lässt, an eine Privatperson in den Provinzen gerichtet war, die auf der Suche nach einem entflohenen Sklaven den Statthalter um Hilfe gebeten, aber abgewiesen worden war, scheint hier 103 So im Reskript von Severus und Caracalla an Iunius Rufinus in D. 1, 15, 4 a. E. (Ulpian l. s. de off. praef. urbi): fugitivos conquirere eosque dominis reddere potest. 104 Vgl. nur D. 4, 2, 14 § 11 (Ulpian 11 ad ed.). 105 Vgl die Norm der Lex Fabia s. u. VI. 4. b) bb). 106 So ist wohl D. 11, 4, 1 § 2 zu verstehen, wo es in Bezug auf die Suche nach fugitivi heißt: cui rei etiam lex Fabia prospexerat et senatus consultum Modesto consule factum. In diese Richtung weisen Plautus, Merc. 664 und Petron, sat. 97, 1–10; 98, 1, wo von einer Haussuchung nach einem servus fugitivus in Rom die Rede ist, wofür der Prätor einen servus publicus als conquistor zur Verfügung stellt. 107 D. 11, 4, 1 § 2 (Ulpian 1 ad ed.), allerdings ohne die bei Mommsen/Krüger angenommene Einklammerung, die die hier vertretene Deutung ausschließen würde. Wie hier Bellen, Sklavenflucht, S. 10 Fn. 48, der annimmt, dass es sich in D. 11, 4, 1 § 2 von ut fugitivos bis adiuvent um den Inhalt des im Konsulat des Modestus erlassenen SC handelt; dagegen, allerdings ohne stichhaltige Gründe, Longo, Rez. Bellen, S. 175, der sowohl die Erwähnung der Lex Fabia als auch die des SC als Glossem abtut. Bellen folgert aus dem inhaltlichen Vergleich des SC mit der Bestimmung von Antoninus Pius in D. 11, 4, 3 darüber hinaus, dass jenes vor Antoninus Pius, der sich an dem SC orientiere, erlassen worden sein müsse. Unrichtig jedenfalls Dell’Oro, Mandata e litterae, S. 31 Fn. 98 mit der Datierung des SC unter Caracalla; das prospexerat in D. 11, 4, 1 § 2 weist eindeutig auf einen Erlass vor Marc Aurel hin. 108 Vgl. die Verbesserung bei Lenel, Pal. II, col. 423 Fn. 1.

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Abhilfe geschaffen zu haben. Einerseits wurde der Statthalter verpflichtet, den Sklavenhalter auf der Suche nach seinem entflohenen Sklaven zu unterstützen, und zwar durch Ermächtigung zur Durchsuchung fremder Grundstücke in einem amtlichen Schreiben, das dem Eigentümer des Grundstücks vorgelegt werden konnte und den Inhaber als zur Nachforschung Berechtigten auswies. Auf der anderen Seite musste der Statthalter, soweit erforderlich, einen apparitor, einen Amtsdiener, einen Helfer bei öffentlichen Amtshandlungen109, zur Verfügung stellen. Schließlich wird Bestrafung des nicht kooperierenden Grundeigentümers vorgesehen. Erst um die Mitte des zweiten Jahrhunderts scheinen also die für Rom und Italien seit langem geltenden Vorschriften auf die Provinzen erstreckt worden zu sein. Interessant ist hierbei, dass die Tatbestände fast wörtlich mit denen des SC Modesto consule factum übereinstimmen, die zu verhängende Strafe aber nicht. Während die römisch-italische Regelung bloß Geldstrafe vorsah, erhielt der Statthalter im Reskript von Antoninus Pius unbeschränkte Strafbefugnis nach Ermessen. Wie sogleich gezeigt wird, ist diese Strafdrohung ein wichtiger Anhaltspunkt für die Einordnung des Fragmentes im ulpianischen Werk. Das Fragment endet mit einer weiteren Klarstellung durch eine oratio Marc Aurels.110 Auch kaiserliche Grundstücke, solche der Senatoren und der pagani durften betreten und nach Spuren der entflohenen Sklaven durchsucht werden. Die Maßnahme zeigt zweierlei: Trotz des Reskripts von Antoninus Pius weigerten sich Statthalter weiterhin, Eigentümer entflohener Sklaven bei der Suche zu unterstützen, vor allem wenn es um die Durchsuchung von Grundstücken einflussreicher Personen ging, oder sie beschränkten die Nachforschung auf eine oberflächliche Untersuchung. Ferner profitierten in hohem Maße Großgrundbesitzer, die größtenteils Mitglieder von Senatorenfamilien waren, von der Sklavenflucht111, denen sich sogar Provinzstatthalter nur ungern entgegenstellten. Die beiden Bestimmungen der Kaiser Antoninus Pius und Marc Aurel über die Hilfspflicht der Statthalter bei der Suche nach servi fugitivi, die von Ulpian in das siebte Buch de officio proconsulis aufgenommen worden und dadurch jedem praeses provinciae zugänglich waren, hatten zum Ziel, 109

Vgl. zu ihm Mommsen, Staatsrecht I, S. 332 ff. D. 11, 4, 3, 2. Teil. Der Text stimmt weitgehend mit dem zu Anfang von D. 11, 4, 1 § 2 genannten SC überein, sodass davon auszugehen ist, dass beide Akte die gleiche Maßnahme Marc Aurels bezeichnen (irrig Buckland, Roman Law of Slavery, S. 268, der das SC Antoninus Pius zuschreibt); vgl. auch Volterra, Art. Senatusconsulta, S. 1075. Zur Übereinstimmung kaiserlicher orationes mit den daraufhin erlassenen SCa ab Hadrian sowie zur synonymen Verwendung beider Begriffe in den spätklassischen Juristenschriften vgl. Liebs, HLL 4 (1997) § 411.2, S. 87 f. 111 Vgl. dazu auch Marotta, Multa, S. 270 f. 110

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schwächere Herren vor Verlust ihrer Sklaven zu schützen, aber auch, Großgrundbesitzer davon abzuhalten, entflohene Sklaven ohne Konsequenzen aufzunehmen. b) Einordnung des Textes bei Ulpian Was schließlich die Einordnung des Fragmentes im Werk Ulpians betrifft, so sprechen mehrere Gesichtspunkte für einen Zusammenhang mit D. 1, 18, 13 pr. Wenn das Fragment in einen größeren Zusammenhang über fugitivi eingeordnet war, dann wird dort auch das Reskript von Septimius Severus und Caracalla an Iunius Rufinus enthalten gewesen sein, das die Verfolgung entflohener Sklaven von Amts wegen ohne private Initiative gestattete (fugitivos conquirere (. . .) debes)112. Die Verbindung zu conquirere in D. 1, 18, 13 pr. wäre in diesem Fall offensichtlich, auch die fugitivi waren explizit Personen, die als mali homines die öffentliche Sicherheit der Provinz stören konnten. Stand D. 11, 4, 3 dagegen allein, so ist es nicht abwegig, auch diejenigen als mali homines und als Störer der Provinzordnung zu betrachten, die entflohene Sklaven bei sich aufnahmen. Dafür spricht auch die dem Ermessen des Statthalters überantwortete Bestrafung der den Zugang verweigernden Grundeigentümer, was mit D. 1, 18, 13 pr. übereinstimmt. Ferner könnte Ulpian selbst, dessen Empfindlichkeit gegenüber Übergriffen der Reichen auch anderswo hervortritt113, die Großgrundbesitzer, die fugitivi auf ihren Grundstücken verbargen, als mali homines angesehen und das Fragment deswegen an dieser Stelle eingeordnet haben. Zum Schutz der weniger einflussreichen Sklavenhalter vor dem Verlust ihrer Sklaven waren daher sowohl diverse Hilfen vorgesehen als auch die Bestrafung unkooperativer Grundstückseigner ex officio.

4. Laktanz, div. inst. 5, 11, 19: Strafrechtliche Beurteilung der Christen Domitius (sc. Ulpianus) de officio proconsulis libro septimo rescripta principum nefaria collegit, ut doceret quibus poenis affici oporteret eos qui se cultores dei confiterentur.

Da im Corpus Iuris (natürlich) keine Bestimmungen über die Strafbarkeit der Christen enthalten waren, ist der Hinweis von Laktanz in den divinae institutiones114 für die Forschung besonders wertvoll. Es handelt 112

D. 1, 15, 4 (Ulpian l. s. de off. praef. urbi). Vgl. Liebs, Art. Jurisprudenz, S. 622 unter Verweis auf D. 5, 3, 27 § 1 (15 ad ed.) und 47, 10, 13 § 7 (57 ad ed.). 113

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sich um eine der immer wieder angeführten Quellen zur Lösung der bis heute umstrittenen Frage, auf welcher Grundlage die Christen bis zum Jahr 249 n. Chr.115 vom römischen Staat verfolgt wurden.116 Um die Regelungen in Bezug auf die Christen im Werk Ulpians richtig einzuordnen und zu bewerten, ist es nötig, die rechtliche Vorgehensweise des römischen Staates seit Tiberius nachzuzeichnen. Nur so kann es gelingen, einzelne bekannte Maßnahmen korrekt zu deuten und Entwicklungen bei der Lösung der Christenfrage zu erkennen. a) Apostelgeschichte In der Apostelgeschichte nehmen erstmals nach Jesu Tod römische Provinzstatthalter von den Christen öffentlich Kenntnis. Erstes Zeugnis ist die Klage der Juden gegen Paulus wegen Verstoßes gegen das jüdische Gesetz vor dem Prokonsul von Achaia, L. Iunius Gallio Annaeanus, im Jahre 51 oder 52 n. Chr.:117 Gallio lässt die Anklage gegen Paulus nicht einmal zu, da kein Vergehen oder Verbrechen vorliege, es sich vielmehr um eine innerjüdische Streitigkeit handele.118 Ferner wird von den Verfahren gegen Paulus vor den Prokuratoren119 von Iudaea, Antonius Felix120 (etwa 58 n. Chr.) und Porcius Festus121 114 Die „Göttlichen Unterweisungen“ wurden zwischen 303 und 311 n. Chr. verfasst, als Reaktion auf die große Verfolgung der Christen unter Diokletian und als Antwort auf die sie begleitenden antichristlichen Werke hoher Beamter und Philosophen am Hof Diokletians (vgl. div. inst. 1, 1, 8 u. 10; 5, 4, 1). Im 5. Buch des Werkes schildert er unter dem Titel de iustitia unter anderem, wie die Christenverfolger auch die gesetzgeberische Tätigkeit gegen die Christen als Ausfluss von pietas und iustitia geltend machten und dabei sogar von den Juristen unterstützt wurden (in diesem Zusammenhang wird die Ulpianstelle angeführt), wie sehr dies aber, nach Laktanz, gegen die wahre Gerechtigkeit verstieß. Vgl. Liebs, Art. Jurisprudenz, S. 621 f. und ausführlich Wlosok, HLL 5 (1989) § 570, insbes. S. 385 ff. 115 Damals erließ Kaiser Decius ein Opferedikt, das zur so genannten siebten Verfolgung (vgl. Augustinus, civ. Dei 18, 52) führte, vgl. Guyot/Klein, Das frühe Christentum I, S. 373. 116 Die besten und umfangreichsten Bewertungen dieser Frage finden sich bei Barnes, Legislation, S. 32 ff.; Sherwin-White, The early persecutions, S. 772 ff.; De Ste Croix, Why were, S. 210 ff.; Wlosok, Die Rechtsgrundlagen, S. 275 ff.; Last, Art. Christenverfolgung, S. 1210 ff. (insbes. S. 1214 ff.). Zu späteren Maßnahmen Selinger, Mid-third century persecutions. 117 Die Zeitangabe ergibt sich aus einigen Inschriften und Texten, die Groag, Die römischen Reichsbeamten, S. 32 ff. anführt; dort auch zum vollständigen Namen des Prokonsuln. 118 Apg 18, 12–16. 119 Ritterlichen Statthaltern kleinerer, noch unbefriedeter oder rückständigerer Provinzen, vgl. Pflaum, Art. procurator, S. 1243 ff. Diese führten in Iudaea ab ca.

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(60 n. Chr.)122 berichtet123, die mit Provokation des Paulus an den Kaiser124 endeten. Auch hier wird deutlich, dass gegen Paulus aus römischer Sicht letztlich keine Anklage vorgelegen hatte, die Tod oder Haft hätte nach sich ziehen können125, sondern nur Anschuldigungen aufgrund des jüdischen Gesetzes. Aus den genannten Texten geht hervor, dass die römische Obrigkeit bis 60 n. Chr. von der Existenz der neuen Religion des Christentums noch keine Kenntnis genommen hatte, nicht einmal am Ort seines Entstehens in Iudaea, schon gar nicht war das bloße Bekenntnis zum christlichen Glauben strafbar. Es ist daher verfehlt, Promulgation eines SC unter Tiberius anzunehmen, worin das Christsein als solches für strafbar erklärt worden wäre.126 Die Vorwürfe der Ankläger des Paulus wurden als innerjüdische Streitigkeiten betrachtet, die von den lokalen Gerichten zu beurteilen seien. b) Das so genannte Institutum Neronianum127 Unter Nero, der in der christlichen Tradition als erster Christenverfolger gilt (dedicator damnationis)128, soll, so ist die Meinung vieler vor allem älterer Forscher, eine lex, ein edictum, ein rescriptum oder ein mandatum ergangen sein, das das Christentum als solches als Verbrechen ansah, welches mit dem Tod bestraft worden sei.129 Ausgangspunkt dieser Annahme ist hauptsächlich der Bericht Tertullians ad nationes 1, 7, 9: Et tamen permansit erasis omnibus hoc solum institutum Neronianum. 44 n. Chr. nicht mehr den Titel praefectus, sondern procurator, dazu Volkmann, Die Pilatusinschrift, S. 131 f. mit Verweis auf das Dekret des Claudius an die Juden bei Josephus, ant. Jud. 20, 14. 120 Zu ihm Thomasson, Laterculi I, 34, S. 4 m. w. N.: procurator zwischen 52 und 60 n. Chr. 121 Zu ihm Thomasson, Laterculi I, 34, S. 4 m. w. N.; PIR2 P 858: procurator zwischen 60 und 62 n. Chr. 122 Die Zeitangaben ergeben sich aus Apg 24, 27. 123 Apg 24, 1–24; 25, 6–12. 124 Zur Provokation durch Paulus vgl. zur Lex Iulia de vi u. III. 6. a). 125 Apg 23, 29; 25, 25; 26, 31. 126 So aber Volterra, Di una decisione, S. 471 ff.; Sordi, The Christians, S. 17 ff., die dies hauptsächlich aus Tertullian, Apol. 5, 2; 21, 24 folgern. Dagegen zurecht, da sich aus den angeführten Tertullian-Stellen keinerlei Hinweis auf ein SC unter Tiberius ergibt, Barnes, Legislation, S. 32 f. mit weiteren Argumenten. 127 Zu ihm hauptsächlich Borleffs, Institutum Neronianum, S. 217 ff.; Zeiller, Institutum Neronianum, S. 236 ff.; Tibiletti, Nota, S. 287 ff. 128 Ein Ausdruck Tertullians, Apol. 5, 3: Illic (sc. commentarios) reperietis primum Neronem in hanc sectam cum maxime Romae orientem Caesariano gladio ferocisse. Sed tali dedicatore damnationis nostrae etiam gloriamur.

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Die damnatio memoriae habe zwar alle von Nero erlassenen Maßnahmen ausgelöscht, es blieb jedoch ein institutum Neronianum übrig. Dabei soll es sich, so die Hypothese, um eine Anordnung handeln, nach der schon das Christentum als solches strafbar war, etwa mit dem Inhalt: Non licet esse Christianos!130 Dieses Gesetz sei dann stillschweigend von den folgenden Kaisern übernommen worden und bildete so die Rechtsgrundlage aller Christenverfolgungen in der Folgezeit, auch in den Provinzen.131 Die Theorie eines Sondergesetzes wird mittlerweile überwiegend abgelehnt und dies zu Recht. Schon eine nähere Betrachtung des Textes im Werk Tertullians lässt an dieser These zweifeln. In den sonstigen Schriften Tertullians erscheint das Wort institutum nie in der Bedeutung „gesetzliche Maßnahme“, sondern nur zur Bezeichnung einer Einrichtung oder Neuerung.132 Außerdem fällt die Übereinstimmung des Tertullian-Textes mit einem Passus bei Sueton133 auf, woraus der Autor den Begriff institutum übernommen haben könnte.134 Schließlich ist zu beachten, dass das Werk ad nationes nur einen zu überarbeitenden, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Vorläufer des Apologeticum darstellen sollte.135 In der zur Passage in ad nationes 1, 7, 9 gehörenden Parallelstelle im Apologeticum ist jedoch von einem institutum Neronianum keine Rede mehr. Hier heißt es nur: Illic (sc. commentarios) reperietis primum Neronem in hanc sectam cum maxime Romae orientem Caesariano gladio ferocisse.

Hätte Tertullian wirklich eine gesetzliche Maßnahme unter Nero gemeint, so wäre im an die Statthalter der Provinzen gerichteten Apologeticum136 der richtige Platz gewesen, wo Tertullian sie gewiss nicht vergessen hätte. Ein Gesetz Neros, welches die Christen als solche für strafbar erklärt hätte, ist nach alledem unwahrscheinlich, auch weil alle Argumente und Kritik der 129 Die Vertreter der Theorie eines Sondergesetzes gegen die Christen werden bei Flach, Christenverfolgungen, S. 447 Fn. 22–25 angeführt. 130 Auch dieser Ausdruck findet sich bei Tertullian: Apol. 4, 4. Er geht aber ziemlich sicher auf das in der griechischen Fassung der Acta Apollonii, 23 (zu ihnen s. u. f) cc)) genannte SC aus der Regierungszeit des Commodus zurück (vgl. Simonetti, Qualche osservazione, S. 39 ff.). Das SC fasst jedoch nur die geltende, von Trajan begonnene Praxis zusammen (s. u. f) cc)). 131 In diesem Sinne vgl. nur Becker, Tertullian, S. 25 f. 132 Vgl. Tibiletti, Nota, S. 291 u. Fn. 19 und Ronconi, Tacito, S. 624. 133 Nero 16, 2: Multa sub eo animadversa severe et coercita nec minus instituta: . . . afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis novae ac maleficiae. Ausführlich zu dieser Stelle noch sogleich im Text. 134 Vgl. zu dieser Argumentation breit Borleffs, Institutum Neronianum, S. 230 ff. 135 Vgl. dazu vor allem Becker, Tertullians Apologeticum, S. 33 ff., ihm folgend Tränkle, HLL 4 (1997) § 474, S. 444. 136 Zu ihm ausführlich u. g).

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christlichen Apologeten einen solchen Akt genannt hätten137, was aber ersichtlich nicht der Fall war. Die Aussagen anderer Schriftsteller können die These eines Sondergesetzes gegen die Christen unter Nero ebenso wenig stützen. Doch können sie dazu beitragen, die wirkliche Rechtsgrundlage der Verfolgungen in neronischer Zeit zu erhellen. Tacitus berichtet in Ann. 15, 44138 von der Verfolgung und Hinrichtung der Christen nach dem Brand Roms im Jahr 64 n. Chr.139, worauf offenbar auch Tertullian in den angeführten Passagen anspielt.140 Er teilt mit, dass 137

Vgl. dazu nur Last, Art. Christenverfolgung, S. 1220 f.; Barnes, Legislation, S. 34, insbes. mit dem Hinweis auf Tertullian, Apol. 5, 3 f. und Melito, bei Eusebius HE 4, 26, 9. 138 Zu dieser Stelle grundlegend Fuchs, Tacitus und die Christen, S. 65 ff.; Ders., Tacitus in der Editio, S. 221 ff.; Koestermann, Tacitus, Annalen IV, S. 253 ff.; Wlosok, Rom und die Christen, S. 7 ff. 139 Koestermann, Ein folgenschwerer Irrtum, S. 456 ff., sowie Ders., Tacitus, Annalen IV, S. 254 f. nimmt an, Tacitus habe den Brand Roms fälschlicherweise mit den anschließenden Verfolgungen von Christen in Verbindung gebracht. Vielmehr seien von Nero Chrestiani (wie der Text in Ann. 15, 44, 2 in der Tat ursprünglich lautete, vgl. Fuchs, Tacitus und die Christen, S. 69 ff.; Ders., Tacitus in der Editio, S. 223), Anhänger eines jüdischen Agitators Chrestus (den K. in Sueton, Claudius 25, 4 ermittelt), verfolgt worden. Dazu passe dann auch der Ausdruck multitudo ingens (Ann. 15, 44, 4), weil im Jahre 64 n. Chr. nicht von einer großen Zahl von Christen, wohl aber von einer großen jüdischen Gemeinde in Rom gesprochen werden konnte. Der Ansatz Koestermanns ist zwar sehr interessant, doch kann ihm nicht gefolgt werden. Mit multitudo ingens kann Tacitus übertrieben haben. Der Römerbrief des Paulus, der etwa zwischen 56 und 58 n. Chr. geschrieben wurde, vgl. Röm. 15, 25–32 und Apg. 20, 3 ff., setzt die Existenz einer Gemeinde in Rom voraus, die auch zu jener Zeit nicht verschwindend klein gewesen sein kann, vgl. nur die ausdrücklich genannten Gemeindeglieder in Röm. 16, 3–16. Noch gewichtiger aber ist der Einwand, dass nicht Tacitus, sondern der in Ann. 15, 44, 2 genannte vulgus Roms die Christen als Chrestianos bezeichnete, und auch nicht erstmalig, vgl. Apg. 11, 26 aus Antiochia etwa 40 n. Chr. Dabei mag die negative Bedeutung dieser Bezeichnung eine Rolle gespielt haben, am besten wohl, wie Hommel, Tacitus, S. 16, mit „Biedermänner“ zu übersetzen; auch im Neugriechischen ist „Chreste“ negativ belegt, vgl. Wlosok, Rom und die Christen, S. 10 Fn. 15. Außerdem könnten die bei Sueton angeführten Aufstände der Juden in Rom auf Anstiftung des Chrestus unter Claudius zu dem Namen geführt haben. Jedenfalls muss man wohl die Annahme zurückweisen, bei den Chrestiani habe es sich um eine zur Zeit Neros unter diesem Namen bekannte national-jüdische Gruppe gehandelt. In den Quellen gibt es diesbezüglich keine Hinweise, vgl. Wlosok, Rom und die Christen, S. 9 Fn. 11. Auch Tertullian weist noch am Ende des 2. Jh. n. Chr. auf die unrichtige Benennung hin (Apol. 2, 5): sed et cum perperam „Chrestianus“ pronuntiatur a vobis, nam nec nominis certa est notitia penes vos (ähnlich auch Tertullian, ad nat. 1, 3, 9; Laktanz, div. inst. 4, 7, 4). 140 Erstaunlicherweise erwähnen die Kirchenschriftsteller nirgends eine Schuldzuweisung an die Christen für den Brand Roms, worauf auch Koestermann, Ein fol-

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Nero Schuldige der Brandstiftung gesucht habe.141 Weil die Bevölkerung Roms den Christen jedes Verbrechen zutraute142, sei es dem Kaiser möglich gewesen, die Christen als Verantwortliche zu präsentieren. Wenn man die Zielsetzung Neros berücksichtigt, sich von der ihm unterstellten eigenen Schuld am Brand143 freizusprechen, so wäre das gründlich misslungen, hätte er die Christen nur wegen ihres Glaubens bestrafen lassen. Er wäre damit seinem Ziel, dem Volk den oder die Brandstifter zu präsentieren, kein Stück näher gekommen. Wahrscheinlicher ist die Annahme, der Kaiser habe die Christen als verbrecherische Gemeinschaft hingestellt, die als ganze für den Brand verantwortlich gewesen sei. Mit ihrem Geständnis144, das sich aber nur auf die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft bezogen haben wird, waren die Christen als Brandstifter überführt. Tacitus selbst hielt zwar die Verfolgten eher des odium generis humani als der Brandstiftung für schuldig145, doch spricht das nicht gegen die angenommene Rechtsgrundlage. Tacitus schrieb erst im 2. Jh. n. Chr., nachdem sich die rechtliche Grundlage für die Bestrafung von Christen geändert hatte146; außerdem hatte Tacitus eine persönliche Aversion gegen das Christentum als solches, die sich aus der Bezeichnung exitiabilis superstitio147 und dem juristisch inhaltsleeren Tatbestand odium generis humani ablesen lässt. genschwerer Irrtum, S. 461 hinweist. Einzig bei Sulp. Severus, Chron. 2, 29, 2 und im Briefwechsel Senecas mit Paulus (ep. 11, S. 133 Barlow) wird hierauf Bezug genommen. Sulpicius Severus hängt jedoch von Tacitus ab, vgl. Barnes, Legislation, S. 35 (dort auch Entkräftung des Hinweises von Sulpicius auf Gesetze und Edikte Neros in Chron. 2, 29, 3), und der Briefwechsel geht zwar wahrscheinlich auf eine von Tacitus unabhängige Quelle zurück, vor allem wegen der genauen Nennung der Konsuln des Jahres 64 n. Chr. am Ende des Briefs. Doch ist er apokryph und entstand erst zwischen 324/25 und 392 n. Chr., vgl. Römer, Der Briefwechsel, S. 45 und Divjak, HLL 5 (1989) § 571.1, S. 404 ff. Vielleicht ist der fehlende Hinweis auf den Brand Roms in zeitlich näherliegenden Quellen tatsächlich nur mit apologetischer Vorsicht erklärbar, wie Wlosok, Die Rechtsgrundlagen, S. 284 Fn. 21 annimmt; möglich ist aber auch, nachdem seit Trajan auf den Vorwurf der Brandstiftung nicht mehr zurückgegriffen wurde (s. u. c)), dass eine Auseinandersetzung mit diesem Verbrechen den Apologeten nicht mehr nötig erschien. 141 Tacitus, Ann. 15, 44, 2: Nero subdidit reos. 142 Tacitus, Ann. 15, 44, 2: quos per flagitia invisos. 143 Tacitus, Ann. 15, 44, 2: Sed non ope humana, non largitionibus principis aut deum placamentis decedebat infamia, quin iussum incendium crederetur. Andeutung bereits in Ann. 15, 38, 1: Sequitur clades, forte an dolo principis incertum. 144 Tacitus, Ann. 15, 44, 4: Igitur primum correpti, qui fatebantur (. . .). 145 Tacitus, Ann. 15, 44, 4: haud proinde in crimine incendii quam odio humani generis convicti. 146 Dazu sogleich. Die Datierung der Annalen erfolgt regelmäßig erst nach 116 n. Chr., vgl. von Albrecht, Geschichte II, S. 872. 147 Tacitus, Ann. 15, 44, 3.

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Der Historiker gab daher gewiss nicht den Inhalt der tatsächlichen Urteilsbegründung wieder148, sein Bericht deutet sogar eher darauf hin, dass die Christen wirklich wegen Brandstiftung verurteilt wurden. Nach Tacitus stimmte diese Beschuldigung zwar nicht, die Bestrafung der Christen war nach ihm aber dennoch gerechtfertigt, und zwar allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur neuen Religion. Auch die gegen die Christen verhängten Strafen, nämlich in Felle wilder Tiere gehüllt von Hunden zerfleischt sowie ans Kreuz geschlagen und angezündet zu werden, um als nächtliche Beleuchtung zu dienen149, lassen sich problemlos als Bestrafungen in Folge einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Brandstiftung erklären.150 Die juristischen Quellen zum incendium nennen als Strafe Todesstrafe und explizit damnatio ad bestias sowie vivicombustio, was die von den Christen erlittenen Strafen vollständig abdeckt.151 Eine andere Beurteilung der Rechtsgrundlage kann auch nicht aus Sueton, Nero 16, 2152 gefolgert werden. Sueton erwähnt zwar die Bestrafung der Christen unabhängig vom Brand Roms (Nero 38), das bedeutet aber nicht, dass zwischen beiden Vorgängen kein Zusammenhang bestand. Wenn man den Aufbau der Nero-Vita betrachtet, klärt sich der Grund der Trennung auf: Sueton berichtet zunächst zusammenhängend von den guten Taten Neros, um daraufhin ab Kapitel 20 seine Schandtaten und Verbrechen aufzuzählen.153 Während der Brand Roms also zu den negativen Aspekten in Neros Regentschaft zählt, hält Sueton wie Tacitus die Bestrafung der Christen für richtig, zwar nicht wegen Brandstiftung, die ja den Christen von Nero nur unterschoben worden war, aber weil sie ein genus hominum superstitionis novae ac maleficiae bildeten, das Strafe verdient hatte. Auch Sueton könnte die trajanische Neuausrichtung der rechtlichen Behandlung 148

So auch Last, Art. Christenverfolgung, S. 1210 ff.; Barnes, Legislation, S. 34. Tacitus, Ann. 15, 44, 4: (. . .), ut ferarum tergis contecti laniatu canum interirent aut crucibus affixi flammandique, ubi defecisset dies, in usum nocturni luminis urerentur. 150 In diese Richtung argumentieren auch Schwarte, Intention und Rechtsgrundlagen, S. 22 und Wlosok, Die Rechtsgrundlagen, S. 286. 151 Incendium wurde von der Lex Cornelia de sicariis erfasst (Coll. 12, 5, 1, zur Stelle s. u. III. 3. h) bb)) und war daher grundsätzlich de capite zu bestrafen (Coll. 1, 3, 1, zur Stelle s. u. III. 3. a)). In der cognitio extra ordinem wurden gewisse Ausdifferenzierungen im Rahmen der kapitalen Bestrafung vorgenommen. So waren bei einer Brandstiftung in einer Stadt Verurteilungen ad bestias (Coll. 12, 5, 1) oder zur vivicombustio (D. 48, 19, 28 § 12, Callistratus 5 de cogn.) möglich, wenn die Täter von niederem Stand waren. Das waren die Christen zweifellos. 152 Text s. o. Fn. 133. 153 Diesen Aufbau spricht Sueton in Nero 19, 3 selbst an: Haec partim nulla reprehensione, partim etiam non mediocri laude digna in unum contuli, ut secernerem a probris ac sceleribus eius, de quibus dehinc dicam. 149

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von Christen gekannt154 und auf dieser Grundlage Nero insoweit gerechtfertigt haben. Schließlich war auch Plinius in seiner Anfrage zur Vorgehensweise gegen Christen keine allgemeingültige Maßnahme gegen die Christen bekannt, eine solche also auch nicht in den vom Kaiser mitgegebenen mandata enthalten.155 Und auch Trajan in seinem Antwortschreiben wies auf keine bestehende Regelung hin, die per Gesetz, SC oder Edikt in allen Provinzen gegolten hätte und die er zu Beginn seiner Amtszeit wegen der damnatio memoriae Neros ausdrücklich hätte wiederaufgreifen müssen.156 Im Gegenteil schrieb der Kaiser: Neque enim in universum aliquid, quod quasi certam formam habeat, constitui potest.157

Hinzu kommt, dass Plinius nachfragt, ob das nomen ipsum strafbar sei oder die dahinter stehenden flagitia. Das wäre unnötig gewesen, wenn eine Vorschrift mit dem Inhalt non licet esse Christianos existiert hätte, denn dann wären die Christen nämlich bereits wegen des nomen ipsum bestraft worden. Endlich zeigt auch der nachträgliche158 Begründungsversuch der ersten Verurteilungen durch Plinius mit pertinacia et inflexibilis obstinatio159, dass allein die Sicherung von Ruhe und Ordnung in der Provinz als Strafgrund diente, also keine gesetzliche Grundlage dafür notwendig war, weil ohne ein spezifisches Gesetz keine Straftat hätte verfolgt werden können. Der Grundsatz nullum crimen sine lege galt im römischen Strafrecht nicht.160 Vielmehr konnte jede Störung der öffentlichen Sicherheit zu einer Bestrafung führen.

154 Die Kaiserviten werden allgemein in die frühe Regierungszeit Hadrians datiert, vgl. von Albrecht, Geschichte II, S. 1105 m. w. N. Vielleicht hat er sogar Plinius nach Bithynien begleitet, vgl. Sallmann, HLL 4 (1997) § 404, S. 15. 155 Plinius ep. 10, 96, 1. Ausführlich zu den Christenbriefen sogleich, auch zur Erklärung, warum die Angeklagten als Christen angezeigt worden waren. 156 Plinius ep. 10, 97. 157 In diesem Sinne auch Paoli, Tacito, S. 61 f.; Robinson, Repressionen, S. 361. 158 Zur chronologischen Abfolge sogleich. 159 Ep. 10, 96, 3. 160 Wie hier Barnes, Legislation, S. 36 u. Fn 48, gegen Keresztes, Law and Arbitrariness, S. 204. Ebenfalls De Ste Croix, Why were, S. 220. Allgemein zum fehlenden Grundsatz nullum crimen sine lege beispielsweise Liebs, Röm. Provinzialjurisprudenz, S. 294 Fn. 37a.

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c) Die Christenbriefe von Plinius und Trajan (Plinius ep. 10, 96 und 97) Die nächste sichere Nachricht über die Behandlung von Christen stammt aus der Regierungszeit Trajans161, und zwar aus der bei Plinius im 10. Buch der epistulae erhaltenen Korrespondenz mit dem Kaiser während seiner außerordentlichen Statthalterschaft in Bithynia et Pontus162, die auf zwei Jahre zwischen 109 und 113 n. Chr. angesetzt wird.163 Die Christenbriefe entstanden im zweiten Jahr seiner Statthalterschaft, wohl in Amastris oder Amisos.164 Die Briefe geben, abgesehen von theologisch interessanten Ein161 Von Vespasian und Titus ist nichts über ihr Verhalten zu Christen überliefert. Dagegen wird Domitian von den Kirchenschriftstellern als Christenverfolger hingestellt (vgl. Tertullian, Apol. 5, 4; Melito, bei Euseb, HE IV, 26, 9; Hegesippus bei Euseb, HE III, 19–20, 7), allerdings ohne dass von umfassenden Verfolgungsmaßnahmen berichtet würde. Solche sind auch deshalb unwahrscheinlich, weil Sueton, der sie wohl als gute Tat Domitians angeführt hätte (vgl. Nero 16, 2), nichts dergleichen verlauten lässt. Die üblicherweise angeführten Texte über die Bestrafung von Flavius Clemens, seiner Frau Flavia Domitilla und Acilius Glabrio im Jahre 95 n. Chr. bei Dio 67, 14, 1 ff. und Sueton, Dom. 15, 1 ergeben noch keine allgemeine Verfolgung der Christen durch Domitian. Es ist nicht einmal sicher, ob die Verurteilten Christen waren (vgl. dazu Eck, Das Eindringen des Christentums, S. 392 f. u. Fn. 59, 60). Flavius Clemens war vielmehr als potentieller Nachfolger Domitians gefährlich und deshalb in einem Majestätsprozess verurteilt worden, ebenso wie die bei Sueton, Dom. 10, 2 Genannten. Der Vorwurf des Atheismus war demgegenüber wohl eher ein Vorwand (so Bringmann, Christentum, S. 15 Fn. 28); vielleicht hatte ihn gar erst Dio hineininterpretiert (so Speigl, Der römische Staat, S. 26). Zwar scheint es in der Tat immer mehr Übergriffe gegen Christen gegeben zu haben, vielleicht aufgrund von Domitians verschärfter Eintreibung des fiscus Iudaicus in Rom (vgl. Sueton, Dom. 12, 2), was Unruhen zwischen Christen und Juden ausgelöst und staatliches Eingreifen nach sich gezogen haben könnte. Das führte aber nicht zu einer planmäßigen Verfolgung; die für solche Verfolgungen angeführten Ausführungen im 1. Clemensbrief 1, 1; 7, 1 sowie im 1. Petrus-Brief 4, 12 ff. sind kein ausreichender Beweis dafür. In den (östlichen) Provinzen ist ebenso wenig über eine systematische Verfolgung bekannt: Auch hier ist eher von Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen auszugehen, die zu Unruhen und vereinzelt zum Eingreifen der Staatsmacht führten. Vgl. in diese Richtung auch Wlosok, Die Rechtsgrundlagen, S. 287 f.; Barnes, Legislation, S. 35 f.; Ders., Tertullian, S. 150; Moreau, A propos, S. 15 ff.; Speigl, Der römische Staat, S. 19 ff. u. S. 35 ff.; zu einseitig Schwarte, Intention und Rechtsgrundlagen, S. 22; für eine systematische Verfolgung Domitians plädieren dagegen Sordi, La persecuzione, S. 1 ff.; und Keresztes, The Jews, S. 1 ff. 162 Plinius wurde in Sondermission zur Behebung von Missständen, insbesondere verworrene innere Verhältnisse in die eigentlich senatorische Provinz geschickt und trug den Titel legat(us Augusti) pro pr(aetore) provinciae Pon[ti et Bithyniae] consulari potesta[t(e)] (zum Titel s. CIL V 5262 = Dess. 2927; s. a. CIL VI 1552 = XI 5272 mit CIL VI, 8, 3). Vgl. zu dieser Sondermission Sherwin-White, The letters, S. 80 ff.; PIR2 P, Nr. 490, S. 207; Muth, Plinius d. J., S. 95 f. 163 Dazu PIR2 P Nr. 490, S. 207 m. w. N.

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blicken in das Gemeindeleben des frühen Christentums165, Hinweise auf die Rechtsgrundlagen des Vorgehens gegen die Christen166, aber auch auf den Strafprozess in den Provinzen allgemein. Zum Verständnis der Briefe empfiehlt es sich, sich die chronologische Abfolge der Vorgänge bei Plinius zu vergegenwärtigen. Dieser fragte erst nach dem letzten von ihm geschilderten Verfahren, also mit einem anderen Kenntnisstand als zu Beginn der Prozesse. Berücksichtigt man diese Entwicklung, so können Rückschlüsse auf die rechtliche Grundlage der Christenprozesse unter Plinius gezogen werden, die Trajan in seiner Antwort dann verändert hat. Bei Plinius wurden zunächst zahlreiche Personen als Christen angeklagt.167 Im Prozess fragte er sie dreimal, ob sie Christen seien. Bestätigten sie das, so konnte das Urteil gesprochen werden: Nichtrömer wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, Römer nach Rom zur Bestrafung überstellt.168 Plinius hat also zu Beginn keine Zweifel, wie ein Verfahren gegen Christen abzulaufen hatte und welches der rechtliche Grund ihrer Strafbarkeit war. Die am Anfang der Anfrage ausgedrückten Unsicherheiten169 sind erst im Laufe späterer Vorkommnisse entstanden, da der von Plinius am Anfang kritiklos angenommene Strafgrund der Christen ihn nicht mehr überzeugte. Mit seinem Hinweis auf certe pertinacia et inflexibilis obstinatio zur Begründung der Verurteilung, „was es auch immer sei, was sie gestanden“, versucht er, nachträglich die zum damaligen Zeitpunkt nicht hinterfragte Verurteilung zu rechtfertigen. Nach den ersten Prozessen gehen weitere, diesmal anonyme Anzeigen, ein. Auch hier fragte Plinius, wie schon zuvor, ob die Angeschuldigten Christen seien. Wer leugnete, Christ zu sein oder auch nur gewesen zu sein, und den Göttern und dem Kaiser opferte, ließ Plinius frei.170 Eine nähere 164 Vgl. Sherwin-White, The letters, S. 691. Die Orte liegen am Schwarzen Meer in Pontus, die heutigen Samsun und Amasra in der Nord-Türkei, ergeben sich aus ep. 10, 92 und 98. 165 Insbes. Plinius, ep. 96 §§ 7 u. 8. 166 Zum Christenbrief des Plinius an Trajan aus rechtshistorischer Sicht vgl. aus der reichhaltigen Literatur z. B. Mayer-Maly, Der rechtsgeschichtliche Gehalt, S. 311 ff.; Babel, Der Briefwechsel; Freudenberger, Das Verhalten (oft sehr weitschweifig und teilweise juristisch unrichtig, vgl. die Rezension von Mayer-Maly, Rez. Freudenberger, S. 546 ff.); Weber, Nec nostri saeculi est, S. 1 ff.; Muth, Plinius d. J., S. 96 ff.; Ronconi, Tacito, S. 615 ff. 167 Zu dieser Bedeutung von deferre sogleich. 168 Ep. 10, 96, 2–4. 169 Ep. 10, 96, 1 f., insbesondere: Ideo nescio, quid et quatenus aut puniri soleat aut quaeri. 170 Ep. 10, 96, 5.

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Untersuchung folgte nun erst bei den Apostaten, also denjenigen, die zugaben, Christen gewesen zu sein, zum Zeitpunkt des Prozesses aber nicht mehr, und auch den Göttern opferten.171 Plinius musste feststellen, dass die Christen keine Art von Verbrechen begingen, er fand lediglich eine prava et immodica superstitio.172 Erst diese Ermittlungen führten zu seiner Anfrage; die nähere Untersuchung im Fall der aussagebereiten Apostaten machten ihn unsicher, welches Verhalten der Christen denn strafwürdig wäre: Nec mediocriter haesitavi, (. . .) an nomen ipsum, si flagitiis careat, an flagitia cohaerentia nomini puniantur.173

Daraufhin nimmt Trajan in seiner Antwort zur Rechtsgrundlage Stellung. Die rechtliche Einordnung stellt sich damit wie folgt dar: Zu Beginn seiner Untersuchungen ist sich Plinius über den Strafgrund der Christen im Klaren: Diejenigen, die zugaben, Christen zu sein, galten damit der Begehung bestimmter Verbrechen, flagitia, für überführt.174 Das zeigt sich vor allem in der bei den Apostaten vorgenommenen Untersuchung, die hauptsächlich den Verbrechen galt, welche die Christen bei ihren Zusammenkünften begehen oder planen würden.175 Aber auch am Beginn der Anfrage, ob das nomen ipsum ohne Vorliegen von flagitia oder mit dem Namen verbundene Verbrechen (flagitia cohaerentia nomini) zu bestrafen seien, wird auf eine solche vor Plinius gängige Praxis hingewiesen. Bereits unter Nero waren ja die Christen bei Bekenntnis zu ihrer Religion als Brandstifter verurteilt worden176, was deswegen besonders leicht zu erreichen war, weil das Volk den Christen jegliche Schandtat zutraute.177 Auf Grund dieser ersten offiziellen Gleichsetzung von Christen mit Verbrechern war der Weg nicht weit, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit anderen Geheimkulten178, dass die Christen bei Geständnis ihres Glau171

Ep. 10, 96, 6. Ep. 10, 96, 7 f. 173 Ep. 10, 96, 2. 174 Wie hier auch Sherwin-White, Why were, S. 251 f.; Ders., The letters, S. 787 gegen De Ste Croix, Why were, S. 233 f.; Ders., Why were rejoinder, S. 258 f.; Vittinghoff, „Christianus sum“, S. 346; Speigl, Der römische Staat, S. 64. 175 Ep. 10, 96, 7 f. Hier wird deutlich, welche flagitiae den Christen üblicherweise vorgeworfen wurden: Die Christen verneinen, ne furta, ne latrocinia, ne adulteria committerent, ne fidem fallerent, ne depositum appellati abnegarent, und, besonders interessant, dass ihr Mahl promiscuum et innoxium sei, also nichts mit Blutschande oder Ritualmorden, beliebten Vorwürfen gegen die Christen (s. nur Tertullian, apol. 7 u. 8), zu tun hatte. 176 Vgl. o. b). 177 Tacitus, Ann. 15, 44, 2: per flagitia invisos. Vgl. vor allem auch die mannigfachen Vorwürfe gegen die Christen bei Tertullian, apol. 7–45. 178 Auch beim so genannten Bacchanalienskandal 186 v. Chr. (vgl. Livius 39, 8–19; Dess. Nr. 18) und bei der Verfolgung der Druiden in Gallien unter Tiberius 172

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bens automatisch ohne weitere Nachprüfung schwerer flagitia für schuldig gehalten wurden. Der schematisierte Verfahrensablauf bei Plinius (dreimalige Frage, Opfertest bei Ableugnung) zeigt übrigens, dass Prozesse gegen Christen schon vor seiner Statthalterschaft in dieser Weise abliefen und ganz selbstverständlich so gehandhabt wurden.179 Plinius selbst aber war zuvor mit Prozessen gegen Christen nicht konfrontiert worden, weder in Rom noch in sonstiger Funktion180, was darauf hindeutet, dass Kontakte der römischen Zentralmacht mit dem Christentum noch immer eher selten waren. Eine reichsweite Verfolgung der Religion ist nicht anzunehmen, das Christenproblem scheint sich hauptsächlich in einigen Stadtgemeinden des Ostens abgespielt zu haben.181 Plinius scheint der erste gewesen zu sein, der sich näher mit den Christen befasste. Der Intellektuelle wollte genauer Bescheid wissen. Vielleicht war das Problem der Apostaten in den bisherigen Prozessen noch nicht aufgetreten, sondern gab es nur Geständnis und Ableugnung, was eine nähere Befassung mit dem Gegenstand erübrigt hatte. Nunmehr aber war der in der Zugehörigkeit zum Christentum immanente Vorwurf, flagitia begangen zu haben, nach der genaueren Untersuchung durch Plinius nicht mehr aufrechtzuerhalten: Nihil aliud inveni quam superstitionem pravam et immodicam.182 und Claudius (vgl. Sueton, Claudius, 25, 5; Plinius, nat. hist. 29, 54; 30, 13) ging es um Verbrechen, die bei der Ausübung von Geheimkulten begangen wurden; zu beachten ist aber, dass es sich in diesen Fällen um tatsächlich begangene Verbrechen handelte; s. zu den Bacchanalien sehr ausführlich Ermann, Strafprozess, S. 11 ff.; vgl. auch Last, The study, S. 84 ff. Es lag daher nicht fern, die jenen vorgeworfenen flagitiae auch mit den unbekannten und fremdartigen Christen in Verbindung zu bringen. 179 Auch aus ep. 10, 96, 1 f. geht hervor, dass ganz selbstverständlich Klagen gegen Christen erhoben wurden, Plinius fragt übrigens, wie man zu strafen und zu untersuchen pflege (soleat); unrichtig daher Speigl, Der römische Staat, S. 62, der meint, Plinius habe sich den Opfertest „ausgedacht“. Vgl. ferner den Prozess gegen Symeon vor dem Statthalter Atticus (Hegesippus bei Euseb HE III, 32, 6) und die Verurteilung des Ignatius ad bestias (Eusebius, HE III, 36, 3 f.). Dazu Smallwood, Atticus, S. 131 f.; einschränkend Speigl, Der römische Staat, S. 52 ff.; S. 56 ff. 180 Ep. 10, 96, 1: Cognitionibus de Christianis interfui numquam. 181 Vgl. hierzu Vittinghoff, „Christianus sum“, S. 332 ff. 182 Ep. 10, 96, 8. Dieser Aussage entkräftet im Übrigen die verbreitete Annahme, die Christen seien unter die Regelung der collegia illicita gefallen (so z. B. Borleffs, Institutum Neronianum, S. 220 ff.). Plinius, der die Provinz mit dem ausdrücklichen Auftrag übernommen hatte, das Vereinswesen strengstens zu überwachen und illegale Vereine zu verfolgen (vgl. ep. 10, 33 u. 34), hatte die Christen diesbezüglich sicherlich streng überprüft, aber letztlich auch darin keinen Strafgrund gesehen; so i. E. auch Wlosok, Rom und die Christen, S. 32 f.; Robinson, Repressionen, S. 363; Sherwin-White, The letters, S. 779 f. m. w. N.

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Der Statthalter legte die Frage dem Kaiser vor, bot jedoch schon selbst eine Lösung an, indem er zur Rechtfertigung der zunächst gefällten Todesurteile auf die pertinacia et inflexibilis obstinatio der Christen zurückgriff. Mit diesem Strafgrund wies Plinius allgemein auf seine Pflicht hin, als Statthalter, der für Ruhe und Ordnung in der Provinz zu sorgen hat, jeden Störer aus eigener Machtvollkommenheit zu bestrafen.183 Auch die Christen konnten solche Störer sein, hatte doch die immer stärkere Christianisierung, wie Plinius weiter schrieb, nicht unbeträchtliche Rückwirkung auf allgemein anerkannte religiöse Sitten und Gebräuche.184 Auf dieser Rechtsgrundlage kann Plinius sein Vorgehen auch problemlos rechtfertigen. Störer der öffentlichen Sicherheit waren nur die auch unter Androhung der Todesstrafe bekennenden Christen, denn die prava et immodica superstitio, die sie dadurch an den Tag legten, war geeignet, Unruhe in der Bevölkerung zu erregen.185 Die ableugnenden Angeklagten, die das Opfer vollzogen, waren dagegen nicht weiter gefährlich, hatten sie doch durch das Opfer ihren Respekt vor der Staatsmacht gezeigt; das galt auch für die Apostaten, die also im Augenblick der Verhandlung keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr darstellten. So wird auch die an Trajan gerichtete Bitte verständlich, den abgefallenen Christen venia ex paenitentia zu gewähren:186 Wären es noch auf die mit dem Christenbekenntnis unterstellten flagitia angekommen, dann hätte kaum allein wegen Abfall vom Christentum begnadigt werden können. Dagegen war das dann möglich, wenn man wie Plinius die Störung der öffentlichen Sicherheit in den Vordergrund stellte, war diese doch nach Apostasie nicht mehr tangiert. Schließlich passt auch die Annahme des Libells sine auctore187 in das soeben gezeichnete Bild, war doch bei Verfolgung von Störern der öffentlichen Ordnung gerade kein privater Ankläger nötig.188 Trajan billigte zwar das Vorgehen des Plinius, schlug jedoch einen anderen Weg bei der Festlegung des Strafgrundes ein als dieser, wobei er die Strafbarkeit der Christen auf eine neue Grundlage stellte. Er formulierte: 183 Vgl. D. 1, 18, 13 pr. (o. 1.) und konkret für die Mission des Plinius ep. 10, 117: Sed ego ideo prudentiam tuam elegi, ut (. . .) ea constitueres, quae ad perpetuam eius provinciae quietem essent profutura. 184 Ep. 10, 96, 9 f.: Neque civitates tantum, sed vicos etiam atque agros superstitionis istius contagio pervagata est. Folgen: desolata templa; sacra sollemnia diu intermissa; carnem victimarum, cuius adhuc rarissimus emptor inveniebatur. 185 Keinesfalls kann daher gesagt werden, Plinius habe bei den Christen einen harmlosen Aberglauben konstatiert (so aber Guyot/Klein, Das frühe Christentum I, S. 323 Fn. 16; auch Mayer-Maly, Der rechtsgeschichtliche Gehalt, S. 325). Dann hätte sich eine Bestrafung auch in Zukunft erübrigt. 186 Ep. 10, 96, 10. 187 Ep. 10, 96, 5. 188 Vgl. zu D. 1, 18, 13 pr. o. 1. c).

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si deferantur et arguantur, puniendi sunt.189

Damit beantwortete er die Frage des Plinius, weswegen die Christen zu bestrafen seien, eindeutig. Die Christen sollten nicht wegen spezifischer Verbrechen bestraft werden, sondern allein wegen der aktuellen Zugehörigkeit zur Christengemeinde und dem Bekenntnis zu ihrer Religion, also wegen des nomen ipsum. Anders als Plinius wollte Trajan aber nicht, dass die Christen vom Statthalter von Amts wegen verfolgt würden190, sondern nur auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Anklage durch einen Privaten191, der dadurch Verantwortung übernahm. Der Statthalter konnte die Christen fortan also nicht mehr auf der allgemeinen Grundlage einer Sicherung von Ruhe und Ordnung in der Provinz verfolgen, sondern die Zugehörigkeit zum Christentum stellte nun als solches ein außerordentliches Verbrechen dar, das nur auf Anklage hin sanktioniert werden konnte. Trajan machte mit dieser Einordnung deutlich, dass er die Christen nicht für so schwere Störer der öffentlichen Sicherheit hielt, dass sie ex officio zu verfolgen waren.192 Nur wenn sich ein privater Ankläger bereit fand, war ein Verfahren, mit allen Risiken für den Ankläger, möglich. Die anderen zur Rechtsgrundlage der Christenverfolgungen zu Beginn des 2. Jh. n. Chr. vertretenen Ansichten erweisen sich bei genauer Lektüre des Plinius-Briefes und der Antwort Trajans als nicht haltbar.193 So wird vertreten, beim Vorgehen gegen die Christen habe es sich um eine rein polizeiliche Maßnahme gehandelt, also um ein formloses Verfahren der römischen Behörden im Rahmen der coercitio.194 Dagegen spricht schon, dass die Koerzition im eigentlichen Sinn enger zu verstehen ist195, und konkret die Aussage von Plinius, es handele sich um cognitiones de Christianis 196, also um justizförmige Verfahren. Ferner gab es bei den ersten vor 189

Ep. 10, 97, 1. Ep. 10, 97, 1: Conquirendi non sunt. 191 Ep. 10, 97, 1: Si deferantur et arguantur (zu diesen Begriffen in Bezug auf eine förmliche Anklage vgl. D. 50, 16, 197 (Ulpian 50 ad ed.)); 10, 97, 2: Sine auctore vero propositi libelli in nullo crimine locum habere debent. Vgl. dazu auch Zanon, Le strutture, S. 133 Fn. 87. 192 Diese Einschränkung spricht übrigens auch dagegen, den Strafgrund in einer staatsfeindlichen nova superstitio zu sehen, die mit den religiösen Pflichten nicht übereingestimmt habe (so aber De Ste Croix, Why were rejoinder, S. 258 ff.). Denn eine solche Gefahrenquelle für die Grundfesten des römischen Staates wäre sicher nicht nur auf Anklage eines Einzelnen hin verfolgt worden. 193 Zur Hypothese einer selbständigen Strafbarkeit der Christen seit Nero s. o. b). 194 So beispielsweise Wlosok, Die Rechtsgrundlagen, S. 292: „völlig formloses Vorgehen gegen die Christen“; auch Speigl, Der römische Staat, S. 61 f., jedenfalls bis zur Antwort Trajans. 195 s. o. 1. b) zu D. 1, 18, 13 pr. 196 Ep. 10, 96, 1. 190

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Plinius durchgeführten Verfahren gegen die Christen gewiss persönliche Anklagen, da er sonst nicht eigens auf die spätere anonyme Denunziation eingegangen wäre.197 Auch Trajan sprach von einer privaten Anklage und damit von einem in jeder Hinsicht rechtsstaatlichen Verfahren gegen die Christen198 im Rahmen der cognitio extra ordinem.199 Die Kürze der Prozesse gegen bekennende Christen hat nichts mit Formlosigkeit des Verfahrens zu tun. Durch die confessio der Angeklagten war das Verfahren beendet, eine Beweisaufnahme nicht mehr nötig.200 Ferner wird vertreten, die Christen seien vor oder auch noch nach den Christenbriefen im Rahmen anderer Tatbestände wie maiestas, sacrilegium, Magie etc. verfolgt worden. Das geschah jedoch allein wegen ihres Bekenntnisses zum Christentum. Bei Plinius werden sie als Christen angeklagt und Plinius erblickt darin problemlos einen Kriminalstraftatbestand201, wenn er zunächst auch mit dem Geständnis die Begehung bestimmter flagitia unterstellte. Die Rechtfertigung der Verurteilungen durch Plinius mit einer Störung der öffentlichen Sicherheit wäre unnötig gewesen, hätten die Christen bereits unter einen speziellen Tatbestand gefasst werden können.202 Spätestens von Trajan hätte man erwartet, dass er die behauptete spezielle gesetzliche Grundlage, den Straftatbestand benennt, unter den die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft subsumiert werden konnte. Der Kaiser legte jedoch die außerordentliche Bestrafung des nomen ipsum fest, ohne auf einen vorgegebenen Straftatbestand zu verweisen.203 197

Ep. 10, 96, 2: (. . .) qui ad me (. . .) deferebantur. Ep. 10, 97, 1: Conquirendi non sunt; si deferantur et arguantur; 10, 97, 2: sine auctore vero proposito libello in nullum crimine locum habere debent. Unrichtig vor dem Hintergrund der letztgenannten Passagen Nesselhauf, Hadrians Reskript, S. 356 f., der meint, Trajan habe die bloße Denunziation zugelassen und keine förmliche Akkusation gefordert. 199 Richtig erkannt von De Ste Croix, Why were, S. 219 f.; Ders., Christianity’s encounter, S. 345 f.; Robinson, Repressionen, S. 362. 200 Vgl. dazu m. w. N. Kipp, Art. confessio 2), S. 870 f. und Kunkel, Prinzipien, S. 19 ff. 201 Ep. 10, 96, 2: Iis, qui ad me tamquam Christiani deferebantum; interrogavi ipsos, an essent Christiani. Der Richter begann den Prozess mit der Frage, ob die Angeklagten die Tat begangen hätten, vgl. De Ste Croix, Christianity’s encounter, S. 345; Vittinghoff, „Christianus sum“, S. 346. 202 So auch Wlosok, Rom und die Christen, S. 29. 203 Auch weitere Gründe sprechen gegen die Zuordnung zu anderen Tatbeständen. So ist die Bezugnahme auf sacrilegium schon deswegen verfehlt, weil juristisch damit bis zur Zeit Ulpians und Diokletians Tempelraub (vgl. D. 48, 13, 7 (6) u. PS 5, 19) und nicht etwa Religionsfrevel gemeint ist, wie dies beispielsweise Guyot/ Klein, Das frühe Christentum I, S. 47 annehmen. Freilich hat bei Tertullian, apol. 10, 1 sacrilegium eher diese Bedeutung, weil in der nicht-juristischen Sprache sacrilegium die Bedeutung von Religionsfrevel angenommen hatte und Tertullian dies in 198

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Schließlich wird vertreten, das strafwürdige Verhalten der Christen sei in der Verweigerung des Opfertestes zu erblicken.204 Aber dieser so genannte Opfertest205 spielte nur als Beweis für die Ableugnung, Christ zu sein, eine Rolle; bekennende Christen mussten sich diesem Test nicht unterziehen.206 Die Besonderheit der Fallkonstellation liegt darin, dass eine Gesinnung festgestellt werden musste. Eine solche war nur dann mit Sicherheit zu bejahen, wenn sie explizit preisgegeben wurde oder bestimmte Verhaltensweisen vorlagen, die auf das Vorliegen der Gesinnung zwingend schließen ließen. In dieses Schema reiht sich auch das bei den Christen praktizierte Verfahren ein: Bei den bekennenden Christen hatte Plinius kein Problem, sie wurden ohne Opfertest hingerichtet. Diejenigen aber, die ihr Christsein abstritten, wurden dem Test unterzogen, denn, wie Plinius selbst sagte, wirkliche Christen würden dazu nicht gezwungen werden können.207 Wurde das Opfer vorgenommen, so genügte das als Beweis für Nichtchristsein, eine Praxis, die von Trajan auch für die Apostaten bestätigt wurde. Der Opfertest war also bloßes Beweismittel zur Feststellung der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft. Abschließend sei noch auf zwei weitere aus den Christenbriefen hervorgehende Punkte hingewiesen. Zum einen musste die gegen Christen zu verhängende Strafe nicht stets die Todesstrafe sein. Die Entscheidung über die Strafhöhe lag bei der provinzialen cognitio extra ordinem im Ermessen der Statthalter, solange sie nicht durch kaiserliche Reskripte, mandata oder andere gesetzliche Vorgaben eingeschränkt worden war. Trajan ließ Plinius weiterhin freie Hand, wenn er schrieb: si deferantur et arguantur, puniendi sunt.208 seiner Verteidigungsschrift nutzen konnte. Vgl. ausführlich zur Wortbedeutung von sacrilegium u. bei D. 48, 13, 7 (6), III. 1. a). Unrichtig auch Schwarte, Intention und Rechtsgrundlage, S. 23, der zur Subsumierung unter die Lex Iulia maiestatis gelangt, weil in einem regulären Strafverfahren eine bestimmte Strafrechtsnorm notwendig sei. Er vermengt dabei Verfahren des ordo vor den quaestiones mit den cognitiones extra ordinem, die zwar in Form der Akkusation abliefen, aber keine Grundlage in den leges iudiciorum publicorum zu haben brauchten. 204 In diesem Sinne vor allem Mommsen, Religionsfrevel, S. 394. 205 Vgl. dazu Wlosok, Rom und die Christen, S. 31 u. Fn. 73, 74. 206 Ep. 10, 96, 2–4, wo vom Opfer keine Rede ist. 10, 97, 2: nur wer verneint, Christ zu sein, soll den Opfertest durchführen. Das übersieht Schwarte, Intention und Rechtsgrundlage, S. 22 f. Die von Trajan gebrauchte Formel quamvis suspectus in praeteritum stützt seine These ebenso wenig, wird damit doch nur festgelegt, dass keine Kalumnienklage gegen die Ankläger gestattet war, vgl. Guyot/Klein, Das frühe Christentum I, S. 324 Fn. 20. 207 Ep. 10, 96, 5: (. . .), quorum (die verschiedenen von Plinius geforderten Opfer) nihil cogi posse dicuntur, qui sunt re vera Christiani. Die ihm zugetragenen (dicuntur) Erkenntnisse entsprachen der Wahrheit, vgl. z. B. Apg. 15, 29 zum Götzenopferfleisch.

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Andererseits sagte Trajan: sine auctore vero proposito in nullo crimine locum habere debent.209

Das entspricht genau der in dieser Arbeit vertretene Ansicht, bei jedem Verbrechen, auch bei den crimina extraordinaria, sei eine private Anklage nötig gewesen, nicht nur bei denen des alten ordo.210 Trajans Aussage gilt uneingeschränkt für jedes crimen. Beim Straftatbestand der Christen handelte es sich um ein außerordentliches Verbrechen. d) Entwicklungen bis Marc Aurel aa) Das Reskript Hadrians an Minicius Fundanus Rund zehn Jahre nach den Christenbriefen zwischen Plinius und Trajan setzte sich Kaiser Hadrian mit dem Christenproblem auseinander: in seinem Reskript an den Prokonsul von Asia des Jahres 122/23 n. Chr.211, Minicius Fundanus.212 Damit beantwortete er eine Anfrage213 des Vorgängers von Minicius, Q. Licinius Silvanus Granianus Quadronius Proculus.214 Das Reskript ist bei Euseb und Justin nur in griechischer Übersetzung überlie208 Ep. 10, 97, 1. Verboten wird mit dem allgemeinen Ausdruck die Todesstrafe aber nicht; Trajan bestätigte vielmehr die Todesurteile in den ersten Verfahren. Wie hier Bringmann, Christentum, S. 2; allgemein auch Robinson, Repressionen, S. 366 f. Zu eng, nämlich nur Todesstrafe damit verbinden, z. B. Nesselhauf, Hadrians Reskript, S. 349; Vittinghoff, „Christianus sum“, S. 349. 209 Ep. 10, 97, 2. 210 Vgl. dazu ausführlich u. II. 1. 211 Früher wurde üblicherweise 124/25 n. Chr. angenommen, vgl. nur Groag, Art. Minicius 13), S. 1821; Guyot/Klein, Das frühe Christentum I, S. 325 Fn. 30 mit unrichtigem Verweis auf Magie, Roman Rule II, S. 1583, wo gerade keine Jahresangabe gemacht wird; Nesselhauf, Hadrians Reskript, S. 348. Das Datum ergibt sich aus AE 1957, 17, wo das Prokonsulat des Nachfolgers von Minicius, Pompeius Falco, in die Zeit der 8. tribunizischen Gewalt Hadrians (10. Dezember 123–9. Dezember 124) datiert wird, vgl. Eck, Senatoren, S. 192 Fn. 332. 212 CIL VI, 630 = Dess. 3541 ergibt Minicius und nicht Municius als Gentilname. Zu Minicius Fundanus, der auch Brieffreund von Plinius war (vgl. ep. 1, 9; 4, 15; 5, 16, 1; 6, 6), und seiner Karriere PIR2 M, Nr. 612, S. 288 f.; Groag, Art. Minicius 13), S. 1820 ff. 213 Allgemein zum Reskript Callewaert, Le rescrit, S. 152 ff.; Schmid, Christian re-interpretation S. 5 ff.; Keresztes, The Emperor, S. 120 ff. (entspr. weitgehend Ders., Hadrian’s rescript, S. 54 ff.); Freudenberger, Das Verhalten, S. 216 ff. Ob es sich, wie Bickerman, Trajan, S. 297 ff. meint, eigentlich um eine Anfrage des koinün von Asia an den Statthalter handelte, kann dahingestellt bleiben. 214 Zum Namen vgl. CIL II, 4609; zur Person Groag, Art. Licinius 159), S. 459 ff., PIR2 L Nr. 247, S. 58 f. Zur Datierung seines Prokonsulats in Asia vgl. Fn. 211.

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fert.215 Ursprünglich war es im lateinischen Original der Apologie Justins angefügt, ist aber in dieser Form nicht erhalten. Immer wieder wurden Zweifel an der Echtheit des Reskripts geäußert216, hauptsächlich wegen seiner Auslegung durch die christlichen Schriftsteller217 als Verbot der Verfolgung allein wegen des Namens und nur bei Nachweis konkreter Verbrechen.218 Bessere Gründe sprechen aber für Hadrians Urheberschaft. Zunächst geht es um eher formale Argumente. Das Reskript war, wie nachweisbare sprachliche Übereinstimmungen ergeben219, in Justins Apologie (verfasst um 153 n. Chr.)220 enthalten; diese aber war der Regierungszeit Hadrians zeitlich so nah, dass er es kaum gewagt haben kann, eine erfundene Maßnahme zum Höhepunkt seiner an Antoninus Pius gerichteten Verteidigungsschrift zu machen. Auch wäre es bei einer erfundenen Maßnahme befremdlich gewesen, mehrere Statthalter namentlich anzuführen. Vor allem spricht die inhaltliche Übereinstimmung mit dem Brief Trajans an Plinius für Echtheit des Reskripts. Hadrians Anweisung betrifft in erster Linie Verfahrensfragen. Nur wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anklage erhoben worden sei und der Ankläger sie bis zum Urteil durchgehalten habe, mit allen damit verbundenen Risiken221, sei eine Klage zulässig222, nicht dagegen bei bloßer Denunzierung oder gar auf bloßes Geschrei einer Volksmenge hin.223 Diese Festlegung stimmt mit dem Reskript Trajans völlig überein: Conquirendi non sunt; si deferantur et arguantur, puniendi 215 Justin bei Euseb HE IV, 9, 1–3; Justin, Apol. I, 68, 6–10: die Passage in der Apologie ist wohl nur der aus Euseb übernommene griechische Text, vgl. Freudenberger, Das Verhalten, S. 217. Erwähnt wurde das Reskript noch von Melito, s. bei Euseb HE IV, 26, 10. Die lateinische Fassung des Reskripts bei Rufin HE IV, 9 ist wohl nicht der originale Text, sondern nur eine etwas abgewandelte Rückübersetzung des bei Euseb angeführten griechischen Wortlauts, vgl. Schwartz/Mommsen, Eusebius II, 3, CLVI und Callewaert, Le rescrit, S. 182 ff., gegen Schmid, Christian re-interpretation, S. 8 Fn. 1. 216 Vor allem Nesselhauf, Hadrians Reskript, S. 348 ff.; von Campenhausen, Rez. Grégoire, S. 466. 217 Teile der modernen Forschung haben diese Auslegungen kritiklos als Inhalt des Reskripts übernommen, vgl. nur D’Orgeval, L’Empereur Hadrien, S. 302 ff.; Grégoire, Les Persécutions, S. 138 f.; auch Mommsen, Der Religionsfrevel, S. 414 f. 218 So als erster sehr klar Schmid, Christian re-interpretation, S. 6 f. 219 Dom Capelle, Le rescrit, S. 365 ff. 220 Vgl. zur Datierung Munier, Saint Justin Apologie, S. 5 f. 221 V. a. Verwantwortlichkeit wegen calumnia bei wissentlich falscher Anklage, _ Euseb, HE IV, 9, 3: ñi tiò sukofantûaò xÜrin touto proteûnoi, dialÜmbane _ Ÿp˚r t hò deinüthtoò ka˝ früntize Õpwò ºn ýkdikÇseiaò. Dazu auch noch u. II. 6. b). _ 222 Euseb, HE IV, 9, 3: eŁ tiò ožn kathgore_i ka˝ deûknusûn ti parJ toˇò _ nümouò prÜttontaò, oÖtwò Õrize katJ tÌn dˇnamin tou ÷martÇmatoò (. . .). 223 Euseb, HE IV, 9, 2: . . . ÷ll’ ožk ÷ciÿsesin ožd˚ münaiò boa_iò.

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sunt.224 Bei Hadrian wird dieses Problem zwar ausführlicher behandelt, doch mochte das daran liegen, dass in der Provinz Asia die Denunzierung von Christen ohne accusatio an der Tagesordnung war und daher den Kernpunkt der Anfrage des Proculus bildete.225 Demgegenüber tritt die Frage, warum Christen zu bestrafen sind, in den Hintergrund, wird vielmehr nur kurz, sehr allgemein und ohne vertiefende Erörterung erwähnt.226 Wenn nach ordnungsgemäß erhobener Anklage nachgewiesen worden sei, dass die Christen etwas gegen die Gesetze tun, dann sei ein Urteil nach der Schwere des Verbrechens227 zu verhängen. Damit wollte Hadrian aber keinen Wechsel bei der Beurteilung der Christenfrage anordnen und von Trajan abweichen, als seien Christen nicht mehr allein wegen ihres Namens, sondern nur noch bei nachgewiesenen Verbrechen zu verurteilen.228 Schon die Knappheit und Allgemeinheit der Ausführungen zu dieser Frage im hadrianischen Reskript spricht gegen eine Neuerung. Um einen Kurswechsel gegenüber den Christen anzunehmen, beruft man sich zumal auf die Worte: parJ toˇò nümouò.

Diese können aber auch anders als soeben dargelegt verstanden werden. Zwei Hypothesen sind möglich: Der Ausdruck könnte zum einen Übersetzung des lateinischen contra constitutiones (principum) gewesen sein229, in 224 ep. 10, 97, 1, s. o. c). Dass Trajan und Hadrian in diesem Punkt übereinstimmen, erkennt Nesselhauf, Hadrians Reskript, S. 351 ff., nicht. Seine These, das Hadrianreskript sei unecht, gründet sich auf diese Fehlinterpretation. Schon deshalb kann ihr nicht gefolgt werden. Auch Speigl, Der römische Staat, S. 101, meint, die Verantwortlichkeit des Anklägers habe eine Verbesserung gegenüber Trajan dargestellt. 225 Die Bedeutung des Problems der Denunzianten und falsi delatores ist schon daran zu erkennen, dass sie am Anfang und Ende des Reskripts erscheinen, außerdem an der genauen Darstellung der verschiedenen Klagen in § 2. 226 Euseb, HE IV, 9, 3 (s. o. Fn. 222). _ 227 Zu katJ tÌn dŸnamin tou ãmartÇmatoò Freudenberger, Das Verhalten, S. 228 ff., der den griechischen Ausdruck mit der lateinischen Formel pro qualitate criminis wiedergibt. 228 So aber Speigl, Der römische Staat, S. 105. 229 So z. B. Freudenberger, Das Verhalten, S. 227 f. u. Fn. 60, dessen Verweis auf Taubenschlag, The law, S. 31 Fn. 103 aber diesbezüglich nichts hergibt. Jedenfalls zur Zeit Eusebs (ca. 264–340 n. Chr.), aus der die Übersetzung des Reskripts stammt, ist nümoò für constitutio principum häufig, vgl. nur Passio Crispinae 1, 3 (304 n. Chr.) und die Beispiele bei Taubenschlag, Nümoò, S. 110 f., so dass die gewählte griechische Wiedergabe verständlich wird. Aber bereits in der Mitte des 2. Jh. n. Chr. gestand auch Gaius den constitutiones principum Gesetzeskraft zu (Inst. 1, 5: Constitutio principis est quod imperator decreto vel edicto vel epistula constituit. Nec umquam dubitatum est, quin id legis vicem optineat, cum ipse imperator per legem imperium accipiat.), was Ulpian im ersten Buch seiner Institutionen (D. 1, 4, 1

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welchem Fall gemeint wäre, dass Hadrian weiterhin das Bekenntnis zum Christentum als strafbar betrachtete, wie dies in mehreren kaiserlichen Konstitutionen festgelegt worden war, von denen uns nur die Trajans überliefert ist. Gegen diese Interpretation spräche auch nicht der Fortgang der Passage, katJ tÌn dŸnamin tou ãmartÇmatoò, der als bloßer Verweis auf die Ermessensfreiheit des Statthalters bei Verhängung der Strafe verstanden werden kann, die uns schon im Brief Trajans begegnet war.230 _

Eine andere Deutung geht davon aus, dass der genaue Inhalt der statthalterlichen Anfrage, auf die hin das Reskript erging, unbekannt ist. Es könnte sein, dass in der Provinz Asia den Christen immer wieder von der aufgebrachten Volksmenge Verbrechen vorgeworfen worden waren, die mit dem Christentum in Zusammenhang gebracht wurden, insbesondere Atheismus, Majestätsverletzung, Ritualmord etc., wie sie bereits bei den Prozessen unter Plinius vorkamen.231 Hätte sich die Anfrage des Proculus nur auf solche Verfahren gegen Christen bezogen, so hätte Hadrian nur geantwortet, dass jeder, der die unterstellten Verbrechen, unabhängig von einer Beschuldigung wegen Christentums, beim Statthalter gegen Christen geltend machen wollte, diese zu beweisen habe und die Strafe dann gemäß den zugrundeliegenden Gesetzen nach der Schwere des Verbrechens festzusetzen sei.232 Nimmt man also an, Hauptproblem der Anfrage sei gewesen, wie mit informellen Anzeigen gegen Christen wegen bestimmter Verbrechen umzugehen sei, so wäre die Neuerung Trajans, Christen könnten auch allein ihres Namens wegen angeklagt werden, nicht berührt, geschweige denn in Frage gestellt worden.233 pr. u. § 1) bestätigte. Es ist daher nicht nötig anzunehmen, Justin habe den Begriff constitutiones bewusst als „die Gesetze“ missverstanden (so aber Schmid, Christian re-interpretation, S. 6 f.). Nümoò war für den Nicht-Juristen Justin eine stimmige Übersetzung von „Kaiserkonstitution“, die ja mit Gesetzeskraft ausgestattet waren. 230 Puniendi sunt bei Plinius, ep. 10, 97, 1. 231 Vgl. zur „Tradition“ dieser Vorwürfe in Asia, die schon gegen die Juden erhoben wurden, Keresztes, The Emperor, S. 126 f. Auch Polycarp, Mart. Polycarpi 3, 2; 12, 2 f. werden solche Verbrechen von der Volksmenge vorgeworfen. 232 So die Meinung von Keresztes, The Emperor, S. 128; Ders., Hadrian’s rescript, S. 64 f. Diese Auslegungsvariante übersieht Speigl, Der römische Staat, S. 105 ff. 233 Vielmehr soll Justins Wiedergabe des Reskripts seine Ziele unterstützen, wenn Keresztes, The Emperor, S. 126, das auch ablehnt. Er meint überdies, Justin habe in seiner Apologie auf die einfache Anklage als Christ gar nicht eingehen wollen, sondern nur auf konkrete mit dem Christentum in Verbindung gebrachte Verbrechen. Im Prozess habe dann das Bekenntnis zum Christentum für die Verurteilung genügt. Aus der Apologie geht jedoch klar hervor, dass es sowohl Klagen wegen allgemeiner Verbrechen (z. B. apol. I, 2, 4; I, 3, 1) als auch allein wegen _ des Bekenntnisses gegeben hatte (apol. I, 4, insbes. § 5: Xristiano˝ gJr e ùnai kathgoroŸmeqa). Und dies veranlasste Justin zur Abfassung der Apologie und zur Anführung des Reskripts im dargestellten Sinne.

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Welche der beiden Hypothesen auch immer korrekt ist234, im Ergebnis ist an der Echtheit des Reskripts nicht zu zweifeln. Es weicht in keinem Punkt vom Inhalt des Briefs Trajans ab, und deshalb wird Tertullian das Reskript auch nicht eigens angeführt haben.235 Auch in späteren bekannten Märtyrerprozessen ging es nur um das Bekenntnis zum Christentum; das reichte für die Strafbarkeit aus. bb) Antoninus Pius Unter Antoninus Pius hat sich die Lage der Christen nicht wesentlich verändert. Von diesem Kaiser erwähnt Melito mehrere Schreiben: an die Bewohner von Larissa, Thessalonike, Athen und an alle Hellenen236, in denen das Reskript Hadrians an Fundanus bestätigt wird (mhd˚n newterûzein). Ferner ist ein Brief an den koinün von Asia bei Euseb überliefert237, der auch im Codex Parisinus Graecus 450 nach den Apologien Justins erhalten ist.238 Dieser Brief wird nahezu durchgängig für christlich überarbeitet239, wenn nicht sogar für eine völlige Fälschung gehalten.240 234

Nicht gefolgt werden kann der Ansicht Schmids, Christian re-interpretation, S. 9, der in dem griechischen Ausdruck parJ toˇò nümouò prÜttein die Bestrafung von flagitia erblicken will, die schon durch das Bekenntnis zum Christentum bewiesen seien, und dieser Linie sei bereits die Antwort Trajans gefolgt. Indessen haben wir oben (unter c)) festgestellt, dass Trajan bei Bestrafung der Christen gerade nicht mehr auf flagitia abstellte, sondern allein auf das Bekenntnis. Ebenfalls unrichtig ist die Einschätzung Schwartes, Intention und Rechtsgrundlage, S. 24. Er nimmt an, Euseb HE IV, 9, 3 bekunde eine allgemeine, nicht mehr speziell auf die Christen bezogene Regelung. Aber § 3 enthält kein neues Objekt, weshalb anzunehmen ist, dass immer noch die Christen von HE IV, 9, 1 u. 2 gemeint sind; woher Schwarte die von ihm angeführten „Leute“ nimmt, bleibt unerfindlich. Vor allem _ sagen die Worte kathgore i ka˝ deûknusûn und deferantur et arguantur bei Trajan (Plinius ep. 10, 97, 1) dasselbe, was hier eindeutig auf die Christen bezogen ist. 235 Jedenfalls ist das nicht verdächtig, wie Flach, Christenverfolgungen, S. 449, annimmt; in diese Richtung auch Wlosok, Die Rechtsgrundlagen, S. 288 Fn. 29. Tertullian wird das Reskript schlicht deshalb nicht angeführt haben, weil es nichts beinhaltete, was über das von Trajan Gesagte hinausging. „Anwaltsklugheit“ Tertullians (so Speigl, Der römische Staat, S. 111) war das also nicht. Eine die Verfolgung des nomen Christianum verbietende Norm hätte Tertullian in seiner an die Statthalter gerichtete Schrift gewiss nicht unerwähnt gelassen. 236 Melito, bei Euseb, HE IV, 26, 10. 237 HE IV, 13, 1–7. 238 Sowohl dieser gegenüber Euseb erweiterte Bericht im Codex Parisinus als auch der lateinische Text bei Rufin sind aber von Euseb abhängig, s. Harnack, Das Edict, S. 1 ff. 239 So Harnack, Das Edict, S. 1 ff.; Freudenberger, Christenreskript, S. 1 ff. 240 Beispielsweise von Schwartz, Eusebs Kirchengeschichte I, S. 326; Schmid, Christian re-interpretation, S. 10 u. Fn. 3; Barnes, Legislation, S. 38.

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Begründet wird dies zum einen damit, dass der Aussteller in den verschiedenen Überlieferungen verschieden angegeben ist241, zum anderen mit inhaltlichen Aussagen, die Antoninus Pius als heidnischer Kaiser nicht gemacht haben kann.242 Aber auch wenn man diesen Verdächtigungen lediglich zum Teil nachgibt und nur noch versucht, aus dem Brief echte Elemente herauszufiltern, so führt das letztlich nur zu einer Bestätigung des von Hadrian besonders betonten Prinzips, dass nur formell ordnungsgemäße Klagen gegen die Christen zu beachten sind243, nicht aber zu einer Straffreiheit des nomen ipsum.244 Eine solche wäre von den späteren Apologeten, vor allem von Melito und Tertullian, gewiss erwähnt worden. Unter Hadrian und Antoninus Pius blieb also Trajans rechtliche Regelung der Christenfrage unverändert. Jedoch hatten die Verfolgungen im Ostteil des Reiches, vor allem in der Provinz Asia, eventuell veranlasst durch Erdbeben und andere Katastrophen, wofür die Christen von der Bevölkerung verantwortlich gemacht wurden245, stark zugenommen, wie z. B. die Apologie Justins zeigt. Nur deswegen musste stets von neuem eingeschärft werden, dass Anzeigen ohne formell ordnungsgemäße Anklage und Volksakklamationen nicht ausreichten, um gegen Christen vorzugehen. Aus den übrigen Teilen des Reiches ist von einem Vorgehen gegen Christen nichts zu hören. Nur in Rom gab es ein Verfahren gegen Ptolemäus, Lucius und eine weitere Person, die etwa 150 n. Chr. durch den praefectus urbi Q. Lollius Urbicus246 zum Tode verurteilt wurden.247 Auch sie wurden allein aufgrund ihres Bekenntnisses zum Christentum verurteilt248 und damit 241 Bei Euseb erscheint er zwar unter den Maßnahmen von Antoninus Pius (HE IV, 12), im wörtlichen Zitat ist dann aber Marc Aurel im Jahre 161 n. Chr. der Autor, wozu der Titel Armenius wiederum nicht passt. Der Codex Parisinus spricht demgegenüber von Antoninus Pius im Jahr 160/61. Vgl. dazu ausführlich Barnes, Legislation, S. 38. 242 Insbes. Euseb, HE IV, 13, 3 u. 4 u. zumal 7, vgl. dazu Freudenberger, Christenreskript, S. 1 f. 243 Hinzu kommt, dass das bei Melito angeführte Schreiben pr˛ò pÜntaò ˙EllÇnaò (bei Euseb, HE IV, 26, 10) dem an den koinün von Asia doch wohl entspricht (vgl. Hüttl, Antoninus Pius I, S. 210 f. u. Fn. 351; Freudenberger, Christenreskript, S. 2 f. und S. 5 ff.; nach diesem kann übrigens auch aus Euseb HE IV, 13, 6 eine Bestätigung Hadrians herausgelesen werden). 244 So aber Euseb, HE IV, 13, 7. 245 Erdbeben in den Jahren 144 und nach 150 n. Chr., vgl. Hermann, Art. Erdbeben, S. 1105. Dazu, dass Christen immer wieder für Katastrophen verantwortlich gemacht wurden, vgl. etwa Tertullian, apol. 40, 1 f. 246 Zu ihm vgl. CIL VIII, 6705 u. 6706; CIL VI, 28; PIR2 L, Nr. 327, S. 87 f. Zur Datierung seines Amtes als praefectus urbi Hüttl, Antoninus Pius II, S. 192 und Birley, Roman Governors, S. 71 f., Nr. 24. 247 Justin, apol. II, 2, 10 ff. Dieser Fall veranlasste Justin, seine Apologie zu schreiben, vgl. apol. II, 1, 1. Zur Abfolge von Justins Apologie: die zweite Apo-

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ganz auf der von Trajan vorgezeichneten neuen Linie, gegen die Christen vorzugehen. Sie hatte sich vermutlich auch aufgrund der großen Verbreitung der Briefe des Plinius unter den römischen Statthaltern und Höchstbeamten durchgesetzt.249 e) Neue Bestimmungen unter Marc Aurel? In der Zeit nach der Regierungsübernahme Marc Aurels250 sind keine Maßnahmen bekannt, die sich direkt gegen die Christen richteten oder gar eine neue Vorgehensweise statuierten. Die einzige konkret erwähnte Maßnahme des Kaisers in Bezug auf die Christen stellt das berühmte Reskript an den Statthalter Galliens aus dem Jahr 177 n. Chr. dar. Dieser hatte beim Kaiser im Rahmen der Ereignisse in Lugdunum und Vienna um Entscheidung über die Bestrafung vieler römischer Bürger unter den Christen nachgesucht.251 Marc Aurel antwortete daraufhin allgemein: Diejenigen, die bereit seien, dem Glauben abzuschwören, seien freizulassen, die anderen, d.h. die bekennenden Christen zu bestrafen.252 Das entspricht den Vorgaben im Brief Trajans an Plinius, stellt also insofern keine Neuerung dar.253 logie Justins wurde vor der ersten geschrieben, beide bildeten ein Gesamtwerk, vgl. Munier, Saint Justin Apologie, S. 3 f. m. w. N. _ 248 Vgl. Justin, apol. II, 2, 12: þmoûwò ažt˛ touto münon ýchtÜsqh, eù eŁh _ iò moi ka˝ sˇ Xristianüò zur Befragung des Ptolemäus; apol. II, 2, 17: Doke _ _ e ùnai toioutoò als einzige Frage des Urbicus an Lucius. Diese Passage zeigt auch deutlich, dass die von Lucius genannten Maßnahmen der Kaiser und des Senats (apol. II, 2, 16), wenn sie überhaupt existierten, nichts veränderten, was die Bestrafung des Christenbekenntnisses betraf. Über diese Maßnahmen hätte sich der Stadtpräfekt nicht hinwegsetzen können. Ohne überzeugende Begründung will Speigl, Der römische Staat, S. 131, annehmen, Justin habe den Prozess hier juristisch ungenau wiedergegeben. 249 So z. B. Wlosok, Rom und die Christen, S. 39. 250 Marc Aurel regierte von 161–169 n. Chr. zusammen mit Lucius Verus, dann bis 176 n. Chr. allein und von diesem Zeitpunkt an bis 180 n. Chr. zusammen mit Commodus, vgl. Kienast, Röm. Kaisertabelle, S. 137 f.; S. 143 f.; S. 147. 251 Brief der Gemeinden von Lugdunum und Vienna bei Euseb, HE V, 1, 44. Zum Martyrium von Lyon ausführlich Liebs, Umwidmung, S. 27 ff. 252 Brief der Gemeinden von Lugdunum und Vienna bei Euseb, HE V, 1, 47: _ _ toˇò m˚n ÷potumpanisq hnai, eù dÍ tineò ýpisteûlantoò gJr tou Kaûsaroò _ _ ÷rno into, toŸtouò ÷poluq hnai. Auch Marc Aurel wird, wie Trajan, nur allgemein puniendi sunt gesagt haben, was die Strafen in das Ermessen des Statthalters _ stellte. Die Wiedergabe mit ÷potumpanisq hnai, „totschlagen“, ist leicht zu erklären, da der Statthalter sein Ermessen in der Regel im Sinn der Todesstrafe ausübte. Anders verfuhren dagegen die bei Tertullian, ad Scap. 4, 3 und 5, 1 (zu diesen Passagen s. noch u. g)) angeführten Statthalter, die gegen bekennende Christen keine Todesstrafen verhängten. 253 Plinius ep. 10, 97. Eine Neuerung war aber, dass der Statthalter nun auch römische Bürger hinrichten lassen konnte und sie nicht mehr zur Bestrafung nach

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Trotzdem fallen in seine Regierungsjahre viele der überlieferten Martyrienberichte.254 Erstmals hören wir von Martyrien jenseits des Ostens und Roms, nämlich in Gallien 177 n. Chr. Hinzu kommen zahlreiche Apologien, die sich gegen aktuelle Verfolgungen von Christen richteten.255 Es ist daher nicht abwegig anzunehmen, Marc Aurel habe neue Bestimmungen erlassen, die, wenn sie auch nicht direkt gegen die Christen gerichtet waren256, doch zu Verfolgungen führten. Als Hauptquelle für die Annahme solche Bestimmungen Marc Aurels gilt eine Aussage Melitos, worin er beklagt, das Geschlecht der Gottesfürchtigen werde aufgrund neuer Vorschriften in Asien umhergejagt.257 Viele der bisher unternommenen Erklärungsversuche befassen sich aber nur mit dem Anlass der Christenpogrome258, ohne zunächst zu fragen, was unter Marc Aurel bei den Christenprozessen anders als unter Trajan ist; erst dadurch könnte die angebliche „neue Vorschrift“ ermittelt werden. Die auffälligste Veränderung, die sich aus Melito, dem Martyrium Polycarps und insbesondere aus den Vorgängen in Lugdunum und Vienna ergibt, Rom überstellen musste, wie noch Plinius, s. ep. 10, 96, 4. Unter Marc Aurel konnten also jedenfalls die humiliores unter den römischen Bürgern auch von Provinzstatthaltern hingerichtet werden, vgl. dazu auch Garnsey, Lex Iulia and Appeal, S. 181; Barnes, Legislation, S. 40 und unten bei Behandlung der Lex Iulia de vi, III. 6. a). 254 Abgesehen von der schwierigen Datierung der einzelnen Berichte, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (dazu ausführlich Lanata, Gli atti, S. 99 ff.), sind jedenfalls die Martyrien Justins und seiner Gefährten und die Verfolgungen von Lyon sicher und wahrscheinlich auch die Verfolgung Polycarps der Zeit Marc Aurels zuzuordnen. Zu den Martyrienberichten über Polycarp und Justin ausführlich Liebs, Umwidmung, S. 23 ff.; S. 26 f. Das Martyrium Polycarps wird häufig wegen der vagen, widersprüchlichen und wahrscheinlich erst im Nachhinein hinzugefügten Angaben (vgl. die Unterschiede, die sich bei der Datierung des Briefes an den koinün von Asia gezeigt haben, s. o. Fn. 241) über den Prokonsul Statius Quadratus in Mart. Polyc. 21 der Regierungszeit von Antoninus Pius zugewiesen, so beispielsweise Liebs, Umwidmung, S. 23 u. Fn. 21. Wie hier für eine Datierung zwischen 161 und 168 n. Chr. Keresztes, War Marc Aurel, S. 283 f. m. w. N.; Wlosok, Rom und die Christen, S. 48 u. Fn. 110 m. w. N. Dagegen gehören die Martyrien von Pionios und von Karpos, Papylos und Agathonike wohl erst zur decischen Verfolgung, vgl. Lanata, Gli atti, S. 172 f.; S. 113 f. 255 Es sind dies die Apologien von Melito von Sardes, Apollinarius von Hierapolis, Athenagoras von Athen und Miltiades, die sehr wahrscheinlich alle zwischen 174 und 177 ihre Verteidigungsschriften des Christentums verfasst haben; auch das ist umstritten, überzeugend aber Sordi, Die „Neuen Verordnungen“, S. 178 ff. 256 Dies geht aus Euseb HE IV, 26, 6 klar hervor, wo Melito anfragt, ob Marc Aurel mit dieser Maßnahme tatsächlich die Christen treffen wollte. 257 Melito, bei Euseb, HE IV, 26, 5. 258 Vgl. insbes. Keresztes, War Marc Aurel, S. 279 ff. und Sordi, Die „Neuen Verordnungen“, S. 176 ff. Speigl, Der römische Staat, S. 179 f. meint, die Autoren des Briefs hätten die Entscheidung Marc Aurels nicht gekannt.

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ist die Verfolgung der Christen von Amts wegen.259 Trajans conquirendi non sunt wurde nicht mehr befolgt. So wird bei Polycarp berichtet, dass der Irenarch Herodes mit seinen Hilfsbeamten, den Diogmiten, nach Polycarp gefahndet und ihn schließlich nach Smyrna vor den Statthalter gebracht hat.260 In Lugdunum verordnete der Statthalter allgemein, dass nach Christen gefahndet werden müsse.261 Diese Fahndungen müssen keine Willkürakte der Statthalter gewesen sein, eine Konzession an die rasenden Massen, wenn sie auch oft so verstanden wurden.262 Näher liegt die Erklärung, Marc Aurel habe ein mandatum erlassen, das nicht mehr nur die Fahndung nach latrones, wie dies Hadrian oder Antoninus Pius wohl festgelegt hatten263, sondern nach allen mali homines eröffnete, die den Frieden und die Ruhe in der Provinz störten. Eine Bestimmung dieses Inhalts würde gut zu den in den Quellen berichteten Vorgängen passen. Die Statthalter in Asia und den Tres Galliae konnten die Christen ohne Weiteres unter die mali homines rechnen, da sie, wie die Massenproteste der übrigen Bevölkerung ohne weiteres ergaben, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Provinz empfindlich störten. Auch konnten die Christen wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr für eine pacata et quieta provincia ohne weiteres mit sacrilegi, latrones und plagiarii auf eine Stufe gestellt werden, die als Beispiele für Ruhestörer in dem Mandat angeführt worden waren.264 Schließlich fügt sich auch die Fahndung durch die Irenarchen bei Polykarp in das Bild ein, Christen seien als mali homines verfolgt worden, waren jene doch gerade für die Verfolgung von Störern der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig.265 Legt man dieses Verständnis zu Grunde, so erklärt sich die letztlich geringe Zahl hingerichteter Christen266 ebenso wie die Beschränkung der 259

So auch Speigl, Der römische Staat, S. 170. Mart. Polyc. 6, 2; 7, 1; 8, 1–3. 261 Euseb, HE V, 1, 14: (. . .) ýpe˝ dhmosû`a ýkÍleusÍ þ êgemšn ÷nazhte_isqai _ pÜntaò êm aò oÆ (. . .). 262 So z. B. Schwarte, Intention und Rechtsgrundlage, S. 25; Keresztes, Das Christenmassaker, S. 269 ff. Wie hier Liebs, Umwidmung, S. 29. 263 s. o. 1. e) bei D. 1, 18, 13 pr. 264 Dagegen waren die Christen keine sacrilegi, worunter die Juristen Tempelräuber verstanden; irrig insoweit Sordi, Die „Neuen Verordnungen“, S. 189 und ihr folgend Wlosok, Rom und die Christen, S. 51; vgl. dazu o. Fn. 203. 265 s. o. 1. d) bei D. 1, 18, 13 pr. 266 Bei den in Lugdunum und Vienna umgekommenen Christen handelt es sich um eine feststellbare Zahl von höchstens 48 Menschen, vgl. Hirschfeld, Zur Geschichte, S. 159 ff.; S. 163 f.; beim Prozess gegen Justin, der in Rom spielte, um 7 Personen; im Martyrium Polycarps um drei namentlich Genannte und eine unbestimmte Anzahl weiterer Hingerichteter, Mart. Polyc. 19, 1 berichtet von 12 Märtyrern einschließlich Polycarps in Smyrna und Philadelphia. Wenn auch mit Sicherheit 260

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Verfolgungen auf wenige Provinzen, nämlich diejenigen, wo die Christen als Ruhestörer hervortraten. Aus dem Märtyrerbericht von Lugdunum geht sogar explizit hervor, dass nur Christen in bestimmten hervorgehobenen Positionen verfolgt wurden, nicht die ganze Gemeinde;267 nur diejenigen wurden verurteilt, die in besonderem Maße Unruhe in der Bevölkerung hervorgerufen hatten und dadurch in der Lage gewesen waren die Ruhe der Provinz zu stören. Es stand also im Ermessen der Statthalter, eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anzunehmen oder nicht. Die Christen wurden also wirklich nicht aufgrund einer gegen sie gerichteten Kaiserkonstitution verfolgt, sondern schlicht als mali homines, nach denen bei Störung der Provinzruhe ex officio gefahndet werden konnte. Daher spricht viel dafür, dass Marc Aurel schon bald durch Mandat den Statthaltern aufgegeben hatte, nach mali homines unter Umständen gezielt zu fahnden, worunter sie dann auch ohne Weiteres die Christen subsumieren konnten. Da nach mali homines ohne förmliche Anzeige gefahndet werden konnte, erklärt sich auch die große Zahl von Denunziationen, auf die hin die Christen verfolgt wurden. Die verschiedenen Märtyrerberichte sprechen dabei aber nicht gegen unser vorläufiges Ergebnis268, dass auch bei Fahndung von Amts wegen eine förmliche Anklage, zwar nicht durch einen Privaten, aber doch nötig war.269 Für den Fall Polycarps ist die Fahndung des Irenarchen bezeugt, der ja, wie aus D. 48, 3, 6 § 1 hervorgeht, grundsätzlich verpflichtet war, die in seinem Bericht (elogium) vorgebrachten Anschuldigungen im Prozess vor dem Statthalter zu beweisen. Im Martyriumsbericht trat der Irenarch vor Gericht deswegen nicht weiter in Erscheinung, weil aufgrund des Geständnisses Polycarps, dem Christenbekenntnis, eine Beweisaufnahme überflüssig war, der Geständige als überführt galt und der Prozess damit beendet war. Auch aus dem Bericht über die Märtyrer von Lugdunum und Vienna kann nichts Gegenteiliges geschlossen werden. Die einzigen außer dem Statthalter genannten Funktionäre sind der Militärtribun (XiliÜrxoò) der in Lugdunum stationierten cohors XIII urbana 270 und städtische Beamte, höchstwahrscheinlich die duoviri iure dicundo 271, die in Abwesenheit des davon ausgegangen werden kann, dass es noch etliche ungenannte Märtyrer gegeben hat, so sind doch die bei Euseb, HE V pr. u. 2, 1 genannten mehreren zehntausend Märtyrer zu hoch gegriffen, vgl. nur Origines, contra Cels. 3, 8. 267 Euseb, HE V, 1, 6 u. 13. 268 Vgl. dazu o. 1. d) zu D. 1, 18, 13 pr. 269 Gegen die Annahme einer förmlichen Anklage Keresztes, Das Christenmassaker, S. 270; Sordi, Die „Neuen Verordnungen“, S. 182. 270 Ausführlich zu dieser Stadtkohorte in Lugdunum Freis, Die cohortes urbanae, S. 28 ff.; Echols, The provincial urban cohorts, S. 25 ff. 271 In den römischen Kolonien, zu denen auch Lugdunum gehörte (vgl. Hirschfeld, in: CIL XIII, 248 ff.), standen regelmäßig duoviri und nicht die quattuorviri an

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legatus Augusti pro praetore gemeinsam272 die Verhafteten verhörten und sie nach ihrem Glaubensbekenntnis bis zur Ankunft des Statthalters gefangen hielten.273 Weitere Amtsträger werden nicht genannt. So wird nicht gesagt, wer die Christen auf dem Marktplatz vorgeführt hatte, und auch nicht, wer nach dem Fahndungserlass des Statthalters die als Christen Denunzierten tatsächlich verhaftete und überstellte. Vielleicht waren auch hierfür die stationarii und beneficiarii zuständig, die dann wie die Irenarchen zur Abfassung einer Anklageschrift verpflichtet gewesen wären.274 In Lugdunum ist diese Verantwortlichkeit besonders wahrscheinlich, kam hier doch die Besonderheit der Präsenz einer cohors urbana hinzu, die die gleichen sicherheitspolizeilichen Aufgaben wie die cohortes urbanae in Rom hatten, aber natürlich nicht unter dem Oberbefehl des praefectus urbi, sondern des Statthalters der Tres Galliae.275 In Rom waren stationarii der cohortes urbanae über die ganze Stadt verteilt, um die Ruhe in der Bevölkerung zu sichern276, d.h. gegen Unruhestifter vorzugehen. Parallele Kompetenzen gab es dann vermutder Spitze der städtischen Verwaltung (dazu Liebenam, Art. duoviri, S. 1804 f.). s. auch CIL XII, Nr. 1750; XIII, Nr. 1910, 1921, 1929. 272 Und nicht nur die städtischen Magistrate allein, wie z. B. Freis, Die cohortes urbanae, S. 30 meint. 273 Euseb, HE V, 1, 8. Problematisch ist vor allem, aufgrund welcher Kompetenz die genannten Amtsträger das Verhör durchführten und die Christen bis zur Ankunft des Statthalters einkerkerten. Grundsätzlich konnten Einkerkerungen nur vom Prokonsul verfügt werden (D. 48, 3, 1, Ulpian 2 de off. proc.), für die kaiserlichen Provinzen wird insoweit nichts anderes gegolten haben. Freis, Die cohortes urbanae, S. 30, meint daher unter Verweis auf Fabia, La garnison romaine, S. 69, die Kompetenz des Tribunen und der duoviri zu Einkerkerung und Vernehmung rühre daher, dass der Statthalter Befugnisse delegiert hatte. Auf andere Weise scheint das Phänomen nicht erklärbar zu sein. Immerhin handelte es sich um die höchsten Vertreter der Stadtkohorte (das Tribunat der Stadtkohorten außerhalb Roms war überdies besonders angesehen und selbständiger als in Rom, vgl. Freis, Die cohortes urbanae, S. 89 unter Hinweis auf CIL XVI 133 u. Dess. 9200) und der Stadt. Sie waren also vor allen anderen berufen, gewisse richterliche Befugnisse wahrzunehmen; bei den Munizipalmagistraten ist bei der Behandlung von fugitivi sogar ausdrücklich von der custodia und anschließenden Überstellung an den Statthalter die Rede, D. 11, 4, 1 §§ 4, 6, 8, Ulpian 1 ad ed.; 11, 4, 4, Ps.-Paulus 1 sent. Die Amtsträger halten sich streng an ihre Befugnisse. Nach Feststellung des Christentums der Verhafteten, was eine kapitale Verurteilung nach sich ziehen konnte, wird das Verfahren bis zur Ankunft des Statthalters aufgeschoben; Todesurteile konnte nur der Statthalter verhängen und das auch nicht delegieren (vgl. D. 1, 16, 6 pr.; 50, 17, 70, Ulpian 1 de off. proc.). Die munizipalen Magistrate hatten auf dem Gebiet des Strafrechts nur geringe Befugnisse (vgl. D. 2, 1, 12, Ulpian 18 ad ed.). 274 D. 48, 3, 6 § 1 (Marcian 2 de iud. publ.); vgl. o. 1. c) u. d). 275 Vgl. nur Tacitus, Ann. 3, 41, 1. 276 D. 1, 12, 1 § 12: Quies quoque popularium et disciplina spectaculorum ad praefecti urbi curam pertinere videtur: et sane debet etiam dispositos milites stationarios habere ad tuendam popularium quietem ad referendum sibi quid ubi agatur.

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lich auch in Lugdunum. Zwar ist auch hier im Prozess von einer Anklageschrift keine Rede, jedoch erklärt sich das wie bei Polycarp leicht dadurch, dass nach den Christenbekenntnissen keine weitere Beweisaufnahme erforderlich war und die Apostaten nur ganz am Rande erwähnt wurden.277 Was schließlich den eigentlichen Prozess und die Verurteilungen betrifft, so liegen diese ganz auf der Linie der bisherigen, auf Trajan zurückgehenden Vorgehensweise. In Lugdunum wurden zu Beginn nur die bekennenden Christen verurteilt, die Apostaten dagegen zwischenzeitlich freigelassen.278 Die angeblichen flagitia: thyestische Mahlzeiten und ödipeischer Geschlechtsverkehr, von heidnischen Sklaven angesichts der Folter eingeräumt279, was zur Wiederverhaftung der Apostaten führte280, wurden im Reskript Marc Aurels als Strafgrund abgelehnt. Christen sollten nur wegen ihres Bekenntnisses, nicht aufgrund etwaiger flagitia verurteilt werden. Die Apostaten wurden dann, sofern sie sich nicht doch zum Christentum bekannten, nach einem weiteren Verhör freigelassen.281 Strafgrund blieb also weiterhin allein das Bekenntnis zum Christentum.282 Auffällig ist schließlich im Rahmen des Prozesses gegen Polycarp, dass nicht mehr, wie bei Plinius, dreimal nach dem Christenbekenntnis gefragt wird, sondern der Statthalter sogleich Abschwörung verlangt.283 Diese Entwicklung bedeutete eine Abkürzung des bisher praktizierten Verfahrens, die schon deshalb nahe lag, weil aus der Verweigerung des Opfers die Christeneigenschaft von selbst folgte.284 Sie kann aber auch auf die Einstellung 277 Für eine schriftliche Anklage aus den Reihen der Stadtkohorte spricht auch, dass im Prozess gegen Justin und seine Gefährten in Rom der Stadtpräfekt die Namen der Angeklagten kennt (Acta Iust. 4, 1 ff.) und auch den Vorwurf des Christentums, da er die Beschuldigten sofort nach ihrer Vorführung auffordert abzuschwören (Acta Iust. 2, 1). 278 Euseb HE V, 1, 11. Die zwischenzeitliche Freilassung ergibt sich implizit aus HE V, 1, 33: oÁ gJr katJ _tÌn prÿthn sŸllhyin ñcarnoi genümenoi _ _ sunekleûonto ka˝ ažto˝ ka˝ mete ixon twn deinwn. Abwegig die Meinung von Keresztes, Das Christenmassaker, S. 263; S. 272; S. 277, wonach auch die Apostaten bis zum Reskript Marc Aurels in Haft behalten wurden; HE V, 1, 33 beweist das Gegenteil. 279 Euseb HE V, 1, 14. 280 Euseb HE V, 1, 33. 281 Euseb HE V, 1, 47 f. 282 Vgl. auch die Begründung des Urteils gegen Attalus (Euseb, HE V, 1, 44: ˙Attaloò þ Xristianüò) und auch gegen Polycarp (Mart. Polyc. 12, 1: PolŸkarpoò _ ¼molüghsen Íaut˛n Xristian˛n e ùnai). Zum weiteren Verfahren, insbesondere den Befragungen unter der Folter und den Strafen, vgl. Schwarte, Intention und Rechtsgrundlage, S. 25 f; Garnsey, Social status, S. 126 ff. 283 Mart. Polyc. 9, 2 f. 284 Das hatte bereits Plinius festgestellt, ep. 10, 96, 5: (. . .), quorum (d. h. insbes. das Opfer) nihil cogi posse dicuntur, qui sunt re vera Christiani.

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vieler Statthalter hindeuten, auch bekennenden Christen die Möglichkeit zu eröffnen, der Strafe zu entgehen.285 Für viele Christen war es nämlich einfacher, in der gegebenen Situation schweigend den Göttern zu opfern, als ihr Christentum ausdrücklich zu verleugnen, was ihnen mit der nunmehr praktizierten Vorgehensweise erspart blieb. Letztlich sollten nur die überzeugtesten Christen verurteilt werden. Nur sie werden bereit gewesen sein, das Opfer für die römischen Götter unter Androhung des Todes zu verweigern. Zusammenfassend ist festzuhalten: Marc Aurel hatte von den Festlegungen Trajans nichts verändert; strafbar blieb weiterhin das Christenbekenntnis als solches, nicht den Christen vorgeworfene flagitia. Grund für die Zunahme der Verfolgungen unter seiner Regierung ist keine Bestimmung, die direkt gegen die Christen gerichtet war, sondern wohl ein mandatum an die Statthalter, alle mali homines, die Ruhe und Ordnung in der Provinz störten, ex officio zu verfolgen. Damit wurde eine Regelung von Antoninus Pius, die sich lediglich auf latrones bezogen hatte, ausgeweitet. Einige Statthalter, insbesondere wohl in Asia, wie die vielen dort entstandenen Apologien und das Martyrium Polycarps zeigen, wendeten diese neue Regelung auch auf die Christen an und verabschiedeten sich so von Trajans conquirendi non sunt.286 f) Commodus Zu Beginn der Alleinregierung des Commodus (180 bis 192 n. Chr.) fand der Prozess gegen die Märtyrer von Scili vor dem Prokonsul der Provinz Africa, P. Vigellius Saturninus287, am 17. Juli 180288 statt, dessen Verlauf keine wesentlichen Änderungen gegenüber den Prozessen unter Marc Aurel erkennen lässt.289 Es soll sich aber um den ersten Christenprozess in der Provinz Africa gehandelt haben.290 285 Auch beim Verhör der Märtyrer von Scili (Acta Scil. 1–15, insbes. 14, vgl. zu diesem Prozess sogleich f)) kommt diese Einstellung zum Vorschein; stark ironisiert wird sie von Tertullian, apol. 2, 13. 286 Zu oberflächlich Robinson, Repressionen, S: 354 u. S. 364 ff., die allein auf die Verfolgung wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung abstellt und die steigende Zahl von Verfolgungen mit der zunehmenden Anhängerschaft der Christen erklärt. Dabei berücksichtigt sie die hier aufgezeigte Entwicklung, inbesondere das conquirendi non sunt Trajans und die sich daraus ergebenden Folgen, nicht hinreichend. 287 Zu ihm PIR III V Nr. 434, S. 433 f.; Thomasson, Fasti Africani, S. 71; Dess. 1116 (mit vollem Namen). Vgl. auch Tertullian, ad Scap. 3, 4. 288 Das Datum ist durch die angeführten Konsuln C. Bruttius Praesens und Sextus Quintilius Condianus (nicht Claudianus, wie fälschlich überliefert, vgl. Wlosok, Rom und die Christen, S. 40 Fn. 95) gesichert, vgl. Alföldy, Konsulat, S. 191. 289 Hinzuweisen ist insbesondere darauf, dass die Scilitaner dem Prokonsul vorgeführt (inpositis) wurden und der Prokonsul den Prozess sofort mit der Aufforde-

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Nach diesem Vorkommnis, das wegen seiner zeitlichen Nähe zu Marc Aurel noch als Auswirkung seiner Politik betrachtet werden könnte, nehmen die Berichte über Verfolgungen ab. Euseb berichtet, unter der Regierung des Commodus seien die Verhältnisse für die Christen ruhiger geworden, ja erhielten sogar die Kirchen des ganzen Erdkreises Frieden.291 Diese Einschätzung ist sicher übertrieben, da Tertullian einige Fälle erwähnt, in denen verschiedene Statthalter sich mit Christen beschäftigten; großangelegte Ausschreitungen gegen Christen wie unter Marc Aurel scheinen jedoch nicht vorgekommen zu sein.292 Folgende Fälle sind wegen ihrer rechtlichen Aspekte erwähnenswert:293 aa) Selbstanzeige von omnes Christiani civitatis beim Statthalter Asias Tertullian erwähnt in ad Scapulam 5, 1 einen Vorgang in Asia vor dem Statthalter Arrius Antoninus in der Mitte der 180-er Jahre n. Chr.294 Zunächst spricht er allgemein von heftigen Verfolgungen, dann aber konkret von einer Selbstanzeige aller Christiani der civitas. Wenige wurden daraufhin hingerichtet (paucis duci iussis), die anderen vom Prokonsul freigelassen mit der Bemerkung, es gebe andere Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen. rung zur Abschwörung beginnt (Acta Scil. 1). Daraus lässt sich schließen, dass es einen Bericht ähnlich dem des Irenarchen in D. 48, 3, 6 § 1 gegeben hatte, der dann vom Vorführenden (vielleicht einem stationarius, der in Scili stationiert war) zu verteidigen war (vgl. oben 1. d)). Zum Märtyrerbericht ausführlich Liebs, Umwidmung, S. 32 ff. 290 So Tertullian, ad Scap. 3, 4: Vigellius Saturninus, qui primus hic gladium in nos egit . . . 291 Euseb, HE V, 21, 1. 292 Was Commodus selbst betrifft, so wissen wir von Hippolyt, Refutatio IX, 12, 11 f., dass Marcia, die Konkubine des Commodus und selbst Christin, vom Kaiser die Begnadigung vieler Christen von der Bergwerksarbeit in Sardinien erwirkt hat. Der größere Einfluss von Christen am Hof (vgl. dazu Straub, Art. Commodus, S. 262 ff.) hatte aber, wie die folgenden Ausführungen zeigen, zu keinem grundlegenden Wandel der Einstellung gegenüber den Christen geführt. 293 Daneben seien noch die bei Tertullian ad Scap. 4, 3 erwähnten Prokonsuln Africas Cincius Severus und Vespronius Candidus genannt, deren Amtszeit ziemlich sicher in die späten Jahre des Commodus fällt, vgl. Thomasson, Fasti Africani, Nr. 99, S. 77; Nr. 96, S. 74 jew. m. w. N. Tertullian führt sie als Beispiele für ein großzügiges Verhalten gegenüber ihnen angezeigten Christen an. Sehr unsicher ist die Erwähnung eines Claudius Lucius Herminianus, der als Statthalter von Cappadocia Christen grausam behandelt haben soll (Tertullian, ad Scap. 3, 4; zu ihm vgl. PIR2 C Nr. 888, S. 206). 294 Zu Arrius und der zeitlichen Einordnung des Prokonsulates vgl. Thomasson, Laterculi I, S. 26 Nr. 162; PIR2 A, Nr. 1088.

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Aus dieser Episode lässt sich einerseits schließen, dass die Verfolgungen von Christen nur die höheren Chargen der Christengemeinden betraf, die die Ruhe der Provinz stören konnten, nicht aber einfache Gemeindemitglieder, da der Prokonsul diese trotz Christenbekenntnis freiließ. Andererseits zeigt sich, wie sehr die Bestrafung im Ermessen des Prokonsuln lag: Das Christenbekenntnis zog keinesfalls immer die Verhängung der Todesstrafe nach sich, sondern konnte sogar straflos bleiben. Wieder bewährt sich unsere These, dass es bei der Bestrafung der Christen letztlich um Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung ging. bb) Die Verurteilung des Callistus Im Rahmen der Refutatio omnium haeresium berichtet Hippolyt295 von der Verurteilung des Sklaven Callistus, des späteren Bischofs von Rom296, durch den Stadtpräfekten Seius Fuscianus im Jahre 188 n. Chr.297 Auch wenn der Bericht von Hippolyts Abneigung gegen Callistus geprägt ist298, so geht aus ihm doch hervor, dass Callistus wegen seines Christseins angeklagt und verurteilt wurde299, und zwar zu Bergwerksarbeit (metallum)300 auf Sardinien, die auch viele andere Christen dort erleiden mussten.301 Auch hier haben wir also einen weiteren Beleg dafür, dass Christen nicht notwendigerweise sofort hingerichtet wurden. cc) Das Martyrium des Apollonius Der umfangreichste Bericht über ein Martyrium unter Commodus ist der über Apollonius vor dem Prätorianerpräfekten Tigidius Perennis zwischen 183 und 185 n. Chr. in Rom.302 Für die vorliegende Untersuchung inte295

Buch IX, 11, 4 u. 12, 3–12. Dazu Euseb HE VI, 21, 1 f. 297 Zur Datierung der Stadtpräfektur des Fuscianus, vgl. PIR III S, Nr. 243, S. 191 f.; Vitucci, Ricerche, Nr. 28. 298 Dazu eingehend Gülzow, Christentum, S. 144 f.; S. 146 ff. 299 Refutatio IX, 12, 8 f. 300 Zur Bergwerksstrafe D. 48, 19, 8 §§ 4–6 (Ulpian 9 de off. proc.). 301 Refutatio IX, 12, 10. 302 Zu diesem Martyrium ausführlich Lanata, Gli atti, S. 145 ff. und Freudenberger, Die Überlieferung, S. 111 ff. Die Acta Apollonii sind in zwei Fassungen (armenisch und griechisch) erhalten und werden durch einen kurzen Bericht über den Prozess bei Euseb, HE V, 21, 2–5 ergänzt. In der Einleitung der griechischen Fassung ist zwar von einem Prozess vor einem Prokonsul Perennios in Asia die Rede, diese Angabe ist aber sicherlich falsch, wie aus der Gegenüberstellung mit den Vergleichstexten hervorgeht. Zum Prätorianerpräfekten Tigidius Perennis vgl. PIR III Nr. 146, S. 316 f. 296

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ressiert vor allem die Erwähnung eines kaiserlichen Befehls bei Euseb, wonach Ankläger der Christen der Todesstrafe verfallen sollten.303 Danach hätte spätestens Commodus mittels eines strafbewehrten Anklageverbots das Christentum indirekt legalisiert. Diese Annahme ist jedoch nicht haltbar. Zum einen wurden auch unter Commodus Christen und insbesondere Apollonius selbst verurteilt304, zum anderen weiß kein anderer Schriftsteller, vor allem nicht Tertullian, von einer solch revolutionären Maßnahme eines Kaisers. Es handelt sich daher um eine eigenmächtige Verschiebung der Tatsachen durch Euseb. Der Anzeiger des Apollonius war wohl zur Sklavenstrafe des crurifragium (Brechen der Beine) verurteilt worden.305 Es könnte sich deshalb bei dem Ankläger um einen Sklaven des Apollonius selbst gehandelt haben. Anzeigen oder Anklagen von Sklaven gegen ihre Herren waren aber nur in ganz bestimmten Fällen zulässig, zu denen Christentum nicht gehörte.306 Es handelte sich also mitnichten um eine speziell auf Begünstigung der Christen abzielende Maßnahme, sondern um einen allgemeinen strafrechtlichen Grundsatz, der zur Verurteilung des anzeigenden Sklaven führte.307 Im weiteren Verlauf des Prozesses gegen Apollonius sind bei der Behandlung der Christenfrage ebenso wenig Neuerungen gegenüber der bisherigen Praxis erkennbar. Strafbar blieb weiterhin das Bekenntnis zum Christentum308, die Strafbarkeit entfiel jedoch, wenn der Angeklagte zum Abschwören bereit war.309 Man ging also weiterhin nach dem Reskript Trajans vor.310 303

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Euseb HE V, 21, 3: mÌ z hn ýc˛n þn katJ basilik˛n Õron toˇò twn toiwnde mhnutÜò. 304 Vgl. die soeben angeführten Prozesse gegen Christen. 305 Beim crurifragium handelte es sich um eine die Kreuzigung ersetzende Strafe, die vor allem gegen Sklaven zur Anwendung kam, vgl. Hitzig, Art. crux, S. 1731 und auch Sueton, Aug. 67; Tib. 44; Firmicus Maternus, math. 8, 6. 306 Vgl. dazu u. IV. 2. d) zu D. 48, 18, 1 § 16. 307 Durch die Verurteilung des Sklaven wird nochmals bekräftigt, dass Christen nicht wegen maiestas verurteilt wurden, wofür, wie aus Modestin, D. 48, 4, 7 § 2 (12 pandect.) hervorgeht, das Anklageverbot für Sklaven gegen ihre Herren nicht galt: Servi quoque deferentes audiuntur et quidem dominos suos. 308 Vgl. die erste Frage des Perennis, ob Apollonius Christ sei (griechische Version Acta Apoll. § 1). 309 Vgl. Acta Apoll. (griech.) §§ 3 u. 10 mit der Aufforderung des Perennis, dem Christentum abzuschwören;_ nichts anderes meint Euseb in HE V, 21, 4: pollJ _ _ liparwò ÁketeŸsÜntoò tou dikastou. 310 Das bei Euseb angeführte „Gesetz“ (HE V, 21, 4: ÷rxaûou par’ ažto_iò nümou kekrathkütoò) kann daher keinesfalls für ein Christengesetz unter Nero herangezogen werden (so aber Callewaert, Le Procès, S. 374 f.; Zeiller, Sur un passage, S. 155 f.). Der Inhalt desselben, den Euseb zuvor genannt hat, entsprach genau der Regelung Trajans; außerdem konnte mit nümoò seit der Mitte des 2. Jh. n. Chr. auch eine constitutio principis gemeint sein (vgl. oben Fn. 229). Wie hier _

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g) Septimius Severus und Caracalla Im Laufe der Regierungszeit von Septimius Severus (193 bis 211 n. Chr.) nahmen die Christenprozesse wieder zu. Unter ihm verfasste Tertullian sein Apologeticum im Jahre 197 n. Chr.311, eine der ausgefeiltesten und klügsten Verteidigungsschriften des Christentums; kurz zuvor im selben Jahr hat er die beiden Werke ad nationes und ad martyras geschrieben.312 In jeder dieser Schriften werden Verfolgungen von Christen in der Provinz Africa vorausgesetzt, auch wenn über Ausmaß und Dauer derselben nichts Genaueres gesagt werden kann. Nach 202 n. Chr. werden immer mehr Christenverfolgungen erwähnt, vor allem in Ägypten313 und Africa314. Euseb spricht sogar von einer allgemeinen Verfolgung durch Septimius Severus im ganzen Reich.315 Zur Erklärung dieser wieder aufkommenden Prozesse wird oft auf eine Passage in der Historia Augusta zurückgegriffen, die eine neue, direkt gegen die Christen gerichtete Bestimmung bezeugen soll.316 Septimius Severus wird in HA Severus, 17, 1 zum Jahr 202 n. Chr.317 das Verbot zugeschrieben, zu den Juden oder zu den Christen überzutreten: Iudaeos fieri sub gravi poena vetuit. Idem etiam de Christianis sanxit. mit überzeugender Begründung Freudenberger, Die Überlieferung, S. 122. Zu weiteren Problemen der Acta Apollonii, insbesondere zur Frage des Prozessfortgangs vor dem Senat, vgl. ausführlich Freudenberger, Die Überlieferung, S. 123 ff.; Lanata, Gli atti, S. 155 ff. 311 Vgl. zur Datierung Becker, Tertullians Apologeticum, S. 33 ff. 312 Zu ihnen ebenfalls Becker, Tertullians Apologeticum, S. 33 ff. (zu ad nationes); Tränkle, HLL 4 (1997) § 474, S. 443 ff. (zu ad nationes); S. 479 (zu ad martyras). 313 Euseb, HE VI, 1; 2, 2 f. (Verfolgung unter Q. Maecius Laetus, praefectus Aegypti von 200–203 n. Chr., vgl. PIR V2 M Nr. 54, S. 137 f.; Stein, Die Präfekten, S. 110 f.; Bastianini, Il Prefetto, S. 512); HE VI, 3, 1 u. 3 ff. (Verfolgung unter Ti. Claudius Subatianus Aquila, praefectus Aegypti von 206–211 n. Chr., vgl. Thomasson, Laterculi I, S. 37 Nr. 86; Eck, Art. Subatianus Aquila 1), S. 569; Bastianini, Il Prefetto, S. 512). 314 Vgl. nur die Passio Perpetuae et Felicitatis, 2, 1 aus dem Frühjahr 203 (zur Datierung Barnes, Pre-Decian, S. 522 ff.; ausführlich zur Passio Liebs, Umwidmung, S. 35 ff.), die bei Tertullian ad Scap. 3, 1 erwähnten Tumulte, ebenfalls unter dem schon in der Passio Perpetuae auftretenden procurator Hilarianus (Passio Perp. 6, 3; zu Hilarianus Birley, Persecutors, S. 48 f.), der anstelle des verstorbenen Prokonsuln das ius gladii innehatte (deswegen wird er wohl auch von Tertullian mit dem allgemeinen Titel praeses bezeichnet), und die Prozesse vor C. Valerius Pudens (Tertullian ad Scap. 4, 3), der zwischen 209 und 211 proconsul Africae war (vgl. zu ihm Thomasson, Fasti Africani, Nr. 111, S. 82 f.). 315 Euseb, HE VI, 1: katJ pÜnta tüpon ÷petele_ito martŸria; in der Folge erwähnt er aber konkret doch nur die Verfolgungen in Alexandria. 316 In der Form eines Edikts oder Reskripts, vgl. Neumann, Der römische Staat, S. 160 f.; Vogt, Art. Christenverfolgung I, S. 1180 f.

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Allerdings ist, wie Schwarte überzeugend dargelegt hat318, dieser Bericht der Historia Augusta wohl als Erfindung anzusehen. Die historische Authentizität der Historia Augusta ist sehr umstritten, und der Passus ist unsere einzige Quelle für die angegebene Bestimmung. Tertullian jedenfalls hielt in seinem 212 n. Chr. verfassten Werk ad Scapulam319 weiterhin, wie bereits im Apologeticum, nur die confessio nominis für inkriminiert320, Proselytenmacherei erwähnte er überhaupt nicht, sondern lobte im Gegenteil Septimius Severus als Beschützer der Christen.321 Im Bericht des Martyriums von Perpetua und Felicitas lautete die Frage des Prokurators an Perpetua und alle anderen nur, ob sie Christen seien, nicht dagegen, ob sie Christen geworden seien322, was genau mit dem Verhör in früheren Prozessen, nicht dagegen mit der in der HA angeführten Bestimmung übereinstimmte. Endlich waren jedenfalls die in der Kirchengeschichte Eusebs genannten Nachstellungen unter den Präfekten von Ägypten, Laetus und Aquila323, keine kontinuierlich mehrere Jahre andauernde Aktionen, sondern auch sie wurden zumindest zwischen 203 und 206 n. Chr. während der Präfektur des Claudius Julianus324, den Euseb nicht nennt, unterbrochen oder stark eingeschränkt. Unter Septimius Severus waren die Verfolgungen also örtlich und zeitlich begrenzt, was bei Geltung der in der HA erwähnten Vorschrift schwer vorstellbar ist. Wenn diese speziell gegen die Christen gerichtete Bestimmung unter Severus als unhistorisch auszuscheiden hat, so bedeutet das natürlich nicht, dass es auch die bei Euseb und Tertullian bezeugten Verfolgungen nicht gegeben hätte.325 Auch hier, wie schon bei den Verfolgungen unter Marc 317 Im historischen Ablauf aber nicht korrekt, vgl. Hasebroek, Untersuchungen, S. 116 ff.; Schwarte, Das angebliche Christengesetz, S. 187 f. 318 Schwarte, Das angebliche Christengesetz, S. 192 ff. 319 Zur Datierung des Werks und zum Adressaten P. Iulius Scapula Tertullus Priscus, proconsul Africae, vgl. Thomasson, Fasti Africani, Nr. 113, S. 83 f. 320 Tertullian, ad Scap. 4, 2: Videtis ergo, quomodo ipsi vos contra mandata faciatis, ut confessos negare cogatis. Adeo confitemini innocentes esse nos, quos damnare statim ex confessione non vultis. 321 Tertullian, ad Scap. 5 f. Zu diesen Argumenten ausführlich Schwarte, Das angebliche Christengesetz, S. 192 f.; S. 197 ff. Schwarte, S. 193 ff. erklärt auch das Auftreten von Katechumenen (d. h. derer, die sich auf die Taufe vorbereiteten) in den Christenprozessen überzeugend damit, dass die Institution des Katechumenats sich wohl erst um das Jahr 170 n. Chr. herausgebildet hatte und deswegen zuvor von ihnen noch keine Rede war. Vgl. auch die Erwähnung von tam bonam et longam pacem in der 211 n. Chr. entstandenen Schrift Tertullians de corona 1, 4 f. 322 Pass. Perp. 6, 2 u. 4. 323 Euseb HE VI, 2, 2; 3, 3 ff. Zu den Präfekten oben Fn. 313. 324 Zu ihm vgl. Bastianini, Il Prefetto, S. 512; Rea, The date, S. 48 ff. 325 Diesen Schluss scheinen aber Keresztes, Septimius Severus, S. 573 und Frend, Martyrdom, S. 341 Fn. 144 zu ziehen.

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Aurel, ist es wohl angebracht, auf eine Anordnung einzugehen, die zwar nicht direkt gegen die Christen gerichtet war, aber auch auf sie angewendet werden konnte und von einigen Statthaltern dann auch angewendet wurde: mali homines ex officio zu verfolgen. Zu denken ist etwa daran, dass Septimius Severus nach seiner Reise durch den Osten des Reiches das von Marc Aurel erlassene mandatum noch einmal bekräftigt hat326 und daraufhin die Statthalter von Africa und Ägypten im Rahmen dieser Norm Christen, insbesondere die dort verbreiteten Montanisten327, als besondere Störer der öffentlichen Ordnung ohne private Anklage verfolgt hatten. Nach dem Tod von Septimius Severus unter der Alleinherrschaft Caracallas (211 bis 217 n. Chr.) scheinen im ganzen Reich allgemeine Verfolgungen aufgehört zu haben;328 jedenfalls erwähnen die Quellen keinen Prozess gegen Christen mehr.329 Diese Ruhe blieb bis Maximinus Thrax (235 bis 238 n. Chr.) ohne Unterbrechung erhalten. Die damals regierenden severischen Kaiser waren anscheinend generell christenfreundlicher eingestellt. Näher aber liegt ein Zusammenhang mit der von Laktanz erwähnten Zusammenstellung der gegen die Christen gerichteten Kaiserreskripte durch Ulpian in de officio proconsulis, wo allen Statthaltern ein verbindlicher Leitfaden für die Behandlung von Christen gegeben worden war. h) Die Erwähnung der Christen bei Ulpian Ulpian hatte nach Laktanz mehrere Reskripte (rescripta principum) zur Strafbarkeit der Christen im siebten Buch seines Werkes angeführt. Diese Maßnahmen lassen sich natürlich nicht im Einzelnen verifizieren, aber es ist gut möglich, dass Ulpian hier die epistulae330 Trajans an Plinius, Hadrians an Minicius Fundanus und des Antoninus Pius genannt hatte, insbesondere 326 Hierauf könnte das Reskript an den praefectus vigilum Iunius Rufinus in D. 1, 15, 4 (Ulpian l. s. de off. praef. urbi, dazu s. o. 3.) hindeuten, in dem eine vergleichbare Anordnung in Bezug auf fugitivi aufgestellt wurde. 327 Zu ihnen und ihrer Verbreitung in Nordafrika ab 200 n. Chr. Frend, Art. Montanismus, S. 271 ff.; S. 275 f. Insbesondere wird mit ihnen das freiwillige Martyrium verbunden, vgl. Tertullian de fuga 9, 4. 328 Abgesehen von den Maßnahmen Scapulas, dem Tertullian 212 n. Chr. die bereits genannte Schrift ad Scapulam widmet, zu ihr oben Fn. 319. Neben ihm erwähnt Tertullian als aktuelle Verfolger noch den Kommandanten der Legion sowie den Statthalter von Mauretanien (Tertullian, ad Scap. 4, 8). 329 Trotz Constitutio Antoniniana 212 n. Chr., die in den Zeilen 3–4 (P. Giss. 40 I bei Wilhelm, 180) einen Kultakt aller Reichsangehörigen für die Götter forderte und damit eine allgemeine Verfolgung möglich gemacht hätte. Vgl. die bisherige Diskussion hierzu bei DalCovolo, I Severi, S. 52 ff. 330 Dazu, dass kaiserliche epistulae an staatliche Beamte (zu denen auch der Statthalter einer Provinz gehörte) auch allgemein rescripta (principis) genannt wur-

II. Verfahren im regulären Strafprozess

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die Regel conquirendi non sunt. So ließe sich erklären, warum Ulpian über die Christen im siebten Buch handelte. Christen konnten zwar als mali homines im Sinne des in D. 1, 18, 13 pr. genannten Mandats verstanden werden, doch hielt Ulpian das nicht für richtig, sondern verwies auf das Verbot der Fahndung ex officio. Die Reskripte dienten also dazu, eine Ausnahme der zu Beginn des Buches festgelegten Verfolgungszuständigkeit des Statthalters ohne private Anklage zu statuieren, und waren daher an dieser Stelle des Werkes zu behandeln. So erklärte sich auch das Erlöschen der allgemeinen Verfolgungen unter Caracalla: Kein Statthalter konnte die Christen nun noch ex officio als mali homines verfolgen, da die Reskripte bei den Christen jene wichtige Einschränkung festgelegt hatten und im Werk Ulpians jedem Statthalter als feste Richtlinie zugänglich waren. Aus dem kurzen Abschnitt bei Laktanz geht noch mehr hervor, was andere Thesen der bisherigen Untersuchung bestätigen kann. Wenn Laktanz nur Reskripte erwähnt, so zeigt sich nochmals, dass die Christen nicht aufgrund eines speziellen Gesetzes, sondern im Rahmen anderer Bestimmungen verfolgt wurden. Denn eine spezielle Rechtsgrundlage, aufgrund derer dann weitere kaiserliche Reskripte ergangen wären, hätte Ulpian, wie bei den anderen im 7. Buch dargestellten Gesetzen331, sicher ebenfalls behandelt; und Laktanz hätte diese oder jedenfalls das Gesetz, unter das Christentum fiel, dann auch erwähnt. Schließlich passt die unspezifische Angabe, die Reskripte hätten schlicht poenae vorgesehen, zu unserer Annahme, gegen die Christen sei nicht stets ein und dieselbe Strafe verhängt worden. Folge der Verurteilung eines Christen musste nicht notwendig die Todesstrafe sein.

II. Verfahren im regulären Strafprozess vor dem Statthalter Die folgenden Fragmente enthalten allgemeine prozessuale Vorschriften, die der Statthalter bei seiner regulären strafrichterlichen Tätigkeit zu beachten hatte, vor allem in Bezug auf Formalitäten und Inhalt von Anklagen Privater (D. 48, 2, 7 pr. bis § 3), Klagebefugnis (D. 48, 16, 14) und Zuständigkeit für Anklagen (D. 48, 2, 7 §§ 4 bis 5). Weiterhin wurden hier der Gewahrsam und das Verhör der Beschuldigten behandelt (D. 48, 3, 3 und D. 2, 12, 19) und schließlich das Verfahren in Abwesenheit von Angeklagtem oder Ankläger (D. 48, 19, 5). den, wenn sie auf Anfrage des Beamten ergingen, vgl. Liebs, HLL 4 (1997) § 411.3, S. 91. 331 Vgl. beispielsweise D. 48, 4, 1 (zur Lex Iulia maiestatis); Coll. 1, 3, 1 (zur Lex Cornelia de sicariis). Zu beiden leges ausführlich u. III. 2. und 3.

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

Dem Charakter eines Handbuches für den Statthalter entsprechend, das einen übersichtlichen Blick auf die strafgerichtliche Praxis bieten sollte, handelte es sich bei den prozessualen Vorschriften um allgemeine Regeln für die cognitio extra ordinem des Statthalters in Strafsachen, die bei der Untersuchung aller Verbrechen zu berücksichtigen waren. Es handelte sich also gewissermaßen um einen allgemeinen verfahrensrechtlichen Abschnitt, der bei der Verfolgung aller Verbrechen Geltung beanspruchte, sofern nicht für einzelne Taten Besonderheiten galten. Das Verfahren vor den Statthaltern war also keineswegs völlig frei, ungebunden oder gar willkürlich, wie es häufig heißt. Jedenfalls zu Anfang des 3. Jh. n. Chr. hatte der Provinzvorsteher feste Regeln einzuhalten, die zum großen Teil aus der augusteischen Lex Iulia iudiciorum publicorum, die ursprünglich nur für Verfahren im Rahmen des ordo und damit der quaestiones gegolten hatte, auf den Strafprozess in den Provinzen übertragen worden waren.

1. D. 48, 2, 7 pr. u. § 1: Allgemeiner Grundsatz der privaten Anklage332 Si cui crimen obiciatur, praecedere debet crimen subscriptio. Quae res ad id inventa est, ne facile quis prosiliat ad accusationem, cum sciat inultam sibi accusationem non futuram. 1 Cavent itaque singuli, quod crimen obiciant, et praeterea perseveraturos se in crimine usque ad sententiam.

Am Anfang der Verfahrensregeln für den Strafprozess vor dem Statthalter stand eine besonders wichtige Aussage: Wenn eine Straftat vorgeworfen werden sollte, musste dem Verfahren vor Gericht333 eine subscriptio voraus332 Lenel, Pal II, col. 973 wählt für das ganze Fragment D. 48, 2, 7, in Anlehnung an den D.-Titel 48, 2 und den CJ-Titel 9, 2, korrigiert nach dem Inhalt von D. 48, 2, 7 pr., die Überschrift de accusationibus et subscriptionibus, während Rudorff, Über den liber, S. 293, genau wie D., CJ und schon CTh 9,1 de accusationibus et inscriptionibus titelt. 333 Die Bedeutung von crimen in praecedere debet crimen subscriptio ist umstritten. Wlassak, Anklage, S. 87 Fn. 14 hält den Satz insgesamt für zerrüttet, fügt, in Übereinstimmung mit dem Korrektor der Florentina (F2), vor crimen subscriptio ein in ein und hält dann receptio oder die Hauptverhandlung für das durch die Kompilatoren entfernte Objekt zu praecedere. Gegen diese Ansicht spricht sich zurecht Mer, L’accusation, S. 154 u. Fn. 1 aus, der die Ergänzungen von Wlassak für willkürlich erklärt, crimen selbst als Objekt zu praecedere sieht und ihm die Bedeutung „l’action elle-même, les debats principeaux“ gibt. Diese Bedeutung von crimen findet sich auch in anderen Fragmenten (vgl. dazu insbes. Hitzig, Art. crimen, S. 1712 f.), insbesondere in D. 48, 19, 5 pr., Ulpian 7 de off. proc. (zur Stelle ausführlich u. 6. a)): Absentem in criminibus damnari non debere (. . .), und in der entsprechenden Basilikenstelle 60, 34, 6, Sch. 2, wo crimen mit kathgorûaò wiedergegeben ist. Zwar erscheint das Wort crimen zu Beginn von D. 48, 2, 7 pr. in der Bedeutung von Verbrechen/Straftat (si cui crimen obiciatur), hier nämlich in Verbindung mit obiciatur (vgl. wiederum Hitzig, Art. crimen, S. 1712; De Dominicis, Rez.

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gehen. Sinn der subscriptio sei es, dass niemand voreilig eine Anklage erhebt, denn eine unbegründete Anklage blieb nicht ungestraft. Deswegen musste ein potenzieller Ankläger genau prüfen, ob er die Anklage bis zum Urteil würde aufrechterhalten können.334 Die subscriptio war demnach der entscheidende Akt der Anklageerhebung, wodurch der Ankläger die Verantwortung für den Prozess übernahm und bei Misserfolg wegen calumnia (wissentlich falscher Anklage)335 oder tergiversatio (Abstehen von der Anklage)336 belangt werden konnte. a) Bedeutung der subscriptio im Strafprozess Was unter subscriptio, eigentlich „Unterschrift“, im Strafprozess genau zu verstehen ist, ist umstritten. aa) Manche sehen in ihr die schriftliche Anklage durch Libell beim zuständigen Magistrat.337 Sie stützen sich insbesondere auf D. 48, 2, 3 § 2 (Paulus, 3 de adulteriis), wo es nach Angabe des zwingend notwendigen Inhalts eines libellus inscriptionis heißt: Item subscribere debebit is qui dat libellos se professum esse, vel alius pro eo, si litteras nesciat.

Aus dem Sachzusammenhang wird geschlossen, der Kläger habe seine Unterschrift nur dann zu leisten gehabt, wenn er vorher ein Anklagelibell verfasst hatte. Subscriptio meine daher entweder die Unterschrift unter das einzureichende Libell selbst oder in den tabulae publicae338, in die der Magistrat die schriftliche Anklage aufgenommen hat.339 bb) Andere sehen in der subscriptio ein typisches Element des akkusatorischen Prozesses der quaestiones, wie er in der Lex Iulia iudiciorum publiBianchini, S. 455 hält crimen obiciatur für interpoliert, unbegründet, vgl. nur die Vielzahl von Nachweisen der Wortverbindung in VIR I, Art. crimen II A 2), S. 1068, Z. 4 ff.). Verschiedene Bedeutungen desselben Wortes kurz hintereinander sind sehr wohl möglich. 334 Lenel, Pal. II, col. 974 Fn. 1 hält die Passage von quod crimen bis usque ad sententiam für verdächtig. Für diese Annahme gibt es aber keinen konkreten Anhaltspunkt, vielmehr passt der Text gut in den Zusammenhang des Fragmentes. 335 Dazu vgl. allgemein D. 48, 16, 1 und Levy, Anklägervergehen, S. 380 ff. und u. 3. a) aa). 336 Dazu wiederum Levy, Anklägervergehen, S. 417 ff. und u. 6. b). 337 So vor allem Heumann/Seckel, Art. subscribere 1 c) und Art. subscriptio 1 c), S. 562. 338 Dieser Begriff wird beispielsweise von Cicero pro Cluent. 31, 86 oder in Verr. 2, 2, 60; 2, 2, 90 erwähnt. Mer, L’accusation, S. 125 spricht dagegen vom codex publicus. 339 Zum Streitstand hinsichtlich dieser Alternativen vgl. den guten Überblick bei Zanon, Le strutture, S. 41 u. Fn. 53, 54, sowie Bianchini, Le formalità, S. 104 ff.

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corum festgelegt worden sei.340 Auch diese greifen zum Nachweis ihrer Ansicht auf D. 48, 2, 3 pr. zurück. Im Bezug auf den notwendigen Inhalt des libellus inscriptionis heißt es dort nämlich: Hoc enim lege Iulia publicorum cavetur.

cc) Schließlich wird der subscriptio eine von der Schriftlichkeit der Anklage losgelöste Funktion zugewiesen. Sie sei eine Bestätigung der vom Magistrat in die tabulae publicae eingeschriebenen Straftat, sei sie nun schriftlich durch Libell oder mündlich beim Magistrat vorgebracht worden. Es habe sich um die bloße Unterschrift gehandelt, mit der der Ankläger die Urheberschaft der Anklage anerkannt habe.341 dd) Dass eine subscriptio nur im Verfahren der quaestiones vorgekommen wäre, ist den Quellen nicht zu entnehmen. D. 48, 2, 7 pr. betraf den Strafprozess vor dem Prokonsul und damit die cognitio extra ordinem. Von einem Verfahren vor Geschworenengerichtshöfen ist keine Rede. Abgesehen davon, dass für die Provinzen seit den kyrenischen Edikten unter Augustus keine gerichtliche Entscheidung durch ein Geschworenengericht nachgewiesen werden kann342, waren auch in Rom die quaestiones am Anfang des 3. Jahrhunderts weitgehend funktionslos geworden.343 Zumindest die kapitalen Verbrechen wurden nur noch extra ordinem vor den städtischen Höchstmagistraten, insbesondere dem praefectus urbi verhandelt.344 340

Z. B. Balzarini, In tema, S. 278. So insbes. Zanon, Le strutture, S. 37 f. u. Fn. 46; S. 56. Auch Mer, L’accusation, S. 152, aber nur bezüglich der crimina extraordinaria (dazu führt er D. 48, 2, 7 pr. an), während er in den Fällen der Straftaten des ordo die schriftliche Klage als verpflichtend und die subscriptio als reines Gültigkeitszeichen unter dem eingereichten Libell ansieht (S. 150 ff., dabei stützt er sich vor allem auf D. 48, 2, 3 § 2). Zum Beweis der Richtigkeit seiner Auffassung führt er vor allem die unterschiedliche Bedeutung von subscribere in D. 48, 2, 3 § 2 und subscriptio in D. 48, 2, 7 pr. in den jeweiligen Parallelstellen der Basiliken an (60, 34, 3 und 60, 34, 6, Sch. 2). In der Tat bedeutete subscribere im Paulus-Text nur die konkrete Unterschriftsleistung in Folge des libellus inscriptionis, während bei Ulpian der gesamte abgeschlossene Anklageakt durch die subscriptio erfasst wurde. Diese Unterscheidung besagt aber nichts über den Ort der Unterschriftsleistung; außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass die subscriptio bei Ulpian auch das subscribere in der bei Paulus verwendeten Bedeutung eingeschlossen hatte. Gegen Mer zu Recht Bianchini, Le formalità, S. 105 ff. 342 Zu den Edikten von Kyrene s. u. III. 3. a) bb) im Rahmen der Lex Cornelia de sicariis. 343 Abgesehen vielleicht von der quaestio de adulteriis. Das Überleben der quaestio für Ehebruch in Rom, das häufig aus Dio 77, 16, 4 herausgelesen wird (beispielsweise Kunkel, Quaestio, S. 101 f.), ist aber umstritten. Dagegen etwa Garnsey, Adultery trials, S. 56 ff. und gegen ihn wiederum Bauman, Some remarks, S. 88 ff. 344 So sehr klar Paulus D. 48, 1, 8 (l. s. de iud. publ.): Ordo exercendorum publicorum capitalium in usu esse desiit, durante tamen poena legum, cum extra ordinem crimina probantur. 341

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Aber auch die Annahme, eine subscriptio sei nur bei denjenigen Verbrechen üblich gewesen, die ehemals vor einer quaestio verhandelt worden waren, findet in den Quellen keine Bestätigung. D. 48, 2, 7 pr. enthielt keine solche Beschränkung, die man im allgemeinen verfahrensrechtlichen Teil des ulpianischen Werkes ansonsten erwartet hätte. Auch andere Stellen sprechen für die allgemeine Geltung der subscriptio. D. 47, 1, 3 (Ulpian, 2 de off. proc.) und 47, 2, 93 (92) (Ulpian, 38 ad ed.)345, in denen von in crimen subscribere die Rede ist, bezogen sich allein auf crimina extraordinaria, die niemals im Rahmen einer quaestio, sondern nur extra ordinem verfolgt werden konnten.346 Daher ist festzuhalten, dass bei jeder Anklage vor dem Statthalter eine subscriptio erforderlich war. Diese stellte, wie gerade der Ausgangstext zeigt347, sicher, dass der Ankläger die Verantwortlichkeit für die Klage übernimmt, unabhängig vom anzuklagenden Verbrechen. Auch Seneca führt die subscriptio dreimal gleichbedeutend mit einer schriftlichen Anklage an.348 Diese Textstellen bezogen sich zwar auf Prozesse des ordo349, doch zeigen sie auch, wie selbstverständlich der Begriff der subscriptio gleichbedeutend mit dem umfassenden Anklageakt verwendet wurde. b) Schriftliche oder auch mündliche Anklage im Strafverfahren? Ob die subscriptio eine schriftliche Anklage voraussetzte, ist dagegen schwerer zu entscheiden. Man könnte daran denken, dass es eine schriftliche Anklage nur bei den von den leges iudiciorum publicorum erfassten Verbrechen gegeben habe, für die quaestiones eingerichtet worden waren, nicht dagegen bei den neuen, extraordinaren Straftaten. Diese hätten auch mündlich vor den Magistrat gebracht werden können; die subscriptio sei also von der Schriftlichkeit der Anklage unabhängig gewesen.350 345

Zu D. 47, 2, 93 (92) ausführlich u. V. 5. a). So eindeutig D. 47, 1, 3 a. E.: Si extra ordinem eius rei poenam exerceri velit, tunc subscribere eum in crimen oportebit. 347 Auch in D. 47, 1, 3 und 47, 2, 93 (92) wird subscribere ganz selbstverständlich zur Bezeichnung der Anklage insgesamt verwendet. 348 Seneca, de beneficiis III, 26, 2: . . . et cum Maro convivas testaretur admotam esse imaginem obscenis et iam subscriptionem conponeret. Ad Marciam de consolatione 22, 5: Consignatur subscriptio (gegen Cremutius Cordus auf Betreiben von Seian, vgl. dazu auch Tacitus, Ann. 4, 34). Apocolocyntosis 14, 1: Ducit illum ad tribunal Aeaci: is lege Cornelia quae de sicariis lata est, quaerebat. (Pedo Pompeius) postulat, nomen eius recipiat; edit subscriptionem: occisos senatores XXXV, equites R. CCXXI, ceteros Õsa yÜmaqüò te küniò te. 349 Maiestas (nicht mehr allerdings vor der quaestio, sondern vor dem Kaisergericht) und Mord. 346

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aa) Für generelle Schriftlichkeit der Anklage bei allen Straftaten spricht vor allem ein Passus bei Paulus in D. 48, 2, 3 pr. (3 de adult.), wo es nach den Formalitäten des libellus inscriptionis heißt: Hoc enim lege Iulia publicorum cavetur et generaliter praecipitur omnibus, qui reum aliquem deferunt.351

Im Rahmen seiner Ausführungen zum adulterium, einer Straftat des ordo, hält Paulus unmissverständlich fest, dass jede Anklage schriftlich zu erfolgen hat. Ursprünglich hatte das, statuiert in der Lex Iulia iudiciorum publicorum, nur für Straftaten des ordo im Verfahren der quaestiones gegolten; mittlerweile aber traf es generell jedermann, der einen anderen anklagen wollte. Freilich könnte das entscheidende Wort generaliter auch interpoliert sein;352 ohne generaliter würde der Text nur für die Schriftlichkeit der Klage im ordo sprechen. bb) In den Digesten selbst gibt es keinen weiteren Text, der auf die Schriftlichkeit der Anklage eingeht. Die literarischen Quellen der Kaiserzeit zur Anklage im Strafverfahren geben aber Auskunft und lassen zugleich Entwicklungstendenzen erkennen. Außer den schon genannten Stellen bei Seneca, die subscriptio im Sinne einer schriftlichen Anklage verwenden, sind, gerade für den Bereich der Provinzen, die schon erörterten Christenbriefe von Plinius und Trajan aufschlussreich.353 Plinius schrieb: Propositus est libellus sine auctore multorum nomina continens (. . .).354

Und Trajan antwortete darauf: Sine auctore vero proposito libelli in nullo crimine locum habere debent. nam et pessimi exempli nec nostri saeculi est.355

Zwar heißt es nicht explizit subscriptio, doch zeigt die Verwendung des Begriffes libellus, dass auch bei außerordentlichen Verbrechen wie dem Christentum356 schriftliche Anklagen üblich waren. Diese wurden allerdings bis zum Reskript Trajans in den Provinzen anscheinend auch von anonymen Anklägern, d.h. ohne weitere Formalitäten, insbesondere ohne das subscribere des Klägers in den tabulae publicae entgegengenommen, da 350

So Mer, L’accusation, S. 150 ff., der allerdings eine abweichende Bedeutung von subscriptio in diesem Fall annimmt, nicht überzeugend, vgl. o. Fn. 341. 351 Der zweite Teil des Satzes bekräftigt erneut, dass eine subscriptio mit ihren Formalitäten bei allen Verbrechen gefordert wurde. 352 So Mer, L’accusation, S. 132 ff. Dagegen aber Wlassak, Anklage, S. 12 Fn. 1. 353 Ausführlich zu den Briefen o. I. 4. c). 354 Ep. 10, 96, 5. 355 Ep. 10, 97, 2. 356 Vgl. o. I. 4., insbes. c).

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Plinius in dieser Vorgehensweise kein Problem gesehen hatte. Erst Trajan verbot Anklagen im Strafprozess ohne bekannten Ankläger und führte damit die subscriptio für außerordentliche Verbrechen auch in den Provinzen ein. Problematisch waren anonyme Anzeigen hauptsächlich deshalb, weil der Anzeiger bei falscher Anzeige nicht belangt werden konnte. Das sollte die subscriptio sichern357, die weiterhin, wie vorher, schriftlich zu erfolgen hatte. cc) Ergiebig für die Bedeutung von subscriptio allgemein und speziell für ihre Schriftlichkeit ist schließlich die Verteidigungsrede des Apuleius gegen den Vorwurf der Magie, die er in der Gerichtsverhandlung vor dem Prokonsul der Provinz Africa, Claudius Maximus, also wahrscheinlich 158/59 n. Chr.358 in Sabrata359 gehalten hat.360 Dort schilderte Apuleius, dass er noch vor dem strafgerichtlichen Verfahren von den Anwälten des Sicinius Aemilianus der Zauberei und des Mordes an seinem Stiefsohn Pontianus bezichtigt worden sei und er sie daraufhin aufgefordert habe, Anklage zu erheben.361 Diese Beschuldigungen seien dann auch dem Prokonsul zu Ohren gekommen, woraufhin Apuleius bemerkt:362 Igitur (sc. Sicinius Aemilianus) Pontianum fratris sui filium, quem paulo prius occisum a me clamitarat, postquam ad subscribendum compellitur, illico oblitus est.

Subscriptio ist zur Zeit des Apuleius der geläufige Terminus für eine Strafanklage in der Provinz. Sie markiert den entscheidenden Akt der Übernahme der Verantwortung durch den Ankläger. Die ursprüngliche Bezichtigung des Mordes war unverbindlich; Aemilianus hat sie fallengelassen, als er zur subscriptio angehalten wurde. Er war sich offenbar nicht mehr sicher, dass er den Mordvorwurf würde beweisen können, und wäre daher der Bestrafung wegen calumnia ausgesetzt gewesen, wenn er diesen Vorwurf in der subscriptio beibehalten hätte. Auch zur Schriftlichkeit der Anklage macht Apuleius Angaben. Aemilianus hatte Anklage allein wegen Magie erhoben und postera die dat libellum im Namen des Sicinius Pudens, des überlebenden Stiefsohns von Apuleius.363 Wie selbstverständlich folgte also der Aufforderung zur subscriptio die Abfassung und Übergabe eines Libells, dessen Beginn eben357

s. o. I. 4. c) und auch den Brief Hadrians an Minicius Fundanus, o. I. 4. d) aa). Zum Datum der Apologie Sallmann, in: HLL 4 (1997) § 457, S. 295 f.; Thomasson, Fasti Africani, S. 63 Nr. 77 mit Nachweisen zum genannten proconsul; Hammerstaedt, Apuleius, S. 13 ff. 359 Wenige Kilometer westlich des heutigen Tripolis in Libyen. 360 Ausführlich zum Prozess Schindel, Die Verteidigungsrede, S. 13 ff. sowie zu rechtlichen Aspekten Liebs, Apologie von Apuleius, S. 25 ff.; Lamberti, De magia, S. 331 ff. 361 Apol. 1, 3 f.: ad accusandum provocavi. 362 Apol. 2, 1. 363 Apol. 2, 2 f. 358

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falls überliefert ist364 und das wohl den Anforderungen von D. 48, 2, 3 pr. genügte.365 Zwar wurde Magie aufgrund eines die Lex Cornelia de sicariis erweiternden SC bestraft366, die wiederum zum ordo gehörte. Aber noch an einer anderen Stelle verwendete Apuleius subscriptio in der allgemeinen Bedeutung einer schriftlichen Anklage schlechthin:367 Et quando tandem gravius habendum est quod in iudicio subscribitur quam quod in epistola scribitur.

Die Gegenüberstellung mit dem in einem Brief Geschriebenen zeigt, dass die subscriptio vor Gericht ebenfalls etwas Niedergeschriebenes ist, aber einen höheren Beweiswert hat als private Korrespondenz. dd) Dafür, dass extraordinare Verbrechen auch mündlich angeklagt werden konnten, werden noch weitere Texte angeführt, nämlich CJ 9, 45, 1 (wohl Caracalla zwischen Ende 211 und Juli 213 n. Chr.)368: Is demum in senatus consultum (sc. Turpillianum) incidisse videtur, qui crimen publici iudicii detulit et causa ordinata, id est inscriptionibus depositis et fideiussore de exercenda lite praestito eoque qui accusatur sub custodia officii facto, non impetrata abolitione ab exsecutione criminis destitit.

Ferner CJ 9, 1, 3 pr. (Alexander Severus, 222 n. Chr.): Qui crimen publicum instituere properant, non aliter ad hoc admittantur, nisi prius inscriptionum pagina processerit et fideiussor des exercenda lite adhibitus fuerit. 364

Apol. 102, 6–103, 2. Auch wenn das vorgeworfene Verbrechen bei Apuleius nicht explizit genannt ist, muss das nichts Gegenteiliges bedeuten, sondern kann auch auf einen rhetorischen Kunstgriff des Apuleius zurückgeführt werden. Der Beginn der Schrift (hunc ego, domine Maxime, reum apud te facere institui) klingt sehr formal und spricht deshalb für Einhaltung der vorgeschriebenen Förmlichkeiten. 366 Vgl. nur D. 48, 8, 3 §§ 2 u. 3 (Marcian 14 inst.); PS 5, 23, 14 ff. Allgemein beispielsweise Liebs, Apologie von Apuleius, S. 31 ff. Etwas unklar Lamberti, De magia, S. 342 ff., die einen autonomen Tatbestand der Magie mit Kapitalstrafe infolge eines SC aus claudianischer Zeit annehmen will, dann aber (S. 347 f.) dieses mit dem bei Modestin in D. 48, 8, 13 (12 pand.) in Verbindung bringt, das widerum auf die Strafe der Lex Cornelia Bezug nimmt, also eine bloße Erweiterung dieser lex darstellt. 367 Apol. 79, 2. 368 So Honoré, Emperors, S. 131 u. Fn. 794 aufgrund eines Stilvergleichs. Es ist zwar wahrscheinlich, dass Caracalla das Reskript erteilte, wie z. B. Krüger, Appendix I zu CJ, 490 meint, aber nicht ganz sicher. Auch Marc Aurel als Alleinherrscher kommt in Betracht, der ebenfalls Antoninus hieß (vgl. Krüger, 489). Der Empfänger des Reskripts ist ein gewisser Annianus. Zur Zeit Caracallas ist kein Träger dieses Namens nachweisbar, während aus der Zeit Marc Aurels M. Ummidius Annianus Quadratianus bekannt ist, Neffe Marc Aurels, Legat des Prokonsuln Africas 162 n. Chr. und Konsul 167 n. Chr., der abgekürzt gut M. Annianus Quadratus genannt worden sein konnte (vgl. zu ihm PIR V Nr. 604 und breit Syme, The Ummidii, S. 99 ff.). 365

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Beide Texte sollen ergeben, dass nur bei crimina publica eine schriftliche Anklage und Stellung eines Bürgen erforderlich gewesen sei, nicht aber bei außerordentlichen Verbrechen;369 denn die Satzteile id est inscriptionibus (. . .) sub custodia officii facto und prius inscriptionum pagina praecesserit et stammen wohl erst von Tribonian.370 Aber wie dem auch sei, die beiden Konstitutionen ergeben nur, dass bei Straftaten des ordo schriftlich anzuklagen ist, erlauben aber nicht den Gegenschluss auf Mündlichkeit bei außerordentlichen Verbrechen. Eine Konstitution Gordians aus dem Jahr 239 n. Chr. (CJ 9, 45, 2) bezieht die in den Konstitutionen wohl Caracallas und Alexanders genannte Bürgschaft auf jeden, qui in crimen subscripsit, d.h. auch auf crimina extraordinaria, besagt also das Gleiche wie die bereits genannten Texte der Juristen, die bei der subscriptio nicht nach der zugrundeliegenden Straftat unterscheiden. Für Mündlichkeit einer Anklage außerordentlicher Verbrechen werden schließlich die Fälle der querella ins Feld geführt, Beschwerden über crimina extraordinaria, die ohne die Förmlichkeit einer Anklageschrift auskämen.371 Dabei ist einzuräumen, dass unter querella eine formlose Anklage verstanden werden könnte, ohne dass es sich um eine bloße Anzeige gehandelt haben kann, die nur ein Inquisitionsverfahren in Gang setzte.372 Aber diese Bedeutung von querella ist erst seit Diokletian bezeugt, von dem die erste diesbezügliche Konstitution, CJ 9, 2, 8, stammt.373 Für die Bedeutung von querella in den ersten Jahrhunderten nach Christus ist dadurch nichts bewiesen. In den klassischen Juristentexten ist querella verallgemeinernder Ausdruck für jede Beschwerde, sie konnte ein Verfahren de plano ohne förmliche Anklage374 und ebenso einen Prozess pro tribunali mit Anklage einleiten.375 Querella erscheint sogar im Zusammenhang mit 369

So vor allem Zanon, Le strutture, S. 38 u. Fn. 46. s. nur Wlassak, Anklage, S. 90 Fn. 18; S. 86 Fn. 13. 371 So wiederum Zanon, Le strutture, S. 44 ff. 372 So aber Zanon, Le strutture, S. 50 ff. 373 Exemplum sacrarum litterarum Diocletiani et Maximiani AA. (zwischen 285 und 289 n. Chr.): Si quis se iniuriam ab aliquo passum putaverit, et querellam deferre voluerit, non ad stationarios decurrat, sed praesidialem adeat potestatem, aut libellus offerens, aut querellas apud acta deponens. Mer, L’accusation, S. 133, erklärt diese Konstitution für ein Versehen oder eine Reminiszenz an alte Zeiten, womit er seinen ganzen Ansatz diskreditiert. 374 Vgl. D. 48, 2, 6 (2 de off. proc.) bezüglich der Strafen im Verfahren de plano: vel fustibus castigare vel flagellis servos verberare. 375 Vgl. nur D. 37, 14, 1 (Ulpian, 9 de off. proc., ausführlich s. dort V. 6.) zu Beschwerden über Respektlosigkeit der Freigelassenen, was sowohl pro tribunali als auch de plano verhandelt werden konnte (D. 1, 16, 9 § 3, Ulpian 2 de off. proc.). Dass querella auch eine förmliche Anklage pro tribunali bezeichnen konnte, zeigt sich bei den querellae der Sklaven gegen ihre Herren, s. Coll. 3, 3, 3 (Ulpian 8 370

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ordentlichen Verbrechen376, wo nach allgemeiner Ansicht eine mündliche Anklage ausgeschlossen war.377 Deshalb kann erst seit der genannten Konstitution Diokletians davon ausgegangen werden, dass querella nur noch die mündliche Anklage im Gegensatz zum libellus inscriptionis bezeichnete und dass auch erst seit dieser Zeit eine mündliche Anklage im Verfahren pro tribunali zulässig war.378 de off. proc., dazu u. V. 1.), andererseits D. 1, 12, 1 § 10 (Ulpian l. s. de off. praef. urbi): Quod autem dictum est, ut servos de dominis querentes praefectus audiat, sic accipiemus non accusantes (. . .). Hätte querella stets die nicht-förmliche Beschwerde bezeichnet, dann hätte sich Ulpian hier kürzer fassen können. Seine vielen Worte werden dagegen verständlich, wenn im Verfahren pro tribunali querella grundsätzlich eine förmliche Anklage meinte, und der vorliegende Fall eine Ausnahme war. 376 So beim adulterium in D. 48, 5, 12 (11) § 6 (Papinian, l. s. de adult.), dort gleichbedeutend mit accusatio gebraucht; es wäre kaum einsichtig, wenn der Mann das Vorzugsanklagerecht innerhalb von 60 Tagen nur mit der accusatio sollemnis, danach aber auch mündlich hätte vorbringen können. Auch in einem Fall der erweiterten Lex Cornelia de sicariis in D. 48, 6, 6 (Ulpian, 7 de off. proc.), dazu s. u. III. 3. d) (2), hat querella eine weite Bedeutung. 377 Abweichend nur Zanon, Le strutture, S. 44 u. Fn. 2 u. 3. Sie sieht zwar das generaliter in D. 48, 2, 3 pr., hält es auch nicht für interpoliert und räumt sogar ein, dass alle von ihr zum Beweis ihrer These angeführten Konstitutionen erst aus dem Dominat stammen, stellt dann aber ohne wirklichen Beweis fest, dass diese Konstitutionen inhaltlich keine Neuerungen gegenüber der klassischen Zeit enthalten hätten. 378 Nicht in diesen Zusammenhang gehört das in einer Konstitution Gratians aus dem Jahr 376 n. Chr. erwähnte Reskript des Antoninus (bei dem es sich, wie der Vergleich mit den später erwähnten Texten Marcians ergibt, tatsächlich um Antoninus Pius und nicht um Caracalla handelte, wie auch Marotta, Multa, S. 274 Fn. 61, allerdings ohne Begründung, annimmt) über das Vorgehen sine inscribtione (sic!) beim crimen falsi (CTh. 9, 19, 4 § 1; in der Parallelstelle CJ 9, 22, 23 fehlt dieser geschichtliche Exkurs): Quod si expetens vindictam falsi crimen intenderit, erit in arbitrio iudicantis an eum sinat etiam sine inscribtione certare. Iudicis enim potestati committi oportet, ut de eo qui obiecta non probaverit sumat propositum antiquo iure supplicium. Rationi quoque huiusmodi plenissime suffragatur antiquitas, quae nequissimos homines et argui voluit et coherceri legibus variis, Cornelia de veneficiis sicariis parricidiis, Iulia de adulteris ambitusve criminibus ceterisve ita promulgatis, ut possit etiam sine inscribtione cognosci, poena tamen accusatorem etiam sine sollemnibus occuparet. De qua re et divus Antoninus rescribsisse docetur. id in iudiciis potestate constituens quod nosmet in legibus iusseramus. Removebitur itaque istius lenitate rescribti praecepti superioris austeritas, ut, . . ., habeat praetermissis sollemnibus accusandi facultatem, pro iudicis motu sententiam relaturus. Marotta, Multa, S. 274 Fn. 61 gibt bei der Zusammenfassung des Inhalts irrigerweise statt dessen den Inhalt einer Konstitution Konstantins (CTh. 9, 1, 5) wieder. Die inscriptio hatte im Dominat die Funktion der klassischen subscriptio übernommen (vgl. Mer, L’accusation, S. 235 ff.; S. 241 ff. mit Nachweisen über den Gebrauch von inscriptio in den Konstitutionen des CTh). Nur einmal wurde die subscriptio noch erwähnt (CTh. 9, 1, 5), bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einer Reminiszenz an vergangene Zeiten. Der CJ spricht ebenfalls nicht gegen diese

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Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass die Anklage im Rahmen einer subscriptio generell schriftlich war. Hinzu kommen praktische Argumente. Da das Verfahren vor den Provinzstatthaltern mittlerweile bei allen Straftaten, seien sie durch leges publicae oder außerordentlich sanktioniert, in der cognitio extra ordinem verlief379, bestand kein Grund mehr, beim Erfordernis einer schriftlichen Anklage nach den verschiedenen Verbrechensarten Entwicklung, da hier offensichtlich die ursprünglich in den Konstitutionen enthaltene inscriptio von den Kompilatoren durch subscriptio ersetzt worden ist, vgl. nur CTh. 9, 1, 14 (vinculo inscriptionis) mit der Parallelstelle CJ 9, 2, 13 (vinculo subscriptionis). Anders wieder Zanon, Le strutture, S. 59 Fn. 27, die inscribtio im Sinne von libellus inscriptionis verstehen will, ohne hierfür aber eine stichhaltige Begründung zu liefern. Die inscriptio sollte also nun primär die Verantwortung des Anklägers für seine Anklage sichern, ihn also eventuellen Anklägerstrafen unterwerfen können. Sie konnte nach der Konstitution Gratians bei Geltendmachung einer eigenen Verletzung des Anklägers entfallen, was sowohl in einigen klassischen Strafgesetzen als auch durch das Reskript des Antoninus festgelegt worden sei. Die genaue Regelung in den Gesetzen und im Reskript bleibt aber unklar und ebenso, wie stark die Inhalte von den Verfassern der Konstitution eigenen Zwecken angepasst worden waren. Man könnte beispielsweise die Möglichkeit des Anklägers, sine inscriptione handeln zu dürfen, mit den Maßnahmen in Verbindung bringen, die den eigentlich von der Anklage ausgeschlossenen Personen die Verfolgung eigener Verletzungen oder des Todes naher Verwandter gestattet hatten, vgl. nur D. 48, 2, 1 (Pomponius 1 ad Sab.); 48, 2, 2 (Papinian 1 de adult.), beide auf das Klagerecht der Frau bezogen; und allgemein Dig 48, 2, 11 pr. (Macer 2 de iud. publ.): Hi tamen omnes, si suam iniuriam exequantur mortemve propinquorum defendent, ab accusatione non excluduntur. Hier war dann eine subscriptio nicht nötig, wie aus CJ 9, 1, 12 pr. für das klassische Recht hervorging: De crimine quod publicorum fuerit iudiciorum mulieri accusare non permittitur nisi certis ex causis, id est si suam suorumque iniuriam persequatur, secundum antiquitus statuta tantum de quibus specialiter eis concessum est non exacta subscriptione (Diokletian nach Hermogenian 293 n. Chr.). Das Verfahren ohne subscriptio war aber nicht etwa ex officio durchzuführen, vgl. nur accusare in CJ 9, 1, 12 pr.; vielmehr war die Verantwortlichkeit des Anklägers nur gelockert, der sich als Betroffener in einer emotionalen Ausnahmesituation befand, weshalb von einer Verfolgung von Anklägervergehen abgesehen wurde. Vgl. in Bezug auf calumnia CJ 9, 46, 2 (Alex. Severus, 224 n. Chr.); 9, 46, 4 (Carus und Carinus, 283 n. Chr.), bezüglich des Abstehens von der Anklage D. 48, 16, 4 (Papinian, 15 resp.), bestätigt durch 48, 16, 1 § 10 (Marcian, l. s. ad SC Turp.). Die beiden letztgenannten Texte zeigen übrigens, dass das bei Gratian genannte Reskript nicht von Caracalla stammen kann, da dort eine andere Lösung vertreten wird. Weist man das Reskript Pius zu, ließe sich eine Entwicklung feststellen: Die Neuerung des Pius hätte darin bestanden, die Verhängung von Anklägerstrafen auch in Fällen der Verfolgung selbst erlittenen Unrechts sine subscriptione in das Ermessen des Richters zu stellen, was dann später wieder abgeschafft worden wäre. Nichts anderes als die Verbindung zwischen inscriptio und Anklägerstrafe war also in CTh 9, 19, 4 § 1 geregelt, von Schriftlichkeit oder Mündlichkeit der Anklage verlautet hier dagegen nichts, weshalb es auch nichts zur Frage beitragen kann, ob die subscriptio stets eine schriftliche Anklage voraussetzte oder nicht. 379 Zu dieser Erkenntnis, vor dem Hintergrund der in de officio proconsulis behandelten Materien, o. A. III.

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zu unterscheiden.380 Ferner gab es sowohl kapital zu bestrafende crimina extraordinaria381 als auch Straftaten des ordo ohne kapitale Bestrafung382, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt zu unterscheiden nicht gerechtfertigt war. Eine schriftliche Anklage brachte zudem für den Richter, in den Provinzen also für den Statthalter, und auch für den Angeklagten Klarheit über die Anschuldigungen und konnte diesem bei seiner Verteidigung helfen.383 ee) Zusammenfassend ist festzuhalten: Die subscriptio bezeichnete in klassischer Zeit den gesamten Anklageakt, der sich aus der Abfassung einer Klageschrift, der inscriptio durch den Magistrat in die tabulae publicae und dem eigentlichen subscribere, der Unterschrift des Anklägers unter das magistratische Protokoll, zusammensetzte. Die subscriptio war in den Provinzen bei den Verbrechen des ordo und ebenso auch den Verbrechen extra ordinem grundsätzlich384 vorgeschrieben und diente dazu, dass der Ankläger die Verantwortung für die Klage übernahm, d.h. insbesondere den Anklägerstrafen wegen wissentlich falscher Anklage (calumnia) und Abstehens von der Anklage (tergiversatio) unterworfen werden konnte.

2. D. 48, 2, 7 § 2: Rechtskraft strafgerichtlicher Urteile 2 Isdem criminibus, quibus quis liberatus est, non debet praeses pati eundem accusari, et ita divus Pius Salvio Valenti rescripsit; sed hoc, utrum ab eodem an nec ab alio accusari possit, videndum est. et putem, quoniam res inter alios iudicatae alii non praeiudicant, si is, qui nunc accusator exstitit, suum dolorem persequatur doceatque ignorasse se accusationem ab alio institutam, magna ex causa admitti eum ad accusationem debere. 380 Diese Argumentation nimmt auch Mer, L’accusation, S. 134 auf, lehnt sie dann aber ungerechtfertigterweise unter Bezugnahme auf den zwingenden Charakter von praecipitur in D. 48, 2, 3 pr. ab. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Gegenargument. Wenn man praecipitur die Bedeutung von „verpflichtend vorschreiben“ gibt, wie Mer das tut, so bedeutet das nur, dass auch bei außerordentlichen Verbrechen die schriftliche Anklage verpflichtend war und nicht nur empfohlen wurde. Das wirkt sich aber nicht negativ auf die dargestellte Argumentation aus, sondern unterstützt diese vielmehr noch: Denn wenn die schriftliche Anklage für die iudicia publica schon immer verpflichtend war, so wird sie dies nun auch für die außerordentlichen Verbrechen. 381 Beispielsweise Abigeat (vgl. u. V. 5. b)) und Skopelismus (vgl. u. VII. 2.). 382 Z. B. nach der Lex Iulia de annona und Lex Fabia. Vgl. u. VI. 2. a) u. b). 383 Vgl. wiederum die Verteidigungsrede des Apuleius, in der er die in der Anklageschrift gemachten Vorwürfe (Apol. 103, 2) einzeln zurückweist. 384 Zur Ausnahme von der subscriptio in Einzelfällen bei Verfolgung selbst erlittenen Unrechts s. Fn. 378.

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In § 2 gibt Ulpian gleich zu Beginn die Regel wieder, dass der Provinzstatthalter gegen einen Freigesprochenen keine nochmalige Anklage in der selben Sache zulassen dürfe. Diese sei auch durch ein Reskript des Antoninus Pius an Salvius Valens bestätigt worden.385 Pius knüpfte also an den in der Lex Iulia iudiciorum publicorum für die stadtrömischen Quästionen festgelegten Grundsatz der Rechtskraft des freisprechenden Urteils an386, wie ihn Macer in D. 47, 15, 3 § 1 (1 de iud. publ.) wiedergegeben hat: Nam si reus accusatori publico iudicio ideo praescribat, quod dicat se eodem crimine ab alio accusatum et absolutum, cavetur lege Iulia publicorum, ut non prius accusetur, quam de prioris accusatoris praevaricatione constiterit et pronuntiatum fuerit.

Und er übertrug ihn auf die cognitio extra ordinem des Provinzstatthalters in Bezug auf alle anzuklagenden Verbrechen.387 Dem Freigesprochenen stand also gegen eine nochmalige Anklage in derselben Sache eine prozesshindernde Einrede zu.388 Anders als in der Lex Iulia iudiciorum wurde im Reskript des Pius der Umfang der Rechtskraft aber nicht bestimmt. a) Rechtskraft von Strafurteilen nach Ulpian Während bei Macer die Rechtskraft gegenüber jedem Dritten (inter omnes) wirken sollte, solange der erste Ankläger keiner praevaricatio schuldig war389, ist die Rechtskraftwirkung im Reskript nicht benannt. Das 385

Über Salvius Valens selbst wissen wir so gut wie nichts. Aus dem Reskript ist nur zu schließen, dass er unter Antoninus Pius Statthalter einer Provinz gewesen sein muss, vgl. PIR III S, S. 170, Nr. 116. Ein Salvius Valens begegnet als Konsiliar von Antoninus Pius in HA Vita Pii, 12, 1. Mommsen, Über Julians Digesten, S. 13 Fn. 21 vermutet allerdings, dass hier bei Aufreihung der wichtigsten Berater des Pius ein Versehen vorliege und statt Salvio eher Fulvio Valente zu lesen sei. Peter, Scriptores Historiae Augustae, 1865, z. d. St. dagegen habe Salvio Iuliano, Fulvio Valente als richtige Lesart vermutet, was jedoch nicht stimmt, s. S. 40, Z. 28. Der Peter von Mommsen unterstellten Meinung folgen Pflaum, La valeur, S. 148; Syme, The jurists, S. 201 und Ders., A lost legate, S. 181; S. 185 (die aber alle diese Ergänzung richtigerweise Mommsen selbst zuschreiben), aus dem einleuchtenden Grund, dass unter den Rechtsberatern von Antoninus Pius Julian schwerlich gefehlt hat, ebenso wenig wie Aburnius Valens (vgl. Dess. 1051 = CIL VI, 1421), immerhin Nachfolger von Javolen als Haupt der Sabinianischen Rechtsschule (s. D. 1, 2, 2 § 53, Pomponius l. s. ench.). Mit guter Begründung will Syme, A lost legate, S. 181 ff. Salvius Valens mit dem in D. 48, 3, 12 (Callistrat, 5 de cogn.) genannten Salvius, Legat von Aquitania unter Hadrian, identifizieren (erwähnt auch in PIR III S, S. 164, Nr. 94, dort aber mit Salvius Iulianus gleichgesetzt). 386 Bei Verurteilung stellt sich die Frage einer nochmaligen Anklage selbstredend nicht. 387 So auch Liebs, Die Herkunft der „Regel“, S. 129. 388 Vgl. zum Ganzen auch Wlassak, Anklage, S. 32 f. 389 Zur praevaricatio s. u. VI. 1. a).

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führt Ulpian zu der Frage, ob sich der Schutz des Freigesprochenen vor einer neuen Anklage im Strafprozess extra ordinem nur darauf bezog, dass nur der frühere Ankläger nicht noch einmal anklagen (Rechtskraft inter partes), oder ob auch kein Dritter wegen derselben Sache gegen den Freigesprochenen vorgehen konnte (Rechtskraft inter omnes). Es handelte sich beim Problem des Umfangs der Rechtskraft in der cognitio extra ordinem in Strafsachen also, wie die eigene Lösung des Juristen zeigt, um eine noch zur Zeit Ulpians unentschiedene Streitfrage.390 Der Vergleich mit der Regelung in der Lex Iulia iudiciorum publicorum offenbart darüber hinaus, dass Verfahrensregeln der quaestiones nicht unbesehen auf das Verfahren extra ordinem übertragen wurden. Ulpian wählte bei der Entscheidung der Frage einen Mittelweg: Zunächst betonte er, dass Rechtssachen, die zwischen Dritten entschieden worden waren, andere grundsätzlich nicht banden, und kam anschließend zum Ergebnis, derjenige Ankläger müsse magna ex causa zur Anklage gegen den Freigesprochenen zugelassen werden, der suum dolorem verfolgte und von der früher erhobenen Anklage nichts gewusst hatte. Auf den ersten Blick ist der Text widersprüchlich: Zunächst scheint Ulpian jeden Dritten (also Rechtskraft nur inter partes), dann aber doch nur Dritte in qualifizierter Stellung zu erneuter Anklage zuzulassen (also Rechtskraft inter omnes mit Einschränkungen).391 Das ist aber nur scheinbar unvereinbar. Der Satz quoniam res inter alios iudicatae alii non praeiudicant kommt in klassischen Rechtstexten und auch Konstitutionen häufig vor, allerdings immer in Zusammenhang mit Zivilprozessen.392 Auch Ulpian führte im 13. Buch zum Edikt den Grundsatz fast wortgleich an.393 Er zog die Regel des Zivilprozessrechts also nur zur argumentativen Unterstützung für seine eigene Ansicht heran. Eine weiter reichende Wirkung der Rechts390 Deshalb unrichtig Mommsen, Strafrecht, S. 450 u. Fn. 3, der von Rechtskraft des freisprechenden Urteils auch gegenüber Dritten ausgeht, dann aber wegen D. 48, 2, 7 § 2 doch eine Ausnahme von diesem Grundsatz anerkennen muss (S. 480 Fn. 1). Er sieht nicht, dass es sich dabei um eine Meinung Ulpians nach Anführung einer Streitfrage handelte. Nicht überzeugend auch Marotta, Multa, S. 278, der in das Reskript von Antoninus Pius zu unkritisch die Festlegung der Rechtskraft inter omnes hineinlegt. 391 Dieser (scheinbare) Widerspruch führt Siber, Präjudizialität, S. 35 Fn. 60 (ihm folgend Marrone, L’efficacia, S. 432) dazu, den Text von et putem bis praeiudicant für interpoliert zu halten. Wie gezeigt werden wird, besteht kein Widerspruch zwischen den beiden Aussagen. 392 Vgl. nur D. 33, 2, 31 (Labeo); 44, 1, 10 (Modestin); 42, 1, 63 (Macer); 12, 2, 10; 20, 4, 16; 3, 2, 21 (alle von Paulus); CJ 7, 56, 2 (Gordian); 7, 56, 3 u. 4 (Diokletian). 393 D. 44, 2, 1: Cum res inter alios iudicatae nullum aliis praeiudicium faciant, (. . .).

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kraft im Strafprozess im Sinne einer Rechtskraft inter omnes widerspreche der im Zivilprozess entwickelten Lösung und sei trotz der Unterschiede zwischen den beiden Prozessarten nicht gerechtfertigt. Auf der anderen Seite galt das Prinzip, dass die unter den Parteien eines Rechtsstreits entschiedene Sache nicht auch gegen Dritte wirke, auch im Zivilprozess nicht ausnahmslos.394 Es handelte sich um keinen zwingenden Rechtssatz, sondern um eine bloße regula395, die lediglich einen Anhaltspunkt für eine Beurteilung bot. Im Ergebnis lag also in der Lösung Ulpians kein Widerspruch. Die Anführung des zivilprozessualen Grundsatzes der Rechtskraft inter partes diente Ulpian nur dazu, die Durchbrechung der Rechtskraft inter omnes in bestimmten Fällen zu rechtfertigen. Dadurch hat er die starre Regelung der Lex Iulia iudiciorum publicorum flexibler und dem Einzelfall angemessener gestaltet, auch wenn das nicht im Sinne des Pius gewesen sein mag.396 b) Weitere Ansichten zur Rechtskraft Auch Quintilian ging im 7. Buch seiner Institutionis Oratoriae auf das Problem der Rechtskraft inter partes oder inter omnes ein. Bei der Behandlung von scriptum et voluntas (Titel 6) führte er als drittes Beispiel für unklaren Wortlaut und unklare Absicht im Recht an (§ 4): Solet et illud quaeri, quo referatur quod scriptum est: „bis de eadem re ne sit actio“: id est, hoc „bis“ ad actorem an actionem?

Wie Liebs397 nachgewiesen hat, bezog sich Quintilian an dieser Stelle auf den Strafprozess der cognitio extra ordinem. Die Rechtsfrage, die Quin394

So besonders klar Macer, D. 42, 1, 63 (2 de apellationibus). Vgl. Wieling, Subjektive Reichweite, S. 291 ff., dort noch mit weiteren Fällen der Rechtskrafterstreckung auf Dritte. Auch Kaser/Hackl, Röm. Zivilprozessrecht, S. 378 ff. (für das Formularverfahren); S. 499 ff. (für das Kognitionsverfahren), jeweils m. w. N. 396 Liebs, Die Herkunft der „Regel“, S. 127 ff. geht davon aus, dass Pius eigentlich Prinzipien des iudicium publicum im Verfahren der quaestiones, die außer in D. 47, 15, 3 § 1 (Macer, s. o.) auch in D. 43, 29, 3 § 13 (Ulpian 71 ad ed.: Nam nec in publicis iudiciis permittitur amplius agi quam semel praeterquam (so Mommsen, statt actum est quam) si praevaricationis fuerit damnatus prior accusator) verortet seien, auf die cognitio extra ordinem übertragen wollte. Im Reskript Diokletians an Crispinus (CJ 9, 2, 11, vom 25. März 292 n. Chr.), den Statthalter von Phoenicia (vgl. CJ. 1, 23, 3, zu ihm PIR II2 C, S. XXII, Nr. 1587a), wurde schließlich explizit die Regel der Lex Iulia iudiciorum auf die cognitio extra ordinem transponiert und Ulpians Lösung in D. 48, 2, 7 § 2 aufgegeben. Dagegen scheint sich der Sentenzenverfasser in PS 1, 6B, 1 und 2 (verfasst um 295 n. Chr., vgl. Liebs, HLL 5 (1989) § 507. 1, S. 66 m. w. N.) wieder an den Vorschlag Ulpians anzulehnen, wenn auch stark vereinfacht im Sinne einer Rechtskraft bloß inter partes außer beim Sohn des Anklägers. Das belegt die Verbreitung und Überzeugungskraft der Meinung Ulpians. 395

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tilian aufgeworfen hatte, war genau dieselbe, die auch Ulpian stellte, das Problem der Rechtskraft freisprechender strafgerichtlicher Urteile in der cognitio extra ordinem war also schon Ende des 1. Jh. n. Chr.398 umstritten und hatte bis zur Zeit Ulpians noch keine allgemein anerkannte Lösung gefunden. Eine interessante Parallele zu der von Ulpian hier vertretenen Lösung findet sich schließlich in D. 48, 5, 4 § 2 aus dem 8. Buch seiner disputationes 399, wo der Jurist für den Fall einer Anklage des betrogenen Ehemannes wegen adulterium die in D. 48, 2, 7 § 2 entwickelten Maßstäbe auf eine konkrete Straftat anwendete: Et si accusatione instituta absoluta sit mulier extraneo accusante, tamen marito debet permitti restaurare accusationem, si idoneas causas allegare possit, quibus impeditus non instituit accusationem.

Wenn man annimmt, dass Ulpian sich seine Meinung zu diesem konkreten Fall bereits vor den Ausführungen in de officio proconsulis gebildet hatte, dann zeigt der Vergleich beider Passagen vorzüglich, wie Ulpian aus einer in einem konkreten Fall gefundenen Lösung die beiden entscheidenden Voraussetzungen für die Zulassung des Ehemannes zur neuerlichen Anklage seiner bereits freigesprochenen Gattin wegen adulterium herausgearbeitet und auf alle Fälle einer nochmaligen Anklage nach Freispruch übertragen hat: die eigene Verletzung des Zweitklägers (suus dolor), die beim Ehemann der Ehebrecherin angenommen wurde400, und seine Unkenntnis vom ersten Prozess.401 Ulpian hätte also auf dieser Grundlage das Recht fortgebildet. 397

Die Herkunft der „Regel“, S. 124 ff. Zu dieser Zeit schrieb Quintilian sein Hauptwerk nieder, vgl. von Albrecht, Geschichte II, S. 995. 399 Das Werk entstand wohl 214 n. Chr., also nach de officio proconsulis, und enthielt Erörterungen konkreter Rechtsfragen auch aus eigener Lehr- und Beratertätigkeit, vgl. Honoré, Ulpian, S. 181 ff.; Liebs, HLL 4 (1997) § 424, S. 185. 400 Vgl. dazu D. 48, 5, 2 § 8 (Ulpian 8 disp.), wo der Vorzug des Ehemanns bei der Anklage gegenüber dem Vater mit den Worten begründet wird: Nam et propensiore ira et maiore dolore executurum eum accusationem credendum est. 401 Im Ehebruchsprozess galt die Besonderheit, dass 60 Tage nach der Tat nur der Ehemann und der Vater der Ehebrecherin anklagen konnten und Dritte erst nach Ablauf dieser Frist (D. 48, 5, 4 § 1, Ulpian 8 disp.). Deswegen musste der Ehemann hier darlegen, warum er die 60-Tages-Frist nicht wahrgenommen hatte, und nachweisen, wie sich bereits aus dem ersten Satz von D. 48, 5, 4 § 2 ergibt, dass er die Klage nicht fahrlässig (negligentia) versäumt hat. Da bei anderen Verbrechen solche Vorzugsfristen nicht galten, stellte Ulpian für das Vorliegen von negligentia konkret darauf ab, ob der zweite Ankläger von der ersten Klage wusste oder nicht. Das entband den Richter dann davon, feststellen zu müssen, welche sonstigen Verhinderungsgründe zur Zulassung der Anklage hätten führen können. 398

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3. Legitimation zur Anklage a) D. 48, 2, 7 § 3: Gründe für den Ausschluss des Anklägers Si tamen alio crimine postuletur ab eodem, qui in alio crimine eum calumniatus est, puto non facile admittendum eum, qui semel calumniatus sit; quamvis filium accusatoris admitti oportere aliam accusationem instituentem adversus eum, quem pater accusaverat, divus Pius Iulio Candido rescripsit.

Ulpian kam hier auf die Legitimation des Anklägers zu sprechen: Wer ein Verbrechen anzeigen und den Beschuldigten vor dem Provinzstatthalter anklagen wollte402, denselben Beschuldigten aber bereits in einem früheren Prozess einer anderen Straftat wissentlich falsch angeklagt hatte und wegen calumnia rechtskräftig verurteilt worden war403, der sollte nach Ulpians Ansicht „nicht ohne Weiteres“ zu einer neuerlichen Anklage zugelassen werden.404 aa) Anklageverbot wegen calumnia Ulpians Gründe liegen auf der Hand. Wer schon einmal wissentlich falsch angeklagt worden ist, sollte von demselben nicht noch einmal angeklagt werden können, weil der Verdacht nahe lag, dass dieser nur aufgrund feindlicher Gesinnung gegen den Beschuldigten vorgeht. Bei den iudicia publica war, wer einmal wegen calumnia verurteilt worden war, zu keiner weiteren Anklage zugelassen.405 Diesen Grundsatz übertrug nun Ulpian auf die cognitio extra ordinem in den Provinzen, allerdings mit Vorbehalt. Er 402 Die postulatio bezeichnete in republikanischer Zeit die Bitte des Klägers an den Magistrat, die delatio durchführen zu dürfen, wobei dann erst nach etwaiger divinatio zwischen verschiedenen Anklägern die eigentliche delatio nominis folgte. Bei den klassischen Juristen bezeichnete sie unterschiedslos den gesamten Anzeigevorgang, d.h. den Antrag an den Magistrat, den Beschuldigten anzuklagen, und wurde synonym mit delatio gebraucht, vgl. dazu Leifer, Art. postulatio, S. 882 ff.; Wlassak, Anklage, S. 8 Fn. 6; Bianchini, Le formalità, S. 70. 403 Nichts anderes kann calumniatus est hier bedeuten, vgl. nur Mommsen, Strafrecht, S. 494. 404 Die Anklage wurde in der Kaiserzeit durch magistratische inscriptio in die tabulae publicae verbindlich, und dann übernahm der Kläger durch subscriptio die Verantwortung für die Klage. Die inscriptio ersetzte die einstige nominis receptio. Vgl. Bianchini, Le formalità, S. 101 f., die deshalb entgegen Marotta, Multa, S. 275, nach erfolgter subscriptio des Anklägers eine receptio nominis ablehnt. 405 Vgl. nur D. 48, 2, 4 (Ulpian, 2 de adult.): (. . .) sed et calumnia notatis ius accusandi ademptum est, item his, (. . .) quive praevaricationis calumniaeve causa quid fecisse iudicio publico pronuntiatus erit; Levy, Anklägervergehen, S. 384, schließt aus dem Stil dieses Textes und weiteren Ausschließungsgründen in der Lex Iulia de adulteriis (D. 48, 5, 16 § 6) auf eine positive Norm, die in der Lex Iulia

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konnte auf den Einzelfall abstellen, weil die Regeln der iudicia publica nicht unbesehen auf das außerordentliche Verfahren vor den Statthaltern angewendet wurden. Hier hatte die Rechtswissenschaft Spielraum für gerechte und billige Lösungen. So konnte ein Kalumniant beispielsweise bei Verfolgung von selbst erlittenem Unrecht doch zugelassen werden406, aber nicht ohne Weiteres, sondern nur nach Ermessen des Statthalters.407 bb) Das Reskript des Antoninus Pius an Candidus Nach Darlegung seiner grundsätzlichen Position führt Ulpian noch ein Reskript des Antoninus Pius an Iulius Candidus an.408 Wie der Anschluss mit quamvis ergibt, scheint er für möglich gehalten zu haben, dass das Reskript den zuvor genannten Grundsatz in Frage stellt. Dem Sohn des seinerzeitigen Anklägers wurde darin gestattet, denjenigen wegen einer anderen Straftat anzuklagen, den bereits der Vater angeklagt hatte. Der Vater muss in jenem ersten Verfahren wissentlich falsch angeklagt haben und wegen calumnia verurteilt worden sein. Diese Bestimmung von Antoninus Pius ermöglichte eine naheliegende Umgehung des Ausschlusses des Kalumnianten von der Anklage gegen den selben Beschuldigten. Der Kaiser reduzierte dadurch den Schutz des Angeklagten vor der schon einmal gezeigten feindlichen Gesinnung ihm gegenüber auf ein Minimum, da immer die Gefahr besteht, dass ein Vater seinen Sohn anstiftet. Nach Ulpian wird der Statthalter diese Gefahr bei seiner Ermessensentscheidung im konkreten Fall abzuschätzen gehabt haben. Das Reskript könnte sich hauptsächlich gegen Sippenhaft gewandt, vor allem die Unvererblichkeit von Strafen im Blick gehabt haben409, konkret die Frage, ob der Ausschluss des kalumniierten Vaters von einer neuerlichen Anklage auch den Sohn getroffen habe. Schon am Ende der Republik unter Caesar war nach den Proskriptionen Sullas, iudiciorum publicorum enthalten war, hält dann aber den ersten Teil (et calumnia notatis) ohne Begründung für ein offensichtliches Randglossem (Fn. 48). 406 Vor diesem Hintergrund sehen auch Kiefner, Abhandlung, S. 312 Fn. 15 und Marotta, Multa, S. 181 den Text, ohne aber daran zu denken, dass der Ausschluss von der Anklage in D. 48, 2, 4 (Ulpian 2 de adult.) nur die iudicia publica betrifft, d.h. in der cognitio extra ordinem auch andere Ausnahmen vom Anklageverbot möglich waren. 407 Bei den iudicia publica in den quaestiones war dies anders, vgl. nur D. 48, 2, 4 (Ulpian 2 de adult.) und 48, 2, 11 pr. (Macer 2 de iud. publ.), die die Ausnahmen starr festlegten. 408 Auch über Iulius Candidus ist nichts bekannt, auch nicht über die Funktion, in der er das Reskript empfing, vielleicht war er identisch mit dem in IG VII 70–74 erwähnten proconsul Achaiae der Jahre 135–137 n. Chr. und empfing das Reskript als späterer proconsul Africae oder Asiae oder als kaiserlicher Legat (vgl. dazu PIR2 I, S. 191 f., Nr. 233 u. 234; Thomasson, Laterculi I, S. 194, Nr. 33 m. w. N.). 409 Auch Marotta, Multa, S. 279 f., deutet das Reskript des Pius in dieser Weise.

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die Familienangehörige der Proskribierten einbezog, festgelegt worden, dass eine für öffentliche Verbrechen und private Delikte verhängte Strafe nur den Bestraften selbst, nicht auch dessen Familie trifft.410 Das wurde mit Gerechtigkeitserwägungen begründet: nihil est iniquius quam aliquem heredem paterni odii fieri.411

Pius hatte wohl nur an diesen alten rechtsstaatlichen Grundsatz eingeschärft412, den wenig später die divi fratres in ähnlichem Kontext in einem Reskript an die Hierapolitaner wiederholten:413 Crimen vel poena paterna nullam maculam filio infligere potest; namque unusquisque ex suo admisso sorti subicitur nec alieni criminis successor constituitur.

Ulpian wird diesen Kontext des Reskripts des Pius berücksichtigt haben. Deshalb brauchte, wenn im Einzelfall die Möglichkeit drohte, das Anklageverbot für Kalumnianten zu umgehen, das nicht hingenommen zu werden, da der Statthalter letztlich nach Ermessen entscheiden sollte. Er hatte Beeinflussungsgefahr und Verbot der Sippenhaft im Einzelfall gegeneinander abzuwägen. b) D. 48, 16, 14: Anklage des Tutors im Interesse seines Mündels Divus Hadrianus Salvio Caro proconsuli Cretae rescripsit tutorem, qui pupilli causa instituerat accusationem, defuncto pupillo, cuius causa accusare coeperat, non esse cogendum accusationem implere. 410 Vgl. Dionysios von Halicarnassus, ant. rom. 8, 80 mit der allgemeinen Aussage, dass Söhne von jeglicher Bestrafung der Verbrechen ihrer Väter verschont sein _ _ ýpixÿrion gÍgonen Òwò_ t hò sollten (ka˝ ýc ýkeûnou t˛ ñqoò touto ‘Romaûoiò _ _ kaq’êm aò diathroŸmenon êlikûaò, ÷fe isqai timwrûaò ÷pÜshò toˇò pa idaò ¼n ºn oÁ patÍreò ÷dikh·swsin); Cass. Dio 41, 18, 2; Sueton, Iulius 41, 2; Seneca, de ira II, 34, 3. 411 Seneca, de ira II, 34, 3, vielleicht eine Reaktion auf die Tötung und Verbannung von Kindern wegen Majestätsverletzung Verurteilter durch Nero, vgl. Sueton, Nero 36, 2. 412 Julian scheint zur Vererblichkeit der Strafe nach D. 5, 1, 16 (Ulpian 5 ad ed.) und § 11 der Fragmenta Argentoratensia, aus dem dritten Buch der Disputationen Ulpians (vgl. Seckel/Kübler, Iurisprudentiae antejustinianae I, 1908, S. 501) zur Haftung der Erben des iudex, qui litem suam fecit (allgemein dazu vgl. Kaser/ Hackl, Röm. Zivilprozessrecht, S. 196 f. u. Fn. 38 m. w. N.), wie Marotta, Multa, S. 281, meint, eine andere Ansicht vertreten zu haben. Das stimmt aber nicht. Julian hatte wohl die Klage gegen den iudex noch als nicht-pönal angesehen und deswegen für eine Vererblichkeit votiert; so sehr klar De Martino, Litem suam facere, S. 11 f.; Talamanca, Rez. Scarano Ussani, S. 867; Giménez-Candela, Los Llamados, S. 58 f. m. w. N. (vgl. auch Mayer-Maly, Rez. Giménez-Candela, S. 196); Hübner, Zur Haftung, S. 201 f. 413 Bei Callistratus, D. 48, 19, 26 (1 de cogn.).

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Ulpian zitiert hier ein Reskript Hadrians an den Prokonsul von Creta und Cyrene des Jahres 134 n. Chr., Salvius Carus.414 Darin gestattete er dem Tutor, der eine Anklage in Angelegenheiten seines Mündels415, aber im eigenen Namen erhoben und durch subscriptio die Verantwortung dafür übernommen hatte416, nach dem Tod des Mündels, die Klage nicht weiter zu verfolgen; d.h. bei Abstehen von der Klage machte er sich nicht nach dem SC Turpillianum strafbar. Das Reskript erging zum Komplex „Anklageberechtigung in Strafprozessen“, weshalb die Passage nach D. 48, 2, 7 § 3 einzuordnen ist.417 Unmündige waren bei iudicia publica im Verfahren der quaestiones grundsätzlich von Anklagen ausgeschlossen.418 Wahrscheinlich bestimmte das bereits die Lex Iulia iudiciorum publicorum, doch galt es, wie die selbstverständliche Erwähnung des Tutors im hadrianischen Reskript zeigt, der Anklage in Angelegenheiten seines Mündels erhoben hatte, ebenso im Verfahren der cognitio extra ordinem. Da in bestimmten Fällen die Interessen des Mündels auch in Strafprozessen gewahrt werden mussten, insbesondere in Vermögensangelegenheiten, in denen den Tutor zur Vermeidung der actio tutelae festumrissene Pflichten trafen419, musste er die Möglichkeit haben, seinerseits anzuklagen. Das Reskript setzt diese Anklagemöglichkeit in Sachen des Mündels voraus, mildert aber die Folgen eines Abstehens ab, wodurch es die Pflicht zur Anklage in gewisser Weise ausgleicht. Der Tutor musste ja auch selbst, durfte nicht lediglich im Namen des Mündels anklagen, d.h. er musste selbst die Verantwortung für calumnia oder tergiversatio übernehmen. Nur so konnten auch die Interessen des Beschuldigten gewahrt werden, vor einer willkürlichen Anklage bewahrt zu werden und den wahren Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können. Eben diese Verpflichtung zur Anklage im eigenen Namen, aber mit eingeschränkter Verantwortung, geht auch aus einem Reskript des Jahres 414 Vgl. zu ihm und der zeitlichen Einordnung Thomasson, Laterculi I, 38, Nr. 41, S. 365 m. w. N. 415 Mündel bezeichnet hier den Unmündigen, Geschlechtsunreifen, d.h. regelmäßig den jungen Mann, der jünger als 14 Jahre alt ist, vgl. dazu Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 84. 416 Dies wird im Reskript unterstellt. Vor der Übernahme der Verantwortung für die Klage durch subscriptio (vgl. o. 1. zu D. 48, 2, 7 pr.) konnte der Ankläger die Anklage ohne Weiteres fallen lassen, ohne dadurch einer Bestrafung wegen tergiversatio ausgesetzt zu sein; zur Bedeutung von accusatio im weiteren Sinne der vollständigen Klage und auch des gesamten Prozesses, vgl. Bianchini, Le formalità, S. 72 Fn. 17 (mit Hinweis auch auf D. 34, 4, 31 § 2, Scaevola 14 dig.). 417 So auch Lenel, Pal. II, col. 974. 418 Vgl. D. 48, 2, 8 (Macer, 2 de iud. publ.): Itaque prohibentur accusare alii propter sexum vel aetatem, ut mulier, ut pupillus. 419 Zu actio tutelae vgl. allgemein Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 365 f. m. w. N.

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205 n. Chr. von Septimius Severus und Caracalla hervor, das wahrscheinlich von Ulpian selbst entworfen wurde:420 CJ 9, 1, 2: Si cautiones, quibus Secundinus solutam Ingenuo pecuniam probare se dicit, tutores vel curatores tui suspectas ut falsas habent, proprio nomine, cum non liceat alieno, non prohibentur in crimine falsi subscribere. 1 Nec enim facile tutores vel curatores, qui officio et periculo suo res pupillorum vel adulescentium administrant, sententia notantur, nisi evidens eorum calumnia iudicanti apparebit.

Natürlich werden Tutoren und Kuratoren immer wieder versucht haben, trotzdem lediglich im Namen des Mündels oder des Minderjährigen anzuklagen, um sich vor den Anklägerstrafen zu schützen. Ein solches Vorgehen schlug beispielsweise auch der Ankläger des Apuleius im Prozess wegen Magie ein: Sicinius Aemilianus klagte im Namen seines zwar nicht mehr unmündigen, aber minderjährigen421 Neffen Sicinius Pudens.422 Apuleius verdächtigte daraufhin Aemilianus, die Anklage nur deswegen im Namen seines Neffen erhoben zu haben, um der Strafe wegen calumnia zu entgehen, was der Begründung im Reskript von Severus und Caracalla genau entsprach. Der Statthalter forderte Aemilianus denn auch zur Anklage im eigenen Namen auf; und dieser versprach es auch, tat es letztlich aber doch nicht.423 Dass der Statthalter das Verfahren trotzdem fortsetzte, zeigt, dass die Bestimmung, anklagen könne man nur im eigenen Namen, für die Provinzen noch nicht so klar formuliert war wie im Reskript aus dem Jahr 205 n. Chr., so dass Raum für eine Ermessensentscheidung des Richters war. Anklagen des Tutors oder Kurators im Namen des Mündels oder Minderjährigen wurden erst später und beschränkt auf Fälle der Testamentsfälschung zugelassen.424 Ulpian könnte mit seiner Anführung des hadrianischen Reskriptes im Rahmen der Legitimation zur Anklage versucht haben, im Interesse des Beschuldigten eine Anklage des Tutors im eigenen Namen vorzuschreiben, die nur in Ausnahmefällen, hier dem Tod des Mündels, zur Freiheit von einer der Anklägerstrafen, hier für tergiversatio, führte.425 420

So Honoré, Emperors, S. 81; S. 93. Pudens hatte bereits die Männertoga angelegt, vgl. Apol. 73, 6; 87, 7. 422 Apuleius, Apol. 2, 3: Postera die dat libellum nomine privigni mei Sicini Pudentis admodum pueri et adcribit se ei assistere. Aemilianus war, da Vater und Bruder des Pudens nicht mehr lebten, als Vatersbruder gradnächster Agnat i. S. von XII-Tafeln 5, 6 und damit sein gesetzlicher Vormund und vermutlich auch Pfleger, so auch Liebs, Apologie von Apuleius, S. 26. 423 Apuleius, Apol. 2, 4 f. 424 CJ 6, 35, 2 § 1 (Severus und Caracalla, 208 n. Chr.); D. 5, 2, 30 § 1 (Marcian 4 inst. mit Verweis auf das Reskript von Severus und Caracalla); D. 34, 9, 22 (Tryphonin 5 disp.). 425 Die Meinung Ulpians, der Tutor müsse im eigenen Namen anklagen, könnte auch aus D. 38, 2, 14 § 1 abgeleitet werden. Dort schreibt Ulpian im 45. Buch 421

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4. D. 48, 2, 7 §§ 4 u. 5: Gerichtsstand 4 Idem imperator rescripsit servos ibi puniendos, ubi deliquisse arguantur, dominumque eorum, si velit eos defendere, non posse revocare in provinciam suam, sed ibi oportere defendere, ubi deliquerint. 5 Cum sacrilegium admissum esset in aliqua provincia, deinde in alia minus crimen, divus Pius Pontio Proculo rescripsit, postquam cognoverit de crimine in sua provincia admisso, ut reum in eam provinciam remitteret, ubi sacrilegium admisit.

Zwei Reskripte von Antoninus Pius behandeln die örtliche Zuständigkeit der Statthalter in Strafprozessen der cognitio extra ordinem.426 Einmal seien Sklaven am Begehungsort der Straftat427 zu verurteilen, d.h. an dem Ort, wo sie die Tat verübt hätten. Der Herr, der seine Sklaven verteidigen wolle, müsse das eben dort tun. In seine Provinz holen, um sie vor seinem Statthalter zu verteidigen, könne er sie nicht.428 a) Forum domicilii, forum delicti und Gerichtsstand des Aufenthaltsorts Das Reskript behandelt Fragen der örtlichen Zuständigkeit für Strafprozesse. Ausgangspunkt ist die Frage, ob sich der Gerichtsstand nach dem Wohnsitz (domicilium)429 des Angeklagten (forum domicilii) oder nach dem Begehungsort (forum delicti) richtet.430 Anders als bei Zivilprozessen, bei ad ed. in Bezug auf die bonorum possessio: Si vero accusaverit minor, dicendum est hunc non excludi, sive ipse sive tutor eius sive curator accusaverit. Sowohl tutor als auch curator klagen hier selbst an, die eigene Anklage des minor daneben erklärt sich mit der Zulassung Minderjähriger bei Verfolgung von suus dolor schon durch Vespasian, vgl. D. 48, 2, 2 § 1 (Papinian, 1 de adult.); 48, 2, 11 pr. (Macer 2 de iud. publ.). 426 Auch das erste Reskript stammte wohl von Antoninus Pius. Die Kompilatoren, die nach D. 48, 2, 7 § 3 einiges gestrichen, jedenfalls D. 48, 16, 14 mit einem Hadrianreskript ausgelagert hatten, fanden zu Beginn von § 4 vermutlich wieder divus Pius vor, das sie durch idem imperator ersetzten, um einen Anschluss an § 3 herzustellen. So auch Marotta, Multa, S. 282. 427 Zur Bedeutung von delinquere als allgemeiner Begriff für „eine öffentliche Straftat begehen (die extra ordinem verfolgt wird)“ vgl. Volterra, Delinquere, S. 150 ff.; u. Longo, Delictum, S. 167. 428 Zur Verteidigung von Sklaven durch ihre Herren in Strafprozessen und der Verantwortlichkeit von Sklaven für ihre Verbrechen s. Buckland, Roman Law of Slavery, S. 91 f.; u. Robinson, Slaves, S. 216 f. 429 Zu ihm Leonhard, Art. Domicilium, S. 1299 ff. mit Quellennachweisen. 430 Einen Gerichtsstand der Abstammung oder Herkunft (forum originis) hat es, wie Nörr, Art. Origo, S. 467 f. u. Ders., Origo, S. 537 f. für das Zivilrecht festgestellt hat, auch im Strafrecht nicht gegeben. Dagegen Marotta, Multa, S. 284 f., der aber domicilium und origo synonym gebraucht. Der von ihm genannte Text von Philostratus, vit. soph. 2, 10, 588, kann auch anders verstanden werden. Philostratus

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denen der Gerichtsstand grundsätzlich am Wohnsitz des Beklagten begründet war431, hatte sich in Strafsachen vor der severischen Zeit das forum delicti als allgemeiner Gerichtsstand durchgesetzt, und zwar sowohl bei Straftaten des ordo wie auch bei denen extra ordinem. Deutlich wird das in einem Reskript von Septimius Severus mit Caracalla aus dem Jahr 196 n. Chr., CJ 3, 15, 1: Quaestiones eorum criminum, quae legibus aut extra ordinem coercentur, ubi commissa vel inchoata sunt vel ubi reperiuntur qui rei esse perhibentur criminis, perfici debere satis notum est.432

Aus ubi reperiuntur qui rei esse perhibentur criminis geht hervor, dass es neben dem forum delicti auch noch einen anderen, grundsätzlich gleichberechtigten433 Gerichtsstand, nämlich den des Aufenthaltsortes des Täters gab: am Gericht des Ortes, wo der einer Straftat Verdächtige aufgegriffen worden war. Satis notum est im severischen Reskript zeigt, dass sich dieser Gerichtsstand schon vorher durchgesetzt hatte. Das forum delicti nahm dabei wohl den Vorrang ein; wenn der Statthalter des Begehungsorts aber z. B. gar nicht um Auslieferung nachsuchte, kam der Gerichtsstand des Aufenthaltsorts zur Geltung. Der Gerichtsstand des Begehungs- und eventuell führt zwar zur Begründung des Gerichtsstands an, dass der angeklagte Sophist _ _ _ ½ fulh· te ên ažt`w ka˝ d hmoò’ Hadrian auch athenischer Bürger war: ýpeidh _ Aqh·n´hsin (zu d hmoò und fulh·, die den Status als athenischer Bürger definierten, vgl. Rhodes, Art. Demos, S. 464). Philostratus war aber kein Jurist, wie man beispielsweise an der Bezeichnung des proconsul Achaiae als Statthalter Griechenlands erkennen kann; und Hadrian besaß in Athen nicht nur Bürgerrecht, sondern auch ein domicilium. Der Gerichtsstand könnte sich also auch nach dem Wohnort gerichtet haben. 431 Vgl. dazu Kaser/Hackl, Röm. Zivilprozessrecht, S. 246 f. Für Klagen aus Delikt nehmen sie (S. 247 Fn. 46) aber das forum delicti an und berufen sich dabei vor allem auf D. 9, 4, 43 (Pomponius, 8 ep.). Pomponius schreibt dort im Zusammenhang mit den Noxalklagen: Servi, quorum noxa caput sequitur, ibi defendendi sunt, ubi deliquisse arguentur: itaque servos dominus eodem loco exhibere debet, ubi vim intulisse dicentur et carere omnium dominio potest, si eos non defendat. Die Übereinstimmung des Inhalts und insbesondere von ubi deliquisse arguentur mit dem Reskript von Antoninus Pius in D. 48, 2, 7 § 4 ist auffällig. Pomponius könnte das im Bereich der zivilrechtlichen Delikte nicht übliche forum delicti auf die Noxalklagen in Kenntnis des Reskripts übertragen haben; Buch 8 der epistulae wurde wohl nach dem Tod von Antoninus Pius verfasst, vgl. D. 50, 12, 14 aus dem 6. Buch, wo es am Ende heißt: et haec divus Antoninus constituit. Der von Pomponius angesprochene Fall war daher wohl singulär und nur aufgrund der Vergleichbarkeit der Fälle ähnlich entschieden worden, bei anderen zivilen Delikten war dagegen das forum delicti wohl nicht bekannt. 432 Vgl. noch D. 48, 2, 22 (Papinian, 16 resp.): Alterius provinciae reus apud eos accusatur et damnatur, apud quos crimen contractum ostenditur; D. 48, 3, 7 (Macer, 2 de off. praes.); und D. 1, 18, 3 (Paulus, 13 ad Sab.; s. u. b)). 433 Vgl. D. 48, 3, 7, Macer, 2 de off. praes.

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des Aufenthaltsorts hat sich durchgesetzt, um Straftäter möglichst schnell und wirkungsvoll bekämpfen zu können.434 Rechtsfrieden konnte nachhaltiger und schneller wiederhergestellt werden, wenn die Tat an dem Ort, an dem die Störung stattgefunden hatte, gesühnt wurde; dann sah die Bevölkerung, wie der Tat die Bestrafung des Täters folgte, und konnte einigermaßen sicher sein, dass Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung umgehend abgestellt wurden. Für die Statthalter einer Provinz war es leichter und effektiver, Straftäter vor Ort zu bestrafen, ohne zuerst den Wohnsitz des Beklagten herausfinden zu müssen und in einem langwierigen und teuren Verfahren Täter und Ankläger in die Provinz des domicilium zu schicken.435 b) Entwicklung der Gerichtsstände im Strafprozess Wann sich das forum delicti im Strafprozess der Provinzen durchgesetzt hat, ist offen. Dass im Strafrecht überhaupt einmal, wie im Zivilrecht, das forum domicilii galt, geht vielleicht aus dem Sachverhalt von D. 48, 2, 7 § 4 hervor. Der Herr wollte seinen Sklaven in seine Provinz, also die seines domicilium, zurückholen, und der Jurist beruft sich auf Antoninus Pius, um das zurückzuweisen. Vielleicht lässt sich auch D. 1, 18, 3 (Paulus 13 ad Sab.) eine Andeutung in diesem Sinne entnehmen: Habet interdum imperium et adversus extraneos homines si quid manu commiserint; nam et in mandatis principum est, ut curet is, qui provinciae praeest, malis hominibus provinciam purgare, nec distinguuntur unde sint.

Das imperium des Statthalters war an sich auf die in der Provinz lebenden Menschen beschränkt, Provinzfremde waren einst nicht erfasst; aus kaiserlichen Mandaten ergab sich aber wegen der Aufgabe des Statthalters, für die Sicherheit und Ordnung in der Provinz zu sorgen, etwas anderes. Auch im Mordprozess gegen den in Athen wirkenden Sophisten Hadrian, der zwischen 176, dem Tod seines Lehrers Herodes, und 192 n. Chr., seinem eigenen Tod, stattfand436, argumentiert der Nichtjurist Philostratus437, als sei der Prokonsul von Griechenland zuständig, weil Hadrian Athener sei, also vom Wohnort aus.438 Das deutet auf eine Verankerung des forum domicilii im Bewusstsein der Bevölkerung hin. 434

Dazu D. 1, 18, 3, Paulus 13 ad Sab. (s. u. b); und allgemein D. 1, 18, 13 pr. (7 de off. proc., s. o. I. 1. a)). 435 Dazu auch Hüttl, Antoninus Pius I, S. 116. 436 Zu Hadrian Schmid, Art. Hadrianos 1), S. 2176 f. 437 Vit. soph. 2, 10, 587 f. Tatsächlich war auch der Tatort Athen. 438 s. o. Fn. 430.

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Genaueres ergibt vielleicht ein Text aus dem 37. Buch der Digesten von Celsus (D. 48, 3, 11): Non est dubium, quin, cuiuscumque est provinciae homo, qui ex custodia producitur, cognoscere debeat is, qui ei provinciae praeest, in qua provincia agitur. 1 Illud a quibusdam observari solet, ut, cum cognovit et constituit, remittat illum cum elogio ad eum, qui provinciae praeest, unde is homo est; quod ex causa faciendum est.

Manche interpretieren den Text so, dass in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr., als Celsus sein Werk schrieb439, im Strafrecht der Provinzen das forum domicilii galt. Das soll sich aus in qua provincia agitur ergeben, zu übersetzen mit „wo der Mensch tätig ist“, d.h. wo er sein domicilium habe.440 Dabei übergehen sie jedoch die Passivform agitur. In qua provincia agitur ist einfacher mit „in welcher Provinz die Sache verhandelt wird“ wiederzugeben. Außerdem ist jene Interpretation mit § 1 unvereinbar. Hier wird der Täter ex causa in die Provinz zurückgeschickt, unde is homo est. Das kann nicht etwa im Sinne eines forum originis verstanden werden, während es im pr. um das forum domicilii ging. Ein forum originis hat es wohl nie gegeben, abgesehen davon, dass origo und domicilium zur Zeit Hadrians von der Rechtswissenschaft wohl noch nicht streng unterschieden wurden. Mit unde is homo est in § 1 war vielmehr das aus dem Zivilprozess bekannte domicilium gemeint. D. 48, 3, 11 besagte nur, dass in der Provinz, wo die Festnahme erfolgt sei, auch der Prozess stattfinde. Nach Celsus sollte der Beschuldigte nur aus besonderen Gründen dem Statthalter seines Wohnorts überstellt werden, wie es bisher von manchen Provinzstatthaltern praktiziert worden sei. Celsus bestimmte den Gerichtsstand also ebenso wie Septimius Severus in CJ 3, 15, 1, wo neben dem forum delicti auch der Gerichtsstand des Aufenthaltsortes in Betracht kam.441 Belege für die Anwendung des forum delicti in Strafprozessen der Provinzen reichen weiter zurück. In den Prozessen gegen Paulus vor dem Statthalter Achaias, Gallio442, und den Prokuratoren Judäas, Felix und Festus443, spielte das domicilium des Paulus, Tarsus in der Provinz Cilicia444, für die Statthalter keine Rolle. Sie verhandelten gegen Paulus, obwohl seine Herkunft aus einer anderen Provinz bekannt war.445 Vor Celsus gab es daher 439

Zum jüngeren Celsus Kunkel, Herkunft, S. 146 f.; zum Werk Liebs, Röm. Recht, S. 56. 440 So Sherwin-White, Roman society, S. 29; ihm folgend Marotta, Multa, S. 283 f. 441 So auch Talamanca, L’eristica, S. 630 ff. 442 Zwischen 51 und 53 n. Chr., s. o. I. 4. a). 443 Um 58 n. Chr., s. o. I. 4. a). 444 In der heutigen Südtürkei am Mittelmeer gelegen. 445 Vgl. Apg. 18, 12–16 (Gallio); 23, 34 (Frage nach der Herkunft); 23, 35–34, 22 (Felix); 25, 6–12 (Festus); das gegen Talamanca, L’eristica, S. 633, der meint, es

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wohl schon einen verbreiteten Brauch zur örtlichen Zuständigkeit der Gerichte, nämlich Verbrechen vor dem Gericht des Tatorts abzuurteilen. Celsus sprach sich dann ausdrücklich gegen das forum domicilii im Strafprozess aus, das er allerdings noch aus besonderen Gründen zuließ. Das Reskript von Antoninus Pius in D. 48, 2, 7 § 4 hat diese Ansicht auch für die Sklaventat in der Fremde, fern vom Sitz seines Herrn, in kaiserliche Rechtssetzung übernommen; Ende des 2. Jh. n. Chr. stand das forum delicti und unter besonderen Umständen der Gerichtsstand des Aufenthaltsorts für Freie außer Frage.446 c) Mehrere fora delicti Auch das Reskript von Antoninus Pius in D. 48, 2, 7 § 5, gerichtet an Pontius Proculus447, geht vom forum delicti als allgemeinem Gerichtsstand im provinzialen Strafprozess aus. Es geht nur noch um den Fall mehrerer fora delicti. Jemand hatte in mehreren Provinzen verschieden schwere Verbrechen begangen, in der Provinz des Pontius Proculus das weniger schwere, in einer anderen ein sacrilegium.448 Pius entschied, dass zunächst Pontius Proculus über die Verbrechen, die in seiner Provinz begangen worden waren, cognoscere, also richten solle, offenbar ein vollständiges Verfahren mit abschließendem Urteil durchführen. Dann solle der Beschuldigte in die Provinz überstellt werden, in der das sacrilegium verübt worden war. Gewiss musste das Urteil aus dem ersten Prozess beigefügt werden, um im Folgeprozess in der dortigen Entscheidung berücksichtigt werden zu können. Gewiss war unter Pius die Regelung des Gerichtsstands, wie gesehen, noch nicht so ausgefeilt wie später; das Reskript betraf auch nur einen Einzelfall. Doch passt es zur entschiedenen Bevorzugung des forum delicti am Ende des 2. Jh. n. Chr. Bei mehreren in Betracht kommenden fora delicti 449 sollte der Statthalter letztzuständig sein, in dessen Provinz das schwerste Verbrechen begangen worden war. Ulpian verallgemeinerte das Reskript, das ursprünglich nur einen Einzelfall gelöst hatte450, und trug so zu einer weiteren Systematisierung des Strafverfahrensrechts bei. gebe für das forum commissi delicti in der Zeit von Augustus bis zu den Flaviern keine Hinweise. 446 Im Prozess gegen Hadrian und im Reskript des Pius in D. 48, 2, 7 § 4 hatte sich diese einheitliche Handhabung noch nicht herausgebildet. Das zeigt auch der direkte Vergleich zwischen D. 48, 3, 11 (Celsus) und 1, 18, 3 (Paulus). Paulus sieht nicht einmal mehr aus besonderen Gründen vor, den Täter an sein domicilium zu überstellen (nec distinguuntur unde sint). 447 Pontius Proculus ist sonst unbekannt, vgl. PIR2 VI P, Nr. 817, S. 350. 448 Bei sacrilegium handelte es sich um das schwerste Verbrechen, s. u. III. 2. a). 449 Darauf war weder Septimius Severus mit Caracalla (CJ 3, 15, 1, 196 n. Chr.) noch Papinian (D. 48, 2, 22, 16 resp.) eingegangen.

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5. Über präventiven Gewahrsam der Beschuldigten451 a) D. 48, 3, 3: Form des Gewahrsams Divus Pius ad epistulam Antiochensium Graece rescripsit non esse in vincula coiciendum eum, qui fideiussores dare paratus est, nisi si tam grave scelus admisisse eum constet, ut neque fideiussoribus neque militibus committi debeat, verum hanc ipsam carceris poenam ante supplicium sustinere.

Bei Ulpian geht es in diesem Abschnitt seines Werkes um die Frage, wie der Statthalter die Anwesenheit des Angeschuldigten im Strafprozess sichern sollte. Denn nach einer Anzeige durch den Ankläger bestand natürlich die Gefahr, dass der Beschuldigte versuchte, noch vor Eröffnung des Prozesses zu fliehen und damit einem Urteil zu entgehen. aa) Arten des Gewahrsams Prinzipiell war die Haft im carcer, die heutige Untersuchungshaft, das sicherste Mittel, um die Anwesenheit des Angeschuldigten im Strafprozess zu garantieren. Und in der Tat war sie in früh-republikanischer Zeit die wohl am häufigsten praktizierte Gewahrsamsform. Sie konnte im Rahmen des magistratischen imperium angeordnet werden.452 Schon bald gab es allerdings gerade für höhergestellte Bürger die Möglichkeit, einen Bürgen zu stellen, wodurch sie Gefängnishaft abwenden konnten.453 Später ging das in die custodia libera über, die Übergabe des Beschuldigten an eine angesehene Persönlichkeit, die dann für die Bewachung zu sorgen hatte.454 Während in Rom mit Einführung der quaestiones die Untersuchungshaft im carcer bei römischen Bürgern stark eingeschränkt wurde455, entweder 450

So auch Marotta, Multa, S. 285. Sintenis, in OSS 4, S. 929, gibt custodia im Titel von D. 48, 3 mit „Bewachung“ wieder. „Präventiver Gewahrsam“ (zu den verschiedenen möglichen Bedeutungen von custodia vgl. Heumann/Seckel, Art. custodia 2), S. 118), drückt klarer aus, dass es sich zum einen um Maßnahmen vor Einleitung des eigentlichen Prozesses handelte, zum anderen in diesem Kapitel alles geregelt war, was von Begründung bis zum Ende des vorbeugenden Gewahrsams, in welcher Form auch immer er erfolgte, vom Statthalter zu beachten war. Diese Bedeutung hat custodia auch in D. 2, 12, 9 zum Verhör der Gefangenen an Feiertagen. Rudorff, Über den liber, S. 293 stellt dagegen diesen Text an den Anfang des Abschnitts direkt nach D. 1, 18, 13, wohl weil er custodia zu weit versteht. Wie hier Lenel, Pal. II, col. 974. 452 Vgl. Hitzig, Art. carcer, S. 1576 m. w. N.; Mommsen, Strafrecht, S. 326 f. 453 Sog. vades publicos dare, vgl. wiederum Hitzig, Art. carcer, S. 1576 m. w. N. 454 Vgl. Mer, L’accusation, S. 201 f.; Hitzig, Art. custodia 2), S. 1897 f. 455 Zum Meinungsstreit, wie weit diese Einschränkung tatsächlich ging, vgl. Mommsen, Strafrecht, S. 328 f. und dagegen La Rosa, Note sulla custodia, S. 310 ff. 451

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durch die Lex Iulia de vi 456 oder bereits im Rahmen ihres Vorgängers, der Lex Sempronia des C. Gracchus, und die Beschuldigten nun auch bei Kapitalverbrechen auf freiem Fuß blieben, galt das in den Provinzen gegenüber Nichtbürgern nicht. Hier wurde die Untersuchungshaft weiterhin praktiziert.457 bb) Gewahrsam in den Provinzen Eine erste Auskunft über Gewahrsam in den Provinzen im Prinzipat gibt die Behandlung des Apostels Paulus in Iudaea: Dort ließ der Tribun der Kohorte Paulus zunächst im Tempel festnehmen, mit zwei Ketten fesseln und in die Kaserne bringen.458 Als er mit Peitschen geschlagen und gefoltert werden sollte, machte er sein römisches Bürgerrecht geltend, woraufhin zwar die Folter eingestellt wurde459, Paulus aber trotzdem über Nacht in der Kaserne blieb.460 Auch nach seiner Überführung nach Caesarea461 wurde er auf Anordnung des Statthalters Felix, der wusste, dass er römischer Bürger war, im Prätorium des Herodes in Gewahrsam gehalten.462 Später erhielt Paulus zwar Hafterleichterungen, der Zwangsaufenthalt im Prätorium wurde jedoch nicht aufgehoben.463 Auch unter Felix’ Nachfolger Festus blieb Paulus in Caesarea in Haft.464 Schließlich wurde er nach Rom 456

Zu ihr u. III. 6. Vgl. nur Cicero, in Verr. 5, 55, 143 f., wo Cicero sich nur darüber erregt, dass römische Bürger in den carcer geworfen wurden, wenn er sagt (144): In externorum hominum maleficorum sceleratorumque, in praedonum hostiumque custodias tu tantum numerum civium Romanorum includere ausus es? 458 Apg. 21, 33 f. 459 Apg. 22, 24–29. 460 Apg. 22, 30. Dabei war er wohl nicht gefesselt, wie sich aus dem Zusammenhang zwischen Apg. 22, 29 (das Entsetzen des Tribuns über die Fesselung eines _ römischen Bürgers: ka˝ þ xilûarxoò d˚ ýfobh·qh ýpignoŸò, Õti ‘Rwma iüò _ dedekÿò) und 30 (Vorführung am nächsten Tag: ñlusen ýsti kaû Õti _þn ažt˛n _ ažt˛n ÷p˛ twn desmwn) ergibt; zu diesem Teil der Apg. ausführlich Omerzu, Der Prozess, S. 374 ff. 461 Caesarea Stratonis oder Palestinae, der Sitz der römischen Prokuratoren von Iudaea, vgl. Benzinger, Art. Caesarea 10), S. 1291 ff. _ _ 462 Apg. 23, 35: \EkÍleusÍ te ažt˛n ýn t`w praitorû`w tou ¢Hrÿdou fulÜssesqai. Das Prätorium war hier das Amtsgebäude des Statthalters von Iudaea, die ehemalige Residenz des Stadtgründers Herodes, vgl. Egger, Das Praetorium, S. 17; Omerzu, Der Prozess, S. 416 ff.; allgemein zum praetorium Schleiermacher, Art. praetorium, S. 1180; zum Gewahrsam im Praetorium s. auch Tertullian, ad mart. 2, 4. 463 Die Erleichterungen betrafen vor allem die Lebensmittelversorgung durch _ _ h thre isqai _t˛n Freunde; Apg. 24, 23: diatacÜmenüò te t`w ÅkatontÜrx´ _ _ _ ka˝ mhdÍna kolŸein twn ùdûwn ažtou ëphrete in í Paulon, ñxein te ånesin _ proò Írxesqai ažt`w. 457

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überführt, wo er zwei Jahre allein in einer Mietwohnung mit dem ihn bewachenden Soldaten wohnen durfte.465 Diese Ereignisse zeigen, dass schon zu Beginn des Prinzipats auch römische Bürger, die, wie Paulus, nicht zu den Oberschichten gehörten, in den Provinzen ohne Zögern in Untersuchungshaft genommen wurden. Des weiteren werden Abstufungen der Haft (in und ohne Ketten, mit und ohne Besuchsrecht) erkennbar und jedenfalls für Rom Gewahrsam in Form der militaris custodia bestätigt, d.h. die Bewachung des Beschuldigten durch Soldaten außerhalb eines Gefängnisses.466 Die erste kaiserliche Äußerung zum Gewahrsam in den Provinzen stammt von Antoninus Pius im angeführten Reskript, die Antwort auf einen Brief der Antiochenser.467 Darin wurde festgelegt, welche Überlegungen die Entscheidung über die Verhängung einer der Gewahrsamsformen leiten sollten, insbesondere wann überhaupt Untersuchungshaft anzuordnen war. Grundsätzlich dürfe, wer bereit sei, Bürgen468 zu stellen, nicht ins Gefängnis469 464

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Apg. 25, 4 (thra isqai t˛n Paulon ýn Kaisareû`a). 465 Apg. 28, 16 u. 30. 466 Vgl. dazu Hitzig, Art. custodia 2), S. 1898. 467 Empfänger des Reskripts, das, was Ulpian besonderer Erwähnung wert ist, auf Griechisch verfasst wurde, war also kein Einzelner, sondern eine civitas; entworfen wurde es also vom kaiserlichen ab epistulis Graecis. Welches Antiocheia gemeint war, bleibt offen: In Frage kommen vor allem Antiocheia am Orontes, der Sitz des Statthalters von Syrien (vgl. dazu Hirschfeld, Art. Antiocheia 1), S. 2442 ff.), und Antiocheia Pisidiae, römische Kolonie und Metropolis von Pisidien (vgl. dazu Levick, Art. Antiocheia 15), S. 49 ff.; in diesem Sinne etwa Talamanca, Gli ordinamenti, S. 139 Fn. 129). Die Anfrage einer civitas an den Kaiser über die Ausübung der Untersuchungshaft zeigt einerseits, dass die Gefängnisse von den Munizipien verwaltet wurden, und andererseits, dass munizipale Sicherheitsbehörden (wie z. B. die Irenarchen) verhaften konnten, was eigentlich nur dem Statthalter zukam. Vgl. dazu D. 2, 4, 2, 1. Satz (Ulpian, 5 ad ed.), D. 48, 3, 1 (2 de off. proc.): de custodia reorum proconsul aestimare solet und bereits o. I. 4. e). Diese Übertragung einer Befugnis war praktisch geboten. Vor allem wenn der Statthalter sich nicht in der betreffenden Stadt aufhielt, mussten, jedenfalls bis zu einer Überstellung an den Konventssitz des Statthalters, vorläufige Maßnahmen gegenüber Straftätern getroffen werden. 468 Lenel, Pal. II, col. 974 Fn. 2 hält fideiussores für interpoliert und möchte stattdessen sponsores einsetzen (Begründung in Pal. I, praef. VII 1); hier ablehnend Dell’Oro, I libri, S. 149 Fn. 159. Zwar ist sicher bezeugt, dass Justinian ältere Bürgenformen regelmäßig durch fideiussio ersetzt hat (vgl. Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 661 u. Fn. 14), doch ist nicht belegt, ob jemals sponsores (i. ü. war die sponsio nur römischen Bürgern zugänglich, Gaius, Inst. III 93, während die Prozessbürgschaft in den Provinzen sicher auch Peregrine übernehmen konnten) als Prozessbürgen in Strafsachen verwendet wurden. An allen Stellen, an denen der Prozessbürge in Kriminalsachen erwähnt wurde, erscheint allein der fideiussor (D. 48, 3, 1; 48, 3, 3; 48, 21, 3 § 7; 4, 6, 28 § 1). Wenn auch beim vadimonium cum satisdatione des Formularprozesses sponsores auftraten (Gaius, Inst. IV, 89, vgl. auch Fliniaux, Le vadimonium, S. 50 u. Fn. 3), muss das nicht ohne Weiteres für Prozessbürgen in

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geworfen werden. Von diesem Prinzip machte man nur dann eine Ausnahme, wenn das begangene Verbrechen so schwer (tam grave scelus) war, dass Überantwortung an Bürgen oder Soldaten untunlich war. Das Reskript lässt also die verschiedenen Gewahrsamsformen, die sich während der ersten eineinhalb Jahrhunderte der Kaiserzeit auch in den Provinzen entwickelt hatten, klar erkennen: die Untersuchungshaft, die Bewachung durch Soldaten (militaris custodia) und den Gewahrsam durch Bürgen. Die ersten beiden Gewahrsamsformen waren aus den Prozessen gegen Paulus bereits bekannt, während der Bürgengewahrsam wohl aus der libera custodia und dem vadimonium der späten Republik hervorgegangen ist.470 Ferner wurden die verschiedenen Gewahrsamsformen nach ihrer Schwere abgestuft. Die Gefängnishaft war in jedem Fall die schwerste Form; sie wurde auch poena carceris genannt, d.h. als so schwer angesehen, dass sie bereits vor der eigentlichen Bestrafung als poena bezeichnet werden konnte, poena in Form der Haft. Hier zeigt sich, wie gut Antoninus Pius die elende Lage der im Gefängnis Inhaftierten kannte471 und daher, Ausfluss der Unschuldsvermutung im StrafStrafsachen gegolten haben, auch deswegen nicht, weil diese Bürgschaftsform sich aus der libera custodia entwickelt hatte (s. dazu im Text). 469 Der Ausdruck in vincula ist hier, wie sich aus dem Zusammenhang mit poena carceris ergibt, synonym mit Gefängnishaft zu verstehen wie in vielen juristischen Texten; vgl. zur Stelle insbes. Lovato, Il carcere, S. 20 f., der richtigerweise betont (S. 19), dass vincula in anderen Textstellen natürlich auch in seiner Grundbedeutung, Fesselung in Ketten, verwendet wird; allgemein zur häufigen Gleichsetzung von vincula und carcer schon Mommsen, Strafrecht, S. 300 f. und Mayer-Maly, Art. vincula, S. 2198 ff. Ob die Untersuchungshaft immer auch zu einer Fesselung geführt hat, wie Lovato, Il carcere, S. 55 ff., insbes. S. 58 vertritt, ist aus den von ihm angeführten Textstellen (vor allem D. 48, 19, 27 § 2, Callistrat 5 de cogn.; 48, 3, 10, Venuleius Saturninus 2 de off. proc.; 48, 3, 8, Paulus l. s. de poen. mil.) nicht herauszulesen; sie zeigen eher, dass nicht immer gefesselt werden musste. In diesem Sinne sehr klar auch Gröschler, Rez. Lovato, S. 279 Fn. 8. Zur Unterstützung dieser Ansicht könnte auch D. 11, 4, 1 § 7 (Ulpian 1 ad ed.) über servi fugitivi und D. 4, 6, 9 (Callistrat, 2 ed. mon.) herangezogen werden, wo bei der Definition von vincula gesagt wird: quia nihil intersit, parietibus an compedibus teneatur, also von Fesselung keine Rede ist, sowie die Behandlung des Apostels Paulus (o. im Text). 470 Vgl. Hitzig, Art. custodia 2), S. 1899, ihm folgend Mer, L’accusation, S. 317: Der Bürge hatte unter Androhung von Strafe dafür zu sorgen, dass der Angeklagte vor Gericht erschien, vgl. D. 48, 3, 4 (9 de off. proc.), s. u. VI. 1. b). Bereits in der Lex Iulia iudiciorum publicorum war ein Passus enthalten, nach dem der Herr für seinen eines Kapitalverbrechens angeklagten Sklaven Bürgschaft geben konnte, vgl. D. 48, 3, 2 pr. (Papinian, 1 de adult.). 471 Gerade in den literarischen Quellen wird die Grausamkeit der Gefangenschaft immer wieder geschildert, vgl. insbes. den umfangreichen Überblick bei Krause, Gefängnisse, S. 271 ff., der neben spätantiken auch zahlreiche klassische Quellen anführt, insbes. Märtyrerberichte.

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prozess472, die Untersuchungshaft so weit wie möglich einschränken wollte. Leichter als die Gefängnishaft, aber schwerer als der Bürgengewahrsam473 war die militaris custodia, d.h. die Bewachung des Beschuldigten durch Soldaten außerhalb des Gefängnisses.474 Leichteste von Antoninus Pius angeführte Gewahrsamsform war der Bürgengewahrsam, bei dem der Angeschuldigte im Gewahrsam einer Privatperson lebte. Auch hier wird eine Wertung des Pius sichtbar. Wenn der Beschuldigte in der Lage war, Bürgen zu stellen, sollte grundsätzlich diese Gewahrsamsform angewendet werden, Der Beschuldigte sollte also, erneuter Ausfluss der Unschuldsvermutung, vor dem Prozess so weit gehende Erleichterungen wie möglich erhalten. Schließlich geht aus dem Reskript hervor, welche Gesichtspunkte der Statthalter (oder die lokalen Sicherheitsbehörden als Adressaten des konkreten Reskripts) bei der Wahl der Gewahrsamsform beachten sollten. Allein die Schwere des vorgeworfenen Verbrechens war zu berücksichtigen.475 Drohende Kapitalstrafe berechtigte daher wohl zur Verbringung in das Gefängnis; nicht entscheidend war dagegen die soziale und wirtschaftliche Stellung des Beschuldigten. Pius gab also zwar ein offenes, der Auslegung und dem Ermessen des Statthalters zugängliches Kriterium für die Wahl der Gewahrsamsform an, griff aber nicht auf gesellschaftliche Kriterien zurück, sondern gab einen objektiven, für alle Menschen geltenden Rahmen vor. Auch Angehörige niedriger sozialer Schichten hatten also die Möglichkeit, sich durch Bürgenstellung der Gefängnishaft zu entziehen. Und tatsächlich kommt Bürgenstellung auch bei einfachen Leuten in etlichen ägyptischen Papyri vor.476

472 Vgl. die Erläuterungen zu D. 48, 19, 5, u. 6. a). Dass der confessus grundsätzlich in das Gefängnis zu verbringen war (D. 48, 3, 5, Venuleius Saturninus 2 de iud. publ.), unterstützt diese Ansicht, da ein geständiger Täter als des Verbrechens überführt galt. 473 Dies geht aus der Stellung der militaris custodia in D. 48, 3, 1 und auch aus dem Zusammenhang in D. 48, 3, 3 hervor. Aus diesen Texten ergibt sich, dass der grundsätzlich Bürgen zu überlassende Beschuldigte bei schweren Verbrechen erst dann ins Gefängnis kommen dürfe, wenn er nicht auch noch Soldaten hätte überlassen werden können. 474 Der Beschuldigte konnte insbes. seinen Geschäften nachgehen, wie aus D. 4, 6, 10 (Ulpian 12 ad ed.) hervorgeht. Wichtig für die Kenntnis der militaris custodia ist der Bericht der Apostelgeschichte, vgl. o. im Text. Allgemein zu dieser Gewahrsamsform Hitzig, Art. custodia 2), S. 1898; Mer, L’accusation, S. 326 ff. 475 Für den Fall des Raubes schiffbrüchigen Gutes hatte bereits Hadrian auf dieses Kriterium zurückgegriffen (D. 47, 9, 7, Callistrat 2 quaest.), Antoninus Pius für alle Verbrechen. Die Veränderungen in D. 48, 3, 1 werden sogleich behandelt. 476 Angeführt bei Krause, Gefängnisse, S. 69 f., insbes. Fn. 31.

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cc) Unterschiedliche Wertung in D. 48, 3, 1 Interessant ist zum Abschluss ein Vergleich mit einem weiteren Text aus de officio proconsulis, der inhaltlich dem Reskript des Pius sehr ähnlich ist (D. 48, 3, 1, aus l. 2 de off. proc.)477: De custodia reorum proconsul aestimare solet, utrum in carcerem recipienda sit persona an militi tradenda vel fideiussoribus committenda vel etiam sibi. Hoc autem vel pro criminis quod obicitur qualitate vel propter honorem aut propter amplissimas facultates vel pro innocentia personae vel pro dignitate eius qui accusatur facere solet.

Dieses Fragment, das möglicherweise ein caput mandatorum wiedergibt478, macht uns zum einen mit einer vierten Gewahrsamsform bekannt, dem committere sibi, d.h. der Belassung in Freiheit, vermutlich mit Auflagen, was etwa bei sehr wahrscheinlicher Unschuld 479 oder besonderer Verlässlichkeit des Beschuldigten angeordnet worden sein mag. Außerdem liefert es weitere Kriterien für die Wahl der Gewahrsamsform, ein wesentlicher Unterschied zum Reskript von Antoninus Pius. Ulpian stellte außer auf die Schwere des Verbrechens auf die soziale Stellung, die Vermögensverhältnisse des Beschuldigten und die Wahrscheinlichkeit seiner Schuld ab. Das objektive Kriterium „Schwere des vorgeworfenen Verbrechens“ bei Pius wurde also mittlerweile stark modifiziert. Jetzt kommt es auch auf den gesellschaftlichen Stand und die wirtschaftliche Potenz der Betroffenen an. Die Gleichheit vor dem Gesetz geht dadurch weitgehend verloren. Angehörige unterer Schichten konnten nunmehr viel leichter in Haft geraten. b) D. 2, 12, 9: Gefangenenverhör an Feiertagen Divus Traianus Minicio Natali rescripsit ferias a forensibus tantum negotiis dare vacationem, ea autem, quae ad disciplinam militarem pertinent, etiam feriatis diebus peragenda; inter quae custodiarum quoque cognitionem esse.

Das Reskript Trajans an L. Minicius Natalis480 beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern Feiertage von Gerichtsgeschäften freistellten. Dabei waren, 477 Lenel, Pal. II, col. 969 Fn. 6 schlägt vor, wegen D. 48, 3, 3 die Inskription von libro secundo in libro septimo zu emendieren. Die Einordnung in Buch 2 ist jedoch richtig, da hier allgemeine Rechte und Pflichten speziell des Prokonsuln behandelt wurden, während ab Buch 7 das Strafrecht für alle Provinzen erörtert wurde. 478 So Marotta, Multa, S. 287. In der Tat deutet die Verwendung von solet auf allgemeine Regeln für alle Prokonsuln hin. 479 Vgl. Mer, L’accusation, S. 314 f. unter Hinweis auf Bas. 60, 35, 1 Sch. 3. 480 Die Laufbahn des L. Minicius Natalis, Suffektkonsul 106 n. Chr., ist gut bekannt durch eine Bauinschrift aus Barcino (CIL II 4509, neu hrsg. CIL II 6145 und

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und deshalb hat Ulpian den Text hier eingeordnet, die cognitio custodiarum, das Verhör der Gefangenen, ebenso wie die disciplina militaris auch an Feiertagen durchzuführen. aa) Gerichtsfreie Tage im Strafprozess der Provinzen Zunächst kann aus der Anführung des Reskripts im 7. Buch de officio proconsulis abgeleitet werden, dass es auch für Strafprozesse vor dem Statthalter gerichtsfreie Tage gab.481 Wie viele und welche Tage das waren, wird allerdings nicht gesagt, insbesondere inwieweit die aus Rom bekannten feriae482 auch in den Provinzen gefeiert wurden483 und sich auf die Gerichtsgeschäfte auswirkten.484 Aus D. 1, 16, 7 pr. (2 de off. proc.) geht hervor, dass der Prokonsul Feiertage nach den Sitten und Gebräuchen, wie Dess. 1029). Daraus geht hervor, dass Minicius zur Regierungszeit Trajans noch kein Prokonsulat innegehabt hat, erst unter Hadrian ist er wohl 121/22 proconsul Africae, vgl. Thomasson, Fasti Africani, S. 54 Nr. 65 m. w. N. Ein früheres Prokonsulat wäre auch deshalb unwahrscheinlich, weil das Reskript primär militärische Fragen betraf, die der Prokonsul, dessen Amt zivil war, nicht zu entscheiden hatte. Nach dem Inhalt des Reskripts könnte der Empfänger Legat, nämlich Befehlshaber der III. Legio Augusta in Africa (um 105 n. Chr., vgl. Thomasson, Fasti Africani, S. 141, Nr. 17) oder kaiserlicher Statthalter von Pannonia superior (wohl 113 – mind. 117 n. Chr.: legatus Augusti pro praetore divi Traiani Parthici et imperatoris Traiani Hadriani Augusti provinciae Pannoniae superioris, vgl. auch AE 1988 Nr. 906). Dieser hatte gleichzeitig den Oberbefehl über die dort stationierten drei Legionen inne. Vgl. zu seiner weiteren Laufbahn allgemein Thomasson, Fasti Africani, S. 54 Nr. 65; S. 106 Nr. 21; S. 140 f. Nr. 17; PIR2 V.2, 1983, M, S. 292 f., Nr. 619. 481 Für Rom zur Zeit der Republik ablehnend Zumpt, Der Criminalprocess, S. 118 ff. Cicero beweist aber das Gegenteil, v. a. in pro Cael. 1, 1 (welche Stelle darüber hinaus ergibt, dass auch während öffentlicher Spiele die Kriminalverfahren grundsätzlich ruhten); in Verr. I, 31; I, 34; II, 2, 130. Gerichtsfreie Tage bei Strafprozessen vor dem Statthalter erwähnen auch D. 48, 5, 12 § 6 (Papinian l. s. de adult.) und 48, 1, 12 (Modestin 3 de poen., abhängig von Ulpian, s. u.). 482 Zu ihnen noch immer grundlegend Wissowa, Religion, S. 432 ff. und Mommsen, de feriis, in: CIL I, S. 297 ff.; Hauptquelle für die feriae in Rom sind Macrobius, Sat. 1, 16, und Varros de lingua latina, von denen einiges ebenfalls bei Macrobius erhalten ist, sowie zwei Bauernkalender in CIL I, S. 280 f. 483 Vgl. hierzu Snyder, Public Anniversaries, S. 223 ff. In der Provinz Mesopotamia wurde ein offizieller Festkalender (sog. feriale Duranum) für eine dort stationierte Kohorte aus der Zeit von Alexander Severus entdeckt, der wertvolle Hinweise auf die Feier römischer Feste in den Provinzen geben kann, vgl. Fink/Hoey/Snyder, The Feriale Duranum, S. 1 ff., insbes. S. 165 ff. 484 Vgl. z. B. Hartmann-Ubbelohde, Röm. Gerichtsverfassung, S. 59 f., der für die feststehenden, d.h. vor allem die religiösen Feiertage Strafverfahren ausschließen will. Das wird durch Macrobius, Sat. 1, 15, 21 ziemlich klar bestätigt: Feriis autem vim cuiquam fieri piaculare est. Fraglich ist aber dabei vor allem, welche dieser Feiertage in der Kaiserzeit noch gefeiert wurden.

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sie bisher bestanden, gewähren sollte, d.h. auch lokale Festtage waren als Feiertage zu beachten: Et ferias secundum mores et consuetudinem quae retro optinuit dare.

Ferner bestätigen einige Briefe des Plinius an Trajan die Feier des kaiserlichen Geburtstages, des Tages seines Regierungsantritts und die Feiern zum neuen Jahr auch in den Provinzen.485 Die vor allem in den literarischen Quellen bezeugten Gerichtsferien waren im Laufe der frühen Kaiserzeit sehr umfangreich geworden486, galten aber nur für die ordentlichen Prozesse, nicht für die Kognition römischer Magistrate.487 Da D. 2, 12, 9 im Abschnitt über die statthalterliche Kognition in Strafsachen stand, können mit den dort erwähnten feriae von negotiis forensibus nicht die Gerichtsferien in ordentlichen Prozessen gemeint sein488, sondern solche, die auch in Kognitionssachen vor dem Magistrat galten. Die Statthalter hatten die Pflicht, ihre Provinz zu bereisen und in verschiedenen Orten einen conventus abzuhalten, um dort Recht zu sprechen. Eine begrenzte Zahl von Gerichtstagen in den Provinzen wäre für eine korrekte Strafrechtspflege sehr hinderlich gewesen. Die Statthalter werden bestimmte Ferientage gehabt haben, an denen keine Strafprozesse stattfanden, jedoch kaum in dem Umfang, wie er für ordentliche Verfahren galt. bb) Ausnahmen wegen disciplina militaris Trajan ließ Gerichtsgeschäfte an gerichtsfreien Tagen auch dann zu, wenn es um die disciplina militaris ging. Feiertage entlasteten nicht von res militaris, was oft gleichbedeutend mit disciplina militaris gebraucht wurde489, schon in der späten Republik.490 Wenn Trajan das erneut festlegen musste, 485 Plinius, ep. 10, 17A, 2; 10, 88; 10, 102 u. 103; 10, 52; 10, 35 u. 36; 10, 100 u. 101. 486 Vgl. nur Sueton Aug. 32, 2; Dio 60, 17, 1 (für Claudius); Tacitus, hist. 4, 40, 2 (Vespasian); schließlich HA Marc Aurel 10, 10. 487 So sehr klar anhand von Gaius II, 278 f. Behrends, Röm. Geschworenenverfassung, S. 160 f., aber i. E. auch schon Bethmann-Hollweg, Der röm. Civilprozeß II, S. 174 f. Auch die Lex Irnitana, Kap. 92, Z. 29 f., 37–39 erwähnte explizit nur diese Prozesse, Simshäuser, Stadtrömisches Verfahrensrecht, S. 200 will die dort genannten Feiertage aber auch auf die iurisdictio des Magistrats erstrecken. 488 Die es daneben auch in den Provinzen gab, wie aus D. 2, 12, 4 (Paulus 1 ad ed.) i. V. m. 2, 12, 1 pr. (Ulpian 4 de omn. trib.: oratio divi Marci) bezüglich der Festsetzung von Weinlese- und Ernteferien hervorgeht; vgl. auch Lex Irnitana, Kap. 92, Z. 34–36, wo noch die städtischen Magistrate diese Ferien festlegen. 489 Vgl. die Nachweise bei Mauch, Der lat. Begriff, S. 79. 490 Varro, bei Macrobius sat. 1, 16, 27: Ad rem sane militarem nihil attinere notat Varro utrum fastus vel nefastus dies sit, sed ad solas hoc actiones respicere privatas.

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scheint die klare Regelung der Republik in den Provinzen nicht mehr in gleicher Weise gegolten, d.h. scheinen Feiertage auch die disciplina militaris beeinflusst zu haben. Disciplina militaris war ein schillernder Begriff. Er bezeichnete sowohl das soldatische Verhalten überhaupt, militärische Disziplin und Zucht, aber auch Kriegskunst, militärisches Wissen und die gesamte militärische Ausbildung, letztlich also alles, was eine erfolgreiche Kriegsführung förderte.491 Natürlich gehörte zur militärischen Disziplin auch der unbedingte Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten und, damit verbunden, deren Strafgewalt zur Aufrechterhaltung der Disziplin.492 Diese Verbindung von disciplina militaris und Strafgewalt des Vorgesetzten, insbesondere des Kommandeurs, kam denn auch in den juristischen Quellen, die sich mit dem Militärrecht beschäftigten, zur Sprache. Besonders klar äußerte sich dazu Arrius Menander im 3. Buch de re militari (D. 49, 16, 6 pr.): Omne delictum est militis, quod aliter, quam disciplina communis exigit, committitur: veluti segnitiae crimen vel contumaciae vel desidiae.

Ebenso rechnet Macer im 1. Buch seiner Schrift de re militari unter die vom Befehlshaber des Heeres zu beachtende disciplina (D. 49, 16, 12 pr.) in § 2 auch delicta secundum suae auctoritatis modum castigare.493

Um diese gerichtliche Tätigkeit ging es auch in D. 2, 12, 9. Gerichtsfreie Tage stellten den Legionskommandeur oder Statthalter kaiserlicher Provinzen, der gleichzeitig Oberbefehlshaber von dort liegenden Legionen war, nicht davon frei, gerichtliche Verfahren durchzuführen, die die disciplina militaris betrafen. Diese Ausnahme leuchtet ein. Schlagkraft, Moral und Gehorsam der Truppe konnten nur durch schnelle Reaktion auf Verstöße gegen die Disziplin aufrechterhalten werden, Feiertage durften dabei keine Rolle spielen. Dass Trajan mit disciplina militaris gerade die Strafverfolgung von Soldaten meinte, ist zwar nicht offen ausgesprochen, doch legt Ulpians Verwendung des Reskripts im strafrechtlichen Teil de officio proconsulis das jedenfalls nahe. Trajan galt als conditor disciplinae militaris 494, vertrat also 491 Vgl. Mauch, Der lat. Begriff, S. 72 ff. zu den einzelnen Bedeutungen; grundlegend in der lat. Literatur Livius, Bücher 7–9, 28 u. 29, 39, 44 u. 45 sowie Valerius Maximus 2, 7. 492 Vgl. dazu mit Nachweisen Le Bohec, Art. disciplina militaris, S. 691 f. 493 In D. 49, 16, 12 pr. – § 2 ist im Übrigen aufgelistet, was für weitere Aufgaben dem Befehlshaber oblagen, um die disciplina militaris aufrechtzuerhalten, wobei in § 1 aus der Schrift des Taruttienus Paternus (unter Marc Aurel) und aus einer disciplina des Augustus zitiert wurde. Allgemein zum Militärstrafrecht Jung, Die Rechtsstellung, S. 963 ff.

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neue Zugkraft und Disziplin im Heer. Dazu passt die Bestimmung, auch an Feiertagen hier gerichtlich vorzugehen, gut. cc) Ausnahme bei cognitio custodiarum Bei Anführung des Trajanreskripts in D. 2, 12, 9 kam es Ulpian besonders auf die Aussage an, dass auch das Verhör von Gefangenen (cognitio custodiarum) an Feiertagen durchzuführen war. Eben so wie die Angelegenheiten der disciplina militaris sollte auch das Verhör von Untersuchungshäftlingen495 keinen Aufschub dulden. Auch hier spielte wohl eine Rolle, dass andernfalls Gefahren für die Allgemeinheit drohten, etwa wenn Mittäter rasch aufzuspüren waren, um weitere Verbrechen zu verhindern. Außerdem ging es hier auch um Interessen des Beschuldigten. Weil Kerkerhaft einen schweren Eingriff bedeutete496, sollten Unschuldige so kurz wie möglich im carcer verbleiben müssen, eine erste Vernehmung unverzüglich, eventuell auch an Ferientagen erfolgen. Diesen Gesichtspunkt spricht auch Modestin an, der sich hier offenbar auf jenen Ulpiantext bezieht (D. 48, 1, 12, aus l. 3 de poen.): Et feriatis diebus custodias audiri posse rescriptum est, ita ut innoxios dimittat et nocentes, qui duriorem animadversionem indigent, differat.

Auch hier wird der Versuch erkennbar, unschuldigen Untersuchungshäftlingen rasch rechtliches Gehör zu gewähren. Das bedeutete auch eine Beschränkung des weiten Ermessens der Statthalter über die Dauer der Untersuchungshaft, wie es noch im Verfahren des Paulus vor Felix und Festus ausgeübt wurde. Obwohl dem Statthalter die Unschuld des Paulus bekannt war, verbrachte er mehr als zwei Jahre im Prätorium des Herodes.497 Einem schnellen Gehör von Untersuchungsgefangenen diente auch die Möglichkeit der Prokonsuln, die cognitio custodiarum an ihre Legaten zu delegieren, die ansonsten in die strafrechtliche Kognition der Statthalter nicht eingeschaltet wurden.498 Zwar musste der Legat den Verhörten dann an den Statthalter überstellen, doch konnte dieser nun aufgrund des beigegebenen Vernehmungsprotokolls sofort entscheiden. 494

Vgl. Plinius, ep. 10, 29, 1; paneg. 6, 2; 18, 1; HA Marc Aurel 11, 7. Zur Verwendung des Ausdrucks cognitio custodiarum in dieser Bedeutung vgl. Hitzig, Art. custodia 2), S. 1899 m. w. N. 496 s. schon oben a) zu D. 48, 3, 3. 497 Apg. 23, 29; 24, 27; 25, 25. Die Märtyrerakten des 2. Jh. sind zu dieser Frage unergiebig, weil hier die Haft erst nach dem Geständnis des Christentums begann, als von der Unschuld der Angeklagten nicht mehr ausgegangen werden konnte, vgl. nur Mart. Lugd. bei Eusebius, HE 5, 1, 8. 498 D. 1, 16, 6 pr. 495

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dd) Urheberschaft der Ausnahme bei Verhör von Gefangenen Dass Untersuchungsgefangene auch an Feiertagen zu verhören sind, soll Trajan also nach Aussage des Textes gleichfalls im Reskript festgelegt haben. Entgegen dem Wortlaut meint Lovato499 allerdings, erst Ulpian habe das durch Interpretation hinzugefügt und als Bestandteil des Reskripts ausgegeben. In der Tat scheint die Erweiterung am Ende von D. 2, 12, 9 nicht zum Inhalt des vorangehenden Teils zu passen500, der von der disciplina militaris handelt. Den trajanischen Ursprung auch des Verhörs der Gefangenen bezeugt aber wiederum D. 48, 1, 12 von Modestin (3 de poen.), der ausspricht, das Verhör von Gefangenen an Feiertagen rescriptum est. Gewiss ist nicht auszuschließen, dass Modestin, der als Schüler Ulpians501 de officio proconsulis gekannt haben wird, den Text allzu wörtlich nahm und eine Manipulation Ulpians in D. 2, 12, 9 übersah. Besonders wahrscheinlich ist das nicht. Trajan wird bei seiner Antwort an Minicius Natalis einfach mehrere Fälle genannt haben, in denen der Statthalter in Strafsachen auch an Feiertagen gerichtlich tätig werden musste, nämlich immer wenn es um die Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin ging, d.h. vor allem in Militärstrafrechtsfällen, und außerdem beim Verhör von Untersuchungsgefangenen. ee) Ablauf des Verhörs Gefangener Auch der Ablauf des Verhörs wurde mit der Zeit immer stärker geregelt und damit auch verrechtlicht. Insbesondere waren zu den Verhören der Gefangenen die anwesenden Senatoren und sonstigen Notabeln des Ortes, an dem sich der Statthalter befand, zu laden;502 dem Statthalter wurde also eine Art consilium beigegeben und das Verhör hatte nun eine gewisse Öffentlichkeit, die der Willkür eines einzelnen Grenzen setzen konnte. Die Paulussentenzen teilen die Bestimmung mit, der Statthalter habe den Gefangenen das Verhör einen Tag vorher anzukündigen, damit diese sich auf ihre Verteidigung vorbereiten konnten.503 Ob das schon zur Zeit Ulpians galt, ist unsicher; jedenfalls wurden die Sentenzen erst Ende des 3. Jh. n. Chr. verfasst. Gleichwohl stellte das einen Fortschritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit dar. 499

Il carcere, S. 54, ohne allerdings D. 48, 1, 12 zu berücksichtigen. Weswegen z. B. Paoli, Varron, S. 321 Fn. 3 den Schluss für interpoliert hält. Das ist aber gewiss unrichtig, da für Ulpian im 7. Buch de officio proconsulis die cognitio custodiarum wichtig war, außerdem wegen D. 48, 1, 12. 501 Vgl. D. 47, 2, 52 § 20 (Ulpian 37 ad ed.): . . . Herennio Modestino studioso meo. Allgemein Liebs, HLL 4 (1997) § 427, S. 195. 502 D. 48, 1, 12 (Modestin, 3 de poen.). 503 PS 5, 16, 15 = D. 48, 18, 18 § 9. 500

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6. Abwesende Angeklagte und Ankläger im Strafprozess a) D. 48, 19, 5 pr.: Abwesenheit des Angeklagten Absentem in criminibus damnari non debere divus Traianus Iulio Frontoni rescripsit. Sed nec de suspicionibus debere aliquem damnari divus Traianus Adsidio Severo rescripsit; satius enim impunitum relinqui facinus nocentis quam innocentem damnari. Adversus contumaces vero, qui neque denuntiationibus neque edictis praesidum obtemperassent, etiam absentes pronuntiari oportet secundum morem privatorum iudiciorum. Potest quis defendere haec non esse contraria. Quid igitur est? Melius statuetur in absentes pecuniarias quidem poenas vel eas, quae existimationem contingunt, si saepius admoniti per contumaciam desint, statui posse et usque ad relegationem procedi; verum si quid gravius irrogandum fuisset, puta in metallum vel capitis poenam, non esse absentibus irrogandam.

Ulpians Direktiven, wie bei Abwesenheit des Angeklagten im Strafprozess der Provinzen zu verfahren ist, folgen nahezu rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen. Der Jurist führt hier verschiedene Regeln zum gleichen Thema zusammen. aa) Verbot der Verurteilung Abwesender Das Fragment beginnt mit einem Grundsatz, den Trajan in einem Reskript an Julius Fronto504 festgelegt hat. Kein Abwesender dürfe wegen irgendeines Verbrechens verurteilt werden. Diese Aussage überrascht wegen ihres rechtlichen Gehalts, stellt sie doch letztlich den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Strafprozess auf. Denn das Verbot, einen Abwesenden zu verurteilen, bedeutete, dass nur, wer vor Gericht angehört worden war und damit die Möglichkeit hatte, Beweise zu seiner Verteidigung vorzubringen, abgeurteilt werden konnte. Der Grundsatz des beiderseitigen Gehörs im Prozess505 begegnet hier aber nicht zum ersten Mal, sondern war bereits im klassischen Athen verbreitet506 und in Rom jedenfalls zu Beginn der Kaiserzeit anzutreffen.507 Das Verbot, abwesende Angeklagte im Strafprozess 504 Von Leben und Karriere des Julius Fronto ist nichts bekannt, möglicherweise war er der Gatte der Iulia Polla und Vater von C. Iulius Fronto, die in IG 4, 1687 (S. 550) erwähnt werden. Vgl. PIR2 IV I Nr. 323 (S. 216), 326 (S. 217), 691 (S. 322). 505 Dazu allgemein Wacke, Audiatur et altera pars, S. 369 ff., für den Strafprozess insbes. S. 386 ff.; Coenraad, Het beginsel, insbes. S. 131 ff. für den Strafprozess in der cognitio. 506 Vgl. Demosthenes, Or. 18, 2 u. 6; Isokrates, Or. 15, 21 (Antidosis-Rede) zum Schwur des Richters vor Amtsantritt, Kläger und Beklagten in gleicher Weise anzuhören. Ferner das griechische Sprichwort: Sprich kein Urteil, bevor du nicht beide Parteien angehört hast, bei Leutsch, Corpus paroemiographorum Graecorum II, 1851, S. 759. Vgl. allgemein Wacke, Rechtssprichwort, S. 594.

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der Provinzen zu verurteilen, war vor Trajan jedoch noch nicht in dieser klaren Weise festgelegt worden. (1) Abwesenheit des Angeklagten in der späten Republik Wichtigstes Zeugnis für die rechtliche Bewertung der Abwesenheit in der späten Republik liefert der von Cicero geschilderte Kapitalprozess gegen Sthenius vor Verres in Sizilien (72/71 v. Chr.). Dort stellte Verres zunächst fest, dass eine Anzeige (nomen deferre) gegen einen Abwesenden erlaubt und üblich sei (et licere et fieri solere), nahm diese daraufhin an (recipere) und lud Sthenius zur Hauptverhandlung.508 Daraufhin stellten in Rom die Konsuln im Senat den Antrag, ne absentes homines in provinciis rei fierent rerum capitalium; und der Senat betonte dann noch entschiedener: Cum Sthenius absens reus factus esset, de absente iudicium nullum fieri placere, et, si quod esset factum, id ratum esse non placere.509

Anzeigen gegen abwesende Beschuldigte anzunehmen, war jedenfalls für die Provinzen der späten Republik nicht verboten; Annahme der Anzeige durch den Statthalter, Verhandlung und Urteil510 gegen einen Abwesenden wurden allerdings als unbillig angesehen. Sthenius wurde trotzdem in Abwesenheit verurteilt511, aber Verres fälschte das Protokoll, so dass Sthenius scheinbar in Anwesenheit angeklagt (delatum) wurde. Cicero merkte an512, es wäre besser gewesen, Verres hätte zu seiner Verteidigung angeführt: Recipi nomen absentis licet; hoc fieri in provincia nulla lex vetat.

Denn dann scheine er zwar mala et improba defensione, verum aliqua tamen uti.513 507 Vor allem Seneca, Medea, 2, 2, 199 f.: Qui statuit aliquid parte inaudita altera, aequum licet statuerit, haud aequus fuerit. 508 Cicero in Verr. II, 2, 38, 94. 509 Cicero in Verr. II, 2, 39, 95. Allerdings wurde der Antrag im Senat dann nicht weiter verfolgt, in Verr. II, 2, 39, 97. 510 Die Forderung, eine nominis receptio des Abwesenden zu verbieten, bedeutete, dass dann auch kein Verfahren stattfinden und kein Urteil gesprochen werden durfte, da der Beschuldigte nicht wirksam zu einem reus gemacht werden konnte. 511 Die Verwerflichkeit der Verurteilung Abwesender wird noch einmal hervorgehoben von Cicero, in Verr. II, 2, 45, 110: quem hominem absentem . . . causa incognita damnasti? Hier wird auch der Grund für die besondere Verwerflichkeit des Prozesses gegen Abwesende genannt: Das dem Angeklagten vorenthaltene Gehör. 512 Ungenau Wacke, Audiatur et altera pars, S. 391, der Verres selbst diese Verteidigung anführen lässt. 513 Cicero in Verr. II, 2, 41, 101.

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Auch Cicero stellte also die Möglichkeit, in den Provinzen das recipere nomen und den folgenden Kapitalprozess auch in Abwesenheit des Angeklagten durchzuführen, als formal richtig, wenn auch moralisch verwerflich hin.514 Prinzipiell war es zur Zeit Ciceros also rechtlich möglich, Anklagen gegen Abwesende anzunehmen und sie zu verurteilen. Das bestätigen die Aussagen von Verres und einiger seiner Freunde: es sei erlaubt, Anzeigen gegen Abwesende anzunehmen; viele Statthalter vor Verres hätten das schon so gehandhabt.515 Und in dieselbe Richtung weist die Forderung der Sizilier, der Senat möge beschließen, ne absentium nomina reciperentur.516 Nicht nur Kapitalprozesse, sondern jedes Strafverfahren gegen Abwesende sollte offenbar auch in den Provinzen verboten werden.517 Über den Erfolg des Antrages ist nichts bekannt. Ein gesetzliches Verbot, in den Provinzen gegen Abwesende einen Strafprozess zu beginnen, bestand in der späten Republik also nicht. Von Gesetzes wegen konnten sie ohne rechtliches Gehör verurteilt werden. Trotzdem galten Strafprozesse gegen Abwesende als res iniquissima atque acerbissima.518 (2) Entwicklung im Prinzipat Im frühen Prinzipat sind Strafprozesse gegen abwesende Angeklagte in Rom überliefert, aber nur im Rahmen politischer Prozesse.519 Auch bei die514 Coenraad, Het beginsel, S. 101 f., nimmt unter Hinweis auf Cicero, Phil. 2, 23, 56 an, dass in diesen Fällen jedenfalls restitutio gewährt werden konnte. 515 Cicero in Verr. II, 2, 42, 102: licere nomen recipere absentis; se exemplo fecisse quod fecisset. 516 Cicero, in Verr. II, 2, 42, 103; auch hier ungenau Wacke, Audiatur et altera pars, S. 391: die Sache wird von den Siziliern, nicht durch den Ankläger des Sthenius betrieben. Wacke verwechselt den Ankläger M. Pacilius mit dem Volkstribunen M. Palicanus; außerdem betreibt dieser das Verfahren gar nicht, sondern Cn. Lentulus. 517 Dies gegen Bianchini, Le formalità, S. 39. Bei Cicero, in Verr. II, 2, 39, 95 geht es speziell um den Fall des Sthenius, woraus sich die Einschränkung auf Kapitalverbrechen erklärt. 518 So Cicero, in Verr. II, 2, 44, 109. Der erste Fall der Zulassung einer Kriminalanklage gegen einen Abwesenden durch Verres war nach Cicero, in Verr. II, 4, 19, 40 f. der gegen Diodorus aus Melita. Auch hier wird das Handeln des Verres aber nicht als illegal bezeichnet. In diesem Sinne auch Coenraad, Het beginsel, S. 104, während sie in der deutschen Zusammenfassung (S. 199) ein Verbot statuiert. 519 Augustus: Sueton, Aug. 10, 1; Appian, b.c. 3, 95; Dio 46, 28, 2 f. Besonders Claudius: Sueton, Claud. 15, 2; Seneca, Apocol. 7, 4 f.; 12, 3; 14, 3. Wichtig für die Tendenz des Claudius, auch gegen Abwesende zu entscheiden, ist das in BGU 628 erhaltene Edikt Neros, das ein Edikt des Claudius wiederaufnahm (zur Datierung Cuq, Trois nouveaux, S. 111 ff.; zweifelnd Coenraad, Het beginsel, S. 159

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sen ist jedoch zu spüren, dass eine Verurteilung in Abwesenheit dem jedenfalls moralisch und nahezu schon gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsatz des rechtlichen Gehörs zuwiderlief und generell abgelehnt wurde.520 Die Apostelgeschichte gibt uns wieder einen Hinweis, wie ein provinzialer Strafprozess bei Abwesenheit des Angeklagten gehandhabt wurde. Als sich Ankläger des Paulus, der sich in Caesarea in Haft befand, an den Statthalter Palästinas, Festus, in Jerusalem wandten und seine Verurteilung verlangten, belehrte er sie, bei den Römern sei es nicht üblich, einen Angeklagten ohne Möglichkeit der Gegenüberstellung und Verteidigung abzuurteilen.521 Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs in römischen Strafprozessen wurde also erneut bestätigt. Allerdings deutet, ähnlich wie bei Cicero, die Berufung lediglich auf ein römisches ñqoò darauf hin, dass es kein allgemeines Gesetz und auch keine kaiserliche Bestimmung gab, wonach Strafverfahren gegen abwesende Angeklagte in den Provinzen verboten waren. Herkommen und Gewohnheit bestimmten das. Trajan hat also den nur erst moralisch und gewohnheitsmäßig anerkannten Grundsatz, keinen Abwesenden zu verurteilen, auch für die Provinzen rechtsverbindlich festgelegt. Und in der Folge wurde die rechtliche Geltung dieses Grundsatzes immer wieder betont. Besonders deutlich tat dies Marcian unter Berufung auf ein Reskript aus der Samtherrschaft von Septimius Severus und Caracalla, das inhaltlich dasselbe besagte wie Trajan, aber obendrein (und das ist wohl der Grund, warum Marcian nicht auf das Trajan-Reskript zurückgriff) eine Begründung für die Geltung des Grundsatzes anführte. Die ratio aequitatis dulde es nicht, jemanden ohne Möglichkeit zur Äußerung zu verurteilen: Divi Severi et Antonini Magni rescriptum est, ne quis absens puniatur: et hoc iure utimur, ne absentes damnentur; neque enim inaudita causa quemquam damnari aequitatis ratio patitur.522 m. w. N., doch passt die Zuordnung zu Claudius und Nero gut zur literarischen Überlieferung), worin Fristen festgelegt worden waren, bis wann ein in Kriminalsachen an den Kaiser Appellierender in Rom zu erscheinen habe; außerdem die Möglichkeit, das Urteil bei Abwesenheit zu bestätigen. Vgl. zu den Edikten Fanizza, Assenza dell’accusato, S. 109 ff. Domitian: Sueton, Dom. 8, 4; Plinius, ep. 4, 11, 6; Tacitus, agr. 41, 1. s. auch Coenraad, Het beginsel, S. 167 ff. 520 Interessant ist hier z. B. ein von Augustus erlassenes Gesetz, wonach eine Verurteilung Abwesender nur bei Einstimmigkeit im Richterkollegium zuzulassen sei, vgl. Dio 54, 3, 6. Es galt aber wohl nur für die dort genannten besonderen Prozesse. 521 Apg. 25, 15 f.: Õti ožk ñstin ñqoò ¢Romaûoiò xarûzesqaû tina ånqrwpon eùò ÷pÿleian, pr˝n í þ kathgoroŸmenoò _kata prüswpon ñxoi toˇò kathgürouò, tüpon te ÷pologûaò lÜboi per˝ tou ýgklh·matoò. 522 D. 48, 17, 1 pr (2 iud. publ.). Für Echtheit des Schlusses ab neque und Papinian als Verfasser des Reskripts Wacke, Audiatur et altera pars, S. 389 unter Berufung auf Honoré, Ulpian, S. 136 u. Fn 73. Vgl. auch CJ 9, 2, 6 pr. (Gordian,

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(3) Ausnahme vom Verbot bei contumacia Bevor die weiteren in D. 48, 19, 5 pr. angeführten Prinzipien erörtert werden, soll zunächst noch auf den Anwendungsbereich des Verbots der Verurteilung Abwesender und auf einen von Ulpian genannten Ausnahmefall eingegangen werden. Sowohl im Reskript Trajans als auch in dem von Severus und Caracalla bei Marcian war eindeutig festgelegt worden, dass kein Abwesender in einem Strafprozess verurteilt werden darf. Und dieses Prinzip galt nicht nur für Prozesse des ordo, sondern gerade auch für die extra ordinem. Für diese weite Geltung sprechen der Wortlaut und der Zusammenhang, in dem die Reskripte bei den sie überliefernden Juristen angeführt sind. In de officio proconsulis von Ulpian ging es um die cognitio extra ordinem in Strafsachen vor dem Statthalter und auch Marcians de iudiciis publicis behandelte nicht mehr das Verfahren vor den quaestiones, sondern ebenfalls das der cognitio extra ordinem, wie unter anderem aus der Behandlung der außerordentlichen Verbrechen im zweiten Buch seines Werkes hervorgeht.523 Ulpian entwickelte nun eine Ausnahme vom Verbot der Verurteilung Abwesender:524 Gegen den Ungehorsamen, den contumax, der weder auf Aufforderungen (durch den Ankläger)525 noch auf Ladungen durch Edikt des Statthalters hin vor Gericht erschienen sei, könne wie im Zivilprozess auch526 ein Urteil gesprochen werden.527 Im provinzialen Strafprozess wur243 n. Chr.) und PS 5, 5A, 9, jeweils beschränkt auf Abwesenheit in Prozessen über Kapitalverbrechen. 523 Dies gegen Brasiello, Sull’assenza, S. 11 ff., der für seine Ansicht, der Grundsatz habe nur im ordo gegolten, wenig überzeugende terminologische Beweise anführt (der Ausdruck crimen in D. 48, 19, 5 pr. deute auf ein Verfahren vor den Quästionen, vgl. aber nur crimen stellionatus oder crimen expilatae hereditatis, außerordentliche Verbrechen, die nie vor den Quästionen verhandelt wurden; ebenso wenig stimmt, dass damnatio nur für den Abschluss ordentlicher Verfahren gebraucht worden wäre. Marcian verwendet den Ausdruck offenbar in Abhängigkeit von Ulpian). Vgl. zum Inhalt von Marcians de iud. publ. nur Lenel, Pal. I, col. 565 ff. und Liebs, HLL 4 (1997) § 428. 1, S. 202. 524 D. 48, 19, 5 pr. ab Satz 3. Die Passage war nicht Bestandteil des Trajan-Reskriptes. Vgl. auch Brasiello, Sull’assenza, S. 11. 525 Zum Meinungsstreit über den privaten, halbamtlichen oder amtlichen Charakter der denuntiationes vgl. Boyé, La denuntiatio, S. 199 f.; Aru, Il processo, S. 133 f.; Kaser, Rez. Provera, S. 171. Zusammenfassend Kaser/Hackl, Röm Zivilprozessrecht, S. 472 f. 526 Secundum morem privatorum iudiciorum ist hier nicht als Zivilprozess im Verfahren des ordo zu verstehen, da das Versäumnisverfahren gegen den contumax in der cognitio extra ordinem entwickelt worden war (vgl. grundlegend Steinwenter, Versäumnisverfahren, S. 105 ff.). Vielmehr meinte der Ausdruck hier allgemein den Zivilprozess im Gegensatz zum Strafprozess (so auch Hartmann, Contumacialverfahren, S. 153 f. und ihm folgend Boyé, La denuntiatio, S. 201; Aru, Il processo,

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de also eine Regel angewendet, die für die Kognition im Zivilprozess entwickelt worden war. Dem Statthalter, der sowohl in Straf- wie in Zivilsachen im Rahmen der Kognition selbst entschied, musste die contumacia im Strafprozess und im Zivilprozess vergleichbar erscheinen, zumal auch im Strafprozess Geld- oder Ehrenstrafen verhängt werden konnten, also oft auch die Rechtsfolgen der Säumnis vergleichbar waren. Es lag also nahe, das Versäumnisverfahren des Zivilprozesses auf den Strafprozess zu übertragen. Mithin ist nicht auszuschließen, dass in der Gerichtspraxis in bestimmten, mit einem Zivilprozess vergleichbaren Fällen vom weiten Wortlaut des Trajan-Reskripts abgewichen, es einschränkend interpretiert wurde, so oft ein Strafprozess gegen Abwesende gerechtfertigt erschien. Man muss also nicht annehmen, das Reskript Trajans habe von vornherein nicht alle Strafprozesse erfasst, sondern nur die, in denen der Angeklagte nicht contumax war. Denn dann hätte Ulpian nicht so aufwändig argumentiert. Wann genau sich die Praxis, das Versäumnisverfahren des Zivilprozesses auch auf den Strafprozess zu übertragen, herausgebildet hatte, lässt sich nicht eindeutig bestimmen; sie war aber bereits für Papinian selbstverständlich.528 Sie könnte auch mit der Entwicklung der adnotatio requirendi in Zusammenhang gebracht werden, der Aufnahme eines abwesenden Beschuldigten, gegen den kein Verfahren stattfinden konnte529, in eine Liste von Gesuchten. Sie sollte ihn dazu bewegen, sich innerhalb eines Jahres dem Gericht zu stellen; anderenfalls werde das Vermögen vom Fiskus konfisziert.530 Diese Vorgehensweise ist bereits für Trajan bezeugt und auch S. 133 Fn. 123). Auch iudicium publicum wurde zur Zeit Ulpians nicht mehr zur Bezeichnung des Verfahrens im ordo, sondern allgemein für den Strafprozess gebraucht, vgl. nur die Werke de iudiciis publicis von Paulus und Marcian. 527 Vgl. zum contumax die Definition bei Hermogenian (1 iur. epit.) in D. 42, 1, 53 § 1. Zum Ablauf des Versäumnisverfahrens vgl. D. 5, 1, 68–73 und Coenraad, Het beginsel, S. 147 ff. 528 D. 48, 1, 10 (2 def.): Inter accusatorem et reum cognitione suscepta excusatio pro absente iustis rationibus admittitur: nec per triduum per singulos dies ter citatus reus damnetur (. . .). 529 Die Möglichkeit der adnotatio zeigt im Übrigen, dass bereits der Beginn des Prozesses bei Abwesenheit des Angeschuldigten verboten war und nicht nur das Urteil selbst (vgl. Lauria, Accusatio, S. 291 Fn. 126–128 gegen Wlassak, Anklage, S. 56 f.), denn der Gesuchte konnte nicht in die Liste der rei eingetragen werden. Das ergibt sich, wie dargelegt, bereits aus den Schilderungen Ciceros, der für die Abwesenheit immer die nominis receptio als entscheidenden Zeitpunkt nannte. 530 Vgl. zur adnotatio D. 48, 17, 1 §§ 1 ff. (Marcian, 2 de iud. publ.). Zwar bezog Marcian die adnotatio nur auf schwere Verbrechen, doch scheint das erst jüngeren Datums zu sein, um die Geltung des Verbots, Abwesende zu verurteilen, auf kapitale Fälle zu beschränken.

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Antoninus Pius erwähnte sie ganz selbstverständlich.531 Sie war das Gegenstück zu dem Prinzip, in einem Strafprozess keinen Abwesenden zu verurteilen, denn dieser Grundsatz sollte nicht dazu führen, dass gegen einen Abwesenden nichts unternommen wird. Die adnotatio war aber zu hart, wenn die zu erwartende Strafe weit unter den mit Vermögenskonfiskation verbundenen Strafen lag. Außerdem bedeutetete sie großen Verwaltungsaufwand für den Statthalter.532 Es lag daher nicht fern, in leichteren Fällen, statt zu adnotieren, auf die Regeln der contumacia im Zivilprozess zurückzugreifen.533 Wie aus Ulpians Fragen zur Anwendung der Regeln bei contumacia hervorgeht534, war noch nicht endgültig festgelegt worden, wann eine Ausnahme vom Verbot des Strafprozesses gegen Abwesende zu machen war. Auch das bei Marcian überlieferte Reskript von Severus und Caracalla betonte lediglich das Verbot der Bestrafung Abwesender, während Papinian zwar mit der Möglichkeit einer Verurteilung rechnet, ohne aber allgemein anzugeben, wann das der Fall wäre. Ulpian stellte hierzu nun allgemeine Richtlinien auf: Wenn schwerere Strafen drohten, und darunter versteht er, wie man unschwer aus der beispielhaften Aufzählung ersehen kann, die Kapitalstrafen, gelte der Grundsatz, dass ein Abwesender nicht verurteilt werden darf. Bei Geld- und Ehrenstrafen535 bis hin zu leichter Verbannung (relegatio), und damit erfasste Ulpian alle nichtkapitalen Strafen, durfte dagegen auch ein Abwesender verurteilt werden, wenn dieser sich wie ein contumax verhalten hatte.536 531

Vgl. Modestin (12 pand.), D. 47, 17, 5 § 2; Marcian, D. 48, 3, 6 § 1 (2 de iud. publ.), jeweils ohne Beschränkung auf kapitale Fälle. 532 Vgl. D. 48, 17, 1 § 2 (Marcian, 2 de iud. publ.): Schreiben an die Magistrate. 533 In diese Richtung auch Mer, L’accusation, S. 400, der dann aber Brasiello folgt und das Verfahren des ordo strikt von dem extra ordinem trennt, wenn auch mit gewissen Einschränkungen (S. 397 ff.). Coenraad, Het beginsel, S. 142 ff. übersieht die mögliche Verbindung, u. a. weil sie die angeführten Texte nicht in ihrer chronologischen Abfolge untersucht. 534 Es gibt keinen stichhaltigen Grund, an quid igitur usw. zu zweifeln, wie Brasiello, Sull’assenza, S. 18 ff. es tut. 535 Zu den Strafen, die die existimatio betreffen, vgl. D. 50, 13, 5 § 2 (Callistratus, 1 de cogn.): Minuitur existimatio, quotiens manente libertate circa statum dignitatis poena plectimur: sicuti cum relegatur quis vel cum ordine movetur vel cum prohibetur honoribus publicis fungi vel cum plebeius fustibus caeditur vel in opus publicum datur (. . .). 536 Der Statthalter hatte also den Sachverhalt wenigstens summarisch zu prüfen, um sich klar zu machen, welche Strafe zu erwarten war. Außerdem ist festzuhalten, dass es zur Zeit Ulpians zwar keine festen Strafen gab, aber doch einen Rahmen. Von einer völligen Ermessensfreiheit des Richters kann jedenfalls nicht gesprochen werden (anders Brasiello, Sull’assenza, S. 18).

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Ulpian präsentiert also eine klare und ausgleichende Lösung des Problems. Kurz vorher, nämlich 211 n. Chr., hatte Caracalla in einer epistula an einen Beamten hierzu festgelegt (CJ 9, 40, 1 pr.): Cum absenti reo gravia crimina intentantur, sententia festinari non solet, sed adnotari, ut requiratur, non utique ad poenam, sed ut potestas ei sit purgandi se, si potuerit.

Caracalla sah die adnotatio nur bei gravia crimina vor, ein Ausdruck, den auch Ulpian verwendete (er wird die epistula gekannt haben) und dann näher präzisiert hat. Außerdem verrät solet, dass schon bisher bei der Verurteilung Abwesender zwischen schweren und weniger schweren Verbrechen in dieser Weise unterschieden wurde, das aber noch nicht verbindlich festgelegt war. Nach Ulpian wurde die Unterscheidung danach, ob die zu erwartende Strafe kapital oder nicht kapital war, bald als feststehendes Recht behandelt.537 Ulpian hatte wieder einmal zu einer Verrechtlichung des Strafverfahrensrechts beigetragen. bb) Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung In D. 48, 19, 5 pr. führte Ulpian noch ein zweites Reskript Trajans an einen Adsidius Severus538 an, worin es hieß, dass niemand allein aufgrund eines Verdachtes verurteilt werden dürfe. Es sei besser, einen Schuldigen straflos zu lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Trajan sprach hier einen wichtigen Grundsatz des Strafverfahrens aus.539 Einerseits das Verbot der Verdachtsstrafe: Eine Straftat musste nachgewiesen werden und durfte nicht auf bloße Mutmaßungen oder eine subjektive Überzeugung gestützt werden. Kehrseite dieses Grundsatzes ist die Unschuldsvermutung; auch sie soll den Unschuldigen schützen. Der Strafanspruch des Staates musste 537 So Marcian, D. 48, 17, 1 § 1, der sich bis in die Wortwahl an Ulpian anlehnt. Das deutet aber nicht auf Interpolation, sondern kann ebensogut daran liegen, dass Marcian Schüler Ulpians war (Honoré, Ulpian, S. 136 f.; Liebs, HLL 4 (1997) § 428.1, S. 201) und seine Schriften gut kannte. Ansprechend vermutet Mommsen, ad h. l. Fn. 24, dass der Abschnitt über die Folgen bei zu verhängenden nichtkapitalen Strafen im Werk Marcians von den Kompilatoren gestrichen wurde; in diesem Sinne auch Coenraad, Het beginsel, S. 140 f. Vgl. auch CJ 9, 2, 6 (Gordian, 243 n. Chr.), der diese Grundsätze sogar als vetus ius bezeichnet, und PS 5, 5A, 9. 538 Auch über ihn ist nichts bekannt; er wird ein als Strafrichter tätiger Beamter gewesen sein. PIR2 I A Nr. 107, S. 17 hält den Gentilnamen für verfälscht und schlägt statt dessen Annidius Severus vor, der aus einer Inschrift bekannt ist (CIL VI 9146). Diese Identifizierung ist aber unsicher, zu eindeutig Hanslik, Art. Annidius Severus, S. 87: Consular trajanischer Zeit. 539 Zur „Gerechtigkeit“ Trajans, die u. a. auch in seinen Maßnahmen zum Strafrecht zum Ausdruck kam, vgl. auch Wolf, Politik, insbes. S. 22 f., aber ohne jede Quellenangabe.

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dahinter zurückstehen. Die letztgenannte Maxime ist nahezu wortgleich schon bei Aristoteles anzutreffen540, doch gebührt Trajan das Verdienst, den Grundsatz für das römische Strafrecht einprägsam formuliert zu haben.541 Häufig wird aufgrund dieses Reskripts gesagt, der Grundsatz in dubio pro reo habe bereits im römischen Strafrecht gegolten.542 In der Tat kann man in der Regel in dubio pro reo eine weitere Zuspitzung der trajanischen Maxime für den Praktiker erblicken, wodurch dessen Zweifelssituation zur Sprache kommt.543 Zur Ausformulierung der Regel in dubio pro reo fehlte im römischen Strafprozessrecht der Kaiserzeit nur ein kleiner Schritt.544 cc) Verbindung der dargestellten Reskripte Schließlich ist zu fragen, welches wohl der beide Reskripte Trajans verbindende Gesichtspunkt für Ulpian war, der sie unvermittelt nebeneinander anführte. Ein abwesender Angeklagter konnte sich nicht oder nur unzureichend verteidigen und konnte deshalb oft letztlich nur auf Verdacht aufgrund der durch die Anklage vorgebrachten und ohne den bestmöglichen Widerspruch hingenommenen Anschuldigungen verurteilt werden.545 Das 540 Aristoteles, Physica 29, 13, dort insbes. 951 a, Z. 36–951 b, Z. 3: ñti d˚ _ _ _ _ m allon _ån proÍloito tou ÷dikoutoò ÷poyhfûsasqai ¼ò ožk Òkastoò êmwn _ _ _ _ ÷dike i í tou mh½ ÷dikountoò katayhfûsasqai ¼s ÷dike i, o Áon eŁ tiò feŸgei douleûaò í ÷ndrofonûaò. Wie am Ende des Textes klar gesagt wird, gilt diese Regel nicht nur in Freiheitsprozessen, sondern auch bei Mord, d.h. auch in Strafprozessen; unzutreffend Holtappels, Entwicklungsgeschichte, S. 3 Fn. 11. 541 Unzutreffend Holtappels, Entwicklungsgeschichte, S. 2, der meint, das Reskript des Kaisers habe nur einen Einzelfall geregelt und könne nicht verallgemeinert werden. Die Reskripte der Kaiser hatten Bedeutung über den Einzelfall hinaus, wie schon aus der Anführung des Reskripts durch Ulpian hervorgeht. 542 So vor allem Mommsen, Strafrecht, S. 435 f.; auch Wacke, Audiatur et altera pars, S. 391. Eindeutig festgelegt ferner Flashar, Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 19: Problemata Physica, 1962, S. 707 zur Aristoteles-Stelle. 543 Vgl. Holtappels, Entwicklungsgeschichte, S. 2 f., nach dem auch aus D. 42, 1, 38 (Paulus 17 ad ed.), 50, 17, 155 § 2 (Paulus, 65 ad ed.) und D. 48, 19, 42 (Hermogenian, 1 iur. epit.) für das Strafrecht nichts anderes geschlossen werden kann. Ebenso, aber für das römische Recht nicht sehr ergiebig Holzhauer, Art. In dubio pro reo, S. 350 ff. Auch bei Aristoteles, Physica 29, 13 werden nur Gründe für die Besserstellung des Angeklagten aufgezählt, nicht aber von einer Zweifelssituation gesprochen. 544 Im Zivilprozess war die Entwicklung dagegen schon weiter, vgl. D. 50, 17, 56 (Gaius, 5 ad ed. pr. urb.), wo der Zweifel ausgesprochen ist, und auch D. 50, 17, 125 (Gaius, 5 ad ed. prov.). 545 So Wacke, Audiatur et altera pars, S. 391; auch Brasiello, Sull’assenza, S. 15 Fn. 32, der einen solchen Gedankengang Ulpian aber nicht zutraut und das zweite Reskript als kompilatorische Einfügung betrachtet.

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Verbot der Verdachtsstrafe ist also der tiefere Grund für das Verbot der Verurteilung eines Abwesenden. Und beides dient letztlich dem Schutz Unschuldiger. Bei Abwesenden war die Gefahr, einen Unschuldigen zu verurteilen, besonders groß. Ulpian hat die ethische Grundlage der konkreten Anordnung Trajans über abwesende Angeklagte klar herausgestellt. b) D. 48, 19, 5 § 1: Abwesende Ankläger In accusatorem autem absentem nonnumquam gravius statuendum, quam Turpilliani senatus consulti poena irrogatur, dicendum est.

Nach Behandlung der Abwesenheit des Angeklagten behandelte Ulpian auch den Fall des abwesenden Anklägers. Ulpian schärfte dabei dem Statthalter ein, dass der abwesende Ankläger bisweilen schwerer bestraft werden müsse als im Turpillianischen Senatsbeschluß vorgesehen war. aa) Das SC Turpillianum Das SC Turpillianum von 61 n. Chr.546, das einen Vorläufer in einem nicht mehr verifizierbaren Senatsbeschluss aus der Regierungszeit des Claudius hatte547, regelte unter anderem den Fall der so genannten tergiversatio, d.h. des endgültigen Abstehens von einer Anklage, ohne vom zuständigen Magistrat Abolition, Niederschlagung des Vefahrens, erlangt zu haben.548 Da ein wirkliches Abstehen von der Anklage nur im Willensbereich des Anklägers feststellbar war549, mussten Situationen festgelegt werden, in denen ein solcher Wille des Anklägers angenommen werden konnte. Dafür kam insbesondere die Versäumung von Fristen in Betracht, die vom zuständigen Magistrat für die Sammlung der Beweise oder das Erscheinen im 546 Der Zeitpunkt kann v. a. aus Tac. Ann. 14, 41 geschlossen werden, der die Hintergründe der Entstehung des SC Turpillianum beschreibt. Vgl. zum mutmaßlichen Inhalt des SC nur Purpura, Il papiro, S. 243 ff.; Fanizza, Delatori, S. 43 ff. 547 Die oratio des Claudius ist erhalten in BGU 611, insbes. col. II, Z. 11 – col. III, Z. 9. Vgl. dazu insbes. Stroux, Eine Gerichtsreform, insbes. S. 48 ff.; von Woess, Die oratio, S. 354 ff.; Purpura, Il papiro, S. 219 ff. 548 Vgl. nur D. 48, 16, 1 § 1 (Marcian, l. s. ad SC Turpillianum): (. . .) tergiversari (est) in universum ab accusatione desistere; 48, 16, 1 § 7 (Marcian, l. s. ad SC Turpillianum): si quis autem ab accusatione citra abolitionem destiterit, punitur; daneben noch D. 48, 16, 15 pr. (Macer 2 iud. publ.); 50, 2, 6 § 3 (Papinian 1 resp.); 48, 16, 13 (Paulus, 3 de adult.); CJ 9, 45, 1 (Caracalla, eventuell Marc Aurel, dazu s. o. Fn. 368). Zu Form und Inhalt der abolitio vgl. D. 48, 16, 8–10 und Fanizza, Delatori, S. 57 ff. 549 Vgl. D. 48, 16, 6 § 1 (PS 1): Animo ab accusatione destitit, qui affectum et animum accusandi deposuit; 48, 16, 13 pr. (Paulus 3 de adult.): Destitisse eum accipiemus, qui in totum animum agendi deposuit, non qui distulit accusationem.

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

Prozess gesetzt worden waren. Das hatte bereits Claudius in der oratio von BGU 611 als Beispiel für die „Tyrannei der Ankläger“ festgehalten.550 Auf absentia des Anklägers im Prozess war das SC Turpillianum also ausdrücklich eingegangen, stellte sie doch einen der Hauptfälle von Fristversäumnis dar, die auf tergiversatio schließen ließen.551 Einzige Strafe, die der Senatsbeschluss vorsah, war wie bei calumnia die Infamie.552 Noch in der späten Republik wurde das Abstehen des Anklägers nicht eigens bestraft. Aus der Schilderung Ciceros im Prozess gegen Verres geht hervor, dass einzige Folge des Nichterscheinens des Anklägers zu dem vom Magistrat festgesetzten Verhandlungstermin gewesen sei, den Angeklagten aus der Liste der rei zu streichen.553 Auch beim Prozess des Sthenius vor Verres ließ Cicero mit keinem Wort anklingen, dass der Statthalter den abwesenden Ankläger Pacilius etwa unrechtmäßigerweise straflos gelassen habe; er beanstandete nur, dass Sthenius nicht aus der Liste der Angeklagten gestrichen wurde, was ihm in diesem Fall zugestanden hätte.554 Augustus ließ Angeklagte, deren Prozesse über lange Zeit verschleppt worden waren, aus den Angeklagtenlisten streichen, und drohte, den Ankläger zu bestrafen, wenn er diese Personen erneut anklagen würde.555 Dabei handelte es sich zwar um eine konkrete Maßnahme des Kaisers, doch 550 BGU 611 col. II Z. 14 f.: (accusatores) relincunt eos (i. e. reos) in albo pendentes et ipsi tanquam nihil egerint peregrinantur, und Col. III Z. 4 ff.: . . . ut potestatem faciamus praetori praeteritis inquisitionis diebus citandi accusatorem . . . Aus späterer Zeit D. 48, 16, 6 § 2 (PS 1, 14, 1): Destitisse videtur, qui intra praefinitum accusationis a praeside tempus reum suum non peregit. 551 Dies geht i. ü. schon aus D. 48, 19, 5 § 1 hervor, der nicht auf das SC Turpillianum verweisen würde, wenn nicht überhaupt die abwesenden Ankläger ursprünglich von dessen Strafdrohung erfasst gewesen waren. Dagegen sind die bei Fanizza, Delatori, S. 72 f. für die These der Abwesenheit im SC angeführten Texte, insbes. D. 48, 1, 13 (Papinian 15 resp.) und 49, 14, 2 § 3 (Callistrat 2 de iur. fisc.), nicht aussagekräftig, da sie andere Fälle der Abwesenheit behandeln und nicht unbedingt in Verbindung mit dem SC stehen mussten. 552 So bereits in der oratio Claudii, BGU 611 col III, Z. 8 f. und später in Plinius ep. 6, 31, 12 (Prozess vor dem Kaisergericht Trajans); D. 50, 2, 6 § 3 (1 resp.): (. . .) cum ex Turpilliano senatus consulto notentur ignominia veluti calumniae causa iudicio publico damnati; 48, 1, 10 (15 resp.); 48, 16, 11 (Papinian, l. s. de adult.). Unrichtig ist sicher die Strafe von quinque auri librarum bei Macer, 1 publ. iud. (D. 47. 15, 3 § 3), vgl. Levy, Anklägervergehen, S. 227. Zur Infamie (in früherer Zeit wird hauptsächlich ignominia gebraucht) vgl. Kaser, Infamia, S. 220 ff., insbes. S. 227 ff., S. 235 ff. 553 Cicero, in Verr. II, 2, 40, 99: (...) quo tempore omnis illa mea festinatio fuit cum periculo capitis, ob eam causam ne tu ex reis eximere si ego ad diem non adfuissem. 554 Cicero, in Verr. II, 2, 2, 40, 98 u. 99: cur Sthenio non putasti prodesse oportere, cum eius accusator non adfuisset? 555 Sueton, Aug. 32, 2.

II. Verfahren im regulären Strafprozess

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zeigt sie zum einen, dass tergiversatio in Strafprozessen nicht selten war; zum anderen kann sie als Wegbereiter der oratio Claudii (der sich in besonderer Weise in der Nachfolge des Augustus sah) und des SC Turpillianum gelten. bb) Fortbildung des SC Turpillianum im 2. und 3. Jh. n. Chr. Zur richtigen Einordnung von D. 48, 19, 5 § 1 ist nunmehr auf die Frage einer Fortbildung des SC Turpillianum im 2. und beginnenden 3. Jahrhundert einzugehen, wobei der ursprüngliche Anwendungsbereich des SC berücksichtigt werden muss. Das SC Turpillianum galt ursprünglich nur in den Verfahren vor den republikanischen Quästionen556, also für die eigentlichen iudicia publica, die auf die dieses Verfahren einführenden leges zurückgingen. Nach der immer stärkeren Zurückdrängung des Quästionenverfahrens im Laufe des 2. Jh. n. Chr.557 stellte sich mehr und mehr die Frage, ob und wie das SC Turpillianum in den Verfahren extra ordinem, also den Kognitionen der kaiserlichen Beamten angewendet werden sollte. Explizit auseinandergesetzt hat sich mit diesem Problem Macer im 2. Buch seiner libri publicorum iudiciorum: D. 48, 16, 15 § 1: An ad eos, qui hodie de iudiciis publicis extra ordinem cognoscunt, senatus consultum (sc. Turpillianum) pertineat, quaeritur; sed iam hoc iure ex sacris constitutionibus utimur, ut pertineat ita ut ex singulis causis singulae poenae irrogentur.558 556 Das ist aus den klassischen Juristentexten nur noch mittelbar zu schließen, da sich der Begriff des iudicium publicum im Laufe des 2. Jh. n. Chr. dahingehend geändert hat, dass damit nurmehr die in den leges iudiciorum publicorum beschriebenen Verbrechen bezeichnet wurden, unabhängig vom dort vor allem geregelten Verfahren vor den quaestiones, das immer mehr abgekommen war (zu den Texten s. sogleich). In der Mitte des 1. Jh. n. Chr. dagegen war das Verfahren der Quästionen jedenfalls in Rom noch weit verbreitet (vgl. Tacitus, Ann. 14, 41) und auch die oratio Claudii bezieht sich auf diese Verfahrensart, denn dort kommt der Prätor (BGU 611, col. III, Z. 6) als Vorsitzender der hauptstädtischen Quästionengerichte vor. 557 Bereits der zum SC Turpillianum führende Strafprozess gegen Valerius Ponticus bei Tacitus, Ann. 14, 41 zeigt die parallele Zuständigkeit der Magistrate extra ordinem (hier des Stadtpräfekten) bei durch die leges iudiciorum publicorum geregelten Verbrechen, hier Testamentsfälschung, Lex Cornelia testamentaria (Levys Einwände hiergegen, Anklägervergehen, S. 198 Fn. 2, überzeugen nicht). Für die Verfahren in Kapitalsachen ist diese Entwicklung auch bei Paulus, l. s. de iud. publ. (D. 48, 1, 8) abzulesen. 558 Weit reichende, aber unberechtigte Interpolationsvermutungen bei Volterra, D. 48, 16, 16 (er meint aber 15), 1, S. 279 ff. Grundfehler Volterras ist seine Annahme, Macer habe hier eigentlich über crimina extraordinaria handeln wollen. Betrachtet man den Titel (de publicis iudiciis) und die erhaltenen Fragmente des Werks (vgl. Lenel, Pal. I, col. 365 ff.), so muss man das verneinen.

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

Die Stelle ergibt zunächst einmal, dass der Begriff der iudicia publica seine Bedeutung gewandelt hatte. Jetzt, Anfang des 3. Jh. n. Chr.559, dient er nur mehr zur Bezeichnung der materiellen Straftatbestände, die in den verschiedenen leges iudiciorum publicorum geregelt waren, nicht aber mehr für das durch sie einst eingeführte Quästionenverfahren.560 Der Text bestätigt also die Ablösung des materiellen Rechts vom Verfahrensrecht, die es erlaubte, auch außerhalb des ursprünglichen Verfahrens des ordo die auf die iudicia publica bezogenen Regelungen weiter anzuwenden, eine elegante Interpretationsleistung, die es vermied, mit der Vergangenheit offen zu brechen. Macer führte noch eine weitere Neuerung an. Aus kaiserlichen Konstitutionen gehe hervor, dass bestimmte Strafen je nach Lage des Einzelfalls verhängt werden sollten. Dann muss auch die Anwendung des SC Turpillianum weiterentwickelt worden sein. Infamie war in der cognitio extra ordinem nicht mehr die einzige Rechtsfolge, sondern die Strafe lag im Ermessen des Kognitionsrichters. Letztlich wurde also nur noch der Tatbestand des desistere nach dem SC beurteilt, nicht mehr die dort bestimmte Rechtsfolge. Diese Entwicklung lag in den Fällen besonders nahe, die bisher nicht vom SC Turpillianum erfasst worden waren, also bei den außerordentlichen Verbrechen.561 Ulpian schreibt: D. 48, 16, 7 § 1 (8 disp.): Si stellionatum quis obiecerit vel expilatae hereditatis crimen et destitit, poenam senatus consulti Turpilliani non subibit, nec si furti vel iniuriarum; sed officio iudicis culpa eius coercebitur.

Bei den dargestellten crimina extraordinaria konnte also, wenn der Ankläger von der Anklage Abstand nahm, die poena senatus consulti nicht ausgesprochen werden; der Richter konnte ihn jedoch nach der Schwere seiner Schuld bestrafen.562 Die dadurch erzielbare Einzelfallgerechtigkeit wurde 559

Macer schrieb sein Werk kurz nach 210 n. Chr., vgl. Liebs, HLL 4 (1997) § 430.3, S. 214 f. 560 Vgl. zu diesem Bedeutungswandel auch D. 48, 1, 1 (wiederum Macer, 1 de publ. iud.). 561 Levy, Anklägervergehen, S. 228 u. S. 230 legt besonderen Wert auf die Feststellung, außerordentliche Verbrechen seien nie vom SC Turpillianum erfasst gewesen. 562 D. 48, 16, 7 § 1 ergibt übrigens einmal mehr, dass auch bei crimina extra ordinem der Anklagegrundsatz galt, da in einem Inquisitionsverfahren kaum von einem desistere irgendeiner Person gesprochen werden konnte. Vgl. dazu schon o. I. 1. d) und besonders D. 47, 2, 93 (Ulpian 38 ad ed.), der die zu bestrafende temeritas erwähnt, was zu der in D. 48, 16, 1 pr. (Marcian, l. s. ad SC Turp.) erwähnten accusatorum temeritas passt (so auch Balzarini, In tema, S. 278 ff. m. w. N.). Die strafprozessualen Regeln in Buch 7 de officio proconsulis beanspruchten wirklich allgemeine Geltung für alle Verbrechensarten. Der Begriff officio muss

III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung

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dann auch auf die iudicia publica übertragen. Rechtstechnisch ging man in diesen Fällen, wie die Texte von Macer in D. 48, 16, 15 § 1 und Ulpian in D. 48, 19, 5 § 1 zeigen, die auch die Straftaten der iudicia publica erfassten, so vor, dass man das SC Turpillianum nicht einfach analog anzuwandte, sondern die Strafe für Abstehen dem Ermessen des Statthalters überließ.563 Bei direkter Anwendung des SC Turpillianum, also bei den wirklichen iudicia publica, wo es weiterhin angewendet wurde564, blieb es also bei der Strafe der Infamie; sollte eine andere Strafe verhängt werden, konnte das nicht auf das SC gestützt werden.565

III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung Ulpian musste auch die Erörterung der einzelnen Verbrechen verständig ordnen, sollte das Werk seinen Zweck erfüllen, den Statthaltern bei ihrer praktischen Arbeit zu helfen. Auf den ersten Blick scheint er zunächst die Straftaten des ehemaligen ordo und danach die extra ordinem entwickelten Straftaten behandelt zu haben. Bei näherem Hinsehen verhält es sich aber nicht so einfach, da die Darstellung im neunten Buch, nach einigen außerordentlichen Verbrechen, nochmals auf Straftaten des ehemaligen ordo zurückkommt.566 Rudorff567 meint daher, Ulpian habe die Straftaten nach ihnicht auf ein Offizialverfahren bei Abstehen von der Anklage hindeuten, sondern kann ebenso die Amtsgewalt zur Festlegung der Strafe nach eigenem Ermessen bezeichnen, vgl. die Nachweise bei Heumann/Seckel, Art. Officium, 1 b), S. 388. 563 Levy, Anklägervergehen, S. 229 und danach Mer, L’accusation, S. 474 meinen, im Kognitionsverfahren wegen iudicia publica komme die außerordentliche Strafe zu der des SC hinzu. Diese Folgerung ist aber weder aus D. 48, 16, 15 § 1 ableitbar noch aus den anderen Texten. CJ 9, 45, 2 aus dem Jahr 239 n. Chr. kann nicht auf die klassische Zeit übertragen werden. Die Möglichkeit der Verhängung arbiträrer Strafen gegen den Abstehenden wurde in CJ 9, 1, 3 § 1 (222 n. Chr.) von Alexander Severus noch einmal betont. 564 D. 50, 2, 6 § 3 (Papinian, 1 resp.): Qui iudicii publici quaestionem citra veniam abolitionis deseruerunt, decurionum honore decorari non possunt, cum ex Turpilliano senatus consulto notentur ignominia veluti calumniae causa iudicio publico damnati; D. 47, 15, 3 § 3: Si ideo quis accusetur, quod dicatur crimen iudicii publici destituisse . . .; CJ 9, 45, 1: Is demum in senatus consultum incidisse videtur, qui crimen publici iudicii detulit . . . non impetrata abolitione ab exsecutione criminis destitit (wohl von Caracalla; dazu s. o. Fn. 368). 565 Was die von Macer zur Unterstützung seiner These zitierten Kaiserkonstitutionen betrifft, so spricht seine Vorliebe für Konstitutionen von Septimius Severus und Caracalla, die in den verbliebenen Fragmenten de publicis iudiciis festgestellt werden kann, am ehesten für diese Kaiser als Urheber auch jener anonym angeführten Konstitutionen. 566 Nämlich auf die Lex Iulia de annona sowie die Lex Fabia. 567 Über den liber, S. 249.

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

rer Schwere geordnet und im siebten Buch die schwereren Verbrechen, im achten die mittleren und im neunten die leichteren Tatbestände vorgestellt. Diese Annahme ist, wie die Untersuchung der erhaltenen Fragmente zeigen wird, vom Grundsatz her richtig. Nur die Übereinstimmung der Schweregrade mit den Buchgrenzen kann nicht bestätigt werden. Die Schwere der Tat war also zwar das Kriterium für die Abfolge der Gegenstände, die Buchgrenzen spielten dabei aber keine Rolle. So begann die Darstellung mit Straftaten, die regelmäßig kapitale Strafen nach sich zogen, und auch diese waren nach ihrer Schwere geordnet.

1. Straftaten nach der Lex Iulia peculatus a) D. 48, 13, 7 (6): Sacrilegium Sacrilegii poenam debebit proconsul pro qualitate personae proque rei condicione et temporis et aetatis et sexus vel severius vel clementius statuere. Et scio multos et ad bestias damnasse sacrilegos, nonnullus etiam vivos exussisse, alios vero in furca suspendisse. sed moderanda poena est usque ad bestiarum damnationem eorum, qui manu facta templum effregerunt et dona dei in noctu tulerunt. ceterum si qui interdiu modicum aliquid de templo tulit, poena metalli coercendus est, aut, si honestiore loco natus sit, deportandus in insulam est.

Der Text über den Tatbestand des sacrilegium ist in mehrerlei Hinsicht interessant. Zum einen bietet er Material zum juristischen Verständnis des sacrilegium am Anfang des 3. Jh. n. Chr., weil der Begriff hier eine andere Bedeutung hat als in der nichtjuristischen Öffentlichkeit. Ferner zeigt er, wie eine Straftat, die ursprünglich in einer republikanischen lex iudiciorum publicorum, der Lex Iulia peculatus, mitgeregelt war, im Rahmen der cognitio extra ordinem verselbständigt wurde. Schließlich beweist das Fragment mögliche Strafabstufungen, Kriterien zur Bestimmung einer Strafe und eine gewisse Lenkung des Ermessens durch den Juristen, wenn der Statthalter im Verfahren der cognitio Strafen zu verhängen hatte. aa) Bedeutungen von sacrilegium Wendet man sich nun der Bedeutung des Begriffs sacrilegium zu, so ist in den juristischen Quellen, die das sacrilegium explizit erwähnen, der Befund eindeutig. In D. 48, 13, 7 (6) werden als Beispiele für sacrilegium genannt: der mit mehreren gemeinsam durchgeführte Einbruch in einen Tempel mit Entwendung von Geschenken an die Götter zur Nachtzeit und die Wegnahme von geringwertigeren Dingen aus einem Tempel am Tage. Für die genaue Erfassung des sacrilegium-Tatbestandes sind außerdem folgende Texte einschlägig:

III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung

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D. 48, 13, 11 (9) § 1 (Paulus, l. s. de iud. publ.): Sunt autem sacrilegi, qui publica sacra compilaverunt. D. 48, 13, 6 (5) (Marcian, 5 reg.): Divus Severus et Antoninus Cassio Festo re-scripserunt, res privatorum si in aedem sacram depositae subreptae fuerint, furti actionem, non sacrilegii esse. PS 5, 19 (Tit. De sacrilegis): Qui noctu manu facta praedandi ac depopulandi gratia templum irrumpunt, bestiis obiciuntur. Si vero per diem leve aliquid de templo abstulerint, vel deportantur honestiores vel humiliores in metallum damnantur.568

Die Juristen des 3. Jh. n. Chr. verstanden also unter sacrilegium nur den Diebstahl von der Gottheit geweihten Gegenständen.569 568

Die auffällige Übereinstimmung des Sentenzentextes mit D. 48, 13, 7 (6) spricht sehr dafür, wie schon Liebs, Römische Jurisprudenz in Africa, S. 88, vermutet hat, dass der Sentenzenverfasser den Ulpiantext als Vorlage benutzt, dabei allerdings den Beginn der Strafbarkeit vorverlegt hat. 569 Mehr geht aus den Quellen nicht hervor, insbesondere nicht als weitere zwingende Voraussetzung, dass der Diebstahl in einem Tempel begangen worden sein musste, auch wenn das in der großen Mehrzahl der Fälle so gewesen sein wird und u. a. auch von Ulpian als Normalfall vorausgesetzt wurde. Der Jurist sprach zwar bei leichterem sacrilegium nur von aliquid de templo tulit, meinte damit aber sicher nicht die Fälle des Raubes privater Gegenstände aus dem Tempel, denn das Reskript in D. 48, 13, 6 (5) war ihm sicher bekannt gewesen. Diebstahl geheiligter Dinge an profanen Plätzen nimmt vom sacrilegium-Tatbestand dagegen aus z. B. Pfaff, Art. sacrilegium, S. 1678 unter Verweis auf D. 48, 19, 16 § 4 (Claudius Saturninus, l. s. de poenis paganorum): Locus facit, ut idem vel furtum vel sacrilegium sit. Dort handelte es sich aber wohl um keine juristische, sondern nur um eine rhetorische Bearbeitung des Stoffes (zu Claudius Saturninus, der vielleicht mit dem bei Tertullian cor. 7, 6 erwähnten commentator identisch ist, jedenfalls nicht hauptberuflich Jurist war, vgl. Bonini, D. 48, 19, 16, S. 119 ff. und Liebs, HLL 4 (1997) § 430.2, S. 213 f.). In D. 48, 19, 16 § 4 war bloß angegeben, wie grundsätzlich, nicht, wie in speziellen Fällen zu urteilen war, so sehr klar Gnoli, Rem privatam, S. 195 ff. (auch Ders., Ricerche, S. 112 f.). Auch Avenarius, Rez. Debinski, S. 755 u. Fn. 3 beruft sich auf diesen Text, um zu beweisen, dass Diebstähle heiliger Gegenstände an einem profanen Ort nicht erfasst gewesen seien. Interessanterweise stellt Debinski selbst, Sacrilegium, S. 74 f. gerade nicht auf diesen Text ab, sondern nur auf Cicero, de inv. 1, 8, 11; 2, 18, 55 und Martianus Capella, de arte rhet. 453. Diese Texte deutet Gnoli, Rem privatam, S. 155 ff. richtigerweise nur als rhetorische Überlegungen, nicht als rechtliche Voraussetzungen des sacrilegium. Die Notwendigkeit der consecratio und dedicatio der Gegenstände ergibt sich aus D. 1, 8, 6 § 3 (Marcian 3 inst.), aber auch schon aus Festus, Art. sacer mons, 424: Gallus Aelius ait sacrum esse quocumque modo atque instituto civitatis consecratum sit, sive aedis, sive ara, sive signum, sive locus, sive pecunia, sive quid aliud, quod dis dedicatum atque consecratum sit: quod autem privatis suae religionis causa aliquid earum rerum deo dedicent, id pontifices Romanos non existimare sacrum, sowie CJ 6, 2, 3 (Caracalla, 215 n. Chr.) und Inst. 2, 1, 8. Zum Problem der Geschenke an die Götter, die in D. 48, 13, 4 § 1 (Marcian 14 inst.) und 48, 13, 7 (6) klar zu Tatobjekten des sacrilegium gezählt wurden, aber nach Festus eigentlich nicht erfasst waren, eingehend Impallomeni, Sulla capacità, S. 250 ff., der auch die

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B. Untersuchung der Bücher 7 bis 9

Zwar sind die juristischen Quellen, die das sacrilegium definieren, für die Kaiserzeit nicht sehr zahlreich570, doch ihr Ergebnis wird anderweitig bestätigt: einerseits von der etymologischen Entwicklung des Begriffs sacrilegium571, andererseits durch eine große Zahl literarischer Quellen von der Republik bis in die hohe Kaiserzeit, unter anderem von Cicero, Seneca, Quintilian und Julius Victor572, die sich häufig mit dem sacrilegium in der Bedeutung eines Diebstahls der Gottheit geweihter Gegenstände beschäftigten. Neben dieser allgemein anerkannten Bedeutung von sacrilegium hat sich früh eine andere Bedeutung des Wortes herausgebildet. Es diente auch als dona dei unter die res sacrae fallen lässt, insbes. mit Verweis auf die Lex Furfensis, 7 f. (FIRA III Nr. 72, S. 226). Ihm folgend Gnoli, Ricerche, S. 110 f. Ob tatsächlich die Lex Iulia auch die privaten Geschenke an die Götter umfasste, geht allerdings nicht so klar aus den angeführten Texten hervor, vielmehr spricht die Trennung von pecunia sacra und dona dei sowie die bloße Übertragung der poena peculatus auf die Göttergeschenke in D. 48, 13, 4 pr. u. § 1 eher für eine spätere Erweiterung des Tatbestandes. Diese beruhte auf der Vergleichbarkeit von pecunia sacra und dona dei auch ohne ausdrückliche Weihung der letzteren. 570 Das hing, wie wir sehen werden, damit zusammen, dass der Tatbestand des sacrilegium zunächst nur unselbständig in der Lex Iulia peculatus enthalten war. 571 Diese Entwicklung wird sehr klar dargestellt von Debinski, Sacrilegium, S. 37 ff., Gnoli, Rem privatam, S. 163 ff. und grundlegend von Benveniste, Sacrilegus, S. 49 ff. Der Terminus zerfällt in die beiden Begriffe sacrum und legere, wobei legere hier im Sinne von stehlen/rauben zu verstehen ist. So schreibt Nonius Marcellus (Grammatiker des 4./5. Jh. n. Chr.) in Zusammenhang mit der Erläuterung des Wortes legere: legere subripere significat: unde et sacrilegium dicitur, id est: de sacro furtum (De compendiosa doctrina, 523 oder 332, 35). Modifiziert in der Rhet. ad Herr. 2, 30: maius esse maleficium stuprare ingenuam quam sacrum legere und bei Horaz, serm. 1, 3, 115–117: nec vincet ratio hoc, tantundem ut peccet idemque/qui teneros caules alicui fregerit horti/et qui nocturnus sacra divom legerit. In die gleiche Richtung führt auch der Weg, der den Terminus sacrilegium als lateini_ sche Übernahme des griechischen Terminus Áerosulûa ansieht, da das Verb sul an _ die Bedeutung rauben/stehlen hat, vgl. Latte, Art. Sul an, S. 1035 ff. Zur Grundbedeutung von sacrum i. S. von Heiliges oder Gott Geweihtes vgl. nur Georges II, Art. sacrum, S. 2441. 572 Vgl. die nahezu erschöpfende Aufzählung bei Gnoli, Rem privatam, S. 152 ff.; Ders., Sen., Benef., S. 403 ff.; Debinski, Sacrilegium, S, 41 ff. Beispielhaft Cicero, de leg. 2, 9, 22: Sacrum sacrove commendatum qui clepserit rapsitve, parricidas esto; de leg. 2, 16, 40: Sacrilego poena est, neque ei soli qui sacrum abstulerit, sed etiam ei qui sacro, commendantum aliquid rapuerit; Seneca, de benef. 7, 7, 4: Quomodo ergo sacrilegus videtur, qui aliquid aufert sacri; Quintilian, Inst. orat. 7, 3, 10: sacrilegium est rem sacram de templo surripere; 7, 3, 24: nam est sacrilegium subripere aliquid sacri; Julius Victor, Ars rhet. 3, 3: „Sacrilegium illud est, quia de sacro loco vas ablatum est: sacrilegium illud non est, quia non sacrum vas ablatum est.“ (vgl. zum Streit über die Erstreckung des sacrilegium auf Diebstahl privater Sachen aus einem heiligen Ort, worum es in diesen Texten oft geht, erschöpfend Gnoli, Rem privatam, S. 172 ff.).

III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung

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allgemeines Schimpfwort ohne rechtlichen Hintergrund, das in etwa mit „Religionsfrevel“ übersetzt werden kann. Mit diesem Inhalt gebrauchten bereits Terenz und Livius das Wort573, vor allem aber Tertullian, zumal in seinem Apologeticum von 197 n. Chr. und in ad Scapulam aus dem Jahr 212 n. Chr.574 Allein aufgrund der Verwendung von sacrilegium durch Tertullian wurde die These entwickelt, die Christen seien juristisch wegen sacrilegium verurteilt worden. Tertullian schrieb nämlich:575 „Deos“, inquitis, „non colitis et pro imperatoribus sacrificia non penditis.“ (. . .) Itaque sacrilegii et maiestatis rei convenimur. Summa haec causa, immo tota est.

Bei seiner Zurückweisung gegen die Christen erhobener Anschuldigungen war Tertullian im zehnten Kapitel des Apologeticum beim Höhepunkt der Vorwürfe angelangt: Den Göttern würden keine Ehren erwiesen, den Kaisern nicht geopfert und deshalb würden die Christen wegen sacrilegium und maiestas angeklagt. Diese Aussage scheint tatsächlich darauf hinzudeuten, dass sacrilegium im Sinne von Religionsfrevel juristische Grundlage für die Verfolgung der Christen war. Eine solche isolierte Betrachtung der Stelle im Apologeticum ist allerdings unzulässig. Tertullian hatte das Werk zwar als fiktive Gerichtsrede vor den Statthaltern der römischen Provinzen aufgebaut und musste schon deshalb juristische Grundlagen für die zu entkräftenden Vorwürfe finden, doch wandte er sich mit seiner Verteidigungsrede letztlich an die heidnische Bevölkerung des römischen Reiches.576 Ungenauigkeit bei der technischen Bezeichnung der Vorwürfe gegen die Christen war daher nicht nur möglich, sondern beim sacrilegium sogar wahrscheinlich. Denn in der Bevölkerung wurde diesem Wort eine andere als die juristische Bedeutung beigemessen. So sprach Tertullian auch häufig von der maiestas der Götter, die verletzt werden konnte;577 umgekehrt gebrauchte er sacrilegium auch für Verletzung der Ehren für den Kaiser578 und deos non colere umschrieb er mit den Worten crimen laesae religionis, intentatio laesae divinitatis oder irreligiositas.579 Tertullian hat sacrilegium als nur vorgeschobene juristische Grundlage der Christenverfolgungen in seiner Verteidigungsrede gewählt und 573

Terenz, Eunuchus 5, 3, 2 f.: Quid nam, qui referam sacrilego illi gratiam/Qui hunc supposuit nobis?; Adelphoe 3, 2, 6: Hocine saeclum! o scelera! o genera sacrilega! o hominem impium!; Livius 4, 20, 7: prope sacrilegium ratus sum Cosso spoliorum suorum Caesarem (. . .) subtrahere testem. 574 Zur Datierung der Werke vgl. o. I. 4. g). 575 Apol. 10, 1. 576 Vgl. zu den wahren Adressaten des Apologeticum Becker, Tertullians Apologeticum, S. 290 mit Hinweis auf Apol. 9, 6 und 49, 4. 577 Apol. 15, 3; 23, 9; 24, 3; 25, 5. 578 Apol. 35, 5; auch schon ad nat. I, 17, 5. 579 Apol. 24, 1; 27, 1; 24, 2 u. 6; 25, 14.

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schillerte mit verschiedenen Bezeichnungen für das Verbrechen verletzter Religion. Auch zur Zeit Tertullians war ein solches Verbrechen in keiner Weise festgelegt, es gab keinen stehenden Begriff oder speziellen Tatbestand, um Fälle eines irgendwie gearteten crimen laesae religionis zu verfolgen.580 Schließlich spielte Tertullian noch eine weitere Trumpfkarte aus. Als Jurist581 war ihm die technische Bedeutung von sacrilegium bekannt; er hatte also leichtes Spiel, den Vorwurf der Massen an die Christen, sie würden sacrilegium begehen, zu widerlegen. Denn dass Christen den Göttern geweihte Gegenstände aus Tempeln stehlen würden, war schon deshalb unmöglich, weil sie die Tempel gar nicht betraten: Certe sacrilegi de vestris semper apprehendantur; Christiani enim templa nec interdiu norunt.582

Sehr klar drückte Tertullian die juristische Bedeutung von sacrilegium noch einmal in seiner Schrift an den Statthalter von Africa, Scapula, aus: Tamen nos, quos sacrilegos existimatis, nec in furto unquam deprehendistis, nedum in sacrilegio. Omnes autem qui templa despoliant, et per deos iurant, et eosdem colunt, et Christiani non sunt, et sacrilegi tamen deprehenduntur.583

Der Vergleich der beiden Textstellen beweist von Neuem, dass das Apologeticum primär an die heidnischen Massen, nicht wirklich an die Statthalter gerichtet war. In der Schrift an Scapula wurde der Vorwurf des sacrilegium mit seiner juristisch-technischen Bedeutung entkräftet und in der Folge mit keinem Wort mehr erwähnt (mehr war diesbezüglich tatsächlich nicht zu sagen), während im Apologeticum in den Kapiteln 10 bis 28, 2, die dem Vorwurf des sacrilegium in seiner weiten Bedeutung nachgehen, mit dem juristisch exakten Sinn nur unter vielem anderen argumentiert ist. 580 Ein solches Verbrechen wurde in der frühen Kaiserzeit auch kaum erwähnt. Man stützt sich allein auf einen Bericht bei Tacitus, Ann. 3, 24, 2, wonach Augustus seine Tochter und Enkelin sowie deren Liebhaber wegen laesarum religionum ac violatae maiestatis verurteilt hatte. Zu der Stelle breit Bauman, The Crimen maiestatis, S. 198 ff., der die laesa religio in dem Bruch des Eides auf den Kaiser erblickt, von dem auch seine Familie erfasst gewesen sei. Zu denken wäre vielleicht auch mit Heinze, Apologeticum, S. 334 Fn. 2 an einen Bruch der confarreatio, die zur Zeit des Augustus fast nur noch im Kaiserhaus verbreitet war. Nächstes Zeugnis ist dann erst wieder eine Konstitution von Gordian aus dem Jahr 240 n. Chr. (CJ 9, 19, 1), wo es bezeichnenderweise auch um sepulchri violatio geht. Religionsverletzung wurde offenbar nicht eigens, sondern im Rahmen anderer Tatbestände miterfasst. 581 Liebs, HLL 4 (1997) § 417.2, S. 124 identifiziert ihn mit dem gleichnamigen Juristen. Tränkle, HLL 4 (1997) § 474, S. 439 f. hält dies dagegen für „nicht geradezu wahrscheinlich“. 582 Apol. 15, 7. 583 Ad Scap. 2, 3 f.

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Juristisch bezeichnete sacrilegium auch noch im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. allein den Diebstahl von der Gottheit geweihten Gegenständen, was auch die literarischen Quellen in der Mehrzahl der Fälle bestätigten. Das daneben existierende weite Verständnis von sacrilegium im Sinne von „Religionsfrevel“ war zwar in der Bevölkerung verbreitet, hatte aber damals noch keinen Niederschlag in den juristischen Quellen gefunden.584 bb) Ursprünglicher Ort des sacrilegium in der Lex Iulia peculatus In den juristischen Quellen wurde der Begriff sacrilegium nur deshalb spärlich verwendet und kaum definiert, weil der Diebstahl von der Gottheit geweihten Gegenständen schon seit der Republik kein eigenständiges Verbrechen war, sondern nur eine Begehungsweise des peculatus, der in der Lex Iulia peculatus und vorangehenden Gesetzen zum Pekulat geregelt war.585 In der Lex Iulia war bestimmt, was aus D. 48, 13, 1 (Ulpian 44 ad Sab.), wo der ursprüngliche Tatbestand der Lex wiedergegeben ist586, hervorgeht: ne quis ex pecunia sacra religiosa publicave auferat.587

Pecunia meint hier nicht nur Geld im engeren Sinne, sondern jeden vermögenswerten Gegenstand, der eine der genannten Qualifikationen aufwies588 und somit auch die res sacra, Kennzeichen des sacrilegium.589 584 Erstaunlicherweise ist das Phänomen der doppelten Bedeutung auch beim griechischen Pendant des sacrilegium, der Áerosulûa des griechischen Rechts, festzustellen. Neben der eigentlichen Bedeutung „Diebstahl geweihter Gegenstände“ traf man auch hier manchmal auf die allgemeine Bedeutung „Religionsfrevel“. Vgl. dazu breit und mit vielen Quellenangaben Cohen, Theft, S. 95 ff. Auch Dio 45, 1 gebraucht Áerosulûa in der weiteren untechnischen Bedeutung. 585 Zur Frage von Vorläufern der Lex Iulia und ihrer Datierung ausführlich Gnoli, Ricerche, S. 13 ff., der keine genauere Angabe als ein Datum zwischen 59 und 17 v. Chr. für möglich hält, während Debinski, Sacrilegium, S. 45 Fn. 30 das Jahr 8 v. Chr. für wahrscheinlicher ansieht. 586 Bestätigt durch einen Abschnitt der Lex municipii Tarentini aus dem 1. Jh. v. Chr. in FIRA I, S. 166 ff., IX, 1: ne esse liceat neive quis, quod eius municipi pequniae publicae sacrae/religiossae est erit fraudato . . . 587 Vgl. auch D. 48, 13, 4 pr. (Marcian 14 inst.): Lege Iulia peculatus tenetur, qui pecuniam sacram religiosam abstulerit interceperit (das Fehlen der pecunia publica hängt wohl damit zusammen, dass Marcian in der Folge nur auf das inzwischen verselbständigte sacrilegium einging); D. 48, 13, 11 (9) § 2 (Labeo bei Paulus, l. s. de iud. publ.): Labeo . . . peculatum definit pecuniae publicae aut sacrae furtum . . . 588 Ausführlich darüber Gnoli, Ricerche, S. 61 ff., insbes. S. 70 f. mit Begründung aus den verschiedenen Fragmenten in D. 48, 13. 589 s. o. aa)

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Einen Tatbestand sacrilegium kannte der juristisch-technische Sprachgebrauch der späten Republik und frühen Kaiserzeit also gar nicht; auch der Diebstahl von pecunia sacra wurde als peculatus bezeichnet. Das Gesetz hieß folglich, wie die angeführten Texte zeigen, ursprünglich kurz Lex Iulia peculatus und nicht Lex Iulia de peculatu et de sacrilegis et de residuis, wie die Überschrift von D. 48, 13 zu ergeben scheint. Letztgenannter Titel ergab sich vielmehr aus einer Angleichung an die bei der Kompilation vorgefundene Tatsache, dass sich die ehemals unter dem Oberbegriff Pekulat zusammengefassten Tatbestände mittlerweile auseinander entwickelt hatten.590 Im nichtjuristischen Sprachgebrauch dagegen blieb der Ausdruck sacrilegium für den Diebstahl der Gottheit geweihter Gegenstände in der Republik und im Prinzipat präsent. cc) Verselbständigung des sacrilegium in der cognitio extra ordinem Im Laufe der Kaiserzeit verselbständigte sich der sacrilegium-Tatbestand vom nunmehr eng als Diebstahl von pecunia publica verstandenen Pekulat auch auf juristischer Ebene.591 Diese Ausdifferenzierung lässt sich in erster Linie mit der immer stärkeren Ausprägung der cognitio extra ordinem erklären, in der auch die leges des ehemaligen ordo flexibel gehandhabt werden konnten. Die zunächst noch weit reichende Ermessensfreiheit der in diesem Verfahren entscheidenden Magistrate führte zu Weiterentwicklungen des Strafrechts, um auf den konkreten Einzelfall besser reagieren zu können; auch Tatbestand und Rechtsfolgen der leges wurden davon erfasst. So war es möglich, Besonderheiten einzelner Tatbestände zu berücksichtigen, wie hier die im Laufe der Zeit entstandene Auffassung vom sacrilegium als des schwersten aller Verbrechen, wie sie D. 48, 4, 1 pr. zu entnehmen ist.592 Eine Abtrennung von der alten Lex war in dem neuen Verfahren einfacher. dd) Abstufungen und Obergrenzen der Strafen Auch die von Ulpian vorgesehene Abstufung der Strafen nach Lage des Falles ist mit der Entwicklung der cognitio extra ordinem in Verbindung zu bringen, da die festen Rechtsfolgen der alten leges durch Ermessensent590 Diese Entwicklung übersieht z. B. Robinson, Blasphemy, S. 362, aber auch Rotondi, Leges publicae, S. 453. 591 Eine auch räumliche Trennung begegnet dann in PS 5, 19 (de sacrilegis) und PS 5, 27 (Ad legem Iuliam peculatus), während Ulpian das Dach der Lex Iulia beibehalten hatte und weitere Tatbestände aus dem Bereich Pekulat im Anschluss an das schwerste Verbrechen (vgl. D. 48, 4, 1 pr., s. u. 2. a)) aufgeführt hatte, vgl. u. b). 592 Zu der Textstelle u. 2. a).

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scheidungen des Magistrats überlagert werden konnten. Aufgabe der Jurisprudenz war es nun, und das wird gerade auch in D. 48, 13, 7 (6) deutlich, die bis dahin freien Ermessensentscheidungen zu systematisieren und Anhaltspunkte für die Strafzumessung festzuhalten, um Leitlinien für die Entscheidung zu geben. So stellte Ulpian zunächst dar, nach welchen Kriterien die Strafe für sacrilegium bemessen werden sollte, nämlich nach Stand der Person, Lage der Sache, Ausführungszeit, Alter und Geschlecht des Täters. All diese Punkte waren in der alten Lex Iulia peculatus nicht berücksichtigt worden. Dort folgte auf die Verwirklichung des Tatbestandes, Diebstahl von pecunia sacra, kurzerhand eine bestimmte Strafe. Schon darin zeigt sich also die größere Einzelfallgerechtigkeit im Verfahren extra ordinem. Weil Ulpian Bewertungskriterien angibt, kann auch nicht von „Willkür“ und „absoluter Ermessensfreiheit“ des Statthalters in der cognitio extra ordinem gesprochen werden. Zwar sind die angegebenen Kriterien recht allgemein, doch boten sie trotzdem konkrete Anhaltspunkte, wodurch die verschiedenen Fälle stärker differenziert werden konnten; dahinter durfte der Statthalter nicht zurückbleiben. Die Berücksichtigung des Alters und des Geschlechts des Täters bei der Strafzumessung war beispielsweise ein großer rechtsstaatlicher Fortschritt. Ulpian beließ es aber nicht bei diesen allgemeinen Aussagen zur Strafbemessung, die im Rahmen jedes Tatbestandes Anwendung finden konnten593, sondern ging auch konkret auf die für sacrilegium zu verhängenden Strafen und auf Beispiele ein. Zunächst zeigte er, welche Strafen nach seinem Wissen für den Diebstahl geweihter Gegenstände bisher von den Statthaltern verhängt worden waren. Sie reichten von der damnatio ad bestias über die vivi combustio bis zur Kreuzesstrafe.594 Mit sed begann Ulpian dann, eigene Vorstellungen über die zu verhängenden Strafen zu entwickeln. Bei schwerem sacrilegium, das er beispielhaft durch einen von mehreren gemeinsam verübten Einbruch in einen Tempel zur Nachtzeit mit Wegnahme von Geschenken an die Götter definierte, könne man bis zu damnatio ad bestias gehen595, dagegen solle in leichteren Fällen, als Beispiel dient der Diebstahl geringfügiger Dinge aus dem Tempel bei Tage, gegen humiliores die poena metalli, gegen honestiores die deportatio verhängt werden. 593 Die Aufzählung allgemeiner Kriterien zur Strafzumessung unterstützt die These, sacrilegium habe am Beginn des materiellen Strafrechts in de officio proconsulis gestanden. Ulpian hatte gleich zu Beginn allgemeingültige Regeln festgelegt. 594 Zur Ersetzung der Kreuzigung durch die furca unter Konstantin, aufgrund deren auch die Kompilatoren crux weitgehend ersetzten, vgl. nur PS 5, 22, 1 gegenüber D. 48, 19, 38 § 2 und allgemein Liebs, Alexander Severus, S. 142 Fn. 188 m. w. N. 595 Zu dieser Bedeutung von moderare vgl. Brasiello, La repressione, S. 264 Fn. 43 mit Verweis auf die gleiche Verwendung in D. 5, 1, 72; 27, 2, 3 pr.

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Ulpian füllte also die von ihm aufgestellten allgemeinen Kriterien zur Strafbemessung mit Leben, so vor allem die Unterschiede nach Stand des Täters, Tatzeit und Lage der Sache; und er hielt mit dem eingangs nicht vorgezeichneten Merkmal der bandenmäßigen Begehung die Statthalter dazu an, auch weitere Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Die einst von der Lex Iulia peculatus vorgesehene einheitliche Strafe der interdictio aquae et ignis596 ist in der cognitio extra ordinem durch mannigfache andere Strafen ersetzt worden. Ulpian ging aber mit seiner Aussage noch weiter. Er wollte die Statthalter dazu anhalten, mildere Strafen als bisher zu verhängen und noch stärker mildernde Umstände zu berücksichtigen. Denn von den drei ihm bekannten bislang verhängten Strafen sollte im Höchstfall nur noch die damnatio ad bestias verhängt werden. Auf den ersten Blick scheint zwar die damnatio ad bestias nicht sehr viel milder als Kreuz und vivi combustio zu sein, da alle Strafen mit dem Tod des Verurteilten endeten. Die hier vertretene Lösung wird aber dann nachvollziehbar, wenn man zwei Fragmente berücksichtigt, die zeigen, dass sich auch bei den Todesstrafen im engeren Sinne mittlerweile eine Ordnung eingebürgert hatte, die die zum Tode führenden Strafen nach ihrer Schwere abstufte. Es handelt sich einmal um einen Text aus dem 6. Buch de cognitionibus von Callistratus (D. 48, 19, 28 pr.): Capitalium poenarum fere isti gradus sunt. summum supplicium esse videtur ad 597 damnatio. item vivi crematio (. . .). item capitis amputatio.

Zum anderen um PS 5, 17, 2: Summa supplicia sunt: crux, crematio, decollatio.

Beide Passagen behandelten die Kreuzesstrafe und die vivi crematio in der gleichen Reihenfolge. Enthauptung durch das Schwert598 folgte jeweils am Ende. Da die decollatio die mildeste Form der Todesstrafe war, wie aus literarischen Texten hervorgeht599, kann davon ausgegangen werden, dass Callistratus und der Sentenzenverfasser mit der schärfsten Form der Todesstrafe begannen und zur mildesten fortschritten. 596 Vgl. D. 48, 13, 3 (Ulpian 1 de adult.); in bestimmten Fällen war auch Verurteilung nur zu quadrupulum möglich, D. 48, 13, 15 (13), Modestin 2 de poen. Zur Straffolge der Lex Iulia unter Auswertung aller Quellen und bisherigen Ansichten Gnoli, Ricerche, S. 173 ff. 597 D. furcam. Vgl. dazu o. Fn. 594. 598 Zu dieser vgl. D. 48, 19, 8 § 1 (Ulpian 9 de off. proc.). 599 Vgl. nur Tert. ad Scap. 4, 8 (nur Enthauptung sei ursprünglich gegen die Christen festgelegt worden, nicht dagegen damnatio ad bestias oder vivicombustio); Laktanz, de mort. pers. 22; vgl. auch Mommsen, Strafrecht, S. 924; Ferrini, Diritto penale, S. 148.

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Von der damnatio ad bestias war in beiden Texten keine Rede. Das wird von manchen damit erklärt, dass die damnatio nur verhängt wurde, wenn Spiele anstanden und dann statt den schwereren Strafen der vivicombustio und des crux die damnatio gleichsam als Ersatzstrafe diente.600 Jedoch zeigen die juristischen Texte deutlich, dass oft ganz bewusst nur die damnatio verhängt wurde, nicht bloß als Ersatzstrafe.601 Als Beispiel sei nur das vorliegende Ulpianfragment genannt. Hier wurden damnatio, vivicombustio und crux völlig gleichwertig nebeneinander gestellt, wenn auch, wie der Fortgang der Stelle und die Reihenfolge der Aufzählung zeigt, die damnatio als mildere Strafe angesehen wurde. Spiele gab es im Übrigen in jeder Provinz in regelmäßigen Abständen, eine Verwahrung in Exekutionshaft bis dahin war problemlos möglich, ein weiterer Einwand gegen die Annahme, die damnatio ad bestias sei bloße Ersatzstrafe gewesen. Vielleicht fehlte die damnatio ad bestias in den beiden genannten Passagen, weil Callistratus nicht alle Arten von Todesstrafen aufzählen wollte, wie man aus fere schließen könnte;602 und im Text aus der Lex Romana Visigothorum könnte die damnatio, die im ursprünglichen Text der Paulussentenzen noch enthalten gewesen war, ausgefallen sein.603 Letzteres liegt umso näher, als auch der Sentenzenverfasser die damnatio ad bestias immer wieder als eigenständige Strafe für Verbrechen erwähnt hatte. Die damnatio ad bestias nahm also unter den Todesstrafen vom Schweregrad her gesehen eine Stellung zwischen vivi combustio und decollatio ein.604 Ulpian regte also sogar für die schwersten Fälle mildere Strafen an 600

So Ferrini, Diritto penale, S. 149. Für die damnatio als Ersatzstrafe kann auch nicht, wie Ferrini, Diritto penale, S. 149 u. Fn. 4 das tut, das Martyrium Polycarps, 12, 2 f. angeführt werden. Es ist nämlich nicht bekannt, ob der Statthalter, der Polykarp verurteilte, zunächst die damnatio angeordnet hatte. Im Text war nur davon die Rede, dass die heidnischen Massen vom Asiarchen forderten, Polykarp einem Löwen vorzuwerfen, der Statthalter scheint sich zu einer Strafe bis dahin aber noch gar nicht geäußert zu haben. Er mochte zwar grundsätzlich bereit gewesen sein, Polykarp zu den Tierspielen zu geben, erkannte aber nach der ablehnenden Äußerung des Asiarchen doch auf die vivi combustio. 602 So Bonini, I libri de cognitionibus, S. 87 Fn. 18: Dort auch noch der Verweis auf D. 48, 19, 28 § 15 im Fortgang der Stelle, wo die damnatio ad bestias eindeutig als Todesstrafenart erwähnt wird. Im Übrigen nennt Callistratus auch nicht die Strafe des Felssturzes, die erst Modestin als verboten erwähnt (D. 48, 19, 25 § 1 (12 pand.), ebenso wenig wie die culleus-Strafe (Modestin 12 pand., D. 48, 9, 9 pr.). 603 Davon geht auch Liebs in der mir zugänglichen Vorlage zu: Die pseudopaulinischen Sentenzen II aus, der den Text dort wie folgt ergänzt: Summa supplicia sunt: crux, crematio, bestiae; ultimum supplicium est gladium sive decollatio; im veröffentlichten Beitrag, S. 227, erscheinen die Ergänzungen aber nicht. 604 Zu diesem Ergebnis kommt auch Costa, Crimini e pene, S. 94 Fn. 1, ohne allerdings eine aus den Quellen hergeleitete Begründung dafür zu liefern. 601

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als bisher selbst für leichtere Formen von sacrilegium von den Statthaltern verhängt worden waren. Auch bei den leichteren sacrilegium-Fällen schlug Ulpian verhältnismäßig milde Strafen vor. Weder bei der poena metalli noch bei der deportatio kam der Delinquent ums Leben. Diese Aufschlüsselung der verschiedenen Strafen beim sacrilegium lässt Levy605 an eine spätere Bearbeitung des Abschnitts von sed bis insulam est denken. Dafür scheinen vor allem zwei andere Texte in den Digesten über die Strafen für sacrilegium zu sprechen: D. 48, 13, 11 pr. (Paulus, l. s. de iud. publ.): Sacrilegi capite puniuntur. D. 48, 13, 4 § 2 (Marcian, 14 inst.): et sic constitutionibus cavetur, ut sacrilegi extra ordinem digna poena puniantur.

Keiner der beiden Texte kann die Interpolations-Annahme stützen. Vielmehr beleuchten sie wiederum die Entwicklung des Delikts in der cognitio extra ordinem. Gewiss hatten kaiserliche Konstitutionen dabei zunächst einen Strafrahmen vorgegeben, nämlich, in Anlehnung an die Sanktionen der Lex Iulia peculatus: sacrilegi grundsätzlich capite zu verurteilen. Dabei muss man sich in Erinnerung rufen, dass diese Strafe nicht notwendig Todesstrafe war, sondern alle Strafen umfasste, quae ad capitis periculum pertinent, d.h. auch die poena metalli und die deportatio, Strafen, bei denen der Delinquent zwar nicht das Leben verlor, aber die Freiheit, also die bürgerliche Existenz.606 Dieses weite Verständnis der Kapitalstrafe bedeutete nun, dass auch bei Vorgabe einer Bestrafung capite in den kaiserlichen Konstitutionen trotzdem eine digna poena gefunden werden sollte, d.h. eine Strafe, die die Umstände des Einzelfalles berücksichtigte. Diese Vorgabe konnte von den Statthaltern immer noch ziemlich frei ausgefüllt werden. Hier schaltete sich aber dann die Jurisprudenz ein, im Fall des sacrilegium Ulpian. Er versuchte, Kriterien aufzustellen, wie eine digna poena im Rahmen einer Verurteilung capite gefunden werden konnte. Dabei bewegte er sich, wie wir gesehen haben, mit der poena metalli und der deportatio immer noch im Rahmen der Kapitalstrafe. Die vorgeschlagene Milderung bei Verhängung bestimmter Todesstrafen war also allein Ulpians Verdienst und zeigt deutlich die Einflussmöglichkeiten der Jurisprudenz auf die Umsetzung kaiserlicher Konstitutionen. Es besteht daher kein Grund, an der Echtheit des Textes zu zweifeln.607 605

Gesetz und Richter, S. 494. Definition der Kapitalstrafen bei Callistratus, D. 48, 19, 28 pr. u. § 1; D. 48, 19, 2 pr. (Ulpian 48 ad ed.). Zur poena metalli D. 48, 19, 8 § 4 (Ulpian, 9 de off. proc.); zur deportatio D. 48, 22, 6 pr. (Ulpian, 9 de off. proc.). 607 Auch Levy, Gesetz und Richter, S. 494 muss einräumen, dass eine kompilatorische Änderung wegen PS 5, 19 unwahrscheinlich ist. Abzulehnen ist der Gedanke, 606

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b) Weitere Taten nach der Lex Iulia peculatus Nach dem an erster Stelle als schwerstes Verbrechen überhaupt behandelten sacrilegium fuhr Ulpian mit anderen Taten fort, die mit der Lex Iulia peculatus zusammenhingen, aus der ja auch der Tatbestand des Tempelraubs abgesondert worden war.608 Die Texte, welche die Lex Iulia peculatus im Übrigen betreffen, an eine andere Stelle im siebten Buch de officio proconsulis einzuordnen, fiele schwer.609 Auch der Übersichtlichkeit halber hatte Ulpian schwerlich die von der Klammer der Lex Iulia peculatus zusammengehaltenen Tatbestände auseinandergerissen, sondern sie in einem Zug behandelt, wegen des sacrilegium am Beginn des siebten Buches.610 aa) D. 48, 13, 8 pr. (6 § 1): Furtum publicae monetae durch Angestellte der Münze Qui, cum in moneta publica operarentur, extrinsecus sibi signant pecuniam forma publica vel signatam furantur, hi non videntur adulterinam monetam exercuisse, sed furtum publicae monetae fecisse, quod ad peculatus crimen accedit.

Ulpian betrachtete hier zwei Fälle, die in der ursprünglichen Lex Iulia noch nicht enthalten waren611, aber auf Grund der Ausweitung des Tateine Bearbeitung sei dadurch angezeigt, dass der überlieferte Ulpiantext keine mittelschweren Fälle anführt. Ulpian wollte offenbar nur die Eckfälle lösen, andere Fälle konnte sich der Statthalter selbst erschließen. Eine Berücksichtigung aller möglichen Fallkonstellationen war weder möglich noch nötig. 608 Dazu o. a) bb). Nicht aussagekräftig ist der schließliche direkte Anschluss des Fragments D. 48, 13, 8 (6 §§ 1 und 2) an D. 48, 13, 7 (6) in der korrigierten Florentina-Handschrift (zur Überlieferungsgeschichte der Digesten ausführlich Kaiser, Schreiber und Korrektoren, S. 133 ff.; allgemein Wieacker, Röm. Rechtsgeschichte, S. 122 u. Fn. 51). Dass danach D. 48, 13, 8 keine eigene Inskription hat und daher auch als §§ 1 und 2 des Textes de sacrilegis gelesen wird, ist erst Werk der Korrektur (nach Mommsen, ad h. l. und Dig. Iust. Aug. I, 1870, Praefatio S. LVII eine Verbesserung durch den Schreiber der Florentina selbst), und spricht dafür, dass die Fragmente ursprünglich nicht direkt einander folgten; ausführlich zu diesen Fragen Kaiser, Digestenentstehung, S. 345 ff. m. w. N. 609 Lenel, Pal. II, col. 978 etwa setzt die Texte ans Ende von Buch 7, allerdings wohl eher als Notlösung; ebenso Fanizza, Giuristi Crimini Leggi, S. 25 f. Diese Einordnung ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die Behandlung der Tatbestände der Lex Cornelia am Ende des siebten Buchs noch nicht abgeschlossen war, jedenfalls noch die Brandstiftung zu folgen hatte, die im Buch 8 anschloss, s. u. 3. g). 610 So auch Rudorff, Über den liber, S. 249 f. und S. 295. Unrichtig bei ihm allerdings die Ausgliederung von D. 48, 10, 8 unter den Titel de falsa moneta am Ende des Buches und die Behandlung von D. 48, 13, 8 (6 §§ 1 und 2) unter der Überschrift de sacrilegis, zu beidem s. u. aa) bis cc). 611 Ungenau daher Vigneron, Rez. Gnoli, S. 415, der auch die hier behandelten Tatbestände, entgegen Gnoli, Ricerche, S. 146 f., als Teil der Lex Iulia beschreibt.

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bestandes über Nichteinhaltung von Prägevorschriften612 durch Interpretation der Juristen, vielleicht erst durch Ulpian selbst, darunter gefasst wurden. Die behandelten Straftaten haben nichts mit dem zuvor angeführten sacrilegium-Text gemein bis auf die gemeinsame Stellung unter der Rubrik Lex Iulia peculatus, weshalb im Werk Ulpians eine eigene Unterrubrik anzunehmen ist, die die Kompilatoren, wie sonst auch613, nicht überliefert haben.614 Zum einen wurde der Fall behandelt, dass Angestellte der offiziellen Münzstätte mehr Münzen als die festgesetzte Zahl615 prägten616 und sich die überzähligen Stücke aneigneten, zum anderen der, dass sie aus der bereits geprägten festgesetzten Zahl einzelne Münzen stahlen. In der Einordnung der Tatbestände unter die Lex Iulia peculatus statt unter die Lex Cornelia testamentaria617 drückt sich erneut die starke dogmatische Durchdringung des Strafrechts durch die Juristen, insbesondere Ulpian, aber auch die subtile Abgrenzung einzelner Delikte aus. Eine Geldfälschung durch die Angestellten der Münzstätte und damit Einordnung unter die Lex Cornelia schied deswegen aus, weil dort bereits geprägtes, also mit dem offiziellen signum versehenes Geld in irgendeiner Form verändert worden sein musste, allenfalls Münzen ohne offizielles Signum geprägt worden sein mussten. Das geht auch aus D. 48, 10, 9 pr. aus dem achten Buch de officio proconsulis hervor.618 Demgegenüber handelte es sich hier um die Herstellung echten Geldes mit originalem signum. Durch seine Abzweigung wurde al612 Dieser ist in D. 48, 13, 1 (Ulpian 44 ad Sab.) a. E. wiedergegeben: neve quis in aurum argentum aes publicum quid indat neve immiscat neve quo quid indatur immisceatur faciat sciens dolo malo, quo id peius fiat. Das Fragment gibt nach Gnoli, Ricerche, S. 145, den Wortlaut des Gesetzes wieder. Bona, Rez. Gnoli, S. 208 Fn. 13 zweifelt an der Rückführung der hier behandelten Tatbestände auf den von D. 48, 13, 1 a. E. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass Sinn und Zweck des behandelten Tatbestandes nicht nur der Schutz gegen Verschlechterung der Metalle war, sondern der Prägevorgang grundsätzlich gesichert werden sollte. Unter diesen Aspekt lassen sich die in D. 48, 13, 8 pr. (6 § 1) genannten Fälle zweifelsfrei subsumieren. 613 s. beispielsweise Coll. 7, 4 im Vergleich zu D. 47, 17, 1; Coll. 11, 7 im Vergleich zu D. 47, 14, 1 pr. 614 Dies gegen Rudorff, Über den liber, S. 295, der das Fragment unter den Titel de sacrilegis stellt. 615 Extrinsecus muss in diesem Sinne verstanden werden, Gnoli, Ricerche, S. 147 Fn. 4 m. w. N.; unzutreffend Mommsen, Strafrecht, S. 766 Fn. 5, der das Wort mit „außerhalb der Officin“ wiedergibt. 616 Wahrscheinlich aus von den Münzarbeitern selbst gestelltem Metall, wie Bona, Rez. Gnoli, S. 208 Fn. 13 im Anschluss an Ferrini, Diritto penale, S. 416 Fn. 4 überzeugend gegen Gnoli, Ricerche, S. 147 dargelegt hat. 617 Zu ihr ausführlich u. 5. 618 s. u. 5. a).

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lein die pecunia publica geschädigt, indem die Prägekompetenz missbraucht wurde. Das rechtfertigte es, beide Fälle der Lex Iulia zuzuordnen. bb) D. 48, 10, 8: Strafbare Behandlung von Goldmünzen Quicumque nummos aureos partim raserint, partim tinxerint vel finxerint, si quidem liberi sunt, ad bestias dari, si servi, summo supplicio adfici debent.

Das Fragment über die Strafbarkeit bestimmter Behandlungen von Goldmünzen (Abschaben, Abwaschen619 oder Abreiben von Teilen der Münzen) in Ulpians Werk einzuordnen, wirft Probleme auf. Die Kompilatoren platzierten es in den Titel über die Lex Cornelia testamentaria.620 Meist wird der Text in der modernen Forschung deshalb erst im Rahmen der Lex Cornelia behandelt621, wofür auch PS 5, 25, 1 zur Lex Cornelia zu sprechen scheint: Lege Cornelia testamentaria tenetur, (. . .) quive nummos aureos, argenteos adulteraverit, laverit conflaverit, raserit, corruperit, vitiaverit (. . .).

Trotzdem ist unwahrscheinlich, dass Ulpian den Text zur Lex Cornelia geschrieben hat. Erstens stammt er laut Inskription bereits aus dem siebten Buch, während Ulpian die Lex Cornelia erst im achten Buch behandelte.622 Zweitens wurde erst in D. 48, 10, 9 pr. aus Buch acht der Wortlaut623 der Lex Cornelia auf ähnliche Fälle hin abgeklopft, während D. 48, 10, 8 die Erstreckung eines älteren engeren Tatbestandes auf Goldmünzen betraf. Hätte Ulpian den Text erst bei Erörterung der Lex Cornelia geschrieben, dann wahrscheinlich erst nach dem im achten Buch stehenden Fragment als Erweiterung der Lex, wie er es auch sonst bei Darstellung der mit den leges zusammenhängenden Straftaten624 hielt. Auch passen die Tatbestände nicht 619 Die Bedeutung von tingere ist besonders unklar, vgl. Santalucia, La legislazione, S. 25 m. w. N. Eine chemische Behandlung mit Königswasser liegt aber nahe. 620 Titel von D. 48, 10: De lege Cornelia de falsis et de senatus consulto Liboniano. 621 Vgl. nur Mommsen, Strafrecht, S. 674 u. Fn. 4; Crook, Lex Cornelia de falsis, S. 166; Taubenschlag, Art. Münzverbrechen, S. 456. 622 Das ist auch das entscheidende Argument für Lenel, Pal. II, col. 977 und Santalucia, La legislazione, S. 16 f., den Text nicht der Lex Cornelia zuzuordnen. Auch Rudorff, Über den liber, S. 250 sieht das Problem, weicht dann aber auf die Hypothese aus, im siebten Buch würden nur die schweren Straftaten genannt und im achten die mittleren, die Behandlung eines und desselben Gesetzes in verschiedenen Büchern sei daher leicht erklärbar. Diese Hypothese ist zurückzuweisen, wie die entwickelte Palingenesie zeigen wird. 623 So Santalucia, La legislazione, S. 16; dagegen Crook, Lex Cornelia de falsis, S. 165 f. und Appendix Crawford, S. 166 unten. 624 Vgl. den Aufbau, der insbesondere noch bei der Lex Cornelia de sicariis erkennbar wird, u. 3.

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zur Lex Cornelia. Legt man wieder D. 48, 10, 9 pr. zugrunde, so fällt auf, dass auch bei den Silbermünzen nur das Prägen falscher Münzen erfasst werden sollte, während hier echte Münzen verschlechtert wurden. Dogmatisch bestand daher keine Verbindung zur Lex Cornelia. Schließlich lag die Einfügung in den Rahmen der Lex Iulia peculatus deswegen nicht fern, weil das Gesetz ähnliche Fälle bereits erfasst hatte, wie aus D. 48, 13, 1 (Ulpian 44 ad Sab.) hervorgeht: Lege Iulia peculatus cavetur, (. . .) neve quis in aurum argentum aes publicum quid indat neve immisceat neve quo quid indatur immisceatur faciat sciens dolo malo, quo id peius faciat.625

Daher ist anzunehmen, dass Ulpian den Satz, der vielleicht ein Reskript zusammenfasste, das wie so oft ohne Berücksichtigung eines Gesetzes (wie man an den extraordinaren Strafen erkennt) erging, wegen der Nähe zur Lex Iulia peculatus und des Abstandes zu den Tatbeständen der Lex Cornelia testamentaria im Zusammenhang mit der Lex Iulia peculatus niedergeschrieben hat.626 Freilich betrifft auch die Sentenzenstelle Goldmünzen und das Abschaben (radere)627 derselben; doch könnte der dort beschriebene Tatkomplex erst in nachklassischer Zeit aufgekommen sein. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass der Sentenzenverfasser ein D. 48, 10, 8 allenfalls zugrundeliegendes Reskript anders und nicht mehr mit der dogmatischen Genauigkeit Ulpians verstanden hatte.628 Der behandelte Fall konnte je nach Interpretation beiden Gesetzen zugeordnet werden, die Abgrenzung zwischen Lex Iulia und Lex Cornelia war bei den Münzvergehen, wie bereits zu D. 48, 13, 8 pr. (6 § 1) gesehen, oft schwierig. Vermutlich kamen diese in PS 5, 25, 1 genannten Tatbestände im Text der Lex Cornelia noch nicht vor629, sondern wurden erst später hinzugefügt. 625 Die inhaltliche Nähe rechtfertigt es auch, D. 48, 10, 8 nach D. 48, 13, 8 pr. (6 § 1) einzuordnen, das ja ebenfalls von der genannten Gesetzesbestimmung seinen Ausgang genommen hat (s. o. aa)). 626 Kein stichhaltiges Argument für eine Zuordnung zur Lex Iulia ist jedoch, entgegen Santalucia, La legislazione, S. 17 Fn. 44, dass die damnatio ad bestias bei der Lex Cornelia nicht verhängt worden wäre. Einmal stammt die von ihm zum Beweis angeführte Konstitution in CTh 9, 28, 1 erst aus dem Jahr 392 n. Chr. und beweist daher nichts als Argument für die klassische Zeit; zum anderen übersieht er, dass es sich hier um eine extraordinare Strafe ohne Bezug zu einer gesetzlichen Strafe handelte. Nicht überzeugend ist auch Santalucias Argument (S. 17), der Tatbestand habe nur die Angestellten der Münze betroffen, da Ulpian dann kaum von quicumque als Täter gesprochen hätte. 627 Vielleicht auch das Abwaschen, wenn laverit und tinxerit die gleiche Bedeutung haben, vgl. dazu Crook, Lex Cornelia de falsis, S. 166 Fn. 20. 628 Der Text in PS 5, 25, 1 ist auch noch in anderen Punkten ungenau, vgl. Crook, Lex Cornelia de falsis, S. 164 f.

III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung

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Wenn die vorgenommene Zuordnung stimmt, hätte Ulpian die Strafrechtsdogmatik durch die Einordnung bislang nicht erfasster Tatbestände vorangebracht. Inhaltlich zeigen die sehr harten Strafen vielleicht, dass die beschriebenen Taten bedrohlich weit verbreitet waren, so dass man durchgreifen zu müssen glaubte. cc) D. 48, 13, 8 § 1 (6 § 2): Furtum ex metallis Caesarianis Si quis ex metallis Caesarianis aurum argentumve furatus fuerit, ex edicto divi Pii exilio vel metallo, prout dignitas personae, punitur. Is autem, qui furanti sinum praebuit, perinde habetur, atque si manifesti furti condemnatus esset et famosus efficitur. Qui autem aurum ex metallo habuerit illicite et conflaverit, in quadrupulum condemnatur.

Auch den Diebstahl von Gold und Silber aus kaiserlichen Bergwerken, der in einem Edikt von Antoninus Pius je nach sozialer Stellung des Täters mit Exil oder schwerer Bergwerksarbeit bedroht wurde, ordnete Ulpian in den Rahmen der Lex Iulia peculatus ein. Ausgangspunkt für die Erfassung des Diebstahls aus kaiserlichen Bergwerken war der Tatbestand ne quis ex pecunia (. . .) publica auferat der Lex Iulia.630 Auch die kaiserlichen Gold- und Silberminen, die sich ausnahmslos in den Provinzen befanden631, wurden im Laufe der Kaiserzeit Teile des kaiserlichen Staatsschatzes, des fiscus;632 die Lex Iulia schützte ursprünglich aber nur den alten Staatsschatz der res publica. Ob bereits Antoninus Pius die Verbindung zum Pekulat gezogen hate, ist nicht sicher. Seine Neuerung scheint eher darin bestanden zu haben, dass er den Fall des Diebstahls aus kaiserlichen Bergwerken aus der privatrechtlichen Verfolgung des furtum in die qualifizierte strafrechtliche Ahndung überführte, wie dies auch mit vielen anderen besonders schweren Fällen des Diebstahls geschah.633 Jedoch nimmt das Edikt auf die gesetzliche Strafe der Lex Iulia keinerlei Bezug; bei Verhängung einer bloßen Geldstrafe für Begünstigung dieses Diebstahls verweist es gar wieder auf den fur manifestus. Jedenfalls werden Begünstiger und Hehler milder bestraft, während sie im Rahmen der Lex Iulia wie der Täter bestraft wurden.634 Wiederum kommt Ulpian das 629 Anders Crook, Lex Cornelia de falsis, S. 167 in seiner Rekonstruktion des Gesetzes. 630 D. 48, 13, 1 (Ulpian, 44 ad Sab.). 631 Dazu und zur Lex metalli Vipascensis Schönbauer, Beiträge, S. 32 ff. und S. 131 ff. 632 Vgl. Marotta, Multa, S. 308 f. m. w. N. 633 Vgl. dazu die Tatbestände de abigeis, Nacht-/Badediebstahl etc., s. u. V. 5.

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Verdienst einer dogmatischen Einordnung des Edikts zu; die festgesetzten Strafen ließen sich problemlos in das System der Lex Iulia einordnen.635 Diebstahl aus kaiserlichen Bergwerken einer Provinz wurde bereits unter Hadrian in der lex metallis dicta berücksichtigt, gerichtet an den procurator metalli in Vipasca in der kaiserlichen Provinz Lusitania, Ulpius Aelianus.636 Dort wurde im fünften Abschnitt, Satz 2, bestimmt: Venae furem, si servos erit, procurator flagellis caedito et ea conditione vendito, ut in perpetuis vinculis sit neve in ullis metallis territorisve metallorum moretur; pretium servi ad dominum pertineto; liberum procurator confiscato et finibus metallorum in perpetuum prohibeto.

Der procurator metalli hatte also strafrechtliche Befugnisse, die aber, wegen der begrenzten Kompetenzen des örtlichen Prokurators, nicht sehr weit gingen und auf das Gebiet des Kupferbergwerks beschränkt waren.637 Für Gold- und Silberbergwerke hat Antoninus Pius solche durch den Prokurator zu verhängenden Sanktionen jedenfalls als nicht ausreichend angesehen und die Ahndung von Diebstahl aus den kaiserlichen Gold- und Silberbergwerken dem Statthalter mit seinen umfassenden Strafkompetenzen zugewiesen. Darin regelte Antoninus Pius auch die Bestrafung des Begünstigers und des Hehlers. Sie wurden milder bestraft als der Haupttäter, nämlich der Begünstiger wie der fur manifestus, d.h. zu einer Buße in Höhe des vierfachen Wertes des gestohlenen Gutes;638 außerdem verfiel er der Infamie.639 Der Hehler wurde schlicht zu quadrupulum verurteilt. Ruft man sich in Erinnerung, dass Pius wahrscheinlich keine Ausdehnung der Lex Iulia peculatus beabsichtigte, dann wird dieser Teil des Fragments verständlich. Bei dem Begünstiger und dem Hehler640 sollte es bei den für diese Fälle seit alters 634 Vgl. D. 48, 13, 1 (Ulpian 44 ad Sab.): (. . .) neve faciat, quo quis auferat intercipiat vel in rem suam vertat (. . .). 635 Vgl. Gnoli, Ricerche, S. 174 ff., der aber zu Unrecht auch D. 48, 13, 8 § 1 (6 § 2) für die Strafdrohung der Lex Iulia in Anspruch nimmt. Gesetzliche Strafen waren, wie gesehen, die aquae et ignis interdictio, vgl. D. 48, 13, 3 (Ulpian 1 de adult.), und in bestimmten Fällen quadrupulum, D. 48, 13, 15 (Modestin 2 de poen.) und vor allem Lex municipii Tarentini, Zeile 5 (in: FIRA I, Nr. 18, S. 166 ff.). 636 In FIRA I, Nr. 104, S. 498 ff. m. w. N. 637 So Marotta, Multa, S. 309 f., der unter Verweis auf D. 1, 19, 3 pr. (Callistratus 6 de cogn.) feststellt, dass aus der Lex matallis dicta nicht geschlossen werden kann, Antoninus Pius habe Diebe aus kaiserlichen Bergwerken schwerer bestraft als sein Vorgänger, da die Texte nicht vergleichbar seien. Zu Befugnissen der Prokuratoren auf dem Gebiet des Strafrechts allgemein, s. u. VI. 2. b) aa) zur Lex Fabia. 638 So das prätorische Edikt für die actio furti manifesti, vgl. Lenel, Edictum perpetuum, S. 332. 639 Zu den Folgen vgl. Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 274. 640 Aber nur in Bezug auf Gold. Bei Silber blieb es vielleicht bei der durch die actio furti in diesen Fällen vorgesehenen duplum-Sanktion.

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vorgesehenen zivilrechtlichen Bußen bleiben641, nur verschärft durch Androhung der den fur manifestus treffenden Buße.642 Durch die Einordnung des Edikts in den Rahmen der Lex Iulia643 bekam es eine andere Bedeutung, nämlich die einer im ursprünglichen Anwendungsbereich nicht vorgesehenen Strafmilderung für bloße Helfer gegenüber dem Haupttäter des Pekulat. Ulpian hätte also mit Hilfe eines Edikts des Pius von einer schlichten Erstreckung der Strafe der Lex Iulia abgesehen und die Strafen für vergleichbare Taten je nach Tatbeteiligung aufgefächert und damit im Rahmen der Lex Iulia ein neues Strafensystem etabliert, das erst im 5. Jh. n. Chr. wieder nivelliert wurde.644

2. D. 48, 4, 1: Lex Iulia maiestatis a) D. 48, 4, 1 pr.: Nähe zum sacrilegium Proximum sacrilegio crimen est, quod maiestatis dicitur.

Noch vor Befassung mit dem eigentlichen Tatbestand des Majestätsverbrechens wird seine besondere Nähe zum sacrilegium betont. Dieser Einleitungssatz hat zu Spekulationen geführt, die sich im Wesentlichen in drei Richtungen gliedern lassen. aa) Die wohl überwiegende Ansicht hält die Textstelle für eine nachkonstantinische Glosse oder Interpolation.645 Der Satz sei nur in einer Zeit denkbar, als sich die Bedeutung von sacrilegium so geweitet hatte, dass es auch Häresie vom Christentum erfasste;646 zumindest aber, seitdem Beleidigungen der kaiserlichen dignitas als Form der Gottlosigkeit, sacrilegium, 641 Vgl. nur D. 47, 2, 48 § 1 (Ulpian 42 ad Sab.): Qui furem novit, sive indicet eum sive non indicet, fur non est, cum multum intersit, furem quis celet quam non indicet. Qui novit, furti non tenetur, qui celat, hoc ipso tenetur. Zur zivilrechtlichen Verfolgung des furtum in diesem Fall auch Kaser, Röm. Privatrecht I, S. 615 u. Fn. 14. 642 Die bei Helfern sonst nicht statthaft war, vgl. D. 47, 2, 34 (Paulus 9 ad Sab.). 643 Was auch durch die Verhängung der Infamie nicht behindert wurde, da diese auch strafrechtliche Sanktion sein konnte, vgl. nur D. 48, 19, 8 pr. (Ulpian 9 de off. proc). 644 CJ 9, 28, 1 (Arcadius an Rufinus, 415 n. Chr.). 645 So insbes. Cloud, The text, S. 210, der auf S. 211 wieder leicht zweifelt, das aber nur, weil er zu Unrecht annimt, Ulpian könne sacrilegium bereits in der umfassenderen Bedeutung der Verletzung kaiserlicher dignitas gebraucht haben, dazu s. o. 1. a) aa) zu D. 48, 13, 7 (6); Cloud verweist auf Mommsen, Religionsfrevel, S. 407 u. Fn. 4. 646 So vor allem Mommsen, s. o. Fn. 645, und Ders., Strafrecht, S. 600 Fn. 4; vgl. dazu auch CJ 9, 29, 1 (380 n. Chr.).

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bestraft wurden.647 Diese Einschätzung überzeugt allerdings nicht. Sie versucht gar nicht erst, eine zur Zeit Ulpians mögliche Bedeutung zu ermitteln. Gewiss haben die Kompilatoren die Worte gerade deshalb in die Digesten aufgenommen, weil der neue und nun ähnliche tatbestandliche Inhalt von sacrilegium und maiestas durch D. 48, 4, 1 pr. perfekt zum Ausdruck kam. Das bedeutet aber noch nicht, dass Ulpian, legt man die zu seiner Zeit gültige Bedeutung von sacrilegium und maiestas zugrunde, mit diesem Satz nichts Stimmiges hätte aussagen können.648 Vielmehr ist zunächst einmal eben das zu probieren. Zwei Ansätze kommen dafür in Betracht. bb) Wenn Ulpian proximum temporal gebraucht hat, könnte der Satz in der Weise verstanden werden, dass die Regelung über sacrilegium im Sinne von Tempelraub älter sei als die über maiestas.649 Aber abgesehen von der Unsicherheit, ob wirklich eine quaestio de sacrilegis vor einer solchen de maiestate ausgemacht werden kann, ist ganz ungewiss, ob Ulpian 300 Jahre später noch gewusst hat, welche der beiden Quästionen zuerst ihre Arbeit aufgenommen hatte. Seine Leser, meist Praktiker, hätte das auch nicht interessiert, zumal es das Quästionensystem in der alten Form in den Provinzen nicht (mehr) gab.650 Außerdem kann bei Ulpians Behandlung der anderen Strafgesetze des ordo in de officio proconsulis ein vergleichbarer Bedacht ihrer Chronologie kein zweites Mal ausgemacht werden, weshalb es verwunderlich wäre, wenn Ulpian gerade hier Wert darauf gelegt hätte. cc) Näher liegt es, proximum im Sinne eines inhaltlichen Näheverhältnisses von maiestas und sacrilegium zu verstehen. In diesem Sinn kann der Satz rein formal zu verstehen sein, nur als Überleitung von einem zum anderen Tatbestand: „Auf das sacrilegium folgt alsbald das crimen maiestatis“.651 Diese Deutung befriedigt aber nicht; weshalb sollte Ulpian gerade 647

So Cloud, The text, S. 211 m. w. N. und Hinweis auf CTh 9, 21, 9 (389 oder 392 n. Chr.) und CTh 9, 23, 1 (356 n. Chr.), wo beide Begriffe für die gleiche Tat (Münzfälschung/-einschmelzung) verwendet werden. 648 Es versteht sich von selbst, dass der Satz in der ursprünglichen Lex Iulia nicht vorkam, was Cloud, The text, S. 210 aber bereits als Argument dafür anführt, dass der Text auch nicht von Ulpian stamme. Ulpian beschränkte sich in de officio proconsulis schon wegen der Natur eines Handbuchs für die Statthalter der Provinzen nicht darauf, den Gesetzeswortlaut der alten leges mitzuteilen, sondern machte auch eigene Aussagen, um die Vorschriften für die zeitgenössische Praxis handhabbar zu machen. Vgl. zu dieser Vorgehensweise Ulpians die Wertungen zu den Strafen beim sacrilegium in D. 48, 13, 7 (6), o. 1. a) dd). 649 So Bauman, The Crimen maiestatis, S. 288, der ausführt, es habe die erste quaestio de sacrilegis 104 v. Chr. gegeben (die sog. quaestio auri Tolosani, vgl. Bauman, S. 40 ff.), während die erste quaestio de maiestatis 103 v. Chr. unter der Lex Appuleia stattfand. 650 So i. E. auch Waldstein, Rez. Bauman, S. 521 f.; Marotta, Ulpiano e l’Impero I, S. 126 f. u. Ders., Ulpiano e l’Impero II, S. 202 Fn. 51.

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hier diese Abfolge sichtbar gemacht haben, bei anderer Gelegenheit dagegen nie? Auch folgten – nach der hier vertretenen Abfolge der Fragmente in Buch 7 – auf sacrilegium nicht sofort die lex maiestatis, sondern zunächst weitere Tatbestände des Pekulatgesetzes.652 Ein sachliches Näheverhältnis zwischen sacrilegium und maiestas schon am Anfang des 3. Jh. n. Chr. liegt daher am nächsten. Dabei sind verschiedene Ansätze möglich: (1) Es könnte gemeint sein, sacrilegium sei das schwerste Verbrechen und damit an erster Stelle zu behandeln, während maiestas nach dem Schweregrad sogleich danach zur Sprache komme.653 Problematisch ist hier ebenso wie bei formaler Sicht, dass nur zwischen sacrilegium und maiestas ein solcher Satz anzutreffen wäre, sonst aber nicht; eine Abstufung nach der Schwere der Tat ist im achten und neunten Buch des ulpianischen Werkes oft gerade nicht anzutreffen.654 Die Folge der Gegenstände hat diesbezüglich kein einheitliches Muster.655 (2) Inhaltlich könnte die beiden Verbrechen aber auch verbinden, dass nur für diese beiden Verbrechen dieselben Strafen verhängt werden konnten, nämlich damnatio ad bestias, vivi combustio und crux.656 Für maiestas waren diese Strafen aber nicht so eindeutig festgelegt wie beim sacrilegium; und sie waren hier nur angeführt, um Strafzumessungsregeln darzulegen. Ferner wurden diese schweren Strafen auch bei anderen Verbrechen, vor allem beim Totschlag, verhängt. Schließlich würde es nicht in den Gang von Ulpians Darstellung der Verbrechen des ordo passen, der mustergültig an der Behandlung der Lex Cornelia de sicariis nachvollzogen werden kann657, die Strafen des crimen maiestatis vor dem Tatbestand anzufüh651 So Lenel, Pal. II, col. 975, auch wenn er nach dem Fragment D. 48, 13, 7 (6) noch andere Fragmente einschiebt; er versteht alle Fragmente, die er unter sacrilegium fasst, als Einheit, auf die dann das crimen maiestatis folgt. 652 Vgl. o. 1. b). 653 So Rudorff, Über den liber, S. 249: Dies passt zu seiner Rekonstruktion der Bücher 7 bis 9, die nach Schwere der Verbrechen aufgebaut sein sollen. 654 So vor allem der Abigeat und die verschiedenen weiteren Straftaten wie Skopelismus und Durchstechen der Nildämme. 655 Gegen diese Ansicht auch Marotta, Ulpiano e l’Impero I, S. 128 u. Fn. 60. 656 So Marotta, Ulpiano e l’Impero I, S. 129 f. u. Ders., Ulpiano e l’Impero II, S. 205 ff. der hierfür D. 48, 13, 7 (6) für das sacrilegium und D. 48, 19, 8 §§ 1 u. 2 (9 de off. proc.) für das crimen maiestatis, aber auch Texte Tertullians zur Bestrafung der Christen anführt. 657 Vgl. dazu Archi, Gli studi, S. 42; gewiss gibt Marotta, Ulpiano e l’Impero I, S. 130 Fn. 71 und Ders., Ulpiano e l’Impero II, S. 209 Fn. 78 mit Recht zu bedenken, dass aufgrund eines einzigen Gesetzes auf eine stets beachtete Reihenfolge im Ablauf der Darstellung der Gesetze des ordo geschlossen wird. Immerhin ist es

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ren.658 Die Nähe mit der Gleichartigkeit der zu verhängenden Strafen zu erklären, überzeugt daher ebenso wenig. (3) Jedoch könnte man sacrilegium und maiestas aus historischen Gründen einander annähern. Diese Klammer zwischen dem Verbrechen gegen die Götter, dem Tempelraub, und dem Verbrechen gegen die Gemeinschaft, maiestas, findet man in griechischen Vorgängergesetzen, die beide Taten in einem Gesetz oder doch nahe beieinander behandelten. Dazu folgende Texte: _

Xenophon, Hellenica I, 7, 22: Touto d’eù boŸlesqe, katJ tünde t˛n _ nümon krûnate, Õò ýstin ýp˝ to iò ÁerosŸloiò ka˝ prodütaiò, ýÜn tiò í th½n _ _ pülin prodid`w í tJ ÁerJ klÍpt´h, kriqÍnta ýn dikasthrû`w_, ºn katagnwsq´h, _ _ _ _ mh½ taf hai ýn t´h \Attik´h, tJ d˚ xrh·mata ažtou dhmüsia e ùnai. _

_

Platon, Nomoi, 9. Buch, 853 D: ¼n dh½ xÜrin ožk ýpûxarin lÍgoim\ ºn prwton _ nümon Áerwn per˝ sulh·sewò (. . .) 856 B: MetJ d˚ tJ per˝ qeoˇò tJ per˝ _ katÜlusin t hò politeûaò (. . .)

Die sachliche Nähe zwischen Tempelraub und maiestas ist also vor dem Hintergrund der gemeinsamen Behandlung in alten Gesetzen zu erblicken.659 So wird erklärbar, warum so etwas wie der proximum-Satz in D. 48, 4, 1 pr. erscheint, sonst aber nirgendwo. Nur hier bestand eine Verbindung, die Ulpian eindeutig zum Ausdruck bringen wollte. Tempelraub und maiestas als schwerste Verbrechen hatten nahe beieinander liegende Schutzgüter: die Götter und der Staat.660 Eine Abstufung nach Schwere der in den Büchern über das Strafrecht behandelten Verbrechen hatte Ulpian nicht im Sinn. b) D. 48, 4, 1 § 1: Hoch- und Landesverrat als Inhalt der Lex Iulia maiestatis Maiestatis autem crimen illud est, quod adversus populum Romanum vel adversus securitatem eius committitur. quo tenetur is, cuius opera dolo malo consilium initum erit, quo obsides iniussu principis interciderent; quo armati homines cum telis lapidibusve in urbe sint conveniantve adversus rem publicam, locave möglich, mit Hilfe dieses Musters eine befriedigende Lösung zu finden. Vgl. zum Aufbau sogleich b) aa). 658 Auch bei den crimina extraordinaria werden die Strafen nie vor dem Tatbestand behandelt; es wäre befremdlich, wenn das bei den Straftaten des ordo anders gehandhabt geworden wäre; vgl. D. 47, 20, 3 zum Stellionat. 659 Auch Waldstein, Rez. Bauman, S. 522 Fn. 32 weist auf den Xenophon-Text hin, hebt dann aber doch wieder auf sacrilegium i. S. von Religionsfrevel ab und konstruiert dadurch die sachliche Nähe zu maiestas. 660 Vgl. noch D. 1, 1, 1 §§ 1 f. (Ulpian 1 inst.), wo ebenfalls das sacrum vor dem publicum rangiert.

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occupentur vel templa, quove coetus conventusve fiat hominesve ad seditionem convocentur; cuiusve opera dolo661 malo consilium initum erit, quo quis magistratus populi Romani quive imperium potestatemve habet occidatur; quove quis contra rem publicam arma ferat; quive hostibus populi Romani nuntium litterasve miserit signumve dederit feceritve dolo malo, quo hostes populi Romani consilio iuventur adversus rem publicam; quive milites sollicitaverit concitaveritve, quo seditio tumultusve adversus rem publicam fiat.

Der Text gibt nahezu wörtlich Teile der ursprünglichen Lex Iulia maiestatis wieder. Zur Zeit ihres Erlasses beschäftigte sich die Lex allein mit Verbrechen gegen den Staat als solchen, die sowohl von innen gegen das römische Volk (z. B. Besetzung von Tempeln oder Plätzen, bewaffnete Zusammenrottung gegen die res publica, Planung und Ausführung von Anschlägen auf Magistrate) als auch von außen gegen seine Sicherheit (z. B. Tötung von Geiseln ohne Befehl, Verrat, Zersetzung des Heeres) begangen werden konnten. aa) Der ursprüngliche Tatbestand am Anfang der Lex Iulia Der Text erstaunt auf den ersten Blick in einem Werk über die Aufgaben des Statthalters vom Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Republikanische Verhältnisse stehen im Mittelpunkt, der Kaiser wird als Schutzobjekt des Gesetzes nicht genannt, was der politischen Lage bei Abfassung von de officio proconsulis ganz und gar nicht entsprach. Auch beschränkten sich die hochverräterischen Tatbestände auf stadtrömische Verhältnisse, hatten also keinen direkten Bezug zu provinzialen Verhältnissen. Diese scheinbare Unstimmigkeit löst sich, wenn man Ulpians Vorgehen in diesem Werk berücksichtigt. Bei den iudicia publica, die sich auf alte republikanische oder augusteische Gesetze zurückführen ließen, zitierte Ulpian zunächst den Tatbestand des alten Gesetzes meist wörtlich, dann folgte der Strafrahmen und schließlich die weitere Entwicklung der Gesetze in der Zwischenzeit, insbesondere Erweiterungen durch SCa und Reskripte, die dann auch speziell die Provinzen betrafen.662 In D. 48, 4, 1 § 1 ist von diesem Aufbau nur noch der Tatbestand des ursprünglichen Gesetzes erhalten; Strafrahmen und spätere Erweiterungen, die es im Bereich der maiestas in Bezug auf den Kaiser als Person in großer Zahl gegeben hat, sind uns nicht überliefert. Das Fragment präsentiert Teile einer einheitlichen663 Lex Iulia So richtig F2 statt consilio; consilio malo wäre, anders als dolo malo, schwer erklärbar. Es wird sich um ein Versehen des Kompilators handeln, veranlasst durch das sogleich folgende consilium; so auch Cloud, The text, S. 213. 662 Deutlich erkennbar ist dieser Aufbau noch bei Behandlung der Lex Cornelia de sicariis et veneficiis im 7. Buch (s. u. 3.). 663 Die Einheitlichkeit wird vor allem von Bauman, The Crimen maiestatis, S. 279 ff. bestritten, der von vielen separaten und zu verschiedenen Zeitpunkten er661

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maiestatis, die von Augustus664 erlassen wurde und Vorgänger in einem sullanischen665 und einem cäsarischen666 Majestätsgesetz hatte. In diesen Gesetzen waren allein Hoch- und Landesverrat in ihren verschiedenen Ausprägungen unter den Bedingungen des Freistaats enthalten, nicht dagegen Verbrechen gegen die Person oder den Namen des Kaisers.667 bb) Bestrafung der bloßen Planung Erstaunlich ist bei der Aufzählung der Tatbestände unter anderem, dass im Rahmen der hochverräterischen Tatbestände nicht nur die vollendete Tat bestraft wurde, sondern bereits die aufgedeckte Planung eines solchen Verbrechens: consilium initum erit zeigt, dass beim maiestas-Verbrechen die Schwelle der Strafbarkeit schon früher überschritten sein konnte als sonst, lassenen Majestätsgesetzen ausgeht. Soweit er für seine These auch das vorliegende Fragment heranzieht, kann ihm allerdings nicht gefolgt werden. Wenn Ulpian seine Darstellung mit maiestatis (. . .) crimen illud est beginnt und nicht mit lege Iulia maiestatis tenetur is qui (S. 280), so kann das genau so gut damit erklärt werden, dass Ulpian nicht das Originalgesetz zitierte, sondern den Inhalt aus anderen Juristenschriften schöpfte (so auch Waldstein, Rez. Bauman, S. 521). Auch in anderen Fragmenten wird von nur einer Lex Iulia maiestatis gesprochen (vgl. nur D. 48, 4, 2 a. E., Ulpian 8 disp.; 48, 4, 3, Marcian 14 inst.; PS 5, 29, 1). Weiterhin führt Bauman, S. 281, für seine These die zufällige Abfolge der Tatbestände von Hochund Landesverrat an, die aber gar nicht so zufällig ist, wenn man, wie dies Cloud, The text, S. 212 f., überzeugend dargestellt hat, quo obsides iniussu principis interciderent als nachklassische Interpolation ansieht (dazu sogleich Fn. 664). Dann werden nämlich anfangs hochverräterische, am Ende landesverräterische Straftaten behandelt. 664 Vgl. die umfassenden Nachweise bei Bauman, The Crimen maiestatis, S. 267 f.; auch Kunkel, Quaestio, S. 94. Unklar ist der Entstehungszeitpunkt des Gesetzes. Bauman, S. 274 und ihm folgend Santalucia, Diritto e processo, S. 195 u. Fn. 29 gehen wegen Dio 53, 15, 6; 53, 12, 1 und 53, 17, 5 i. V. m. quo obsides iniussu principis interciderent in D. 48, 4, 1 § 1 von 27 v. Chr. aus. Wie Cloud, The text, S. 212 f., insbesondere aufgrund von grammatikalischen Untersuchungen festgestellt hat, handelt es sich dabei jedoch um eine nachklassische Interpolation, so dass die Begründung in diesem Punkt hinfällig wird (ebenfalls interpoliert ist iniussu principis in D. 48, 4, 3, Marcian 14 inst., vgl. Cloud, S. 218 f.). Die anderen vorgeschlagenen Jahreszahlen 18 v. Chr. oder 8 v. Chr. sind zwar möglich, können aber nicht anhand anderer Quellen verifiziert werden; so sehr klar auch Biondi, Leges populi romani, S. 156 gegen Rotondi, Leges publicae, S. 453. 665 s. dazu und zu Übereinstimmungen mit der Lex Iulia Cloud, The text, S. 209 f.; Kunkel, Quaestio, S. 60. 666 Ob es ein solches caesarisches Gesetz gab (so Bauman, The Crimen maiestatis, S. 155 ff.; Rotondi, Leges publicae, S. 422), ist nicht ganz sicher, weil die dafür angeführte Textstelle Cicero, Phil. 1, 9, 21 ff., insbes. 23 auch mit dem Repetundengesetz Caesars in Zusammenhang gebracht werden kann, vgl. dazu Kunkel, Quaestio, S. 66 f. 667 Dies verkennt Rotondi, Leges publicae, S. 453.

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wo der Grundsatz cogitationis poenam nemo patitur668 galt. Das ist auch heute noch so. Angriffe auf das Staatswesen im Ganzen sind besonders gefährlich, weshalb ihnen möglichst schon vor einer tatsächlichen Beeinträchtigung begegnet werden sollte. c) Entwicklung der Lex Iulia maiestatis – vorübergehende Suspendierung des Gesetzes zwischen dem 1. und 3. Jh. n. Chr. Die Lex Iulia maiestatis des Augustus hat, wie auch die anderen republikanischen und augusteischen Gesetze, im Laufe der Zeit mannigfache Erweiterungen erfahren, anfangs durch SCa, später durch kaiserliche Reskripte. Beim Majestätsverbrechen fällt aber auf, dass die Erweiterungen nahezu ins Uferlose führten. Der Tatbestand erhielt in der Kaiserzeit immer mehr politische Dimensionen; vor allem sollte und musste die Person des Kaisers selbst gegen körperliche und psychische Verletzungen geschützt werden. Wegen dieses stark politischen Charakters des Majestätsverbrechens sind in der Entwicklung des Tatbestandes in der Kaiserzeit Brüche zu erkennen, die in der Forschung die Annahme aufkommen ließ, einzelne Kaiser hätten die Lex maiestatis suspendiert.669 Ohne alle Einzelheiten des Disputs darzustellen, so ist doch bei unbefangener Betrachtung mehr als unwahrscheinlich, dass das gesamte Gesetz, also auch der im republikanischen Gesetz festgelegte Hoch- und Landesverrat, in mitunter langen Zeiträumen außer Kraft gesetzt worden sein soll.670 Abgesehen davon, dass verschiedene Hochverrats-Prozesse, die während der Zeit der angeblichen Aussetzung der Lex maiestatis unbestreitbar stattgefunden haben, auf diese Weise rechtlich nicht befriedigend erklärt werden können671, ist es überdies wenig einsichtig, was für einen Sinn die Aussetzung aller Hoch- und Landesverrats-Tatbestände gehabt haben soll. Der Schutz des Kaisers und anderer Magistrate vor Verschwörungen und Komplotten, auch der Schutz der inneren und äußeren Sicherheit, waren ganz natürlich, sind für jeden Staat konstitutiv und werden von der Bevölkerung akzeptiert. Alle Texte, die angeblich eine vollständige Suspendierung der Lex Iulia bezeugen, lassen sich auch mit der These verbinden, dass nur die späteren 668

D. 48, 19, 18 (Ulpian 3 ad ed.). So insbesondere und sehr ausführlich Bauman, Impietas in principem, S. 191 ff., zustimmend Liebs, Alexander Severus, S. 123. 670 Ausführlich hierzu Brunt, Did emperors, S. 469 ff. 671 Vgl. dazu Brunt, Did emperors, S. 474 ff. gegen die Thesen Baumans, Impietas in principem, S. 191 ff. 669

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Erweiterungen des Tatbestandes, welche die Beleidigung und Missachtung der Person des Kaisers betrafen, vorübergehend ausgesetzt wurden. aa) Beispielhaft seien hierzu einige Textstellen genannt: (1) Tacitus672 berichtet zum Jahr 15 n. Chr., dass Tiberius legem maiestatis reduxerat. Gleich anschließend teilt er aber mit, dass dieses Gesetz zwar bei den veteres dieselbe Bezeichnung trug, aber andere Verfehlungen erfasste, nämlich hoch- und landesverräterische Taten. Er fasst den Unterschied zur damaligen Rechtslage wie folgt zusammen: facta arguebantur, dicta inpune erant.

Tacitus meint mit dicta hier nicht, dass die Absicht, hoch- und landesverräterische Taten zu begehen, bisher straflos gewesen sei. Ihre Strafbarkeit war ja, wie gezeigt wurde, bereits im republikanischen Gesetz geregelt. Vielmehr sei durch Erweiterung des Gesetzes ein anderer Tatbestand geschaffen worden, der von Tiberius wieder aufgenommen worden war. Wann diese Erweiterung erfolgte, schildert Tacitus im Anschluss: primus Augustus cognitionem de famosis libellis specie legis eius tractavit, commotus Cassii Severi libidine, qua viros feminasque inlustres procacibus scriptis diffamaverat.

Augustus hatte also, wahrscheinlich 12 n. Chr.673, auch Spott- und Schmähschriften gegen hochstehende Personen unter den Tatbestand des Gesetzes gebracht und damit erstmals auch dicta, Worte, ausreichen lassen, um den Tatbestand der Lex maiestatis zu erfüllen. Auch in den folgenden Abschnitten674 ist nur von Fällen die Rede, die in irgendeiner Weise mit einer Beleidigung des Tiberius oder des Augustus zu tun hatten, wozu auch die Ersetzung des Kopfes einer Statue des Augustus durch den des Tiberius zählte. Mit lex maiestatis meinte Tacitus also nicht das ursprüngliche augusteische Gesetz, sondern nur dessen Erweiterung um Schmähungen des Kaisers. Auch wenn Nero im Jahr 62 n. Chr. das Majestätsgesetz wiederaufnahm675, bezog er sich auf ein Vorkommnis, bei dem ein Schmähgedicht auf Nero verfasst und vorgetragen worden war.676 Der Bezug auf die Erweiterung der Lex Iulia ist unverkennbar.677 672

Ann. 1, 73, 2 ff. Vgl. Dio 56, 27, 1; Sueton, Aug. 55; Cassius Severus wurde aufgrund dieser Verurteilung nach Creta verbannt, Tacitus, Ann. 4, 21, 3. 674 Ann. 1, 73 und 1, 74; wiederum von lex maiestatis ist in Ann. 2, 50, 1 f. die Rede, wo es ebenfalls um Schmähreden gegen Augustus, Tiberius und dessen Mutter Livia geht. Vgl. zu diesen Texten ausführlich Koestermann, Die Majestätsprozesse, S. 76 ff.; vgl. weiterhin z. B. Ann. 4, 34, 1 f.; 4, 42, 1 ff. 675 Ann. 14, 48, 2: tum primum revocata ea lex (sc. maiestatis). 676 Ann. 14, 48, 1. 673

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(2) In diesem Zusammenhang muss auch geklärt werden, was Cassius Dio mit ÷sÍbeia genau meint, welches Wort er häufig gebraucht, insbesondere an den Stellen, die von den Befürwortern einer vollständigen Suspendierung der Lex Iulia maiestatis herangezogen werden.678 In der Tat gibt es für den Begriff maiestas kein genaues griechisches Äquivalent, so dass eine Gleichsetzung naheliegt. Allerdings definiert Dio selbst, was er unter ÷sÍbeia versteht. In 57, 9, 2 schreibt er, Tiberius habe (im Jahr 14 n. Chr.) keine Anzeigen entgegengenommen, die seine Person betrafen; er wollte nicht den Eindruck erwecken, von jemandem beleidigt oder unehrerbietig behandelt worden zu sein. Dio bemerkt dazu, dass solch ein Verhalten, nämlich die Beleidigung des Kaisers, schon damals ÷sÍbeia genannt worden sei und deshalb schon viele Anklagen erhoben wurden. Auch Dio meinte also mit ÷sÍbeia nur die Erweiterung des Tatbestandes, Beleidigung des Kaisers in ihren verschiedenen Nuancen, während die Grundtatbestände des Hoch- und Landesverrats nie mit diesem Wort bezeichnet wurden. Erklärlich wird mit dieser Interpretation zudem, dass auch unter Kaisern, welche die Verfolgung von ÷sÍbeia suspendiert hatten, gleichwohl Prozesse wegen Komplotten und Verschwörungen gegen den Kaiser stattfanden. Es braucht also nicht angenommen zu werden, sie hätten ihre eigene Maßnahme durchbrochen. Beispielsweise ist direkt im Anschluss an die Suspendierung der Anklagen wegen ÷sÍbeia durch Claudius im Jahr 41 n. Chr.679 von Verurteilungen wegen einer Verschwörung gegen Claudius die Rede, ohne dass Dio diese Maßnahmen in irgendeiner Weise als Bruch eines Verbots, die Lex Iulia maiestatis anzuwenden, angesehen hätte.680 Gleiches gilt für Vespasian. Ausdrücklich sagt Dio, dass Schmähreden und -schriften gegen den Kaiser keine Folgen hatten681, Verschwörer aber hingerichtet wurden.682 Selbst bei Nerva beziehen sich Dios Aussagen, er habe trotz Komplotten gegen ihn nicht eingegriffen, nur auf seinen Schwur, keinen Senator 677 Das bedeutet nicht, dass Tacitus maiestas nur für diese Erweiterung der ursprünglichen lex verwendet hätte. Er gebraucht maiestas auch, wenn er einen Grundfall des Hoch- und Landesverrates beschreiben will, der auch weiterhin maiestas hieß, vgl. nur. Ann. 3, 38, 2; 3, 44, 2; 4, 28 ff. Hier soll nur gezeigt werden, dass Tacitus maiestas auch gleichbedeutend mit den späteren Erweiterungen der lex gebraucht. 678 Dio 59, 4, 3; 59, 16, 8 (Caligula); 60, 3, 6 (Claudius); 65, 9, 1 (Vespasian); 66, 19, 1 (Titus); 68, 1, 2 (Nerva). 679 Dio 60, 3, 6. 680 Vgl. nur Dio 60, 14, 4; 60, 15, 4; 60, 16, 1 ff.; 60, 18, 4; 61 (60), 29, 6; 61 (60), 31, 5 u. 8. 681 Dio 65, 11, 1; 65, 12, 1. 682 Dio 65, 16, 1 u. 3.

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zu töten;683 über Verfahren gegen nichtsenatorische Verschwörer ist nichts bekannt. (3) Auch die in der Historia Augusta genannten Aussetzungen der Anklagen wegen maiestas unter Hadrian und Pertinax684 lassen sich – abgesehen davon, dass der Verfasser der Historia Augusta diesen Vorgang wahrscheinlich von Nerva auf die beiden genannten Kaiser transponiert hat685 – gut mit der These verbinden, dass tatsächlich nur Verfahren wegen Beleidigungen des Kaisers ausgesetzt wurden. So ist bei Hadrian von der Anklage eines Hochverräters die Rede, der auch bestraft wurde686, während aus Dio 69, 23, 2 hervorgeht, dass Beleidigungen des Kaisers nicht verfolgt wurden. Die Suspendierung der Lex maiestatis muss also nicht alle Tatbestände betroffen haben, sondern wird nur die spätere Erweiterung des ursprünglichen Gesetzes auf Beleidigung und Missachtung des Kaisers erfasst haben. bb) Was die genauen Zeiten der Aussetzung in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten betrifft, so lässt sich Folgendes feststellen: Sicher ist sie von 37 bis 39 n. Chr. unter Caligula687, 41 bis 62 n. Chr. unter Claudius und zu Beginn der Regierung Neros688, dann 69 bis 81 n. Chr. unter Vespasian und Titus689 und 96 bis 117 n. Chr. unter Nerva und Trajan690. Unter den späteren Adoptivkaisern liegt eine Aussetzung der Norm zwar ebenfalls nahe691, doch müssen diesbezüglich Entstehung und Entwicklung des Vergehens „Verunglimpfung von Kaiserstatuen“ berücksichtigt werden, das damals erstmals in den Schriften der Juristen auftauchte. Nach anfänglicher Zurückhaltung692 begann man nämlich unter Tiberius damit, Handlungen und Worte, die in irgendeinem Zusammenhang mit Augustus standen, z. B. einen Sklaven in der Nähe eines Bildnisses des Augustus zu prügeln, dort die Kleider zu wechseln, den Kopf einer Augustusstatue ab683

Dio 68, 2, 3. HA Hadrian 18, 4; HA Pertinax 6, 8. 685 So Liebs, Alexander Severus, S. 123 u. Fn. 43 mit Verweis auf Straub, Die ultima verba, S. 171 f. 686 HA Hadrian 15, 6. 687 Dio 59, 4, 3; 6, 2; 16, 8, wenn auch mit einigen Durchbrechungen in der Zwischenzeit: Dio 59, 10, 4; 11, 6. 688 Dio 60, 3, 6; Tacitus Ann. 14, 48, 2; Sueton, Nero 32, 2. 689 Dio 65, 9, 1; 66, 9, 1. 690 Dio 68, 1, 2; Tacitus, Hist. 1, 1, 4; Plinius, paneg. 42, 1 (auch hier geht wieder aus Dio 68, 16, 2 hervor, dass die Ahndung von Verschwörungen gegen den Kaiser weiterhin erlaubt war). 691 Vgl. nur HA Hadrian 18, 4 (mit der Einschränkung oben aa) (3)), Dio 69, 23, 2; HA Marc Aurel 8, 1. 692 Vgl. Tacitus Ann. 1, 73, 2 f.; 1, 74, 1 ff.; 3, 70, 1 ff. 684

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zunehmen oder auch nur eine Münze oder einen Ring mit dem Bild des Augustus auf die öffentliche Latrine mitzunehmen693, als Respektlosigkeit und somit Beleidigung des Kaisers zu verstehen und das Majestätsgesetz darauf anzuwenden. Das setzte sich unter Nero fort und erreichte unter Domitian seinen Höhepunkt, so dass fortan auch bloße Respektlosigkeiten gegenüber dem Bild des amtierenden Kaisers von der Lex maiestatis erfasst wurden.694 (1) In diesem Zusammenhang ist nun ein Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan von Bedeutung, worin Plinius dem Kaiser mitteilt, dass Dio von Prusa unter anderem angeklagt wurde, ein Standbild des Trajan neben den Gräbern seiner Familie aufgestellt zu haben.695 Wie aus der Antwort Trajans hervorgeht, lautete die Anklage auf Verletzung der maiestas. Trajan weist die Anklage mit Bestimmtheit zurück, da er seinem Namen nicht durch Furcht und Schrecken Respekt verschaffen wolle.696 Eine Anklage wegen maiestas war in diesem Falle also nicht abwegig; Plinius zögerte nicht, die Frage dem Kaiser vorzulegen. Klar wird auch, dass es Präzedenzfälle aus der Zeit Domitians gegeben haben muss, in denen ein solcher Fall als Majestätsverbrechen angesehen wurde.697 Nichts gesagt wird dagegen über die strafrechtliche Lage, wenn Bilder oder Statuen divinisierter Kaiser betroffen waren. Deren Behandlung blieb offen.698 (2) Von den Juristen beschäftigte sich erstmals Venuleius Saturninus im 2. Buch de iudiciis publicis, das nach Hadrian entstand699, mit dem Thema. Daraus geht eindeutig hervor, dass unter den späteren Adoptivkaisern diese Tat verfolgt wurde: D. 48, 4, 6: Qui statuas aut imagines imperatoris iam consecratas conflaverint aliudve quid simile admiserint, lege Iulia maiestatis tenentur.

Man kommt nicht umhin zuzugeben, dass nach Hadrian, entgegen dem Anschein in den literarischen Quellen, die Beleidigung von Kaiserbildnissen nach der Lex maiestatis strafbar war und auch in der Folge blieb, wie Äu693 So Sueton, Tib. 58, auch Dio, Fragm. Const. Man. 1975–1979/Exc. Planud. n. 129. 694 Vgl. nur Dio 67, 12, 2. 695 Plinius, ep. 10, 81, 2. 696 Plinius, ep. 10, 82, 1. 697 Plinius ep. 10, 81, 8; 82, 2. 698 Vgl. aber Plinius, ep. 10, 8 u. 9 mit einer Anfrage des Plinius zur Errichtung eines Tempels mit Statuen verschiedener Kaiser. Tellegen, La nature juridique, S. 450 f. stellt auch hier eine Verbindung zur lex maiestatis her. 699 Zu ihm Liebs, HLL 4 (1997) § 419.3, der feststellt, dass Venuleius unter Antoninus Pius und Marc Aurel/Lucius Verus schrieb. Unzutreffend daher Brunt, Did emperors, S. 470 Fn. 5, der es sich hier zu einfach macht und den Juristen unter Commodus ansetzt, um Marc Aurel als „guten“ Kaiser zu retten.

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ßerungen Cervidius Scaevolas700 und Marcians701 nahe legen, die sich mit der Materie beschäftigten. Die Erstreckung der Lex maiestatis auf Beleidigungen des Kaisers, die auch in Respektlosigkeit gegenüber Bildnissen bestehen konnte, wurde während der Zeit der Adoptivkaiser wieder aufgenommen und jedenfalls bis Caracalla nicht mehr rückgangig gemacht.

3. Lex Cornelia de sicariis et veneficiis702 Die von Sulla 81 v. Chr. erlassene und später durch kein julisches Gesetz ersetzte Lex Cornelia war im Prinzipat die Rechtsgrundlage für Totschlag und ähnliche lebensgefährdende Verbrechen. Dazu sind aus Ulpians Werk mit Abstand die meisten Fragmente erhalten. Dadurch können wir den Aufbau von Ulpians Werk, die Weiterentwicklung dieses Verbrechens und des Strafrechts überhaupt im Laufe der ersten zwei Jahrhunderte nach Christus genauer verfolgen.703 Außerdem erlauben Paralleltexte in der Collatio und den Digesten einen Einblick in die Überlieferung von Ulpians Werk. Die ersten fünf von insgesamt dreizehn in der sog. Mosaicarum et Romanarum legum collatio704 (Coll.) aus de officio proconsulis enthaltenen Fragmente betreffen nämlich Tatbestände der Lex Cornelia. Diese am Dekalog und damit hauptsächlich am Strafrecht interessierte Sammlung eines unbekannten, aber wohl christlichen705 und nicht juristisch vorgebildeten Verfassers lässt sich zwischen 392 und 410 n. Chr. nach Rom datieren.706 Sie bildet eine wertvolle Ergänzung der in den Digesten vorhandenen Fragmente, denn sie 700 D. 48, 4, 4 § 1 (4 regularum): Hoc crimine liberatus est a senatu, qui statuas imperatoris reprobatas conflaverit. Cervidius Scaevola war wichtigster juristischer Berater Marc Aurels, vgl. Liebs, HLL 4 (1997) § 415.6, S. 114. 701 D. 48, 4, 5 (5 reg.): Non contrahit crimen maiestatis, qui statuas Caesaris vetustate corruptas reficit. 1 Nec qui lapide iactato incerto fortuito statuam attigerit, crimen maiestatis commisit: et ita Severus et Antoninus Iulio Cassiano rescripserunt. 2 Idem Pontio rescripsit non videri contra maiestatem fieri ob imagines Caesaris nondum consecratas venditas. 702 Im Gegensatz zu Mommsen, der veneficis liest (D. ad h. t., S. 852), zieht Cloud, How did Sulla, S. 140 f. nachvollziehbar die hier gewählte Schreibung vor. Die Überlieferung in der Collatio spricht nicht dagegen, denn die verschiedenen Handschriften weisen beide Lesungen auf. 703 Vgl. dazu unter a). 704 Allgemein nur Collatio genannt. Ursprünglicher Titel war nach Liebs, Jurisprudenz Italien, S. 163, Lex Dei, quam Deus praecepit ad Moysen, et lex Romana. Ausgabe: Mommsen, Collectio III, S. 107 ff. 705 So Liebs, Jurisprudenz Italien, S. 164 f. und Ders., Art. Juriprudenz, S. 624 ff. gegen Volterra, Collatio, und andere, die den Verfasser für einen Juden halten. 706 So Liebs, Jurisprudenz Italien, S. 166, für Rom als Entstehungsort wegen Coll. 14, 3, 6 in Verbindung mit CJ 9, 20, 7 sowie CTh 9, 18, 1. Dort (S. 166 ff., insbes. S. 170) auch zum Terminus post (aufgrund Coll. 5, 3) und ante quem.

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bietet nicht nur den ursprünglichen Ulpiantext frei von Interpolationen707, sondern enthält auch Texte, die im Corpus Iuris fehlen. Zudem zeigt die häufige Verwendung auch langer Passagen aus de officio proconsulis wohl die große Akzeptanz und starke Verbreitung des ulpianischen Werks um 400 n. Chr., da der Verfasser der Coll. als juristischer Laie nur die gängigste Literatur benutzt hat. a) Coll. 1, 3, 1: de sicariis et veneficiis708, Grundtatbestand der sicarii der Lex Cornelia Capite primo legis Corneliae de sicariis cavetur, ut is praetor iudexve quaestionis, cui sorte obvenerit quaestio de sicariis eius, quod in urbe Roma propiusve mille passus factum sit, uti quaerat cum iudicibus, qui ex lege sorte obvenerint, de capite eius, qui cum telo ambulaverit hominis necandi furtive faciendi causa hominemve occiderit cuiusve id dolo malo factum erit et reliqua.

Ohne Kenntnis vom Aufbau des ulpianischen Werkes erscheint die Erwähnung des Prätor und eines iudex quaestionis, von durch Los bestimmten Geschworenen, von einer quaestio und der Beschränkung auf Rom und dessen Umgebung in einem Werk für die praktische Tätigkeit der Provinzstatthalter seltsam und könnte zu falschen Schlüssen, gerade in Bezug auf den provinzialen Strafprozess709, verleiten. Wie aber bereits im Rahmen der Untersuchung des Majestätsverbrechens gesagt wurde710, stellte Ulpian bei der Behandlung der einzelnen Tatbestände jeweils zunächst die ursprüngliche Rechtsgrundlage vor, die bei den Verbrechen des ordo bis in die späte Republik und frühe Kaiserzeit zurückreichte. Keineswegs hatte Ulpian also 707 Näher dazu bei der Behandlung der einzelnen Texte. Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der Coll. hegt dagegen Wieacker, Textstufen, insbes. S. 391 ff. speziell zu de officio proconsulis. Für Authenzität des Textes aber schon Kaser, Zur Methodologie, S. 61 ff. Fn. 119. 708 Der Titel ist in Coll. 1, 3 überliefert (zur Lesung veneficiis abweichend von Mommsen vgl. o. Fn. 702). Allerdings erwartet man Ad legem Corneliam de sicariis et veneficiis als Titel; das muss aber nicht heißen, dass der Collatio-Verfasser die Worte unterschlagen hätte, sondern kann auch gut mit Unterrubriken in Ulpians Werk zusammenhängen. Ulpians Werk war wohl nicht nur in größere, sondern innerhalb der größeren Abschnitte noch in Untertitel unterteilt; vgl. in diesem Sinne Liebs, Jurisprudenz Italien, S. 132 Fn. 11 und Ders., Hermogenian, S. 71 Fn. 189 und S. 118 Fn. 6; s. a. Ders., Römische Jurisprudenz in Africa, S. 113. Diese These wird durch andere Titelüberschriften, die in der Collatio überliefert sind, unterstützt (vgl. Coll. 15, 2; 12, 5; 8, 7) und passt zur Zielsetzung des Werkes, den Statthaltern einen schnellen Überblick über die von ihnen zu behandelnden Materien zu ermöglichen. Ulpian könnte also vorliegend zunächst einen Haupttitel Ad legem Corneliam de sicariis et veneficiis gebildet und danach in Untertiteln die unter dieses Gesetz gefassten Tatbestände behandelt haben. 709 Zu ihm sogleich bb). 710 s. o. 2. b) aa).

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die Absicht, nur vom Statthalter unmittelbar zu berücksichtigendes Recht darzustellen. Vielmehr lässt sich anhand des vorliegenden Textes abschätzen, welche Komponenten des republikanischen Gesetzes zur Zeit der Abfassung von de officio proconsulis noch relevant waren und wie sehr die Zeit über die ursprünglichen Regelungen hinweggegangen war.711 aa) Ursprünglicher Inhalt des republikanischen Gesetzes Mit Coll. 1, 3, 1 sind wir in der glücklichen Lage, aus der Lex Cornelia de sicariis et veneficiis den Wortlaut des Kapitels über die „Dolchmänner“ weitgehend wiederherstellen zu können712 und so einen Einblick in die republikanische Strafgesetzgebung zu erhalten. (1) Sulla schuf im Rahmen seiner Verfassungsreform mit der Lex Cornelia de sicariis et veneficiis eine weitere quaestio perpetua, ein ständiges und nicht nur in besonderen Fällen tagendes Geschworenengericht unter Vorsitz eines Prätors oder eines iudex quaestionis.713 Die Aufgabe der Vorsitzenden dieser Gerichtshöfe erschöpfte sich in der Verhandlungsleitung und der Vollstreckung des von den Geschworenen gefundenen Urteils, welches entweder auf Verurteilung oder Freispruch lautete.714 Dabei betraf das erste Kapitel der lex, wie es in Coll. 1, 3, 1 wiedergegeben ist, nur in Rom und seiner nächsten Umgebung verübte Taten.715 711 Unrichtig daher Bauman, Crime and Punishment, S. 120. Die Statthalter waren weder an der cum-telo-Klausel besonders interessiert, da die zur Zeit Ulpians darunter fallenden latrones und Aufrührer unter die allgemeine Eingriffsnorm in D. 1, 18, 13 pr. (s. o. I. 1.), unter die mittlerweile spezieller als die Lex Cornelia gewordene Lex Iulia de vi (s. u. 6. b) zu Coll. 9, 2) und unter Diebstahlstatbestände (Coll. 7, 4, 2, s. u. V. 5 a)) fielen, noch an der gesetzlichen Interdiktionsstrafe, die in Coll. 1, 3, 1 gar nicht genannt ist und zudem in Coll. 12, 5, 1 gerade als nicht mehr aktuell bezeichnet wird (sed re varie sunt puniti, s. dort). 712 Zur Rekonstruktion des 1. Kapitels der Lex Cornelia vgl. vor allem Ferrary, Lex Cornelia de sicariis, S. 417 ff. unter Angabe aller weiteren in Betracht kommenden republikanischen Quellen, so insbes. Cicero, pro Mil. 4, 11; Parad. stoicorum 31; Phil. 2, 9, 22; ferner auch Ders., Lex Cornelia Roman Statutes, S. 749 ff.; Cloud, The primary purpose, S. 258 ff.; Kunkel, Untersuchungen, S. 65 u. Fn. 245; Ders., Quaestio, S. 57. 713 Diese waren gewesene Ädilen, die die Leitung einer quaestio übernehmen konnten, wenn nicht genügend Prätoren zur Verfügung standen; vgl. zu ihnen Mommsen, Staatsrecht II.1, S. 589. 714 Zum Quästionenverfahren immer noch grundlegend Kunkel, Quaestio, S. 67 ff. (zur Geschworenenbank); S. 74 ff. (zum Verfahren). 715 In diesem Zusammenhang ist umstritten, ob in sullanischer Zeit für jenseits des 100. Meilensteins verübte Taten eine zweite quaestio inter sicarios in Rom bestand oder ob die Munizipien eine eigene Kapitalgerichtsbarkeit besaßen. Für eine munizipale Kapitalgerichtsbarkeit beispielsweise Greenidge, Legal Procedure, S. 406 f.; Galsterer, Die lex Osca Bantinae, S. 196 u. S. 211 ff.; Ders., La loi

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Die prozessrechtlichen Bestimmungen waren zur Zeit Ulpians und zumal in den Provinzen mit der weitestgehenden716 Auflösung der stadtrömischen Quästionen obsolet geworden; Marcian717 und der Sentenzenverfasser718 erwähnen denn auch nur noch den materiellen Tatbestand des Gesetzes ohne die prozessualen Elemente. Ulpian wollte hier also nur, wie bereits dargestellt, die Rechtsgrundlage der Totschlagsverfolgung wörtlich wiedergeben, ohne Aussagen über den provinzialen Strafprozess zu machen.719 (2) Bei Lektüre des in Coll. 1, 3, 1 wiedergegebenen materiellen Tatbestandes fällt ins Auge, dass zunächst nur das bewaffnete Umhergehen in Tötungs- oder Diebstahlsabsicht und danach erst die Tötung eines Menschen aufgeführt wird, dieser Tatbestand noch dazu ohne subjektive Erfordernisse.720 Die Reihenfolge verwundert, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Lex Cornelia primär um ein den Totschlag allgemein ahndendes Gesetz gehandelt hatte. Zu diesem Ausgangspunkt passen die von Marcian und dem Sentenzenverfasser erhaltenen Texte besser, die hominem occiderit vor der cum-telo-Klausel anführen.721 Ulpian dagegen geht auch in seiner in Coll. 1, 3, 2 folgenden Stellungnahme zunächst auf die cumtelo-Klausel ein, obwohl auch ihm der zu seiner Zeit vorherrschende Gesetzeszweck zweifellos bekannt war. Deshalb nimmt man mit Recht heute allgemein an, dass die bei Ulpian anzutreffende Reihenfolge der Tatbestände die originale im Gesetzestext war.722 municipale, S. 201 f.; Simshäuser, Iuridici, S. 173 ff. vor allem unter Berufung auf die Lex Osca Tabulae Bantinae, Z. 8/9 u. 13/14 sowie die Libitinarius-Inschrift aus Puteoli in AE 1971 Nr. 88, col. II, 11–14. Gegen diese Ansicht aber zu Recht Ferrary, Lex Cornelia de sicariis, S. 423 f.; Strachan-Davidson, Problems, S. 142 ff., insbes. 149; Cloud, The primary purpose, S. 279 f.; Ders., Municipal capital jurisdiction, S. 39 ff. unter Entkräftung aller von der Gegenansicht vorgebrachten Argumente. Für eine zweite quaestio in sicarius-Fällen, die außerhalb Roms begangen worden waren, spricht z. B. Cicero pro Cluent. 147, wo wir lesen, dass im Jahr 66 v. Chr. zwei quaestiones inter sicarios in Rom tagten. 716 Nur die quaestio de adulteriis scheint, wie aus Dio 77, 16, 4 gefolgert werden kann, zur Zeit Ulpians noch, wie langsam auch immer, gearbeitet zu haben, vgl. dazu Bauman, Some remarks, S. 68 ff. (zum Dio-Text speziell S. 88 ff.). Zweifelnd Garnsey, Adultery trials, S. 56 ff. 717 D. 48, 8, 1 pr., 14 inst. 718 PS 5, 23, 1 = Coll. 1, 2, 1 = Coll. 8, 4, 1. 719 Dazu sogleich bb). 720 Eine Interpolation des hominemve occiderit in der Kaiserzeit, die Bauman, Leges iudiciorum publicorum, S. 120 ff. vertritt, ist nicht anzunehmen. Die Worte werden im Zusammenhang mit der Lex Cornelia bereits von Cicero in Parad. stoic. 31 und Phil. 2, 9, 22 gebraucht. 721 s. o. Fn. 717 u. 718. 722 Vgl. Ferrary, Lex Cornelia de sicariis, S. 420 f.; Cloud, The primary purpose, S. 264 ff.; Kunkel, Untersuchungen, S. 65 ff.

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Daraus erhellt auch der ursprüngliche Sinn und Zweck der Lex Cornelia. Sulla übernahm in Bezug auf die sicarii nur eine bereits bestehende Norm, die hauptsächlich als Polizeigesetz gemeint war, womit das in Rom damals verbreitete Banditenunwesen eingedämmt werden sollte. Nach den Bürgerkriegen hatte diese Norm für Sulla eine besondere Bedeutung;723 er wollte in Rom wieder Ruhe und Ordnung herstellen.724 Diesem primären Ziel des sicarius-Tatbestandes, alle in Tötungs- oder Diebstahlsabsicht bewaffneten Personen ohne Rücksicht auf eine ausgeführte Tötung beziehungsweise einen begangenen Diebstahl kapitaler Bestrafung zu unterwerfen, widersprechen auch nicht die folgenden Worte hominemve occiderit. Bei ihnen fehlt das an sich unerlässliche subjektive Moment, weshalb sie später, und sei es noch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, eingefügt sein werden. Den Totschlag als reines Erfolgsdelikt zu fassen, kann nicht wirklich gewollt gewesen sein.725 Schon in dem berühmten Totschlagstatbestand der lex Numae: si qui hominem liberum dolo sciens morti duit, paricidas esto726

war das Vorsatzelement enthalten. Es liegt daher nahe, dass die Worte hominemve occiderit im Gesetzestext zunächst nur die cum-telo-Klausel ergänzen sollten, die Vorsatz bereits forderte.727 Die Aufnahme der genannten Worte in die Lex Cornelia zeigt aber auch, dass das vor-cornelische Polizeigesetz nun auch repressiv den Totschlag an sich erfassen sollte. Dass hominemve occiderit schon in der Lex Cornelia selbst stand, dafür spricht auch, dass im Gesetz auch Bestimmungen über Prämien für Auffinden eines nach einem Totschlag geflohenen Sklaven des Getöteten und über das Verfahren gegen einen solchen Sklaven, wenn er im Testament des Ermordeten freigelassen worden war, enthalten waren.728 723

Für diese vorcornelische polizeiliche Norm sprechen insbes. Cicero, de inv. 2, 20, 59 f. (de inv. wurde, wie aus de or. 1, 2, 5 gefolgert werden kann, vor Sullas Gesetzgebung verfasst), und um 180 v. Chr. Plautus, Aulularia 412 ff., wo eindeutig Fälle der cum-telo-Klausel als strafbar hingestellt werden; dazu Kunkel, Untersuchungen, S. 66 Fn. 251 u. S. 68 f. Für eine ursprünglich polizeiliche Norm spricht v. a. die ursprüngliche Bedeutung von sicarius, die Bandit oder Gangster mit urbanem Charakter meint; s. dazu Cloud, The primary purpose, S. 267 ff. mit umfassender Auswertung der Quellen. 724 Deswegen wird von der Lex Cornelia auch als einem „Gelegenheitsgesetz“ gesprochen (Mommsen, Strafrecht, S. 615), was allerdings nicht dazu verleiten sollte anzunehmen, Sulla habe ein völlig neues Gesetz geschaffen (so aber Berger, Art. sicarius, S. 706). 725 So aber Polara, Marciano, S. 103 u. S. 108 ff. 726 In Festus, 247. 727 So auch Kunkel, Untersuchungen, S. 65 f.; Magdelain, Paricidas, S. 562 f. 728 D. 29, 5, 25 pr. – § 1, Gaius 17 ad ed. prov.

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Nicht auszuschließen ist sogar, dass der Tatbestand bereits vor Sulla um den Totschlag erweitert worden war.729 Festzuhalten bleibt, dass es sich bei den beiden sicarius-Tatbeständen der Lex Cornelia um zwei verschiedene und – vom Vorsatzerfordernis abgesehen – voneinander getrennte Tatbestände handelte.730 Sulla legte nicht nur deshalb Wert auf die Frontstellung der cum-telo-Klausel, weil sie schon in der Vorläufer-Gesetzgebung über sicarii an dieser Stelle stand, sondern auch, weil das den politischen Umständen zur Zeit der Gesetzgebung entsprach. Gewiss sollte auch der vorsätzliche Totschlag selbst verfolgt werden, unabhängig von Bewaffnung cum telo731, weshalb die Lex Cornelia auch als allgemeines Totschlagsgesetz fungierte. Das galt aber zunächst nur für Fälle, die nicht bereits vom ersten Tatbestand erfasst wurden, war doch die Norm zunächst noch der cum-telo-Klausel untergeordnet. Erst später wurde die Totschlags-Klausel als gleichrangiger Tatbestand verstanden. 729 So Ferrary, Lex Cornelia de sicariis, S. 422; zweifelnd Nörr, Causa mortis, S. 113; Kunkel, Untersuchungen, S. 70 eher für Einführung durch Sulla. Für Augustus zu Unrecht Cloud, The primary purpose, S. 282 ff., der D. 29, 5, 25 pr. – § 1 nicht berücksichtigt. 730 So klar nur Santalucia, Omicidio, S. 120. 731 Nicht zu folgen daher Kunkel, Untersuchungen, S. 66 und Nörr, Causa mortis, S. 89 f., die die Einfügung von hominemve occiderit deswegen für nötig hielten, weil der Bandit, der seine Tötungsabsicht in Erfolg umsetzen konnte, sonst nicht hätte belangt werden können. Dagegen zutreffend Ferrary, Lex Cornelia de sicariis, S. 421 f. Der vollendete Totschlag manifestiere das Waffentragen in Tötungsabsicht und sei daher bereits vom ersten Tatbestand erfasst; außerdem fehle eine Entsprechung für den vollendeten Diebstahl. Kaum vereinbar mit der hier vertretenen Ansicht zweier getrennter Tatbestände nimmt Sperandio, Dolus, S. 123 ff. (ähnlich auch Marotta, Multa, S. 299 f.) an, bereits die Lex Cornelia habe mit der cum-teloKlausel den versuchten Totschlag bestrafen wollen. Der von jenem angeführte Text Ciceros, de inv. 2, 20, 59 f., gibt zur Unterstützung dieser These aber nichts her. Die Verwundung des römischen Ritters ist für die Erfüllung der cum-telo-Klausel irrelevant und nur für die Erhebung der iniuria-Klage bedeutsam. Dass die Lex Cornelia aufgrund der Verwundung einschlägig sein soll, sagt Cicero mit keinem Wort. Wahrscheinlicher ist, dass allein wegen der Zielsetzung des ad vim faciendam der Bewaffneten eine Anklage vor der quaestio inter sicarios möglich war. Gerade vorliegende Situation, das Umherziehen gefährlicher Banden, sollte durch die polizeiliche cum-telo-Norm verhindert werden. Die Verwundung des Ritters hat daneben keine eigene Bedeutung, kann aber im Prozess zum Beweis der Tötungsabsicht herangezogen werden. Abgesehen davon wäre Einbeziehung des Versuchs bereits in der ursprünglichen cum-telo-Klausel auch deshalb unwahrscheinlich, weil das bedeutet hätte, dass auch der versuchte Diebstahl nach der Lex Cornelia zu bestrafen gewesen wäre, während der vollendete Diebstahl ein Privatdelikt mit geringerer Strafe war. Das kann nicht gewollt gewesen sein. Wenn Hadrian später die Verwundung in Tötungsabsicht unter die Lex Cornelia fasste, so wird das mit dem Wandel der Lex Cornelia in der Kaiserzeit, als die cum-telo-Klausel in den Hintergrund trat und die Lex Cornelia als allgemeines Totschlagsgesetz fungierte, zu tun haben.

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(3) Die Rechtsfolge der Lex Cornelia kam in den Worten zum Ausdruck, es solle de capite des Angeklagten verhandelt werden732, während Ulpian bei Behandlung der incendiarii in Coll. 12, 5, 1 aqua et igni interdictio als Strafe der Lex Cornelia bezeichnete733 und auch das von ihm in Coll. 15, 2, 1 angeführte SC über die mathematici diese Strafe, wohl an das cornelische Gesetz anknüpfend, nannte;734 Marcian735 und der Sentenzenverfasser736 nannten Deportation und Vermögenskonfiskation als gesetzliche Strafe. In den kaiserzeitlichen Quellen kann man die von der Lex Cornelia vorgesehenen Strafen freilich kaum erwarten. Dazu benötigten wir zeitgenössische Quellen. Aus dem Wortsinn der cornelischen Norm ergibt sich, dass es in dem Prozess um das Leben des Angeklagten ging;737 der Tod war die einzige in der Lex festgesetzte Strafe. Wenn die kaiserzeitlichen Juristen dagegen nur die Interdiktion als gesetzliche Strafe nennen738, so berücksichtigen sie, dass schon in der späten Republik und ebenso in der frühen Kaiserzeit dem in einer kapitalen quaestio Verurteilten der Weg in die Verbannung offen stand, die Todesstrafe also so gut wie nie mehr vollstreckt wurde.739 Zu dieser Entwicklung trug sicherlich die Eigenart des Quästionenverfahrens bei, wo die Geschworenen nur über die Schuld des Angeklagten urteilten, die gesetzliche Strafe zu verhängen und vollstrecken zu lassen aber dem vorsitzenden Magistrat oblag, der in Ausübung seines Ermessens den Verurteilten in die Verbannung entweichen lassen konnte.740 Das wird er vor allem bei den angeseheneren Schuldigen getan haben. Das änderte aber nichts daran, dass gesetzliche Strafe der Lex Cornelia die Todesstrafe war und blieb. 732 Bestätigt durch Cicero, pro Cluent. 148: deque eius capite quaerito im Zusammenhang mit der Behandlung der Prozessverbrechen der Lex Cornelia. 733 Zu Coll. 12, 5 s. u. g) bb). 734 Zu Coll. 15, 2 s. u. e). 735 D. 48, 3, 5 (14 inst.). 736 PS 5, 23, 1 = Coll. 1, 2, 1 = Coll. 8, 4, 1. 737 Vgl. Levy, Die röm. Kapitalstrafe, S. 332. 738 In späterer Zeit, als die gesetzlichen Strafen vollends in den Hintergrund traten, ersetzte die Deportation die aqua et igni interdictio, vgl. z. B. D. 48, 19, 2 § 1 (Ulpian, 48 ad ed.). 739 Die letzte bekannte Hinrichtung eines römischen Bürgers nach Verurteilung in einer quaestio fand im Jahr 90 v. Chr. statt, vgl. Cicero, de nat. deor. 3, 81 (Q. Varius wegen Majestätsverbrechen). Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine weiteren Hinrichtungen gegeben hat. Solche sind nach der hier vertretenen Ansicht auch nicht unwahrscheinlich, nur traten sie, jedenfalls bei den Angehörigen der oberen Stände, in den Hintergrund. Gerade im Rahmen der quaestio inter sicarios ist aber eine durchgängige Verbannung auch schlimmster Verbrecher, solange sie nur Römer waren, kaum denkbar. So auch Kunkel, Untersuchungen, S. 67 Fn. 253. 740 Vgl. Kunkel, Quaestio, S. 86 ff.; Levy, Die röm. Kapitalstrafe, S. 333 ff.

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Begünstigt durch diese Praxis entwickelte sich nun die Auffassung, eine Verurteilung de capite habe Verbannung des Verurteilten zur Folge. In den 60-er Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts begann man damit, die interdictio aquae et igni in neuen Gesetzen auch explizit als Strafe vorzusehen;741 und die kapitalen leges Iuliae sahen allein die interdictio vor.742 Jedenfalls spricht nichts dafür, Sulla habe in der Lex Cornelia die Todesstrafe abgeschafft und durch Verbannung ersetzt. Sulla wird als konservativer Restaurator an dem überkommenen Begriff der gesetzlichen Bestrafung de capite festgehalten haben, ohne allerdings der von den Gerichtsmagistraten geübten Praxis der Verbannung der – wohl überwiegend höhergestellten – Verurteilten vor Vollstreckung eines Todesurteils im Wege stehen zu wollen. bb) Entwicklung der quaestio inter sicarios in den Provinzen Zum Strafverfahren in den Provinzen vor dem Statthalter wird zumal heute vertreten, Coll. 1, 3, 1, wo der Prätor als Vorsitzender der quaestio inter sicarios und der Geschworenenbank erscheint, ergebe, dass, jedenfalls bei den Straftaten des ordo, auch in den Provinzen das Verfahren der quaestio bis in die Zeit Ulpians hinein praktiziert worden sei. Insbesondere sei der Statthalter wie der Prätor nur befugt gewesen, das von einer Geschworenenbank zu treffende Urteil zu konkretisieren und zu vollstrecken.743 Am vorliegenden Collatio-Fragment lässt sich eine solche Aussage aber nicht festmachen. Schon die Nennung des iudex quaestionis und auch die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Lex Cornelia auf Rom und dessen nähere Umgebung zeigen, dass Ulpian hier den ursprünglichen Gesetzeswortlaut als Grundlage des geltenden Rechts zum Totschlag wiedergibt, ohne schon jetzt auf das Strafverfahren der Provinzen einzugehen. Das war ja bereits am Anfang des 7. Buches de officio proconsulis ausführlich dargestellt. (1) Auch die Entwicklung in den ersten Jahrhunderten n. Chr. zeigt, dass das Quästionenverfahren in den Provinzen nicht überdauert hatte. Zwar ist richtig, dass es auch in den Provinzen Quästionenverfahren gegeben hat, insbesondere den Schuldspruch eines Geschworenen-Konsiliums. Das ist für die späte Republik durch Strafprozesse gegen Peregrine während der Statthalterschaft des Verres in Sizilien bezeugt744 und auch in der frühen Kaiserzeit durch die berühmten augusteischen Edikte 1 und 4 von 741 742 743 744

Vgl. Levy, Die röm. Kapitalstrafe, S. 344 ff. Vgl. Cicero, Phil. 1, 23; auch parad. stoic. 4, 31. So Bauman, Crime and Punishment, S. 120 f. Cicero, in Verr. II, 1, 71 ff.; II, 2, 68 ff.; II, 5, 114.

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Kyrene.745 In diesen wird ein den hauptstädtischen Quästionen vergleichbarer Strafgerichtshof gerade für Totschlagsprozesse746 genannt, der aus Geschworenen unter Vorsitz des Statthalters bestand747 und vor dem sowohl Römer als auch Peregrine verurteilt werden konnten.748 Die Regelungen der Edikte beziehen sich zwar nur auf die Provinz Kyrene, eine ähnliche Handhabung in anderen Provinzen lässt sich aber sowohl aus einer überlieferten Paulusstelle folgern, in der im Rahmen einer wörtlichen Wiedergabe eines Kapitels der Lex Iulia iudiciorum publicorum zum Inhalt des libellus inscriptionis der Prokonsul mit dem Prätor in seiner Funktion als Vorsitzender der quaestio gleichgestellt wird749, als auch einer Inschrift entnehmen, nach der Q. Decius Q. f. M. n. Saturninus zur Zeit von Augustus und Tiberius praef(ectus) fab(rum) i(ure) d(icundo) et sortiend(is) iudicibus in Asia war.750 (2) Aus späterer Zeit ist über einen der quaestio vergleichbaren Geschworenengerichtshof in den Provinzen nichts mehr bekannt. Vielmehr lässt die Apologie des Apuleius751 die Folgerung zu, dass es um die Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. kein dem Quästionenverfahren entsprechendes Strafverfahren in der Provinz mehr gegeben hat. Besonders aufschlussreich ist der Prozess gegen Apuleius hier auch deshalb, weil die Strafbarkeit der Magie in Erweiterung des veneficus-Tatbestandes der Lex Cornelia de sicariis et veneficiis angefügt worden war752 und daher das im Prozess angewandte Verfahren mit dem ursprünglichen verglichen werden kann. Zwar ist neben dem Statthalter auch ein consilium an der Rechtsfindung beteiligt753, die Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten lag jedoch allein in den Händen des Prokonsuln; das consilium beschränkte 745 Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Stroux/Wenger, Inschrift von Kyrene, S. 12 f.; S. 86 f. 746 1. Edikt Z. 38. 747 1. Edikt Z. 15 ff., 21 ff., 33, 37 ff.; 4. Edikt Z. 63 ff. 748 Bei Verfahren gegen peregrine Griechen mit der Möglichkeit einer hälftig aus Griechen bestehenden Geschworenenbank (1. Edikt Z. 15 ff.; 21 ff.; 4. Edikt Z. 63 ff.). Die Zulässigkeit dieses Verfahrens auch gegen römische Bürger – natürlich vor einer rein römisch besetzten Geschworenenbank – ergibt sich aus einem Umkehrschluss, vgl. dazu Bleicken, Senatsgericht, S. 171 ff. 749 D. 48, 2, 3 pr. (Paulus 3 de adult.): Libellorum inscriptionis concepitio talis est: (. . .) Apud illum praetorem vel proconsulem Lucius Titius professus est se Maeviam lege Iulia de adulteriis ream deferre (. . .) hoc enim lege Iulia publicorum cavetur (. . .). 750 CIL X 5393 = Dess. 6286. 751 Zu ihr bereits o. II. 1. b) cc). 752 Vgl. insbes. D. 48, 8, 3 §§ 2 u. 3 (Marcian, 14 inst.); PS 5, 23, 14 ff. und o. Fn. 366. 753 Apuleius, apol. 1, 1; 65, 5.

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sich auf beratende Funktion.754 Es war nur noch ein Überbleibsel der ehemaligen Geschworenenbank; die dieser zustehenden Funktionen werden nun aber allein vom Statthalter verantwortet. Diese Entwicklung war bereits in den kyrenischen Edikten angelegt. Im Verfahren gegen Peregrine konnte der Statthalter nach seinem Ermessen ein Geschworenengericht einsetzen oder allein verhandeln und das Urteil fällen.755 Von dieser Befugnis aus war der Weg für den Statthalter nicht weit, zwar ein Konsilium hinzuzuziehen, in der Sache jedoch selbst zu entscheiden. Die Entwicklung erfasste dann sicher bald auch römische Bürger, insbesondere nachdem das Quästionenverfahren auch in Rom größtenteils von der Eigenkognition des praefectus urbi, dem Senats- und dem Kaisergericht verdrängt worden war.756 Zwar gab es also in der Provinz Geschworenengerichte unter Vorsitz des Statthalters, doch wurden diese wahrscheinlich schon im Laufe des 1. Jh. n. Chr. von der Eigenkognition des Statthalters mit einem bloß beratenden consilium abgelöst. Ulpians Aussage in Coll. 1, 3, 1 hat also nur historischen Wert. b) Coll. 1, 3, 2: Interpretation Ulpians Haec lex non omnem, qui cum telo ambulaverit, punit, sed eum tantum, qui hominis necandi furtive faciendi causa telum gerit, coercet. Compescit item eum, qui hominem occidit, nec adiecit cuius condicionis hominem ut et ad servum et peregrinum pertinere haec lex videatur.

Ulpian hält zunächst zur cum-telo-Klausel der Lex Cornelia fest, dass ein bloßes bewaffnetes Umhergehen ohne Tötungs- oder Diebstahlsvorsatz nicht ausreichte, um den Tatbestand des Gesetzes zu erfüllen. Der Jurist schärft seinen Lesern ein, wie wichtig die Erforschung des Vorsatzelementes bei einem potenziellen Täter der Lex Cornelia ist, gerade vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Entwicklung des Gesetzes zum allgemeinen 754 Das zeigt sich schon in der Nennung des Statthalters immer an erster Stelle vor dem consilium, apol. 1, 1; 65, 5, aber auch darin, dass Apuleius sehr häufig den Prokonsul allein anspricht, apol. 1, 1; 36, 3; 53, 3; 102, 4. Zum Vergleich ist auf Ciceros Verteidigungsrede 80 v. Chr. vor der quaestio inter sicarios in Rom über Sextus Roscius aus Ameria zu verweisen. Hier werden primär die iudices angesprochen, die ja das Urteil zu fällen hatten (beispielsweise 1, 1; 2, 7; 3, 8; 4, 9; 9, 25; 11, 29; 17, 49; 21, 59; 22, 62; 26, 71; 35, 98; 40, 116; 52, 150; 52, 152). Gegen ein der quaestio vergleichbares Geschworenengericht dürfte bei Apuleius die Aussage a proconsule damnari am Schluss der Verteidigungsrede sprechen, apol. 103, 4: Die Verurteilung erfolgt durch den Prokonsul selbst. 755 4. Edikt Z. 65. 756 Vgl. zu der Verdrängung der Quästionen Kunkel, Quaestio, S. 99 ff.

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Totschlagsgesetz, in deren Verlauf der früher selbständige cum-telo-Tatbestand zur Erfassung von Vorbereitungs- und Versuchshandlungen dogmatisch präzisiert worden ist.757 Der Satz besagt also auch, dass allein das Mitführen eines telum kein hinreichender Anhaltspunkt sei, Tötungsvorsatz zu unterstellen. Im Folgenden sagt Ulpian, dass das Gesetz im zweiten Tatbestand jede Tötung eines Menschen erfasst, ohne nach seiner sozialen Stellung zu fragen. Daraus folgert er, dass die Lex Cornelia auch bei der Tötung von Sklaven und Peregrinen gelte. Ob diese Aussage, die Marcian bestätigt758, dem Gesetz schon bei seiner Verkündung durch Sulla beigelegt wurde, ist zweifelhaft. Zwar kann homo auch im Rechts- und Literaturlatein der späten Republik den Sklaven einschließen759, doch ist sehr unwahrscheinlich, dass die Tötung eines Sklaven, sei es durch den dominus oder einen anderen, von der ursprünglichen Lex Cornelia erfasst wurde. Im Gesetz Numas schützte der Totschlagstatbestand nur den freien Menschen760 und noch Labeo soll zur Zeit des Augustus der Meinung gewesen sein, dass die Tötung eines fremden Sklaven keine öffentliche Strafverfolgung nach sich ziehe761, von der Tötung des eigenen Sklaven, die als bloßer Akt persönlicher Verfügungsbefugnis des Herrn über eine ihm gehörende res angesehen wurde762, ganz abgesehen. Trotzdem hat der in dieser Hinsicht einer erweiternden Auslegung zugängliche Wortlaut im Laufe der Zeit zur Anwendung der Lex auch auf die Sklaventötung geführt. Von Claudius wurden diejenigen Herren wegen crimen caedis bestraft, die ihre kranken Sklaven getötet hatten.763 Eine Lex Petronia, wahrscheinlich aus neronischer Zeit764, und deren Erweiterungen verboten den Herren, ihre Sklaven ohne Verurteilung durch den Magistrat zu den Zirkusspielen zu geben.765 Und schließlich erstreckte Antoninus 757

Zu den Hadrianischen Reskripten ausführlich u. c). D. 48, 8, 1 § 2 (14 inst.). 759 So Cloud, The primary purpose, S. 262 f.; Kunkel, Untersuchungen, S. 65, begründete das damit, dass es sich bei der Lex Cornelia um ein bloßes Polizeigesetz gehandelt habe, von welchem Standpunkt aus die Einbeziehung der Sklaventötung verständlich erscheine, da auch deren Tötung gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßen könne. Der hominem-occidere-Tatbestand war aber, wie gesagt, eine selbständige, allein repressive Norm, s. o. a) aa) (2). 760 Festus, 247, s. o. a) aa) (2). 761 D. 47, 10, 7 § 1 a. E. (Ulpian 57 ad ed.) nach der Auslegung von Mommsen, Strafrecht, S. 616 Fn. 1 u. S. 892 Fn. 3. 762 Vgl. Mommsen, Strafrecht, S. 616 u. Fn 2 m. w. N. 763 Sueton, Claudius 25, 2. 764 Vgl. zur Datierung auf 61 n. Chr. Rotondi, Leges publicae, S. 468. 765 D. 48, 8, 11 §§ 1 u. 2 (Modestin 6 reg.); 18, 1, 42 (Marcian 1 inst.) 758

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Pius eine zu seiner Zeit bestehende Norm, dass ein Dritter, der einen Sklaven getötet hatte, auch strafrechtlich wegen Totschlags zur Verantwortung gezogen werden könne, auf die Sklaventötung durch den dominus, wenn sie sine causa erfolgt war.766 Ulpian und Marcian gehen womöglich auch den letzten Schritt, indem sie Sklaventötungen schlechthin, wozu genau genommen auch die des Herren cum causa gehört767, in den Bereich der Lex Cornelia einbezogen, wobei sie sich auf den Wortlaut der Gesetzesvorschrift berufen konnten. Damit hätte Ulpian das Strafrecht vom ursprünglichen Verständnis im Rahmen einer flexiblen Auslegung bei der Behandlung der cognitio extra ordinem fortentwickelt. Welch einen Fortschritt diese Ansicht Ulpians zu Sklaventötungen dargestellt hätte, zeigt sich daran, dass am Ende des 3. Jh. n. Chr. und in der Folge unter Konstantin diese Verallgemeinerung wieder verschwunden ist: Tötung des eigenen Sklaven war nur bei absichtlichem Überschreiten der Grenzen der castigatio ein strafrechtlich relevanter Totschlag; und Konstantin revidierte den Schutz der Sklaven vor ihren Herren weiter kräftig.768 c) Entwicklung der Lex Cornelia zum allgemeinen Gesetz über Totschlag. Die hadrianischen Reskripte zum Willenselement Wie aus den angeführten Texten Marcians in D. 48, 8, 1 pr.769 und des Sentenzenverfassers in PS 5, 23, 1770 hervorgeht, die die cum-telo-Klausel erst nach hominem occiderit nennen, war in severischer Zeit unbestritten, 766 Gaius 1, 53: ex constitutione imperatoris Antonini qui sine causa servum suum occiderit, non minus teneri iubetur, quam qui alienum servum occiderit. Zur Strafbarkeit des Dritten Gaius 3, 213: Cuius autem servus occisus est, is liberum arbitrium habet vel capitali crimine reum facere eum qui occiderit, vel hac lege (Aquilia) damnum persequi, und auch D. 9, 2, 23 § 9 (Ulpian 18 ad ed.); 47, 10, 7 § 1 (Ulpian 57 ad ed.). Unwahrscheinlich ist dagegen die Hadrian zugeschriebene Maßnahme, Sklaventötungen durch ihre Herren gänzlich verboten zu haben (HA Hadrian, 18, 7), da Antoninus Pius nur Tötungen der Herren sine causa erfasste, das Hausgericht dagegen nicht antastete. Zur Erstreckung der Lex Cornelia auf Sklaventötungen vgl. Wilinski, Zur Frage, S. 229 ff. sowie Santalucia, Omicidio, S. 126; Marotta, Multa, S. 303 ff. 767 Marotta, Multa, S. 304, schreibt Gaius das Hauptverdienst an der Erweiterung des Tatbestandes zu, m. E. nicht gerechtfertigt. 768 Vgl. PS 5, 23, 6 (= Coll. 3, 2, 1); CTh 9, 12, 1 (319 n. Chr.) u. 2 (326 n. Chr.); HA Hadrian, 18, 7 könnte als Gegenentwurf zu dieser Entfesselung der Herrengewalt zu verstehen sein. 769 14 inst. 770 Entspr. Coll. 1, 2, 1 und 8, 4, 1.

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dass diese Worte der Lex Cornelia de sicariis den Grundtatbestand zur repressiven Ahndung des Totschlags lieferten, während die polizeilich bedingte cum-telo-Klausel ihre ursprüngliche Bedeutung als Haupttatbestand verloren hatte. Wann genau diese Entwicklung einsetzte, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Sulla hatte in der Lex Cornelia ja den Totschlag bereits als eigenständiges Verbrechen berücksichtigt771 und danach mehren sich die Anzeichen, die auf eine Verschiebung der Schwergewichte bei der Anwendung des Gesetzes hindeuten. So verändert sich schon zum Ende der Republik die Wortbedeutung von sicarius, der nun nicht mehr nur den professionellen „Gangster“ und „Auftragskiller“, sondern auch den nicht-professionellen Mörder bezeichnen konnte.772 Im frühen Prinzipat ist die Lex Cornelia die selbstverständliche Grundlage für die Bestrafung von Mord;773 damals war die Entwicklung wohl abgeschlossen. Eine allgemeine Totschlagsnorm wurde im römischen Strafrecht benötigt und konnte im hominem occiderit der Lex Cornelia gefunden werden. Vor allem aber scheinen die ursprünglichen Fälle der cum-telo-Klausel bald774 von Gesetzen gegen vis überholt worden zu sein. Diese legten unter anderem fest: Lege Iulia de vi (. . .) tenetur, (. . .) qui cum telo in publico fuerit.775

Der cum-telo-Tatbestand der Lex Cornelia musste damit seine ursprüngliche Bedeutung verlieren und der Totschlag in den Vordergrund rücken. Trotz dieser Entwertung der cum-telo-Klausel überdauerte sie in den späteren Rechtstexten. Immerhin konnte sie bei der neuen Interpretation des Tatbestandes von Nutzen sein. Aus dem cum-telo-Abschnitt wurde mittlerweile hergeleitet, dass die vorwerfbare Schuld beim Totschlag nicht so sehr im objektiven Tötungserfolg als im Totschlagswillen besteht.776 Mit den Worten hominis necandi furtive faciendi causa wurde der Wille des Täters umschrieben, so dass die Lex Cornelia auch den unvollendeten Totschlag erfasste. Die ursprünglich polizeilich geprägte cum-telo-Klausel der Lex 771

s. o. a) aa) (2). Vgl. Cicero, ep. ad fam. 12, 3, 1 (44 v. Chr.); Quintillian, Inst. or. 10, 1, 12. 773 Vgl. Seneca, Apocolocyntosis 14 (54 n. Chr.); Tacitus, Ann. 13, 44 (Fall des Volkstribuns Octavius Sagitta aus dem Jahr 58 n. Chr.). 774 So erging im Jahr 78 v. Chr. eine Lex Plautia de vi, die primär politische Gewalttaten erfassen sollte (vgl. Cicero, pro Cael. 70 f.; zu ihr Kunkel, Quaestio, S. 64 f.), im Jahr 18 oder 17 v. Chr. dann die allgemeinere Lex Iulia de vi (zu ihr u. 6. und Kunkel, Quaestio, S. 93 f.) 775 So PS 5, 26, 3, bestätigt durch D. 48, 6, 3 § 1 (Marcian 14 inst.); 48, 6, 10 pr. (Ulpian 68 ad ed.); dazu auch Cloud, The primary purpose, S. 284 f. 776 So bereits Ferrini, Teorie, S. 98. 772

III. Straftatbestände mit kapitaler Bestrafung

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Cornelia wurde so uminterpretiert, dass sie als Beispiel für das Erfordernis des Tötungswillens diente.777 Ausprägungen dieser Weiterentwicklung sind einige nun näher zu betrachtende hadrianische Reskripte. Darin wird die neue Interpretation nicht erst entwickelt, sondern die Reskripte bilden den Abschluss einer schon länger dauernden Entwicklung in der nichtjuristischen Literatur. Sie hatte mit der Funktionsverschiebung der Lex Cornelia zu einem allgemeinen Totschlagsgesetz eingesetzt, insbesondere mit dem Funktionsverlust des ursprünglichen cum-telo-Tatbestandes durch modernere Straftatbestände in den Gesetzen gegen vis, aber auch mit der Bedeutungsverflachung des Wortes sicarius. Das erste eindeutige Zeugnis778 für die neue Bewertung findet sich bei Seneca.779 Er versteht die cum-telo-Klausel als Indiz für das Erfordernis des Tötungsvorsatzes und stellt die telum-Form der factum-perfectum-Form gegenüber. Der Tatbestand hatte schon damals seine ursprüngliche Funktion verloren. Vor diesem Hintergrund sind nun die hadrianischen Reskripte zu interpretieren. aa) Coll. 1, 6: Das Willenselement beim Totschlag 1 Distinctionem casus et voluntatis in homicidio servari rescripto Hadriani confirmatur. 2 Verba rescripti: „Et qui hominem occidit, absolvi solet, 780 si non occidendi animo id admisit: et qui non occidit, sed voluit occidere, pro homicida damnatur. 3 E re itaque constituendum est: 781 ferro percussit Epafroditus? Nam si gladium instrinxit aut telo percussit, quid dubium est, quin occidendi animo percusserit? Si clave percussit aut cucuma [aut], cum forte rixaretur, ferro percussit, sed non occidendi mente. 4 Ergo hoc exquirite et si voluntas occidendi fuit, ut homicidam servum supplicio summo iure iubete affici.“ 777 Vgl. dazu Cloud, The primary purpose, S. 286; Sperandio, Dolus, S. 120 ff. Furtive facienda causa hat keine Bedeutung mehr im Bereich der Lex Cornelia; eine solche Tat wurde von ihr auch nicht mehr erfasst. Der entsprechende Tatbestand findet sich denn auch im Rahmen der extraordinaren Diebstahlsdelikte, vgl. u. V. 5. a) zu Coll. 7, 4, 2. 778 Der von Cloud, The primary purpose, S. 286 angeführte Text bei Cicero, pro Rosc. Am. 34, 97 gibt dazu nichts her. Er bezieht sich nicht auf das Willenselement beim Totschlag, sondern nur auf die Anstiftung, die in der Lex Cornelia aber bereits ausdrücklich genannt war (Coll. 1, 3, 1: cuiusve id dolo malo factum erit). Auch der von Sperandio, Dolus, S. 123 ff. angeführte Text in Cicero, de inv. 2, 20, 59 f. ist nicht zielführend, er fällt problemlos unter die ursprüngliche cum-telo-Klausel (s. o. Fn. 731). 779 De ben. 5, 14, 2, wiederholt in const. sap. 7, 4; vgl. auch Ps.-Quintilian, decl. 281. 780 So Lenel, Pal. II, col. 976 statt sed; ein Vergleich mit D. 48, 8, 1 § 3 (Marcian 14 inst.) ergibt, dass es auch ganz wegzulassen sein könnte (so Höbenreich, Überlegungen, S. 294 Fn. 143). 781 So Lenel, Pal. II, col. 976 statt ecquo.

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(1) Formale Überlegungen Bei diesem Reskript sind wir in der glücklichen Lage, dass der CollatioText nicht die einzige Überlieferung darstellt. Auch Marcian paraphrasierte es und auch der Sentenzenverfasser nahm auf das Reskript Bezug, allerdings ohne es zu nennen. Ein Vergleich ermöglicht uns, die Authenzität des Collatio-Textes zu überprüfen. Marcian, D. 48, 8, 1 § 3 (14 inst.): Divus Hadrianus rescripsit eum, qui hominem occidit, si non occidendi animo hoc admisit, absolvi posse, et qui hominem non occidit, sed vulneravit, ut occidat, pro homicida damnandum; et ex re constituendum hoc: nam si gladium strinxerit et in eo percusserit, indubitate occidendi animo id eum admisisse; sed si clavi percussit aut cuccuma in rixa, quamvis ferro percusserit, tamen non occidendi animo. Leniendam poenam eius, qui in rixa casu magis quam voluntate homicidium admisit. PS 5, 23, 3 (= Coll, 1, 7, 1): Qui hominem occidit, aliquando absolvitur, et qui non occidit, ut homicida damnatur, consilium enim uniuscuiusque, non factum puniendum est. Ideoque qui, cum vellet occidere, id casu aliquo perpetrare non potuit, ut homicida punitur; et is qui casu iactu teli hominem imprudenter occidit, absolvitur.

Während der Sentenzenverfasser den Gehalt der hadrianischen Maßnahme zusammengefasst wiedergibt und daher nur die inhaltliche Richtigkeit der beiden anderen Texte bestätigt, erlauben die Texte von Ulpian in der Collatio und von Marcian in den Digesten einen weitergehenden Vergleich. Es soll daher geprüft werden, welcher Text dem Original am nächsten kommt. Für den Collatio-Text spricht die Anführung der verba rescripti mit namentlicher Erwähnung des angeklagten Sklaven Epafroditus, während Marcian nur eine Paraphrase des Textes mit eigenen Worten unter Weglassung der für ihn unwichtigen Prozessgeschichte vorlegt. Auch die Aufforderung exquirite hoc in Coll. 1, 6, 4, die Marcian nicht erwähnt, spricht für Originalität dieses Textes, da sie als Antwort auf eine statthalterliche Anfrage passt und den ursprünglich praktischen Zweck des Reskripts, bei der Lösung eines konkreten Rechtsfalles zu helfen, erkennen lässt. Wieacker hält den Collatio-Text dagegen für gestört.782 Die von ihm benannten Störungen sind aber entweder zweifelhaft oder ändern nichts an der Originalität des Collatio-Textes. So meint absolvi solet in Coll. 1, 6, 2 genau dasselbe wie absolvi posse bei Marcian, nämlich in beiden Fällen den nur möglichen statt des unbedingten Freispruchs.783 Das schon vorher mit Hilfe der cum-telo-Klausel entwickelte Willensstrafrecht spricht für solet, das auf diese Entwicklung Bezug nimmt, sie sogar impliziert.784 782 783

Wieacker, Textstufen, S. 403; unentschlossen Sperandio, Dolus, S. 130. So Höbenreich, Überlegungen, S. 297 m. w. N.

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Auch der Schlusssatz leniendam poenam (. . .) bei Marcian, der in Ulpians Wiedergabe des Reskripts fehlt, spricht nicht für größere Nähe der MarcianParaphrase zum Original. Denn dieser kann vom Collatio-Verfasser weggelassen worden785, aber auch interpretierende Zutat Marcians sein.786 Die Anzweiflung der Worte aut telo percussit in Coll. 1, 6, 3787 hält einer Überprüfung ebenso wenig stand. Denn unter telum ist nach der berühmten Definition des Gaius zu verstehen: quod ab arcu mittitur; sed non minus omne significatur, quod mittitur manu; ita sequitur, ut et lapis et lignum et ferrum hoc nomine contineatur.788

Und der Sentenzenverfassers erklärt: non tantum ferrum continetur, sed omne, quod nocendi causa portatum est.789

Der Sentenzentext scheint zu besagen, dass telum nur solche Gegenstände umfasste, die ihrer Natur nach zur Schädigung anderer benutzt werden, nicht dagegen bloße „Gelegenheitswaffen“. Ein anderer Sentenzentext zur Lex Iulia de vi versteht dagegen unter telum jedes zur Verletzung eines Menschen geeignete Instrument.790 Vermutlich ging diese Differenz auf Hadrian zurück. Zu berücksichtigen ist ferner, dass, wie aus Marcian und Ulpian hervorgeht, ferrum hier nicht in der Bedeutung von eisernen Waffen im engeren Sinne zu verstehen ist, sondern als irgendein eisernes Gerät.791 Wie aus dem Reskript insbesondere nach der Collatio hervorgeht, war in der es auslösenden Anfrage nur angegeben, dass Epafroditus mit einem ferrum zugeschlagen hatte. Die Aufzählung von Alternativen möglicher verwendeter Schlagwerkzeuge durch Hadrian wäre unverständlich, wenn unter ferrum nur eine eiserne Waffe, insbesondere das Schwert zu verstehen gewesen wäre. Unter dieser Voraussetzung ist auch telum im Reskript im Sinne eines eisernen Gerätes zur zielgerichteten Verletzung von Menschen, nicht nur eines gladius, verständlich. Die Verwendung von telum zeigt überdies die Anknüpfung Hadrians an die Lex Cornelia mit ihrer cum-telo-Klausel. 784 So Höbenreich, Überlegungen, S. 304 und schon Génin, Répression, S. 102 Fn. 71. Gegen diese Interpretation, wegen seines Ausgangspunkts, Hadrian habe ein absolut neues Prinzip geschaffen, Polara, Marciano, S. 113 f. 785 So Höbenreich, Überlegungen, S. 295 Fn. 149 u. S. 299 f. m. w. N. 786 Wieacker, Textstufen, S. 404 Fn. 70 hält eine eventuelle Paraphrase anderer Reskripte jedenfalls für möglich. 787 Wieacker, Textstufen, S. 403 u. Fn. 68. 788 Gaius D. 50, 16, 233 § 2 (1 ad leg. duod. tab.), wiederholt in Inst. 4, 18, 5 zur Lex Cornelia. 789 PS 5, 23, 7 (= Coll. 1, 13, 2). 790 PS 5, 3, 3 (= D. 48, 6, 11 § 1). 791 So auch Höbenreich, Überlegungen, S. 294 Fn. 145; Sperandio, Dolus, S. 132 f. m. w. N. auch zur Gegenansicht.

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Dagegen wird das in der Collatio überlieferte aut in der Passage aut, cum forte rixaretur, ferro percussit (Coll. 1, 6, 3) von Marcian nicht bestätigt und ist wohl zu streichen. Sonst entstünde ein Widerspruch zur Aufzählung zuvor und dem unspezifizierten ferrum in der Anfrage an Hadrian, wenn nun doch jeder Schlag mit einem eisernen Gerät auf Tötungsabsicht schließen ließe. Außerdem wäre der Satz mit aut unvollständig, würde ein Anakoluth vorliegen.792 Diese Probleme werden durch Streichung von aut vollständig vermieden und der Sinn des Satzes wäre der gleiche wie bei Marcian. Durch Umstellung der Satzzeichen in 793 kann die Collatio-Fassung nämlich ebenso wenig gerettet werden. Dass im Falle einer Schlägerei (rixa) wieder etwas anderes zu gelten hätte, wäre nur dann anzunehmen, wenn ferrum hier wieder in der Bedeutung von Waffe im engeren Sinne verwendet worden wäre. Der Spezialfall einer Schlägerei würde andernfalls keinen Sinn ergeben. Wenn generell andere Arten von ferrum außer gladium und telum die Tötungsabsicht zweifelhaft erscheinen lassen, brauchte dies nicht noch einmal für den Fall der rixa wiederholt zu werden, da sich insofern ja nichts geändert hätte. Verwendung von ferrum in verschiedenen Bedeutungen im selben Reskript ist unwahrscheinlich; außerdem legt die Marcian-Stelle nahe, dass der vorgelegte Fall insgesamt eine rixa betraf. Das aut ist daher wahrscheinlich als Glossem, vielleicht eine unachtsame Wiederholung des aut vor cucuma durch einen Abschreiber, im Collatiotext zu streichen. Daraus folgt aber keineswegs Unzuverlässigkeit von Coll. 1, 6 insgesamt; vielmehr ist die Überlieferung des Reskripts in der Collatio, wie gesagt, insgesamt originalgetreuer. (2) Inhaltliche Untersuchung Ulpian beginnt seine Ausführungen mit dem Satz, dass bei Totschlag auf den Unterschied zwischen unabsichtlich und absichtlich zu achten sei und das hadrianische Reskript dies bestätigte.794 Dieser Satz drückt einen der wesentlichen Grundsätze des römischen Strafrechts aus. Dolus, gleichbedeu792

Wieacker, Textstufen, S. 403; Höbenreich, Überlegungen, S. 295 Fn. 148. So ohne weitere Begründung Ferrini, Diritto penale, S. 48 Fn. 6; ihm folgend Sperandio, Dolus, S. 131 Fn. 72 u. S. 133, der daraus auch noch folgern will (S. 139), dass der in einer rixa mit einem allgemein verstandenen ferrum begangene Totschlag bisher als willentlich betrachtet worden sei und Hadrian hier eine Neuerung eingeführt habe. Stichhaltige Beweise liefert er aber nicht. In diese Richtung auch Balzarini, Appunti, S. 31 ff. 794 Aus dem confirmatur allein kann allerdings nicht auf eine schon vor Hadrian bestehende Praxis in Bezug auf die Weiterentwicklung des Willenselements geschlossen werden. Confirmatur ist nicht Teil des Reskripts, sondern zusammenfassende Aussage Ulpians. Anders Höbenreich, Überlegungen, S. 296 f. 793

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tend mit voluntas und dem Adverb consulto in Coll. 1, 11, 3, im Sinne von Absicht oder Vorsatz war die einzige in den römischen Strafgesetzen anzutreffende Schuldform. Ihr Gegenbegriff ist casus und bedeutete, anders als im Zivilrecht, wo er bloß den Zufall bezeichnete795, lediglich fehlenden Vorsatz. Im Rahmen des casus sahen diese Gesetze keine unterschiedlichen Verschuldensformen vor.796 Das dazu angeführte Reskript rückt den Willen und seine Erforschung in den Mittelpunkt.797 Hadrian beginnt seine Antwort auf die nicht überlieferte Anfrage mit der allgemeinen Aussage, dass der freigesprochen zu werden pflege, der die Tat ohne Tötungsabsicht begangen habe, während jemand, der keine Tötung begangen habe, aber eigentlich töten wollte, wie ein Totschläger bestraft werde. Gegenüber der ursprünglichen Lex Cornelia sind zwei Fortbildungen erkennbar. Zum einen wird zwar regelmäßig, muss aber nicht in jedem Einzelfall bei fehlender Tötungsabsicht freigesprochen werden. Nach der ursprünglichen Lex Cornelia musste in einem solchen Fall freigesprochen werden. Hadrian, oder vielleicht, wie solet zudem besagen könnte, bereits die schon zuvor geübte Praxis schließt dagegen nicht aus, auch Körperverletzungen mit unbeabsichtigter Todesfolge798 nun auch strafrechtlich nach der Lex Cornelia, wenn auch nur in Ausnahmefällen, zu ahnden.799 Zum anderen schrieb Hadrian die sich seit Beginn der Kaiserzeit entwickelnde Umdeutung und Verallgemeinerung der polizeirechtlichen cum-teloKlausel der Lex Cornelia fest, indem auch der bloße Totschlagsversuch, also Tötungswille ohne Vollendung der Tat, ebenso wie das vollendete Verbrechen zu bestrafen sei. Der Kaiser stellte anhand des konkreten Falles 795 Vgl. z. B. D. 9, 2, 52 § 4 a. E. (Alfen 2 dig.) im Unterschied zur culpa; vgl. Kaser, Röm Privatrecht I, S. 512 m. w. N. 796 So klar, in Bezug auf Coll. 1, 11 Wacke, Ein Unfall, S. 78, auch Heumann/ Seckel, Art. casus 3 c), S. 58. 797 Mit dem casus befasst sich dann Coll. 1, 11, s. u. bb) (2). 798 Allgemeine Ansicht, vgl. nur Höbenreich, Überlegungen, S. 297 m. w. N. Widersprüchlich hierzu Sperandio, Dolus, S. 138 f., der zunächst annimmt, auch die unvorsätzliche Tötung sei von der Lex Cornelia erfasst gewesen, da der verlangte dolus nur die Willentlichkeit der Handlung, nicht jedoch des Tötungserfolges umfasst habe. Dann ist er aber doch der Meinung, Hadrian habe die juristische Figur des unvorsätzlichen Totschlages herausgearbeitet. 799 Wie aus leniendam poenam in D. 48, 8, 1 § 3 hervorgeht, jedenfalls in severischer Zeit mit der Einschränkung, dass besondere Umstände hinzutreten mussten, dass z. B. im Rahmen einer rixa voluntas durchaus vorkommt. Diese klare dogmatische Durchdringung gelang wahrscheinlich noch nicht Hadrian, sondern erst später. Voraussetzung für eine Verurteilung war in jedem Fall der Tod des Opfers. Hatte der Verletzte dagegen überlebt, kam eine Bestrafung nach der Lex Cornelia in ihrer erweiterten Form ohne Tötungsabsicht auch weiterhin nicht in Betracht.

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dar, wie diese Tötungsabsicht als subjektives Moment anhand der nach außen hervortretenden Tathandlungen800 des Sklaven Epafroditus festgestellt oder sonstwie angenommen werden konnte. Aus der Frage, mit welchem ferrum Epafroditus zugeschlagen hatte, geht wie gesagt hervor, dass in der Anfrage die Umstände der Tat nicht genau dargelegt waren, insbesondere durch die Weite des Begriffs ferrum801 verschiedene Konstellationen denkbar waren, die zu verschiedenen Ergebnissen beim Totschlagswillen führen konnten. Klar war wohl nur, dass Epafroditus im Verlauf einer rixa (Coll. 1, 6, 3) mit einem ferrum zugeschlagen hatte. Ob Epafroditus das Opfer getötet oder nur verletzt hatte, geht aus dem überlieferten Text ebenso wenig zweifelsfrei hervor. Vielleicht hatte nicht einmal Hadrian das der Anfrage mit Sicherheit entnehmen können. Jedenfalls ist der Tod des Opfers nicht sicher, da sonst, bei Bejahung der voluntas occidendi, Epafroditus nicht lediglich ut homicidam, wie ein Mörder zu verurteilen gewesen wäre (Coll. 1, 6, 4), sondern direkt unter den Grundtatbestand der Lex Cornelia gefallen wäre.802 Beispielhaft bestimmt Hadrian, dass bei Verwendung eines gladius oder telum803, also von Waffen im engeren Sinne, die voluntas occidendi zu vermuten sei, nicht dagegen bei einem Schlag mit einem Schlüssel oder Kochtopf im Verlauf einer spontan begonnenen Schlägerei. Der Anfragende wurde aber ausdrücklich ermahnt, in jedem Einzelfall die Tatumstände genau zu ermitteln, die für oder gegen Tötungswillen sprechen, also nicht schematisch nach der Art des Schlagwerkzeugs, sondern in einer Gesamtschau die voluntas occidendi zu beurteilen: eine Flexibilisierung weg vom starren Strafrecht hin zu mehr Einzelfallgerechtigkeit. Wird ein Tötungswille festgestellt, dann wäre der Sklave Epafroditus wie ein Totschläger mit dem Tode zu bestrafen.804 Für den gegenteiligen Fall heißt es dagegen, dass der Täter, wohl nur von einer Anklage nach der Lex Cornelia, frei800 Die Totschlags-voluntas musste durch Handlungen nach außen manifestiert worden sein, wie schon die Ablehnung der reinen Willensbestrafung im römischen Strafrecht ergibt, vgl. D. 48, 19, 14 (Ulpian 3 ad ed.): Cogitationis poenam nemo patitur. In diesem Sinne auch Pugliese, Linee, S. 762 Fn. 95. 801 Dazu s. o. (1). 802 Die Einordnung des Fragments unter den Titel de casualibus homicidis in der Coll. besagt nicht, dass auch die Anfrage im Reskript einen Todeserfolg erwähnt hatte, ebenso wenig der Schlusssatz von D. 48, 8, 1 § 3, der vielleicht erst eine severische Interpretation des Reskripts darstellt. Abzulehnen daher Höbenreich, Überlegungen, S. 299; Talamanca, Per la storia, S. 285 Fn. 191. Für Unklarheit in der kaiserlichen Kanzlei über die Umstände des Falles Balzarini, Appunti, S. 22 u. Fn. 10. 803 Zum Begriff s. o. (1). 804 Beim Sklaven Kreuz, Verbrennung oder Verurteilung ad bestias, vgl. D. 48, 19, 28 (Calistratus, 6 de cogn.) und o. 1. a) dd).

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gesprochen zu werden pflege. Mit dieser zurückhaltenden Ausdrucksweise lässt Hadrian offen, wofür zumal der Schlusssatz bei Marcian D. 48, 8, 1 § 3805 spricht, dass der Richter auch im Falle des fehlenden animus occidendi nach Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles bestrafen konnte.806 Nähere Ausführungen zur Handhabung des Ermessens fehlen; aber die marcianische Formulierung bietet eine grobe Orientierung, die die Anwendung des Strafrechts weiter zu vereinheitlichen ermöglichte. Das von Hadrian mit aller Deutlichkeit dargelegte und vom Ausgangsfall unabhängige Prinzip, dass es bei der Beurteilung eines Totschlags im Rahmen der Lex Cornelia allein auf den Tötungsvorsatz ankommt, nicht auf den objektiven Tötungserfolg, blieb auch in der Folgezeit feste Grundlage des römischen Strafrechts.807 bb) Coll. 1, 11: Fahrlässige Tötung 1 Cum quidam per lasciviam causam mortis praebuisset, conprobatum est factum Taurini Egnati808 proconsulis Baeticae a divo Hadriano, quod eum in quinquennium relegasset. 2 Verba consultationis et rescripti ita se habent: „Inter Claudium, optime imperator, et Evaristum cognovi, quod Claudius Lupi filius in convivio, dum sago iactatur, culpa Mari Evaristi ita male acceptus fuerit, ut post diem quintum moreretur. Atque adparebat nullam inimicitiam cum Evaristo ei fuisse. Tamen cupiditatis culpa coercendum credidi, ut ceteri eiusdem aetatis iuvenes emendarentur. Ideoque Mario Evaristo urbe Italia provincia Baetica in quinquennium interdixi et decrevi, ut impendi causa duo milia patri eius persolveret Evaristus, quod manifesta eius fuerat paupertas.“ 3 Verba rescripti: „Poenam Mari Evaristi recte, Taurine, moderatus es ad modum culpae: refert enim et in maioribus delictis, consulto aliquid admittatur an casu.“ 4 Et sane in omnibus criminibus distinctio haec poenam aut iustam provocare809 debet aut temperamentum admittere.

(1) Form Coll. 1, 11, 1 kehrt nahezu wörtlich in D. 48, 8, 4 § 1 wieder, während Coll. 1, 11, 3, 2. Halbsatz, und 4 ihre Entsprechung in D. 48, 19, 5 § 2 im 805

s. o. (1). Vgl. schon o. im Text. 807 Vgl. neben den genannten Texten auch D. 48, 8, 7 (Paulus, l. s. de publ. iud.); D. 48, 8, 14 (Callistratus, 6 de cogn.); Coll. 1, 8 (= CJ 9, 16, 1 pr., Caracalla 215 n. Chr.); Coll. 1, 9 (= CJ 9, 16, 1 § 1, hier aber, wohl wegen der Ähnlichkeit der Adressaten, unter das Reskript Caracallas gefasst; richtig daher Alexander Severus 222 n. Chr.); Coll. 1, 10 (= CJ 9, 16, 4 (5), Diokletian 290 n. Chr.). 808 In D. 48, 8, 4 § 1 Ignatii Taurini. 809 In D. 48, 19, 5 § 2 elicere. 806

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Anschluss an Ulpians allgemeine Ausführungen zur Abwesenheit im Strafprozess810 haben. Wegen der nahezu wörtlichen Entsprechung der Fragmente kann jeder Interpolationsverdacht sowohl aus nachklassischer Zeit als auch während der Kompilation der Digesten ausgeschlossen werden.811 Andererseits kann durch die Doppelüberlieferung die Vorgehensweise der Kompilatoren genauer beobachtet werden. Im Totschlagstitel zogen sie aus Ulpians Werk nur die Leitsätze heraus, den zentralen Satz des Reskripts übertrugen sie dagegen in die allgemeinen Vorschriften. Darin wird die Interpretationsarbeit der Kompilatoren sichtbar. Das Fehlen der Anfrage des Statthalters in den Digesten ist verständlich, weil Justinian in der Constitutio Omnem (§ 9) das Prellspiel streng verboten hatte und die Kompilatoren daher allen Grund hatten, es gar nicht erst zu erwähnen, d.h. nur die allgemeinen Aussagen zu übernehmen.812 Dass einst in Ulpians Werk Coll. 1, 11 hinter Coll. 1, 6 stand, liegt aus mehreren Gründen nahe: einmal hat auch die Collatio diese Reihenfolge, und zum anderen wird der Einleitungssatz Ulpians über die Unterscheidung zwischen vorsätzlichem und unvorsätzlichem Handeln in Coll. 1, 6, 1 im Rahmen des Prellspiel-Reskripts wieder relevant, wie aus Coll. 1, 11, 3 hervorgeht. Zwar behandeln beide Texte unterschiedliche Fälle, sind aber doch unter das gemeinsame Thema, das Ulpian voranstellte, zu fassen.813 Die Entscheidung über die Reihenfolge der Reskripte in de officio proconsulis sagt allerdings nichts darüber aus, in welcher zeitlichen Rangfolge Hadrian die Reskripte erlassen hat. Für den zeitlichen Vorrang der Prellspiel-Entscheidung könnte Coll. 1, 11, 3 sprechen, wo der Unterschied zwischen consulto und casus bei schwereren Delikten erstmals explizit festgelegt worden zu sein scheint; diese Unterscheidung wird in Coll. 1, 6 bereits vorausgesetzt. Andere Anhaltspunkte, die diese zeitliche Reihenfolge stützten, existieren allerdings nicht. (2) Inhalt814 Die Anfrage des Prokonsuln der südspanischen Provinz Baetica, Egnatius Taurinus815, an Hadrian wegen eines Unfalls beim so genannten Prellspiel 810

Dazu o. II. 6. Das räumt zu dieser Stelle auch der ansonsten kritische Wieacker, Textstufen, S. 392 (mit Nachweisen zur Gegenansicht) ein. 812 In diesem Sinne auch Wacke, Ein Unfall, S. 83. 813 Zu extrem hierzu Höbenreich, Überlegungen, S. 300 Fn. 167 u. S. 305. 814 Ausführlich zu Coll. 1, 11 und zum Brauch des Prellens Wacke, Ein Unfall, S. 68 ff. (diesem Aufsatz entsprechen Wackes Artikel: Exegese, S. 202 ff., Accidentes, S. 551 ff., Incidenti, S. 359 ff.); verkürzt noch Ders., Sport und Spiel, S. 4 ff. (insbes. S. 33 ff.); Ders., Eine Nachlese, S. 151 ff. 811

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war Ausgangspunkt für die Entwicklung der Figur der fahrlässigen oder – richtiger ausgedrückt – nicht vorsätzlichen, nicht willentlichen Tötung eines anderen. Claudius, Sohn des Lupus, wurde auf einem Gastmahl von anderen geprellt, d.h. auf einem jeweils an den Rändern gehaltenen sagum, eigentlich ein Soldatenmantel, oft aber auch nur eine bloße Wolldecke oder ein kräftiges Stück Tuch816, in die Höhe geworfen. Das Prellen war, nicht nur unter Soldaten817, ein weit verbreitetes, derbes Spiel. Sueton berichtet, dass der spätere Kaiser Otho nachts Ahnungslose geprellt habe818, und auch Martial verwendet das Prellen als Metapher in einem seiner Epigramme; der Sport muss also allgemein bekannt gewesen sein.819 Schließlich geht auch aus der Anfrage des Statthalters, der seine Verurteilung des Prellenden mit der Abschreckung anderer begründet, hervor, dass das Spiel zumindest in der Provinz Baetica sehr beliebt war.820 Aus Verschulden (culpa) des Marius Evaristus wurde der Geprellte so schlecht aufgefangen, dass er zu Boden fiel und nach vier Tagen seinen dabei erlittenen Verletzungen erlag. Egnatius Taurinus, vor dem Marius Evaristus, wahrscheinlich vom Vater des Claudius821, angeklagt worden war, stellte zunächst fest, dass Evaristus und Claudius nicht verfeindet waren. Deshalb konnte der Statthalter animus occidendi ausschließen, der nötig gewesen wäre, um den Tatbestand der Lex Cornelia de sicariis zu erfüllen. Denn der Tötungsvorsatz, wie bereits in Coll. 1, 6, 3 gesagt, war anhand von nach außen hervortretenden Tatsachen zu erforschen, wozu, wie hier, auch das persönliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer gehörte. Mangels inimicitia und sonstiger Indizien für Tötungsvorsatz wäre Evaristus daher eigentlich freizusprechen gewesen.822 815 Dieser ist nicht weiter bekannt, eine genauere Datierung seines Prokonsulats in die Regierungszeit Hadrians daher nicht möglich. Vgl. PIR2 III, 1943, E Nr. 34, S. 72; Thomasson, Laterculi I, col. 23, Nr. 22; Alföldy, Fasti, S. 168. 816 Dazu nur Fiebiger, Art. sagum, S. 1754 f.; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 526; Ders., Ein Unfall, S. 71. 817 So unter Hinweis darauf, dass im Collatio-Text zwar vom sagum gesprochen wird, es sich im Fall aber um Zivilisten gehandelt haben müsse wegen des ansonsten vom Statthalter zu erwartenden Hinweises auf deren Soldateneigenschaft, Wacke, Ein Unfall, S. 81 f. 818 Sueton, Otho 2, 1: (. . .) vagari noctibus solitus atque invalidum quemque obviorum vel potulentum corripere ac distento sago impositum in sublime iactare. 819 Martial, Epigr. 1, 3: (. . .) audieris cum grande sophos, dum basia iactas/ibis ab excusso missus in astra sago. 820 Zur weiteren Entwicklung des Prellspiels auch in der Neuzeit ausführlich Wacke, Ein Unfall, S. 82 ff. 821 Diese Annahme liegt deswegen nahe, weil der Statthalter ausdrücklich dem Vater eine Geldentschädigung zugesprochen hatte. Die Entschädigung erscheint uns gering, sie umfasste wohl keinen Schadenersatz, sondern nur die dem Vater entstandenen Pflege- und Beerdigungskosten. Zu ihr ausführlich Wacke, Ein Unfall, S. 79 ff.

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Die Fortentwicklung, wohl auch des Reskripts in Coll. 1, 6, liegt nun darin, dass, wie die Antwort Hadrians bestätigt, auch in Fällen des casus, fehlenden Vorsatzes823, eine Tötung bestraft werden konnte, und zwar ad modum culpae. Die starre Alternative zwischen Verurteilung nach der Lex Cornelia und Freispruch bei fehlendem Vorsatz wurde relativiert, gerechtere Abstufungen waren nun möglich, wiederum auf der Grundlage der cognitio des Statthalters. So verurteilte Taurinus den Evaristus zu fünf Jahren Verbannung aus Rom, Italien und seiner Heimatprovinz Baetica, und zwar wegen seiner cupiditatis culpa. Dieses Verhalten, das Ulpian in seinem Einleitungssatz mit lascivia wiedergibt, ist am treffendsten mit Ausgelassenheit, Ausschweifung oder zügellosem Benehmen wiederzugeben.824 Es ging also nicht nur um einfache Unvorsichtigkeit oder, um mit heutigen Ausdrücken zu sprechen, leichte oder normale Fahrlässigkeit, sondern besondere Leichtfertigkeit auf Seiten des Evaristus. Der Statthalter selbst hielt die Verurteilung, wie aus der Anfrage zu schließen ist, deswegen für angemessen, weil dadurch andere junge Leute vom Prellspiel abgeschreckt werden sollten, stellte also generalpräventive Gesichtspunkte in den Vordergrund. Da Taurinus an keinen animus occidendi anknüpfen konnte, ging er auf die Schuld des Täters als Grund für die Verurteilung nicht ein und umschiffte so die Klippe des eigentlich zwingenden Freispruchs bei fehlendem Vorsatz. Dabei konnte sich der Statthalter auf Vorbilder in Rhetorenwerken stützen, wo bei unvorsätzlichen Taten ebenfalls fünfjährige Verbannung verhängt wurde825. Es gab auch ein konkretes Präjudiz: den Fall des Einsturzes des schlecht gebauten Amphitheaters von Fidena 27 n. Chr. mit unzähligen Toten, dessen Bauherr Atilius ebenfalls in die Verbannung geschickt wurde826, offenbar aus generalpräventiven Gründen. Hadrian ging in seiner Antwort jedoch noch einen Schritt weiter. Er bestätigte die verhängte Strafe mit dem Hinweis auf das Maß der Schuld des Evaristus. Für ihn kam es also, um eine Verurteilung zu rechtfertigen, weniger auf generalpräventive Gründe an, vielmehr genügte ihm die lascivia oder cupiditatis culpa des Evaristus; sie war strafwürdig. Und genau diese Aussage stellte Ulpian zusammengefasst an den Beginn von Coll. 1, 11. 822 Zur inimicitia als Abgrenzungskriterium des Vorsatzes vgl. auch Callistratus, 1 de cogn., D. 48, 19, 28 § 12. 823 s. o. aa) (2). 824 So Höbenreich, Überlegungen, S. 306; S. 308; Wacke, Ein Unfall, S. 73 m. w. N. Etwas unglücklich ist jedoch, dass Wacke in der Folge häufig von durch Fahrlässigkeit verursachter Tötung spricht, was die Abstufung der Strafe innerhalb des fahrlässigen Verhaltens nicht genau erfassen kann. 825 Seneca d. Ä., contr. 4, 3; 6, 2; Ps.-Quintilian, decl. 244, 248, 296, 305. 826 Tacitus, Ann. 4, 62 f., insbes. 63 § 1 a. E.

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Diese Strafzumessung nach dem Maß der Schuld kommt auch im Fortgang des Reskripts in Coll. 1, 11, 3 zum Ausdruck827, wo die Unterscheidung von Vorsatz und casus auch bei schwereren Verbrechen betont wird. Hadrian wollte damit, wie der Zusammenhang der Textstelle zeigt, nur aussagen, dass Fälle des casus keinesfalls so schwer bestraft werden dürfen wie vorsätzliche Taten, in besonderen Fällen fehlenden Vorsatzes eine Strafe jedoch zu verhängen sei.828 Am Schluss verallgemeinert Ulpian die Aussage des Reskripts: Die Unterscheidung im Reskript Hadrians gelte für alle Straftaten, nicht nur für die schwereren oder den Totschlag. Der Jurist begann dadurch, die Bestrafung unvorsätzlicher Taten im römischen Strafrecht zu systematisieren.829 Dieses System blieb auch nach Ulpian erhalten. So konnten auch casu begangene Taten in Einzelfällen bestraft werden, wenn auch nur ausnahmsweise. Das besagt eine Konstitution des Alexander Severus aus dem Jahr 222 n. Chr.: (. . .) Ceterum ea, quae ex improviso casu potius quam fraude accidunt, fato plerumque, non noxae inputantur.830

Und ebenso ist der Fall des Baumbeschneiders in PS 5, 23, 12, der den Warnruf versäumt hatte, weshalb ein herabstürzender Ast einen Menschen getötet hatte, ein Beleg dafür, dass ausnahmsweise auch bei fehlendem Vorsatz wegen besonderer Nachlässigkeit bestraft werden konnte: Si putator ex arbore cum ramum deiceret, non proclamavit, ut vitaretur, atque ita praeteriens eiusdem ictu perierit, etsi in legem non incurrit, in metallum datur.831 827 Der zweite Satz in Coll. 1, 11, 3 stellte noch einen Teil des Reskripts selbst dar, vgl. Wieacker, Textstufen, S. 391 f. m. w. N.; Bonini, D. 48, 19, 16, S. 168 Fn. 161. Gegen diese Annahme Guarino, La punizione, S. 301 Fn. 10, aber ohne Begründung. 828 Nicht überzeugend Guarino, La punizione, S. 302, der consulto und casus allzu subtil voneinander abgrenzt. 829 Aus Coll. 1, 11, 3, 2. Satz kann man schließen, dass für die weniger schweren Straftaten dieses System bereits vor dem hadrianischen Reskript existierte: refert enim et in maioribus delictis; vgl. Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 530. 830 Coll. 1, 9, 1, während CJ 9, 16, 1 § 1 diesen Text als Fortsetzung von CJ 9, 16, 1 pr. (= Coll. 1, 8) vom 31. Januar 215 präsentiert. 831 Interessant ist hier der Vergleich des Textes mit Paulus, l. s. de publ. iud., D. 48, 8, 7, den der Sentenzenverfasser hier wohl als Vorlage benutzt hatte, vgl. Liebs, Römische Jurisprudenz in Africa, S. 67 f. Anders als bei Paulus beschränkte sich der Sentenzenverfasser nicht auf die Aussage, die Tat falle nicht unter die Lex Cornelia, sondern fügte hinzu, dass sie trotzdem verfolgt werden könne. Den Digesten-Text mögen die Kompilatoren gekürzt haben, doch könnte Paulus die Leichtfertigkeit im Verhalten des Baumbeschneiders auch nicht für so schlimm angesehen haben, um eine Bestrafung zu rechtfertigen (zur Haftung nach der Lex Aquilia s.

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d) Erstreckung der Lex Cornelia auf neue Fälle aa) D. 48, 8, 4 § 2: Kastrationsverbote Idem divus Hadrianus rescripsit: „Constitutum quidem est, ne spadones fierent, eos autem, qui hoc crimine arguerentur, Corneliae legis poena teneri eorumque bona merito fisco meo vindicari debere, sed et in servos, qui spadones fecerint, ultimo supplicio animadvertendum esse; et qui hoc crimine tenentur, si non adfuerint, de absentibus quoque, tamquam lege Cornelia teneantur, pronuntiandum esse. Plane si ipsi, qui hanc iniuriam passi sunt, proclamaverint, audire eos praeses provinciae debet, qui virilitatem amiserunt; nemo enim liberum servumve invitum sinentemve castrare debet, neve quis se sponte castrandum praebere debet. At si quis adversus edictum meum fecerit, medico quidem, qui exciderit, capitale erit, item ipsi qui se sponte excidendum praebuit.“

(1) Entwicklung des Kastrationsverbotes vor Hadrian Die erste bekannte Maßnahme gegen Kastration832 geht, wie zahlreiche literarische Quellen bestätigen, auf Domitian zurück. So schreibt Sueton: Domitian 7, 1: Castrari mares vetuit. Spadonum, qui residui apud mangones erant, pretia moderatus est.

Auch Statius833, Philostratus834 und Martial835, Zeitgenossen Domitians, und später auch Cassius Dio836 erwähnen ein von diesem Kaiser erlassenes allgemeines Verbot, wahrscheinlich aus den Jahren 81 bis 83 n. Chr.837 Dabei scheint jedoch, wenn man Sueton glauben darf, der Handel mit bereits Kastrierten nicht verboten, sondern für sie nur die Höchstpreise herabgesetzt worden zu sein. Folge des Verbotes war daher wohl nur, dass Eunuchen aus dem Ausland importiert werden mussten, was sie zu einer wertvollen Handelsware machte.838 Die nächste Nachricht über ein Verbot der Kastration datiert unter Nerva, den Cassius Dio als Urheber einer solchen Maßnahme bezeichnet.839 Dieses Paulus 10 ad Sab., D. 9, 2, 31), während der Sentenzenverfasser das Verhalten anders wertete. 832 Ob nur von Sklaven oder auch von Freien, ist umstritten, vgl. Biondi, Il diritto III, S. 466; Mommsen, Strafrecht, S. 637. 833 Silvae 4, 3, 13–15. 834 Apoll. 6, 42. 835 Epigr. 6, 2; 9, 6, 1–5; 9, 8, 6–10. 836 67, 2, 3. 837 Vgl. zur zeitlichen Einordnung Dalla, L’incapacità, S. 83 u. Fn. 32 m. w. N. 838 Vgl. nur Marcian, l. s. de delatoribus, D. 39, 4, 16 § 7, der als zu verzollende Güter u. a. indische Eunuchen ‚spadones Indici‘ anführt, weshalb es kein Handelsverbot mit Eunuchen gegeben haben kann. 839 68, 2, 4.

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Verbot kann auch in den juristischen Quellen verifiziert werden. So schreibt Venuleius Saturninus in seinem ersten Buch de officio proconsulis:840 Is, qui servum castrandum tradiderit, pro parte dimidia bonorum multatur ex senatus consulto, quod Neratio Prisco et Annio Vero consulibus factum est.

Nachdem die Einordnung des Senatsbeschlusses lange Zeit umstritten war841, ist nach dem Fund der Fasti Ostienses842 erwiesen, dass M. Annius Verus und L. Neratius Priscus vom 1. Mai bis 30. Juni 97 n. Chr. Konsuln waren, weshalb Venuleius die Maßnahme Nervas meinte. Auch Marcian nahm auf diesen Senatsbeschluss Bezug:843 D. 48, 8, 3 § 4: Qui hominem libidinis vel promercii causa castraverit, ex senatus consulto poena legis Corneliae punitur.

Obwohl der Inhalt der bei Venuleius und Marcian genannten Normen verschieden ist, werden beide ein und denselben Senatsbeschluss meinen und nicht einen späteren unter Trajan.844 Schon wegen der 6. Satire Juvenals845 gegen Ende der Herrschaft Trajans, wo es heißt, das Kastrationsverbot werde praktisch ignoriert, ist ein Gesetz unter Trajan kaum glaublich. Die Unterschiede in den beiden juristischen Texten sind im Übrigen gering; vermutlich war das SC unter Nerva umfangreich und behandeln Venuleius und Marcian verschiedene Bestimmungen daraus. Venuleius befasste sich ganz allgemein mit dem, der einen Sklaven zur Kastration (in der Regel einem Arzt) übergeben hatte; Marcian dagegen mit dem unmittelbaren Täter846, der die Kastration aus besonders verwerflichen Beweggründen durchführte. Venuleius behandelte also den Grundtatbestand in seiner üblichen, nämlich mittelbaren Begehungsweise, während Marcian besonders verwerfliche Fälle zum Gegenstand hat. Nerva scheint nach der damnatio 840

D. 48, 8, 6. Zur Diskussion, vor allem zu der Ansicht, es handele sich um die Maßnahme Domitians, Dalla, L’incapacità, S. 85 f. 842 bei Vidman, 45. 843 14 inst. Ohne Begründung schreibt Guyot, Eunuchen, S. 45 f. das bei Marcian genannte SC Domitian zu. 844 So jedoch Hitzig, Art. castratio, S. 1772, aber zweifelnd. 845 Z. 368–376. 846 Diese Unterscheidung begegnet auch noch später in PS 5, 23, 13 und Nov. 142, auch wenn dort beide Begehungsweisen in gleicher Weise bestraft werden. Die Sentenzenstelle lautet: Qui hominem invitum libidinis aut promercii causa castravit castrandumve curavit, sive is servus sive liber sit, capite punietur, honestiores publicatis bonis in insulam deportantur, hängt vermutlich von obiger Marcianstelle ab und kann daher nicht zur Bestimmung des Inhalts der domitianischen Bestimmung herangezogen werden. So aber Guyot, Eunuchen, S. 46 f. Die Gleichstellung des mittelbaren mit dem unmittelbaren Täters findet sich auch bei vielen anderen römischen Strafgesetzen. 841

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memoriae Domitians von diesem verkündete Gesetze nochmals – und vermutlich verbessert – eingebracht zu haben bzw. haben einbringen lassen.847 D.h. es ist zu vermuten, dass Nerva ein von seinem Vorgänger erlassenes Verbot wiederholt und mit einigen neuen Vorschriften angereichert hat. Auf die Maßnahme Nervas nahm auch der erste Teil des bei Ulpian wiedergegebenen Reskripts Hadrians Bezug, das mit constitutum est auf eine bestehende Norm verwies.848 Gegen Freie wird auf die Strafe der Lex Cornelia verwiesen, gegen Sklaven dagegen die Todesstrafe angeordnet; ebenso gegen den ausführenden Arzt, der gewöhnlich einen niedrigen Stand hatte. Im Ergebnis wurde also, wie bei anderen republikanischen Gesetzen auch849, die Strafe der Lex Cornelia auf einen ursprünglich nicht erfassten Tatbestand durch SC erstreckt. Warum dabei für die Kastration das Totschlagsgesetz gewählt wurde, ist leicht zu verstehen. Bei nicht fachkundiger Durchführung führte die Kastration wohl häufig zu Todesfällen, zumal wenn illegal ausgeführt. Zumindest aber stellt sie eine schwere Körperverletzung dar und wird vorsätzlich mit gefährlichen Werkzeugen aus Eisen ausgeführt. (2) Neuerungen Hadrians zum Kastrationsverbot Nach Wiedergabe der bestehenden Normen und einer verfahrensrechtlichen Neuerung850 führte Hadrian ab nemo enim eigene Erweiterungen an. Auch wenn der zu Kastrierende einwilligte, durfte der Eingriff nicht vorgenommen werden. Der Arzt stets und in diesem Fall auch der Einwilligende sollten kapital, d.h. nach der Lex Cornelia, bestraft werden.851 Hadrian wollte dadurch fortbestehende Lücken im Kastrationsverbot schließen. Er hielt Kastration, gerade auch von Sklaven, mochten es auch regelmäßig die eigenen sein, für so verwerflich, dass selbst eine Einwilligung 847 Dass Nerva bloß Lücken der domitianischen Verbote geschlossen hätte, wie Dalla, L’incapacità, S. 89 meint, ist weniger wahrscheinlich. 848 Bestehende Vorschriften sind bis ultimo supplicio animadvertendum esse wiedergegeben; ebenso im folgenden Teil über die Abwesenden bis pronuntiandum esse. Dagegen sind Satz 3 bis 5 Hadrian zuzuschreiben, s. u. (2) und (3). 849 Vgl. nur die SCa zur Lex Cornelia testamentaria, dazu s. u. 5. b). 850 Dazu sogleich (3). Der Text kann also nicht, wie etwa Below, Der Arzt, S. 131 annimmt, wegen unlogischer Abfolge für unecht erklärt werden. Zunächst kommt die bestehende Regelung, dann Verfahrensrecht und schließlich inhaltliche Neuerungen zur Sprache. 851 Was keineswegs immer Todesstrafe bedeutete, wie Guyot, Eunuchen, S. 48 und Hitzig, Art. castratio, S. 1772 zu Unrecht annehmen. Für höhergestellte Freie, die sich ja ebenfalls kastrieren lassen konnten, blieb die Strafe aqua et igni interdictio, s. o. a) aa) (3) und z. B. Paulus, 15 ad ed., D. 48, 1, 2: capitalia sunt, ex quibus poena mors aut exilium est, hoc est aquae et ignis interdictio.

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einen solchen Eingriff nicht rechtfertigen konnte, zumal deren Freiwilligkeit oft zweifelhaft gewesen sein wird. Das Reskript852 an einen ungenannten Empfänger853 zeitlich einzuordnen, hilft die bei Paulus in seinem zweiten Buch de officio proconsulis (D. 48, 8, 5) überlieferte Konstitution: Hi quoque, qui thlibias faciunt, ex constitutione divi Hadriani ad Ninnium Hastam in eadem causa sunt, qua hi qui castrant.

Dieses Reskript setzte die bei Ulpian genannte Bestimmung voraus, auf deren Strafe (in eadem causa, qua hi qui castrant) sie verweist. Dabei ging es wieder darum, Versuche, das Verbot zu umgehen, einzudämmen. Die Kastration durch Zerdrücken der Hoden wurde derjenigen durch Einschnitt in das Skrotum, dem eigentlichen castrare, gleichgestellt.854 Ninnius Hasta war Prokonsul von Africa etwa 128/129 n. Chr.855 Andererseits ist eine wichtige Zeitmarke der Beginn des jüdischen Aufstandes unter Bar Kochba 132 n. Chr., da nicht auszuschließen ist, dass die Bestimmung Hadrians, insbesondere das Verbot des excidere, auch als Verbot der Beschneidung interpretiert wurde.856 Denn dieser Aufstand könnte in letzter Konsequenz auf dieses Verbot zurückgehen. Die HA teilt dazu mit: Vita Hadriani 14, 2: Moverunt ea tempestate et Iudaei bellum quia vetabantur mutilare genitalia.857 852 Unverständlich Guyot, Eunuchen, S. 48, wonach die Bestimmung Hadrians auf ein SC des Jahres 127 n. Chr. zurückgeht. 853 Sehr problematisch Dalla, L’incapacità, S. 94 f. unter Berufung auf Volterra, Il problemo, S. 321 ff.: es habe sich um die Zusammenfassung und Fusionierung mehrerer hadrianischer Reskripte im Rahmen eines sog. „Maximierungsprozesses“ gehandelt. Aus dem fehlenden Adressaten des Reskripts kann das nicht geschlossen werden, vgl. Coll. 1, 6, wo der Adressat ebenfalls fehlt, aber gewiss nur ein einziges Reskript angeführt ist. Zweifelnd auch Marotta, Politica imperiale, S. 415. 854 Vgl. Dalla, L’incapacità, S. 93. 855 Dazu Groag, Art. Ninnius 5), S. 633; PIR2 V.3, 1987, N Nr. 101, S. 361; Thomasson, Laterculi I, 380, Nr. 74; Ders., Fasti Africani, S. 56. 856 Dazu m. w. N. Rabello, Il problema, S. 196 ff.; Marotta, Politica imperiale, S. 414 ff. Dafür und gegen eine direkte Norm gegen Beschneidung spricht insbesondere, dass die jüdische Bevölkerung nur in Teilen des Reiches unter einem Beschneidungsverbot gelitten hat, in anderen dagegen nicht; vgl. dazu auch das unterschiedliche Vorgehen gegen die Christen auf der Grundlage der mali-homines-Klausel in D. 1, 18, 13 pr. o. I. 4. e). Diese Möglichkeit ziehen beispielsweise Schäfer, Der Bar Kokhba-Aufstand, S. 40 ff. und Abusch, Negotiating difference, S. 74 ff., nicht einmal in Erwägung, nachdem sie ein direktes Verbot der Beschneidung widerlegt zu haben meinen. Dass ein, zumindest durch Interpretation erzieltes, Beschneidungsverbot bestand, geht auch aus D. 48, 8, 11 pr. (Modestin, 6 regul.) hervor (auch nach der Lesart Schäfers, Der Bar Kokhba-Aufstand, S. 42), wo Antoninus Pius den Juden die Beschneidung nur der eigenen Söhne erlaubt. Bei Beschneidung anderer dagegen ist die Strafe wie für denjenigen verwirkt, der kastriert

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Hadrians Bestimmungen gegen Kastration sind somit vor 128 bis 132 n. Chr. einzuordnen; genauer ist das nicht möglich. Zwei Nachrichten zur praktischen Anwendung des hadrianischen Kastrationsverbots sind aus der Provinz Ägypten erhalten. Erstens enthält die unter Antoninus Pius entstandene Apologie Justins858 eine Stelle, wonach sich ein Christ aus Alexandrien von einem Arzt freiwillig kastrieren lassen wollte. Nachdem ihm die Ärzte vor Ort erklärt hatten, dass ein solcher Eingriff grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise mit Genehmigung des Statthalters möglich sei, habe der Christ um die Genehmigung beim praefectus Aegypti, L. Munatius Felix859, nachgesucht, die dieser jedoch verweigert habe.860 Trotz des eigentlich eindeutigen Verbotes der freiwilligen Kastration könnte es also eine Möglichkeit gegeben haben, vom Statthalter die Erlaubnis einer Kastration zu bekommen und dadurch der Bestrafung zu entgehen.861 Da die hadrianische Bestimmung klar und eindeutig war, ist ein allgemeines Dispensationsrecht des Statthalters jedoch allenfalls bei medizinischer Indikation glaubhaft, aber keine Ausnahme für religiös motivierte Kastrationen.862 Andernfalls wäre in diesem Fall die Ausnahme doch wohl gemacht worden. Da aber die schwerlich weltfremden Ärzte vor Ort eine ausnahmsweise Erlaubnis für möglich hielten, liegt es nicht fern, anzunehmen, dass der Statthalter unter engen Voraussetzungen eine Ausnahme machen konnte, insbesondere zu therapeutischen Zwecken.863 Die provinziale Praxis864, mit dem hadrianischen Kastrationsverbot zurecht zu kommen, stellte also wohl auf das Ziel der Kastration ab, wenn es hat, ein weiterer Hinweis darauf, dass die Beschneidung unter das Kastrationsverbot gefasst werden konnte (ähnlich auch PS 5, 22, 3–4). Im Hinblick auf die Söhne der Juden wurde diese Interpretation eingeschränkt. 857 Cassius Dio (69, 12, 1–13, 2) gibt als Grund der Unruhen allein den Bau des Jupitertempels auf dem Gelände des zerstörten Tempels in Jerusalem an. Das muss nicht gegen die Überlieferung in der HA sprechen, denn es könnten mehrere Anlässe zusammengekommen sein, die zum Aufruhr führten: zum Bau des Tempels 131 n. Chr. auch eine Verschärfung des Kastrationsverbots zum Beschneidungsverbot. Sehr kritisch zum Anlass des Bar Kokhba Aufstands Schäfer, Der Bar KokhbaAufstand, S. 38 ff.; S. 50; Abusch, Negotiating difference, S. 74 ff. 858 Zu ihm und seinem Werk Heid, Art. Iustinus Martyr, S. 801 ff., insbes. S. 803 f. und Munier, Saint Justin Apologie, S. 1 f. u. S. 5 f. 859 Zu ihm und der zeitlichen Einordnung seiner Präfektur in Ägypten zwischen 150 und 154 n. Chr. PIR2 V.2, 1983, M Nr. 723, S. 315 f.; Thomasson, Laterculi I, Nr. 58, col. 350. 860 Justin, Apol. 29, 2 u. 3. 861 Nicht nur der Arzt, auch der Kastrierte; unrichtig Hitzig, Art. castratio, S. 1772. 862 So aber Guyot, Eunuchen, S. 49. 863 So auch Dalla, L’incapacità, S. 96. 864 Diese muss nicht schon Hadrian festgelegt haben, sondern sie kann sich auch bei der praktischen Anwendung des Verbotes allmählich herausgebildet haben.

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darum ging, ob es strafwürdig oder straflos sein sollte. Trotz der eindeutigen weiten Fassung konnten Fälle ausgeschieden werden, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes nicht erfasst werden sollten. Dabei war der präventive Dispens eine praktische Möglichkeit, langwierige Prozesse danach zu vermeiden. Außerdem heißt es im Gnomon des Idios Logos, ebenfalls aus der Zeit des Antoninus Pius865, im Rahmen des Abschnittes über castrati und spadones in § 113:866 OÆ mh½ eërskümenoi, ýJžtoû, ÷pelŸqhsan. ýJn _ mÍntoi ållwò ÷podeixqws