Römische Umgangsriten: Eine ethologische Untersuchung der Funktion von Wiederholung für religiöses Verhalten [Reprint 2013 ed.] 3110160773, 9783110160772

Die Herausforderung religionsgeschichtlicher Forschung besteht darin, die Erschließung von Quellen in ihren Kontexten un

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Römische Umgangsriten: Eine ethologische Untersuchung der Funktion von Wiederholung für religiöses Verhalten [Reprint 2013 ed.]
 3110160773, 9783110160772

Table of contents :
Einleitung
I. Ritual und Wiederholung. Vorarbeiten zu einer ethologischen Religionstheorie
1. „Wiederholung“ als religionswissenschaftliche Kategorie
2. Das Ritual als wiederholbare Handlung: Anthropologische Grundlagen
3. Form und Bedeutung: Die ethologische Theorie der Ritualisierung
II. Ländliche Lustrationsriten. Formen der Territorialität im Wirtschaftsjahr
1. Wie „lustriert“ man ein Landgut? Catos Ritualanweisung (De agri cultura 141) als wiederholbares Muster
2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht“ (2, 1)
3. „Ambarvalia“
4. Das Maifest der Arvalbrüder
5. Feriae Sementivae und Paganalia: Städtische und ländliche Lustrationen im kalendarischen Kontext
6. Vom lustrale malum zur Eschprozession
III. Zur gemeinschaftsstiftenden Funktion des Umgangs
1. Die Lustration des Heeres und der Flotte
2. Das Zensorische Lustrum
Zusammenfassung
Bibliographie

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Dorothea Baudy Römische Umgangsriten

w DE

G

Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten herausgegeben von Fritz Graf Hans G. Kippenberg Lawrence E. Sullivan Band 43

Walter de Gruyter Berlin · New York 1998

Römische Umgangsriten Eine ethologische Untersuchung der Funktion von Wiederholung für religiöses Verhalten

von Dorothea Baudy

Walter de Gruyter Berlin · New York 1998

Die Reihe Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten wurde 1903 begründet von Albrecht Dieterich und Richard Wünsch. Die Bände I—XV erschienen 1903 — 1915 unter der Herausgeberschaft von Ludwig Deubner und Richard Wünsch. Die Bände XVI -XXVII erschienen 1 9 1 6 - 1 9 3 9 unter der Herausgeberschaft von Ludolf Malten und Otto Weinreich. Die Bände XXVIII - XXXVIII erschienen 1969-1982 unter der Herausgeberschaft von Walter Burkert und Carsten Colpe.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-EinheitsauJnahme Baudy, Dorothea: Römische Umgangsriten : eine ethologische Untersuchung der Funktion von Wiederholung für religiöses Verhalten / von Dorothea Baudy. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten ; Bd. 43) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-11-016077-3

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Unter Verwendung von Signum!3 (ASH) mit Garamond (TYPES) auf Atari 1040 ST durch die Autorin Druck: Rotaprint-Druck Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Herrn Professor Dr. Burkhard Gladigow dankbar zugeeignet

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Sie ist seitdem geringfügig überarbeitet worden. Für Kritik und Hinweise habe ich den Berichterstattern Prof. Dr. Burkhard Gladigow und Prof. Dr. Günter Kehrer sowie den Herausgebern Prof. Dr. Fritz Graf und Prof. Dr. Hans G. Kippenberg zu danken. Es geht in dieser Untersuchung um die Erforschung eines bestimmten religiösen Handlungsmusters, nämlich einer Kreisprozession, wie sie uns in verschiedenen Formen römischer Lustrationsriten begegnet. Die Arbeit hat eine historische und eine systematische Seite: Sie soll das Ritualverständnis, das der Analyse zugrundeliegt, explizit machen und zugleich einen Beitrag zur gegenwärtigen Theoriediskussion leisten. Zentral ist dabei der Begriff des Rituals als wiederholbarer Handlung. Die entscheidende Anregung zum Thema „Wiederholung" gab mir Herr Professor Gladigow. Ich habe ihm für vieles zu danken: für die zahlreichen Denkanstöße, die ich in seinen Vorlesungen und Seminaren sowie in persönlichen Gesprächen von ihm erhalten habe; für die Freiheit und Langmut, die er mir einräumte, damit ich meine eigenen Ideen daraus entwickeln konnte, und nicht zuletzt für die Unterstützung bei der Beschaffung von Mitteln, die eine Realisierung ermöglichten. Dankbar für die Förderung meiner wissenschaftlichen Arbeit in einem wahrhaft umfassenden Sinn bin ich außer ihm vor allem meinen Eltern Elfriede Müller geb. Briegel und Paul Müller sowie meiner Schwester Mechthild Müller-Hennig und meinem Mann Gerhard Baudy. Sie haben durch mannigfaltige Anregungen zur Erweiterung meines Horizonts beigetragen.

Konstanz, den 22. März 1998

Dorothea Baudy

Inhaltsverzeichnis Einleitung I.

1

Ritual und Wiederholung Vorarbeiten zu einer ethologischen

Religionstheorie

1.

„Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

21

2.

Das Ritual als wiederholbare Handlung: Anthropologische Grundlagen

41

0. 1. 2. 3.

41 41 57 64

3.

Einleitung Kalenderriten Lebenslaufriten Rituelle Notfallreaktionen

Form und Bedeutung: Die ethologische Theorie der Ritualisierung

67

0. 1. 2. 3. 4. 5.

67 72 78 85 90 92

Einleitung Der Formwandel Der Funktionswandel „Ontogenetische Ritualisierung" „Kulturelle Ritenbildung" Rituelle Muster

II. Ländliche Lustrationsriten Formen der Territorialität im 1.

Wirtschaftsjahr

Wie „lustriert" man ein Landgut? Catos Ritual anweisung (De agri cultura 141) als wiederholbares Muster

103

0. 1. 2. 3. 4.

103 104 110 115 121

Einleitung Der rituelle Umgang Das Gebet an „Vater Mars " Das Opfer der suovitaurilia Instauratio : Die dauernde Sorge um rituelle Korrektheit

χ

2.

3.

4.

5.

6.

Inhaltsverzeichnis

Fest und Tradition: Zu Tibulls „ Ambarvalgedicht" (2, 1)

127

0. Einleitung 1. „Ein Ritus wie vom altehrwürdigen Ahn überliefert" 2. „Das Land besinge ich und die ländlichen Götter"

127 128 137

„Ambarvalia"

149

1. Ein heortologisches Problem 2. Das „Ambarval-Opfer" bei Vergil

149 151

Das Maifest der Arvalbrüder

159

0. Einleitung 1. Festzeit und Festsinn 2. Ex eo tempore ... Die Akteure des Ritus und ihre mythischen „Urbilder" 3. Lied und Tanz: Formen der Codierung von Ritualbedeutung 4. Zur Wirkungsweise des Rituals: Ein Beispiel (Η. A. Aurel. 18, 4 ff.) 5. „Ambarvia": Eine Hypothese 6. Zusammenfassung

159 160 164 167 171 174 178

Feriae Sementivae und Paganalia: Städtische und ländliche Lustrationen im kalendarischen Kontext

181

0. 1. 2. 3. 4.

181 183 186 192 194

Einleitung Ovids Schilderung des Saatfests (fast. 1, 657-696) Zum Verhältnis von Sementivae und Paganalia Ländliches Fest und Staatskult Zusammenfassung

Vom lustrale malum zur Eschprozession

197

1. Das lustrale malum 2. Die Eschprozession 2.1. Aition und Ritus 2.2. Die „Gerichtsumgänge" von Villanders und Kastelruth

197 200 200 209

Inhaltsverzeichnis

III. Zur gemeinschaftsstiftenden

XI

Funktion des Umgangs

1.

Die Lustration des Heeres und der Flotte

215

2.

Das Zensorische Lustrum

223

0. Einleitung 1. Ritual und Rangstruktur: Die Konstituierung der Bürgerschaft 2. Von votum zu votum: Die Periodisierung der Zeit 3. Ritual und Aition: Der Stiftungsmythos

223 227 236 246

Zusammenfassung

263

Bibliographie

269

Einleitung Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind römische Lustrationsriten, und zwar in einem terminologisch eng gefaßten Sinn: Nicht „Reinigungsriten" sind gemeint, wie es der moderne wissenschaftliche Sprachgebrauch suggerieren könnte, sondern nur solche religiösen Handlungen, die in der römisch-italischen Kultur des Altertums als lustratio oder lustrum galten. Die Gemeinsamkeit dieser Klasse von Riten besteht in einem bestimmten religiösen Handlungsmuster: einem feierlichen Umgang um ein Gebiet, eine Gruppe von Menschen oder um bestimmte Dinge, weshalb man sie auch als „Umgangsriten" bezeichnen kann.1 Bei dieser Kreisprozession wurden Opfertiere mitgeführt, im Normalfall suovitaurilia, also ein Schwein, ein Schaf und ein Rind. Zur anschließenden Opferung gehörte ein Gebet. Es brachte die unheilabwehrende und segenstiftende Bedeutung des Rituals zum Ausdruck. Diesem Grundmuster, das sich in allen lustrationes findet, ist der Abschnitt über Catos Ritualanweisung (unten, Kapitel II 1) gewidmet. Der Verwendung des Verbs lustrare als Terminus technicus für einen bestimmten Typus rituellen Handelns, so die dort vorgetragene These, lag die konkrete Vorstellung eines Umgangs zugrunde. Von diesem wurde in der Regel erwartet, daß er geeignet sei, Schaden abzuwenden und segenstiftend zu wirken. Wie sich Bedeutungsverleihung und Ritualhandlung zueinander verhalten, wie ein und dasselbe Aktionsmuster je nach dem „Kontext", in dem das Ritual stattfindet,2 auf der Handlungsebene in bestimmten De-

1

Knuchel hat dasselbe Ritualmuster zum Gegenstand seiner volkskundlichen A r b e i t „ D i e U m w a n d l u n g " (1919) gemacht. Parker, M i a s m a (1983), behandelt hauptsächlich U m g a n g s r i t e n , und zwar aus dem frühen Griechenland; sein Erkenntnisinteresse richtet sich jedoch (im Anschluß an Douglas, Reinheit [1966 / 1 9 8 5 ] ) auf das T h e m a „Reinigung".

2

A l s „ K o n t e x t " des Ritualmusters kann ein komplexes Ritual (siehe dazu G l a d i g o w , Ritual [im D r u c k ] ) gelten, in das es integriert ist; s o wird in K a p . II 2 ein ländliches F e s t besprochen. In einem weiteren Sinn gehören jedoch auch die jahreszeitlichen, regionalen, wirtschaftlichen und sozialen Bezüge und schließlich der F e s t -

2

Einleitung

tails, vor allem aber auf der Sinnebene variiert wird und durch Gebete und mythische Erzählungen einen zusätzlichen symbolischen Mehrwert erhält, werden die folgenden Kapitel an ausgewählten Beispielen analysieren. Schwerpunkte der Untersuchung stellen zum einen verschiedene nah verwandte Formen ländlicher Umgangsriten, zum andern das Zensorische Lustrum (siehe Kapitel III 2) dar. Die Arbeit möchte zur Uberwindung einer in der altertumskundlichen Forschung über viele Jahrzehnte immer wieder neu aufgerollten Problemstellung beitragen. Lange Zeit hindurch zielte nämlich die Frage nach dem Sinn eines solchen Ritus auf seine Urbedeutung; diese wollte man insbesondere durch die etymologische Ableitung seines Namens beantworten. 3 So wurde diskutiert, ob der jeweilige Ritus „ursprünglich" apotropäisch, kathartisch oder vielleicht gar apotropäisch-kathartisch gewesen sei. 4 Wenn wir aber davon ausgehen, daß dasselbe Handlungsmuster je nach Bezugssystem variabel eingesetzt und auf der Bedeutungsebene unterschiedlich akzentuiert werden kann, verliert diese Frage an Gewicht. „Schadensabwehr" und „Reinigung" von Unheil können ebenso intendiert sein wie der Wunsch nach einer günstigen Entwicklung - sozusagen in veränderlichen Gewichtsanteilen. Als Scheinproblem erweist sich erst recht die Fragestellung, ob nicht „ursprünglicher" als dieser (wie auch immer eingeschätzte) Ritus eine magische Handlung sei, die dem rituellen Umgang zugrunde liege,^ vor allem dann, wenn damit dem Umkreisen als

3

4 5

kalender insgesamt dazu. - Erhellend für die Beziehung Muster / Variation ist die Kategorie der „Brauchformen" bei Dünninger, Brauchtum (1957/1962), 2596 ff. Zur Diskussion um die Etymologie von lustrare siehe unten, Kap. II 1.1, zur Etymologie von lustrum und lustrum condere Kap. III 2.2 mit den Anm. 75 f. und 64 f.. - Im Zusammenhang mit der Behandlung eines hier ausgeklammerten Umgangsritus hat Ulf, D. röm. Luperealienfest (1982), 1 ff. die „Aussagekraft etymologischer Argumente" grundsätzlich - und überzeugend - in Zweifel gezogen. Noch Rosivach, Mars (1983), 515, zerbricht sich den Kopf darüber. Dem hat vor allem Boehm, Lustratio (1927), mit seiner an und für sich richtigen Beobachtung: „Von den verschiedenen Elementen des Lustrationsritus war das wesentlichste das Umkreisen des zu Lustrierenden" (Sp. 2030) Vorschub geleistet, da er im folgenden (2031) die „Anschauung von der zauberhaften Wirkung des Kreises" zugrundelegt. Pax, Peridrome (1940), 892 versteht „unter dem Umgang . . . das Ziehen eines magischen Kreises". Vgl. Petersmann, Lustrum (1983), der 221 folgende Etymologie von lustrare vorschlägt: „Ursprünglich bedeutete es .etwas mit Licht versehen', .beleuchten, ausleuchten', indem man mit einer Lichtquelle einen Umgang machte und alles genau inspizierte, um ja sicher zu sein, daß kein Dämon sich irgendwo verberge." Harmon schließlich beruft sich (Religion [1986], 1948)

Einleitung

3

solchem der Primat vor der mit ihm verbundenen Intention zugesprochen werden soll. Es ist aber müßig zu fragen, ob der „Ursprung" eines Rituals auf der Bedeutungs- oder auf der Handlungsebene liegt; denn bei jedem Ritus haben wir es mit einem Verhaltensablauf zu tun, der jeweils einen bestimmten Sinn evoziert. 6 Überdies werden wir mit dem Hinweis auf einen angeblich „magischen Ursprung" nur vertröstet, denn die Etikettierung einer Verhaltensweise als magisch trägt zu ihrer Erklärung nichts bei, zumindest dann nicht, wenn wir das implizierte evolutionistische Schema, wonach in der Menschheitsgeschichte die „Magie" der „Religion" vorangegangen sei, für inakzeptabel halten. 7 Selbst unter einer solchen Voraussetzung aber bliebe offen, was Menschen je dazu bewogen haben könnte, „magische" Praktiken auszuüben, und woher sich der Hang zum Traditionalismus speisen sollte, der Menschen über Jahrhunderte weg veranlaßt hätte, Handlungen durchzuführen, deren Sinn sie angeblich nicht mehr verstanden. 8 Fruchtbare Interpretationsmodelle entwickelt haben hingegen W. Warde Fowler, 9 der den territorialen Aspekt des Rituals hervorhob, sowie Udo W. Scholz* 0 und Hendrik S. Versnel," die soziale Aspekte herausarbeiteten. Den Ausführungen Versnels über das Lustrum weiß ich mich mehr verpflichtet als jeder anderen Spezialarbeit zu den Umgangsriten. Ich möchte sie gerne — auch im Hinblick auf die anderen Formen der lustratio — fortführen und durch einen anthropologischen Ansatz (dazu gleich mehr) hintergreifen. Die Methode, die für die beabsichtigte Untersuchung zur Verfügung steht, ist primär eine philologische. Da uns die antiken Kulturen nicht in direkter Beobachtung zugänglich sind, gewinnen wir unsere Erkenntnisse

z u r Erläuterung von Tibull 2 , 1 auf Boehm, um zu behaupten: „At the core of the rite [d. h. der „lustral procession"] lies the magico-religious idea that those in the procession create a barrier against harmful elements b y walking in a circle . . . " 6

Frits Staal allerdings hält Riten grundsätzlich für bedeutungslos: Meaninglessness (1979), vgl. auch dens., Rules W i t h o u t Meaning (1989) und W i t h i n Ritual (1991).

7 8

Siehe dazu Schlatter, Evolutionismus (1990). Ein Beispiel: Lattes Urteil über die Arvalbrüderschaft (Rom. Religionsgeschichte [ 1 9 6 0 / 1 9 6 7 ] , 2 9 4 - 3 1 1 : 310, reaktualisiert in Saeculum Augustum II (1988), 2 1 - 5 1 ) . Siehe dazu unten, Kap. II 4.3 mit A n m . 37. Vgl. u. a. auch Meslin, Pour une Science (1973), 25.

9

Lustratio (1908 / 1910), vgl. dens., Religious Experience (1911 /1971), 2 0 9 ff.

10

Studien zum altitalischen u. altrömischen Marskult u. Marsmythos (1970), 52 ff.

11

A p o l l o and Mars ( 1 9 8 5 - 8 6 /1993), 319 ff.; vgl. dens., Sacrificium Lustrale (1975).

4

Einleitung

durch die Interpretation schriftlicher und bildlicher Zeugnisse.12 Viele Informationen über die antike Religion sind in Kunstwerken „versteckt" daher bedarf es bisweilen der literaturwissenschaftlichen Interpretation eines Gedichts (wie etwa Tibulls Elegie 2,1 unten in Kapitel II 2), um sie offenzulegen. In anderen Fällen werden Quellen eher punktuell verwendet; manchmal müssen sie ihres fragmentarischen Charakters wegen rekonstruiert werden. Doch ihrer Zielsetzung nach ist die vorliegende Arbeit in jedem Fall eine religionswissenschaftliche. Während nämlich die Philologie traditionell religiöse „Sachverhalte" als Interpretationshilfe benutzt (indem sie beispielsweise das von Tibull geschilderte Fest im Kommentar als „Ambarvalia" bezeichnet), stellen eben diese „Sachverhalte" für die Religionswissenschaft stets selbst etwas Erklärungsbedürftiges dar: Das scheinbar Gegebene wird zum Problem. Mag die angewandte Methode also philologisch-literaturwissenschaftlich oder archäologisch sein, so ist das Erkenntnisinteresse doch stets religionswissenschaftlich: Gefragt wird nach bestimmten Riten — wie, wann, warum sie durchgeführt wurden, wie sich ihr Handlungsablauf erklärt, was sie den Teilnehmern bedeuteten, welche aus Gebeten und Mythen erschließbare Vorstellungen sich mit ihnen verbanden. Die Antworten, die hier vorgeschlagen werden, können, sofern sie einleuchten, von Literaturwissenschaftlern benutzt werden — dann dient die Religionswissenschaft als „Hilfswissenschaft". Sie sind aber auch gedacht als Kommunikationsangebot für diejenigen, die mit dem Studium anderer Religionen befaßt sind und es dort mit ähnlichen Phänomenen zu tun haben. Denn ein „vergleichender" Blick auf nah verwandte, 13 aber auch entferntere Kulturen zeigt, daß das religiöse Grundmuster eines rituellen Umgangs, verbunden mit bestimmten Erwartungen an die Wirkungsweise des Rituals, weit verbreitet, wenn nicht gar ubiquitär ist.1^ Ich habe

12

Vgl. Rudolph, Texte (1988), 4 0 ff.

13

Das kann die benachbarte griechische Kultur der A n t i k e sein, aber auch die von antiker Tradition geprägte mittelalterliche und neuzeitliche europäische K u l t u r ; siehe dazu u. a. die in A n m . 1 genannte Literatur.

14

Boehm, Lustratio (1927), 2031 nimmt eine weltweit „verbreitete Anschauung" an. Einige Beispiele: Gilgamesch-Epos I, 9 ff. u. XI, 3 0 2 ff. (Umgang auf der Stadtmauer); Hermes K r i o p h o r o s von Tanagra: siehe dazu Schachter, C u l t s (1986), 4 4 ff.; Umgang um die Herde (finnischer Brauch): Rantasalo,

Weidegang III

(1953), 24 ff. Ein Umgang mit den entgegengesetzten Vorzeichen: die Eroberung Jerichos, Josua 6 , 1 - 2 1 ; vgl. dazu Saintyves, Essais IV (1922), 1 7 7 ff. Weiteres M a terial u. a. bei Caland, Indogermaansch lustratiegebruik (1898); Hillebrandt, C i r cumambulatio (1911); Eitrem, Beiträge (1917), 5 ff.; vgl. auch dens., O p f e r r i t u s

5

Einleitung

hier aus Gründen der Arbeitsökonomie darauf verzichtet, selbst komparatistisch zu arbeiten und etwa Parallelen zu griechischem, indischem oder volkskundlichem Material zu ziehen, so reizvoll dies auch wäre. Um gleichwohl eine interdisziplinäre Kommunikation zu ermöglichen, habe ich mich darum bemüht, die Abhandlung so zu schreiben, daß sie für alle religionswissenschaftlich Interessierten lesbar ist.1^ Trotz der Bedenken, die in der Fachwelt des öfteren gegen eine „vergleichende" Religionswissenschaft geäußert wurden, halte ich es für sinnvoll und wünschenswert, daß sich Spezialisten für unterschiedliche Kulturen und Epochen über Fragestellungen und Ergebnisse ihrer Forschungen austauschen und sich von ihrer eigenen Basis aus in fremdes Terrain vorwagen. Ich plädiere hier nicht für einen Komparatismus, der das je spezifische kulturelle Eingebundensein der untersuchten Phänomene außer acht läßt,1*" doch teile ich auch nicht den Isolationismus derer, die jeder interkulturellen Untersuchung vorwerfen, sie wolle Äpfel mit Birnen vergleichen. Das können wir unter der Voraussetzung, daß wir die Systemebene wechseln, denn sobald wir einen Begriff „Obst" bilden, läßt sich sehr wohl darüber reden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen. 17 Was jedem sinnvollen kulturwissenschaftlichen Vergleich zugrundeliegen muß, ist eine allgemeine Kulturtheorie, die wiederum einer anthropologischen Fundierung bedarf. Das Interesse an beidem ist seit einiger Zeit erfreulich gewachsen. 18 Was sich jedoch dahinter - auch hinter der gegen(1914/15), 6 ff.; Saintyves, Rondes enfantines (1919); Samter, Volkskunde (1923), 1 3 6 ff.; Pax, Peridrome (1940); Rattelmüller, Pferdeumritte (1988). Eine interessante Entsprechung zum Umgangsritus auf symbolischer Ebene: das Mandala, siehe dazu Tucci, T h e o r y (1961), bes. 23 ff., 37 ff. u. 85 ff. 15

Für die verwendeten Abkürzungen bei Quellenangaben und Sekundärliteratur ist „ D e r Neue Pauly" maßgeblich.

16

Vgl. hierzu die Kritik Gladigows an den „Naturwissenschaftlichefn] M o d e l l v o r stellungen in der Religionswissenschaft" (1991), 192.

17

Das „Vergleichen" in der Religionswissenschaft wurde auf der Jahrestagung der D V R G 1995 r e f l e k t i e r t (siehe den von Klimkeit 1997 herausgegebenen S a m m e l band). Forschungsgeschichtlichen

Einordnung und grundsätzliche

Erwägungen

bes. in den Beiträgen von Stephenson, Einige Bemerkungen (dort 9 4 f. ebenfalls die O b s t - M e t a p h e r ) , Gladigow, Vergleich, und Kippenberg, Rekapitulationen. 18

Siehe Schlesier, Ritual (1992), 93 f. - Der Ä g y p t o l o g e Jan Assmann beansprucht beispielsweise, als erster Altertumswissenschaftler einen Beitrag z u r allgemeinen K u l t u r t h e o r i e vorzulegen: D. kulturelle Gedächtnis (1992), 19. Bei seinen Bemühungen k o m m t ihm die enge Zusammenarbeit mit seiner Frau Aleida Assmann, einer Anglistin, zugute. Die Arbeiten des Linguisten Roland Posner (grundlegend

6

Einleitung

wärtig prominenten „historischen Anthropologie" — verbirgt, ist fast immer ein „kulturanthropologischer" Ansatz. 1 9 Und dieser kann nur in einem eingeschränkten Sinne als „anthropologisch" gelten: Er deckt nur einen bestimmten Teil innerhalb eines interdisziplinären Konzepts von Anthropologie ab. Denn es handelt sich bei der cultural anthropology nach unserem älteren Sprachgebrauch schlicht um Ethnologie. Es ist jedoch äußerst fragwürdig, von einer bestimmten Kultur aus auf „den Menschen" zu schließen. 20 Auch dem interkulturellen Vergleich haftet stets etwas Beliebiges an — ich kann die Römer mit den Griechen, aber auch mit den Zulus oder den Germanen vergleichen - , weil er die Kluft zwischen verschiedenen historischen Gebilden theoretisch gerade n i c h t überbrükken kann. Daher ist es sinnvoller, die Systemebene zu wechseln und sich tatsächlich (nicht nur dem amerikanischen Namen nach) um eine anthropologische Grundlegung der Kulturtheorie - mithin auch der Religionswissenschaft — zu bemühen. 2 1 Die Untersuchung von Riten eines bestimmten Kulturbereichs in den Rahmen einer allgemeinen, anthropologisch fundierten Kulturwissenschaft zu stellen, erscheint aus zwei Gründen notwendig: Erstens ermöglicht das, wie gesagt, eine komparatistische Forschung. Zweitens läßt sich nur unter dieser Voraussetzung die phänomenologische Beschreibung in einen erklärungswissenschaftlichen Ansatz integrieren. In unserem Fall führt bereits die oben angeschnittene Frage nach dem Verhältnis von rituellem Hanund leicht zugänglich: Kultur [1991]) tragen viel dazu bei, daß auf der E b e n e einer für alle gleichermaßen gültigen Semiotik ein K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß i n s b e s o n d e re unter Literaturwissenschaftlern in G a n g gekommen ist. (Vgl. auch unten, K a p . I 3.0 mit den A n m . 13 u. 14). Allerdings sollten andere Leistungen in der E u p h o r i e nicht übersehen werden; ich denke insbesondere an das kulturwissenschaftliche Modell der Tübinger Altertumskunde und Religionswissenschaft, wie es seit den frühen 70er Jahren von H u b e r t C a n c i k und Burkhard G l a d i g o w vertreten wird. Z u r „Religionswissenschaft im Rahmen von Kulturwissenschaft" siehe jetzt G l a d i g o w , G e g e n s t ä n d e (1988), 32 ff.; vgl. auch Sabbatucci, Kultur (1988). 19

Siehe dazu bes. Andreau / H a r t o g , H i s t o i r e (1990); zum antiken Griechenland: C a í a m e , D u f i g u r a t i f . . . (1990), Di D o n a t o , A n t h r o p o l o g i e (1990). F o r s c h u n g s g e schichtliche E i n o r d n u n g und weitere Literatur bei Schlesier, Ritual (1992). - „ D i e Bedeutung der Biologie für eine Historische A n t h r o p o l o g i e " w u r d e auf dem H i storikertag in Berlin, O k t o b e r 1984 diskutiert (Vorträge in Saeculum 36,1985). Ber ü h r u n g s p u n k t e mit unseren Fragestellungen dort bei O e x l e , G r u p p e n b i n d u n g .

20

Vgl. Burkert, C r e a t i o n (1996), 1 ff.

21

Ein Verweis auf Gehlens Werk „ D e r M e n s c h " genügt hierfür freilich nicht (dazu unten mehr).

Einleitung

7

dein und seiner Bedeutung über das konkrete Thema der römischen Lustrationsriten hinaus: Von welchem Ansatz her läßt sich erklären, w a r u m sich überhaupt mit einem Umgang die Vorstellung verbindet, Gefahren könnten durch ihn abgewehrt, „Verunreinigungen" beseitigt werden oder er übe einen günstigen, segenbringenden Einfluß aus? Mit dem radikalen Standpunkt, den Frits Staal vertritt, daß nämlich Riten grundsätzlich bedeutungslos seien, 22 sollten wir uns ebensowenig zufriedengeben wie mit Niklas Luhmanns apodiktischer Äußerung: „Als zwingend ableitbar erscheint der Wissenschaft nur das Bezugsproblem religiöser Sinnzuweisung, nicht ableitbar sind dagegen die Sinnformeln, die dieses Problem .chiffrieren'." 23 Dies mag von der Luhmannschen Fragestellung her eine befriedigende Auskunft sein; doch erweist sich die Systemtheorie damit als nicht geeignet, zur Lösung eines konkreten religionswissenschaftlichen Problems beizutragen. Gerade die Ableitung der „Sinnformeln" ist es doch, die uns im Hinblick auf die zu untersuchenden Lustrationsriten — und auf rituelle Handlungmuster generell! — beschäftigen sollte. Sie kann allerdings nicht gelingen, solange wir uns nur innerhalb des Bezugssystems der römischen Kultur bewegen. Weiter führte hier die von Burkhard Gladigow mit Recht geforderte „Kompositionslehre" religiöser Rituale, die „nicht nur die Elemente von Ritualen . . . sondern auch die Regeln ihrer Verknüpfung" zu bestimmen in der Lage wäre. 24 Diese dürfte sich meiner Meinung nach jedoch nicht auf der abstrakten Ebene einer generativen Transformationsgrammatik, wie sie beispielsweise Frits Staal vorschwebt, 25 bewegen, sondern müßte vielmehr den inhaltlichen Aspekten der Ritualelemente Rechnung tragen. In unserem Zusammenhang ließe sich eine typische Ritualsequenz aufzeigen, in der sich an Umgang und Opfer Agon und Festmahl anschließen. 26

22

Siehe oben, A n m . 6.

23

F u n k t i o n der Religion (1977), 70.

24

Ritual (im Druck). Grundlegend: Leach, Kultur (1976 /1978). - Einen interessanten A n s a t z bietet das K o n z e p t der „Aktionsprogramme", vertreten von Burkert, Structure (1979), 14 ff. und Creation (1996), 56 ff.

25 26

Meaninglessness (1979), 15 ff. mit Hinweisen auf weitere Abhandlungen Staals. Ein schönes Beispiel: Tischendorf, Reise (1846), 212 f. Er war Augenzeuge eines Fests, das Ende Juni beim Heiligtum des Schêch Ssâlih stattfand. Seiner anschaulichen Schilderung läßt sich entnehmen, daß die Sequenz Umgang - O p f e r - A g o n - Mahl, an die sich ein Tanz hätte anschließen sollen, der wegen Sturm ausfiel, nicht zuletzt darin ihren G r u n d hatte, daß die für das Kochen benötigte Zeit z w i schen Schlachten und Essen überbrückt werden mußte.

8

Einleitung

Sollte dem hier untersuchten Handlungsmuster der Umgangsriten, aber auch anderen rituellen Versatzstücken nicht eine elementare, anthropologisch ableitbare Disposition zugrundeliegen, welche die Wirkungsweise des jeweiligen Rituals überhaupt erst erklärbar macht? Was die Lustrationsriten angeht, handelt es sich - so die Arbeitshypothese der folgenden Untersuchung - um ritualisierte Verhaltensmuster aus dem Funktionskreis der Revierverteidigung, die jeweils an kulturelle Situationen spezifisch angepaßt sind. Damit kommt eine ethologische Begrifflichkeit ins Spiel, die der Erläuterung und Begründung bedarf. Erklärungsbedürftig ist ferner ein grundsätzlicher Aspekt religiösen Handelns. Denn ein allgemeines Merkmal haben die römischen Umgangsriten mit anderen Riten gemeinsam: Sie sind bei bestimmten Anlässen wiederholbare Verhaltensmuster. Wiederholungen spielen zugleich eine wichtige Rolle innerhalb des Handlungsablaufs; sie strukturieren nicht selten die mit ihm verbundenen Gebete. Nicht zuletzt wird der Ritus von den jeweiligen Kultteilnehmern in der Regel als Wiederholung einer mythischen Urhandlung aufgefaßt. Es könnte demnach lohnend sein, Wiederholung als religionswissenschaftliche Kategorie ins Spiel zu bringen, mithin zu erörtern, welchen Erkenntnisgewinn wir daraus ziehen, wenn wir das Verhältnis von Ritual und Wiederholung untersuchen. Somit konzentriert sich die vorliegende Arbeit nicht nur auf ein bestimmtes religiöses Verhaltensmuster, sondern verfolgt zugleich ein systematisches Ziel. Sie möchte einen Beitrag zu einer Theorie des Rituals leisten. Hier läßt sich die Blickrichtung umkehren, denn das Handlungsmuster der Lustrationsriten wird so zu e i n e m möglichen Paradigma für rituelles Handeln schlechthin. Die Frage jedoch, welche Funktion Wiederholung im Rahmen religiösen Verhaltens habe, kann erst recht nur auf der Basis einer anthropologischen Theorie rituellen Handelns beantwortet werden. Diese ist vorbereitet im Werk Arnold Gehlens. In seinem Buch „Der Mensch" hat er den Aufbau wiederholbarer Handlungsstrukturen eindringlich dargestellt und bei der Bestimmung seiner Kategorien die biologischen Grundlagen des Verhaltens berücksichtigt. 27 Gehlen hat sich mit seinen anthropologischen Arbeiten zweifellos große Verdienste erworben. Da er jedoch persönlich die Offenheit für biologisch-ethologische Forschung mit einer extrem konservativen politischen 27

Siehe bes. D e r Mensch (1940 / 1974), II. Teil: Wahrnehmung, Bewegung, Sprache; dens., Urmensch (1956 / 1 9 7 5 ) sowie Ü b e r einige Kategorien . . . (1962 /1971).

Einleitung

9

Überzeugung verband, konnte der Eindruck entstehen, es gebe hier einen notwendigen Zusammenhang. Hinzu kommt, daß der Mißbrauch der Biologie im Nationalsozialismus dazu geführt hat, jedes anthropologischethologische Interesse in Mißkredit zu bringen.2® Inzwischen hat jedoch die Grüne Bewegung zur Genüge gezeigt, daß die Verwendung biologischer Erklärungsmodelle mit ganz unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen verbunden werden kann. Zudem rechtfertigt die Möglichkeit, eine wissenschaftliche Disziplin zu mißbrauchen, nicht ein Verdikt gegen sie. Wir müssen auseinanderhalten, was ein Ethologe als Wissenschaftler und was er als politisch argumentierender Mensch sagt. Die Annahme stammesgeschichtlich erworbener Verhaltensdispositionen leistet weder einem blinden Determinismus Vorschub noch dient sie notwedig zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens — sie liefert dafür lediglich die Erklärung. Welche ethischen und politischen Konsequenzen wir daraus ziehen, ist eine andere Frage. Nur am Rande sei bemerkt, daß die Annahme der völligen Emanzipation des Menschen von stammesgeschichtlichen Grundlagen die Vorstellung seiner völligen Programmierbarkeit im Sinne eines Skinnerschen Behaviorismus impliziert. Ist dies wirklich wünschenswert? Ein anderes Problem entsteht da, wo Gehlen nicht kritisch, sondern gleichsam als Handbuchautor rezipiert wird. Weil „Der Mensch" vorläufig durch nichts Entsprechendes ersetzt ist, 2 " rekurrieren viele Kulturwissenschaftler, die ihrer Arbeit eine anthropologische Grundlage geben wollen,

28

Siehe etwa die Polemik von Schlesier, Ritual (1992), 101 f.: „Burkerts a n t h r o p o l o gische Beschäftigung mit der A n t i k e stammt aus der konservativen Tradition deutscher A n t h r o p o l o g i e und Verhaltenstheorie, w i e sie während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und im Nachkriegsdeutschland höchst einflußreich v o n K o n r a d L o r e n z (1903 - 1989) und A r n o l d Gehlen (1904 - 1976) vertreten w u r den." - D i e sachlich inadäquate Auseinandersetzung mit dem ethologischen Ritualbegriff gipfelt auch bei Paul, Rituelle Kommunikation (1990), 116, A n m . 4 0 (im A n s c h l u ß an eine Kritik Huxleys!) in einem „Vergleich mit dem Nationalsozialismus". H i e r werden wissenschaftliche Erklärung und politische Legitimation von Verhalten in einen Topf geworfen.

29

Das mehrbändige Werk von Gadamer und Vogler, Neue A n t h r o p o l o g i e (1972 ff.) ist z w a r in handlichen Taschenbuchausgaben erschienen, doch o f f e n b a r zu u m fangreich. Der gerngelesene Leroi-Gourhan (Hand und W o r t , 1964/65 / 1980) v e r tritt etwas eleganter letztlich ein ähnliches Menschenbild w i e Gehlen. Aktuell wäre: Eibl-Eibesfeldt, Biologie (1984 u. ö.).

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10

eben darauf 30 und schreiben selbst dort noch, wo sie sich explizit auf die moderne Evolutionsbiologie berufen, in Wahrheit das Gehlensche Menschenbild fort. 31 Bedenklich ist dies deswegen, weil Gehlen die biologische Theorie nicht so konsequent rezipierte, wie es den Anschein hat. Er bleibt - und mit ihm diejenigen, die sich auf ihn berufen - letztlich der Tradition der Philosophischen Anthropologie verpflichtet, indem er an der Mängelwesentheorie des Platonischen „Protagoras"32 festhält. Diese aber ist, biologisch gesehen, nachweislich falsch. Gehlen beruft sich für seine Theorie der Instinktreduktion in seinem Werk „Der Mensch" auf eine Arbeit von Konrad Lorenz aus dem Jahre 194333 und weist nicht nur dessen spätere Richtigstellungen als „außerordentlich mager und enttäuschend" zurück, 34 sondern behauptet auch noch in der 3. verbesserten Auflage von „Urmensch und Spätkultur", die 1975 erschienen ist, er beziehe sich damit auf die „modernen verhaltens-psychologischen Instinktanalysen". 35 Mit dieser Fixierung auf den ethologischen Forschungsstand der vierziger Jahre wurde Gehlen seinem eigenen Anspruch einer „empirischen Philosophie" nicht gerecht.3É> Das schadete nicht nur seiner Theoriebildung, sondern hatte weitreichende Konsequenzen: Soziologen, Theologen und Kulturwissenschaftler beziehen sich auf seine Arbeiten im Glauben, es handle sich um biologische Fakten. Dadurch werden Fehler verschleppt und die Diskussion zwischen den Natur- und Kulturwissenschaften (die sich so

30

U n t e r ausdrücklicher Berufung auf Gehlen übernimmt beispielsweise die These v o n der „Instinktreduktion" Schmied, Soziale Zeit (1985), 144. Es folgt das beliebte Nietzsche-Zitat, der Mensch sei „das noch nicht festgestellte Tier" (Jenseits von G u t und Böse, Kap. 62).

31

Siehe etwa A . und J. Assmann, Schrift (1988), 28 oder Posner, Kultur (1991), 3 9 ff. Diese beiden Beispiele habe ich deswegen gewählt, weil sie als Beiträge auf interdisziplinären Kongressen von vornherein an ein größeres Publikum adressiert waren (Posner hielt denselben Vortrag unter dem Titel „What is Culture?" bei einem internationalen S y m p o s i u m 1986 in Bochum).

32

Siehe Piaton, Protagoras 3 2 0 c - 322 d.

33

L o r e n z , D. angeborenen Formen, 292.

34

D e r Mensch (1940 /1974), 26.

35

S. 124.

36

W i e eine „Philosophische Anthropologie" heute aussehen könnte, hat m. E. am einleuchtendsten Habermas in seinem Lexikonartikel (1958 / 1 9 7 7 ) skizziert. Vgl. auch Marquard, Z u r Geschichte (1973); Fahrenbach, Mensch (1973); dens., Z u m anthropologischen Bezugsrahmen (1984) und „Phänomenologisch-transzendentale" oder „historisch-genetische" A n t h r o p o l o g i e (1994); Schnädelbach, D i e P h i l o sophie (1989).

11

Einleitung

d e m Verdacht aussetzen, nur umbenannte „Geistes"wissenschaften zu sein) wird unnötig erschwert durch das Beharren auf der mythischen D i c h o t o mie T i e r / M e n s c h , fälschlich gleichgesetzt mit den binären Codierungen N a t u r / Kultur, ererbt / erlernt, instinktgesteuert / frei u s w . 3 7 W ü n s c h e n s wert wäre hingegen, daß sich endlich eine „integrativ-ganzheitliche Sichtweise v o m Menschen als einem Kultur- u n d

Naturwesen" 3 ® durchsetzte.

W i e schon bemerkt, bedeutet anthropologische Forschung interdisziplinäre Forschung. Dies erschwert alleine aus Zeitgründen den Zugang für alle, die auf einem bestimmten Gebiet kulturwissenschaftlich

arbeiten.

D o c h a u c h für die stärker an anthropologischen Fragen Interessierten ist es problematisch, w e n n sie keine Möglichkeit zur Integration so unterschiedlicher Arbeitsgebiete wie etwa der Paläontologie, der Evolutionsbiologie, der H u m a n ö k o l o g i e , der Psychologie, Soziologie und zahlreicher weiterer mit d e m M e n s c h e n befaßten Wissenschaften finden. W e r sich mit m e n s c h lichem

Handeln

beschäftigt,

gewinnt

aber

meines

Erachtens

in

der

H u m a n e t h o l o g i e eine vorteilhafte Basis: D a n k ihrer komplexen E n t w i c k -

37

38

Die Aufrechterhaltung der Dichotomie vertritt R. Gehlen, Welt (1995), 23 ff., bes. 40 ff. Eine ethologische Terminologie „hinterläßt" in ihm „den Eindruck, als solle der Mensch eben damit wieder auf die subhumane Stufe gedrückt werden" (43, Anm. 34). Er hält lieber an der „Sonderstellung des Menschen" fest (61). Wissenschaftlich gesehen, ist der Mensch jedoch nicht das „ganz andere" gegenüber „dem" Tier, sondern eben ein spezifisches zoon oder animal, dessen Eigenart mit nur einem Beiwort nicht zu fassen ist. Es bedarf schon eines ganzen Merkmalsbündels, um ihn von anderen Primaten zu unterscheiden. So ist beispielsweise die Annahme von Berger/Luckmann, D. gesellschaftliche Konstruktion (1966), 54, die Bestimmung des Menschen als „homo socius" sei geeignet, ihn vom Tier zu unterscheiden, mit dem er nur das „Sein auf animalischem Niveau" gemeinsam habe, das übrigbleibe, wenn man die Gesellschaft subtrahiere, nicht zutreffend. Es gibt auch andere soziale Tiere, siehe dazu schon W. Köhler, Psychologie (1921), 10 ff. (über Schimpansen) und neuerdings Dunbar, Primate Social Systems (1988). Vgl. Kummer, Social Knowledge (1982). Somit ist der Mensch gerade a u f g r u n d seiner biologischen Konstitution ein animal sociale - dazu Count, E. biologische Entwicklungsgeschichte (1958/59), 135; ähnlich schon Bilz, Lebensgesetze (1943), 76; vgl. auch Lorenz, Kumpan (1935), 281. Einschlägig jetzt de Waal, D. gute Affe (1996 /1997). Sager, Verbales Verhalten (1995), 1. Vgl. Burkert, Creation (1996), X : „The study of nature and human self-knowledge should no longer be separated . . . And if religion constitutes an integral part of the human world embedded in nature, understanding religion should be part of the same theoretical effort, in a framework of natural (biological) anthropology." Vgl. auch Ehalt, Zum Spannungsfeld (1985).

12

Einleitung

lung in den vergangenen Jahrzehnten eignet sie sich als Mittlerin zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, weil sie Anschlußmöglichkeiten nach vielen verschiedenen Seiten hin bietet. 39 Sie erlaubt - auf die spezielle vorliegende Fragestellung bezogen - nicht nur, die Entstehung wiederholbarer Handlungsmuster zu erklären und diese auch inhaltlich abzuleiten (dazu unten, Kapitel I 3), sondern sie verfügt auch mit dem Begriff der Ritualisierung über ein Instrument, mit dem wir die Entstehung und Entwicklung kommunikativen Verhaltens über die künstliche Grenze Natur / Kultur hinweg analysieren können. Den Grund dazu legte Julian Huxley mit einer im Jahre 1914 veröffentlichten Untersuchung über das Balzverhalten des Haubentauchers.4® Er hat in dieser Abhandlung den Begriff „Ritual" bis dahin reserviert für menschliche Verhaltensmuster, dazu verwendet, um das auffällige Paarungsvorspiel von Wasservögeln zu benennen. Mit Burkhard Gladigows Worten: „Die Geschichte der modernen Ethologie, der Verhaltensforschung, beginnt erstaunlicherweise mit der Übernahme eines religiösen Begriffs, eines Terminus der sakralen Sprache, in die Biologie." 41 Allerdings ging diese Übertragung nicht im Verhältnis 1 : 1 vonstatten. Huxley hat gerade die religiöse Dimension, die dem Ritualbegriff üblicherweise (aber nicht notwendig 42 ) eignet, unberücksichtigt gelassen und sich auf „Äußerlichkeiten" beschränkt. Denn zunächst war ihm am Verhalten der Wasservögel aufgefallen, daß es stark schematisiert ist, daß auch die Reaktionen des jeweils „angesprochenen" Interaktionspartners einem bestimmten Muster folgen. Unübersehbar ist beim Balzen der Haubentaucher, was Biologen das „Display" zu nennen pflegen, umgangssprachlich: der Show-Effekt. Jede Geste, jede Lautäußerung wird sehr betont ausgeführt — sie soll dem Gegenüber die eigene Stimmung mitteilen und ihn zum Mitmachen „überreden". Genau diese Ausdrucksseite der Verhaltensschema-

39

Eine Darstellung des ethologischen Ansatzes und seiner Beziehung zu Nachbardisziplinen,

jeweils

mit forschungsgeschichtlicher

Einordnung,

bietet

Hinde,

E t h o l o g y (1982). Vgl. dens., Individuais (1987). - Ein beachtenswerter Brückenschlag von sozialanthropologischer Seite: Callan, Ethology (1970). 40

T h e C o u r t s h i p Habits of the Great Crested G r e b e (Podiceps cristatus); with an addition to the T h e o r y of Sexual Selection.

41

Religion im Rahmen der theoretischen Biologie (1983), 98.

42

Leach, Ritual, (1968), 5 2 0 f. hat darauf hingewiesen, daß dem O x f o r d English Dict i o n a r y zufolge seit dem 14. Jh. zwei Tendenzen parallel laufen: 1. rite - c e r e m o n y - custom werden als austauschbare Begriffe behandelt; 2. die Begriffe werden u n terschieden; dann wird „rite" dem Bereich der Religion zugeordnet.

13

Einleitung

tismen war aber für Huxley das eigentlich Interessante. „Ritual" nannte er das theatralische Hin und Her gerade deswegen, weil er den selbstzweckhaften, kommunikativen Aspekt des Verhaltens bezeichnen wollte. 4 3 Worauf es ihm dabei ankam, war die Erkenntnis, daß sich solche Interaktionsrituale aus ursprünglich zweckgerichteten Verhaltensweisen schrittweise entwickeln können. Mit dieser genetischen Fragestellung legte Huxley zugleich den Grundstein für eine Theorie der „Ritualisierung" 44 — so der spätere biologische Fachausdruck für die Entstehung von nicht unmittelbar zweckgerichtetem kommunikativem Verhalten. Der Ritualbegriff hat dabei in der Tat seine ausschließliche Zuordnung zum Ressort „Religion" verloren. Gerade das aber ermöglicht es uns nun, Ritualverhalten ohne künstliche Schranken zwischen religiösen Riten, profanen menschlichen Interaktionsritualen und den Interaktionsritualen nichtmenschlicher Lebewesen zu untersuchen. 45 Nicht nur für das Verständnis religiösen Verhaltens gibt es hier viel zu gewinnen. Daß auch die interdisziplinäre Kommunikation durch die Ritualisierungstheorie sehr gefördert wird, zeigte die Mitte der sechziger Jahre von Huxley veranstaltete „Discussion on Ritualization of Behaviour in Animals and M a n " 4 6 die das Thema auch einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt machte. Wenige Jahre später — d. h. vor nunmehr über zwanzig Jahren — hat Walter Burkert in seiner vielbeachteten Abhandlung „ H o m o Necans" die ethologische Theorie der Ritualisierung für seine „Interpretationen altgrie-

43

S i e h e bes. H u x l e y , C o u r t s h i p ' H a b i t s (1914), 506 f.

44

Auch für Nicht-Biologen eine gute Einführung: Eibl-Eibesfeldt, Ritual (1979).

45

A n d e r e Kulturwissenschaften, die kein spezielles Interesse an Religion haben, halten die G r e n z z i e h u n g zwischen religiösen Riten und beispielsweise „Alltagsritual e n " für problematisch und gar nicht wünschenswert; siehe z. B. - in der Tradition von G o f f m a n ,

Interaktionsrituale (1967 / 1 9 7 3 ) -

Knuf / S c h m i t z ,

Ritualisierte

K o m m u n i k a t i o n (1980), 18 ff.: D i e von den beiden Autoren in S ü d a m e r i k a u. a. untersuchten Begrüßungsrituale enthalten häufig Formeln, die aus einem religiösen K o n t e x t stammen, was mehr oder weniger stark wahrgenommen oder intendiert sein kann (vgl. unser „ G r ü ß G o t t " oder „ A d i e u " ) . Ein ähnliches Problem ergibt sich für den Brauch-Begriff der Volkskunde. Werlen, Ritual (1984), 59 hat darauf hingewiesen, daß er dem amerikanisch-ethnologischen

(„anthropologischen")

Ritualbegriff entspricht. 46

Sie fand v o m 10. bis 12. Juni 1965 in L o n d o n statt; die Beiträge wurden 1966 in den Philosophical Transactions of the Royal Society of L o n d o n von ihm herausgegeben.

14

Einleitung

chischer Opferriten und Mythen" nutzbar gemacht.4^ Trotz der Anerkennung, die das Werk und sein Autor fanden, wurde jedoch dieser Ansatz sowohl in der Altertumskunde als auch in der Religionswissenschaft kaum aufgegriffen. 48 Dies hat sicherlich nicht zuletzt arbeitsökonomische Gründe: Es ist eben sehr zeitraubend, sich die moderne biologische Theorie selbst anzueignen, und zwar so gründlich, daß man sie produktiv in der eigenen Forschung anwenden kann. Weil die Verständigung zwischen den „zwei Kulturen" der Wissenschaft nach wie vor nicht gut funktioniert, sei mir gestattet, die ethologische Ritualisierungstheorie unten noch einmal etwas ausführlicher vorzustellen. Mit der vorliegenden Arbeit ist beabsichtigt, unter dem Gesichtspunkt „Wiederholung" religiöse Verhaltensmuster konsequent von einer ethologischen Theorie her zu erklären und die so erarbeiteten Grundbegriffe dann in einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung anzuwenden. Die ethologische Fundierung soll zu einem besseren Verständnis der römischen Lustrationsriten verhelfen; die Tauglichkeit dieses Instrumentariums wird dann umgekehrt im Rahmen konkreter historischer Forschung überprüft werden. Zu einer allgemeinen Religionsanthropologie auf ethologischer Basis 4 ' könnte so ein bescheidener Beitrag geleistet werden. Bisher bedienen sich bis auf wenige Ausnahmen Religionswissenschaftler der ethologischen Methoden nur zaghaft. 50 Den Ethologen feh47

1972 als Band 32 der Reihe R G W erschienen. Z u m Begriff „Ritualisierung" siehe dort 3 1 - 3 8 ; vgl. dens., Griechische Religion (1977), 99 f.; Structure (1979), 36 f.; M y t h o s (1981), 93.

48

Siehe j e d o c h unten, A n m . 50.

49

N i c h t zu verwechseln mit dem existentialistischen K o n z e p t der „ a n t h r o p o l o g i e re-

50

E s handelt sich, soweit ich sehe, überwiegend um Arbeiten auf dem G e b i e t der

ligieuse" bei Meslin, Pour une Science . . . (1973), 256 ff. A n t i k e . D i e prominenteste darunter (wie erwähnt) dürfte sein: Burkert,

Homo

N e c a n s (1972); siehe auch dens., Structure (1979), 14 ff.; O p f e r t y p e n (1976 - davon offensichtlich abhängig: Bystrina, Codewandel [ 1 9 8 0 / 1 9 8 9 ] , 127 ff.; der H i n w e i s auf Burkert dürfte nicht fehlen, auch wenn es sich um die immerhin überarbeitete F a s s u n g eines anmerkungslosen Vortragstexts handelt!) sowie Vergeltung (1994). D i e bisher umfassendste biologische Religionstheorie liegt nun vor mit Burkert, C r e a t i o n of the Sacred (1996). - Weitere wichtige religionswissenschaftliche U n tersuchungen von einer ethologischen Basis aus (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): G l a d i g o w , K o n k r e t e A n g s t (1979), H o m o publice necans (1986); G . Baudy, Exkommunikation

(1980),

Hierarchie (1983), Baum (1990), O r i e n t i e r u n g

(im

D r u c k ) , Religion (1997). - Fehlings „Ethologische Überlegungen auf dem G e b i e t der A l t e r t u m s k u n d e " (1974) sind zwar sehr erhellend, doch begibt er sich 12 ff. in

Einleitung

15

len weitgehend die erforderlichen historischen Kenntnisse. 51 Die Arbeiten von Rudolf Bilz 5 2 bieten zwar faszinierende Einzelerklärungen, aber keine umfassende Theorie. Allster Hardy, der in seinem Buch „The Biology of God — A scientist's study of man the religious animal" 5 3 einen Gesamtentwurf vorlegt, kompensiert mißlicherweise seinen Mangel an religionswissenschaftlicher Materialkenntnis durch den Rekurs auf Parapsychologie. Uberschätzt wird allgemein der Beitrag, den die Soziobiologie zur Erklärung menschlichen Verhaltens leistet. 54 Sie kann stets nur notwendige, nie aber hinreichende Gründe für das Vorhandensein bestimmter kultureller Formen angeben, da ihr Arbeitsfeld, kantisch gesprochen, die Bedingungen der Möglichkeit von Kultur betrifft: Es ging ursprünglich um den Nachweis, daß auch das Vorkommen von altruistischem Verhalten nicht im Widerspruch zur Mutations-Selektions-Theorie steht. Dabei war die Frage zu lösen, wie - insbesondere in Insektengesellschaften - Altruismus vererbt werden kann, wenn er zum Fortpflanzungsverzicht führt. Entsprechend wird die Funktion von Religion vor allem in der Institutionalisie-

eine unnötige Frontstellung zur Religionswissenschaft, die S. 13 im Z u s a m m e n hang mit der R o t f ä r b u n g des Priap in der Äußerung gipfelt: „Weitere Versuche einer symbolischen o. ä. Erklärung sind demnach nicht statthaft. D i e eigentlich kausale Begründung ist allein Sache der Z o o l o g e n . " - E s wäre b e s t i m m t lohnend, sich ü b e r die verschiedenen Bestrebungen, die hier nicht vollzählig angeführt sind, einen genaueren U b e r b l i c k zu verschaffen und zu prüfen, inwieweit sie sich integrieren lassen. Einzubeziehen wären auf jeden Fall die grundsätzlichen Ü b e r l e gungen bei G l a d i g o w , Religion im Rahmen der theoretischen Biologie (1983). 51

D e r Primatologe Volker S o m m e r n i m m t in seinem prächtig ausgestatteten G E O B a n d „ F e s t e , M y t h e n , Rituale" ( H a m b u r g 1992) leider nur punktuell ( z u m Augenmotiv 46 f. und z u m Lächeln 174 ff.) auf die Ethologie Bezug. Seine A n t w o r t auf die F r a g e , „Warum die Völker feiern" (so der Untertitel), bewegt sich daher in konventionellen Gleisen.

52

Ein Beispiel: D i e Ableitung des Nachtgespensts aus der Nachtfeindangst, Trinkerp s y c h o s e n (1971), 196 ff. Unter den zahlreichen weiteren wichtigen Beiträgen seien genannt: Pars p r o toto (1940); Faszination (1958); D i e unbewältigte Vergangenheit (1967); Wie frei . . . (1971 / 1973); Studien (1971 /1974).

53

(1975 ); deutsche U b e r s e t z u n g unter dem Titel „ D e r Mensch - das betende Tier. Religiosität als F a k t o r der E v o l u t i o n " (1979).

54

D i e grundlegenden Erkenntnisse, sowohl die Evolutionstheorie als auch das S o z i alverhalten betreffend, stammen alle bereits von D a r w i n selbst. „ Z u r Bedeutung der S o z i o b i o l o g i e für die A n t h r o p o l o g i e " siehe Winkler, „We are just m o d e l l i n g " (1985). E i n e kenntnisreiche D i s k u s s i o n von religionswissenschaftlicher Seite bei Burkert, Creation (1996), 8 ff.

16

Einleitung

rung moralischer Werte gesehen. 55 „Wie beeinflußt die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe oder ein religiöser Glaube", so lautet dann die nächste Frage, „die Uberlebenschancen des Individuums und seinen Reproduktionserfolg?"^ Die Erklärungsebene der Ethologie ist eine andere: Hier geht es um die konkrete Ableitung von Verhaltensformen. Beide Teildisziplinen der Biologie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander.^ Dies zeigt auch Walter Burkerts neue Abhandlung über „The Creation of the Sacred": Er fragt zunächst danach, ob und inwiefern die Soziobiologie ein theoretisches Modell liefert, das die Entstehung von Religion in der Geschichte der Menschheit zu erklären vermag. Wenn es dann aber darum geht, bestimmte religiöse Verhaltensmuster abzuleiten, erweist sich die Ethologie, die deren stammesgeschichtliche Entwicklung untersucht, als die eigentlich fruchtbare Methode. 5 8 Burkerts Untersuchung bietet daher die erste komplexe biologische Religionstheorie. Mir ist durchaus bewußt, daß ein ethologisch-anthropologischer Ansatz von vielen Kulturwissenschaftlern mit großen Vorbehalten aufgenommen wird. Impliziert das Interesse an einer „Religionsanthropologie" die Annahme, der Mensch sei von Natur aus religiös — homo naturaliter religiosus?59 Oder, wie Günter Kehrer pointiert fragte, folgt daraus, daß ein

55

56 57 58

59

Wilson, Sociobiology (1975), 561. - Er folgt 560 ff. einem obsoleten evolutionistischen Schema. Obwohl der Evolutionismus in den Kulturwissenschaften gerade unter dem Eindruck der Darwinschen Evolutionstheorie seinen Aufschwung nahm, ist er weder mit dieser zu verwechseln noch notwendig mit ihr verbunden! Instruktiv dazu Schlatter, Evolutionismus (1990). Ich teile daher auch nicht das von Antes, Religiöse Deutungssysteme (1988), 159 f. vertretene Modell eines quasi zwangsläufigen Siegs der Ethik der Hochreligionen über den Kannibalismus. Klingen im Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, dem er nachtrauert (158), nicht Missionseifer und kolonialistische Ideologie mit? Reynolds / Tanner, Biology (1983), 2. Weshalb ich hoffe, daß Wilsons Drohung (Sociobiology [1975], 6), die Ethologie von der Soziobiologie aus kannibalisch zu verschlingen, nicht wahr wird! Erschienen 1996. Vgl. meine Besprechung in den Grazer Beiträgen (im Druck). „Die Fragestellung der Soziobiologie im Bereich alter Religionen" hat Burkert in Fitness (1997) noch einmal aufgegriffen. Ein rezentes Beispiel: Daß homo sapiens auch homo religiosus sei, vertritt Ries, Rites (1986), 35. Er steht in der Tradition Eliades. - Zur Verwendung als „Grundbegriff religiöser Anthropologie" siehe Lang, Homo religiosus (1993), 166 ff. Vgl. auch die - in ihrem jeweiligen Ansatz sehr unterschiedlichen - Beiträge des 1997 von Fritz Stolz herausgegebenen Sammelbands Homo naturaliter religiosus.

17

Einleitung

nicht religiöser Mensch kein richtiger Mensch ist? 6 0 Beide Male ist mit Nein zu antworten. Eine anthropologische Erforschung der Religion (trotz aller Bedenken: Es gibt „die" Religion, 61 genauso wie es „die" Sprache oder „die" Kultur gibt!) kann nur bedeuten, die Grundlagen aufzuzeigen, die dazu geführt haben, daß sich in allen bekannten Kulturen Religionen entwickelt haben, 6 2 und typische Muster zu erklären, denen religiöse Verhaltensweisen und Vorstellungen folgen. In diesen Horizont stelle ich also meine Arbeit, wenn ich in die Kulturwissenschaft Erklärungsmodelle hineintrage, die innerhalb der Humanethologie entwickelt wurden. Wer einen solchen Ansatz grundsätzlich ablehnt, sollte zweierlei unterscheiden können: Natürlich zwingt uns nichts dazu, uns für die ethologische Grundlegung eines Gegenstandsbereichs, dem wir uns momentan zuwenden, überhaupt zu interessieren. Es ist selbstverständlich legitim, eine Perspektive zu wählen, die jenen Aspekt völlig ausblendet oder zumindest irrelevant erscheinen läßt. 6 ·' Hingegen ist es nicht richtig, deswegen generell zu leugnen, daß wir wie andere Lebewesen unsere Entstehung der Stammesgeschichte verdanken und daß es Grundmuster unseres Handelns gibt, Verhaltensdispositionen, die Resultate eben dieser Geschichte sind. 6 4 Ich will, was ich meine, an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn jemand den Gesang der Wale studiert und dabei seine ganze Aufmerksamkeit auf Melodie und Rhythmus der Lautäußerungen legt, muß er, um eine Partitur schreiben zu können, nicht dauernd vor Augen haben, daß der Wal ein Säugetier ist. Wenn er den Gesang unter einer anderen Perspektive untersucht, kann das allerdings rele-

60

In seinem brillanten Rundfunkbeitrag für das Funkkolleg „ D e r M e n s c h " (1993).

61

D e r verbreitete Warnhinweis, „ d i e " Religion existiere nicht als Realität, es gebe nur Religionen, u. a. bei Brelich, Introduzione (1962 / 1 9 6 6 ) , 3 ff. D i e s e s Schicksal teilt „ d i e Religion" freilich mit allen Begriffen. D a z u klare Worte bei Seiwert, O r t h o d o x i e (1995), 154 f.

62

R a p p a p o r t , T h e Sacred (1971), 23 vertritt die T h e s e , Religion habe eine entscheid e n d e Rolle in der Menschheitsentwicklung gespielt. Erwägungen zu einer s o z i o biologiscchen

Erklärung der „Erfolgsgeschichte" der Religionen

bei

Burkert,

C r e a t i o n (1996), 8 ff. 63

Vorbehalte äußert beispielsweise der Volkskundler Iwar Werlen in seiner A r b e i t über „Ritual und S p r a c h e " (1984), 72 f.: „Wir werden den ethologischen Ritualisierungsbegriff im folgenden nur sparsam verwenden, da er für eine Beschreibung menschlicher, kulturell bestimmter Riten wenig herzugeben scheint." Ich hoffe, dies mit der vorliegenden Untersuchung widerlegen zu können.

64

Vgl. Kaspar, Methodologische Überlegungen (1985).

18

Einleitung

vant werden. In jedem Fall aber würden auch wir Lalen es nicht akzeptieren, daß jemand behauptet, ein Wal sei ein Fisch — oder auch nur, es sei gleichgültig, wofür man ihn halte. In diesem Sinne brauchen wir uns nur dann für die ethologische Theorie überhaupt zu interessieren, wenn wir elementare menschliche Verhaltensmuster ableiten wollen. Die Existenz stammesgeschichtlich erworbener Verhaltensdispositionen beim Menschen läßt sich jedoch angesichts vieler Jahrzehnte solider wissenschaftlicher Arbeit schwerlich abstreiten.

I. Ritual und Wiederholung Vorarbeiten zu einer ethologischen Religionstheorie

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie Religiöses Verhalten1 ist auf den verschiedensten Ebenen durch Iterationen geprägt: Gesten, Worte, Gebete werden wiederholt; rituelle Muster, ζ. B. der Begrüßung oder des Bittens, kehren in verschiedenen Zusammenhängen wieder, oft auch mehrfach innerhalb einer Zeremonie. Es handelt sich bei all diesen Formen — die Zahl der Beispiele ließe sich vermehren — um Bausteine rituellen Handelns, wie wir sie in allen Kulturen vorfinden. Dazu gehören auch typische Verlaufsformen wie Prozession, Opfer, Heischeszenen usw.2 Diese sind bereits aus einzelnen Elementen zusammengesetzt, bilden aber ihrerseits Versatzstücke innerhalb komplexer Ritualhandlungen. In jeweils kulturspezifischen Ausformungen stehen sie als Verhaltensmuster zur Verfügung und können bei Bedarf repetiert werden. Auch die elaboriertesten rituellen Sequenzen sind in ihrer Gesamtstruktur wiederholbare Handlungen. Daß Iterationen möglich und unter bestimmten Bedingungen sogar vorgeschrieben sind, gilt daher als definitorisches Merkmal von Ritualen schlechthin.''

1

O b w i r von H a n d e l n oder von Verhalten sprechen, ist eine Frage des b e o b a c h tenden Standpunkts und des jeweiligen Interpretationsmodells; darauf hat Sager, Verbales Verhalten (1995), 2 ff. hingewiesen. Keinesfalls sind die beiden Begriffe z u r U n t e r s c h e i d u n g von Mensch und T i e r einzusetzen: ebd.!

2

In der Volkskunde werden solche Handlungsbausteine als „Brauchformen" klassifiziert:

Vgl.

beispielsweise Dünninger,

Brauchtum (1957 / 1 9 6 2 ) ,

bes. 2 5 9 6

u.

2601. 3

Eliade, Religionen ( 1 9 5 4 / 1976), 442 ff.; D. Heilige (1957), 4 0 ; van der L e e u w , P h ä n o m e n o l o g i e ( 1 9 5 6 / 3 1 9 7 0 ) , 3 8 6 ; Cazeneuve, Principe ( 1 9 5 7 ) , 4 2 f., 6 0 ff. (vgl. dens., Rites [1958], 2 f.) haben dem Begriff „ W i e d e r h o l u n g " große Bedeutung beigemessen, o h n e ihn allerdings systematisch einzuordnen. Vgl. auch Z u r psychologischen

Bedeutung (1950),

87;

Laurich,

D.

Neumann,

sozialpsychologische

U m f e l d ( 1 9 7 0 ) , 2 3 und die von Spiegel, Erinnern (1972) herausgegebenen A r b e i ten sowie Vidal, Rite (1984).

22

I. Ritual und Wiederholung

Trotz mancher Abgrenzungsschwierigkeiten im einzelnen 4 liegt den meisten Ritualdefinitionen ein gemeinsames Vorverständnis zugrunde, das wir in der Ethnologie und Theologie ebenso wiederfinden wie in der Religionswissenschaft. Darauf beruhen auch Julian Huxleys Übertragung des Ritualbegriffs auf tierisches Verhalten und alle späteren biologischen Untersuchungen über den Vorgang der Ritualisierung. Demnach läßt sich ein Ritus^ als wiederholbarer Handlungsablauf definieren, der einer strukturierten und festgelegten Form folgt und für die jeweiligen Interaktionspartner verbindlich ist. 6 Dies gilt sowohl für den profanen Brauch 7 als auch für die religiöse Zeremonie,® denn beide weisen dieselben Strukturmerkmale und weitgehend dieselben Funktionen auf. Jeder Ritus läßt sich als kommunikativer Akt verstehen. 9 Religiöse Riten sind typischerweise nach zwei Seiten hin adressiert: Die Kultteilnehmer kommunizieren untereinander, richten sich zugleich aber — nach ihrem eigenen Selbstverständnis — an nichtmenschliche Interaktionspartner, insbesondere an Götter. 4

5

6

Vgl. Goody, Religion (1961). Eine knappe Ubersicht über verschiedene Ansätze bei Leach, Ritual (1968). Siehe auch Zuesse, Ritual (1987). Dezidierte und wenig überzeugende Definitionsverweigerung bei Bell, Ritual Theory (1992), 218 ff. Die Unterscheidung von „Ritus" („einzelne, möglicherweise angeborene Schemata") und „Ritual" („umfassende[n] Komplexe, die jedenfalls kulturell vermittelt sind"), wie sie Burkert, H o m o necans (1972), 33 trifft, scheint mir weniger eine Differenzierung als eine Vorentscheidung im Rahmen eines letztlich humanistischen Horizonts zu sein. U m kulturellen Phänomenen nicht a priori eine Sonderstatus zuzuweisen, der ihre Untersuchung nur erschwert, werde ich mich im folgenden an den allgemeinen Sprachgebrauch halten und „Ritus" und „Ritual" synonym verwenden. Siehe etwa Portmann, Tier (1953 / 1978), 304 f.; Cazeneuve, Principe (1957), 42 und Rites (1958), 2 f.; Mühlmann, Ritus (1961), 1127 f.; Goody, Religion (1961), 159; Seydel, Spiel (1971), 508 ff.; Martin, Fest (1973), 68; Jetter, Symbol (1978), 92 ff.; Werlen, Ritual (1984), 43 u. 81.

7

Grundlegend: Goffman, Interaktionsrituale (1967 / 1973), 25 u. 52 f. - Zur Entsprechung von profanem und religiösem Ritualverhalten siehe oben, Einleitung mit Anm. 45.

8

Mowinckel, Kultus (1960), 120 f. definiert entsprechend, indem er die Beziehung zu Gott als weitere Komponente hinzunimmt. - Zu ritus in Abgrenzung von Kult vgl. Ganschinietz, Ritus (1914), 925 ff. Vgl. Leach, Ritual (1968), 524 („Ritual as social communication"). - Werlens Versuch (Ritual [1984], 374), religiöse gegen nichtreligiöse Riten abzugrenzen, erscheint mir völlig mißglückt: Er wählt als Unterscheidungsmerkmal die Expressivität, was nur möglich ist, weil er diese gleichsetzt mit dem „Bezug zu einem bestimmten Glaubens- oder Wissenssystem".

9

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

23

Die Normierung rituellen Handelns bezieht sich demnach zum einen auf die Art und Weise seiner Ausführung, zum andern auf seine Verwendung. Der Ritus muß korrekt durchgeführt werden, damit er als solcher identifizierbar bleibt und die erwartete Wirkung gewährleistet ist; zugleich ist das Verhaltensmuster jeweils bestimmten Situationen und Personen menschlichen wie göttlichen — zugeordnet.*0 Um dies an einem Beispiel anschaulich zu machen: Wir wissen sehr genau, unter welchen Bedingungen wir jemanden zu grüßen haben, und auf welche Weise die Ausführung des Grußes, der seiner Struktur nach immer gleich bleibt, modifiziert werden muß, je nachdem, ob wir es mit einem Freund, einem Vorgesetzten oder einem Gott zu tun haben. Wenn wir uns korrekt verhalten, dürfen wir auch erwarten, daß der Gruß erwidert wird. Was jeweils als richtiges Verhalten gilt, kann, als kirchliches oder weltliches Zeremoniell etwa, durch ausdrückliche Vorschriften geregelt sein; viel häufiger ist jedoch der Fall, daß ein kaum bewußtes Wissen um das, „was sich gehört", den Umgang mit anderen steuert. Am Beispiel des Grußes läßt sich studieren, wie genetisch verankerte Verhaltensdispositionen kulturell überformt werden. Bestimmte Elemente der Mimik und Gestik entstammen unserem angeborenen Repertoire; das Grüßen ist eine Konfliktvermeidungsstrategie aus dem Bereich des Rangordnungsverhaltens. Andererseits unterliegt nicht nur die Art und Weise, wie sich das Grüßen konkret zu vollziehen hat, bestimmten Traditionen, sondern auch die Bedingungen, unter denen das Verhaltensmuster zu wiederholen ist, sind kulturell determiniert.*1 Zugleich soll das gewählte Beispiel noch einmal verdeutlichen, daß rituelles Handeln innerhalb der Klasse der wiederholbaren Handlungen einen Sonderfall darstellt: Es handelt sich um kommunikatives Verhalten, das nicht unmittelbar zweckgerichtet ist. 12

10

D a ß gerade in polytheistischen Systemen, w o es in manchen Fällen eine - allerdings eingeschränkte - Wahlmöglichkeit in bezug auf mögliche Adressaten gibt, eine entsprechende „Kompetenz" im Umgang mit den G ö t t e r n erforderlich ist, hat G l a d i g o w , Χ Ρ Η Σ Θ Α Ι (1991) gezeigt.

11

Siehe Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 / 1972), 137 u. 194 ff.; dens., Biologie (1984 u. ö.), 172 ff., 611 ff., 6 3 7 ff.; Morris, Mensch (1977 / 1 9 7 8 ) , 77 ff.

12

Vgl. G o o d y , Religion (1961), 159 f. Anschaulich Leach, Ritual (1968), 521: H ä n deschütteln ist ein Ritus, Kartoffeln pflanzen üblicherweise nicht. Das schließt freilich nicht aus, daß unter bestimmten Bedingungen Kartoffeln rituell gepflanzt w e r d e n können (vgl. ebd. 523).

24

I. Ritual und Wiederholung

Im religiösen Selbstverständnis spielt Wiederholung unter einer ganz anderen Perspektive eine wichtige Rolle. Der Ritus bezieht nämlich seine Verbindlichkeit daraus, daß er als Imitation einer paradigmatischen mythischen Urhandlung ausgegeben wird. Die Fiktion göttlicher Stiftung stabilisiert die soziale Tradition komplexer ritueller Gefüge. Die Facetten des Wiederholungsverhaltens stoßen in der Forschung auf unterschiedliches Interesse - je nach Standpunkt des Betrachters. Manche Wissenschaftler haben sich gerade bei diesem Thema (insbesondere unter dem Stichwort „Ritualismus") zu Wertungen hinreißen lassen, in denen sich ihre persönliche Religiosität niederschlägt. Einige der wichtigsten Positionen, bei denen Wiederholung als religionswissenschaftliche Kategorie 13 eine Rolle spielte, seien im folgenden kurz angesprochen. Ein interessanter Versuch, der Kategorie „Wiederholung" eine theoretische Dimension abzugewinnen, liegt mit Lauri Honkos Arbeit „Zur Klassifikation der Riten" 14 vor. Er unterscheidet darin solche Riten, die regelmäßig (z. B. jährlich) wiederholt werden („kalendarische Riten"), von „Ubergangsriten", die nicht derselben Zyklizität unterworfen sind, z. B. dem Aufnahmeritus in die Gemeinschaft der Erwachsenen, der von einem Individuum nur ein einziges Mal erlebt wird. Einen dritten Typus bilden die „Krisenriten". Diese Unterscheidung ist zweifellos sachlich angemessen. Doch halte ich es nicht für richtig, sie mit der Klassifikation „wiederholbare" versus „nicht wiederholbare" Riten gleichzusetzen.1-' Wiederholbarkeit läßt sich nicht auf kalendarische Riten beschränken — sie ist konstituierendes Merkmal allen rituellen Verhaltens. Eine Initiationszeremonie mag vom Standpunkt des Individuums aus ein einmaliger Akt im Leben sein, jedoch nicht aus der Perspektive der Gruppe, in die jemand aufgenommen wird. Für diese ist es im Gegenteil wichtig, ein Handlungs-

13

D e r Begriff „Wiederholung" bezieht sich im Rahmen

kulturwissenschaftlicher

Forschung allgemein auf menschliche Handlungen sowie deren Resultate und Strukturelemente. Eine wichtige Rolle spielt W i e d e r h o l u n g außer f ü r die G r u n d f u n k t i o n e n des Lebens (Atmung, Bewegung, Nahrungsaufnahme, Schlaf, Sexualität usw.) v o r allem f ü r Arbeitspraktiken, Erkenntnis (z. B. wissenschaftliche Experimente), K o m m u n i k a t i o n , Sitte, Recht sowie die hier behandelten religiösen Riten. Zu den Resultaten v o n Wiederholungshandlungen gehören W e g e , Bauwerke,

Ornamente.

Auf der Wiederholung

einzelner Verhaltenselemente

bauen

Tanz, Musik und bestimmte sprachliche Ausdrucksformen auf. 14 15

Erschienen 1 9 7 5 ; siehe bes. 68 ff. Vgl. dens., Theories (1979), 3 6 9 ff. Vgl. den C o m m e n t a r y zu H o n k o , Theories (1979) von A n t h o n y Jackson, ebd. S. 417.

1. „ W i e d e r h o l u n g " als r e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t l i c h e Kategorie

25

muster zur Verfügung zu haben, das jedesmal wiederholt werden kann, wenn ein Neuling integriert werden soll. Selbst für Krisenriten, die zur Bewältigung überraschender, nicht vorhersehbarer Ereignisse eingesetzt werden, läßt sich zeigen, daß sie gerade deswegen „funktionieren", weil sie einem wiederholbaren Muster folgen. Ein simples Beispiel: das Stoßgebet. Wer es parat hat, verfügt damit selbst in Situationen des Erschreckens über eine hilfreiche Standardreaktion. Entsprechendes gilt für den rituellen Umgang mit erlegtem Wild: Der Handlungsbedarf entsteht zwar zu einem nicht kalkulierbaren Zeitpunkt, aber immer wieder auf vergleichbare Weise. Neben der Wiederholbarkeit des Ritus als solcher sind immer wieder die formalen Aspekte religiösen Verhaltens aufgefallen, also die oben bereits angesprochene Wiederholung innerhalb von Riten. Sie werden besonders von denjenigen Forschern ins Gesichtsfeld gehoben, die damit den „Ritualismus " einer bestimmten Kultur oder bestimmter sozialer Einheiten kennzeichnen wollen. „Formalismus"16 ist ein weitgehend synonymes Schlagwort; benannt werden soll in jedem Fall eine besondere Wertschätzung der Tradition oder ein ausgeprägt konservatives Verhalten. Indikator dafür ist die „Ritualpflege", also die Aufmerksamkeit, die der regelmäßigen und korrekten Wiederholung geschenkt wird, und die damit einhergehende ausgeprägte Normierung des Ritualverlaufs, wozu typischerweise die Wiederholung von Teilelementen als strukturbildendes Prinzip gehört. Die Fokussierung auf Individuelles führt zur Kategorie des „Wiederholungszwangs Wer hingegen soziale Einheiten ins Blickfeld rückt, pflegt mit der Kategorie „Ritualismus" die systemstabilisierende Funktion von Religion zu beschreiben.18 Die Fragestellung allerdings, ob eine bestimmte Kultur „ritualistischer" sei als eine andere - etwa die römische eher als die griechische — führt alleine aufgrund der Komplexität der Untersuchungsgegenstände schnell in unwegsames Gelände; die Antworten enthalten in der Regel mehr Werturteile als Wahrheiten. Ein einflußreiches Beispiel dafür bietet die Charakterisierung der römischen Religion in Kurt Lattes Handbuch der römischen Religionsgeschichte. 19

16

Vgl. auch Weber-Kellermann, D. Bedeutung des Formelhaften (1954).

17

Näheres s. u. S. 28 ff.

18

Ζ. B. Douglas, Ritual (1970 / 1974), passim. Zum Grundsätzlichen: Kehrer, Religi-

19

Siehe Latte, Römische Religionsgeschichte (1960 /1967), 61 ff., 107 u. 146 f.

onssoziologie (1988), 72 ff.

26

I. Ritual und Wiederholung

Daß es keine einzige Kultur ohne Riten gibt, hat schon Ruth Benedict betont. Sie lehnte deshalb die Klassifizierung von Kulturen als „ritualistisch" ab. 2 0 Gleichwohl hat das Ritual in verschiedenen Gesellschaften einen unterschiedlichen Stellenwert. Mary Douglas versuchte Kategorien zu gewinnen, mit denen sich die Bedingungen bestimmen lassen, unter denen eher „ritualistische" oder „ekstatische" Tendenzen gefördert werden. 2 ^ Einer ihrer wichtigsten Parameter ist dabei der „Gruppendruck", 22 eine Bezeichnung für den sozialen Druck, der einer bestimmten ökologischen Situation korrespondiert. Bestimmend dafür sind: Abgeschlossenheit des Lebensraumes (also die Verhinderung von Mobilität innerhalb der Gesellschaft oder von Abwanderung),2"* Beeinträchtigung des Revierverhaltens (d. h. der Möglichkeit, sich in eine nicht kontrollierte Privatsphäre zurückzuziehen), Begrenztheit der Ressourcen. Beim Übergang von jägerischer zu pflanzerischer Wirtschaftsweise nimmt der soziale Druck in der Regel z u , 2 4 weshalb sich in Agrargesellschaften reichlich ritualistische Merkmale finden lassen. Dennoch bleibt die schlichte Gleichung Bauerntum — Ritualismus ein Vorurteil. 25 Daß nämlich verschiedene Parameter eine Rolle spielen, wozu neben der Wirtschaftsweise auch die räumlichen Ausdehnungsmöglichkeiten gehören, läßt sich am Beispiel der Kwakiutl zeigen: 26 Diese sind zwar Jäger, aber auf ei-

20

Statt dessen schlägt sie - wenig glücklich - das Begriffspaar „apollinisch-dionysisch" vor: Benedict, Urformen (1934 / 1 9 5 5 ) , 64.

21

Vgl. Douglas, Ritual (1970 / 1974), 20, 40 ff., mit Beispielen besonders 105 ff., 133 ff.; zum Zusammenhang von Sozialstruktur und Weltauffassung 199 ff.; als Beispiel einer „streng vergesellschafteten Kultur" beschreibt Benedict, Urformen ( 1 9 3 4 / 1 9 5 5 ) , 50 ff. die Zuñi, als Gegenbeispiel die Prärieindianer (65 ff.).

22

In einer bestimmten Korrelation dazu: das „Klassifikationsgitter" - Douglas, Ritual (1970 / 1974), 86 f. Vgl. dazu Koenig, Kultur (1970), 43 zum Verhältnis von ökologischem Druck und Artenvielfalt.

23

Siehe Leyhausen,

Vergleichendes (1954), 124 u. dens., Soziale

Organisation

(1965), 155 zum Verhältnis von Rangordnung und Territorialität. Vgl. auch van Lawick-Goodall, Wilde Schimpansen (1971 / 1 9 7 5 ) , 103. Sie beschreibt Schimpansen, die in offenen Verbänden leben. Doch läßt sich am Grußverhalten ablesen, daß jedes Individuum seinen sozialen Status und den der anderen kennt. 24

Vgl. Douglas, Ritual ( 1 9 7 0 / 1974), 25 ff.; die Gleichung J ä g e r - I n n e r l i c h k e i t / Pflanzer - Magie läßt sich allerdings nicht aufstellen; schon bei Jägern finden sich, abhängig vom Gruppendruck, mehr oder weniger ritualistische Verhaltensformen.

25

Vgl. zur Kritik an diesem Klischee Köhle-Hezinger, Evangelisch (1976), 50 ff.

26

Vgl. Benedict, Urformen (1934 / 1 9 5 5 ) , 136 ff.

Katholisch

1. „ W i e d e r h o l u n g " als r e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t l i c h e Kategorie

27

nen engen Lebensraum beschränkt; die Strukturierung ihrer Kultur weist daher einen Kompromiß zwischen ritualistischen und antiritualistischen Tendenzen auf. Auch aus dem Umstand, daß in manchen Kulturen (ζ. B. bei nordamerikanischen Indianern) individuelle religiöse Erlebnisse eine wichtige Rolle spielen, läßt sich keine „Ritualfeindlichkeit" ableiten. Denn nicht nur Kollektivrituale sind gesellschaftlich normiert, selbst Trancezustände verlaufen meist traditionsgelenkt, sogar den impulsiven Ausdruck heftiger Emotionen stilisiert ein kulturell vorgezeichnetes Schema.^7 Zwar existiert hier eine Planstelle für Spontaneität und individuelle Abweichung, wie sie in „ritualistischen" Kulturen nicht im gleichen Ausmaß begegnet; jede Gesellschaft akzeptiert Individualität aber nur so weit, wie sie mit dem kulturellen Vorstellungs- und Normensystem vermittelbar ist, andernfalls ziehen Ausstoßungsmechanismen, die an Wirksamkeit dem angeborenen „Hackreflex" mancher Arten in nichts nachstehen, den Betreffenden als krank oder kriminell aus dem Verkehr.^ Daß der Versuch, eine Korrelation zwischen Wiederholungsgenauigkeit im Umgang mit Riten einerseits und Gesellschafts- oder Gruppenstruktur andererseits herzustellen, in hohem Maße das Risiko von Fehleinschätzungen birgt, läßt sich nicht vermeiden. Wir verlassen allerdings den Boden des wissenschaftlich „zulässigen" Irrtums, sobald wir uns Werturteile zu eigen machen. Diese liegen jeweils dann vor, wenn eine stärkere Tendenz zur Formalisierung innerhalb einer bestimmten Kultur oder Gruppe nicht nur beobachtet, sondern kritisiert wird. Gerardus van der Leeuw etwa verkündet feierlich: „Aller Kultus ist Wiederholung."^ 9 Wenige Seiten später warnt er jedoch vor der „Gefahr, daß durch die dem Kultus eigentümliche Wiederholung das Historisch-Konkrete und Einmalig-Gegebene des Heilandsopfers immer wieder in den selbstherrlichen Automatismus, den wir in Indien fanden, verwandelt würde." 30 Die Bei27 28

Vgl. Gladigow, Ekstase (1978), 33. Vgl. Mühlmann, Ritus (1961), 1128; O'Dea, Die fünf Dilemmas ( 1 9 6 0 / 1 9 7 0 ) , 233 f.; siehe auch G o f f m a n , Interaktionsrituale (1967 /1973), 52; ferner Erdheim, Prestige (1973), 114.

29

Phänomenologie (1956 / 1970), 386. Vgl. 427: „Maßgebend für alle Liturgie bleibt aber die Idee der Wiederholung."

30

Ebd. 405. - Vgl. Staal, Meaninglessness (1979), 3 f. Die zahlreichen W i e d e r h o l u n gen in indischen Riten waren Ausgangspunkt für seine Theorie der Bedeutungslosigkeit rituellen Verhaltens überhaupt. Welche Auswirkung hat der Überdruß eines erschöpften Feldforschers auf seine Theoriebildung?

28

I. Ritual und Wiederholung

spiele für solche Pauschalurteile ließen sich vermehren, insbesondere auch in bezug auf die römische Kultur. Versucht man allerdings dem vorgeblichen Ritualismus der Römer 31 weiter nachzugehen, bemerkt man bald, daß es sich eher um ein rezeptionshistorisch interessantes Klischee als um eine brauchbare Kategorie zur Beschreibung einer antiken Kultur handelt. 32 Die ablehnende Haltung gegenüber den Phänomenen des Wiederholungsverhaltens kann sogar so weit gehen, daß man sie willkürlich aus dem Bereich „Religion" ausklammert und stattdessen als „magisch" deklariert. 33 Dem liegt das Vorurteil zugrunde, „echte" Religiosität zeichne sich durch persönliches Erleben und individuelles Empfinden aus. 34 Rituelle Wiederholungen gelten daher als geistlos und sinnleer. Häufig werden auch (vermeintlich) formalistische Tendenzen als Verfallssymptom gewertet: Was ursprünglich als authentische Religion praktiziert worden sei, verliere mit der Zeit an Bedeutung; repetiert werde nur noch die inhaltsleere Hülle. Eine solche Kritik am Wiederholungsverhalten operiert - in der Regel allerdings ohne dies explizit zu machen - mit einer Dichotomie, die der psychologischen Unterscheidung von Gesundheit und krankhaftem Wiederholungszwang entspricht. Die versteinerte Form zwanghafter Wiederholung wird von Kritikern des Rituals gern als dessen Prototyp angesehen, ist aber in Wirklichkeit nur eine extreme Variante. Der Zwangsneurotiker reduziert rituelles Verhalten auf seinen stabilisierenden Aspekt, da ihm der 31

A l s spezifische „Merkmale der römischen Religiosität" werden üblicherweise ihre „ametaphysische Grundhaltung", ihre „Berufung zum .Realismus'" und „ihr tiefes Vertrauen in die Macht der Riten" angesehen. Die - m. E. symptomatischen - Zitate aus Eliade, Geschichte 2 (1978 / 1979), 104. Vgl. Muth, Einführung (1988), 218: „Das Fehlen einer bildhaften Gottesvorstellung und eines bedeutsamen G ö t t e r m y t h o s erzeugte ein V a k u u m , das durch intensive Kultpflege ausgefüllt wurde." D a ß dieser Sicht die O p p o s i t i o n Christentum / Heidentum zugrundeliegt, w i r d besonders deutlich bei dem vielzitierten Frankel, O v i d (1945), 9 0 f. D i e „aboriginal religion" sei zu O v i d s Zeit für den durchschnittlich gebildeten R ö m e r „stone dead" gewesen, die christliche leider noch nicht verfügbar. M e r k m a l e der „aboriginal religion": „Rural . . . superstitions, narrowminded, and rigidly formalistic . . . , tribal, clamish, and p a t r i a r c h a l . . . " (Zitate S. 91).

32

Vgl. Phillips, Sociology (1986), 2 6 9 7 ff., s. bes. A n m . 56!

33

Vgl. C a z e n e u v e , Principe (1957), 51.

34

Eine durch den Einfluß des Protestantismus geprägte Sicht; vgl. Lang,

Kult

(1993), 480. 35

Siehe etwa Lattes Kapitel über den „Verfall der altrömischen Religion", Römische Religionsgeschichte (1960 / 1 9 6 7 ) , 264 ff.

1. „ W i e d e r h o l u n g " als religionswissenschaftliche Kategorie

29

kommunikative Bezug, der allein die Chance zur Weiterentwicklung in sich birgt, mißlingt.·^ Alle kritischen Situationen - und eben auch solche, die ein „Gesunder" souverän meistert, lösen bei ihm Ambivalenzbewegungen aus, die im Prinzip endlos wiederholbar sind. Sigmund Freud hat diese psychische Krankheit eindringlich untersucht.·'7 In seiner berühmten Abhandlung über „Zwangshandlungen und Religionsübungen" verglich er religiöses Verhalten mit dem neurotischen Zeremoniell und bezeichnete „die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose".39 Noch weiter geht die von Freud abhängige psychoanalytische Religionsthorie Theodor Reiks.4® Er suchte nicht nur „die Bedeutsamkeit des Rituals als eine der wichtigsten Ausdrucksformen latenter, unbewußter Triebströmungen in der Religion" 41 zu erweisen, sondern auch „zu behaupten: die Glaubensvorstellungen entsprechen den Z w a n g s v o r s t e l l u n g e n , die D o g m e n den Z w a n g s i d e e n und jene Überlegungen, Begründungen, Konklusionen, welche die r a t i o n a l e T h e o l o g i e l i e f e r t , den D e l i r i e n der M e n s c h h e i t in i h r e r r e l i g i ö s e n E n t w i c k l u n g " (Hervorhebung von Reik). 4 2 Religion wird hier generell aus dem Zwangsverhalten abgeleitet. Freud hatte noch eine andere Seite des Wiederholungszwangs im Blick: seine prospektive Tendenz. Ein erlebtes „Trauma" kann u. U. durch die Wiederholung der Krise bewältigt werden. Sie wird so oft unter starker emotionaler Belastung reinszeniert, bis sich das Individuum in seiner neuen Lage zurechtfindet. 43 36

D i e Zwangsneurose entspricht also eher der „Wegdressur" als dem Ritual. E i n drucksvolle Fallbeispiele finden sich bei Laing, Ritualization ( 1 9 6 6 ) , 331 ff.

37

Siehe F r e u d , Zwangshandlungen (1907), C h a r a k t e r (1908 ), Bemerkungen ( 1 9 0 9 ), Analyse ( 1 9 0 9 ) ,

Totem

(1912/13),

Disposition (1913),

Mythologische

Parallele

(1916), Aus der Geschichte (1918), H e m m u n g (1926). 38

Zwangshandlungen (1907 / 1 9 7 3 ) , 15.

39

E b d . , 21.

40

Z u m Einfluß von „Zwangshandlungen und Religionsübungen" sowie von „ T o t e m und T a b u " auf Reik, D o g m a (1927 / 1973) siehe die Einführung der Herausgeber Spiegel und Scharfenberg, S. 11 ff. bzw. 6 ff.

41

E b d . 18.

42

E b d . 126.

43

Siehe F r e u d , E r i n n e r n (1914) und Jenseits . . . (1920). Vgl. C a z e n e u v e P r i n c i p e ( 1 9 5 7 ) , 48 ff.; Spiegel, Erinnern (1972), 14, 2 4 f.; Brearley, Play ( 1 9 6 6 ) , 3 2 4 ; mit hervorragendem Material Bilz, D. unbewältigte Vergangenheit (1967), 7 4 ff. und P a r s . . . ( 1 9 4 0 ) , 9 5 . Z u r Bedeutung von „ W i e d e r h o l u n g " im R a h m e n der p s y c h i -

30

I. Ritual und Wiederholung

Die Arbeit „Totem und Tabu", in der Freud seine Theorie der Wiederholung des Traumas entwickelte, war u. a. angeregt durch die Ethnologie der Jahrhundertwende: Baldwin Spencer und Francis J. Gillen hatten beschrieben, daß die Ureinwohner Australiens in ihren Riten die Taten mythischer Ahnen zu wiederholen glaubten. 44 In seiner Spekulation über die Entstehung der Religion schuf Freud den Mythos von der urzeitlichen Ermordung und kannibalischen Verspeisung des Vaters durch seine Söhne. „Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion." 45 Damit gelangen wir zu einem dritten Aspekt der „rituellen Wiederholung", der die Religionswissenschaft schon geraume Zeit, bevor Freud sich seiner annahm, beschäftigt hatte, nämlich der Beziehung zwischen einer Ritualhandlung und ihrem mythischen „Urbild". Dieser Aspekt ist nach der Auffassung von Alfonso M. di Nola (der wir uns hier allerdings nicht anschließen wollen) der einzige, der diese Bezeichnung wirklich verdient. 4 ^ Für das religionswissenschaftliche Interesse an der Wiederholung war zunächst die Bekanntschaft mit demselben ethnologischen Material prägend. 47 Deshalb spielte der Begriff der „Wiederholung" im Rahmen der Religionswissenschaft primär eine Rolle in bezug auf das Verhältnis von Ritus und Mythos, so in der Myth-Ritual-Debatte4*®. Besondere Aufmerksamkeit widmete ihm auch die Religionsphänomenologie, deren bedeu-

schen Reifung siehe Toman, Repetition (1956), Introduction (1960), M o t i v a t i o n (1968). Eine Diskussion verschiedener psychoanalytischer Ansätze und eine eigene W e i t e r f ü h r u n g bietet Reichard, Wiederholungszwang (1997). 44

S p e n c e r / G i l l e n , Natives (1899); Northern Tribes (1904). Ebenfalls einflußreich:

45

T o t e m (1912/13 / 1 9 7 4 ) , 4 2 6 .

v o n S t r e h l o w , Die A r a n d a - und Loritja-Stämme (1907/08). 46

M i t dem Begriff Ripetizione Rituale hat sich di Nola mehrfach befaßt: N o z i o n e (1964); Ripetizione mitico-rituale (1972); Ripetizione Rituale (1973); Ripetizione mitico-rituale (1974).

47 48

Vgl. dazu C a z e n e u v e , Principe (1957), 45 ff.; di Nola, Ripetizione (1974), 1 0 4 ff. Einzelheiten bei di Nola, Ripetizione (1974), 91 ff. (ähnlich ders., R i p e t i z i o n e Rituale [1973], 383 ff.). - Zur Myth-Ritual-Debatte siehe bes. K l u c k h o h n , M y t h s (1942) und Versnel, What's Sauce . . . (1990 / 1993), letzteres eine glänzende A u f arbeitung in bezug auf die griechische Religion der A n t i k e .

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

31

tendster Vertreter, Mircea Eliade 49 , umfangreiches Material für das Phänomen „rituelle Wiederholung" zusammenstellte und weitreichende Konsequenzen daraus zog. „Rituelle Wiederholung" bedeutet in dieser Hinsicht, nach der Definition di Ñolas, „eine spezielle Beziehung, die in manchen besonderen Fällen zwischen Ritus und Mythos oder aber zwischen Ritus und historischem Ereignis entsteht, eine Beziehung, aufgrund deren eine rituelle Handlung definierbar ist als Wiederholung, Erneuerung, Wiederherstellung eines prototypischen Modells, das in einer mythischen Erzählung definiert wird, oder auch als Gedächtnis, Erinnerung, gedenkende Wiederholung eines Geschehens, das als historisch gekennzeichnet ist oder als solches von der Gruppe wahrgenommen wird. Im Falle der Beziehung Mythos / Ritus haben wir eine Wiederholung des mythisch-rituellen Typs vorliegen, während wir es bei der Beziehung historisches Ereignis / Ritus mit einer Wiederholung des historisch-rituellen Typs zu tun haben. Was jeweils konkret unter ritueller Wiederholung verstanden wird, hängt dann freilich vor allem davon ab, wie man sich das Verhältnis von Ritus und Mythos vorstellt. Wer wie Eliade oder auch di Nola rituelles Handeln als Wiederholung einer mythischen Urhandlung thematisiert, hat die gleiche Blickrichtung wie die religiöse „Binnensicht". Dies ist zunächst legitim und fruchtbar, denn schließlich wollen wir diese ja auch verstehen. Problematisch allerdings wird es, wenn wir aus der Beobachtung eines Zusammenhangs zwischen Mythos und Ritus ableiten, das Ritual sei seinem Wesen nach die Wiederholung des urzeitlichen Archetypus. Das ist nämlich genau der Standpunkt, den der Mythos — aus der Perspektive der Kultteilnehmer - selbst vorgibt: Als „Aition" begründet er die Pflicht, eine bestimmte Sakralhandlung durchzuführen, mit einem urzeitlichen Prototyp, der das Handlungsmuster und den Imperativ zur Wiederholung enthält. Diese Urhandlung wird in der Regel in einer als mythisch definierten Urzeit angesiedelt. Was in jener Zeit, in ilio tempore, wie Eliade gesagt

49

Sein W e r k „Kosmos und Geschichte" (1984; zuerst erschienen unter dem Titel L e m y t h e de l'éternel retour. Archétypes et répétition, 1949) bleibt - t r o t z aller notwendigen Kritik -

die umfassendste und eindrucksvollste Arbeit über

rituelle

Wiederholung. - Vgl. ferner van der Leeuw, Phänomenologie (1956 / 3 1 9 7 0 ) , siehe bes. 386, 421, 4 2 7 , 446, 4 6 9 . - Eine Kritik dieser Ansätze und ein wichtiger Beitrag zum Verhältnis von aitiologischem Mythos und „wiederholendem" Ritus: Brelich, Figli (1959). 50

Di Nola, Ripetizione Rituale (1973), 383 (Übersetzung von mir).

32

I. Ritual und Wiederholung

hätte, 51 geschah, wird im Ritual vergegenwärtigt. Insofern Riten in einer „Festzeit" stattfinden, die aus dem Kontinuum der Alltagszeit herausgeschnitten ist, versetzten sich die feiernden Menschen dabei in jene Urzeit zurück; das wiederholte Ritual ist mit der mythischen Urhandlung symbolisch identisch. Dies in seinem facettenreichen Werk herausgearbeitet zu haben, gehört zu den bleibenden Verdiensten Eliades. Er hat auch erkannt, daß selbst dort, wo das einem Ritus zugrundegelegte Urereignis ein historisches ist, eine „Mythisierung" stattfindet: Es wird genauso behandelt wie ein mythisches. 5 ^ Das wohl bedeutendste Beispiel für die „ripetizione di tipo storico-rituale" bildet das Zentrum der christlichen Religion: Die „Eucharistie", die Feier des „Herrenmahls" gilt als Wiederholung des Abendmahls, das Jesus mit seinen Jüngern vor seiner Hinrichtung abhielt. 53 Ob man dieses Mahl für historisch hält oder nicht: was ihm in jedem Fall seine prägende Kraft verleiht, ist der durch die mythische Stilisierung produzierte symbolische Mehrwert. Dies allerdings entspricht gerade nicht der religiösen Selbstinterpretation, die historische Wahrheit gegen mythischen Schein ausspielt. Wohl gerade wegen der Schwierigkeit, bei der Interpretation religiöser Phänomene von der eigenen Religiosität abzusehen, verblieb so mancher Religionswissenschaftler bei der Bemühung um eine Klärung der „rituellen Wiederholung" in der skizzierten Binnensicht. Dies führte unweigerlich zu einer Verstrickung in Probleme, die eher Theologen angehen. Z. B. wurde die Frage diskutiert, ob der Ritus eine Erinnerung, Nachahmung oder echte Wiederholung des mythischen Geschehens darstelle. 54 Für die Theologie ist eine solche Fragestellung freilich wichtig und zulässig; sie spielte insbesondere eine Rolle bei fundamentaltheologischen Diskussio-

51

Siehe u. a. Religionen (1954 / 1976), 4 4 6 ; D. Heilige (1957); M y s t e r i u m (1958 /

52

K o s m o s (1949 /1984), 51 ff., siehe bes. 57.

1961), 14 ff. 53

Paulus, 1 K o r i n t h e r 2 3 - 2 5 : „Denn ich habe v o m Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert w u r d e , Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib f ü r euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. T u t dies, soo f t ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis!" (Die Heilige Schrift, Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980). Vgl. Lukas 22, 1 9 - 2 0 . - Vgl. dazu R o l o f f , A n a m n e s e (1972).

54

Z. B. Eliade, K o s m o s ( 1 9 4 9 / 1 9 8 4 ) , 41 ff.; Religionen ( 1 9 5 4 / 1 9 7 6 ) , 4 4 5 ff.; D. Heilige (1957), 63 ff.; Cazeneuve, Principe (1957), 53 ff.

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

33

nen über das Abendmahl. Damit verbunden waren auch praktische Erwägungen zu einer Liturgiereform, die eine Neubewertung des Ritus in der genuin eher ritenfeindlichen protestantischen Kirche forderten und daher auch die Rolle von Wiederholungen innerhalb des Rituals erörterten. 55 Wer die Frage nach dem Verhältnis von Ritus und „Urgeschehen" jedoch auf diese Weise stellt, impliziert eine Glaubensaussage über die Wahrheit des Mythos. Somit handelt es sich nicht um eine religionswissenschaftliche Fragestellung. Sie ist deshalb hier auszuklammern. Inwieweit Eliade selbst, wenn er Riten als Wiederholungen mythischer, in ilio tempore angesiedelter Urhandlungen („Archetypen" 56 ) darstellte, sich einer metaphorischen Sprache bediente oder religiöse Vorstellungen damit verband, hat dennoch für uns kein großes Gewicht. Wichtig ist, daß wir seine Aussagen auf der metaphorischen Ebene lesen können und dadurch zu wertvollen Einsichten geführt werden; seine persönliche Form der Religiosität betrifft uns als Religionswissenschaftler (zumindest in diesem Zusammenhang) nicht. Anders verhält es sich mit seiner Interpretation der rituellen Wiederholung als Vernichtung von Zeit. 57 Dies können wir nicht unwidersprochen stehen lassen. Zwar ist Eliades eigene „Sehnsucht nach dem Ursprung", 58 die ihn zu dieser Auffassung geführt haben mag, nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, wann er sein Werk

55 56

57 58

Vgl. die Aufsätze bei Spiegel (Hg.), Erinnern (1972). Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von „Le mythe de l'éternel retour" stellt Eliade klar, daß er „nicht die Archetypen meinte, wie sie von C. G. Jung beschrieben wurden. . . . W i e schon erwähnt, verwende ich den Begriff .Archetypen' - genau wie Eugenio d ' O r s es tut - als S y n o n y m für .beispielhaftes V o r b i l d ' und .Paradigma', das heißt also letztlich im Augustinischen Sinn." (Kosmos [1949 /1984], 11 f.) Ein in vielen Facetten ausgeführter Grundgedanke seines W e r k s „Kosmos und Geschichte" (1949 /1984). U n t e r diesem Titel (im Original: The Quest) erschien 1976 (bzw. 1969) eine U n tersuchung Eliades über religiöse und religionswissenschaftliche Strömungen der Gegenwart. Seine Äußerung über „Die Mode des Messianismus" läßt sich auch auf ihn selbst anwenden: „Das Interesse an den Ursprüngen der heutigen westlichen W e l t . . . verrät das unter den Intellektuellen dieses Kontinents vorhandene Verlangen, sich zurückzuwenden und ihre Urgeschichte zu finden, ihre Uranfänge. Dieses Verlangen, zu den eigenen Anfängen zurückzukehren, eine urzeitliche Situation wiederzuerreichen, zeigt auch die Sehnsucht an, neu zu beginnen, die Sehnsucht nach dem irdischen Paradies" (127).

34

I. Ritual und Wiederholung

geschrieben hat. 5 9 Der „Schrecken der Geschichte" 6 0 war ihm Ende der vierziger Jahre noch gegenwärtig. Und doch ist er damit, wie ich meine, einer gravierenden Fehleinschätzung erlegen, die sich vor allem in der mit dieser Konzeption zusammenhängenden Geschichtsphilosophie61 zeigt: Die These vom ganz und gar in der zyklischen Zeit gefangenen — oder besser: geborgenen - archaischen Menschen, der abgelöst wurde durch den im Geschichtlichen lebenden Menschen des Juden- und Christentums, 6 ^ läßt sich so nicht aufrechterhalten. Sie basiert letztlich auf der überkommenen Annahme der Geschichtslosigkeit von Primitivkulturen, die sachlich nicht zutreffend ist. Schon das elementare Zeiterleben ist sowohl zyklisch als auch linear.6·' Wir erleben jedes Jahr die Abfolge der Jahreszeiten, die Feste, die wir feiern, wiederholen sich, doch zugleich ist das letzte Frühjahr, das letzte Weihnachten, anders als das vorherige und das heutige: Die Kreise der Zeit legen sich übereinander als Spirale; aus den übereinanderliegenden Punkten können wir Linien ziehen. So wie Jahreslauf und Lebensgeschichte zwei zeitliche Paradigmata sind, in denen wir gleichzeitig leben, läßt sich keiner Kultur absprechen, daß sowohl Zyklizität als auch Historizität ihre Zeitstruktur bilden. Die jüdische und die christliche Religion konstituieren sich beide über die jährliche Passahfeier. Daß als Uranfang für das zyklisch wiederholte Ritual ein historisches Ereignis und nicht ein urzeitliches gilt, tut dem Prinzip „rituelle Wiederholung" keinen Abbruch, wie wir ja gerade von Eliade selbst lernen konnten. 6 4 Andererseits haben auch „archaische" und „primitive" Kulturen ihre Geschichte; daß sie bei letzteren mangels Schrift auf den Zeitraum weniger Generationen beschränkt bleibt, 6 5 ändert nur etwas an der Quantität verfügbarer historischer Daten, nichts aber am prinzipiellen Verhältnis zur Geschichtlichkeit. Die Annahme einer Opposition von zyklischem Welt-

59 60

A r c h é t y p e s et répétition ( = K o s m o s und Geschichte) erschien 1949. S o die Ü b e r s c h r i f t des 4. Kapitels, K o s m o s (1949 / 1984), 151 ff. „Den S c h r e c k e n der G e s c h i c h t e b a n n e n " als Aufgabe der Philosophie: ebd. 173.

61

I m V o r w o r t zu einer französischen Ausgabe, verfaßt 1952, beginnt Eliade: „ W e n n w i r nicht gefürchtet hätten, allzu ehrgeizig zu erscheinen, würden w i r diesem Buch einen U n t e r t i t e l gegeben haben: .Einleitung zu einer Philosophie der G e s c h i c h t e ' . " ( K o s m o s [1984], 7.)

62

Siehe bes. Eliade, K o s m o s (1949 / 1 9 8 4 ) , 149 ff. u. 176.

63

Vgl. L e a c h , Zwei Aufsätze (1966), 3 9 3 .

64

Siehe o b e n , S. 32 mit A n m . 52.

65

Dies hat die O r a l - t r a d i t i o n - F o r s c h u n g gezeigt; siehe dazu insbesondere Vansina, O r a l T r a d i t i o n (1985).

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

35

bild des „primitiven" oder „archaischen" Menschen und jüdisch-christlich-moderner Linearität der Geschichte 66 ist demnach so nicht haltbar. Wollte man der Geschichtsphilosophie Eliades weiter nachgehen, ließe sich zeigen, daß sie sich - wie auch verwandte geschichtsphilosophische Spekulationen, 67 die vom Begriff „Wiederholung" ausgehen —, letzlich selbst einer religiösen Motivation verdankt. Doch dies sprengte den Rahmen unseres Themas. Festgehalten sei jedenfalls, daß Geschichtsphilosophie und Ritualinterpretation Hand in Hand gehen: Die völlige Ausblendung der Linearität bei gleichzeitiger Fokussierung auf zyklische Zeitvorstellungen führte Eliade zu der Auffassung, „daß die Zeit durch die Nachahmung von Archetypen und die Wiederholung von urbildhaften Handlungen vernichtet werden soll". 68 Meiner Auffassung nach vernichtet jedoch die rituelle Wiederholung nicht die Zeit, sondern konstituiert sie vielmehr. Dies soll im folgenden Kapitel deutlich werden. Im Modell Eliades und in verwandten Konzeptionen, wie wir sie etwa in der Phänomenologie eines van der Leeuw, aber auch bei di Nola vorfinden, 6 9 wird die Beziehung von Ritual und Mythos als Wiederholung in einem eher unmittelbaren Sinn verstanden: Die Religionsphänomenologen nehmen den Mythos wörtlich. Andere Forscher, die sich aus dem Horizont des religiösen Schemas herausbegeben, gelangen zu einer anderen Perspektive. Prägend bis in die Gegenwart hinein wirkte hier vor allem Emile Dürkheims Konzeption der Darstellungsriten, „die das Ziel haben, die Vergangenheit in Erinnerung zu halten," und die „außer dieser Gedächtnisfeier keinen anderen Zweck haben." 70 Wichtig an Dürkheims An-

66

Eliade, K o s m o s ( 1 9 4 9 / 1984), 17 ff., 49, 98 ff., 150 ff.; vgl. dens.,

Religionen

( 1 9 5 4 / 1 9 7 6 ) , 4 5 0 ff.; D. Heilige (1957), 63 ff. Erhellend zu diesem Klischee C a n cik, Rechtfertigung (1983). 67

Siehe etwa L ö w i t h , Weltgeschichte (1949 / 1 9 5 3 ) . Vgl. auch di Nola, Ripetizione (1974), 136.

68

Eliade, K o s m o s (1949 / 1984), 49. Vgl. ebd., 9 7 f. über die „Weigerung des archaischen Menschen, sich als historisches Wesen zu betrachten" und über den „ W i l len z u r Entwertung der Zeit".

69 70

Siehe oben, A n m . 46. D u r k h e i m , D. elementaren Formen (1912 /1981), 510. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie", was die Abhängigkeit auch des Durkheimschen M o d e l l s v o n der „Entdeckung" der australischen Religion vorab deutlich macht. -

Zur

„ m é m o i r e religieuse" (unter Einbeziehung von Halbwachs, Mauss u. a.) siehe

36

I. Ritual und Wiederholung

satz ist jedoch weniger, daß er die commemorative Funktion der rituellen Wiederholung betont, sondern daß er die mythischen Urereignisse, deren die Riten „gedenken", als Projektion 7 ' erkennt: „Alles, was in diesen Darstellungen geschieht, hat nur den Zweck, den Anwesenden die mythische Vergangenheit des Klans ins Gedächtnis zu rufen. Aber die Mythologie einer Gruppe ist eben die Gesamtheit der gemeinsamen Glaubensüberzeugungen dieser Gruppe. Die Tradition, deren Erinnerung sie verewigt, besteht aus der Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft den Menschen und die Welt vorstellt. Sie ist Moral und Kosmologie und zugleich Geschichte. Der Ritus dient also dazu und kann nur dazu dienen, die Lebendigkeit dieser Überzeugungen zu erhalten; zu verhindern, daß sie aus dem Gedächtnis schwinden, d. h. im ganzen genommen, die wesentlichsten Elemente des kollektiven Bewußtseins wiederzubeleben. Durch ihn erneuert die Gruppe periodisch das Gefühl, das sie von sich und von ihrer Einheit hat. Zur gleichen Zeit werden die Individuen in ihrer Natur als soziale Wesen bestätigt. Die ruhmreichen Erinnerungen, die man unter ihren Augen wiederbelebt und denen sie sich verbunden fühlen, geben ihnen ein Gefühl der Kraft und der Zuversicht: Man wird in seinem Glauben sicherer, wenn man sieht, wie weit er zurückreicht und welche großen Dinge er veranlaßt hat." 7 2 Radikaler noch hatten schon Henri Hubert und Marcel Mauss die Entstehung von Gottesvorstellungen auf die Wiederholung von Riten zurückgeführt: „Die Wiederholung dieser Zeremonien, bei denen infolge einer Gewohnheit oder aufgrund von ganz anderen Gründen in regelmäßigen Abständen ein gleiches Opfer in Erscheinung tritt, hat so etwas wie eine sich durchhaltende Persönlichkeit geschaffen. Das Opfer behält seine Sekundäreffekte bei, und die Erschaffung der Gottheit ist das Werk der voraufgehenden Opfer." 7 '' Vorgebildet ist dieser Ansatz bei William Robertson Smith, der sich als erster von der Bekanntschaft mit dem australischen „Totemismus"74 zu Borgeaud, P o u r une approche (1988), bes. 10 ff. und andere Beiträge in dem v o n ihm herausgegebenen Sammelband „La mémoire des religions". Gleichzeitig erschien, herausgegeben v o n Gignoux, „La commémoration", ebenfalls mit interessanten Beiträgen. 71

„Projektion" hier nicht im psychoanalytischen Sinn verstanden, sondern im Sinne Feuerbachs und Topitschs.

72

D u r k h e i m , D. elementaren Formen (1912 /1981), 5 0 4 f.

73

H u b e r t / Mauss, Essai (1899 / 1 9 6 8 ) , 288.

74

Er lernte ihn durch seinen Freund J. F. MacLennan, der ihn im Zusammenhang mit Exogamieregeln studierte (siehe Primitive Marriage, L o n d o n 1876), kennen.

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

37

seiner einflußreichen 75 Theorie der Enstehung des Mythos aus dem Ritus heraus^ inspirieren ließ. Ich will hier die verschiedenen Positionen und Akzentuierungen der Mythos-Ritus-Debatte und ihre jeweiligen Auswirkungen auf die Konzeption von „Wiederholung" nicht noch einmal nachzeichnen. 77 Vielmehr möchte ich abschließend kurz auf Jan Assmanns Arbeit über „Das kulturelle Gedächtnis" 78 eingehen, die jüngste mir bekannte ausführlichere Beschäftigung mit dem Thema „Wiederholung". Grob gesagt, verbindet Jan Assmann Durkheim mit Eliade. Er hat herausgearbeitet, daß rituelle Wiederholung eine doppelte Wiederholung ist: Auf der einen Betrachtungsebene wiederholt sich ein Ritus immer wieder. Daraus resultiert das Prinzip der „rituelle[n] Kohärenz": „Das Grundprinzip jeder konnektiven Struktur ist die Wiederholung. Dadurch wird gewährleistet, daß sich die Handlungslinien nicht im Unendlichen verlaufen, sondern zu wiedererkennbaren Mustern ordnen und als Elemente einer gemeinsamen „Kultur" identifizierbar sind." 79 Auf einer anderen Betrachtungsebene „wiederholt" ein Ritus zugleich sein mythisches Urmodell. Assmann spricht hier von „Vergegenwärtigung": „Nun wiederholt aber ein Seder-Abend nicht nur die Feier des Vorjahres, indem er derselben Vorschrift folgt, sondern er vergegenwärtigt auch ein viel weiter zurückliegendes Geschehen: den Auszug aus Ägypten. . . . Alle Riten haben diesen Doppelaspekt der Wiederholung und der Vergegenwärtigung." 80 So entsteht das, was im Sprachgebrauch von Aleida und Jan Assmann das „kulturelle Gedächtnis" heißt. 81 „Ritus und Fest" sind dabei „als primäre Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses" anzusehen: „Anders als durch Dabeisein ist in schriftlosen Kulturen am kulturellen Gedächtnis kein Anteil zu gewinnen. Für solche Zusammenkünfte müssen Anlässe geschaffen werden: die Feste. . . .

75

Siehe dazu Versnel, What's Sauce . . . (1990 /1993), 21 mit A n m . 13.

76

Siehe S m i t h , Lectures (1889 / 1 9 6 7 ) , bes. 16 ff.

77

D i N o l a hat dies untersucht; siehe oben, A n m . 48.

78

1 9 9 2 , v o r b e r e i t e t in: ders., D e r zweidimensionale Mensch (1991); siehe auch A . u. J . A s s m a n n , Schrift (1988).

79 80

J . A s s m a n n , D. kulturelle Gedächtnis (1992), 17. Ebd. Vgl. auch 9 0 f. und 212 ff. Ähnlich schon bei Eliade, Religionen

(1954/

1976), 442. Siehe auch Borgeaud (wie A n m . 70). 81

Siehe op. cit. 22 ff., mit Verweis auf frühere Arbeiten. Aleida und Jan Assmann stehen mit ihrer T h e o r i e in der Tradition von Maurice Halbwachs; dazu ausführlich op. cit. 34 ff. - Vgl. zu dieser Metapher auch Cancik / M o h r , Erinnerung / Gedächtnis (1990), 3 0 8 ff.

38

I. Ritual und Wiederholung

Rituelle Wiederholung sichert die Kohärenz der Gruppe in Raum und Zeit." 8 2 Dazu gehört aber auch, wie bereits angesprochen, die rituelle Korrektheit oder Wiederholungsgenauigkeit: „Solange Riten die Zirkulation des identitätssichernden Wissens in der Gruppe garantieren, vollzieht sich der Prozeß der Uberlieferung in der Form der Wiederholung. Es liegt im Wesen des Ritus, daß er eine vorgegebene Ordnung möglichst abwandlungsfrei reproduziert." 8 '' Zusammenfassend stellen wir also fest, daß „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie drei verschiedene Aspekte betrifft: Erstens ist rituelles Handeln ein Spezialfall von Wiederholungsverhalten. Es stellt Handlungsmuster für wiederkehrende Situationen bereit, die regelmäßig oder überraschend auftauchen können. Zweitens gehört Wiederholung zu den gängigen Strukturmerkmalen von Riten. Teilelemente des Handlungsablaufs werden mehrfach ausgeführt, Formeln werden repetiert. Drittens verstehen die Ritualteilnehmer ihr Tun als Wiederholung einer mythischen Urhandlung. Die verschiedenen Aspekte der „rituellen Wiederholung" sind anthropologisch zu erklären. „Wiederholung" ist dabei eine analytische Kategorie, die zur Untersuchung religiöser Praxis dient. Weiterführende Fragen, auf die jeweils kulturspezifische Antworten zu suchen sind, lassen sich anschließen: Unter welchen Voraussetzungen werden Iterationen nicht nur praktiziert, sondern auch intendiert und thematisiert? In der Argumentation der Kulturteilnehmer taucht „Wiederholung" zunächst als Legitimationsformel auf. Die gängige Begründung dafür, warum ein Ritus auf eine bestimmte Weise durchgeführt wird, lautet bekanntlich, man habe das immer schon so gemacht. Die Funktion dieses Traditionsarguments reicht allerdings über die Stiftung von Verhaltenssicherheit für die einzelnen Beteiligten weit hinaus: Es geht um die Aufrechterhaltung der kulturellen Identität. Dazu gehört zunächst ein ganz konkreter Lerneffekt. Wer immer wieder an den gleichen Riten teilnimmt, erwirbt sich dadurch kulturelle Kompetenz und kann diese schließlich an die nächste Generation weitergeben. 84 Es fällt auf, daß grundlegende Kulturgüter, etwa der Umgang mit

82

O p . cit. 5 6 f.

83

O p . cit. 89.

84

D a z u Gladigow, Struktur (1995), 21 f. und E r w e r b (1997). Vgl. K e h r e r , O r g a n i sierte Religion (1982), 6 5 f. Siehe auch Bammer, G i b t es . . . (1985), 21.

1. „Wiederholung" als religionswissenschaftliche Kategorie

39

dem Feuer 8 5 oder mit dem Saatgut in traditionell geprägten Gesellschaften durch ritualisierte Verhaltensmuster „geschützt" sind. Wie präzise ist nun eigentlich die Wiederholung? Wer urteilt darüber, ob der Ritus dieses Jahres dem des Vorjahres entspricht, wer schreibt vor, daß der nächste genauso ablaufen muß? Zwei Faktoren spielen eine hervorragende Rolle, wenn man die Wiederholungsgenauigkeit untersuchen will, und zwar zum einen der Grad der Professionalisierung von Religion, zum andern das Gewicht, das die Schriftlichkeit in einer bestimmten Kultur bekommen hat. Religiöse Spezialisten haben nämlich von Amts wegen ein starkes Kontrollinteresse; Abweichungen vom üblichen Muster lassen sich besonders gut feststellen, wenn es eine schriftliche Vorlage gibt. Die eigentliche Intention gilt allerdings nicht der Wiederholung als solcher, sondern der korrekten Durchführung des Rituals. Nur wenn man nicht vom bewährten Muster abweicht, darf man darauf vertrauen, daß die erwünschte Wirkung eintritt. Eine Konstanzsicherung ist sowohl das Anliegen der verantwortlichen Funktionäre, denn sie stehen unter Erfolgsdruck, als auch derjenigen, die das Ritual ausrichten lassen und damit die Erwartung verbinden, daß sich die Investition lohnt. Trotz dieser Tendenz zur Regelhaftigkeit ist es für die religiöse Praxis nicht untypisch, daß Handlungsteile, die eine Vorlage wiederholen, mit variablen, sogar spielerischen oder sportlichen Elementen kombiniert sind. Selbst wenn ein christlicher Gottesdienst stark schematisiert abläuft, variiert — einem bestimmten Muster folgend — die Lesung; Lieder werden saison-, situations- und geschmacksbedingt ausgewählt; die Predigt ist (zumindest der Idee nach) ein „neuer" Text. Am anderen Ende der Skala stehen antike Sport- und Theaterereignisse, bei denen eine stereotype kultische Rahmung zwar unabdingbar ist, rein quantitativ jedoch hinter den variablen Bestandteilen der Veranstaltung zurücktritt. Der für das religiöse Selbstverständnis wichtigste Aspekt von Wiederholung ist die Zuordnung von aitiologischem Mythos und praktiziertem Ritus. Hier wird Wiederholung zwangsläufig intendiert; gerade sie verleiht dem Akt seine „Weihe". Für die wissenschaftliche Betrachtung ist allerdings ein Perspektivenwechsel nötig. Sie erweist das mythische „Ur"modell als Projektion der Kulthandlung. Innerhalb des religiösen Systems ergibt sich aus dieser Konstruktion ein Problem: Der Mythos, der von der urzeitlichen Stiftung des Rituals erzählt, ist im Gegensatz zu diesem nicht repetitiv, sondern linear konstruiert. Bestimmte Ereignisse und Handlungen, die 85

S i e h e Burkert, Creation (1996), 15.

40

I. Ritual und Wiederholung

schließlich eine bestimmte kulturelle Institution stifteten, werden als aufeinander folgend dargestellt. Das jährlich wiederholte Ritual, das darauf Bezug nimmt, muß die Teilnehmer jedoch zunächst in die Zeit vor der paradigmatischen Urhandlung zurückversetzen, damit der rituelle Prozeß überhaupt in Gang kommt. Dies gilt auch für die beteiligten Götter. So ist beispielsweise Hera „seit Urzeiten" die Gattin des Zeus. Auf der Ebene der mythischen Erzählung ist dies irreversibel. Wie aber vermag das Ritual ihre Hochzeit zu „wiederholen", ohne sie in den Status einer Jungfrau zurückzuverwandeln? Die Argiver kannten ein „Kultgeheimnis": Hera (wohl in Gestalt ihrer Kultstatue) kam jährlich nach Nauplia und badete in der Quelle Kanathos, um wieder Jungfrau zu werden.*"' So konnte der Ritus das mythische Geschehen reproduzieren. Mit den hier angeschnittenen Fragen ist der Horizont abgesteckt, innerhalb dessen im folgenden die Funktion von Wiederholung für religiöses Verhalten untersucht wird. Die nächsten beiden Kapitel sind den anthropologischen Grundlagen und dem ethologischen Ritualisierungsbegriff gewidmet; die beiden anschließenden Teile der Abhandlung, die römische Lustrationsriten behandeln, sollen die erarbeiteten Grundlagen in einer kulturwissenschaftlichen Studie nutzbar machen.

86

Paus. 2, 38, 2.

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung: Anthropologische Grundlagen 2.0. Einleitung Wenn wir Riten als wiederholbare Handlungen betrachten, sind drei Typen der rituellen Wiederholung zu unterscheiden:1 1. die regelmäßige Wiederholung in bestimmten kalendarischen Zyklen, 2. die rituelle Einleitung eines neuen Lebensabschnitts (wie Geburt, Jugendweihe, Hochzeit, Tod, Beitritt zu einer Gemeinschaft) sowie 3. die Anwendung wiederholbarer ritueller Muster zur Bewältigung außerordentlicher Krisensituationen (ein Beispiel: die römische procuratici

2.1. Kalenderriten Regelmäßig begangene Riten gibt es in allen Kulturen.·^ Der wichtigste Rhythmus der Wiederholung, der vermutlich die Hauptmasse der von der Religionswissenschaft untersuchten Riten charakterisiert, ist der jährliche. Die Volkskunde kennt hierfür die Bezeichnung „Jahreslaufriten", weil diese Riten, über das Jahr verteilt, dessen Ablauf strukturieren. Zu ihnen gehört auch dasjenige Ritual, das den Jahresrhythmus als solchen markiert: das Neujahrsfest. Es gibt jedoch auch kürzere Zeitintervalle. Typische Kleinformen, die sich ebenfalls zu den „Kalenderriten" zählen lassen, sind

1

Diese Klassifikation deckt sich mit derjenigen Honkos, doch wie gesagt (siehe oben, S. 24), halte ich Wiederholbarkeit als solche nicht für das Unterscheidungsmerkmal!

2

Zum römischen Prodigienwesen siehe Gladigow, Angst (1979), 70 ff. (zur procurado ebd. 72 ff.). Ein Beispiel unten, Kap. II 4. 4. Vgl. Eliade, Kosmos (1949 /1984), 65 ff. Interessantes Material bei Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920). Siehe auch Brelich, Introduzione allo studio dei calendari festivi (1955).

3

42

I. Ritual und Wiederholung

tägliche, wöchentliche oder monatliche Wiederholungen. Auf der anderen Seite gibt es Großzyklen, die mehrere Jahre überspannen.4 Die Konzeption eines „Großen Jahrs" hat in der Antike eine wichtige Rolle gespielt. Von praktischer Bedeutung war dabei vor allem das gleichnamige Vier-Jahres-Intervall, das rituell markiert wurdet Doch konnte ein Fest wie die berühmte Saecular-Feier des Augustus sogar mit der Idee verbunden werden, es wiederhole ein vorhergehendes Ritual, das ein ganzes saeculum zurückliege.6 Auffällig ist nun, daß — von Ausnahmen7 abgesehen — diese Riten mit Gestirnbewegungen korreliert sind: Tag und Jahr mit bestimmten Erscheinungsformen des „Sonnenlaufs"® der Monat mit dem Rhythmus des Mondes, der achtjährige Zyklus des Großen Jahrs mit der kalendarischen Abstimmung von Sonnen- und Mondzyklen. Dieser Umstand hat zweifellos dazu beigetragen, daß sich diejenigen Grundüberzeugungen in der Religionswissenschaft etablierten, die unter dem Stichwort „Astralmythologie" zusammengefaßt werden. Auch die Umgangsriten, mit denen wir uns unten eingehender beschäftigen werden, deutete man so: Der rituelle Umgang sei eine Nachahmung des Sonnenlaufs.^ Ein konkurrierendes naturmythologisches Paradigma war der Vegetationszyklus. Die Anregung dazu gab der explizite Bezug vieler Riten auf Feldfruchtbarkeit, aber auch eine naheliegende Beobachtung: Der jahreszeitliche Wechsel beeinflußt das Leben der Menschen viel unmittelbarer, als es die ihm zugrundeliegenden astronomischen Abläufe tun. Nachdem beide Modelle abgewirtschaftet hatten, fand ein Perspektivenwechsel statt. Die Erkenntnis, daß im Ritual nicht einfach begleitend nachvollzogen wird, was in der Natur abläuft, sondern daß eine Gesellschaft durch ihre religiösen Inszenierungen ihren

4

Sehr instruktiv für Ägypten Böker, Zeitrechnung (1967). Zum griechischen Kalender vgl. Auffarth, D. drohende Untergang (1991), 389 ff. (mit weiterer Literatur). Für Fragen, die den römischen Kalender betreffen, ist Rüpke, Kalender (1995) heranzuziehen. Siehe dazu auch Graf, Lauf (1997) mit grundsätzlichen Überlegungen und ausgewählten Festbeispielen.

5

Vgl. etwa den Zusammenhang zwischen quinquennium Kap. III 2. 2.

6 7

Grundlegend Gladigow, Aetas (1983). Die Einschränkung betrifft insbesondere die Wocheneinteilung und Konzeptionen wie das saeculum oder das Jahrhundert. So die Wahrnehmungsseite. In Wirklichkeit handelt es sich bekanntlich um die Erdbewegung. Siehe dazu unten, Kap. III 2. 2 mit Anm. 76.

8 9

und lustrum·,

dazu unten,

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

43

spezifischen Bezug zur Umwelt selbst gestaltet, führte schließlich zu der Auffassung einer „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit"1® und infolgedessen auch einer sozialen Konstruktion von „Zeit".11 Eher von der psychologischen Seite gesehen, gerät der Kalender dann zu einer Erlebnisstruktur. 12 Stellt nun eine ethologisch begründete Theorie demgegenüber nicht einen Rückschritt in längst überwundene „naturalistische" Gefilde dar? Ich denke, nein. Zunächst bedeutet eine ethologische Fragestellung nicht zwangsläufig, daß eine soziologische auszuschließen wäre. Wir können deshalb den durch die Wissenssoziologie wieder neu ins Blickfeld gerückten Ansatz, der in der Religionswissenschaft spätestens seit Mauss1^ verfügbar ist, aufgreifen und — auf unser Thema bezogen - feststellen, daß die Riten einer bestimmten Gesellschaft, indem sie die Zäsur zwischen verschiedenen Zeitabschnitten markieren, das jeweilige Intervall als kulturellen Sachverhalt erst schaffen. Doch tun sie das willkürlich? Liegen nicht den meisten rituellen Zäsuren tatsächlich Naturzyklen zugrunde? Also doch zurück zur Fruchtbarkeits- und Astralmythologie? Halten wir zunächst fest: Kalenderriten markieren zu einem großen Teil erfahrbare Veränderungen in der Natur, soweit menschliche Gemeinschaften davon betroffen sind. Sie sind wiederholbare Handlungen, die es der jeweiligen Gruppe ermöglichen, auf periodische Schwankungen der Umwelt zu reagieren. Für die Jahreslaufriten, denen ich mich zunächst zuwenden möchte, unmittelbar relevant ist der Zyklus der Jahreszeiten. Dieser bewirkt vor allem eine Veränderung der Nahrungsbasis.14 Davon sind Wildbeutervölker, also Jäger und Sammler, ebenso betroffen wie Kulturen, in denen Bauern und Viehzüchter Nahrung produzieren. Sie müssen

10

S o der Titel der grundlegenden wissenssoziologischen Arbeit von Berger / L u c k -

11

Siehe Schmied, Soziale Zeit (1985). Elias, Ü b e r die Zeit (1984) hat hingegen gese-

mann ( 1 9 6 6 / 1 9 8 0 ) . hen, daß „physikalische und soziale Zeit" nicht „unabhängig voneinander untersucht w e r d e n " können (9 ff.). Einiges Grundsätzliche über „Die soziale D i m e n s i o n der Z e i t " bei Rüpke, Kalender (1995), 17 ff. (mit weiterer Literatur). 12

S o bei Parker, Miasma (1983), 2 9 , der sich mit Riten befaßt, die z u m guten Teil die E n t s p r e c h u n g zu unseren „Lustrationsriten" im griechischen

Kulturbereich

darstellen. 13

Étude (1909).

14

D e n U m w e l t z y k l e n entspricht - auch beim M e n s c h e n ! - eine endogene R h y t h mik. Grundlegend z u r Zweiphasigkeit des Wirbeltier-Biogramms: C o u n t , E . b i o logische Entwicklungsgeschichte (1958 und 1959), bes. 1958, 139 ff.

44

I. Ritual und Wiederholung

sich — auf der Ebene instrumentellen Handelns - an die saisonalen Schwankungen von Temperatur und Niederschlägen durch geeignete Kleidung und Wohnformen, insbesondere aber an deren Auswirkungen auf Flora und Fauna anpassen. Die verschiedenen Wachstums- und Reproduktionsphasen der Nahrungspflanzen und Nutztiere (gegebenenfalls auch der Schädlinge und gefährlichen Wildtiere) erfordern jeweils adäquate Reaktionen von sehen der nutznießenden Menschen. Daraus läßt sich zunächst die Entstehung instrumentellen Wiederholungshandelns ableiten: Ertragreiches Wirtschaften setzt nicht nur die Kenntnis bestimmter wiederkehrender Abläufe voraus, sondern auch die Möglichkeit, ohne Reibungsverluste auf Verhaltensschablonen, die eine passende „Antwort" auf die gegebene Situation darstellen, zurückzugreifen. Daß viele Tiere hierbei über angeborene Muster verfügen, Menschen aber üblicherweise auf kulturell tradierte und individuell erlernte Wiederholungshandlungen rekurrieren, trägt bis heute zur Beliebtheit des mythischen Modells einer Dichotomie von „Tier" und „Mensch" - bzw. „Natur" und „Kultur", respektive „angeboren" und „erlernt" — bei. Wer sich etwas besser auskennt, weiß freilich, daß der Ubergang gleitend ist: Die Tradition instrumenteller Fertigkeiten bei Tieren wurde inzwischen ebenso nachgewiesen^ wie angeborene Verhaltensdispositionen beim Menschen. 16 Erlernte und tradierte Wiederholungshandlungen setzen also stammesgeschichtliche Anpassungsleistungen fort und stehen nicht etwa in Opposition zu ihnen. Alles Wiederholungsverhalten, ob genetisch fixiert, ontogenetisch erworben oder kulturell vermittelt, hat sich nach den gleichen Grundprinzipien entwikkelt. In wiederkehrenden Situationen ein wiederholbares Reaktionsmuster parat zu haben, erhöht die Chance, aus dieser Situation Nutzen zu ziehen oder sie zumindest mit geringem Schaden zu überstehen. Letzteres gilt in besonderem Maße für die Reaktion auf Bedrohungen. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, folgt soziales Handeln denselben Gesetzmäßigkei-

15

Instruktiv: Mundinger, Animal Culture (1980); Bonner, Kultur-Evolution (1983); Boesch, Teaching (1991). Wichtig für ein neues Verständnis der Kulturentstehung war die Erkenntnis, daß Gemischtköstler die Vorteile, die eine komplexere Ernährungsweise bietet, nur nutzen können, wenn das Risiko der Vergiftung minimiert wird. Dies geschieht durch Tradition: Primatenkinder lernen von ihrer Mutter, aus dem Nahrungsangebot das Bekömmliche auszuwählen.

16 17

Siehe dazu Eibl-Eibesfeldt, Biologie (1984), 35 ff. Zur Bedeutung wiederholbarer sozialer Handlungsmuster siehe Kehrer, Einführung (1988), 64 f., leider noch mit obsoletem Mensch-Tier-Gegensatz.

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

45

Um die Entstehung derjenigen wiederholbaren Handlungen, denen unser spezielles Interesse gilt, nämlich der Riten, erklären zu können, müssen wir uns zunächst klarmachen, daß saisonale Veränderungen wie das Erscheinen eines bestimmten Jagdwilds, der Abschluß der Ernte, die Geburt der Jungtiere einer Herde im Leben naturnaher Gesellschaften jeweils einen tiefgreifenden Einschnitt bedeuten. Daher sind sie von der Sorge begleitet, ob der Ubergang in die nächste Phase des Jahreslaufs gelingen wird. Das Ausbleiben eines Fischschwarms, der das Grundnahrungmittel oder den wichtigsten Handelsartikel einer Region liefern soll, eine Mißernte, Komplikationen bei der Reproduktion von Nutztieren können schwerste Existenzkrisen hervorrufen,^ solange nicht weiträumige Verflechtungen, politische Machtstrukturen oder Tauschmöglichkeiten, wie sie vor allem industrielle Gesellschaften entwickelt haben, die benötigten Ressourcen verfügbar machen. In solch kritischen Phasen vermag nun der Rückgriff auf stabile, wiederholbare Verhaltensmuster zur Überbrückung zu dienen. Sofern instrumentelles Handeln dabei versagt, gewährleistet rituelles Handeln immerhin stärkere emotionale Sicherheit und eine Erhöhung der Frustrationstoleranz. Denn sowohl in regelmäßig wiederkehrenden Krisensituationen als auch in solchen, die unvorhergesehen eintreten, ist es eminent hilfreich, überhaupt „zu wissen, was zu tun ist". Gerade die mit rituellem Handeln verbundene Uberzeugung, d a ß ein erprobtes Muster wiederholt werden kann, daß „es früher schon einmal geholfen hat" trägt dazu bei, die Ritualteilnehmer zu stabilisieren. Sie leiten aus der Wiederholung die Zuversicht ab, ihnen werde auch in Zukunft geholfen.* 9 Hoffnung ist tatsächlich eine Überlebensstrategie. Die genannten kritischen Situationen erfordern überdies nicht selten einen außergewöhnlich hohen Arbeitseinsatz (in der Erntezeit etwa), ohne daß dieser die Angst vor der Gefährdung (beispielsweise durch Unwetter) restlos zu absorbieren vermöchte. Andererseits bringt ein gelungener Saisonabschluß nicht nur Vorteile ökonomischer Natur: Der Nahrungsfülle korrespondieren die Erleichterung, daß alles gut gegangen ist, und die Entspannung nach der großen Anspannung — das sind die Grundlagen der Festfreude.

18

S o auch nachdrücklich Auffarth, D. drohende Untergang (1991), 3 ff.

19

Siehe van Straten, Gifts (1981), 70 ff.

20

Vgl. Burkert, Creation (1996), 33: „The impetus of biological survival appears internalized in the codes of religion. . . . Religion is basically optimistic."

46

I. Ritual und Wiederholung

Doch spätestens bei diesem Stichwort wird deutlich, daß wir es mit sozialen Phänomenen zu tun haben. Nicht nur die Lebensvorgänge und Verhaltensweisen der Individuen einerseits und die Außenweltbedingungen andererseits sind einem saisonalen Wandel unterworfen, vielmehr durchläuft das gesamte Sozialgefiige gewisse zeitliche Strukturveränderungen. 21 Selbst in der Industriegesellschaft ist noch wirksam, was Marcel Mauss am besonders deutlich ausgeprägten Beispiel einer Inuit-Kultur gezeigt hat: 2 2 Das Gemeinschaftsleben als solches kennt gewisse periodische Schwankungen. Auch wenn bei uns die Ballsaison nicht mehr denselben gesellschaftlichen Stellenwert hat wie früher - es gibt sie noch. Vor allem aber ziehen bestimmte Ferienzeiten tiefgreifende Strukturveränderungen nach sich und beeinflussen die soziale Kontaktpflege positiv oder negativ. 2 '' Wie im Maussschen Paradigma hängen diese nicht einfach direkt von klimatischen Bedingungen ab, obwohl solche für unsere „Freizeitkultur" durchaus relevant sind, sondern haben ihren Grund primär in den Periodisierungen der Arbeit. Dabei spielen auch in der Industriekultur neben den für sie typischen Erscheinungen wie Werksferien landwirtschaftliche Arbeitsprozesse immer noch eine wichtige Rolle. 24 Andererseits ist auch in den weitaus stärker umweltabhängigen traditionellen Gesellschaften die Beziehung zur Natur keine unmittelbare: Das Bindeglied zwischen „Natur" und „Kultur" stellt die Arbeit dar, die sich im wesentlichen kooperativ vollzieht. 25 Es gehört zu den Charakteristika menschlichen Verhaltens, 26 daß der Ertrag der Nahrungsbeschaffung durch Kooperation gesteigert wird. Daraus resultiert die Notwendigkeit, Verteilungsstrategien zu entwickeln. 2 7 Schließlich läßt sich eine weitere Optimierung durch Güter-

21

U n d z w a r - in unserer Kultur - vor allem in täglichen, wöchentlichen und jährlichen R h y t h m e n .

22 23

Siehe Mauss, Ü b e r den jahreszeitlichen W a n d e l . . . (1904/05 /1978). W ä h r e n d in den S o m m e r f e r i e n Kontakte mit Nachbarn, Freunden und V e r w a n d ten o f t durch Urlaubsreisen erschwert sind, konstituiert sich in manchen alemannischen Ortschaften das Sozialleben regelrecht über die Fasnet, w o z u die Fasnetferien eine Vorbedingung darstellen.

24 25

In manchen Regionen gibt es noch Kartoffelferien u. ä. Diesen A n s a t z habe ich bereits meiner Skizze „Heischegang" (1986, siehe d o r t S. 2 2 4 ) zugrundegelegt.

26

Diese Merkmalsbeschreibung ist jedoch nicht exklusiv gemeint! Auch verschiedene andere Säugetiere kooperieren.

27

G r u n d l e g e n d : G . Baudy, Hierarchie (1983).

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

47

tausch erreichen. 28 All diese Strategien des wirtschaftlichen und sozialen Lebens bedürfen der Synchronisation und der Abstimmung. Diese wird geleistet durch Riten. Sie überbrücken „Bruchstellen" — im eben betrachteten Fall die mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Krisen 29 der periodischen Umweltschwankungen —, und sie tun dies auf dem Wege kommunikativen Verhaltens. Sie ersetzen nicht die Arbeit, aber sie leiten sie ein und schließen sie ab. Gerade deswegen läßt sich, sobald man „Arbeit" zum Grundbegriff der Interpretation macht, der scheinbare Widerspruch zwischen einem soziologischen Interpretationsmodell und einem, das Riten und Mythen von ihrem Zusammenhang mit der Natur her zu verstehen sucht, aufheben; denn in seiner Arbeit geht der Mensch immer schon in einer sozial vermittelten Weise mit der Natur um. Die Perioden des Wirtschaftsjahrs verlaufen allerdings nicht ganz gleichförmig. Daher werden bestimmte Riten nur relativ regelmäßig wiederholt — nicht im genauen Jahresabstand, sondern dann, wenn tatsächlich bestimmte Ereignisse eintreten, wenn beispielsweise die Saat ausgebracht ist·'®, wenn eine von Tierwanderungen abhängige Jagdsaison beginnt, oder, mit noch geringerer Vorhersagbarkeit, wenn ein ansehnliches Jagdwild erbeutet ist. Doch verliert sich auch hier die saisonale Bindung nie ganz. Die wichtigsten Riten einer Gesellschaft pflegen daher in einen Festkalender integriert zu sein, der einen Bezug zu astronomischen Zyklen hat. Da die Vegetations- und Reproduktionszeiten ihrerseits durch die Erdbewegung bestimmt sind, können entsprechende Gestirnerscheinungen (Sonnenaufgang, Sonnenwende, Auf- und Untergänge von Fixsternen, ζ. B. des Sirius) als Signale fungieren: Ihre Wiederkehr zeigt den Beginn einer neuen Wirtschaftsphase und damit die Notwendigkeit einer neuen Orientierung des Arbeitsverhaltens an."" Sie geben deshalb den Termin für ein Fest, dessen regelmäßige Wiederholung sowohl die Mitglieder einer

28

Interessante Aspekte bietet Weede, Wirtschaft (1990), bes. 10 ff. zu „komparative[n] Kostenvorteile[n]". -

Zur anthropologischen und religionsgeschichtlichen

Bedeutung des Gabentauschs siehe Burkert, Creation (1996), 134 ff. 29

Daß die Bezeichnung „Krise" eine „Inflation" erlebt habe und „auf Ubergangsriten zu Unrecht angewandt" werde, kritisiert Honko, Klassifikation (1975), 73 f. Versteht man „Krise" jedoch nicht emphatisch, sondern schlicht als Wendepunkt, trifft das Wort m. E. recht genau.

30

Im antiken Rom nannte man solche Feiertage feriae conceptivae ; siehe Macr. Sat. 1 , 1 6 , 6, vgl. Varrò ling. 6, 2 5 - 2 6 u. Paul. Fest. 55 L.

31

Vgl. Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920), 86 ff.; G. Baudy, Orientierung (im Druck).

48

I. Ritual und Wiederholung

Gesellschaft untereinander als auch das menschliche Leben insgesamt mit den natürlichen Prozessen der Umwelt in Einklang bringt. Prinzipiell besteht durchaus die Möglichkeit, solche Bruchstellen durch profane Interaktionsrituale zu überbrücken, wie es ja auch in modernen Industriegesellschaften geschieht.·^ Wo allerdings die Ritualisierung gesellschaftlicher Bruchstellen eine sakrale Dimension erhält, was für alle traditionellen Gesellschaften typisch ist, werden als „Katalysatoren" für die Synchronisation menschlichen Handelns vorzugsweise außermenschliche Interaktionspartner wie Götter oder Urzeitheroen eingesetzt. Sie gelten als Erfinder eben jener Kulturleistung, die nun ausgeführt werden soll.·'·' Gerade indem das Ritual die Handlung, die der Gott in mythischer Urzeit exemplarisch vollzog, „darstellt", „nachahmt" oder „wiederholt" — so die Binnensicht —, wird es selbst zum prägenden Vorbild für die Arbeitsperiode, die es einleitet. Wenn die Kultteilnehmer beispielsweise zu Beginn der Saatzeit die „primordiale" Saat rituell inszenieren, präformieren sie mit diesem sakralen Akt zugleich die profanen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die von der Zeremonie eingeleitet werden. Weil das „Urmodell" das nun „wiederkehrt", als idealer Verlauf konzipiert ist, führen sowohl die paradigmatische Handlung des Mythos als auch seine rituelle „Wiederholung" zu einem glücklichen Abschluß. Diese Vorgabe soll die profane Handlung, zum Nachvollzug der Ritualhandlung und letzlich des mythischen Paradigmas stilisiert, nun einlösen."'4 Das Verhältnis von mythischem Urbild und ritueller Wiederholung erweist sich somit als (überhöhende und legitimierende) Projektion der Beziehung von Ritual und profanem Vollzug. Daher können sich auch an Riten, die eine Saison einleiten, Divinationsbräuche angliedern, was besonders in der Neujahrszeit weit verbreitet ist.·'® Sie folgen alle demselben Schema: Wenn etwas heute gelingt, wird es auch in Zukunft gelingen. „Zukunft" in diesem Zusammenhang bedeutet: innerhalb des Zeitraums, für den das Ritual Gültigkeit besitzen soll.

32

D e r D i a - b z w . Videoabend nach dem Urlaub läßt sich so interpretieren.

33

Vgl. Eliade, K o s m o s (1949 /1984), 34 ff.

34

D a h e r k o n n t e der Eindruck entstehen, archaische Kulturen übten unablässig heili-

35

Damit hängt auch die Praxis, einander an Festtagen Glück zu wünschen, zusam-

ge Handlungen aus. S o z. B. Eliade, K o s m o s (1949 / 1 9 8 4 ) , 16 f. men. Einer der bevorzugten Termine ist Neujahr. Zum römischen Brauch siehe D. Baudy, S t r e n a r u m commercium (1987).

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

49

Bei allen Festen läßt sich dieselbe Struktur beobachten: Sie besteht in einer Auflösung der Alltagsordnung, einer Ausnahmephase (häufig beschrieben mit dem Stichwort „verkehrte Welt") und der Rückführung in die Alltagsordnung. Dies entspricht dem Schema der rites de passage, wie es Arnold van Gennep herausgearbeitet hat. 36 Wie schon erwähnt, ermöglichen Kalenderriten in der Regel nicht nur Ubergänge über kritische Phasen des Jahreslaufs hinweg, sondern markieren zugleich Zäsuren innerhalb kollektiver Arbeitsprozesse. Das heißt, sie schließen eine Phase anstrengender Arbeit ab, geben Raum für Entspannung und Genuß, wozu in der Regel ein Festessen, ein Trinkgelage und eventuell auch erotische Abenteuer gehören, dann aber führen sie zurück in die Normalität. Bei antiken Riten läßt sich zeigen, daß schon im Rahmen des Fests selbst, und zwar meist in einem ersten, eher zeremoniell verlaufenden Teil, die Neugründung und Begründung der Ordnung vorweggenommen wird. 37 Die strukturelle Übereinstimmung und die zeitliche Markierungsfunktion der Jahreslauffeste hat bisweilen dazu verleitet, sie alle mit dem Prädikat „Neujahr" zu versehen. So schreibt etwa Christoph Auffarth im Anschluß an Hendrik Versnel: „Mehrere Neujahrsfeste sind in vielen gewachsenen Kulturen festzustellen."38 Dies scheint mir nicht plausibel. Zwar kennen wir aus der römischen Antike sogar zwei angebliche Neujahrstermine, zum einen den offiziell als erster Tag des Kalenders geltenden ersten Januar, zum andern jedoch den ersten März, der auf mythischritueller Ebene mit allerlei Jahresanfangsassoziationen versehen ist. Doch dies ist m. E. ein Sonderproblem, aus dem sich solch weitreichende Schlüsse ebensowenig ziehen lassen wie aus dem griechischen Befund. Wie kam es dann aber zur Übertragung der Kategorie „Neujahr" auch auf andere Jahreslaufriten? Sie hat zunächst ihren Grund in der oben angeführten Struktur aller Feste, die dem Neujahrsfest in ganz besonderer Weise eignet. Bei ihm ist die Inszenierung der Sequenz, die von der Auflösung der alten zur Wiederbegründung der neuen Ordnung führt, besonders ausge-

36

Das Schema bei van G e n n e p , Rites (1909 / 1 9 6 9 ) , 14. Turner schließt daran an; siehe bes. Betwixt and between (1964/1967) und Ritual (1969 /1989). - Zum Fest der v e r k e h r t e n Welt in antiken Kulturen siehe Versnel, K r o n o s ( 1 9 8 7 / 1 9 9 3 ) und Saturnus (1993); vgl. A u f f a r t h , D. drohende Untergang (1991), 1 ff.

37

Im Zusammenhang mit dem Motiv der gefesselten G ö t t i n habe ich das untersucht

38

D . drohende Untergang (1991), 263. Versnel, K r o n o s (1987 / 1 9 9 3 ) , 142 f. b z w . 129.

in K e u s c h l a m m - W u n d e r (1989), 17 ff. Ein anderes Beispiel unten, Kap. II 2.

50

I. Ritual und Wiederholung

prägt.'' 9 Doch halte ich es für äußerst problematisch, deswegen allen möglichen Terminen im Jahreslauf den Stempel „Neujahr" aufzudrücken. Warum erkennen wir nicht einfach an, daß es sich um ein Merkmal von Festen schlechthin handelt? Das Neujahrsfest wäre dann einfach ein Fest, bei dem die allgemein gültige Feststruktur besonders elaboriert ist. Ob es für weniger bedeutende Veranstaltungen im Jahr als prägendes Muster wirkte, wäre dann jeweils im Einzelfall zu untersuchen. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für diese Übertragung, und hier zeigt sich, daß doch ein Körnchen Wahrheit in der Diagnose zahlreicher „Neujahrsfeste" innerhalb einer Kultur steckt: Der Beginn von Arbeitszyklen, die den Jahreslauf in verschiedenen Branchen bestimmen, variiert je nach Tätigkeit. Das Jahr dessen, der Getreide anbaut, ist anders strukturiert als beispielsweise das Jahr des Weinbauern, des Fischers, des Handwerkers, des Bergarbeiters, des städtischen Beamten. Ein Fest, das einen bestimmten wirtschaftlichen Bezug hat, markiert genau unter diesem Gesichtspunkt einen Einschnitt, Abschluß und Neuanfang. Insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich kann damit der Start eines neuen Zyklus impliziert sein: Getreideanbau, Weinbau, Viehzucht beispielsweise haben eigene Starttermine für den jeweils spezifischen Jahreslauf. Das verleiht in einem gewissen, nämlich konkret auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten bezogenen Sinn dem Fest tatsächlich „Neujahrscharakter".4® Hinzu kommt, daß die verschiedenen Zyklen wiederum in sich gegliedert sind: Die erste Saat, der Beginn der Ernte, der Abschluß der Erntearbeiten kann gefeiert werden; für andere Wirtschaftsbereiche gilt Entsprechendes. Dabei werden in der Tat jeweils Anfang oder Ende markiert - aber eben eines bestimmten Arbeitsabschnittes, einer bestimmten Saison und nur im Sonderfall des Jahres. Trotz dieser zu beobachtenden Komplexität können wir feststellen, daß die - jeweils wieder in sich gegliederten - „Jahreskalender" der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nicht unvermittelt nebeneinander herlaufen. Es gibt Schnittstellen: Die Saison für bestimmte handwerkliche Tätigkeiten etwa kann durchaus abhängig sein von gewissen landwirtschaftlichen Prozessen, die wiederum unter traditionellen Produk-

39

Auch das Neujahrsfest ist als „cérémonie de passage" zu analysieren: Siehe van G e n n e p , Rites (1909 / 1 9 6 9 ) , 254.

40

Dies w u r d e allerdings von den oben genannten Forschern m. E. nicht hinreichend deutlich gemacht, vielleicht weil sie wirtschaftlichen Kategorien einen zu geringen Stellenwert beimessen.

51

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

tionsbedingungen an den natürlichen Verlauf der Jahreszeiten angepaßt sind. 41 All diese Zyklen sind ineinander verwoben, und sie bilden gemeinsam den Festkalender einer Gesellschaft. Dieser wiederum — wechselt man die Blickrichtung — organisiert als Superstruktur die unterschiedlichen Rhythmen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Dem Neujahrsfest (im eigentlichen Sinne!) kommt dabei die Aufgabe zu, als Fixpunkt des gesamtgesellschaftlichen Jahres die verschiedenen „Zeiten" zu integrieren. Der Rhythmus des „bürgerlichen Kalenders", den es einleitet, verselbständigt sich in den zunehmend arbeitsteilig organisierten Hochkulturen weitgehend, denn die Beziehung der Gesamtgesellschaft zur Naturumwelt tritt zurück hinter dem Bedürfnis, die gesellschaftlichen Subsysteme zu koordinieren. Doch obwohl dieser „offizielle" Kalender — beispielsweise im alten Ägypten 4 2 — autonom nach Verwaltungsgesichtspunkten organisiert ist, entspricht er normalerweise noch der Dauer des „Sonnen"jahres, behält also wenigstens damit noch einen Bezug zur Natur. 43 Dieser konnte in traditionell agrarischen Gesellschaften noch weit enger sein: dann nämlich, wenn das Neujahrsfest nicht nur einen bestimmten Fixpunkt im Sonnenjahr markierte, sondern mit dem Erntefest zusammenfiel. 44 Dieses aber war von den oben genannten Strukturmerkmalen in besonderem Maße geprägt: Es bildete den Abschluß einer Phase harter Arbeit und nicht selten auch spürbaren Mangels, verkörperte im Gegensatz dazu eine Zeit der Fülle und der Aufhebung sozialer Hierarchien — also ein Gegenmodell zum Alltag — und legte doch schon den Grundstein für die Rückkehr in die Normalität. Als Hauptfest des landwirtschaftlichen Jahrs, an dem auch viele Fäden anderer gesellschaftlicher Subsysteme zusammenliefen, war es wie kein zweites geeignet, einen gesamtgesellschaftlichen Neuanfang zu markieren. Ein alternatives Modell finden wir in Rom: Während der winterlichen Saatzeit wurden kurz vor der Sonnenwende die Saturnalien gefeiert, die auffällige Gemeinsamkeiten mit den griechischen Kronien — so der 41

W e n n ich hier nur Beispiele gewähl: habe, die f ü r ackerbautreibende H o c h k u l t u ren gelten und meist nicht f ü r Wildbeuter, so hängt das zum einen mit der größeren Nähe zu unserer eigenen Kultur und der daraus resultierenden

größeren

Anschaulichkeit zusammen, zum andern aber damit, daß die hier ausgeführten allgemeinen Erörterungen immer zugleich diejenige Kultur mit im Blick haben, der w i r uns unten ganz speziell zuwenden wollen. 42

Siehe Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920), 278.

43

Vgl. G o o d y , Time (1968), 3 7 ff.; Bergmann, D. römische Kalender (1984), 15.

44

Vgl. dazu Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920), 2 6 8 ff.

52

I. Ritual und Wiederholung

Name für das griechische Erntefest - aufwiesen. 4 ^ Das Neujahrsfest,^ das kurz darauf stattfand, war zumindest in der Hauptstadt des Reichs von den Feierlichkeiten des Amtsantritts der Konsuln geprägt, doch verband sich mit ihm auf allen Ebenen, auch im Bereich volkstümlichen Brauchtums, eine Inszenierung des Neubeginns. 47 Die Religion ist dasjenige gesellschaftliche Subsystem, in dem sich im Medium der rituellen Symbolik - die Beziehung des Kalenders auf die Naturumwelt durchhält. Einen Beleg dafür bietet Cicero in seinem Werk „Uber die Gesetze", wo er schreibt: „Die Einrichtung der Freizeiten und Festtage bedeutet für die Freien Ruhe von Prozessen und Streit, für die Sklaven von Arbeiten und Mühen. Die Einteilung des Jahres muß sie mit der Beendigung der Feldarbeiten in Einklang bringen. Damit zu diesem Zeitpunkt die Darbringung der Erstlinge des Feldes und des jungen Viehs vorgesehen werden kann, wie es im Gesetz bestimmt ist, ist das Schaltverfahren sorgfältig zu handhaben." 48 Probleme entstehen dann durch die Ausbreitung einer Religion über geographische Grenzen hinweg. So wird bei uns heutzutage das christliche Osterfest und seine Auferstehungssymbolik mit dem Frühjahr assoziiert. (Daß das Passahfest, seiner geographischen und kulturellen Herkunft nach, ein Vor-Erntefest ist, wird hierbei bereits ignoriert.) Der von den Philippinen stammende A. J. Chupungco wirft nun die Frage auf, ob der Festtermin auf der südlichen Welthalbkugel beibehalten werden sollte oder nicht. Für ersteres spricht, daß der Ritus als Wiederholung eines historischen Ereignisses gilt. Außerdem ermöglicht das einheitliche Datum allen Gläubigen, weltweit gleichzeitig zu feiern. Andererseits geht die Frühjahrssymbolik dabei verloren; durch den veränderten Umweltbezug erhält das Fest auf der Südhalbkugel der Erde einen ganz anderen Charakter. 49 Dieses kalendarische Dilemma einer Weltreligion ist ohne Sinn- und Sinnlichkeitsverlust nicht lösbar.

45 46 47

Zu den Saturnalien siehe Versnel, Saturnus (1993), bes. 185 ff.; zu den Kronia dens., Kronos (1987/1993). Einschlägig Meslin, Fête 1970. Vgl. D. Baudy, Strenarum commercium (1987).

48

Cie. leg. litium et debet ad bamenta

49

The Cosmic Elements of Christian Passover (1977), 111 ff.

ratio

2, 29: Tum feriarum festorumque dierum ratio in liberis requietem habet iurgiorum, in servis operum et laborum; quas conpositio anni conferre perfectionem operum rusticorum. quod tempus ut sacrificiorum liserventur fetusque pecorum quae dicta in lege sunt, diligenter habenda

intercalandi

est. Die zitierte Ubersetzung stammt von Konrat Ziegler.

53

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

Was hier für die jährlich wiederholten Riten dargestellt wurde, läßt sich auch für kürzere oder längere Periodisierungen zeigen. Die rituelle Gestaltung zyklisch wiederkehrender Zäsuren integriert die jeweils endogene Periodizität des individuellen Biorhythmus, der Sozialstruktur und der außermenschliche Naturumwelt. 50 Am vergleichsweise kurzen Intervall täglich wiederholter Riten fällt die enge Beziehung zum persönlichen Erleben auf. Der Wechsel von Tag und Nacht wird primär als endogene Biorhythmik des Wachens und Schlafens erfahren. 51 Die individualpsychologische Dimension ritueller Wirkung fällt hierbei besonders ins Gewicht; deutlich wird das an abendlichen Riten wie dem „Zubettgehritual" kleiner Kinder, das den Ubergang in die nächtliche Einsamkeit bewältigen soll. Ethologisch gesprochen, handelt es sich dabei um eine ontogenetische Rit u a l i s i e r u n g . D a s profane Interaktionsritual ist angewiesen auf Mutter, Vater oder eine andere Vertrauensperson; doch das gegebenenfalls darin integrierte Abendgebet kann aus der Situationsgebundenheit „mitgenommen" werden und vermag so auch noch den einsamen Erwachsenen zu trösten. Morgendliche Riten hingegen haben die entgegengesetzte Aufgabe. Sie sollen das Individuum in die Gemeinschaft reintegrieren und auf die anstehenden Arbeitsrhythmen einstimmen. Generell läßt sich sagen, daß Tageslaufriten, verglichen mit jährlich veranstalteten, zu stärkerer Privatisierung tendieren. Allerdings sind auch sie häufig auf soziale Einheiten wie die Familie oder die Arbeitsgruppe bezogen. In manchen Kulturen hat das tägliche Aufstehen sein Äquivalent in der Sphäre der Götter. Bekannt ist die ägyptische „Kultbildpflege": Die Gottheit, repräsentiert durch die Kultstatue, wird in einem umfangreichen Zeremoniell geweckt, gewaschen, frisch

50

D i e Synchronisierung von Organismus und Umwelt ist Gegenstand der Biologischen

Rhythmusforschung

(vgl.

Sollberger,

Biologische

Rhythmusforschung

[1972], 108; speziell zur Bedeutung der U m w e l t z y k l e n für den Organismus 112 f.). 51

Vgl. Sollberger, a. a. O . 120 ff. über „zirkadiane" Rhythmen. - Von allen p e r i o d i schen Schwingungen dürfte die einschneidendste Umstimmung, die im Organismus überhaupt v o r k o m m t , der Wechsel vom Wachen zum Schlafen und w i e d e r v o m Schlafen zum Wachen sein, den Rudolf Bilz in seiner A r b e i t „Psychotische Umwelt" (1962) v o r allem unter dem A s p e k t der Störbarkeit untersucht hat. Ebd. 1 u. 140 spricht er von der „kosmischen Zuordnung" zum Tag-Nacht-Rhythmus; er n e n n t sie ein „Biologisches Radikal".

52

Siehe dazu Erikson, O n t o g e n y (1966); vgl. dazu auch A m b r o s e , (1966). A u s f ü h r l i c h e r unten, Kap. I 3. 3.

Ritualization

54

I. Ritual und Wiederholung

angezogen und erhält ein Frühstück. 53 Den Vorbildcharakter des Rituals übernimmt in unserer Kultur die Werbung: Wer das richtige Mundwasser und „Deo" nimmt, den richtigen Kaffee trinkt und das Richtige dazu ißt, wird nicht nur erfolgreich seinen Arbeitsalltag meistern, sondern abends auch noch Glück in der Liebe haben. Auch monatliche Periodisierungen 54 sind neben dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Synchronisation durchaus noch auf kosmische Zyklen bezogen. 55 Das „Mondjahr" das sich aus anschaulichen „Zeitstrecken" zusammensetzt, wird üblicherweise in das „Sonnenjahr" integriert; die Reform Mohammeds, die zu einem unabhängigen Mondjahr geführt hat, 5 6 blieb, soweit ich sehe, singular. Der Monat ist in sich noch einmal strukturiert: Viele Kulturen bevorzugen Neumond- oder Vollmondtage für die Durchführung von Riten. 57 Im antiken Rom wurden die Kaienden und Iden entsprechend markiert; an den dazwischenliegenden Nonen, die an den Kaienden ausgerufen worden waren, wurden die Festtage des Monats angekündigt, 58 so daß die gesamte rituelle Zeitstruktur das Erscheinen des neuen Mondes zum Bezugspunkt nahm. Anders der Wochenrhythmus: Dieser ist meist stärker an praktischen Erfordernissen des gesellschaftlichen Lebens ausgerichtet. Die betreffende Organisationsform verdankt ihre Entstehung mit größter Wahrscheinlichkeit der Einrichtung von Marktzyklen. 59 Unsere heutige Sieben-Tage-Woche ist durch das wöchentlich wiederholte Ritual der Messe gesteuert und definiert sich durch den Wechsel von kollektivem Ruhetag und Arbeit. Dabei haben sich in der Jugendkultur Formen entwickelt, das Wochenende zu „begehen", die durchaus „kultischen" Charakter annehmen. Die Periodisierung als solche hat durch die jüdisch-christliche Tradition immerhin noch eine Verbindung mit antiker Planetensymbolik. Obwohl dem gängigen Zeitgefühl nach vier Wochen ungefähr einem Monat entsprechen, gibt es keinen Versuch, die beiden inkompatiblen Zyklen zu synchronisieren. Genauso läuft die Woche der römischen Antike ganz unver53

Siehe dazu Brunner, Altägyptische Religion (1983 / 1 9 8 9 ) , 87 f. - Vgl. auch Assmann, Doppelgesicht (1983), 214 zum Stundenritual.

54

Vgl. Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920), 148 ff.

55

Diesen entspricht höchstwahrscheinlich die endogene weibliche Zyklizität.

56

Siehe dazu Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920), 251 ff.

57

Vgl. Webster, Rest Days (1916), Kapitel 5.

58

Siehe Varrò ling. 6, 2 7 f.

59

Eine Integration in die Monatseinteilung ist möglich, aber nicht notwendig. Siehe Nilsson, Primitive Time-Reckoning (1920), 3 2 4 ff.

55

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

bunden neben den nach Mondphasen unterteilten Monatszyklen her. 6 0 Im Gegensatz zu diesen fehlt ihr eine rituelle Markierung. Ebensowenig wird — dort wie hier — eine Synchronisierung des Wochenanfangs mit dem neuen Jahr angestrebt. Allerdings sind für religiöse Feste Abstimmungen möglich. Unser Osterfest findet bekanntlich am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond (dem ersten Vollmond nach der Tag- und Nachtgleiche) statt. Das heißt, der Wochen-, Monats- und Jahresrhythmus werden zwar nicht zur Deckung gebracht, aber doch aufeinander bezogen. Wie schon erwähnt, ist hingegen die Integration der Sonnen- und Mondrhythmen nicht außergewöhnlich. Mit der antiken Konzeption des „Großen Jahrs" wurde dem Umstand Rechnung getragen, daß sich nur alle acht Jahre die Konstellation von Sonne und Mond (ungefähr) wiederholt. 61 Was zunächst wie reine kosmologische Theorie anmutet, spielte allerdings in den betreffenden Kulturen eine wichtige Rolle für die gesellschaftliche Praxis. Feste, die geeignet sind, einer komplexen Hochkultur zur Selbstdarstellung zu dienen oder gar mehrere selbständige Gesellschaften durch ein gemeinsames Bezugssystem zu integrieren, sind zwangsläufig mit größerem Aufwand verbunden. Entsprechend verringert sich die Wiederholungsrate. Wenn sie dabei wie im Fall des unten zu besprechenden Zensorischen Lustrums oder der antiken Olympischen Spiele (zumindest idealiter) alle vier Jahre wiederholt wurden, repräsentierte dieser Zeitraum ein Großes Jahr. Durch die Integration in dieses Konzept wurde das Ritual mit all den symbolischen Bezügen versehen, die sich damit verbanden. Die regelmäßig inszenierte Synchronisierung gesellschaftlicher Prozesse mit der Periodizität der Umwelt bleibt dabei allerdings ein Konstrukt: Dem Großen Jahr korrespondiert keine biologische Anpassungsleistung. Erfahrbar wird dieser Wiederholungsrhythmus überhaupt erst im Ritual. Das gilt erst recht, wenn Feste in noch größeren Zeiträumen, etwa alle 25 Jahre oder gar erst nach Ablauf eines Jahrhunderts „wiederholt" werden.

60

D a z u J o h n s o n , Superstitions (1959); Rüpke, Nundinae (1996). - Zur Sieben-Tage-Woche:

Boll,

Hebdomas (1912).

Allgemein

zur

Woche:

Rüpke,

Zeitliche

S t r u k t u r e n (1996). Neben den „Wochenmärkten" die G r u n d für diese Periodisierung waren, gab es in der A n t i k e auch große Märkte, die, mit Festen verbunden, weiträumigere Bedeutung hatten und seltener wiederholt wurden (vgl. die traditionellen „Jahrmärkte"); dazu Ligt /Neeve, Ancient periodic markets (1988). 61

Siehe Cens. 18, 2 ff., zitiert unten in Kap. III 2. 2, A n m . 70.

56

I. Ritual und Wiederholung

Selbst falls es sich bei der letztgenannten Art von Wiederholung nicht um eine reine Fiktion handelt, fehlt solchen Zäsuren jeder Umweltbezug und jede persönliche Erfahrbarkeit. Sie entspringen denn auch eher dem Versuch einer innenpolitisch wirksamen Integration: Der Rückgriff auf ein rituelles Muster über mehrere Generationen hinweg erhöht Prestige und Legitimation der gegenwärtigen Veranstaltung. 62 Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Säkularfeier des Kaisers Augustus. 63 An ihr läßt sich studieren, wie Neujahrs-, Ernte- 64 und Initiationssymbolik 65 integriert werden können, damit ein Fest möglichst umfassend zur Inszenierung eines Neuanfangs, nun nicht eines Jahreszyklus oder Lebensabschnitts, sondern einer neuen Ära wird. Die großräumigen Zyklen ritueller Wiederholung lassen sich unschwer erkennen als Übertragung der erfahrbaren Zyklizität des Jahreslaufs auf die „Konstruktion" von Zeit in bestenfalls theoretisch begründeten, aber immer noch rituell inszenierbaren Dimensionen. Entsprechend verhält es sich mit der Anwendung des Konzepts Wiederholung auf Geschichtsbilder: Gegenwart oder Zukunft verbinden sich mit Heilserwartungen, sofern man in ihnen die Wiederholung einer goldenen Urzeit sieht. 66 Hier wird eine Symbolik, die sich bei näherer Betrachtung aus dem Erntefest ableiten ließe, zur Interpretation des Weltgeschehens verwandt. Während eschatologische Konzeptionen durch das Schließen des Kreises gerade ein Ende des zyklisch sich wiederholenden Weltgeschehens anstreben, erweist sich die Vorstellung wiederkehrender Weltperioden als Projektion des jahreszeitlichen Musters von Altern und Wiederverjüngung, von „Stirb und Werde". 67

62

Siehe dazu Gladigow, Aetas (1983). - In der politischen Funktion vergleichbar die decennalia, die zehnjährlichen Feiern zum Regierungsjubiläum der Kaiser (seit Augustus); vgl. dazu Chastagnol, Fêtes (1988).

63

Siehe das carmen saeculare von Horaz. Grundlegend Pighi, De ludis (1965); zur theoretischen Einordnung Gladigow (wie vorige Anmerkung). Zur Umverteilung von Ähren siehe Wissowa, Saecularfeier (1894), 205. Zum Zusammenhang zwischen Neujahr und Jugendinitiation siehe den folgenden Abschnitt. Vgl. Eliade, Kosmos (1949/1966), 64; D. Heilige (1957), 54; Mühlmann, Chiliasmus (1961), 291 ff. Vgl. Eliade, Kosmos (1949 /1966), 94 ff.; Religionen (1954 /1976), 461.

64 65 66 67

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

57

2.2. Lebenslaufriten Es gehört zu den konstitutiven Merkmalen der bisher besprochenen Riten, daß jede Durchführung als reproduzierbare Handlung konzipiert ist, und zwar im Sinne einer regelmäßigen Wiederholung. Jeden Sonntag findet eine Messe statt, jedes Jahr ist Weihnachten; wie oft wir Ostern erlebt haben, hängt in erster Linie davon ab, wieviele „Lenze" wir zählen. Bei all denjenigen Riten, die eine Änderung der Gruppenzugehörigkeit markieren, sehen wir uns einer anderen Situation gegenüber: Die Lebenslaufriten erlebt ein Individuum in der Regel nur einmal. Taufe, Jugendinitiation, Bestattung sind einmalige Ereignisse, selbst die katholische Heirat ist nur wiederholbar, wenn ein Partner gestorben ist. Das Beitrittsritual zu einer besonderen Gemeinschaft kann ebenfalls als solches nicht wiederholt werden; die Riten mögen sich ähneln, aber wer sich weiteren Gemeinschaften anschließt, vollzieht damit jeweils einen singulären Akt. Dieser Umstand hat Lauri Honko, wie gesagt, dazu bewogen, ihnen das Merkmal Wiederholbarkeit abzusprechen. 68 Doch wäre dies nur dann angebracht, wenn wir die Riten ausschließlich aus der Perspektive dessen sehen wollten, der sie als Initiand erlebt. Mögen auch Statusänderungen im Leben des Individuums je einmalige Ereignisse sein, mögen etliche von ihnen auch unerwartet oder zumindest zu unvorhersehbaren Zeiten eintreten, 69 aus der Sicht der Gesamtgesellschaft sind sie keineswegs singulär, sondern durchaus typisch. Immer wieder müssen neugeborene Kinder, Jugendliche, Ehepartner in eine Gemeinschaft aufgenommen, immer wieder muß die Trennung von Toten vollzogen werden. So erlebt man üblicherweise mehrere Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen im Leben. Wichtiger aber ist, daß es sich dabei nicht um einen Akt handelt, der das jeweils zu initiierende Individuum alleine betrifft: Auch die aufnehmende (bzw. die Abschied nehmende) Gruppe verändert sich. Deshalb stehen zur Bewältigung dieser wiederkehrenden kritischen Situation wiederholbare Verhaltensmuster bereit. Ein solcher Ubergangsritus ermöglicht die Kontinuität des gesellschaftlichen Lebens über die Statusänderung einzelner Individuen (oder bestimmter Gruppen) und die dadurch für alle anderen notwendig werdenden Rangverschiebungen hinweg. Nicht Schwankungen der Naturumwelt werden hier rituell reguliert, sondern Veränderungen der sozialen Umwelt.

68

Z u r Klassifikation (1975), 70.

69

H o n k o , a. a. O . , hält sie hingegen für antizipierbar.

58

I. Ritual und Wiederholung

Auf besonderes Interesse in der religionswissenschaftlichen Forschung stießen die Riten, welche die Jugendinitiation steuern/® Bei der Aufnahme einer nachrückenden Generation in die Gemeinschaft der Erwachsenen handelt es sich in traditionellen Kulturen um einen Vorgang, der die Gesellschaft als ganze in weitaus stärkerem Maße betrifft als beispielsweise eine Eheschließung. Sie werden denn üblicherweise auch kollektiv vollzogen wie etwa heute noch die Konfirmation, die bekanntlich bis ins 19. Jahrhundert mit Schulentlassung und Eintritt in die Arbeitswelt zusammenfiel. Allerdings bringt auch in diesem Bereich - und nicht erst in der Moderne - die zunehmende Komplexität der Gesellschaft eine Tendenz zur Privatisierung und Vereinzelung mit sich. Doch läßt sich für die antiken Kulturen zeigen, daß die familiär gefeierten Jugendweihebräuche noch ihr Äquivalent und Vorbild in offiziellen Riten staatlicher Kulte fanden, wo ausgewählte Jugendliche repräsentativ und öffentlich vollzogen, was im gleichen Zeitraum andere in kleinerem Rahmen feierten. 71 Für weniger komplexe Gesellschaften jedoch, die in kleineren Verbänden leben, gilt, was ich schon andeutete: Die Gruppe als ganze ist von der Verschiebung der Hierarchie betroffen. Gerade hier werden die biologischen Wurzeln solcher Ubergangsriten durchsichtig. Die Bewältigung von Rangkonflikten ist nämlich ein gleichsam klassisches Thema rituellen Verhaltens. Bei sozial lebenden Tieren hat die Ausbildung von Hierarchien die Funktion, daß Konflikte gewaltfrei, alleine im Medium der Kommunikation (ζ. B. durch Droh- und Unterwerfungssignale) gelöst werden können. Lionel Tiger und Robin Fox haben vor diesem Hintergrund die etho-

70

Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Forschungstradition siehe den von U g o Bianchi herausgegebenen Kongreßband Transition Rites (1986). Im selben J a h r erschien - ebenfalls als Resultat eines Symposions - Les rites d'initiation, hg. von Julien Ries. Die d o r t (insbesondere in den Beiträgen von Ries selbst) h y m nisch vorgetragene Eliade-Verehrung halte ich für bedenklich, obwohl auch ich der Auffassung bin, daß Eliades „Mysterium der Wiedergeburt" (1958 / 1 9 6 1 ) ein anregender, lesenswerter „Klassiker" ist. Zur Bedeutung des Initiationsmodells f ü r die G r ä z i s t i k siehe Versnel, What's Sauce . . . (1990 /1993), 48 ff. Einer der w e n i gen Beiträge, die in der Iatinistischen Forschung „Initiation" untersuchen: Torelli, L a v i n i o (1984). Ein weiterer Kongreßband (mit gräzistischem S c h w e r p u n k t , aber auch mit Beiträgen bis hin zur Initiation im modernen Western) sei noch genannt: L'Initiation, hg. v. Alain Moreau (1992). Zu „Initiationsriten in der antiken M i t telmeerwelt" siehe jetzt auch Graf (1993).

71

A m Beispiel der A r r h e p h o r o i ausgeführt bei G. Baudy, Heros (1992), 3 6 ff.

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

59

logischen Wurzeln des Initiationsbrauchtums anschaulich aufgezeigt. 72 Menschengesellschaften pflegen wie andere Primatensozietäten die männlichen Jugendlichen aus der Gruppe auszugrenzen, sobald sie ihre Kindheitsmerkmale verlieren und drohen, zu Konkurrenten der erwachsenen Männer zu werden. Für die Wiedereingliederung gibt es kulturell variable, jedoch strukturidentische Muster. Die Jugendlichen haben bestimmte Leistungen zu erbringen; diese werden im Rahmen der Aufnahmeriten zeremoniell, in ritualisierter Form, vorgeführt. 7 ' Dadurch demonstrieren die Initianden ihre Kooperationsbereitschaft und machen ihren Anspruch darauf geltend, als Erwachsene in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden/ 4 Es geht um eine besonders kritische Situation. Die Aufnahme neuer Mitglieder stört das hierarchische Gleichgewicht einer Gruppe empfindlich. Während in den Populationen anderer Spezies der Zugang zur Möglichkeit der sexuellen Reproduktion7^ ganz im Vordergrund steht, hat das Erwachsenwerden in menschlichen Gesellschaften auch eine besonders akzentuierte wirtschaftliche und eine intellektuelle Seite: Wer als Erwachsener gelten will und vorhat, eine Familie zu gründen, muß diese ernähren können. In Jägerkulturen wird daher den Initianden nicht selten abverlangt, ihre diesbezügliche Fähigkeit unter Beweis zu stellen. Gegebenenfalls müssen Jugendliche auch nachweisen, daß sie bereit und in der Lage sind, das Gruppenterritorium gegen gefährliche Tiere und menschliche Feinde zu verteidigen. Die Reglementierung des Zugangs zum Erwachsenenstatus nimmt in komplexeren Kulturen gegenüber „primitiveren" keineswegs ab, im Gegenteil. Nun geht es schließlich neben dem Zugang zur sexuellen Reproduktion auch um den Zugang zu den wirtschaftlichen Produktionsmitteln: Wer in einer traditionellen Ackerbaukultur einen Hausstand gründen und sich als Bauer etablieren will, braucht Saatgut und Akkerland. Den Anspruch darauf kann wiederum nur anmelden, wer die kulturspezifischen Initiationsleistungen erbracht hat; für Ackerbaukultu-

72 73

Siehe Herrentier (1971 /1976), 49 ff., 2 0 7 ff. F ü r die griechische Kultur beispielhaft untersucht von Vidal-Naquet,

Chasseur

(1968 / 1 9 8 9 ) und Detienne, O l i v i e r (1970). 74

Vgl. D. Baudy, Heischegang (1986), 227.

75

Damit zugleich allerdings auch zu den für das Aufziehen der Jungtiere n o t w e n d i gen Ressourcen.

60

I. Ritual und Wiederholung

ren sind dies typischerweise Hirten- und Militärdienst. 76 Obwohl in patriarchalischen Gesellschaften der Aufnahme der Jungen unter die Erwachsenen weit größere Bedeutung zukommt als der Aufnahme der Mädchen, haben auch diese entsprechende Leistungen zu erbringen. Sie müssen Fertigkeiten in den typischen Ressorts der Frauenarbeit entwickeln. 77 Hinzu kommt, daß neben den jeweils kulturspezifischen Techniken die traditionellen Denkinhalte der Gesellschaft zu erlernen sind, das Kulturgut an Riten, Mythen, Liedern, Tänzen usw. sowie die darin ausgedrückten kulturspezifischen Normen. Initiandinnen und Initianden müssen zeigen, daß sie selbst die Tradition ihrer Gesellschaft zu reproduzieren in der Lage sind.7® In all diesen Bereichen sind konkrete Leistungen zu erbringen, die im Verlauf des Initiationsrituals öffentlich zur Schau gestellt werden. Dies kann realiter geschehen, wenn beispielsweise der im Rahmen des Athenakults von Initiandinnen angefertigte Peplos der Göttin am Panathenäenfest dargebracht wird. Auf andere Kompetenzen verweisen symbolische Handlungen, so etwa, wenn Jugendliche durch Waffentänze ihre militärische Qualifikation demonstrieren. Traditionskenntnis läßt sich durch Rezitationen, Gesänge und Tanzdarbietungen nachweisen. Was für alle Riten gilt, erweist sich beim Initiationsritual als besonders bedeutsam: Der Ritus repetiert nicht nur — in seiner Eigenschaft als wiederholbares Handlungsmuster — das Ritual des letzten Jahres, sondern er wird inszeniert als Wiederholung einer vorbildhaften mythischen Urhand76

Z u m idealtypischen Lebenslauf im antiken Griechenland siehe G. Baudy, Cereal Diet (1995).

77

Instruktiv dazu Brulé, Fille (1987), 9 9 ff. zum antiken Athen und 116 ff. zu r ö m i schen Parallelen.

78

Ein hübsches Beispiel bietet A p u l . Flor. 6, 9 ff. Er lobt das Erziehungswesen der indischen G y m n o s o p h i s t e n : „Sobald also nach Aufstellen der Tafel alle jungen Leute von verschiedenen O r t e n und Geschäften zum Mahle z u s a m m e n k o m m e n , fragen die Meister, noch ehe die Speisen aufgetragen werden, was ein jeder von Sonnenaufgang bis zu dieser Tageszeit Gutes getan hat. Da e r w ä h n t dann der eine, er sei zwischen zweien zum Schiedsrichter gewählt worden und habe die S p a n nung gemindert, die Feindschaft gelindert und den A r g w o h n v e r h i n d e r t u n d so die beiden aus Feinden zu Freunden gemacht; ebenso ein anderer, er habe seinen Eltern bei einem bestimmten Befehl Gehorsam geleistet, und w i e d e r ein anderer, er habe etwas durch eigenes Nachdenken gefunden oder durch die Darlegung eines anderen gelernt, anderes erwähnen schließlich die übrigen. Wer nichts b e i z u b r i n gen hat, weshalb er essen dürfte, der w i r d ohne Essen z u r A r b e i t hinausgejagt." (Übers. Rudolf Helm)

2. D a s Ritual als wiederholbare H a n d l u n g

61

lung. Diese überhöht die Lehrer-Schüler-Situation, in der sich der junge Mensch befindet; denn er wiederholt Verhaltensweisen, die auch die älteren Gesellschaftsmitglieder bereits von ihren Altvorderen übernommen haben. Andererseits hat, wie oben beschrieben, auch hier das Ritual selbst Vorbildcharakter. Der Initiand soll befähigt werden, im profanen Leben diejenigen Handlungen erfolgreich zu verrichten, deren heiliges Urbild er im Ritual vollzieht. Wenn das Leben des Individuums nicht nur als Wiederholung der „Exempla" seiner Ahnen erscheint, so daß der Enkel sogar als sein wiedergeborener Großvater g i l t / 9 sondern wenn Jungen und Mädchen göttliche Vorbilder haben,8® kann dies auch einen emanzipatorischen Sinn gewinnen. Sein Leben nicht als Kopie einer Kopie zu führen, sondern einem Urbild nachzufolgen, stärkt die Eigenverantwortlichkeit. Dieser Aspekt ist auch wichtig für Aufnahmeriten Neugeborener: Die Konzeption der Gotteskindschaft 81 sorgt dafür, daß ein Kind der elterlichen Willkür nicht schutzlos ausgeliefert ist, denn die leiblichen Eltern werden dadurch der Gottheit gegenüber rechenschaftspflichtig. Bruchstellen im Leben von Individuen durch Riten zu umrahmen, die dem kulturellen Selbstverständnis nach die Wiederholung einer mythischen Urhandlung darstellen, kann daher sowohl bedeuten, im Rahmen der Sozialisation starken normierenden Druck auszuüben, als auch, das Individuum mit gewissen Rechten zu versehen, die es gegenüber den Erwartungen von Seiten seiner nächsten U m gebung widerstandsfähig machen. Wenn bisher Kalenderriten und Lebenslaufriten getrennt behandelt wurden, so geschah dies eher aus arbeitstechnischen denn aus prinzipiellen Gründen. Zumindest strukturell gesehen, weisen sie nämlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Wie schon der Volkskundler Arnold van Gennep aufgezeigt hat, lassen sich beide Formen als Übergangsriten definieren, mehr noch: Ihr jeweiliger Verlauf folgt derselben Struktur. Der Sequenz von Auflösung der Ordnung - Ausnahmezustand — Rückkehr 79

Vgl. Eliade, M y s t e r i u m (1958 /1961), 14 ff., 44 ff., 218 ff.

80

In der antiken griechischen Kultur finden wir ein gestaffeltes S y s t e m vor, das der K o m p l e x i t ä t ihrer Struktur Rechnung trägt: Jugendliche „ w i e d e r h o l e n " im Rahmen ihrer Initiationsfeiern üblicherweise die mythischen Taten lokaler H e r o e n und H e r o i n n e n ;

diese wiederum sind typologisch auf die gemeingriechischen

G ö t t e r und Göttinnen bezogen. 81

S i e h e dazu Delling, Gotteskindschaft (1981). D i e s e K o n z e p t i o n ist keinesfalls s p e zifisch christlich! Ich nehme sie z. B. auch für den Erichthonios-Kult an, siehe K u l t o b j e k t (1993), 147 mit A n m . 54.

62

I. Ritual und Wiederholung

zur Normalität, die (wie erwähnt) beim wichtigsten Vertreter aller Jahreslauffeste, dem Neujahrsfest, besonders auffällig in Erscheinung tritt, entspricht die Dreiphasigkeit aller Initiationsriten, die sich zusammensetzen aus den vorbereitenden Trennungsriten, der Inszenierung der Marginalität bzw. des Übergangs und den darauf folgenden Aggregationsriten. 82 Auf der symbolischen Ebene wird die Abfolge von Exkommunikation und Reintegration, von Ende und Neubeginn, als Tod und Wiedergeburt inszeniert. Diese formale Entsprechung mag mit dazu beitragen, daß ebenso, wie manche Forscher den Neujahrscharakter vieler Feste diagnostizieren, andere allenthalben den Initiationscharakter wahrnehmen. 83 Es gibt allerdings darüber hinaus auch noch ganz reale Entsprechungen: Sofern die Jahreslaufriten Zäsuren im Wirtschaftsjahr markieren und sofern es sich dabei um Abschluß oder Neubeginn von Arbeiten handelt, die üblicherweise von Erwachsenen durchgeführt werden, gibt es bei jedem einzelnen dieser Schritte für Jugendliche ein erstes Mal: Sie sind beispielsweise in einer Ackerbaukultur zum ersten Mal bei Erntearbeiten dabei, später beim Pflügen, bei der Aussaat. Dieser Umstand kann die rituelle Gestaltung mitbestimmen. Zu fragen wäre, ob die prägende Kraft nicht sogar vom Initiationsritual ausging: ob nicht gerade der Umstand, daß jede Zäsur im Wirtschaftsjahr auch die Integration der Neulinge erforderte, dazu beigetragen hat, daß — und wie — diese Übergänge markiert wurden. 84 Wenn eine Gesellschaft wie die athenische an den Panathenäen 85 den Beginn eines neuen Jahres gleichzeitig mit der Jugendinitiation feiert, verleiht sie dem Fest, das durch diese Überlagerung entsteht, eine neue Dimension. Das Anfangen läßt sich nun symbolisch auf mehreren Ebenen darstellen: Die Athener feierten bei ihrem Fest die Wiederholung der Kosmogonie, der Kulturentstehung und der Entstehung ihrer Stadt; die jugendlichen Initianden vollzogen mit der Inszenierung ihres Erwachsenwerdens die Entstehung der Menschheit, so wie sie dem Selbstverständnis der Athener entsprach, noch einmal nach.

82

83 84 85

Siehe van Gennep, Rites (1909 /1969), 14: „le schéma complet des rites de passage comporte . . . des rites préliminaires (séparation), liminaires (marge) et postliminaires (agrégation)". - Vgl. auch G. Baudy, Exkommunikation (1980), 223ff. Kritisch Versnel, What's Sauce . . . (1990 /1993), 72 ff. Ich greife hier einen Gedanken meines Mannes G. Baudy auf. Siehe dazu Burkert, Kekropidensage (1966) und Homo Necans (1972), 173 ff. Vgl. auch G. Baudy, Heros (1992), 25 ff.

2. D a s Ritual als wiederholbare H a n d l u n g

63

Von solchen Inszenierungen geht natürlich eine große prägende Kraft aus, und diese Normierung ist kulturell gewollt. Auf das Individuum wird ein starker Anpassungsdruck ausgeübt; seine Sozialisierung wird gerade in Griechenland als Akt der „Zähmung", wie er aus der Viehzucht geläufig war, verstanden. Läßt sich dies auf die Funktionsweise wiederholbarer Riten allgemein übertragen? Dienen wiederholbare soziale Verhaltensmuster zwangsläufig der Stabilisierung bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse? Man muß die Fragen wohl oder übel mit Ja beantworten, doch zugleich können Riten, in denen bestimmte Forderungen artikuliert werden, entweder eine systeminterne und mehr oder weniger institutionalisierte Form der Kritik darstellen oder aber als Medium und Sprungbrett für realen Protest dienen. Zum einen sind gerade in das Initiationsritual typischerweise Heischeriten eingebaut. Die Aufnahme in die Bürgerschaft setzt, wie oben erwähnt, bestimmte Vorleistungen voraus, die im Rahmen des Fests nachzuweisen sind.*'6 Umgekehrt erwerben sich die Initianden eben durch das Erbringen dieser Leistungen einen Anspruch auf ihren Platz in der Gesellschaft, auf eine Braut, gegebenenfalls ein Stück Ackerland. Die Demonstration der erbrachten Qualifikation im Rahmen eines Heischerituals kann dabei ganz unterschiedliche Züge annehmen. Doch letzten Endes verbleiben die Riten, wie es schon Max Gluckman für die „Rebellionsrituale" gezeigt hat, 8 7 im Rahmen des Raumes, den die bestehende Gesellschaft ihnen gewährt. In dem Moment, wo tatsächlicher politischer Protest aus ihnen entsteht, hören sie auf, Rituale zu sein. Das bedeutet wiederum nicht, daß soziale und politische Protestbewegungen ganz ohne rituelle Muster 8 8 auskämen; wenn sie darauf zurückgreifen, 8 so deshalb, weil auch sie aus den Funktionen von Wiederholung Profit ziehen. Das Ritual erfüllt seine kommunikative Aufgabe nach zwei 86

S i e h e o b e n , S. 59 mit A n m . 73.

87

Rituals of Rebellion (1954 / 1 9 7 1 ) ; vgl. dens., C u s t o m (1956 / 1 9 7 3 ) , bes. 109 ff. zur „ L i c e n c e in Ritual". E. N o r b e c k , African Rituals (1967) kritisierte in diesem Z u s a m m e n h a n g die Bezeichnung „rebellion" und ersetzte sie durch „conflict".

88

Etwa das Modell „ H e i s c h e r i t u s " das üblicherweise eine „Wüstungsdrohung" enthält: dazu D . Baudy, Heischegang (1986), 220 ff.

89

Vgl. Weidkuhn, Fastnacht (1969). Ein interessantes Beispiel: D e r „Trinkelstierk r i e g " im Wallis im Jahre 1550. Siehe dazu Wackernagel (1936 / 1 9 5 6 ) . Vgl. auch Werlens Interpretation der „Walliser M a z z e " (1978). Eine detaillierte Analyse des „Karneval[s] in R o m a n s " (um 1580), der blutig endete, bietet L e R o y L a d u r i e (1979 / 1 9 8 2 ) .

I. Ritual und Wiederholung

64

Seiten: Zum einen erleichtert es die Verständigung und Synchronisierung der Teilnehmer untereinander. Das bereitliegende Aktionsmuster läßt sich bereits durch eine unauffällige Signalhandlung in Gang setzen, die Ausführenden können auf ein vertrautes Rollenverhalten zurückgreifen. Aber auch die Adressaten kennen den Signalwert der rituellen Gesten und Requisiten. So kann damit gerechnet werden, daß auch die Gegner die an sie gerichteten Forderungen und Drohungen verstehen.9® Über ein vorgegebenes Muster zu verfügen, stärkt die Verhaltenssicherheit und verhilft dazu, die eigenen Ansprüche für legitim zu erklären. Nicht zuletzt deshalb geben Feste häufig den Termin für Protestaktionen vor. Die Teilnahme vieler Menschen und die Ausnahmesituation gegenüber dem Alltag erleichtern die Gruppenbildung. Medien der Stimmungsübertragung wie Musik und Tanz tun ein übriges. Mit diesen Erwägungen haben wir allerdings den Bereich sowohl der Kalender- als auch der Lebenslaufriten verlassen. Politische Krisen mögen zwar unter bestimmten Bedingungen erwartbar sein, doch eignet ihnen — und somit auch den Strategien, die zu ihrer Bewältigung dienen — nicht dieselbe Regelhaftigkeit wie den bisher behandelten Klassen von Riten.

2.3. Rituelle Notfallreaktionen Selbst für plötzlich auftretende Krisensituationen9* hält jede Religion wiederholbare Muster bereit. Solche „Notfallreaktionen" wie zum Beispiel Stoßgebete oder Riten, mit denen schlimmen Vorzeichen begegnet werden soll, sind ja gerade dann besonders wirkungsvoll, wenn sie nicht ad hoc neu entworfen werden müssen, sondern ohne Verhaltensunsicherheit und Verzögerung auszuführen sind. Darin entsprechen sie der Funktionsweise angeborener Reaktionsmuster auf akute Gefahrensituationen.92 Gerade kulturell tradierte Notfallreaktionen bedürfen der zusätzlichen Stabilisierung. Deshalb verspricht diejenige Handlungsweise die größte Wirkung, die sich - und sei es auch nur fiktiv - als Wiederholung einer in ähnlichen Situationen bereits bewährten Krisenbewältigung ausweist. Natürlich müssen Riten, die überraschend auftretende Dysfunktionen wie Krankheiten 90

D a z u sehr gut Werlen (wie vorige Anm.).

91

Grundsätzliche Überlegungen: Hauschild, Krise (1993).

92

G r u n d l e g e n d : G l a d i g o w , K o n k r e t e Angst (1979). Vgl. Burkert, Creation (1996), 1 5 6 ff.

2. Das Ritual als wiederholbare Handlung

65

oder eine durch Vorzeichen angedeutete Störung des kosmischen Gleichgewichts therapieren sollen, auch auf das jeweilige Problem gezielt eingehen. Das „Prinzip Wiederholung" bedarf bei solchen Riten in besonderem Maße seines Gegenstücks, der Variation bzw. der Innovation. Die Anwendung des bereitliegenden Musters erfolgt nur dann optimal, wenn es den ganz speziellen Erfordernissen der Situation angepaßt werden kann. Die Einschaltung eines Spezialisten, der als Kenner nicht nur der rituellen Techniken, sondern auch der Tradition ihrer Anwendung gilt, kann hier den Betroffenen ein Höchstmaß an Verhaltenssicherheit bei gleichzeitiger optimaler Situationsanpassung gewährleisten.9^ Eine besonders erfolgreiche Verbindung zwischen der Wiederholung einer bewährten Handlungsstrategie und einer variablen Durchführung ist beispielsweise das schamanistische Heilungsritual. 94 Wie bei jeder Heilbehandlung, die psychosomatische Erkrankungen beheben soll, hängt der Erfolg zu einem guten Teil von dem Vertrauen ab, das der Kranke — und eventuell auch seine nächste Umgebung — dem Arzt entgegenbringt. Dieses Vertrauen gründet sich auf eine ungebrochene Kette wiederholter Inititationsriten: Jeder, der zum Schamanen bestimmt ist, geht bei einem „amtierenden" Schamanen in die Lehre; nachdem er von diesem das Traditionswissen erlernt hat, das ihn zur Diagnose möglicher Probleme und zu deren Therapie befähigt, vollzieht sein Lehrmeister mit ihm das gleiche Initiationsritual, mit dem er selbst einst geweiht wurde. Dieses präformiert in seiner Struktur die Heilungsrituale, die der Schamane später durchführen wird. Eine entsprechende Strategie stellt die römische Praxis dar, die rituelle Antwort auf Unheilszeichen dadurch zu suchen, daß Spezialpriester, die Quindecimviri sacris faciundis, vom Senat beauftragt wurden, bestimmte Bücher einzusehen, welche die Orakelsprüche der Sibylle enthalten sollten. 95 Dieses Verfahren ermöglichte es den Priestern, die Opferfeiem, die in jedem Fall angeordnet wurden, ganz spezifisch auf die gegenwärtige Krisensituation auszurichten und zugleich der rituellen Therapie die denkbar größte Wirkung dadurch zu sichern, daß sie mit der normativen Autorität angeblich sehr alter „heiliger" Texte versehen wurde. Daß solche Bü-

93

Gerade polytheistische Religionen verlangen eine gewisse K o m p e t e n z in der „ A n wendung": Siehe Gladigow, Χ Ρ Η Σ Θ Α Ι (1990) und dens., E r w e r b (1997).

94

Siehe dazu Eliade, Kosmos (1949 / 1 9 6 6 ) , 70 ff.; vgl. dens., Schamanismus (1974). Besonders wichtig in diesem Zusammenhang: K n o l l - G r e i l i n g , Die sozial-psychologische Funktion (1950). Vgl. auch G. Baudy, Exkommunikation (1980), 228 ff.

95

Ein Beispiel siehe unten, Kap. II 4. 4.

66

I. Ritual und Wiederholung

cher in Schriftkulturen die Rolle ritueller Wiederholung übernehmen, hat Jan Assmann 96 eindringlich gezeigt. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß rituelles Handeln einen Spezialfall von Wiederholungshandeln darstellt. Ob regelmäßig wiederkehrende Zäsuren im Wirtschaftsjahr, erwartbare Einschnitte im Lebenslauf oder überraschend auftretende Krisen zu bewältigen sind — rituelle Handlungsmuster bieten ebenso wie unmittelbar zweckgerichtete, instrumenteile Wiederholungshandlungen den beteiligten Subjekten erhöhte Verhaltenssicherheit und damit größere Chancen, die Krise zu bewältigen. Dies gilt, das möchte ich hier besonders betonen, gleichermaßen für angeborene Reiz-Reaktions-Mechanismen wie für erlerntes Verhalten, die beide sowohl bei uns Menschen als auch bei anderen Lebewesen vorkommen. Beide stellen funktionale Äquivalente dar und treten nicht selten in kombinierter Form auf. Riten sind soziale, kommunikative Handlungsformen. Sie sind in menschlichen Gesellschaften stets kulturell vermittelt, also tradiert und erlernt, was nicht ausschließt, daß Basiselemente angeborene Grundlagen haben. Verschiedene Formen des Grüßens beispielsweise, wie sie sowohl in profanen Interaktionsritualen als auch in religiösen Riten Brauch sind, also Lächeln, Verbeugungen u. dgl., beruhen nachweislich auf angeborenen, kulturell überformten Verhaltensdispositionen. Dies trägt zu ihrer emotionalen Wirksamkeit bei. Bei diesem Uberblick über die Hinsichten, unter denen sich Riten als Sonderfall von Wiederholungshandeln erweisen, wurde nun schon mehrfach die Wirkungsweise von rituellem Handeln angesprochen. Wer diese analysieren will, findet im ethologischen Begriff der Ritualisierung ein wertvolles Instrument. Ihm ist das nächste Kapitel gewidmet.

96

D. kulturelle Gedächtnis (1992), 88 ff.

3. Form und Bedeutung: Die ethologische Theorie der Ritualisierung 3.0. Einleitung Chaotische Handlungsabläufe lassen sich nur sehr schwer wiederholen und auch schwer wiedererkennen. Ein Umherlaufen ohne sichtbare Ordnung beispielsweise läßt sich nicht von anderen nachahmen, ja der Ausübende ist später sogar selbst kaum in der Lage, seine eigenen Schritte nachzuvollziehen. Die geordnete Schrittfolge eines Tanzes hingegen kann man sich merken, man kann sie identifizieren und sie gerade deswegen auch lehren und lernen. Was an rituellem Verhalten so sehr auffällt: die starke Formalisierung, erweist sich somit als Voraussetzung für seine Wiederholbarkeit, insbesondere dann, wenn die Handlungsmuster kulturell vermittelt werden. Strukturbildend in rituellen Sequenzen ist oft die Wiederholung einzelner Formelemente. Bei komplexeren Riten finden sich auffallend häufig dreimalige (oder auch mehrmalige) Wiederholungen von Sprach- und Handlungsteilen.1 Gleiche Eingangs- und Schlußformeln, zu denen auch der Refrain oder die Kleinstformen Alliteration und Reim gehören, erfüllen dieselbe Aufgabe, nämlich eine Ordnung im Handlungsablauf zu produzieren, die Sequenzen einleitet und abschließt, Querbeziehungen zwischen Teilen herstellt und so die Aufmerksamkeit lenkt. ^ Besonders charakteristisch ist, daß manche Elemente regelmäßig, in einem bestimmten Rhythmus wiederholt werden. Wir kennen dieses Ordnungsprinzip bei Bewegungsabläufen aller Art; bei den verschiedensten Sprachformen 3 ist es nicht weniger wichtig. Eine solche Stilisierung er1

Zur Bedeutung der Dreizahl siehe Tavenner, Three (1916); Lease, Number (1919); Mehrlein, Drei (1959).

2

Reiches Material bietet die Römische Messe, untersucht von Werlen,

Ritual

(1984), 148 ff. 3

Sprache als Verhaltenssystem untersucht sehr überzeugend Sager, Verbales Verhalten (1995).

68

I. Ritual und Wiederholung

leichtert das Wiedererkennen und somit das Erlernen. Eine Armbewegung beispielsweise identifizieren wir aus der Ferne als Begrüßungs- oder Abschiedswinken gerade wegen der wiederholten rhythmischen Bewegung; ein Gedicht läßt sich viel leichter auswendiglernen als ein Prosatext. Nicht weniger wichtig ist allerdings, daß auf diese Weise der Energieverbrauch gesenkt werden kann: Rhythmisierung macht Bewegungen generell ökonomischer. Deshalb haben alle unentbehrlichen, automatisch ablaufenden Lebensfunktionen wie Atmung, Herzschlag usw. ihren Rhythmus, das heißt, bestimmte Bewegungsmuster werden relativ gleichförmig wiederholt. Auch willkürlich steuerbare Bewegungsabläufe tendieren zu solcher Strukturierung, weil zusammen mit der Energieeinsparung eine größere Ausdauer zu erreichen ist. Das gilt für den Arbeitsrhythmus bei vielen Tätigkeiten genauso wie für das Schreiten in einer Prozession oder das Tanzen. Entscheidend aber für die große Bedeutung, die verschiedenen Formen der Stilisierung und Rhythmisierung im Rahmen von rituellem Verhalten zukommt, erscheint ein weiterer Aspekt, und zwar die kommunikative Funktion, welche die Formalisierung jeweils erfüllt. Hier ist, wie oben erwähnt, 4 die biologische Forschung auf gewisse Übereinstimmungen zwischen menschlichen Handlungsformen und denen anderer Lebewesen aufmerksam geworden. Damit war das Interesse verknüpft, auch kommunikatives Verhalten in das evolutionstheoretische Modell zu integrieren. Wir als Religionswissenschaftler(innen) profitieren davon, wenn wir die Besonderheiten rituellen Verhaltens nicht nur beschreiben, sondern ableiten wollen. Erklären läßt sich die Formalisierungstendenz ritueller Handlungsabläufe nämlich gerade dann, wenn wir ihre kommunikative Funktion und ihre stammesgeschichtliche Entstehung bedenken. Die ethologische Forschung untersuchte die Entwicklung von Interaktionsritualen unter dem Stichwort „Ritualisierung".^ Dieser Begriff bezog sich zunächst nur auf die

4 5

Siehe Einleitung, S. 12 f. Z u r D e f i n i t i o n von Ritualisierung vgl. Huxley, Introduction (1966), 2 4 9 f. u. 2 5 7 f.;

Leyhausen,

(1970/1975),

233;

Biologie ( 1 9 6 7 / 1 9 7 3 ) , Lorenz,

Rückseite

3 5 4 f.; Wickler,

(1973/1977),

Stammesgeschichte

2 5 9 ff.; Eibl-Eibesfeldt,

G r u n d r i ß ( 1 9 6 7 / 1 9 8 0 ) , 1 6 0 ff.; dens., Ritual (1979). Siehe auch den interessanten Beitrag v o n Smith, Ritual (1979).

69

3. F o r m und Bedeutung: T h e o r i e der Ritualisierung

Ausbildung genetisch verankerter Kommunikationsformen.6 Doch ließ sich zeigen, daß neben dieser „Ritualisierung" im engeren Sinn die „ontogenetische Ritualisierung" und die „kulturelle Ritenbildung" nach den gleichen Prinzipen vor sich gehen. Da die menschlichen Formen des Sozialverhaltens auf angeborenen Dispositionen beruhen und zugleich stets kulturell geformt sind, 7 verspricht eine Theorie, die beide Aspekte zu integrieren in der Lage ist, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis kultureller Ritenbildung. Von hier aus bieten sich dann Anschlußmöglichkeiten nach verschiedenen Seiten. Eine davon ist die Semiotik. Innerhalb der Religionswissenschaft hat Ole Davidsen einen sehr interessanten Entwurf vorgelegt. Er fordert eine autonome „Religionssemiologie" die mit der Religionssoziologie und -psychologie ein Dreigestirn bildet.8 Die von ihm entworfene Skizze bietet m. E. durchaus Entfaltungsmöglichkeiten. Doch habe ich zwei kritische Anmerkungen. Diese richten sich weniger gegen Davidsen selbst als gegen den semiotischen Ansatz insgesamt. Zum einen bleiben semiotische Analysen an der Oberfläche, solange sie — ganz allgemein gesprochen - den Umgang mit Zeichen beschreiben. Meist wird dabei vorausgesetzt, daß diese Zeichen und ihre Verknüpfungsregeln rein konventionell entstanden seien. Weiter führte hier m. E. die Einsicht Victor Turners, der übrigens biologischen Erkenntnissen gegenüber weit aufgeschlossener war^ als seine Verehrer wahrhaben wollen:1® Er hat am Beispiel 6

S o bei H u x l e y , C o u r t s h i p H a b i t s (1914), 506 ff., der allerdings bereits den Vergleich

mit „various human affairs" zieht. Siehe auch L o r e n z ,

D . sog.

Böse

(1963 / 1 9 7 5 ) , 6 6 ; dens., Evolution (1966), 278. 7

Siehe

dazu

Eibl-Eibesfeldt,

Biologie

(1984),

610 ff. Vgl.

Morris,

Mensch

(1977 / 1 9 7 8 ) . Beide Forscher untersuchen zusammen mit Mitarbeitern und S c h ü lern in G r o ß p r o j e k t e n angeborene Dispositionen u n d

kulturelle Variationen.

8

S i e h e D a v i d s e n , Status (1981). Vgl. unten, A n m . 17!

9

Siehe besonders seine forschungsgeschichtliche Einordnung der Prozeßanalyse: Process (1977), 75. D a ß er sich auf Soziobiologie, „biocultural e c o l o g y " und verw a n d t e Disziplinen (vgl. dens., Body [1983 / 1 9 8 5 ] sowie N e w

Neurosociology

[1985] und E p i l o g u e [1985]) bezieht, die Ethologie jedoch nicht nennt, ist kulturell bedingt - erstere ist in Amerika zu Hause, letztere in E u r o p a . 10

Aufschlußreich das Nachwort von Eugene Rochberg-Halton zu Turner, Ritual (1969 / 1 9 8 9 ) , 198-213, bes. S. 212: „Aus der Perspektive der Kulturanthropologie und des zeitgenössischen intellektuellen Lebens betrachtet, entwickelte Turner sich zu einem

Häretiker, weil er die Möglichkeit

zuließ,

daß die

Biologie

menschliches H a n d e l n beeinflußt." D i e F a n - G e m e i n d e war davon „peinlich b e rührt".

70

I. Ritual und Wiederholung

der Farben Rot, Weiß und Schwarz gezeigt, daß ihre Verwendung im Ritual durchaus kulturell variabel ist, aber doch nicht willkürlich, „because they epitomize the main kinds of universal-human organic experience. . . . In many societies these colours have explicit reference to certain fluids, secretions or waste-products of the human body." 1 1 Das ließe sich m. E. verallgemeinern. Bestimmte Dinge können bestimmte Bedeutungen annehmen. Sie tun es nicht notwendigerweise, und auch nur dann, wenn sie überhaupt dafür geeignet sind.1^ Versähe man die „Semiologie" mit einem ethologischen Fundament, ließen sich nicht nur manche Irrtümer vermeiden; der genetische Blick, der durch die Theorie der Ritualisierung eröffnet wird, vermag auch die eher deskriptive semiotische Analyse u m eine erklärende Tiefendimension zu ergänzen. Wichtiger noch erscheint mir ein zweiter Aspekt. Die Semiotik präsentiert sich zwar gegenwärtig wie kaum eine zweite wissenschaftliche Ausrichtung als dasjenige Medium, in dem Schranken nicht nur zwischen verschiedenen akademischen Disziplinen, sondern auch zwischen Natur- und Kulturwissenschaften aufgehoben werden können. 1 3 Sie findet damit zurück zu den ganzheitlichen Positionen, mit denen ihre Gründerheroen angetreten sind. 14 Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Bedauerlich, wenn auch verständlich, finde ich aber die häufig anzutreffende Arbeitsteilung, die freilich rühmliche Ausnahmen wie Sven

11

12

13

14

Siehe Colour Classification (1966), 79 f.; vgl. dens., Syntax (1966); Forest (1967), 54 f. Siehe auch Introduction (1982), 17, wo er zur Beziehung von signifiant und signifié grundsätzlich bemerkt: „.Natural" resemblances are culturally selected." Entsprechendes gilt für psychoanalytische Interpretationen: Der vielzitierte Lippenstift kann ein phallisches Symbol sein. Bei der Verwendung als Gebrauchsgegenstand ist er es sicherlich nicht. Trotzdem ist er geeignet, als Signal eingesetzt zu werden. Er ist dabei gegen einen anderen Gegenstand, der entscheidende Merkmale mit ihm teilt, (z. B. einen Bleistift) austauschbar. Derartige spontane Bedeutungsverleihungen können kulturell fixiert werden. Walter A. Koch beschreibt die Fragestellung des 1986 in Bochum durchgeführten Symposiums über „The Nature of Culture" als „transdisziplinär" (Natur [1989], 599): „Zu dieser Haltung gehören u. a.: geduldiger Enthusiasmus gegenüber kohärenten, ganzheitlichen Wissenszonen, besonders dort, wo diese das eigene Forschungsgebiet transzendieren; die Bereitschaft, in fremden Bereichen mitzudenken, und vor allem eine unerschöpfliche Toleranz gegenüber denjenigen, welche .unberufen' in das eigene Gebiet kognitiv einzudringen versuchen". Zu Roland Posners Engagement siehe oben, Einleitung, mit den Anm. 18 u. 31. So beruft sich Walter A. Koch, Natur (1989), 619, auf Roman Jakobson, Sven Sager, Verbales Verhalten (1995), 1, auf Charles Morris.

3. F o r m u n d B e d e u t u n g : T h e o r i e d e r R i t u a l i s i e r u n g

71

F. Sager 1 5 kennt: Semiotiker, die sich mit menschlichen Kulturen befassen, sind üblicherweise Linguisten. Für die „Tiere" sind Biologen zuständig. Das heißt, soweit menschliche Kommunikation betroffen ist, werden die Interpretationsmodelle aus der artspezifischen Wort- und Begriffssprache gewonnen. Wenn daher die Linguistik sich als d i e Semiotik aller Kulturwissenschaften anbietet, führt uns das schließlich zu einem verkopften Verständnis von Kultur, die mit Sprache (und zwar einer bestimmten Form von Sprache) identifiziert wird - eine für „Geisteswissenschaftler" freilich naheliegende Projektion! Doch genau daher rührt der zweite Einwand, den ich gegen Davidsens Konzeption habe: Semiologie als gleichwertige Disziplin neben Psychologie und Soziologie zu etablieren, ist sicherlich interessant. Aber nur dann, wenn ihr Gegenstand nicht allein die religiöse S p r a c h e 1 6 ist. Wir brauchen vielmehr eine Semiologie rituellen Handelns: Geräusche, Farben, Bewegungsmuster, Gerüche im Ritual — alles kann Zeichencharakter haben; eine Religionssemiologie muß die verschiedenen Formen der nonverbalen Kommunikation mit einbeziehen. 1 ^ Und das kann sie, denke ich, am besten, wenn sie ein ethologisches Fundament hat. Wie könnte dieses Fundament aussehen? Der ethologischen Definition nach bedeutet „Ritualisierung" die Entstehung von Signalen und .Interaktionsriten1, und zwar auf folgende Art und Weise: Ursprünglich bedeutungslose oder einem bestimmten Zweck dienende Erscheinungsformen bzw. Verhaltensweisen von Lebewesen durchlaufen einen Form- und Funktionswandel, indem sie kommunikative Bedeutung erlangen. Dadurch ist zugleich die künftige Richtung ihrer formalen Entwicklung vorgezeichnet. N u n funktioniert bekanntlich der Evolutionsprozeß nicht zielgerichtet, sondern vielmehr dadurch, daß ein genetisch verankertes Merkmal sich unter bestimmten Bedingungen als besser geeignet erweist als ein anderes. Daraus resultiert für die damit ausgestatteten Lebewesen ein Wettbewerbsvorteil. Ihre Fortpflanzungschance und damit die Wahrscheinlichkeit, eben dieses Merkmal zu vererben, ist größer. Manchmal sind sie sogar die einzi-

15

S e i n e A r b e i t ü b e r „Verbales V e r h a l t e n " (1995) ist „ E i n e s e m i o t i s c h e S t u d i e

zur

linguistischen E t h o l o g i e " - so der programmatische Untertitel, den die D u r c h f ü h rung glänzend einlöst. 16 17

W i e e t w a bei W a a r d e n b u r g , L a n g u a g e (1979). Zwei sehr ansprechende Beispiele: C a n c i k , R o m e (1985/86) und G l a d i g o w ,

Audi

J u p p i t e r (1992). Z u m a l l g e m e i n e n R a h m e n e i n e r K u l t u r s e m i o t i k vgl. a u c h C a n c i k / M o h r , R e l i g i o n s ä s t h e t i k (1988).

72

I. Ritual und Wiederholung

gen, die überhaupt überleben - daher die Formel vom „survival of the fittest". Es ist ein leider immer noch weit verbreiteter Irrtum, daß damit zwangsläufig das Uberleben des Stärkeren gemeint sei. Körperkraft ist nur e i n möglicher Parameter, nach dem sich die Fähigkeit, Umweltherausforderungen zu bewältigen, bemißt. Intelligenz oder soziale Kooperationsbereitschaft sind andere, gegebenenfalls nicht weniger wichtige. Was zum Tragen kommt, ist eine Frage des jeweiligen Zusammenhangs. Zu diesem Verständnis hat die Ritualisierungstheorie viel beigetragen, nämlich durch den Nachweis, daß sich neuentstandene Strukturen nicht nur dann durchsetzen, wenn sie einen unmittelbaren Überlebensvorteil bieten, sondern daß auch die Eignung zur Kommunikation den entscheidenden Selektionsvorteil darstellen kann. Für Kulturwissenschaftler ist diese Konzeption deswegen interessant, weil sie eine integrative Sicht aller Kommunikationsformen ermöglicht. Denn der Prozeß der Ritualisierung setzt sich als „kulturelle Ritenbildung" fort. 19 Zwar fallen, vergleicht man verschiedene menschliche Lebensformen, zunächst die Differenzen auf. Doch lassen sich diese gerade bei den grundlegenden Mustern des Sozialverhaltens nicht selten auf die Weiterentwicklung bzw. Unterdrückung jeweils anderer Elemente einer angeborenen Urform zurückführen.2® Otto Koenig hat solche Ritualisierungsprozesse am Beispiel der Uniformentwicklung und der Augensymbolik vorgeführt. 21

3.1. Der Formwandel Kommunikative Handlungsformen erfüllen ihre Funktion nur dann, wenn sie zwei grundlegenden Kriterien genügen: Sie müssen wiedererkennbar und voneinander unterscheidbar sein. Nur so tragen sie zur Verhaltenssicherheit bei. Der Sender muß das Signal richtig handhaben können, der Empfänger es verstehen und angemessen reagieren, wenn die Sozialbeziehung konfliktfrei ablaufen soll. Beispielsweise habe ich, wenn jemand die

18

D i e Bündnis-Politik von Schimpansen erforscht Frans de Waal: U n s e r e haarigen Vettern (1982 / 1 9 8 3 ) ; D e r gute Affe (1996 / 1 9 9 7 ) .

19

Siehe dazu unten, K a p . I 3. 4.

20

Vgl. Bilz, Studien (1971 / 1 9 7 4 ) , 272. Siehe auch die o b e n , A n m . 7 genannte Literatur.

21

K o e n i g , Kultur (1970), siehe besonders 56, 137, 163.

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

73

Hand zum Gruß erhebt, dies als Grußgeste zu identifizieren, das heißt, ich muß in jedem Einzelfall trotz der jeweiligen Variationen in der Ausführung die Geste als solche wiedererkennen und zugleich verschiedene Formen des Handhebens auseinanderhalten, also etwa sehen, daß es sich nicht um eine Drohgeste handelt. Auf Seiten des Empfängers ist demnach eine soziale Kompetenz in bezug auf die Interpretation der Gesten vorausgesetzt; „sendeseitig" müssen diese jedoch zunächst präzise artikuliert sein. Stammesgeschichtlich haben sich Kommunikationsformen bevorzugt aus Ausdrucksgesten entwickelt, 22 obwohl prinzipiell jedes beliebige wahrnehmbare Detail Mitteilungsfunktion bekommen kann.2^ Bei isoliert oder in einer anonymen Schar lebenden Tieren sind die Begleiterscheinungen von Erregungszuständen meist funktionslose Epiphänomene. Doch gerade diese können einem weiteren Evolutionsprozeß als Ausgangsmaterial dienen 24 und, indem sie bestimmte formale Veränderungen durchlaufen, Kommunikationsbedeutung gewinnen. Mit anderen Worten: Der „Selektionsdruck", der diese Entwicklung begünstigt, ist durch den Bedarf nach einer Optimierung der sozialen Kommunikation gegeben. 2 '' Ausdrucksgesten, die von einem Interaktionspartner verstanden werden, sind nicht immer beabsichtigt, im Gegenteil. Wenn vegetative Vorgänge äußerlich sichtbar werden, kann dies sogar dem „Sender" äußerst unerwünscht sein. 26 Er kann Pupillenreaktionen, Erröten, Schweißausbruch, Speichelfluß, Defäkationsdrang, Haaresträuben usw. meist kaum oder gar nicht kontrollieren, deshalb verraten sie dem „Empfänger" sofern er nur über die entsprechende Wahrnehmungsfähigkeit verfügt, um so besser, welche Handlungsbereitschaften von seinem Gegenüber zu erwarten

22

Vgl. Leyhausen, Biologie ( 1 9 6 7 / 1 9 7 3 ) , 309. - Zur Definition von „Ausdruck" siehe dens., ebd., 3 0 4 ff.

23

Siehe Wickler, Stammesgeschichte (1970 /1975), 233.

24

Siehe ebd., 188.

25

Dies ist Bestandteil der Definition von „Ritualisierung": Siehe ebd., 233.

26

Vgl. D a r w i n , Ausdruck (1872 /1899), 25: Diejenigen Muskeln, die am wenigsten v o m W i l l e n kontrolliert werden, veranlassen - ungewollt - Bewegungen, die w i r als besonders expressiv empfinden. Siehe auch Morris, Mensch (1977 /1978), 2 4 ff., 106 ff., 166 ff. A l s Gegenmaßnahme k o m m t das A b w e n d e n von Signalflächen v o r : Vgl. H u x l e y , Introduction (1966), 2 5 2 ; Hinde, Ritualization (1966), 2 9 0 . U b e r Selektion gegen genaue Signalentwicklung: Wickler, A n t w o r t e n (1974), 113.

74

I. Ritual und Wiederholung

sind.^7 Besonders auffällig ist auch der Ausdruck des veränderlichen Muskeltonus: Wir werten beispielsweise eine schlaffe Körperhaltung unmittelbar als Indikator für eine „niedergeschlagene" Gesamtverfassung.^ Des weiteren sind alle Bewegungsformen recht aufschlußreich. Da in der Bewegung der Körper als ganzes präsent ist — und damit zugleich eine innere Stimmung — haben wir es mit komplexen Ausdrucksweisen zu tun, die der psycho-physischen Einheit des Handelns am nächsten kommen. Zugleich ist die Motorik oftmals der Kern, um den sich die optischen und auch die akustischen, olfaktorischen und haptischen Ritualisierungsvorgänge gruppieren.^ Da die Grundprinzipien der Entwicklung überall dieselben sind, werde ich im folgenden nur auf die Entstehung von Signalbewegungen näher eingehen, denn gerade diese spielen in religiösen Riten eine wichtige Rolle, werden aber bisweilen zu wenig beachtet. Damit ein Ausdruck zum Signal wird, die beiläufige Stimmungsäußerung kommunkative Funktion erhält, muß das Subjekt seinen Bewegungen die Richtung auf einen Adressaten hin geben. 30 Sobald der Sender die Signalwirkung intendiert — was natürlich nicht heißen soll, daß er sie bewußt beabsichtigt — liegt es nahe, daß er sie zu optimieren sucht. Dazu muß er sich auf die vorhandene Wahrnehmungsfähigkeit des Empfängers, die bekanntlich in Anpassung an die Umwelt entstanden ist, einstellen. Deshalb findet eine „sendeseitige" Signalentwicklung''* statt, d. h., die Signale folgen in ihrem Aufbau den Prinzipien des angeborenen auslösenden S c h e m a s : E i n e möglichst einfache und eindeutige Struktur erleich-

27

Z u m „Zukunftsaspekt" des Ausdrucks vgl. Leyhausen, Biologie (1967 / 1 9 7 3 ) , 3 1 6 ; L o r e n z , Rückseite (1973 / 1 9 7 7 ) , 267.

28

D e r Tonusverlust ist eine Auswirkung der depressiven Verfassung, die durch Vagotonic gekennzeichnet ist: Vgl. R. Bilz, Psychotische Umwelt (1962), 61 ff.

29

D i e Bewegung ist sogar „Schrittmacher der Evolution": Vgl. Wickler, Stammesgeschichte (1970 / 1 9 7 5 ) , 144; Lorenz, Rückseite (1973 /1977), 310. Andererseits erhalten sich Bewegungsformen länger als Knochen und Muskeln: K o e n i g , K u l t u r (1970), 49.

30 31

Vgl. Leyhausen, Biologie (1967 /1973), 355. Vgl. ebd. 313; s. auch L o r e n z , D. sog. Böse (1963 / 1 9 7 5 ) , 7 0 f. u. 81; Eibl-Eibesfeldt, G r u n d r i ß (1967 / 1 9 8 0 ) , 162 ff.

32

Vgl. W i c k l e r , Stammesgeschichte ( 1 9 7 0 / 1 9 7 5 ) , 136, 150, 189, 199; siehe auch H u x l e y , Introduction (1966), 2 5 7 ; Lorenz, Ü b e r die Bildung (1937 / 1 9 6 5 ) , 3 0 9 u. Rückseite (1973 /1977), 262. - Grundsätzlich zur Entstehung von Auslösern: W i c k l e r , Stammesgeschichte ( 1 9 7 0 / 1 9 7 5 ) , 144 u. 228.

3. Form und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

75

tert das Wiedererkennen. 33 Sobald eine bestimmte Bewegungsfolge, eine Farbe, Form oder ein Laut auftauchen, sollen sie als jeweils bestimmter Mitteilungsträger identifiziert werden. Die Wiederkehr des Zeichens fordert dann die Wiederholung der entsprechenden Reaktion. 34 Voraussetzung dafür ist, daß verschiedene Signale voneinander unterscheidbar und jeweils vor ihrem Umgebungshintergrund wahrnehmbar sind. Damit sich ein Signal mit hinreichender Deutlichkeit abzeichnet, muß es möglichst unwahrscheinlich sein, daß seine Struktur an diesem Ort auch zufällig vorkommt. Die „Einfachheit" und „Unwahrscheinlichkeit " wie sie Konrad Lorenz für den Auslösereiz postulierte, sind auch die Wirkungsbedingungen von Signalen. 35 Beiden Kriterien genügen besonders die regelmäßigen Formen, die durch rhythmische Wiederholungen strukturiert sind. 36 Die für Signale bevorzugten Spektralfarben und reinen Töne basieren ebenso wie die akzentuierte Bewegung auf Wellen von gleichmäßiger Frequenz und Amplitude; nicht zuletzt ist auch die Symmetrie ein Fall von optischer Wiederholung. Der Selektionsdruck in Richtung auf ein wiederholbares, eindeutiges Signal führt, wo es sich um Bewegungen handelt, zu ihrer Normierung. Sie werden auf eine bestimmte Art der Ausführung festgelegt 37 und verändern sich nicht mehr in jeder Situation je nach Begleitumständen und Stimmungslage des Ausführenden; es kristallisiert sich vielmehr aus der Vielzahl der aktuellen Variationen von Geschwindigkeit, Richtung, Wegstrecke usw. diejenige Bewegungsform heraus, die einem leicht vereinfachten Durchschnittswert 38 entspricht und sich nun als verbindliches Schema fixiert. Der Formwandel der Ritualisierung besteht also nicht einfach darin, daß man lauter schreit, um besser gehört zu werden; die veränderte Form muß vielmehr als die einzige in dieser Situation von nun an korrekte

33 34

Auch w o erlernte Zeichen konventionell verwendet werden! Vgl. L o r e n z , D. angeborenen Formen (1943), 2 5 8 u. Rückseite (1973 /1977), 150, 2 6 2 , 2 6 9 ; Wickler, Stammesgeschichte (1970 / 1 9 7 5 ) , 178, 2 3 3 , 228.

35

Siehe etwa die leicht zugängliche Darstellung Rückseite (1973 / 1 9 7 7 ) , 150, aber auch schon f r ü h e r e Arbeiten von Lorenz. Vgl. Hinde, Ritualization (1966), 2 8 6 ; C u l l e n , Reduction (1966), 363.

36

Auch die G r u n d s t r u k t u r unserer Sprache ist rhythmisch: Vgl. Lenneberg, Biologische Grundlagen, (1967 /1972), 139 ff.

37

Siehe Lorenz, D . sog. Böse (1963 /1975), 80; vgl. Hinde, Ritualization (1966),

38

Siehe L o r e n z , D. sog. Böse (1963 /1975), 6 6 ; Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 / 1 9 7 2 ) ,

2 8 6 ; Morris, Rigidification (1966), 328 ff. 63.

76

I. Ritual und Wiederholung

Verhaltensweise festliegen. Primär entsteht diese durch das Ausbilden einer neuen Instinktbewegung, analog aber auch im Laufe einer ontogenetischen Ritualisierung. 39 Formalisierung und Fixierung bilden dabei ein Junktim. Meist wird die Struktur eines zur Fixierung geeigneten Bewegungsablaufs durch rhythmische Abfolgen gebildet. 40 Der Rhythmus macht das Verhalten gleichmäßiger und dadurch leichter wiederholbar, zugleich setzt er auffällige Akzente. Auch das Prinzip der „typischen Intensität" 41 verstärkt die Formalisierungstendenzen. Um sicherzustellen, daß alle gesendeten Signale beim Empfänger ankommen, werden sie mit gleichbleibender Stärke, Frequenz und Amplitude produziert: So wie die Klingel des Telefons immer gleich laut und im gleichen Rhythmus tönt, unabhängig davon, wie wichtig der Anruf ist, rufen Küken ihre Mutter mit ganz stereotypisierten Piepslauten zu Hilfe. Die Triebstärke des Senders findet normalerweise nur noch in der Anzahl der Wiederholungen ihren Ausdruck. Diese Regel hat ihre Ausnahmen: Bei den akustischen Signalen von Primaten fehlt meist die typische Intensität.4^ Allerdings gilt dies nur am Tage: Nachts ließ sich die Schematisierung ohne weiteres feststellen. Dieser Unterschied ist bezeichnend: In der Nacht, wo die Stimme das einzige Medium der Verständigung ist und wo die Deutlichkeit der Mitteilungen lebensnotwendig sein kann, hat die Zuverlässigkeit einer eindeutigen Signalübermittlung Vorrang. Tagsüber ist jedoch für die Verständlichkeit der Lautäußerungen dadurch gesorgt, daß akustische und optische Ausdrucksmedien einander ergänzen. 43 Das Signalsystem kann sich also für jeden einzelnen Kanal ausdifferenzieren (was einen Verlust an Einfachheit und damit an schneller und zweifelsfreier Identifizierung zur Folge hat), weil Lautgebung, Gestik, Haltung und Mimik einander gegenseitig interpretieren und dadurch die geforderte Eindeutigkeit wiederherstellen. Wenn also das Merkmal der typischen Intensität bei der Informationsübertragung fehlt, läßt sich dies durch das „Redundanzprinzip" ausgleichen. Dessen Wirkung beruht darauf, daß dieselbe Mitteilung über meh-

39

Siehe L o r e n z , D . sog. Böse (1963 / 1 9 7 5 ) , 6 6 u. Evolution ( 1 9 6 6 ) , 2 7 8 .

40

Vgl. L o r e n z ,

D . sog. Böse ( 1 9 6 3 / 1 9 7 5 ) ,

Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 / 1 9 7 2 ) , 63. 41

Siehe Morris, Rigidification (1966), 3 2 9 .

42

Siehe H i n d e , Ritualization (1966), 2 9 0 f.

43

E b d . 2 8 6 (postures - gestures - calls).

80;

ders.,

Evolution ( 1 9 6 6 ) ,

2 7 6 ff.;

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

77

rere Kanäle gleichzeitig gesendet wird. 44 Das dient der Überwindung von zwei Schwierigkeiten: Zum einen läuft der Sender eines Signals immer Gefahr, vom Empfänger unbemerkt zu bleiben, besonders, wo es sich darum handelt, einen intendierten Fernkontakt erst herzustellen; zum andern muß er versuchen, der vorschnellen Reizgewöhnung auf Seiten des Rezipienten entgegenzuwirken. 4 ^ Um die Wahrnehmung eines Zeichens sicherzustellen, gibt es ein einfaches Mittel: die Wiederholung. Wer sich jemandem bemerkbar machen will, wird es kaum dabei bewenden lassen, seinen Arm nur ein einziges Mal hin und her zu schwenken; er wird versuchen, die Wahrscheinlichkeit, daß er gesehen wird, durch mehrfaches Winken zu erhöhen. Bald wird er dabei in einen gleichmäßigen Rhythmus übergehen. Das entspricht einerseits seiner eigenen Bewegungsökonomie, ist aber auch zugleich auf den Empfänger gemünzt, denn das Armeschwenken kann nun nicht mehr so leicht mit einer bedeutungslosen Zweckhandlung verwechselt werden. Es kann sich aber so verhalten, daß gerade die rhythmische Wiederholung sehr schnell beim Interaktionspartner zu einer Reizgewöhnung führt, die ihn dem gesendeten Signal gegenüber abstumpft. Um hier Abhilfe zu schaffen, tritt nun ein weiterer Mechanismus des Redundanzprinzips in Kraft: Der Sender bedient sich der „mimischen Übertreibung". 4 Er gestaltet seine Bewegungen ausladender und heftiger, als es seiner Antriebslage entspräche; vielleicht wird er dabei durch selektiv herausgezüchtete morphologische Merkmale unterstützt, durch besonders lange, auffällig geformte Federn beispielsweise, oder durch bunte Punkte, die bei der Flossenbewegung aufleuchten. Auch alle Arten der Vergrößerung des eigenen Körpers gehören hierher: das Federnspreizen, Haaresträuben, Sichaufblähen usw. Daß sich die Geschichte unserer Kleidung als Ritualisierungsgeschichte schreiben läßt, hat Otto Koenig 47 vorgeführt. Für religionswissenschaftliche Interessen eröffnet sich hier ein weites Feld. Formen des Umgangs mit fiktiven Interaktionspartnern lassen sich analysieren, etwa Demutsgesten bei der .Begegnung' mit Göttern oder die visuelle Präsentation von Gottheiten und Dämonen. Bei der mimischen Übertreibung wie bei der typischen Intensität zeigt sich ein Grundproblem aller ritenbildenden Formalisierungstendenzen: Es

44

Vgl. Lorenz, Stammes- u. kulturgeschichtliche Ritenbildung (1966), 9.

45

Vgl. Leyhausen, Biologie (1967 /1973), 341.

46

L o r e n z , Stammes- u. kulturgeschichtliche Ritenbildung (1966), 9.

47

Vgl. Koenig, K u l t u r (1970), 42, 46, 56, 137, 163.

78

I. Ritual und Wiederholung

besteht prinzipiell ein Konkurrenzverhältnis zwischen der Eindeutigkeit eines Kommunikationssystems, die immer die Tendenz zur Vereinfachung einschließt, und seiner Differenziertheit, die nicht nur seine Situationsangemessenheit erhöht, sondern auch dem Bedürfnis der Individuen, ihrer Stimmung jeweils den spezifischen Ausdruck zu verleihen, gerecht wird. 48 Obwohl im Konfliktfall die Zuverlässigkeit der Signalübermittlung immer Vorrang hat, ist es für komplex strukturierte Sozialverbände ein unschätzbarer Vorteil und geradezu die Voraussetzung ihrer Existenz, eine entwikkelte, differenzierte Sprache zu besitzen, die nicht nur die Übermittlung der allerdringlichsten Grob-Signale erlaubt, sondern auch eine Feinabstimmung ermöglicht. Die Verständigung innerhalb der Gruppe verbessert sich in dem Maße, in dem die persönliche Bekanntschaft ihrer Mitglieder und die Ergänzung des angeborenen Signalsystems durch Erfahrungen, die im Umgang miteinander gesammelt wurden, zu einer höheren Sensibilität gegenüber dem Ausdruck feiner Stimmungsschwankungen führen. So wie Sprache zugleich Voraussetzung und Folge sozialen Lebens ist, entwickeln sich komplexe Sozialstrukturen und Kommunikationsmedien in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander.

3.2. Der Funktionswandel Wenn Ausdruckserscheinungen durch Formalisierung, wie ich das im letzten Abschnitt beschrieben habe, zum Signal werden, unterliegen sie einem Funktionswandel 49 — vom bloßen Epiphänomen entwickeln sie sich zu Elementen kommunikativen Verhaltens. Auffällig ist dieser Ritualisierungsvorgang auch dort, wo Verhaltensweisen, die bisher im Dienste der Umweltbewältigung oder der Organerhaltung standen, selbstzweckhaft werden und Mitteilungsfunktion bekommen.^ 0 Ein besonders schönes Beispiel, das Religionswissenschaftler an die

48

Ein ähnliches K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s von Konstanz und Variabilität besteht auch f ü r die W a h r n e h m u n g : Es gibt deshalb zwei Sinnesdaten-Verarbeitungssysteme, eines mit maximaler Anpassungsfähigkeit und eines mit maximaler Angepaßtheit - vgl. Leyhausen, Biologie (1967 /1973), 341.

49

Vgl.

Wickler,

Stammesgeschichte ( 1 9 7 0 / 1 9 7 5 ) ,

144, 188, 1 9 9

u.

Antworten

(1974), 101. 50

Vgl. P o r t m a n n , Riten (1950), 3 6 2 ; L o r e n z , D. sog. Böse (1963 / 1 9 7 5 ) , 79 u. Evolution (1966), 276; Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 /1972), 61; Koenig, Kultur (1970),

79

3. F o r m und Bedeutung: T h e o r i e der Ritualisierung

Sakralisierung veralteter Technologien denken läßt, bietet die nordische Tanzfliege: Sie verzehrt beim Hochzeitsritual eine Fliege, die ihr das Männchen in einen Schleier eingewoben bringt, obwohl sie derartiges sonst überhaupt nicht mehr frißt.5^ Der überwiegende Teil kommunikativer Verhaltensweisen ist jedoch aus Intentions- oder Übersprungshandlungen entstanden. 52 Das sind zielgehemmte Bewegungen, die nur eine Stimmung, eine Handlungsbereitschaft ausdrücken, ohne aber in eine Endhandlung zu münden. Ein Ausdruck zeigt immer eine motorische Intention an; wenn er sich aber, unter Hemmung der Motorik, zum eigenwertigen Signal verselbständigt, ruft die gleichsam auf kürzestem Wege mitgeteilte Stimmung im sozialen Du eine gleichartige oder komplementäre Stimmungslage (bzw. Handlungsbereitschaft) hervor. Verbleibt nun auch der Interaktionspartner auf dieser Ebene und verzichtet darauf, anders als mit Ausdrucksbewegungen zu reagieren, entsteht ein Ritual oder, wenn die Entlastung von unmittelbarer Handlung sich noch weiter fortsetzt, ein Gespräch. Weil die Endhandlung nicht wirklich durchgeführt wird, ist der hinweisende Handlungsansatz fast beliebig oft wiederholbar - Mitteilung und Antwortverhalten können einander so oft gegenseitig induzieren, bis entweder bei allen beteiligten Subjekten die Stimmung geschaffen ist, die eine gemeinsame Handlung ermöglicht, oder bis umgekehrt die Demonstration der Affektlage die Triebenergie aufgebraucht hat, was beispielsweise bei Drohgesten nicht selten der Fall ist. Es läßt sich eine ganze Reihe von Verhaltensformen, die sich auf diese Weise zur Kommunikation eignen, aufzählen. Da sie alle die Richtung der Handlungsbereitschaft angeben, ohne die Handlung selbst auszuführen, fasse ich sie unter dem Begriff der Intentionsbewegungen zusammen. Zu ihnen gehört etwa die Ersatzhandlung, die sich in all jenen Drohgebärden findet, bei denen sich die Wut auf ein anderes als das ursprünglich intendierte Objekt richtet. Um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen: Wer geneigt wäre, einen Gegner zu schlagen, kann stattdessen mit der Faust auf den Tisch hauen; besonders beliebt bei Primaten ist es, einen

6 4 , 138. Von „Symbolisierung" des Verhaltens sprechen H u x l e y , C o u r t s h i p H a bits

(1914),

506;

Thorpe,

Ritualization I

(1966),

311;

Lorenz,

Rückseite

(1973 / 1 9 7 7 ) , 2 5 9 . Diese Bezeichnung betont stärker den Bedeutungswandel. 51 52

Siehe L o r e n z , D . sog. Böse (1963 / 1975), 70. Vgl. P o r t m a n n , Tier (1953 / 1 9 7 8 ) , 316, 3 2 8 f., 391; Tinbergen, Welt (1958), 77 ff.; H u x l e y , Introduction (1966), 2 5 0 , 2 5 2 f.; H i n d e , Ritualization ( 1 9 6 6 ) , 2 8 5 ff.

80

I. Ritual und Wiederholung

Ast zu schütteln, statt damit auf den jeweiligen Kontrahenten loszugehen. 5 3 Vor allem ist an die einfache Intentionsbewegung im engeren Sinn zu denken. 54 Sie ist der Ansatz zu einer Handlung, die sich zurückstaut, und zwar entweder durch ein äußeres Hindernis oder durch mangelnde Triebstärke, durch Affektkontrolle oder eben dadurch, daß sie als soziale Signalhandlung selektiv fixiert wurde. Nur die letztgenannte Verhaltensweise ist rituell zu nennen — eine aufgrund irgendwelcher Umstände einmal ausgeführte Intentionsbewegung drückt zwar etwas aus und läßt uns dadurch die Verfassung des Subjekts erkennen, ist aber noch kein Signal. Auch die Bewegungsstereotypie, 55 die formal ganz den Bestimmungen rituellen Handelns entspricht, wird dadurch noch nicht zum Ritual. Ein unruhiges Käfigtier wiederholt, sobald es an die Grenzen seines engen Lebensraumes stößt, unaufhörlich dieselben Intentionsbewegungen. Diese drücken seine Stimmung aus, und zwar nicht mehr spontan, sondern hochgradig formalisiert und (ontogenetisch) fixiert. Was diesem Handlungsmuster aber fehlt, ist der Funktionswandel: Zwar können wir an ihm den gehemmten Bewegungsablauf ablesen, aber diese Mitteilung ist nur eine nicht intendierte Begleiterscheinung. Anders verhält es sich mit der Intentionsbewegung eines Hundes, der mehrmals nacheinander zur Tür läuft, um seinem Herrn zu zeigen, daß er Spazierengehen möchte: Hier ist die Mitteilung selbst das treibende Motiv des Verhaltens — der Hund will uns seine Stimmung kundtun und sie damit zugleich auf uns übertragen. Während diese Kommunikation von Herr und Hund eine lediglich ontogenetische Ritualisierung ist, 56 hat die Übertragung der Aufbruchstimmung für Herdentiere derart überlebenswichtige Bedeutung, daß sie genetisch fixiert wurde. Deshalb geht dem Abflug von Gänsen als Signal eine angeborene Intentionsbewegung des Fliegens voraus. Der Ritualisierungsprozeß hat sich dabei so weit verselbständigt, daß sein Ausgangspunkt kaum noch zu erkennen ist, da es ja auf nichts anderes ankommt, als daß die Mitteilung verstanden wird; das Startsignal von Gänsen ist auf eine für

53

Vgl. H i n d e , Ritualization (1966), 2 8 7 f. Aus der Praxis des Astschütteins lassen sich höchstwahrscheinlich neben der Ritualisierung expressiver Geräuschproduktion auch die entsprechenden Instrumente wie Rassel, Trommel, Ratsche, X y l o p h o n ableiten. Siehe auch Morris, Mensch (1977 /1978), 182 ff.

54

Vgl. ebd., 173 ff.

55

Vgl. dens., Rigidification (1966), 328.

56

Siehe dazu den folgenden Abschnitt.

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

81

den menschlichen Betrachter recht unauffällige Schnabelbewegung reduziert, die aber für die Gänseherde durchaus ihren Zweck erfüllt. 57 Einer bestimmten Intention steht nicht selten eine zweite, widerstreitende gegenüber, so daß sich das Subjekt in einem Ambivalenzkonflikt befindet. Daraus ergeben sich zwei typische Strukturen: die Kreisbewegung und ein Vor- und Zurückpendeln. Beide verdanken sich einem Konflikt zwischen Ausgriffs- und Fluchtimpulsen, die einander gegenseitig so blokkieren, daß sich die Handlung weder nach der einen noch nach der anderen Richtung vollenden kann. Eine Kreisbewegung entsteht dann, wenn das Angriffs- oder Fluchtziel statisch an einem zentralen Punkt verharrt und die Bewegung durch nichts gestört wird. So wird etwa ein unbekanntes Objekt, das zugleich furchteinflößend und faszinierend ist, 58 immer wieder umrundet, aber auch das Heim, dem eine unbestimmte Gefahr zu drohen scheint, oder das schweren Herzens verlassen werden soll, provoziert zu solchem Umgang. Durch parallele Stimmungsübertragung kann hieraus ein Ritual entstehen: Der gemeinsame Umgang sichert das Heim und bannt die Gefahr. Ein klassischer Fall ambivalenten Verhaltens mit komplementärer Stimmungsübertragung, die zu einem Ritual mit Rollentausch führt, ist die Revierauseinandersetzung. Wie allgemein bekannt, wird ein Stichlingsmännchen, dessen Reviernachbar sich seinem Wohnplatz zu weit angenähert hat, diesen verteidigen, indem es den Rivalen intentional angreift. Dieser flieht auf sein eigenes Heim zu, und je näher er an es heranschwimmt, desto sicherer fühlt er sich, während sein Verfolger, je weiter er von seinem Kraftzentrum abrückt, immer zaghafter wird. Irgendwann ist dann der kritische Punkt erreicht, an dem die Bewegung umschlägt: Der zweite Stichling wird zum Angreifer, der erste zum Verfolgten. Dieses Wechselspiel von Drohung und Flucht dauert so lange, bis sich die Reviergrenze — abhängig vom Grad der Ängstlichkeit beider Partner — eingependelt hat. 5 9 Beide Bewegungsformen des Ambivalenzkonflikts, sowohl das Umkreisen - einschließlich seiner Minimalform der Drehung um die eigene Achse — als auch das pendelnde Hin und Her, Vor und Zurück, Ja und

57

Vgl. L o r e n z , Rückseite (1973 /1977), 182.

58

Vgl. R. Bilz, Faszination (1958), 98.

59

Vgl. Tinbergen, Welt (1958), 83 ff. - Fluchtpunkt kann statt des Heims auch der S o z i a l p a r t n e r sein.

82

I. Ritual und Wiederholung

Nein eignen sich in besonderem Maße zu formalisierter Wiederholung, 60 da sie sich immer wieder selbst induzieren. Ist die Rolle des Gegenspielers nicht besetzt, so entsteht daraus leicht eine Bewegungsstereotypie oder eine Zwangsneurose. Sobald jedoch ein Kommunikationspartner zur Verfügung steht, schaffen die Tendenz zur Formalisierung und das Zurücklaufen der Handlung in sich selbst die besten Ausgangsbedingungen für die Ausbildung eines Rituals. Die Verselbständigung der Bewegung liegt nahe, denn indem sie immer wieder etwas andeutet, teilt sie etwas mit; sie kann von anderen aufgenommen werden, die entsprechend antworten. Auch daß eine Ambivalenz durchgespielt wird, ist für rituelles Verhalten charakteristisch, sofern seine Aufgabe darin besteht, Ubergänge herzustellen. Daß Interaktionsrituale, beispielsweise im Rahmen der Paarbindung, gleichsam als Einstimmung oder Einübung ein zukünftiges Verhalten vorwegnehmen können, hat Rudolf Bilz erkannt;6^ er bezeichnete deshalb diese Elemente des Rituals als „Vorsprungsbewegung" — in Anlehnung an den von Niko Tinbergen geprägten Begriff der Übersprungsbewegung. Was Bilz dabei nicht klar genug sah, 63 ist die Tatsache, daß gerade diese Signalhandlungen zugleich Wiederholungen einer „Urszene" sind: Wenn etwa beide Partner während ihrer Werbungszeit abwechselnd die Elternrolle übernehmen, so heißt das zugleich, daß jeder auch einmal Kindchen spielt. Demnach könnten Riten Einstimmung und Vorgriff auf zukünftige Handlungen und befristete Regression auf verlassene Verhaltensstufen in einem sein. 64 Hier liegt einer der wichtigsten Ansatzpunkte für die individualpsychologische Bedeutung, die das Ritual erlangen kann. Zu den Definitionsmerkmalen ritualisierten Verhaltens gehört, das sei hier noch einmal betont, daß es unabhängig von seiner Entstehungsweise eine neue kommunikative Funktion erhält. Handlungsmuster, die in ihrem ursprünglichen Kontext zweckmäßig waren (etwa bestimmte Nestbaubewegungen), werden nun zweckfrei, aber nicht sinnlos: Sie erhalten Signaloder Symbolcharakter. Das verkennt, wer ritualisierte Handlungen mit Leerlaufhandlungen in eins setzt. So hat beispielsweise Rudolf Bilz das Küssen vom „Kußfüttern" abgeleitet. Der Ausdruck der Zuneigung habe sich aus der verbreiteten Praxis entwickelt, daß Mütter ihren Kleinkindern

60

Vgl. Morris, Mensch (1977 /1978), 176; Leyhausen, Biologie (1967 / 1 9 7 3 ) , 3 5 9 .

61

Siehe Lebensgesetze (1943), 8, 21, 80.

62

Siehe Welt (1958), 125 ff. Vgl. Morris, Mensch (1977 /1978), 179 ff.

63

Eine Folge seiner Allergie gegen Psychoanalyse.

64

Vgl. das interessante Beispiel bei D a r w i n , Ausdruck (1872 /1899), 43.

83

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

die Nahrung vorkauen und direkt von Mund zu Mund reichen. Dies darf inzwischen als gesichert gelten. Problematisch ist hingegen, daß Bilz den Kuß als „Leerlauf"6^ der ursprünglichen Handlung bezeichnete. Zwar verwandte er diesen Begriff nicht im terminologisch strengen Sinne, 66 sondern eher metaphorisch (weil nun keine Nahrung mehr transportiert wird), 6 7 doch scheint mir das Anlaß für mancherlei Mißverständnisse zu sein. 68 Gerade das Küssen liefert ein anschauliches Beispiel dafür, daß wir unter Ritualisierung den Funktionswandel und nicht den Leerlauf einer Verhaltensform zu verstehen haben. Niemand wird beahupten wollen, Menschen küßten einander nur deshalb, weil ihre instinktive Appetenz nach der Fütterungsbewegung zu lange keinen passenden Auslöser gefunden hat, so daß diese schließlich leerläuft. Auffällig ist doch vielmehr, daß die Instinktbewegung eine neue, und zwar kommunikative Funktion erhält, die auch auf die Form verändernd einwirkt. Die Sozialfunktion verselbständigt sich (bei einer Ritualisierung im engeren Sinne) zu einem neuen Instinktverhalten mit eigenen Auslösern und eigener Motivation. 69 Nur weil ein Ritus eine solche selbstzweckhafte Handlung ist, kann er seine Funktion, soziale Kohäsion zu stiften, überhaupt erfüllen.7® Da ein eigenes Appetenzverhalten zu ihm gehört, sind die Interaktionspartner motiviert, das Ritual auszuführen, wobei sie jeweils den anderen zum Mitspielen brauchen. Der Ritus selbst ist also das Band, das ein Paar zusammenhält. 71 65

Lebensgesetze (1943), 23. - Zum Küssen als ritualisiertes „Kußfüttern" siehe jetzt Eibl-Eibesfeldt, Biologie (1984), 176 ff.

66

Vgl. L o r e n z , Ü b e r die Bildung (1937 /1965), 301 ff., 3 3 5 f.

67

R. Bilz, Lebensgesetze (1943), 21, spricht sogar von einem Verständigungsmittel.

68

G . Baudy wendet den Leerlaufbegriff ähnlich an w i e Bilz: Siehe E x k o m m u n i k a t i on (1980), 51, 161, 2 3 9 , 250, 416. Er hält auch heute noch daran fest, w i e er m i r mündlich versichert.

69

Vgl. H u x l e y , C o u r t s h i p Habits (1914), 5 0 7 u. Introduction (1966), 2 4 9 ; L o r e n z , D . sog. Böse (1963 /1975), 6 2 ; dens., Stammes- und kulturgeschichtliche Ritenbildung (1966), 11 sowie Rückseite (1973 /1977), 2 5 9 ; Leyhausen, Biologie ( 1 9 6 7 / 1 9 7 3 ) , 354. Siehe auch Massignon, Rite (1950), 3 5 3 ; Cazeneuve, Rites (1958), 3.

70

Vgl. L o r e n z , D. sog. Böse ( 1 9 6 3 / 1 9 7 5 ) , 66, 70 f.; dens., Evolution (1966), 278 sowie Rückseite ( 1 9 7 3 / 1 9 7 7 ) , 2 6 5 ; Eibl-Eibesfeldt, Liebe ( 1 9 7 0 / 1 9 7 2 ) , 65. Auch der Motivationswechsel bei geringer äußerer Veränderung ist eine Ritualisierung vgl. H i n d e , Ritualization (1966) über das Gähnen. Von einem aktiven A n t r i e b sozialen Verhaltens spricht Lorenz, D. sog. Böse (1963 /1975), 79.

71

Diese später immer wieder betonte Aussage findet sich bereits bei C o u r t s h i p Habits (1914), 516.

Huxley,

84

I. Ritual und Wiederholung

Da Brutpflege und Sexualität diejenigen Funktionskreise sind, innerhalb deren sich soziales Verhalten ursprünglich entwickelte, haben die hier ausgebildeten Handlungsstrukturen Modellcharakter für kommunikativen Umgang überhaupt, und es finden häufig Übertragungen in andere Bereiche statt. 72 So entstammen ihnen beispielsweise viele als Unterwerfungssignale verwendete Gesten; denn sowohl kindliche als auch sexuelle Signale sind geeignet, auf dem Wege der Stimmungsübertragung eine Befriedung zu erzielen, weil beide Angriffsverhalten ausschließen. Riten reduzieren aber, wie gesagt, nicht nur Aggression; ihre .positive' Funktion ist die Stiftung eines tragfähigen sozialen Bandes. Wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt gezeigt hat, dient vor allem das Brutpflege-Verhalten als Entwicklungsbasis für komplexe kooperative Sozialstrukturen. Hier entstehen langfristige komplementäre Bindungen — nur brutpflegende Tiere bilden exklusive Verbände. 73 Wenn die Zeremonie außer der angeborenen Instinktstruktur noch Elemente umfaßt, die das Paar ontogenetisch erworben hat, wird der Partner vollends unersetzlich, denn nun ist die Beziehung zu ihm individualisiert. Hören wir zwei Vögel ihren Wechselgesang anstimmen, so handelt es sich nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, um Revierverteidigung oder Paarungsvorspiel: Es ist eine Bestätigung der Zusammengehörigkeit, die ihren Sinn in sich selbst trägt, wie bekanntlich auch das menschliche Miteinandersprechen oft nicht einmal Informationen transportiert, sondern nur ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Vertrautheit übermitteln soll wie das „grooming" der Schimpansen. 74 Für religionswissenschaftliche Analysen ergeben sich interessante Anschlußmöglichkeiten an die Ritualisierungstheorie: Es lassen sich zunächst - etwa im Rahmen einer Religionssemiologie - typische Elemente rituellen Verhaltens ableiten. Ein Beispiel wären die verschiedenen ,Demutsgesten' im Umgang mit göttlichen und anderen spirituellen Wesen. Eine weiterreichende Untersuchung könnte dem Ritual als „sozialem Band" zwischen Menschen und nichtmenschlichen .Interaktionspartnern' gelten. Dabei kommen wir allerdings mit einer Ritualisierungstheorie, die ihr Augenmerk auf instinktabhängige Kommunikationsformen richtet, nicht mehr aus. Wir müssen, um die „kulturelle Ritenbildung" erklären zu kön-

72

Vgl. Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 /1972), 59, 138; Wickler, A n t w o r t e n (1974), 112.

73

Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 /1972), 148.

74

Vgl. H u x l e y , Introduction (1966), 257; außerdem Thorpe, Ritualization II (1966), 351 ff. über den Vogelgesang.

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

85

nen, den Ritualisierungsbegriff zunächst auf solche Interaktionsmuster ausdehnen, die nicht stammesgeschichtlich, sondern .individualgeschichtlich' erworben wurden. Dies soll im nächsten Abschnitt geschehen.

3.3. „Ontogenetische Ritualisierung" Riten, die durch eine Transformation von Brutpflege-Gesten entstehen, sind geeignet, dort, wo sie gemeinschaftsbildend wirken, zugleich hierarchische Strukturen zu schaffen,7^ denn im komplementären Eltern-KindVerhältnis ist mit der starken Bindung zusammen eine Abhängigkeitsbeziehung gesetzt. Bindung heißt auch Verbindlichkeit — Zuverlässigkeit und Verpflichtung in einem. Ein Kind braucht die Garantie, daß es sich auf seine Eltern verlassen kann. Erst daraus erwächst ihm das Vertrauen in die Erwartbarkeit der grundlegenden sozialen Verhaltensweisen. Doch anders als bei angeborenen Formen von Interaktionsriten, die Verhaltenssicherheit gewährleisten, etwa der Tötungshemmung, die bei innerartlichen Auseinandersetzungen zuverlässig durch Demutsgebärden ausgelöst werden kann, beruht der Verbindlichkeitscharakter in der Familienbeziehung meist nur bis zu einem gewissen Grad auf Instinktmustern. Er bedarf der Spezifikation durch den konkreten Umgang, 76 der ontogenetische Strukturen ausbildet. Das Etablieren derartiger stabiler Verhaltenserwartungen und -bereitschaften vollzieht sich im Rahmen der diachronen Entwicklung der Familienstruktur, denn die Zeit der Brutpflege hat für das Individuum den Sinn, seine Reifung in der gegenwärtigen Umwelt zu fördern. Im Hinblick auf die Gesellschaft ist diese Phase als Sozialisationsprozeß wichtig. Der einzelne soll sich in die Gemeinschaft so integrieren, daß er den Gruppennormen entspricht. Die Kindheitsentwicklung ist ein Prozeß der Differenzierung von Handlungs- und Affektstrukturen auf der Basis instinktiver Verhaltensweisen, aber unter Einbeziehung der Erfahrungswelt. Nach der Formulierung von Irenäus Eibl-Eibesfeldt basiert die menschliche Entwicklung wie die 75 76

Vgl. G . Baudy, Hierarchie (1981). Bei Nestflüchtern erfolgt vorzugsweise eine Prägung (vgl. L o r e n z ,

Rückseite

[1973 / 1 9 7 7 ] , 106 ff.), da sie ihre Eltern ganz früh schon wiedererkennen müssen, um ihnen nachfolgen zu können; Traglinge haben etwas mehr Zeit, eine individuelle Beziehung zu den Eltern herzustellen.

86

I. Ritual und Wiederholung

eines jeden Organismus auf „Reifungs-, Wachstums- und Differenzierungsvorgängen . . . , deren Programm im Erbgut der Art vorgezeichnet ist. Unter anderem ist das Kind so programmiert, daß es . . . seine Umwelt zum Kontakt auffordert und Fragen stellt, aber diese Kontakte müssen ermöglicht und die dialogische Auseinandersetzung mit der Umwelt gewährt werden." 77 Im Anschluß an Freuds Entwicklungsmodell hat Walter Toman den Prozeß der Auseinandersetzung des individuellen Subjekts mit seiner Umgebung unter dem Aspekt der Motivationsentwicklung beschrieben. 78 Der erste kommunikative Umgang ist derjenige mit der Mutter. Von Anfang an ist die Motivsituation des Kindes auf eine Abstimmung mit deren Motivlage angewiesen. Daß eine Übereinstimmung grundsätzlich sichergestellt ist, wird gewährleistet durch angeborene komplementäre Verhaltensstrukturen bei Mutter und Kind — also Instinktbewegungen, die in einem phylogenetischen Ritualisierungsprozeß entstanden. Darüber hinaus bauen sich im Umgang feste Verhaltenszuordnungen auf, für die Erik H. Erikson den — von der Ethologie bereitwillig übernommenen — Begriff der „ontogenetischen Ritualisierung" prägte. 7 Daß Mutter und Kind einander nach jeder Trennung begrüßen, liegt im genetischen Programm, ebenso, daß dies durch Lächeln, freundliche Lautäußerungen und zärtliche Berührungen geschieht. Es spielt sich aber für jede Mutter und ihr Kind eine ganz bestimmte Ausprägung dieses Verhaltens ein, deren regelmäßige Wiederholung unabdingbar ist, wenn für das Kind keine Irritation entstehen soll. 80 Umgekehrt wird auch die Mutter auffällige Abweichungen vom erwarteten Verhalten besorgt als erste Krankheitszeichen werten. Erst auf der Basis dieses „Urvertrauens" 81 in die Zuverlässigkeit der Kommunikationsbeziehung lernt das Kind, seine Bedürfnisse auf die der Mutter abzustimmen. Es toleriert in dem Maße, wie es heranwächst, auch einen befristeten Aufschub der Befriedigung seines Nahrungswunsches, wenn ihm die Mutter — ohne daß sie dabei sichtbar zu sein braucht - freundlich zuredet, denn der Umgang mit ihr ist selbstwertgesättigt und wird dem Kind

77

Liebe ( 1 9 7 0 /1972), 244.

78

Introduction (1960). Die folgenden Ausführungen sind an dieser A r b e i t orientiert.

79

O n t o g e n y (1966); vgl. dazu auch A m b r o s e , Ritualization (1966).

80

Reiches Material

für Entwicklungsprobleme

liefert uns die

Schizophreniefor-

schung, besonders der interessante Sammelband: Bateson u. a., S c h i z o p h r e n i e (1977). 81

Vgl. Eibl-Eibesfeldt, Biologie (1984), 245.

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

87

schließlich wichtiger als die sofortige Stillung seines Hungers. Das lautliche Band bildet eine Interaktionsform, die Fernwirkungen und darüber hinaus ein Verschieben der Handlung auf eine rein sprachliche Ebene ermöglicht. Der Begriff „ontogenetische Ritualisierung"8^ bezeichnet, mit anderen Worten, den Aufbau stabiler kommunikativer Strukturen im einzelnen Lebewesen, also die Entstehung von Riten, die nicht genetisch programmiert sind. Diese Art von Sozialverhalten verstärkt und individualisiert sowohl die Kommunikation zwischen Erwachsenen als auch die „Brutpflege"-Beziehung. Beim Menschen hat sie derart große Bedeutung erlangt, daß der falsche Eindruck erweckt wurde, sie habe die instinktiven Riten ersetzt. Es handelt sich aber um eine Erweiterung der Instinktgrundlage, die ohne letztere gar nicht hätte entstehen können. In Piagets Arbeit über die kindliche Nachahmung von Lauten kann man nachlesen, wie das kleine Kind zunächst von sich aus Laute produziert, die ihm dann aus seiner Umgebung zurückgegeben werden; daraufhin ahmt das Kind seinerseits wieder das nach, was ihm vorgesagt wurde. Allmählich übernimmt es mehr und mehr die Lautäußerungen seiner Umgebung, indem es aus der Vielzahl angeborener Handlungsbereitschaften die sozial akzeptierten Äußerungen selegiert. Laute, die das Kind noch nicht von sich aus geformt hat, lernt es in diesem frühen Stadium nur durch Dressurakte nachzuahmen. 83 Wie aber schon Gehlen gezeigt hat, ist es gerade für die Sprachentwicklung — eine der wichtigsten Grundlagen der geistigen Entwicklung überhaupt — unabdingbar, daß sie sich um ihrer selbst willen vollzieht und nicht bloß als Mittel zum Zweck anderweitiger Triebbefriedigungen fungiert. 84 Das führt uns zur Frage der Weitergabe nicht genetisch fixierter Riten. Nur ein Teil des ritualisierten Verhaltens, das sich im Umgang von Mutter und Kind herauskristallisiert, ist ja rein privater Natur, ganz persönlich-individuelles Bindungsverhalten, das mit der Beendigung dieser spezifischen Beziehung zu existieren aufhört. Die Mutter selbst hat bereits wie alle Erwachsenen einen Sozialisationsprozeß durchlaufen; was sie also an ihr Kind weitergibt, ist zu einem großen Teil dem allgemeinen Kulturgut der

82

Siehe oben, A n m . 7 9 ; vgl. dazu auch Huxley, Introduction (1966), 258 ff.; zu Ritual und Erziehung siehe Bernstein u. a., Ritual (1966); zu ontogenetisch ritualisierten Bettelgesten von Zootieren vgl. Morris, Rigidification (1966), 328. Eine pädagogische Umsetzung des Konzepts: Feifei, Symbolerziehung (1978).

83

Piaget, Nachahmung (1959), 5 0 f.

84

Vgl. G e h l e n , Mensch (1940 /1974), 236 zur Selbstzweckhaftigkeit aller k o m m u n i kativen Tätigkeiten.

88

I. Ritual und Wiederholung

Gesellschaft zuzurechnen. Von deren Standpunkt aus dient die Kindheitsentwicklung schließlich der Sozialisation. Das Gut an gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsformen und -inhalten, wie beispielsweise Sprachoder Höflichkeitsverhalten, wird zunächst im täglichen Umgang durch einen ontogenetischen Ritualisierungsprozeß übermittelt; später können zusätzlich ganze Komplexe en bloc andressiert werden. Für das Kind bedeutet der Sozialisationsprozeß den Zwang, seine Affekte in zunehmendem Maße zu kontrollieren. Im Rahmen der ontogenetischen Ritualisierung wird ihm die Fähigkeit abverlangt, Triebbefriedigungen aufzuschieben und die Objekte, die ihm diese bisher unmittelbar gewährten, zunehmend durch andere, entferntere zu ersetzen. Derartige psychische Leistungen sind aber nur auf der Basis einer zuverlässigen Beziehung zu den Eltern möglich. Die Fähigkeit, gesellschaftliche Normen zu akzeptieren, kann also nur dadurch erreicht werden, daß die Verbindlichkeit ontogenetischer Riten dem Kind subjektiv ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Besonders zu den kritischen Zeiten, wo größere Reifungsschübe erforderlich sind,8^ steht den bis zu einem gewissen Grad stets endogenen Entwicklungstendenzen ein hohes Maß an Ängstlichkeit gegenüber. Die stark ambivalente psychische Gesamtsituation dieser Umbruchphasen wird bewältigt, indem man den Konflikt — meist wiederholt — in geeigneter Form durchspielt. Bei denjenigen Reifungsschritten, die gesellschaftlich relevant sind, da sie eine Statusänderung implizieren, sorgen Übergangsriten für ein Hinwegkommen über die Bruchstelle. 86 Wenn sie fehlen oder nicht in der Lage sind, der Stimmung des Individuums einen Ausdruck zu verleihen, der ein Abarbeiten des Konflikts ermöglicht, entstehen private Formen, die mit den öffentlichen jedoch strukturell konvergieren. Ob es sich um Träume, Kinderspiele, künstlerische Phantasieproduktionen, Märchen, psychosomatische Erkrankungen oder Initiationsriten handelt, es wird jedes Mal das „Stirb und Werde" inszeniert. 87 Das Verlassenmüssen der gegenwärtigen Lebensform, das für das ängstliche 85

Vgl. die Arbeiten von Josefine Bilz: Menschliche Reifung (1943), Märchengeschehen (1953) und Rudolf Bilz: Psychogene Angina (1936), die v o r allem den Eintritt ins Schulalter und ins Heiratsalter behandeln; wichtig wären auch Pubertät und Midlife-crisis.

86 87

Siehe oben, Kap. I 2. 2. zu den „Lebenslaufriten". Vgl. J. Bilz, Menschliche Reifung (1943), 54, A n m . 1 u. 6 7 ; R. Bilz, Pars p r o toto (1940), 2 7 7 u. D. unbewältigte Vergangenheit (1967), 77, 86. Zur S t r u k t u r i d e n t i tät vgl. dens., Psychogene Angina (1936), 5 3 ; Pars pro toto (1940), 83, 251 sowie Trinkerpsychosen (1971), 208.

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

89

Subjekt die Dimension des Absterbens annimmt, und der mutige Vorgriff auf Unbekanntes werden spielerisch — oder rituell — wieder und wieder geprobt, bis der Ubergang, vollzieht man ihn erst real, schon die Qualität des Vertrauten besitzt. Entsteht die neue Lebenssituation jedoch durch plötzlich auftretende äußere Ereignisse, muß das Individuum dieses Trauma nachträglich bewältigen. Es ersetzt dann die spielerisch-rituelle Vorbereitung des Ubergangs durch die Wiederholung der Krise und inszeniert sie so oft unter starker emotionaler Belastung, bis es sich in seiner neuen Lage zurechtfindet. 88 Der Begriff der ontogenetischen Ritualisierung eignet sich demnach als Schaltstelle zwischen Ethologie, Entwicklungspsychologie und Soziologie. Nur angedeutet sei, daß wir aus dem skizzierten theoretischen Modell auch unsere normativen Konsequenzen ziehen können: Die Anpassung an eine Sozietät ist für das Individuum zweifellos von Nutzen. Als soziale Lebewesen brauchen wir die menschliche Gemeinschaft; gerade die sozialen Tiere haben auch die höchsten Entwicklungschancen. Ritualisierungen stützen unsere endogenen Reifungsprozesse. Das soll jedoch nicht heißen, wir müßten uns von den Institutionen „konsumieren" lassen. 89 Zwar basieren die Synchronisierungsleistungen und die Überformung der Antriebe, die vom Individuum gefordert werden, auf sozialem Zwang; wenn wir „Anpassung" aber als dialektischen Prozeß verstehen, in dem Subjekt und Umwelt wechselseitig aufeinander einwirken,9® müssen gesellschaftliche Normen und Institutionen auch vom Standpunkt des Subjekts aus kritisierbar sein. Wer von der uneingeschränkten Notwendigkeit einer „Führung" 91 ausgeht, kann dieser keine Schranken mehr setzen. Wenn im verplanten Neubauviertel die Selbstmordrate steigt, müßte das auf einem Anpassungsdefekt des Individuums beruhen. Damit das Subjekt-Umwelt-Gleichgewicht nicht bei einem völlig einseitigen Anpassungsdruck einrastet, braucht man als Korrektiv für die unerläßliche ,Beschneidung' der Individuen einen Begriff des „Naturgemäßen".9^ Dieser 88

Siehe oben, Kap. 1 1 . , A n m . 43.

89

S o G e h l e n , Urmensch (1956 /1975), 8 !

90

„Evolution" im biologischen Sinne kann nur als rückbezüglicher P r o z e ß angemessen beschrieben werden: Zu ihren Wesensmerkmalen gehört, daß sie ihre eigenen Bedingungen verändert. Ich halte es deshalb für irreführend, diesen Sachverhalt als „Evolution der Evolution" (Luhmann, Geschichte [1978], 4 3 6 ) zu bezeichnen.

91

Vgl. Gehlen, Mensch (1940 /1974), 32.

92

Bei H e r d e r ebenso w i e schon in der Stoa enthält dieser Begriff ein kulturkritisches Potential. Gehlen bezieht sich auf Herder nur, insoweit er die K u l t u r bejaht, und

90

I. Ritual und Wiederholung

setzt allerdings voraus, daß man dem Menschen eine Natur überhaupt zugesteht.

3.4. „Kulturelle Ritenbildung" Wie oben angedeutet, fasse ich die Begriffe „Natur" und „Kultur" nicht als Gegensätze auf. Deswegen sehe ich auch „stammesgeschichtliche und kulturelle Ritenbildung" 93 als Kontinuum. Fruchtbar wird das Konzept der Ritualisierung nämlich gerade dann, wenn wir mit diesem Instrument die Funktionsanalogien von genetisch fixierten, ontogenetisch erworbenen und kulturell tradierten Kommunikationsformen untersuchen und dadurch die konventionelle binäre Kodierung Natur / Kultur bzw. angeboren / erworben oder Tier / Mensch überwinden. Dies hat selbst Konrad Lorenz nicht gewagt, obwohl er wieder und wieder selbst darauf hinwies, daß Julian Huxley den Ritualbegriff ohne Gänsefüßchen auf tierisches Verhalten übertragen hatte. Wenn man „tierische" und „menschliche" Riten einander gegnüberstellt, 94 so denkt man einerseits an das Balz- und Revierverteidigungsverhalten von Stichlingen oder bestenfalls Graugänsen, das so offensichtlich der Arterhaltung dient, daß seine Verankerung im genetischen Code ohne weiteres einleuchtet — und andererseits an komplizierte religiöse Zeremonien, deren Detailvielfalt im Rahmen einer langwierigen Unterweisung tradiert wird. Zwar läßt sich so über den Begriff der kommunikativen Funktion 95 (der den Aspekt der Formalisierung impliziert) immer noch die Analogie von Riten des Menschen und anderer zoologischer Spezies bilden, doch ermangelt diese Beteuerung der Evidenz: Es fehlt ein anschauliches Verbindungsstück, das uns sowohl die Verwandtschaft der Verhaltensformen in Menschen- und anderen Tiergesellschaften zeigte als auch dazu beitrüge, das Verhältnis von genetischer Vererbung und Tradition zu klären. Beide Mechanismen der Informationsübermittlung über die Generationenschwelle hinweg finden wir bei anderen mehr oder weniger nah verübersieht dabei, daß die Natur bei Herder nicht nur als kausale Erklärung f ü r K u l t u r fungiert, sondern auch normativ einen Maßstab für sie abgibt. 93

L o r e n z , Rückseite (1973 / 1 9 7 7 ) , 2 5 9 , 261 ff.

94

Kerbs, Ritual (1970), 4 0 meint, die „Tierverhaltensforschung" habe einen zu w e i ten Ritualbegriff. Sein Versuch einer engeren Definition ist aber unbefriedigend.

95

S o L o r e n z (siehe oben, A n m . 93).

91

3. F o r m und Bedeutung: T h e o r i e der Ritualisierung

wandten Arten wieder, etwa bei den Schimpansen oder auch bei den japanischen Makaken, die in besonderer Weise das Interesse der Forschung auf sich gezogen haben. 96 Wir haben daher Grund zu der Annahme, daß die wichtigsten Ritualisierungen unseres Sozialverhaltens durchaus homolog zu entsprechenden Kommunikationsformen anderer Primaten entstanden sind. Irenaus Eibl-Eibesfeldt hat sich, wie schon mehrfach erwähnt, darum verdient gemacht, die angeborenen Formen zu ermitteln, die unsere Ausdrucksbewegungen substrukturieren. Auch Rudolf Bilz hat mit dem Begriff der „archaischen Funktionsreserve" 97 die stammesgeschichtlich ererbten Wurzeln unseres Verhaltens anschaulich herausgearbeitet. Vergleicht man die kindliche Entwicklung von Menschen und Schimpansen,9*® so zeigt sich sogar eine recht weitgehende Ubereinstimmung nicht nur einzelner Elemente, sondern der gesamten Sozialstruktur. Was an kultureller Uberformung hinzukommt und dann auf dem Wege der Tradition weitergegeben wird, ist der ontogenetisch erworbene Teil des Verhaltens, also derjenige, der auch bei allen anderen Tieren die individuelle Variation und Erweiterung des ererbten Schemas ausmacht. 99 Solange er ganz an die Persönlichkeit derer gebunden bleibt, die das Ritual gemeinsam durchführen, geht er mit ihnen unter. Fließt die vergemeinschaftete Variante aber in einen langfristigen Traditionsprozeß ein, so unterscheidet sich die Ritualisierung vom entsprechenden phylogenetischen Vorgang nur insofern, als sie nicht im Erbgut gespeichert wird. Formal passiert jedoch das gleiche: Die bisher variablen Elemente werden stilisiert, durch prägnante Überschärfe mit einem kommunikativen Signalwert ausgestattet und aufgrund ihrer wirksamen morphologischen Fixierung an die

96

Tradition:

Vgl.

Eibl-Eibesfeldt,

Liebe (1970/1972),

68 f.; L o r e n z ,

Rückseite

(1973 / 1 9 7 7 ) , 200 ff.; H u x l e y , Introduction (1966), 258; P o r t m a n n , Riten (1950), 393; siehe auch Koehler, Vorformen (1968), 111 über Vogeldialekte. Speziell zur Tradition bei Makaken vgl. Fiedler, Meerkatzen (1970 / 1 9 7 9 ) , 396 ff., b e s o n d e r s 399. Z u r F u n k t i o n von Tradition vgl. L o r e n z , D . sog. Böse ( 1 9 6 3 / 1 9 7 5 ) , 72 ff.: E r sieht eine Funktionsanalogie von Gewohnheit, Wegdressur, Magie, Wiederholungszwang und Tradition, die dem Verhalten Sicherheit verleihen; der H a n d e l n de hält sich an ein vorgezeichnetes Muster, das ihm sogar eigene Erfahrung ersetzen kann. Zur Bedeutung der N a c h a h m u n g für die Traditionsübermittlung siehe L o r e n z , Rückseite (1973 / 1 9 7 7 ) , 195 f.; Morris, D . nackte A f f e (1967 / 1 9 7 4 ) , 115 f. 97

Vgl. R. Bilz, Psychot. Umwelt (1962), 136.

98

S i e h e van L a w i c k - G o o d a l l , Wilde Schimpansen (1971 / 1 9 7 5 ) , 188 ff. et passim.

99

Vgl. z u r Tradition ontogenetisch erworbenen Gesangs bei Vögeln T h o r p e , Ritualization II (1966), 351 ff.; siehe auch L o r e n z , Evolution (1966), 280.

I. Ritual und Wiederholung

92

nächste Generation weitergegeben. Wir dürfen annehmen, daß sich „kulturelle Ritenbildung" ursprünglich immer unmittelbar an den phylogenetischen Wandel angeschlossen, ihn im Sinne der „Instinkt-Dressur-Verschränkung" ergänzt hat, bis dann der Anteil des Erlernten immer mehr Raum einnahm und jeweils eine autonome Partialentwicklung („Geschichte") durchmachte. Daß allein der Mensch über die Möglichkeit verfüge, ontogenetisch erworbene Verhaltensstrukturen zu tradieren, ist, wie gesagt, inzwischen widerlegt. Bestehen bleibt allerdings die Tatsache, daß Tradition für den Menschen eine ungleich größere Rolle spielt als für alle anderen Primaten. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß er über ein besseres Speicher· und Transportmedium verfügt: Dank der Wortsprache und des begrifflichen Denkens lassen sich Inhalte vom unmittelbaren Zusammenhang mit den Objekten ablösen. 100

3.5. Rituelle Muster Wenn wir hier eine kleine Zwischenbilanz ziehen, so bleibt festzuhalten, daß wir mit einem ethologischen Ansatz zweierlei erreichen: Rituelles Handeln läßt sich erstens als eine bestimmte Art von Wiederholungshandeln begreifen, und zwar im sozialen, kommunikativen Bereich. Daraus ergibt sich zweitens die Möglichkeit, seine formalen Eigenschaften zu analysieren. Hinzu kommt ein dritter Aspekt: Uns interessiert, was die Ethologie zur Bestimmung inhaltlicher Kategorien rituellen Handelns beisteuern kann. Einige bedeutungstragende Elemente kamen bereits en passant zur Sprache. Bewegungsmuster lassen sich ebenso wie optische, akustische und andere Signale, die in Riten verwendet werden, teils stammes-, teils kulturgeschichtlich ableiten. Wollte man, wie es für menschliches Sozialverhalten allgemein bereits geschieht, 10 ' ein spezielles Lexikon religiöser Ritual -

100

Sprache ist i m m e r ein Ritualisierungsprodukt - vgl. dazu H u x l e y , Introduction (1966),

258;

Lorenz,

Rückseite ( 1 9 7 3 / 1 9 7 7 ) ,

268,

270;

Koehler,

Vorformen

(1968), 113 f. Zum begrifflichen Denken vgl. Lorenz, a. a. O . , 1 4 9 ff.; Koehler, Vom unbenannten Denken (1968), 119 ff. Zur Objektunabhängigkeit vgl. Eibl-Eibesfeldt, Liebe (1970 /1972), 52. 101

A l s eine A r t Zwischenbericht darf man Morris, Mensch (1977 / 1 9 7 8 ) ansehen. D e s m o n d M o r r i s hat sich in den letzten Jahren verstärkt dem Medium Film zuge-

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

93

demente aufbauen, so wären darin viele Gruß-, Demuts-, Droh- und andere Gesten, aber auch Tätigkeiten wie Waschen, Salben, Füttern von Kultbildern und vieles mehr als .Wörter' zu verzeichnen. Diese .Lexeme' rituellen Handelns lassen sich verschiedenen Themenbereichen zuordnen. Durch Ritualisierung entstanden sie jeweils innerhalb eines bestimmten Funktionszusammenhangs, aus dem sie dann in andere Kontexte übertragbar waren. Sie entstammen beispielsweise dem Rang-, Brutpflege- oder Revierverhalten. Auch dies wurde bereits angesprochen: Wenn sich etwa eine Zuordnung zwischen Initiationsriten und Hierarchiebildung herstellen läßt, so ist diese doch nicht exklusiv. Einerseits wird Rangverhalten auch im Zusammenhang mit anderen Riten durchgespielt; andererseits entstammen zentrale Partien von Initiationsriten dem Repertoire des Brutpflegeverhaltens. Innerhalb der verschiedenen Funktionszusammenhänge sind jeweils typische Verhaltensmuster auszumachen, zu denen auch bestimmte soziale Rollen gehören. Rudolf Bilz hat dafür den Begriff der „Urszene" geprägt.^ Davon ausgehend können wir nun versuchen, wiederkehrende rituelle — oder auch mythische — Strukturen dadurch zu erklären, daß wir die ihnen zugrundeliegenden „Aktionsprogramme" bestimmen. Walter Burkert hat dies in bezug auf traditionelle Erzählstrukturen und typische Ritualsequenzen getan. Der von ihm eingeschlagene Weg verspricht weiterzuführen, mag man auch bei einzelnen Lösungsvorschlägen das Mitgehen verweigern. Ich will mich hier auf ein Beispiel beschränken, das uns bei der Interpretation eines ganz bestimmten rituellen Musters helfen soll. Gegenstand des anschließenden historisch-konkreten Teils der Arbeit werden, wie angekündigt, Umgangsriten sein. Zu deren Verständnis (über die skizzierten allgemeinen formalen Aspekte hinaus) kann nun, wie ich meine, eine ethologische Untersuchung Wesentliches beitragen. Wenn eine römische Familie eine Prozession um ihr ländliches Anwesen veranstaltet, wobei sie von diesem Ritus erwartet, daß er Unheil fernhalte und Segen

w a n d t , weil es sich bei kommunikativem Verhalten ja um Bewegungsabläufe handelt. Das Interesse an „Visible Religion" läßt sich ebenfalls in dieser Richtung v e r tiefen. 102

Siehe bes. W i e frei . . . (1971), 201 (in bezug auf das Stillen); vgl. Pars (1940), 24

103

Structure (1979), 14 ff. und 35 ff.; vgl. Creation (1996), 63 ff.

ff., 105 ff., 135.

94

I. Ritual und Wiederholung

bringe, läßt sich dies als rituelle Reviermarkierung verstehen. 104 Denn das Grundstück, auf dem eine Familie — oder auch eine größere soziale Einheit - lebt, ihre Kinder großzieht und ihren Lebensunterhalt erwirtschaftet, bildet ein Revier im ethologischen S i n n e . E s wird räumlich strukturiert durch die Markierung von Zentrum und Grenze, 1 0 6 und es verleiht das nötige Maß an Sicherheit, damit die Gruppe gemeinsam überleben kann, weshalb sie es notfalls gegen den Zugriff anderer verteidigt. Sinn der Territorialität ist jedoch nicht der permanente Kampf aller gegen alle, sondern im Gegenteil die Konfliktvermeidung. Hier treffen sich die Aussagen antiker Autoren über die Bedeutung stabiler Grenzen zwischen benachbarten Grundstücken mit den Erkenntnissen der modernen Verhaltensforschung. Frieden, Freundschaft und ein gutnachbarliches Verhältnis sollen die Grenzen sichern, heißt es bei Piaton und anderen, 107 und Plutarch gibt an, der römische Urkönig Numa habe mit deren Institutionalisierung der Habgier und Ungerechtigkeit der Menschen ein Ende setzen wollen.10® Ebenso sieht die Ethologie in der Revierbildung eine Möglichkeit, wie Artgenossen, die sich in bezug auf knappe Nahrungsmittel sowie auf geeignete Schlaf- und Brutplätze in einer Konkurrenzsituation befinden, möglichst konfliktfrei miteinander leben können. Während der Phase der Revieraufteilung kann es durchaus zu Auseinandersetzungen kommen, die ihrerseits bestimmte Verfahrensregeln kennen, doch sobald die Grenzlinien .ausgehandelt* sind, gelten sie als mehr oder weniger unantastbar. 109 104 Das amb-ire

im Rahmen verschiedener Arten von Prozessionen als Markierung

des Raums behandelt Cancik, Rome as Sacred Landscape (1985/86), 255 ff. E r verzichtet dabei allerdings auf ein ethologisches Modell und bleibt ganz auf der Ebene der „Kultursemiotik" (vgl. Gladigow, Audi Juppiter [1992], 187 ff. zur „Kultursemiotik der Grenzordnung"). 105 Zum Revierverhalten allgemein siehe Eibl-Eibesfeldt, Grundriß

(1967/1980),

425 ff.; zur Territorialität speziell bei Menschen siehe Jakle / Brunn / Roseman, Human Spatial Behavior (1976), bes. 39 ff. u. 245 ff., Eibl-Eibesfeldt, Biologie (1984), 417 ff. sowie Taylor, Human Territorial Functioning (1988). 106 Eine ethologische Analyse des Wohnraums von Gruppen bei G. Baudy, Exkommunikation (1980), 71 ff. Eine grundlegende „religionsgeschichtliche Einordnung von Grenzen, Grenzziehungen und Grenzbestätigungen": Gladigow, Audi Juppiter (1992). „Zur soziokulturellen Dimension von Raum in frühen Gesellschaften" siehe R. Gehlen (1995), speziell zu Zentrum und Grenze 109 ff. und 118 ff. 107 Vgl. Piccaluga, Terminus (1974), 148 ff. u. 178 ff. 108

Plut. Numa 16, 4.

109 Siehe Eibl-Eibesfeldt, Grundriß (1967 /1980), 429.

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

95

Was aber bewegt ein Lebewesen, dem ab einer gewissen Siedlungsdichte die Ausweitung seiner Jagd- und Weidegründe stets interessant erscheinen muß, dazu, die Grenzen anderer zu respektieren? Legt ein Bauer, wie in der Antike üblich, einen stachligen Zaun von Brombeeren und anderen Dornengewächsen an, so schafft er damit ein unüberwindliches Hindernis für Räuber und wilde Tiere. Doch nicht alles Kulturland läßt sich auf diese Weise schützen, nicht jeder Besitz ist rund um die Uhr bewachbar. Territorialität funktioniert nur, wenn auch unbefestigte Grenzen beachtet werden. Sobald ein Lebewesen an bestimmten Anzeichen erkennt, daß ein Artgenosse einen bestimmten Raum als Revier besetzt hält, weiß es auch, daß der Revierinhaber einen Übergriff nicht dulden würde, ohne sich zur Wehr zu setzen. Wegen des „Heimvorteils" hätte er stets gute Chancen, gegen einen Eindringling zu gewinnen. An den Reviermarkierungen lassen sich demnach drohende Konflikte erkennen, und gerade deshalb kann man sie vermeiden. Um ein Territorium als .besetzt' zu kennzeichnen, gibt es viele verschiedene Möglichkeiten. Sie beruhen primär darauf, daß der Revierinhaber Präsenz demonstriert. Sofern dies durch Gesten — unter Primaten verbreitet ist das phallische Imponieren11® — oder durch akustische Signale geschieht, müssen sich die Adressaten in Reichweite befinden, denn die Wirkung des Rituals auf Nachbarn hängt bei diesen Medien davon ab, ob jene es sehen bzw. hören können. Große Räume lassen sich so freilich nicht abstecken. Bei solchen werden Markierungsriten benutzt, die dauerhafte Zeichen hinterlassen. In Frage kommen neben den verbreiteten olfaktorischen Markierungsformen insbesondere optische. Letztere sind kulturell bedeutsamer. Als .Stellvertreter' des Revierinhabers entlasten Artefakte aus Holz, Stein oder Metall diesen von der Notwendigkeit persönlicher Zurschaustellung. Dies gilt etwa — im uns hier besonders interessierenden römisch-latinischen Kulturbereich - für die termini (Grenzsteine)111 oder für die Larenaltäre an der Grundstücksgrenze.^ Andererseits bedürfen gerade diese auf Dauer gestellten Signale immer wieder der Aktualisierung: Nur wenn die Zeichensetzung in gewissen Abständen rituell .wiederholt' wird, läßt sich an den steinernen Markierungen able-

110

D a z u Fehling, Ethologische Überlegungen auf dem Gebiet der A l t e r t u m s k u n d e (1974), Kapitel 1: „Phallische Demonstration".

111

D a z u Piccaluga, Terminus (1974); Gladigow, Audi Juppiter (1992).

112

Z u m archäologischen Material vgl. Simon, G ö t t e r (1990), 119 ff. u. Zanker, A u g u stus (1987 / 1 9 9 0 ) , 1 2 9 ff. (mit weiterer Literatur).

96

I. Ritual und Wiederholung

sen, daß sie noch in Gebrauch sind. Der Terminuskult bietet ein Beispiel dafür, daß die Reviermarkierung durchaus in nachbarschaftlichem Einvernehmen praktiziert werden kann, was ihre erwähnte konfliktvermeidende Funktion nur verstärkt. 113 Wenn wir nun die römischen Umgangsriten vor diesem Hintergrund interpretieren, können wir sie als symbolische Reviermarkierung verstehen. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie den Raum strukturieren. Das feierliche Umschreiten eines bestimmten Gebiets - der Stadt, der Feldmark, des Dorfs, des eigenen Grundstücks - grenzt einen inneren Bereich, in dem sich das schützende Heim befindet, gegen einen äußeren, fremden, vielleicht sogar unheimlichen ab. Die rituelle Motorik vollzieht sich auf der Scheidelinie, wo der kollektive Schutzraum endet und der Bereich der Gefährdung beginnt. Das eigene Revier ist der Raum, den man überblicken und notfalls verteidigen kann und wo man sich sicher fühlt. Deshalb ist das Umkreisen des Territoriums gleichzeitig ein Kontrollgang, auf dem man überprüft, ob alles in Ordnung ist, und ein Akt, mit dem man die eigene Präsenz und Stärke demonstriert. Indem jedes Abschreiten der Grenzlinie zugleich aus der Distanz ein Umgang um das besonders schützenswerte Zentrum des Reviers ist, drückt sich in ihm auch ein Bindungsverhalten an das Heim (oder gegebenenfalls ein sakrales Zentrum mit Heimqualität) aus. Je nach Kontext des Rituals werden dabei andere Akzente gesetzt. Das Ritual kann unterschiedlichen Adressaten gelten. Während die Umkreisung eines private Anwesens oder eines Dorfs zunächst den wohlbekannten konkurrierenden Nachbarn gilt, ist der (freilich nur symbolisch angedeutete) Umgang um das Staatsland gegen Fremde gerichtet. In Rom — wie überall auf der Welt — sind es jedoch nicht nur andere Artgenossen, denen das Ritual signalisiert, daß ihnen Respekt vor den Reviergrenzen abverlangt wird. Es findet vielmehr eine zusätzliche Übertragung statt: Die rituelle Abwehr gilt Bedrohern aller Art, sichtbaren wie unsichtbaren. Bei primitiven Kleingruppen, deren Wohnplatz nicht nur an die Wohngebiete anderer Gruppen angrenzt, sondern auch von Wildnis umgeben ist, stellen Raubtiere und tiergestaltige Dämonen als deren phantasierte Stellvertreter Feindmächte dar, die mit ähnlichen Mechanismen ferngehalten werden sollen. Das Reviermarkierungsverhalten wird hierbei als eine Form der „interspezifischen Kommunikation" eingesetzt. In der römisch-italischen 113

D i e „Terminalia" waren ein Nachbarschaftsfest; vgl. Piccaluga, Terminus (1974),

128 ff.

3. Form und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

97

Kultur suchte man sich durch den Umgang nicht nur gegen Wölfe, sondern auch — an die wirtschaftliche Situation einer Agrarkultur angepaßt — gegen Seuchen und Mißernten zu schützen. 114 Die Angst vor Gefahr läßt sich jedoch stets erneut mit Ungeheuern bebildern: Das belegt nicht zuletzt der Drache, der noch bei einem christlichen Flurumgang um das Jahr 1700 eine Rolle spielte. 115 Auch die Revierinhaber und -Verteidiger finden ihre symbolischen Äquivalente. Bekannt sind aus vielen Kulturen Wächterdämonen, die komplementär zur Personifikation des Unheimlichen mit Drohmerkmalen ausgestattet sind. 116 Bei unserer Interpretation der römischen Lustrationsriten werden Götter — insbesondere Mars und die Laren - als Helferfiguren vorkommen. Sie werden im ritualbegleitenden Gebet um Hilfe angerufen und lassen sich als Repräsentanten der Ritualteilnehmer verstehen. Wie der Umgang selbst, der zwei Perspektiven zuläßt, nämlich das nach draußen gerichtete Abwehrverhalten und eine auf den Innenraum des Reviers bezogene Fürsorglichkeit, haben auch diese Gottheiten zwei Aspekte. Sie sind zugleich Revierverteidiger und Segenspender. Hinzu tritt ein dritter Aspekt des rituellen Umgangs, der das Verständnis der „Lustrationsriten" maßgeblich beeinflußt: die kathartische Funktion. 118 Sie ergibt sich daraus, daß wir es bei rituellen Markierungen im religionswissenschaftlich relevanten Sinn nicht mit alltäglichem Abwehrverhalten zu tun haben, sondern mit periodisch wiederholten Inszenierungen, denen eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Wie oben skizziert, stellt der feierlich akzentuierte Ritus einen Idealzustand her, der nicht nur das urzeitlich-vollkommene Urbild .wiederholt', sondern auch selbst das Muster für die alltäglichen Wiederholungen abgibt. Eine Reviermarkierung im Rahmen eines Fests muß daher in vollkommener Weise glücken. Das bedeutet nicht nur, daß die Abwehr aller schädlichen Einflüsse gelingt; vielmehr soll gleichzeitig die Unversehrtheit des Innenraums inszeniert werden. Mary Douglas hat gezeigt, daß Reinigungsriten aller Art nach einem Prinzip funktionieren: Sie praktizieren die „Kunst der

114 115 116 117

Dazu mehrere Beispiele im folgenden zweiten Teil dieser Arbeit. Siehe unten, Kap. II 6. 2 . 1 . Vgl. D. Baudy, Dämonen (1987), 118. Siehe dazu die Kap. II 2.1. und II 4. 2.

118

In den griechischen Quellen der Antike wird lustratio ben.

mit κ α θ α ρ μ ό ς wiedergege-

98

I. Ritual und Wiederholung

Trennung". 119 So trennt die rituelle Umkreisung den .guten' Innenraum vom bösen Draußen in verschiedener Hinsicht. Alles und jeder Nicht-Zugehörige wird zunächst hinausgeschickt. So entsteht die Unterscheidung von innerem Kosmos und äußerem Chaos, von problematischem Vorher und idealem Jetzt, auf sozialer Ebene von Gruppenmitgliedern und Fremden.1^0 Das Prinzip läßt sich vielfach übertragen und findet auch in allerlei Zauberpraktiken und Heilungsriten seine Anwendung. Typisch ist dabei die Sequenz von Ausstoßung alles Unerwünschten und .Versiegelung' des gereinigten Zustande. Der Kreis soll jeweils einen Idealzustand umschließen und diesen dadurch für die Geltungsdauer des Rituals erhalten. Auf der Ebene der Sozialstruktur konstituiert sich so die revierbewohnende Gruppe als exklusiver Verband. Dieser kennt allerdings seinerseits interne Probleme, die wiederum als „Verunreinigung" gedeutet werden. Auch die Befreiung der Revierbewohner von Unmut zwischen rivalisierenden Personen sowie zwischen Autoritätspersonen und Untergebenen ist eine „Katharsis", die im gemeinsamen Feiern inszeniert wird. Das Grundmuster des rituellen Umgangs läßt sich nach verschiedenen Parametern variieren. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Wirtschaftsform. So hat zwar der Ubergang zur Seßhaftigkeit die menschliche Territorialität nicht geschaffen, aber doch im Vergleich zum jägerischen Revierverhalten Veränderungen mit sich gebracht. Die geographische Lage spielt ebenso eine Rolle wie die Siedlungsdichte. Das schützenswerte Gut hat Einfluß auf die Gestaltung des Ritus: Handelt es sich um Ackerland, einen Garten, Weideland, städtisches Territorium? Wer sind die Revierinhaber? Welche Art von Gruppe bewohnt das Revier? Wer sind demnach die Adressaten der Markierung? Diese und weitere Fragen haben wir zu berücksichtigen, wenn wir die Variationen des wiederholbaren Handlungsmusters untersuchen wollen. Sofern wir eine diachrone Analyse anstreben, ist das historische Ausgangsmaterial im jeweiligen kulturellen Kontext zur Beurteilung von Entwicklungen heranzuziehen. Im folgenden sollen das rituelle Muster des Umgangs und seine kontextabhängigen Variationen an ausgewählten Beispielen der römischen Lustrationsriten untersucht werden. Dabei erfolgt die Analyse der ländlichen Lustrationsriten unter dem Gesichtspunkt der Variation verschiedener Parameter wie Gruppengröße bzw. Typ des Territoriums, spezifische wirt119

Siehe Reinheit (1966 / 1 9 8 5 ) . Auf das griechische Material angewandt v o n Parker, Miasma (1983). Vgl. dazu Versnel, A p o l l o (1985/86 /1993), 311.

120

Siehe Brelich, Osservazioni (1949/50).

3. F o r m und Bedeutung: Theorie der Ritualisierung

99

schaftliche Bezüge, jahreszeitliche Veränderungen usw. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auch auf das Selbstverständnis der Ritualteilnehmer, das sich in Gebeten, Mythen und anderen möglichen Codierungsformen ritueller Bedeutung ausdrückt. Bleibt hier noch der territoriale Aspekt im Vordergrund, so findet im dritten Teil ein Perspektivenwechsel statt. Thematisiert wird nun, wie das Ritual Gemeinschaft konstituiert. Die rituelle .Konstruktion' von Raum und diejenige von sozialer Einheit lassen sich freilich nicht trennen. Schließlich ist noch ein dritter Aspekt zu berücksichtigen: Die rituelle .Konstruktion' von Zeit, und zwar in mehrfacher Hinsicht — als Markierung verschiedener Abschnitte des Jahres- und des Lebenslaufs sowie als Mechanismus zur Herstellung größerer Zeiträume sowohl im zyklischen als auch im linearen Sinn.

II. Ländliche Lustrationsriten Formen der Territorialität im Wirtschaftsjahr

1. Wie „lustriert" man ein Landgut? Catos Ritualanweisung (De agri cultura 141) als wiederholbares Muster 1.0. Einleitung Erfreulicherweise verfügen wir über eine genaue Anweisung zur Durchführung einer Lustration: Sie steht in Catos Werk De agri cultural· (Kapitel 141). Mit diesem Lehrbuch des Ackerbaus wollte sein Verfasser all jenen einen Leitfaden an die Hand geben, die erwogen, einen Agrarbetrieb aufzubauen. Dieser Zielsetzung entsprechend, enthält das Kompendium vor allem Angaben über landwirtschaftliche Techniken, angefangen bei der Auswahl des für das jeweilige Produktionsziel geeigneten Bodens bis hin zur Herstellung von Maschinen, etwa einer Ölpresse, oder Rezepten gegen Krankheiten der Nutztiere. Letztere lesen sich für uns zum Teil als Anweisungen für magische Praktiken, doch Cato scheint keinen Unterschied zu machen zwischen Hausmitteln und Zaubersprüchen - Hauptsache, es hilft.^ Soziale Verhaltensvorschriften sind ebenfalls unerläßlich für jeden, der in einem Gutsbetrieb die Verantwortung übernehmen will, deshalb trifft Cato auch Anordnungen zur Handhabung geltender religiöser Nor-

1

Dies die Schreibweise des Titels in Mazzarinos Ausgabe 1 9 8 2 ; zusammengeschrieben bei Goujard, mit näherer Begründung in Caton (1975), X X X I I . H e l m , M. Porcius C a t o [1953], 148.)

(Anders

Literatur zur Diskussion in der Forschung

bei Astin, C a t o (1978), 189, A n m . 20. Zur Datierung des W e r k s nach 198, evtl. auch noch nach 164 v. Chr., ebd. 190; vgl. Olck, Kalenderdaten (1890), 5 7 9 . Siehe jetzt auch die sehr instruktive „Einführung" von O t t o Schönberger in der z w e i sprachigen Cato-Ausgabe (1980), 3 8 7 ff. (mit weiterer Literatur). 2

Vgl. z. B. einerseits die Rezepte für den Gebrauch des Kohls als Heilmittel (Kap. 1 5 6 u. 157), andererseits den Zaubergesang gegen Verrenkungen (Kap. 160). Zu letzterem

Wessely,

Zu

Catos

Schrift

(1898),

bes.

135 f.;

Graf,

Gottesnähe

( 1 9 9 4 / 1 9 9 6 ) , 43 ff., der betont, daß es sich auch bei diesem Ritual nach antiker Auffassung um eine medizinische Maßnahme gehandelt habe, und Versnel, Poetik (1996), 2 3 4 ff.

104

II. Ländliche Lustrationsriten

men oder zur Durchführung bestimmter Riten.'' Offensichtlich gehörte die Technik, ein Landgut zu „lustrieren" ebenso zur Grundausstattung eines Landwirts wie etwa bestimmte Verfahrensweisen der Landbestellung, der Nahrungsmittelproduktion oder der Viehzucht. 4 Der Kontext bringt es mit sich, daß die knappe, nur in den zugehörigen Gebetstexten etwas ausführlichere Ritualvorschrift, auch wenn sie erfreulich konkret ist, uns über mancherlei im unklaren läßt. Details, die uns ein antiquarisch-gelehrtes Werk vielleicht hätte bieten können, setzt Cato, der ein politisch-pragmatisches Ziel verfolgt und sich daher unmittelbar an seine Zeitgenossen wendet, als bekannt voraus. Er kann sich mit knappen Andeutungen begnügen. Uns fällt die Aufgabe zu, sie interpretierend zu erschließen.

1.1. Der rituelle Umgang Wie „lustriert" man ein Grundstück? Cato beginnt seine Ritualanweisung (agr. 141,1) mit den Worten: Agrum lustrare sie oportet — „ein Grundstück® ,lustriertman so": impera suovitaurilia circumagi — „befiehl, daß ,Suovitaurilia' herumgeführt werden." Mit knappen Worten ist hier angegeben, worin die Ritualhandlung im wesentlichen besteht: Drei Opfertiere in einer traditionellen Kombination, nämlich ein Schwein (sus), ein Schaf ( o v i s )

3

4

5 6

Beispielsweise die Angaben, wie mit dem Feiertagsgebot umzugehen ist (Kap. 2, 4 und 138), oder die Vorschriften für die Durchführung bestimmter Opfer (Kap. 83, 131, 132, 134, 139, 140; vgl. dazu Rohde, Kultsatzungen [1936] 85). Catos Werk ist (trotz aller durch die Uberlieferung verursachten Probleme) in sich strukturiert (was Fuhrmann, D. systematische Lehrbuch (1960), 158 wie schon Helm, M. Porcius Cato [1953], 148 ff. bestritten hat): Vgl. Astin, Cato (1978), 343 f. zu den Kapiteln 131-150; Richter, Gegenständliches Denken (1978), 7 ff. mit weiteren Angaben zur Forschung und 156 zum Werkplan; Schönberger, Einführung (1980), 4 2 5 - 4 6 5 . Es geht aus dem in Catos Text Folgenden hervor, daß mit ager nicht einfach ein Feld oder die Feldflur gemeint ist, sondern das ganze bäuerliche Anwesen. Die Ubersetzung von lustrare setzt die Interpretation des in Frage stehenden Textes voraus. Um den Verständnishorizont nicht durch Vorannahmen einzuengen, soll hier zunächst das lateinische Wort als Fremdwort stehen bleiben. Vgl. Goujard, Caton (1975), 287 ad loc. Er übersetzt „faire ... la lustration".

105

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

und ein Rind (taurus) 7 sind um die Feldflur herumzuführen.8 Der Gutsbesitzer muß den Ritus nicht persönlich vollziehen; er kann die Ausführung delegieren. Die Übertragung der religiösen Verantwortung an einen anderen bedarf freilich einer gewissen Vorsicht; die sakralrechtliche Verbindlichkeit der Handlung des Stellvertreters ist sicherzustellen. Cato gibt daher eine feierliche Formel an, die beim Erteilen des Befehls zu sprechen ist: „Mit gnädigem Willen der Gottheiten, und was gut ausgehen möge, gebe ich dir, Manius, den Auftrag, Sorge zu tragen, daß jenes Schwein-, Schaf- und Stieropfer mein Landgut, meine Feldflur und mein Land lustriert, so weit du es für gut hältst, es herumzutreiben oder herumzutragen."^ Was an dieser Formel auffällt, ist einerseits der fast zwanghaft anmutende Hang zur Präzision: Der Geltungsbereich des Rituals, nämlich das eigene Landgut, wird mit drei fast synonymen Begriffen beschrieben. 10 Andererseits bleibt es dem Ausführenden überlassen, nach eigenem Gutdünken den Aktionsradius festzulegen. Deshalb könnte man (obwohl nicht alle Zweifel auszuräumen sind) annehmen, daß der Befehl zur Lustration an den Verwalter des Guts geht11: Dieser kennt sich mit den örtlichen Gegebenheiten bestens aus, eventuell besser als der Grundbesitzer selbst. Er kann daher zwar den Geltungsbereich des Rituals nicht eigenverantwortlich bestimmen, denn dieser ist ihm durch die Formel vorgegeben:

7

Material bei Krause, Hostia (1931), 264 ff. Grundlegend jetzt Scholz, Suovitaurilia (1973); siehe auch dens., Studien (1970), 70 f. sowie Versnel, Apollo (1985/86 / 1993), 300 mit Anm. 41, der den Sündenbock-Charakter des Opfers diskutiert (wogegen ich Vorbehalte habe). Mit indischem Material vergleicht Dumézil, Archaic Roman Religion (1966 / 1 9 7 0 ) , I, 237 f.

8

Goujard, Caton (1975), 288 ad loc. nimmt einen dreimaligen Umgang an wegen Verg. Georg. 1, 345. Dies ist nicht zwingend und auch nicht plausibel, da bei Cato jeder Hinweis auf eine Wiederholung fehlt. (Zu Vergil s. u., Kap. II 3. 2.)

9

10

,Cum divis volentibus quodque bene eveniat, mando tibi, Mani, uti illace suovitaurilia fundum agrum terramque meam, quota ex parte sive circumagi sive circumferenda censeas, uti cures lustrare' Zu Catos Synonymhäufungen allgemein vgl. von Albrecht, Meister (1971), 22 mit Anm. 35: Sie sind nicht nur typisch für die Sakral-, sondern auch für die Amtssprache, wo sie dazu dienen, „die Auslegungs- und Anwendungsmöglichkeiten zu .erschöpfen' ". Siehe auch Kronasser, Nugae (1966), 29 ff.

11

Anders Hörle, Catos Hausbücher (1929), 40, der Manius für den Pächter aus Kap. 151 hält, und Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 239, der in diesem Namen nur ein Illustrationsbeispiel sieht, das Cato aus seiner Vorlage übernommen hat. Ihm folgt Astin, Cato (1978), 344, Anm. 2. - Zur Rolle des vilicus ebd. 2 4 4 ff.

vgl. Astin,

106

II. Ländliche Lustrationsriten

Das ganze Landgut ist zu „lustrieren". Wohl aber vermag er einen Prozessionsweg innerhalb des Grundstücks festzulegen, der ein Gebiet umschließt, das pars pro toto das Anwesen repräsentiert. Eine solche Beschränkung ist deshalb notwendig, weil die Größe des Guts einen Umgang um das ganze Land unmöglich machen kann oder weil der Grenzverlauf möglicherweise durch unzugängliches Gebiet führt — das Ritual muß praktikabel sein. Ein weiteres wichtiges Detail geht noch aus der zitierten Formel hervor: „Lustrieren" kann sowohl ein Herumtreiben als auch ein Herumtragen der suovitaurilia bedeuten12; in jedem Fall aber ist eine Prozession mit den Opfertieren um das Grundstück (oder einen repräsentativen Teil davon) gemeint. Cato benutzt also offensichtlich lustrare als Terminus technicus für ein bestimmtes religiöses Handlungsmuster, nämlich für den rituellen Umgang mit Opfertieren. Andere Zeugnisse bestätigen einen solchen Wortgebrauch. Insbesondere Vergil erwähnt in verschiedenen Zusammenhängen ländliche Riten, die sich mit dem Catonischen Text vergleichen lassen, und zwar weil er entweder die Kreisprozession evoziert oder aber vom „Lustrieren" redet. Letzteres ist in der fünften Ekloge der Fall, wo in Vers 75 regelmäßige Opfergaben an Daphnis in Aussicht gestellt werden, „wenn wir die Felder lustrieren".13 Servius und Macrobius haben zu dieser Stelle erklärt, „lustrieren" bedeute „ringsumgehen". Beide haben auch eine Beziehung zu einem Vers aus den Geórgica hergestellt, wo es heißt: „Und dreimal soll das glückbringende Opfertier um die jungen Feldfrüchte gehen"14. Sie kennen für ein solches Opfer den Ausdruck sacrificium ambarvale, den sie daraus ableiten, daß das Tier um die Feldflur (arva) herumgehen soll (ambiai),

12

Zu tragen sind die Opfertiere wohl dann, wenn die „Säuglinge" noch zu klein zum Laufen sind. Anders Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 239, Anm. 3, der annimmt, die Vorschrift gelte für widerspenstige Tiere. - Vgl. Nonius, der nicht nur die Definition kennt, lustrare est circumire falls circumferre

13

Verg. ecl. 5,74f.: Haec tibi semper phis, et cum lustrabimus

14

(p. 528 L.), sondern eben-

lustrare (p. 399 L.).

est proprie

erunt, et cum sollemnia

vota / reddemus

Nym-

agros.

Verg. georg. 1, 345: terque

novas circum felix

eat hostia fruges.

- Servius hat die

Beziehung indirekt hergestellt, weil er sich zu ecl. 5, 75 auf ecl. 3, 77 bezieht; in seinem Kommentar zu dieser Stelle hat er den Geórgica-Vers zitiert: Serv. ecl. 5, 75 mit Schol. Daniel.: ET CUM LUSTRABIMUS faciam

vitulam

pro frugibus.

AGROS sic supra cum

.lustrare' hic circuire: dicit enim ambarvale sacrifi-

cium. Vgl. Serv. ecl. 3, 77: (...) hinc ipse in Georgicis folgenden Anmerkung. Dort auch Macr. Sat. 3, 5, 7.

(...). Das ganze Zitat in der

107

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

wofür Macrobius noch eine Definition des Grammatikers Festus zitiert: „Ein Ambarvalopfer ist eines, das von denen, die für die Feldfrüchte opfern, aus religiösen Gründen um die Feldflur geführt wird."15 Ob wir diese Angaben als Zeugnisse für ein „Ambarvalfest" verwenden dürfen und ob sich gegebenenfalls die von Cato vorgeschriebene Lustration des ager auf ein solches Fest beziehen läßt, wird später zu klären sein. Hier ging es zunächst nur darum zu zeigen, daß der Begriff des „Lustrierens" nicht nur in dem uns gegenwärtig interessierenden Text fest mit der Vorstellung eines rituellen Umgangs verbunden ist. Zur strittigen Frage der Etymologie von lustrare ist damit freilich nichts gesagt. Die sprachwissenschaftliche Forschung hat drei mögliche Wurzeln des Substantivs lustrum bzw. des Verbs lustrare diskutiert.16 In Frage kommt erstens *~leu- = „lösen"; diese Wurzel ist in lu-ere, so-lu-ere oder in λύω enthalten. Zweitens könnte lustrare mit *leu- = „leuchten" wie beispielsweise in luceo, verwandt sein. Die dritte Möglichkeit ist mit *leu- = „waschen" oder aber = „verunreinigen" gegeben; es bestünde demnach entweder eine Verwandtschaft mit λού-ω (aus *lou-), dem das lateinische lavo entspricht, oder aber mit λύθρον, lu-ès, polluo, lutum, lu-s-trum aus *lu- bzw. λύμη aus*/«-. Jede dieser drei Entwicklungslinien ist sprachgeschichtlich möglich; keine der Ableitungen ist ganz ohne Plausibilität. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß jeder der drei etymologischen Lösungsversuche seine Anhänger gefunden hat.17

15

Macrob. Sat. 3, 5, 7 lautet im Zusammenhang: ambarvalis

hostia

est, ut ait

Pom-

peius Festus, quae rei divinae causa circuiti arva ducitur ab his qui pro frugibus faciunt. huius sacrificii mentionem in Bucolicis habet ubi de apotheosi Daphnidis loquitur ( . . . , es folgt ecl. 5, 74 f.), ubi lustrare significat circumire: hinc enim videlicet et nomen hostiae adquisitum est, ab ambiendis arvis, sed et in Georgicorum libro primo ( . . . , es folgt georg. 1, 345). - Der Ausdruck pro frugibus den Festus gebrauchte, entspricht Verg. ecl. 3, 77: cum faciam

ipse venito. Dazu kommentierte Servius: cum sacrificavero.

vitula pro

et figurate

facere, frugibus,

, faciam

vi-

tula' ait, ut ,faciam ture', ,faciam agna': Horatius seu poscat agna sive mailt haedo. dicitur autem hoc sacrificium ambarvale, quod arva ambiat victima: hinc

ipse in Georgicis

(...). O b die Ritualveranstalter, von denen Festus spricht,

mit den Arvalbrüdern identisch sind, wird unten zu erörtern sein (siehe Kap. II 4. 5). 16

Siehe Fugier, Recherches (1963), 347 ff. Vgl. Ogilvie, Lustrum (1961), 33 ff. und

17

Für luere

besonders Petersmann, Lustrum (1983). im Sinne von „befreien" als Urbedeutung von lustrare

haben sich Fow-

ler, Lustration (1910), 206 ff. u. Religious Experience (1911/1971), 210 ff., Onians, Origins (1951), 437 ff. u. 510 sowie Scullard, Festivals 1981, 124 entschieden.

-

108

II. Ländliche Lustrationsriten Bei näherer Betrachtung sind es allerdings stets inhaltliche A r g u m e n t e ,

keine sprachwissenschaftlichen,

die jeweils den Ausschlag in eine

be-

stimmte Richtung g e b e n d 8 Die Suche nach der Grundbedeutung des N a mens, die den ursprünglichen Sinn des Ritus erschließen sollte, erweist sich als zirkulär: W e l c h e r sprachlichen Wurzel m a n den Vorzug gibt, hängt wesentlich davon ab, welche Vorstellung m a n von den Lustrationsriten gew o n n e n h a t . ^ A u s den antiken Quellen läßt sich dabei nichts entscheiden: Sie bieten Stoff für alle drei Versionen — und n o c h für eine vierte, die e t y mologisch nicht zu verifizieren, wohl aber mannigfach als gängiger Sprachgebrauch belegt ist, nämlich lustrare

in der Bedeutung

„umkreisen".^ 0

Zahlreiche Q u e l l e n unterstützen die hier vorgetragene Auffassung, daß das

18

19 20

Eine Beziehung zu lue- = leuchten stellten Otto, Lustrum (1916), 17ff., Koch, Gestirnverehrung (1933), 25 f. und Szabó, Lustrum (1939), 143 f. her (vgl. Borzsák, Ter tria lustra, 1980, 51). Siehe jetzt besonders Petersmann, Lustrum (1983), 211 f. - Für eine Urverwandtschaft mit lavare plädierten u. a. Corssen, Kritische Beiträge (1863), 410 f.; Deubner, Lustrum (1913), 127 ff.; Walde / Hofmann, Wörterbuch I 3 (1938), 773 f.; Fugier, Recherches (1963), 350 f. Bisweilen stellt auch der moderne Sprachgebrauch die Weichen - im Deutschen wie beispielsweise im Französischen hat ja das Wort „Lustration" „kathartische" Konnotationen. Diese hatte es auch schon im Lateinischen (siehe dazu unten), doch ist auch dann zunächst ganz konkret an einen Umgang zu denken, wenn Aspekte der Reinigung oder Entsühnung mitgemeint sind; dies sollte in Übersetzungen berücksichtigt werden. Berühmtestes Beispiel: Tib. 2 , 1 , 1 (fruges lustramus et agros); dazu das folgende Kapitel. Vgl. auch Calp. ecl. 5, 24-28: sed non ante greges in pascua mitte reclusos, / quam fuerit placata Pales. . . . / . . . tepidos tunc hostia cultros / imbuat: bac etiam, dum vivit, ovilia lustra. Das Opfertier hat hier offensichtlich vor seinem Tod einen Umgang um die Schafställe zu machen. Otto, Lustrum (1916), 40 hat dies erkannt. Vgl. Petersmann, Lustrum (1983), 209. Als „wesentlichstes Element" des Lustrierens wurde das Umkreisen von Boehm, Lustratio (1927), 2030 bestimmt. - Konsequenter als viele andere Forscher nutzte Huguette Fugier (Recherches [1963], 350) das, was wir über den Ritus selbst wissen, um die Bedeutungsentwicklung seines Namens zu erklären. Sie hat nämlich klar erkannt, daß es das Ritualmuster ist, das den Sprachgebrauch prägt (vgl. Koch, Gestirnverehrung [1933], 23 ff.!). Deshalb - so ihre Argumentation - erhielt das Wort lustrare, das ihrer Einschätzung zufolge zunächst die Bedeutung „reinigen" hatte, gerade durch die Assoziation des prominenten Reinigungsritus (sie denkt an das Zensorische Lustrum; dazu unten, Kap. III 2) einen zusätzlichen Sinn, nämlich den des Umgangs, verbunden evtl. noch mit dem Aspekt der Musterung. Ähnlich schon Otto, Lustrum (1916), 26 ff. (vgl. auch Berve, Lustrum [1927], 2040) und Härtung, Religion I (1836), 198 f.

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

109

Wort als Terminus technicus der römischen Sakralsprache anzusehen ist21 und daß es gerade die konkrete Vorstellung eines rituellen Umgangs ist, die häufig auch dort den Sinn des Ausdrucks prägt, wo er bildhaft verwandt wird. 22 Die mutmaßliche — oder vielleicht auch sprachwissenschaftlich zu erschließende — ursprüngliche Bedeutung eines Wortes ist also meines Erachtens für die Interpretation eines Textes weit weniger erhellend als sein „Gebrauchswert". Welche Wünsche und Vorstellungen sich mit einem solchen rituellen Umgang verbanden, wird aus dem Gebet, das Cato auf die Angaben zum Handlungsverlauf folgen läßt, zu erschließen sein.

21

D i e g r ö ß t e Ähnlichkeit weisen diejenigen auf, die sich auf v e r w a n d t e Riten beziehen; siehe beispielsweise Varrò ling. 5,153: Armilustrum ab ambitu lustri: locus idem Circus Maximus dictus, quod circum spectaculis aedificatus ubi ludi fiunt, et quod ibi circum metas fertur pompa et equi currunt. ¡taque dictum in Cornicula militis adventu, quem circumeunt ludentes: / Quid cessamus ludas facere? Circus noster ecce adest... ; vgl. Varrò ling. 6, 22: Armilustrium ab eo quod in Armilustrio armati sacra faciunt, nisi locus potius dictus ab his; se quod de his prius, id ab luendo aut lustro, id est quod circumibant ludentes ancilibus armati. - Siehe auch Lucan. 1, 592 f. und Sil. Ital. 12, 752 (beide erwähnen ein amburbium)·, Claud. 28. paneg. H o n . VI cos. 324 ff. (vorgestellt ist ein H e i lungsritual um Italien); Q u i n t i l , declam. 329 (decursio). Vgl. auch Plin. nat. 8,161 (eine führerlos gewordene Quadriga „lustrierte" dreimal den kapitolinischen Tempel). - Auch auf den Bronzetafeln von Iguvium wird der Begriff im hier angegebenen Sinn verwendet: Siehe Tab. Iguv. 6 Β 48, 1 Β 10, 6 A 19, 1 Β 40, 7 Β 3, 7 Α 46.

22

H ä u f i g begegnet lustrare als Ausdruck für Gestirnbewegungen: Siehe Lucret. 5, 79 u. 5, 931; Sen. Agam. 42; Cie. nat. 1, 87 u. 2, 53 sowie Tim. 32; Lucan. 1, 45 ff.; Macr. Sat. 1,14, 5 - 6 . - Vgl. aber auch Liv. A n d r o n . Aegistus fr. 2 p. 23 K l o t z = frg. trag. 5 Ribb 2 : tum autem laseivum Nerei simum pecus / ludens ad cantum classem lustratur (dazu Non. 335, 26: lustrare est circumire)·, Sen. Agam. 4 5 4 - 4 5 5 (die Flotte entfernt sich von Troja, das Ida-Gebirge v e r s c h w i m m t , „der t y r r h e n i s c h e Fisch" springt, u m k r e i s t die Schiffe, s c h w i m m t vorneweg, h i n t e r her): nunc prima tangens rostra laseivit chorus, / millesimam nunc ambit et lustrat ratem; vgl. Verg. Aen. 10, 224, ferner 3, 377 f., 385, 429 und 9, 58 (Turnus schleicht w i e ein Wolf um die Mauern des Lagers). Die Beispiele ließen sich vermehren.

110

II. Ländliche Lustrationsriten

1.2. Das Gebet an „Vater Mars" Die Situation, die wir uns nun vorstellen müssen, ist folgende: Der Umgang ist abgeschlossen, das Opfer der suovitaurilia steht unmittelbar bevor. Es wird eingeleitet durch ein konventionelles Voropfer von Wein an Ianus und Iuppiter, dessen Ablauf Cato als bekannt voraussetzt. 23 Anschließend ist das Gebet an „Vater Mars" 24 zu richten. In einer skrupulantisch besorgten und juristisch präzisen Formel, die voller Wiederholungen steckt, heißt es da (agr. 141,2): „Vater Mars, ich bitte und ersuche dich, daß du wohlwollend und günstig seiest mir und unserem Haus und unserer Hausgemeinschaft, wessenthalben ich um meine Feldflur, mein Land und mein Landgut das Schwein-, Schaf- und Stieropfer habe herumtreiben lassen".2^ Der Geltungsbereich des Opfers wird hier dem Gott gegenüber noch einmal mit quasi juristischer Genauigkeit abgesteckt, sowohl im Hinblick auf den Personenkreis, der vom Wohlwollen des Gottes profitieren soll, als auch im Hinblick auf das Territorium. Mehrfache Begriffsüberschneidungen sollen offenbar sicherstellen, daß keine Grauzonen zurückbleiben, daß beim Wünschen nichts vergessen wurde. Dies ist nicht zuletzt deshalb

23

Ein solches Voropfer war obligatorisch im römischen Kult: Macr. Sat. 1 , 1 6 , 25. (Vgl. Eitrem, Opferritus [1915].) Cato kann sich die Gebetsformeln, die bei der Weinspende zu sprechen sind, hier sparen, denn er hat sie in Kap. 134, 2 - 3 bereits aufgeführt. Dort geht dem Wein- ein Kuchenopfer voraus, das im vorliegenden Fall erst später folgt. Das blutige Opfer schließt sich an das unblutige an. Die Dar-

bringungsformeln lauten: 2. Iano struem ommoveto sic: Jane pater, te bac strue ommovenda bonas preces precor, uti sies volens propitius mihi liberisque meis domo familiaeque meae.' Fertum Iovi moveto et mactato sie: Jupiter, te hoc fereto obmovendo bonas preces precor, uti sis volens propitius mihi liberisque meis domo familiaeque meae mactus hoc ferto.' 3. Postea Iano vinum dato sie: Postea Iovi sic: Postea porcam praecidaneam immolato. 24

Daß die Titulierung des Gottes als „Vater" gängig war, zeigen die Namensformen Marspiter oder Maspiter: Siehe dazu Radke, Götter (1965), 202. (Daß Thielscher, Des Marcus Cato Belehrung [1963], 338 Mars als Äquivalent des christlichen Teufels auffaßt, scheint mir ein Mißgriff zu sein.) - Grundlegend zur Bedeutung von derartigen Attribuierungen: Gladigow, Gottesnamen (1981); vgl. auch: ders., Götternamen (1975) sowie: Konkurrenz (1979).

25

Ianum Iovemque vino praefamino, sic dicito: , Mars pater, te precor quaesoque, uti sies volens propitius mihi domo familiaeque nostrae: quoius rei ergo agrum terram fundumque meum suovitaurilia circumagi iussi.'

1. W i e „lustriert" man ein Landgut?

111

wichtig, weil der Aktionsradius, wie oben bemerkt, auf einen gangbaren Teil des Anwesens beschränkt sein konnte, der Geltungsbereich des Rituals also nicht unmittelbar aus seiner Verlaufsform, sondern erst aus der ihm beigelegten Bedeutung abzuleiten war. Der Hang zum Skrupulantismus hat aber auch noch einen anderen Grund: Wer sich an einen Gott wendet, sieht sich vor ein spezifisches Kommunikationsproblem gestellt. Denn die üblicherweise unter den Mitgliedern einer Gesellschaft angewandten Handlungsstrategien lassen sich zwar auf imaginäre Partner übertragen, aber alles Reden und Bitten, jede Geste läuft ins Leere. Die fehlende Reaktion des Gottes hinterläßt beim Betenden eine Unsicherheit, die er durch eine — ethologisch gesprochen — „sendeseitige Ritualisierung" zu bewältigen sucht. Indem er durch Wiederholungen, 26 Stilisierungen und vielleicht noch andere Maßnahmen die Intensität des Ausdrucks steigert, versucht er sich die Gewißheit zu verschaffen, daß sein Gebet nicht ungehört verhallt. Zugleich ist aber jedes öffentlich vorgetragene Gebet auch an die Gemeinde der Ritualteilnehmer adressiert.2^ Ihnen gegenüber erhöhen der Traditionalismus und die demonstrative Korrektheit die Legitimation des Betenden und damit auch das Sicherheitsgefühl in der Gemeinde. Auch im Folgenden, wo Cato formuliert, welche Schadensabwehr und welcher Segen von Mars zu erbitten sind, wählt er die Begriffe stets so, daß ihre restfreie Erstreckung auf das ganze Problemfeld gewährleistet ist. Für diesen Teil des Gebets hat Eduard Norden gezeigt, daß wir es mit einem in rhythmischer Prosa komponierten Text zu,tun haben, bei dem gedankliche und formale Struktur aufeinander abgestimmt sind. 2 " Der reichliche Gebrauch von Assonanzen zeigt, daß die Worte mit Bedacht gewählt sind — sei es von Cato selbst oder auch von einem Vorgänger, der ihm ein mögli-

26

Z u m Gebrauch von Wiederholungen im Lateinischen allgemein siehe A b b o t t , Use (1902), speziell z u r Sakralsprache siehe Appel, De Romanorum

precationibus

(1909), 142 ff. 27

Vgl. Paul, Rituelle K o m m u n i k a t i o n (1990), 37: Er nennt Gebete deshalb „autokommunikativ".

28

N o r d e n , D. antike Kunstprosa (1923), 156 ff. sowie Logos (1966), 5 3 7 ff. (Marouzeau, Einführung [1966], 155 basiert sicherlich auf Norden, nennt ihn aber nicht.) Vgl. Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 242 mit A n m . 9 u. 10; d o r t auch ältere Literatur. Watkins, H o w to kill (1995), 1 9 7 ff. sieht in der r h y t h m i schen S t r u k t u r indoeuropäische Gemeinsamkeiten.

112

II. Ländliche Lustrationsriten

cherweise traditionelles Gebet überlieferte.^ Cato setzt die Bitte an Mars fort, indem er die mit dem Suovitaurilienopfer verbundenen Erwartungen an die Gottheit präzisiert. Zunächst heißt es hier (ich zitiere Nordens Übersetzung30): „Auf daß du Seuchtum / sichtbares unsichtbares daß du Verwaisung / daß du Verwüstung, schadvolles Unheil, / Wetter und Winde fernhaltest, abwehrst / weg von uns treibest".·^ In diese Formel wurde bisweilen viel hineingeheimnißt. Wer den ganzen Umgang für magisch hält, für den liegt es anscheinend auch nahe, „unsichtbare Krankheiten", wie sich morbos invisos auch wiedergeben ließe, mit Dämonen zu identifizieren.^ Nüchtern betrachtet, haben wir es aber hier mit den ganz realen Sorgen eines Landmanns zu tun, denen er in einer umfassenden, nichts auslassenden Wendung Ausdruck verleiht: Was nützte ihm scheinbare äußerliche Unversehrtheit von Mensch und Vieh oder auch von Nutzpflanzen, wenn eine innere Krankheit sie bedrohte? Mit den Begriffen, die schließlich auf diese — wie ich meine — sehr konkrete Sorge um die Gesundheit folgen, dürften die Spielarten möglichen Unheils von der Kriegsgefahr bis hin zu Wetterschäden einigermaßen vollständig abgedeckt

29

Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 238 nimmt an, Cato habe ältere Ritualbücher benutzt; ähnlich schon Burriss, The Religious Life on a Roman Farm (1927), 27 (vgl. auch Phillips, Cato [1997]). Es könnte sich um Priesterbücher gehandelt haben, aber auch eine eigenständige Uberlieferung häuslicher Kultpraktiken ist denkbar: so Rohde, Kultsatzungen (1936), 85. Daß Cato eine traditionelle Formel verwendet, zeigt das verwandte, aber unabhängig überlieferte Gebet bei Fest. 230 L.: Pesestas inter alia, quae [in] inter precationem lustratur, significare dicitur:

„ Averías

videtur pestilentiam,

morbum,

mortem,

dicuntur,

cum

ut intelligi ex caeteris +possunt+,

labem,

nebulam,

impetiginem."

fundus cum

- Ein von

Stark, Mars (1938), 145 vorgebrachtes Argument, das Goujard, Caton (1975), 290, 16 wieder aufgreift, ist jedenfalls nicht überzeugend: Das Gebet könne deswegen nicht alt sein, weil es eine erst nach dem 2. punischen Krieg entstandene Ackerbautechnik voraussetze. Worin soll diese bestanden haben? 30 31

Norden, D. antike Kunstprosa (1923), 157 bzw. Logos (1966), 537. ... uti tu morbos / visos invisosque, // viduertatem tates / intemperiasque

/ vastitudinemque,

// prohibessis / defendas / averruncesque

//

calami-

... (Ich folge dem

Text Mazzarinos (1982), übernehme aber die Markierungen Nordens.) 32

Stellvertretend sei genannt Dumézil, Archaic Roman Religion (1966 / 1 9 7 0 ) , I, 228 ff. Vgl. auch Petersmann, Lustrum (1983), 219 u. 221.

113

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

sein. 3 3 Auch die von Seiten des Gottes erflehten Aktionen werden durch Verben, die einander beinahe wiederholen, aber eben doch jeweils eine neue Perspektive einbringen, denkbar umfassend bezeichnet. Sie sind überdies in einer Art Klimax angeordnet: Vorgestellt sind Bedrohungen, deren unterschiedliche Distanz jeweils adäquate Reaktionen erfordert. Sind sie noch fern, sollen sie es auch bleiben; näher gerückt, müssen sie gleichsam im Kampf abgewehrt werden; bereits vorhandenes Unheil schließlich ist a u s z u t r e i b e n . D e r alte Streit um eine „ursprünglich" apotropäische oder kathartische Bedeutung des Lustrationsrituals verflüchtigt sich hier: Beides wird angestrebt; die kathartische Wirkung erweist sich als Extremform der apotropäischen, denn was an schädigendem Einfluß schon in den inneren Kreis eingedrungen ist, muß wieder ausgegrenzt werden. Wurde Mars zunächst um eine umfassende Schadensabwehr im eben präzisierten Sinn gebeten, so folgt anschließend eine Bitte um seinen Segen (ich zitiere noch einmal Norden): „daß du des Feldes Frucht, / Weinstock und Weiden wachsen und gut / uns gedeihen lassest; Hirten und Herden / heil uns erhaltest, gutes Heil gebest, / kraftvolles Wohlsein mir, meinem Hause, / unserm Gesinde." 3 ^ Hier ist das Landgut in seiner Gesamtheit erfaßt: Dazu gehören Mensch und Vieh, Getreidefelder, Rebpflanzungen und Weideland, — die Familie mitsamt dem Gesinde sowie die wichtigsten Wirtschaftsbereiche, die ihre Lebensgrundlage bilden. Die ganze Passage erscheint getragen von dem Wunsch nach Gesundheit, Gedeihen und Freiheit von Unheil für alle, die zum Anwesen gehören — ein unmittelbar verständlicher Wunsch. Das Catonische Lehrbuch ist ja insgesamt diesem Anliegen gewidmet: Für die verschiedensten Bereiche des bäuerlichen Wirtschaftens bietet es Arbeitstechniken und Erfolgsrezepte. In diesem Sinne ist die Ritualvorschrift des 141. Kapitels durchaus

33

Vidvertas

faßt Goujard, a. a. O. 288 ad loc. mit (allerdings zweifelhaftem) Bezug

auf Paul. Fest. s. v. als Sterilität auf; daß sich vastitudo

auf Kriegsübel bezieht, hat

Latte, Uber eine Eigentümlichkeit (1926), 250 gezeigt. 34

Einen Gott Averruncus,

den man anfleht, damit er „alles Unglück von uns und

dem Gedeihen der Saat(-felder) abwenden" möge, nennt Gell. 5 , 1 2 , 14. 35

2 . . . . utique tu fruges, /rumenta siris; / / 3. pastores pecuaque dinemque

/ viñeta virgultaque / salva servassis

/ / mihi domo / familiaeque

nostrae.

/ / grandire

/ / duisque

bonam

beneque / salutem

/

evenire valetu-

114

II. Ländliche Lustrationsriten

instrumentell zu lesen: Das Lustrationsritual gehört zu den Praktiken, auf die ein Wirtschaftsbetrieb offenbar nicht verzichten kann. Zugleich aber bildet es eine „Technik" besonderer Art, geht es doch gerade darum, auch für den Bereich des Unverfügbaren, durch profane Arbeit nicht restlos Kontrollierbaren, eine Strategie bereitzuhalten. Und eben diese Praxis nennt Cato im folgenden Satz zusammenfassend und bestätigend „lustrieren" bzw. „ein Lustrum durchführen". 36 U m der genannten Dinge, um eben dieser Lustration seines Grundstücks, Landes, Anwesens willen, betont der Betende, bringe er das Suovitaurilienopfer dar und schlachte die jungen Tiere. 3 7 Die Wünsche und Absichten, die sich für ihn damit verbinden, sind für uns ohne weiteres nachvollziehbar. Wie aber können wir verstehen, inwiefern ein ritueller Umgang, ein Gebet an Mars und die Schlachtung von Opfertieren dazu verhelfen, Segen zu bringen und Unheil abzuwehren? Der Hinweis darauf, daß dieser religiösen Praxis, wie man annehmen muß, eine Tradition zugrundeliegt, daß sie wahrscheinlich fester Bestandteil der Führung eines Gutsbetriebs war, kann uns nicht genügen. Warum die religiöse Handlung durchgeführt und als wirksam empfunden wurde, läßt sich so nicht beantworten. Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Antwort ergeben sich unter anderem daraus, daß die Rolle, die Mars 3 8 in dieser Angelegenheit zugedacht ist, ein Problem darstellen kann, nämlich dann, wenn der Interpret eine bestimmte, mit den Catonischen Angaben unvereinbare Vorstellung von ihm hat. Manche Forscher tun sich schwer damit, daß ein Gott, den sie dem „Wesen" nach als Kriegsgott einstufen, um seinen Segen für das Gedeihen von Feld, Vieh und Familie angerufen wird. Da es im Gebet zunächst darum geht, Unheil zu bannen, behalf man sich bisweilen mit einer Notlösung: Für apotropäische Angelegenheiten könne man den Kriegsgott sehr wohl gebrauchen; diese wiederum seien Vorbedingung für das Gedeihen; er solle also nicht eigentlich Wohlergehen bringen, sondern vielmehr

36

Ein Ausdruck, der sonst für die Veranstaltung eines Zensorischen Lustrums gebraucht wurde: Dazu unten, Kap. III 2.

37

, . . . harunce

rerum ergo, fundi

terrae agrique

go, sicuti dixi, macte hisce suovitaurilibus eiusdem 38

rei ergo, macte hisce suovitaurilibus

mei lustrarteli lustrique faciendi

lactentibus lactentibus

immolandis

esto: Mars

erpater,

esto.'

Die wichtigste neuere Forschungsliteratur zu Mars: Scholz, Studien (1970); Versnel, Apollo (1985/86 / 1 9 9 3 ) . Siehe auch Radke, Götter (1965; vgl. auch dens., Beobachtungen zu einigen . . . Gottheiten, [1992], 272 ff.); Dumézil, Archaic Roman Religion ( 1 9 6 6 / 1 9 7 0 ) , I, 228 ff.; ferner Petrusevski, Evolution (1967) sowie Rosivach, Mars (1983).

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

115

das Heil mindernde Einflüsse ausschalten.3^ Diese und ähnliche Konstruktionen sind freilich nicht notwendig, um das Gebet zu verstehen, sondern lediglich, um seine klaren Angaben mit der vorgefaßten Meinung des Forschers zu vermitteln. Was aus Catos Ritualanweisung ganz eindeutig und zweifelsfrei hervorgeht, ist folgendes: Der Beistand des „Vaters Mars" wird in doppelter Hinsicht erbeten — einerseits zum Schutz des Anwesens in apotropäisch-kathartischer Hinsicht, andererseits zum Segen für das Gedeihen alles Lebendigen. Die Vorstellung, die sich dabei mit ihm verbindet, ist in erster Linie eine personifizierte, an einer sozialen Rolle orientierte: Der Gott wird als „Vater" angesprochen. 40

1.3. Das Opfer der

suovitaurilia

Besonderes Gewicht fällt bei römischen Riten stets der Wahl der Opfertiere zu. Daß Cato suovitauriliavorschreibt, also Schwein, Schaf und Rind, hängt mit dem Adressaten des Kults, der im Gebet angesprochen wird, zusammen: Mars ist es, dem man das Opfer darbringt; er erhält als einziger der römischen Götter Tiere in dieser Kombination.4^ Wir kennen auch ländliche Lustrationen mit bescheideneren Schlachtungen: So erwähnt beispielsweise Tibull lediglich ein Schaf. Es könnte pars pro toto für die traditionelle Dreiheit stehen, aber auch das einzige Opfertier sein wie

39

Sprach Stark, Mars (1938), 145 dem Gott noch ohne weiteres zwei Seiten zu, eine apotropäische und eine das Wachstum behütende (vgl. Radke, Götter [1965], 202), kann sich Kadletz, Animal Sacrifice (1976), 285 nur einen Reim auf Catos Text machen, wenn er annimmt, durch das Suovitaurilien-Opfer werde der Kriegsgott zunächst gestärkt, damit er dann über Fruchtbarkeitszeremonien wachen kann. Dumézil, Archaic Roman Religion (1966 /1970), arbeitet I, 228 ff. Mars' Funktion zum Schutz der Grenze heraus und macht 234 schließlich aus der Bitte um salutem eine bloße Bitte um die Bedingung der Möglichkeit von Wohlergehen. Ihm folgt Goujard, Caton (1975), der 289 behauptet, valetudo wolle man gar nicht von Mars! Vgl. auch Rosivach, Mars (1983), 517 f.

40 41 42

Siehe oben, Anm. 24. Literatur siehe oben, Anm. 7. Vgl. Kadletz, Animal Sacrifice (1976), 285. - Scholz, Studien (1970), 70 sieht in dieser Catonischen Opfervorschrift eine „Anlehnung an die Bräuche des Staatskults". (Auch beim Zensorischen Lustrum wurden Mars suovitaurilia geopfert. Dazu unten, Kap. III 2.)

116

II. Ländliche Lustrationsriten

das Lamm in Vergils Geórgica.43 Handelt es sich in diesen Fällen um einfachere Verhältnisse, ärmere Güter? Oder ist die Wahl des Opfers durch einen spezifischen Festkontext bestimmt? Wir werden auf diese Fragen zurückkommen. Im Rahmen des von Cato beschriebenen Rituals machen diese drei Tiere jedenfalls Sinn: Als Repräsentanten der wichtigsten Haustiergattungen sind sie durchaus geeignet, in einem Ritual zu fungieren, das dem ländlichen Anwesen insgesamt, nicht nur den Feldern, sondern auch Mensch und Vieh gilt. Ein weiterer Punkt ist zu klären: Was haben wir von Catos Angabe zu halten, der Umgang werde mit suovitaurilibus lactentibus, also noch jungen, milchsaugenden Tieren, 44 durchgeführt? Ein wirtschaftliches Argument leuchtet unmittelbar ein. Drei ausgewachsene Tiere zu opfern, stellt eine nicht unerhebliche ökonomische Belastung für einen bäuerlichen Betrieb dar. So könnte die Vorschrift auf das Konto von Catos Sparsamkeit gehen: Zum Feiern auf dem Land reichen Spanferkel, Kälbchen und Lämmchen, da muß es nicht der Opferstier der großen Staatsfeste sein. Möglicherweise hat die Vorschrift aber auch noch einen anderen Hintergrund: Hängt dieser Punkt der Ritualanweisung mit dem Termin zusammen, an dem das Fest durchgeführt wird? Können wir aus dieser Angabe vielleicht sogar einen Hinweis auf die Plazierung des Rituals im Jahreskalender gewinnen? Da Cato keinerlei Angaben über Anlaß oder Datum der Lustration macht, sehe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder beschreibt er ein „Vielzweckritual", dessen Anwendung ganz im Ermessen des Landwirts liegt,oder aber er setzt voraus, daß der Termin des Kults für seine Leser ganz selbstverständlich ist.45 Wir müßten dann unsere Schlüsse ziehen: Wann haben Rinder, Schafe und Schweine gleichzeitig milchsaugende Jungtiere?46

43

Tibull 2 , 1 , 1 3 ; Verg. Georg. 5, 85 (dazu unten, Kap. II 3. 2).

44

Zu den sogenannten suovetaurilia maiora)

45

minora

(im Gegensatz zu den

suovetaurilia

siehe Plin. nat. 8, 206.

Rohde, Kultsatzungen (1936), 86 f. nimmt an, Cato nenne (im Gegensatz zu seinen anderen Ritualvorschriften) den Termin deshalb nicht, weil die zeitliche Übereinstimmung mit den Ambarvalia selbstverständlich sei.

46

Zum frühestmöglichen Zeitpunkt, ab dem Tiere als opfertauglich galten, siehe Varrò rust. 2 , 1 , 20 (Fere ad quattuor haedi

appellati pecoris

menses

a mamma

tres, porci duo. E quis qui iam puri sunt ad sacrificium, sacres ) sowie Plin. nat. 8, 206 (suis fetus sacrificio die VII., bovis

XXX).

non diiunguntur ut immolentur, die quinto purus

agni, olim est,

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

117

Hierfür läßt sich tatsächlich ein bestimmter Zeitraum angeben. Zwar konnten Schweine und Schafe, abweichend von ihrem natürlichen Rhythmus, das ganze Jahr über zur Fortpflanzung gebracht werden. Dies empfahl -ich vor allem für Gutsbetriebe in Stadtnähe: Dort gab es sowohl für Spanferkel'*7 als auch für Milchlämmer und Schafskäse4® einen saisonunabhängigen Markt, der Gewinn versprach. Dies konnte die Nachteile, die sich durch diese Manipulation ergaben (vor allem den vorzeitigen Verschleiß der Muttertiere49), bei weitem ausgleichen. Doch galten die Winterlämmer als vorteilhafter, weil sie vor der Sommersonnwende auswuchsen, also spätestens dann entwöhnt waren.®0 Bei der Zucht von Rindern war der Spielraum für eine Steuerung der Reproduktion geringer. Dies hing einerseits mit dem größeren Wert zusammen, den Kühe gegenüber Sauen und Schafen darstellen, andererseits mit dem fehlenden Markt für Kuhmilchprodukte. Milchsaugende Kälber waren demnach traditionell ab April oder Mai für Opfer verfügbar.51 Somit können wir den Zeitraum für die Lustration des Landguts, die Cato vorschreibt, eingrenzen: Suovitaurilia lactentia gab es zwischen April und Juni. Daß keine präzisere Zeitangabe vorliegt, ist gerade bei einem ländlichen Fest nicht verwunderlich:

47 48

49 50

51

Colum. 7, 9, 4: suburbanis lactens porcus aere mutandus est; sic enim mater non educando labori subtrahitur celeriusque iterum conceptum partum edet. Colum. 7, 3,13: suburbanae teneros agnos, dum adbuc berbae sunt expertes, lanío tradit, quoniam et parvo sumptu devebuntur et bis submotis fructus lactis ex matribus non minor percipitur. Siehe ζ. Β. Colum. 7, 9, 3: femina sus habetur ad partus edendos idonea fere usque in annos Septem, quae quanto fecundior est celerius senescit. Zu den Lammterminen siehe Varrò rust. 2, 2 , 1 3 - 1 4 und Plin. nat. 8,187. Vgl. Olck, Kalenderdaten (1890), 590 f. und Thielscher, Des Marcus Cato Belehrung (1963), 359 ff. Siehe auch dessen Angaben zum landwirtschaftlichen Kalender, ebd. 370 ff. sowie die Ubersicht bei White, Roman Farming [1970], Appendix B. Aus den bei den Agrarschriftstellern angegebenen Befruchtungsterminen läßt sich als Kalbzeit März bis April erschließen: Varrò rust. 2, 5 , 1 3 : Maxime idoneum

tempus ad concipiendum a delphini exortu usque ad dies quadraginta aut paulo plus. Quae enim ita conceperunt, temperantissimo anni tempore pariunt; vaccae enim

mensibus

decern

sunt praegnates.

Gemeint sein muß hier allerdings der

S p ä t -, nicht der F r ü h aufgang des Delphins (wie Plin. nat. 8 , 1 7 7 annimmt);

vgl. Colum. 6, 24,1 f.: . . . mense Iulio feminae maribus plerumque permittendae, ut eo tempore conceptos proximo vere adultis iam pabulis edant; nam decern mensibus ventrem perferunt. Siehe dazu Vincke, Rinderzucht (1931), 39. (Zu anderen Terminen Zeißig, Rinderzucht [1934], 43 ff.). Als „rein für ein Opfer" galt ein Kalb jedoch erst dreißig Tage nach seiner Geburt.

118

II. Ländliche Lustrationsriten

Die wichtigsten unter ihnen waren feriae conceptivae, also Feiertage, deren genauer Termin jeweils neu festgesetzt wurde und daher gegenüber den fixierten Daten der Steinkalender schwankte.^ Denn bei all denjenigen Riten, die in engem Zusammenhang mit ländlichen Arbeitsprozessen standen, war es wichtig, daß sie dann durchgeführt werden konnten, wenn es jahreszeitlich und arbeitsökonomisch „paßte" was eine Rücksichtnahme auf die jeweiligen geographischen Gegebenheiten und witterungsbedingten Schwankungen erforderlich machte. Übrigens muß man kein Spezialist in Sachen Landwirtschaft sein, um den plausibelsten Termin für die lustratio agri zu eruieren: Die Kenntnis des römischen Festkalenders hilft auch weiter. Am 15. April nämlich wurden die Fordicidia gefeiert, ein Fest, das seinen Namen vom Opfer trächtiger Kühe hat. Die symbolische Beziehung zwischen den suovitaurilia lactentia und dem Reifegrad des Getreides, die Andrew Kilgour erwogen hat, 53 erhält dadurch zusätzliches Gewicht: Nicht nur, daß das noch saftige Korn des Frühjahrs - im Gegensatz zum trockenen, reifen - als „milchig" bezeichnet wurde; auch die Vorstellung von Schwangerschaft und Geburt konnte auf das Getreide übertragen sein.54 Falls das bei Cato geschilderte - und auch das bei Vergil angesprochene - Ritual in eine Beziehung zum Hainfest der Arvalbrüder55 gesetzt werden könnte, ließe sich

52

Macr. Sat. 1 , 1 6 , 6: conceptivae tibus concipiuntur Paganalia tinae

sunt quae quotannis

in dies vel certos vel etiam

a magistratibus

incertos

vel a

ut sunt Latinae

sacerdoSementivae

Vgl. Varrò ling. 6, 2 5 - 2 6 u. Paul. Fest. 55 L. Die feriae

Compitalia.

La-

bilden insofern eine Ausnahme, als die zeitliche Unbestimmtheit nicht von

landwirtschaftlichen Bedingungen, sondern vom Amtsantritt der Konsuln abhängt. 53

Kilgour, Ambarvalia (1938), 233 nimmt für den Ritus eben wegen der milchsaugenden Tiere einen Frühjahrstermin an, „when the crops also ,lactent'".

54

Vgl. Varrò rust. 1, 3 2 , 1 : Quarto messem decim

faciunt, florere,

intervallo

quod frumentum quindecim

dicunt

exarescere,

inter solstitium quindecim

cum sit maturum.

diebus

et caniculam

plerique

esse in vaginis,

quin-

Varrò evoziert die Vorstel-

lung einer schwangeren Getreidepflanze, indem er schreibt, daß die Frucht vierzehn Tage in vaginis

sei. Die letzte Entwicklungsphase des Korns vor der Ernte

bezeichnet er als „trocknen". Vgl. die Opposition von „neuen Früchten" (gemeint sind „Feldfrüchte" also Getreide) und „reifen Ähren" bei Verg. georg. v. 345 ( n o vas fruges ) und v. 348 ( m a t u r i s aristis ). Auch hier handelt es sich um eine tio agri 55

lustra-

(siehe dazu unten, Kap. II 3).

Hier spielte die symbolische Opposition von grünem und reifem Korn eine wichtige Rolle (siehe dazu unten, Kap. II 4.1). Paladino, Fratres (1988), 151 hat darauf hingewiesen, daß die porciliae

(„Milchferkel"), die von den fratres

Verlaufe ihrer Zeremonie geopfert werden, den fruges

virides

arvales

entsprechen.

im

119

1. W i e „lustriert" man ein Landgut?

deshalb fragen, ob nicht die Fordicidia und die sogenannten Ambarvalia eine symbolische Sequenz darstellten. Doch ich will weder abschweifen noch vorgreifen, sondern zum Ritualablauf zurückkehren. Wie es auch bei anderen blutigen Opfern der Römer üblich war, ging dem Schlachten der Suovitaurilia ein vegetabilisches Opfer voraus, nämlich die Darbringung von „Opferkuchen und Fladen".®6 Sie sollen, so ordnet es Cato an, „beim Messer ... bereitliegen." Cato fährt fort: „Dann biete dar." 5 · 7 Die Ritualsequenz, die mit dem Umgang anfing, der dann durch das Gebet seine Interpretation erfuhr, mündet an dieser Stelle in das abschließende Opfer, das nun mit der Darbringung der Gebäckstücke beginnt. Das Backwerk ist ebenso wie der Wein, mit dessen Spende das Gebet eingeleitet wurde, neben dem Opferfleisch unverzichtbarer Bestandteil eines festlichen Mahls. Zugleich bilden die verschiedenen Zutaten des O p fers einen Sinnzusammenhang, der über ihre Dinglichkeit hinausverweist und dem des Gebets entspricht: Wein und Brot vertreten symbolisch die Rebpflanzungen und Getreidefelder, deren Gedeihen das Ritual gilt, ebenso wie die Haustiere durch die Suovitaurilia repräsentiert werden. Alle zusammen bilden die Lebensgrundlage der Menschen, symbolisieren demnach zugleich auch deren Wohlergehen.5® Die enge Verbindung zwischen den unblutigen und den blutigen Bestandteilen des Opfers wird dadurch betont, daß Kuchen und Messer zusammen bereitliegen. 59 Was für die ganze Ritualanweisung bisher schon galt, verstärkt sich im folgenden zusehends: Cato ist bestrebt, seine Vorschrift so zu gestalten, daß ein Höchstmaß an ritueller Korrektheit erzielt wird. Das Ubertragen der Verantwortung, die Bestimmung des Aktionsradius und des Geltungsbereichs des Rituals, die präzise Angabe der verfolgten Ziele - all das war

56 57

Z u m Voropfer siehe oben, A n m . 23. Item

[esto item]

cultro facito

struem

et fertum

uti adsiet:

inde

obmoveto.

Diese

Passage stellt ein textkritisches Problem dar. Esto item ist mit Jucundus u. v. a. als Dittographie zu tilgen. N i c h t uninteressant ist der Vorschlag Goujards, (1975), 2 8 9 , A n m . 11, nach item

zu interpungieren. „Item."

Caton

bedeutete dann die

Aufforderung, die Anrufung ein drittes Mal zu wiederholen. Ebenfalls plausibel Petersmanns Auffassung von item als einleitendem, satzverbindendem Wort (Zu e. altröm. Opferritual [1973], 2 4 3 mit A n m . 13). D o r t eine ausführlichere Analyse mit weiterer Literatur. 58

D a ß nicht nur Opfertiere, sondern auch Getreideprodukte als symbolische Stellv e r t r e t e r des Menschen gelten konnten, hat G. Baudy, Cereal Diet ( 1 9 9 5 ) gezeigt.

59

Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 2 4 3 nimmt an, daß Kuchen und Messer auf dem Altar lagen und gemeinsam mit mola salsa bestreut wurden.

120

II. Ländliche Lustrationsriten

minutiös geregelt. Nun kommt mit der Opferung der entscheidende Akt, der dem Ritual Wirkung und Endgültigkeit verleiht; entsprechend erhöht sich die Aufmerksamkeit. Freilich beschreibt Cato nicht das eigentliche Schlachten: Das ist ein allzu bekannter Vorgang für den Landwirt, als daß er für dieses spezielle Opfer eigens angegeben werden müßte. Wohl aber stellt Cato noch einmal eine Gebetsformel bereit: „Wenn du das Ferkel opferst, das Lamm und das Kälbchen, ist es so nötig: ,Und dieser Sache halber sei geehrt durch das Suovitaurilienopfer.'"6® Das an diesen Spruch angeschlossene Verbot, „Mars zu nennen, auch Lamm und Kalb"6* ist nicht leicht verständlich, selbst dann nicht, wenn man annimmt, der Name des Gottes sei fälschlich in den Text gerutscht, gemeint sei an seiner Statt das zur Dreiheit der Opfertiere gehörende Schwein. Hubert Petersmann hat einleuchtend erklärt, daß hier das Schweigegebot, das für die Festversammlung von Anfang an vorauszusetzen ist,6^ nun in einem ganz spezifischen Sinn an die Veranstalter und Durchführenden des Opfers ge-

60

61

62

Ubi porcum immolabis, agnum vitulumque, sie oportet: ,Eiusque rei ergo macte suovitaurilibus immolandis esto' - Immolare war der übliche lateinische Ausdruck für opfern und konnte das Töten bedeuten. Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 243 ff. hat aber mit Recht darauf hingewiesen, daß immolare zunächst bedeutet, mit mola salsa bestreuen; er nimmt an, daß Cato das Wort in diesem Sinne verwendet hat, und bezieht die Formel auf den Akt der Weihung mit mola salsa, nicht auf das Schlachten selbst. Auch damit hat er zweifellos recht. Ich übersetze trotzdem „opfern", denn ebenso wie sacrificare kann das Wort die Aktion von der Weihung des Tiers an die Gottheit bis zu seiner Tötung umspannen (vgl. Latte, Immolatio [1914]). Nominare vetat Martern neque agnum vitulumque. Auch diese Stelle bedarf der Klärung. Goidanich, Nominare v e t a t . . . (1902), 320 ff. schlug vor, die Form vetat den vorhergehenden Imperativen anzugleichen und zu vetato zu emendieren. Da das Verbot, Mars, Schaf und Kalb zu nennen, wenig sinnvoll ist, wollte Goidanich ein neque porcum ergänzen, damit sich die Vorschrift außer auf den Gott auf alle drei Opfertiere erstreckte. (Ihr Sinn bestünde darin, eine mit der Nennung gegebene Profanierung zu vermeiden.) Goujard, Caton (1975), 289, Anm. 13 schließt sich diesem Lösungsvorschlag an. Einen anderen Weg schlug Kronasser, Nugae (1966), 302 f. ein: Vetat kann gehalten werden, wenn man annimmt, daß es sich auf den mit der Ritualleitung beauftragten Manius bezieht: Er verbietet dann (das besagte die Vorschrift) die Namensnennung; allerdings nicht die Nennung des Gottesnamens, sondern von Schwein, Schaf und Kalb - Martern wäre „einfach in die Feder gerutscht" und zu porcum zu emendieren. Weitere Einzelheiten bei Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 249 f. Vgl. Tib. 2,1,1: Quisquís ades, faveat! Literatur zum favere Unguis siehe unten, Kap. II 2.1. mit Anm. 9.

1. W i e „lustriert" man ein Landgut?

121

richtet sein könnte — in einer Situation, in der es naheläge, beispielsweise auszurufen: „Halt' das Schwein fest!", wenn das Tier droht, den ungestörten Ritualablauf zu stören. Er verweist auf eine vergleichbare Vorschrift im Kärntner Volksbrauchtum: Auch hier gilt für Hausschlachtungen die Regel, den Namen der Tiere nicht zu nennen. Als Begründung wird angegeben, daß man ihnen andernfalls den Abschied erschwere. Petersmann sieht dahinter ein magisches Namenstabu wirksam: Das Rufen der Tiere hätte ihre Ubereignung an den Gott behindert und somit das Gelingen des Opfers gestört. 63 Ich meine jedoch, daß die volkstümliche Begründung viel direkter zu verstehen ist: Die persönliche Bindung an das Haustier muß aufgehoben werden, wenn man es dem Schlachtmesser überantworten will. Für denkbar halte ich aber auch eine noch enger am Text orientierte Interpretation der Stelle, die das eben Gesagte ergänzen kann: Möglicherweise wollte Cato unterstreichen, daß in der Darbringungsformel die verschiedenen Tierarten nicht einzeln benannt werden, sondern daß sowohl beim Opfer des Ferkels als auch des Lamms oder Kalbs von Suovitaurilia die Rede ist. Mit der Weihung hören die Tiere auf, ein Schwein, ein Schaf oder ein Rind, also ein individuell bekanntes Einzelwesen zu sein; sie werden als Mitglieder der Dreiergruppe zu Funktionsträgern im rituellen Zusammenhang. Dies hat bereits die Darbringungsformel 64 ausgedrückt; das anschließende Verbot unterstreicht den zwingenden Charakter der Formel.

1.4. Instauratio·. Die dauernde Sorge um rituelle Korrektheit Cato gibt überdies eine klare Verhaltensanweisung für den Fall, daß das Opfer mißlingt. Es entsprach allgemeiner römischer (und griechischer) Opferpraxis, die Innereien des geschlachteten Tiers auf ihre Gesundheit hin zu überprüfen; 65 zeigten sich an ihnen Abnormitäten, so galt das Opfer als dem Gott, für den es bestimmt war, nicht genehm 66 und mußte durch ein anderes ersetzt werden. Die neuerliche Durchführung des Ritu-

63

Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 2 5 0 ff. kritisiert zu Recht K r o n a s sers Auffassung, das Verbot habe Schadenszauber verhindern sollen (Nugae [1966], 3 0 3 f.).

64

Zitiert oben, in A n m . 60.

65

Siehe Krause, Hostia (1931), 276 ff.

66

Siehe ebd., 242.

122

II. Ländliche Lustrationsriten

als nannte man instauratiodas Erreichen eines Opferergebnisses, das Gott und Menschen gleichermaßen zufriedenstellte, litatio. In schwierigen Situationen konnten durchaus mehrere Durchgänge erforderlich werden; das Opfern mußte so lange wiederholt werden, bis das Ergebnis akzeptiert werden konnte - usque ad litationem. Dabei handelt es sich allerdings nur scheinbar um eine Wiederholung, da alle mißlungenen Versuche ungültig waren und daher nicht gezählt wurden. Unabhängig von der Zahl der Durchgänge gab es also in Wahrheit immer nur ein einziges Opfer. Der Staatskult verfügte natürlich über Spezialisten, die diesen heiklen Bereich kontrollierten: Es war Aufgabe der Opferbeschauer, der haruspices, die Qualität der Eingeweide zu prüfen 69 und, falls sie Fehlbildungen entdeckten, einschlägige Anordnungen zu treffen. Bei privaten Veranstaltungen hingegen mußte der Hausvater als Opferherr oder sein beauftragter Stellvertreter darüber Bescheid wissen, wie er sich im Falle des Mißlingens verhalten sollte. Daß ein Landmann die Diagnose zu stellen vermag, hält Cato offenbar für selbstverständlich; er macht keine Angaben darüber, woran man eventuell vorhandene Mängel erkennt. Wenn nun der für das Ritual Verantwortliche einen Defekt feststellt oder auch nur am einwandfreien Zustand des Opfers zweifelt - so die klare Verhaltensanweisung —, ist das Opfer zu wiederholen. Falls alle drei Opfertiere nicht den Ansprüchen genügen, müssen insgesamt neue suovitaurilia dargebracht werden. Auch für diese Situation stellt Cato die Gebetsformel bereit. Wiederum ist Mars der Adressat. Das erneuerte Opfer wird dabei als piaculum, als „Sühnopfer", klassifiziert: „Vater Mars, wenn dir bei jenen saugenden Suovitaurilia etwas nicht zur Genüge getan ist, so bringe ich dir mit diesem Schwein-Schaf-Stieropfer ein Sühnopfer."'70 Für den Fall, daß bei einem

67

Siehe Macr. Sat. 1,11, 5. Gründe, die zu einer Instauration führen, gibt Cie. har. resp. 11, 23: an si ludius constitit aut tibicen repente conticuit aut puer ille patrimus et matrimus simpuio aberravit, orum

immortalium

si tensam non tenuit, si lorum omisit, aut si aedilis verbo ludi sunt non rite facti, eaque errata expiantur ludorum

instauratione placantur.

et mentes

aut de-

- Das Material wurde zu-

sammengestellt und besprochen von Eisenhut, Instauratio (1974). 68

Siehe Schol. Stat. Theb. 10, 610. Das wichtigste Material bei Krause, Hostia (1931), 276 ff. Vgl. Goujard, Caton (1975) 289, Anm. 14.

69

Siehe Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960 / 1 9 6 7 ) , 60 ff. u. 157 f.

70

Si minus in omnis litabit, sic verba concipito: ,Mars pater, si quid tibi in illisce suovitaurilibus

lactentibus

neque satisfactum est, te bisce suovitaurilibus

piaculo.'

Daß piaculo nicht als Verbform, sondern als Ablativ Singular des Substantivs pia-

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

123

oder zwei Tieren Zweifel auftauchen (was wohl eher einmal vorgekommen sein dürfte), mußte entsprechend Ersatz geschaffen werden. Dann gilt folgende Formel: „Vater Mars, weil dir durch jenes Schwein nicht Genüge getan ist, bringe ich dir mit diesem Schwein ein Sühnopfer. " 7 1 Entsprechendes gilt, so muß man schließen, vice versa für Kalb und Schaf. 72 Diese Vorschriften lassen sich verstehen, sobald wir uns klarmachen, daß die Opferhandlung - wie auch das Gebet — einen Akt der Kommunikation nach zwei Seiten hin darstellt: Zum einen gilt das Opfer nach dem Selbstverständnis der Ritualteilnehmer als Gabe an einen Gott, in diesem Falle Mars. Als Geschenk muß es natürlich ohne Fehl sein; diese Vorschrift gilt für alle Opfergaben. 73 Denn Götter werden behandelt wie hochrangige Persönlichkeiten. Nur stellt sich ihnen gegenüber wieder das oben angesprochene Problem: Woher weiß man, daß sie das Dargebrachte akzeptieren? 74 Wer ihnen opfert und sie gleichzeitig um ihren Schutz und ihre Fürsorge bittet, erheischt mit der Gabe einen Gegengabe. Wie also könnte man Mars um Hilfe bitten, wenn man ihm suovitaurilia schlachtete, die nicht fehlerfrei sind? Wann aber ist ein Opfer fehlerfrei? Letzten Endes entscheidet sich diese Frage eben erst dann, wenn man seine Eingeweide betrachtet. Ein Tier kann äußerlich schön und gutgewachsen sein und eben doch in seinem Innern krank, deformiert. Was wie ein übertriebener Hang zum Perfektionismus anmuten könnte, erweist sich, wechselt man nur die Perspektive, plötzlich als ein Vorgang von eminent praktischer Bedeutung. Denn das Fleisch der Opfertiere ist ja üblicherweise zum Verzehr durch die Ritualteilnehmer bestimmt. Und deren Gesundheit, möglicherweise ihr Leben, hängt nicht weniger als die Ehre eines Gottes davon ab, daß die Qualität des Opfertiers über jeden Zweifel erhaben ist. Gerade die Innereien können wichtige Hinweise auf äußerlich nicht erkennbare

71 72

culum aufzufassen ist, hat Berrettoni, Sopra una formula (1967) ausführlich dargelegt, siehe bes. 162 ff. Auch Petersmann, Zu e. altröm. Opferritual (1973), 246 geht von einer Verbalellipse aus. Einleuchtend scheint mir Havers' Erklärung (Neuere Literatur [1946], 151 f.), das Verb sei durch einen Gebetsgestus ersetzt, was Petersmann aber verwirft, um mit Bücheler, Umbrica (1883), 55 anzunehmen, es handle sich um ein Verschweigen κατ' εύφημισμόν. Si uno duobusve dubitabit, sic verba concipito: , Mars pater, quod tibi illoc porco ñeque satisfactum est, te hoc porco piaculo.'

73

Das Schwein ist hier nur als Beispiel genannt; so schon Gesner und Schneider ad loc. Siehe Krause, Hostia (1931), 242.

74

Grundlegend dazu Gladigow, Teilung (1984), 24.

124

II. Ländliche Lustrationsriten

Krankheiten liefern. Ich sehe daher in der Eingeweideschau eine ritualisierte Fleischbeschau/^ Daß sie nicht nur gewohnheitsmäßig vorgenommen, sondern mit weitreichenden religiösen Konnotationen versehen wurde, verdankt sich dem sakralen Kontext der Opferhandlung insgesamt. Dazu gehört, wie gesagt, daß es sich um ein „Ehrengeschenk" an die Gottheit handelte. Aber die zweite Kommunikationsrichtung, die Adresse an die Mitfeiernden, hat vielleicht noch mehr dazu beigetragen, daß die Eingeweideschau mit so großem symbolischem Mehrwert versehen wurde. Denn jene reagieren prompter als Götter, wenn man ihnen als „Ehrenstück" verdorbenes Fleisch zumutet! Auch wenn ein Gutsbesitzer, wie es bei ländlichen Feiern durchaus üblich ist, das Engagement der Untergebenen während einer bestimmten Arbeitsperiode durch ein Festessen honoriert,76 geht der soziale „Effekt" nämlich die Schaffung einer Verpflichtung für die Zukunft, verloren, falls die Mitarbeiter mit Minderwertigem abgespeist werden. Nur unter der Bedingung, daß die Teilnehmer eines Opfermahls selbst mit dem Schmaus zufrieden sind, kann überhaupt Zuversicht entstehen, nur dann werden sie glauben, die Götter müßten und würden sich für ihren Anteil erkenntlich zeigen/ 7 Sobald aber der religiös Verantwortliche daran zweifelt/ 8 daß ein Opfertier einwandfrei ist, bleibt ihm nur der Versuch, durch eine Wiederholung des mißglückten Vorgangs die Kultteilnehmer und die Götter wieder versöhnlich zu stimmen. Mit diesen Angaben, die das Scheitern des Opfers bzw. die Unsicherheit der Opfernden auffangen sollen, ist Catos Ritualanweisung beendet.

75

A r i s t o t . part. an. 6 6 7 a, 3 4 - 6 6 7 b nennt Steine, Tumore und Abszesse, die an den σ π λ ά γ χ ν α (mit Ausnahme des Herzens, also an Nieren, Leber, Lunge und M i l z ) von O p f e r t i e r e n zu sehen sind und auf Krankheiten schließen lassen. - Zu u n t e r suchen, welche statistisch zu messende Relation zwischen der Opferschau-Praxis und der Uberlebensrate verschiedener Populationen nachweisbar sind, wäre eine Fragestellung nach dem Geschmack der Soziobiologie, wie sie in Reynolds / Tanner, Biology (1983) v o r g e f ü h r t wird.

76

Siehe dazu D. Baudy, Heischegang (1986), 219 ff.

77

Diese sozialpsychologischen Zusammenhänge können, insbesondere w e n n sie sich zu einem gesellschaftlich allgemein anerkannten Muster religiösen Handelns v e r festigt haben, das Verhalten in kritischen Situationen maßgeblich beeinflussen. S o ließen Feldherren „glückverheißende" Opferteile im Heer vorzeigen, um Zuversicht und Einsatzbereitschaft der Soldaten zu erhöhen; die Aussagen des μ ά ν τ ι ς , des „Sehers" hatten auch in Griechenland einen großen E i n f l u ß auf die Soldaten. Siehe dazu Kett, Prosopographie (1966), 118 f. mit instruktivem Material.

78

Siehe das Cato-Zitat in A n m . 71!

1. Wie „lustriert" man ein Landgut?

125

Falls der geschilderte Ritus nicht isoliert praktiziert wurde, sondern einen Bestandteil oder vielmehr das konstitutive religiöse Element einer Festveranstaltung bildete, so ist freilich anzunehmen, daß noch anderes zum rituellen Umgang hinzutreten mußte, damit aus dem Ritualmuster eine Feier wurde. Eine gehobene Stimmung gehörte dazu, Gesang und Tanz, das genüßliche Verspeisen der geschlachteten Tiere. Darüber erfahren wir nichts in unserem landwirtschaftlichen Lehrbuch, wohl aber in der Dichtung. Vergil erwähnte solche — und noch weitere - Aspekte im Zusammenhang mit ländlichen Lustrationsriten, Tibull schilderte gar in einer Elegie einen ganzen Festtag vom Morgen bis zum Abend. Daraus können wir eine Vorstellung gewinnen, wie sich der rituelle Umgang in ein umfassendes Szenario einfügt. Daß Cato auf eine solche Darstellung gänzlich verzichtet hat, berechtigt uns also nicht zu dem Schluß, sie könne sich mit dem von ihm geschilderten Ritual nicht verbunden haben, das frohe Fest sei vielleicht eine Neuerscheinung der Kaiserzeit, einem markigen Republikaner vom Schlage Catos wesensfremd: Das Verzehren der Opfertiere dürfte schon alleine aus ökonomischen Gründen nahegelegen haben; es war jedenfalls selbstverständlich, und eine Vorschrift wäre nur dann nötig gewesen, wenn ein exzeptionelles, nicht zu verzehrendes Opfer angestanden hätte. Und warum hätte Cato eine Anweisung für die Festfreude schreiben sollen? Wenn wir die verschiedenen Darstellungen der Lustrationen heranziehen, u m ein komplexeres Bild zu gewinnen, müssen wir uns allerdings auch Klarheit darüber verschaffen, ob sie sich alle auf das gleiche Ritual beziehen oder ob sie nur Variationen eines gemeinsamen Musters sind.

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht" (2,1) 2.0 Einleitung Als zweite Hauptquelle für einen privaten Flurumgang — neben C a t o s R i tualanweisung (agr. 141) — kann Tibulls Elegie 2, 1 gelten. D e n n p r o g r a m matisch wird hier gleich i m ersten Vers die Lustration der Feldfrüchte und des L a n d e s angekündigt. 1 Überdies ist das Gedicht als ganzes d e m z u g e h ö rigen ländlichen Fest gewidmet. Freilich ist damit ebensowenig wie in C a tos T e x t explizit ein bestimmter kalendarischer Termin bezeichnet. D e s halb bleibt nach wie v o r umstritten, auf welches Ritual Tibulls Gedicht zu beziehen ist. I m m e r wieder wurde die Auffassung vertreten, wir hätten es mit einem Zeugnis für die „Ambarvalia" zu tun.^ Paul Pöstgens hat in einer i m Jahre 1940 erschienenen Arbeit die A r g u m e n t e für diesen Standpunkt zusammengestellt — in der irrigen A n n a h m e , er könne damit den Streit u m „Tibulls Ambarvalgedicht", wie er es nannte, b e e n d e n . 3 Das ist

1 2

3

Tib. 2 , 1 , 1 : fruges lustramus et agros. - Daß lustrare von Tibull als Terminus technicus verwandt wird, hat Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 52 gesehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier aufgezählt: Fowler, Note (1908), 37; Postgate, On some . . . Problems (1909), 127; Jacobi, Tibulls erste Elegie (19091910), 52 mit Anm. 1; Burriss, Religious Life of Tibullus (1929), 121 (der außerdem die Parilia erwähnt sieht); Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 44 ff.; Herter, Rez. Pöstgens (1941), 372 ff.; Hennemann, Tibulls rei. Dichtkunst (1971), 28; vorsichtig Putnam, Tibullus (1973), 152 (der 159 erwägt, ob vielleicht gar kein bestimmtes Fest oder etwa die Compitalia gemeint seien); Reischl, Reflexe (1976), 38; Bright, Haec .. . (1978), 188; Dubia, Tibullo (1978), 32 f.; Cairns, Tibullus (1979), 126 ff.; Deila Corte, La .religio' (1982), 155; Ball, Tibullus (1983), 217 f.; Bilinski, Riflessi (1986), 184; Ross, Tibullus (1986), 253 mit Anm. 4; Harmon, Religion (1986), 1946 ff. (mit ausführlicher Argumentation); Miller, Ovid's Elegiac Festivals (1991), 116 f. Zur Diskussion der älteren Forschung siehe bes. Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 44 ff. Den interessantesten neueren Beitrag zu diesem Thema bietet

128

II. Ländliche Lustrationsriten

ihm nicht gelungen, denn nach wie vor gilt es einer anderen Forschungstradition als erwiesen, daß sich Tibulls Elegie entweder nicht auf das genannte Fest bezieht oder gar, daß es ein Fest dieses Namens nie gegeben hat. 4 U m das heortologische Problem zu klären, möchte ich zunächst versuchen, aus der Gesamtinterpretation des Gedichts Einsichten in Ablauf und Bedeutung der ländlichen Lustration zu gewinnen, die das in bezug auf Catos Ritualanweisung Gesagte weiterführen und ergänzen.

2.1. „Ein Ritus - wie vom altehrwürdigen Ahn überliefert" Freilich ist der Charakter der beiden Quellen, den unterschiedlichen Textsorten entsprechend, denkbar verschieden. Während Cato knappe, aber präzise Anweisungen für die Durchführung eines Lustrationsrituals gibt, schildert Tibull im ersten Gedicht seines zweiten Elegienbuchs ein Fest.^ Bildhaft stellt er uns Szenen einer ländlichen Veranstaltung vor Augen. Nur ein Teil des Gedichts (und zwar der kleinere) ist unmittelbar der Durchführung des Rituals gewidmet. Tibull skizziert auch die Gefühle und Stimmungen, die bei den Teilnehmern im Umfeld der Zeremonie entstehen, und will diese Atmosphäre auf den Leser wirken lassen. Dabei sind alle thematischen Aspekte, die der Dichter anschneidet, auf die veranstaltete Lustration bezogen. Dies wird im folgenden zu zeigen sein. Die Elegie selbst bietet uns hierfür zahlreiche Hinweise, die sich unserer Interpreta-

H a r m o n , Religion (1986), 1943-1955 ( = Kap. IV: „Tibullus and the Rural Festival"). 4

Marquardt, R o m . Staatsverwaltung 3 (1878 / 1 8 8 5 ) , 199, A n m . 8 sowie Postgate, Selections (1903) - der in der oben genannten Abhandlung seinen früheren Standp u n k t widerrief - und Reitzenstein, Hellenist. Wundererzählungen (1906), 159 hatten Tibulls Festschilderung auf die Paganalia oder Feriae Sementivae b e z o g e n (siehe dazu unten, Kapitel II 5). In neuerer Zeit wirksam ist vor allem die kritische Arbeit von Kilgour, Ambarvalia (1938), dem es darum ging, eine mögliche Identifikation der „ A m b a r v a l i a " und des Hainfestes der Arvalbrüder (siehe dazu unten, Kapitel II 4) zurückzuweisen. Pascal, Tibullus (1988), hat seine A r g u m e n t e aufgegriffen und den Schluß gezogen, weil die „ A m b a r v a l i a " eine Gelehrtenerfindung seien, k ö n n e Tibull gar kein Fest geschildert haben, doch hätte er für seine kapriziöse M o n t a g e allerlei authentisches Material verwandt (535). In dieser Tradition auch Bremmer, Tibullus' C o l o n u s (1993).

5

H a r m o n , Religion (1986), 1943 nennt die Elegie wohl mit Recht „the fullest description of a rural festival in Roman literature".

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht" tion erschließen, w e n n wir als Arbeitshypothese die naheliegende n a h m e zugrundelegen, daß das Gedicht eine Sinneinheit

6

129 An-

bildet.

W i e eng die Beziehung ist, die Tibull zwischen Poesie und religiöser Tradition herstellt, zeigen bereits die allerersten Worte, die das Gedicht einleiten. Dieser Halbvers enthält die Aufforderung: „Wer du auch z u g e gen sein magst, du sollst schweigen". 7 Dies ist ein geschickter Kunstgriff, der alle denkbaren Leser in das Geschehen des Gedichts einbinden soll. Weil der Dichter in die Rolle des Zeremonienmeisters schlüpft, wird der Rezipient — an Stelle der realen Festgemeinde — z u m Ritualteilnehmer.® W i e suggestiv das einleitende Werben u m Aufmerksamkeit auf antike L e ser u n d Z u h ö r e r gewirkt haben muß, kann nur ganz verstehen, w e r weiß, daß dieses Schweigegebot der gängigen römischen Kultpraxis entsprach. 9 Tibull evoziert hier eine feierliche Stimmung, indem er eine traditionelle religiöse F o r m e l zitiert. D e n n mit d e m Schweigegebot werden Riten üblicherweise eingeleitet: Es setzt einen Schnitt zwischen der profanen Zeit

6

7 8

9

Zum Aufbau der Elegie siehe Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 41. Vgl. ferner Grondona, Struttura (1971), 244; ihr folgt Mutschier, D. poet. Kunst (1985), 210. Die Strukturanalyse ließe sich noch erheblich verfeinern. - Das Gedicht ist selbst wieder Teil einer größeren Sinneinheit: Es leitet das zweite Buch ein; vgl. dazu Bright, Haec ... (1978), 187 u. 260 ff. Tib. 2 , 1 , 1 : Quisquís ades faveas. Als Festgemeinde haben wir uns die Angehörigen des Landguts, möglicherweise auch Gäste vorzustellen. Das „Gesinde", von dem Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 71 spricht, gehört natürlich dazu. Die verschiedenen Weisen, in denen das Publikum einbezogen ist und die unterschiedlichen Sprechrollen, die der Dichter dabei einnimmt, hat Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 72 f. untersucht. Siehe schon Jacoby, Tibulls erste Elegie (1910), 50, der Tib. 2,1 als „mimisch-dramatisches Festgedicht" bezeichnete. Vgl. auch Hennemann, Tibulls rei. Dichtkunst (1971), 63 ff., Cairns, Tibullus (1979), 121 und Mutschier, D. poet. Kunst (1985), 211. Allerdings präsentiert sich Tibull m. E. trotz diverser Akzentverschiebungen durchweg als pater familias des Anwesens. Nicht passend erscheint mir daher auch die Annahme Harmons, Religion (1986), 1944, Tibull nehme die Rolle eines lictor ein: „master of ceremonies" war im privaten Kult der Hausherr selbst, also in diesem Falle der Gutsbesitzer. Bei staatlichen Opfern war es die Aufgabe eines Herolds, die Festgemeinde zum Schweigen aufzurufen - vgl. Cie. div. 1,102: rebusque divinis quae publice fierent ut faverent Unguis imperabatur. Als Sinn dieser Vorschrift gibt Seneca vit. beat. 26, 7 an: Hoc verbum (...) imperai silentium, ut rite peragi possit sacrum nulla voce mala obstrepente (vgl. Plin. nat. 28,10 f.). Siehe dazu Latte, Rom. Religionsgeschichte (1976), 386, Anm. 8. Allgemein zur Bedeutung des Redens und Schweigens bei den Römern siehe Köves-Zulauf, Reden (1972), bes. 319.

130

II. Ländliche Lustrationsriten

des Alltags und der nun beginnenden „heiligen" Zeit der Kulthandlung. Die Aufmerksamkeit der Anwesenden wird auf den Ritus gelenkt. Auf literarischer Ebene will Tibull mit diesem priesterlichen Gestus genau dasselbe erreichen. Die Zeremonie, der wir nun im Gedicht beiwohnen werden, ist (wie gesagt) ein ländlicher Lustrationsritus: „Wir lustrieren die Früchte und die Felder." 10 Und nun bezieht sich Tibull explizit auf die Tradition: Einen Ritus, wie er vom altehrwürdigen Großvater überliefert ist, kündigt er an.11 Die Berufung auf frühere Generationen gehört wie das einleitende Schweigegebot zu den üblichen Verhaltensmustern des religiösen Bereichs; sie dient der Legitimation. Zugleich dürften wir wohl kaum fehlgehen, wenn wir darin eine Anspielung auf Catos Ritualvorschrift und somit eine Beglaubigungsformel in doppelter, nämlich sowohl religiöser als auch literarischer Hinsicht sehen. Der „altehrwürdige Ahn" steht ganz allgemein für die Tradition und soll eine Kontinuität der Uberlieferung innerhalb der ländlichen Familie suggerieren, zugleich aber ist hier auf den Autor Cato angespielt.^ Seine Ritualanweisung bildet den Rahmen, der nun mit Leben gefüllt wird. Doch just nachdem Tibull im ersten Distichon der Elegie diesen Erwartungshorizont aufgebaut hat, durchbricht er ihn auch schon. Wandte sich der catonische Landmann mit seinen Bitten um Gedeihen und Wohlergehen an den „Vater Mars", so ruft Tibull Bacchus und Ceres zum Fest. 1 '' Haben wir es hier mit einem religionsgeschichtlichen Prozeß zu tun, in

10

Für die Übersetzung des Verbs lustrare („fruges lustramus et agros") stellt sich hier dasselbe Problem wie in Catos Text. Putnam, Tibullus (1973), 153 ad loc. umschreibt „perform purifying, .releasing' sacrifice". Das Bild des Umgangs geht dabei aber verloren.

11

Tib. 2 , 1 , 2: Ritus ut a prisco traditus extat

12

Daß die von Tibull verwendeten Stilmittel der Alliteration und Anapher archaisie-

avo.

rend wirken und an Cato gemahnen sollen, hat Dubia, Tibullo (1978), 33 gezeigt. - Gasperini, Mondo (1986), 221 nimmt an, daß Tibull die Religiosität der einfacheren Leute wiedergibt. Dies ist sicherlich die Absicht des Dichters. Dabei verwendet er aber zugleich traditionelles Material und literarische Vorgaben: Siehe beispielsweise Cairns, Tibullus (1979), 133; vgl. auch Gasperini, ebd. 215 u. 232 speziell zu Tibulls Verhältnis zu Vergil. 13

Tib. 2, 1, 3 f.: Bacche, pora

cinge,

Ceres.

veni, dulcisque

tuis e cornibus

uva / Pendeat,

et spicis

tem-

- Harmon, Religion (1986), 1944 bezeichnte dieses Distichon

als ΰμνος κλητικός. - Allgemein zu den Gebetsanrufungen in den Gedichten Tibulls: Hennemann, Tibulls rei. Dichtkunst (1971), 8 ff.

131

2. F e s t und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

dem Mars als Schützer des Landes vom Weingott und von der Getreidegöttin verdrängt wurde? Oder rufen die beiden Schriftsteller verschiedene Gottheiten an, weil sie unterschiedliche Feste im Sinn haben? 14 Das Bild des gehörnten, mit Trauben behängten Bacchus und der mit Ähren bekränzten Ceres, das Tibull evoziert (vv. 2 u. 3), läßt an ein Erntefest denken. Daraus folgt allerdings keineswegs, daß ein solches unmittelbar Gegenstand der Elegie ist. Denn die Einladung an die Gottheiten, mit ihren Gaben zu kommen, kann sehr wohl, über die Einladung zum aktuellen Fest hinaus, eine Aufforderung sein, nun in den kommenden Wochen diese Gaben zu „produzieren". Der durchgeführte Lustrationsritus wäre dann prospektiv auf die Ernte bezogen. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch das Gebet in den Versen 17-24 bestätigt. Den festlichen Charakter des Tags betont im Folgenden der Aufruf, die Erde, den Pflüger, sein Gerät und die Rinder von den Plagen des Alltags freizustellen. 15 Es sind nicht nur die Fesseln des Jochs von den Pflugstieren genommen1^ und ihre Raufen wohlgefüllt, sondern sie tragen zum Zeichen der Festtagsruhe sogar Kränze. 17 Das Thema der Feldbestellung ist auf die angerufene Göttin Ceres bezogen. Zugleich vertritt es hier die Männerarbeit schlechthin. Denn sein Gegenstück für die weiblichen Mitglieder der Festgemeinde bildet die Wollarbeit: Sie steht für den Aufgabenbereich der Frauen. Daß sich die Frauenarbeit am Fest verbietet, verdankt sich, wie wir unmittelbar aus dem Text schließen müssen, dem Gott, 14

Vgl. H e n z e n , A c t a (1874), 4 8 ; Marquardt, R o m . Staatsverwaltung 3 (1878 / 1 8 8 5 ) , 4 5 1 ; Wissowa, Religion (1902 / 1 9 1 2 ) , 143 u. 5 6 2 ; Kilgour, Ambarvalia (1938), 2 3 6 ; N o r d e n , Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 164 f.; Pöstgens, Tibulls A m b a r v a l gedicht (1940), 4 5 ff.; Scholz, Studien (1970), 6 9 ; Rosivach, Mars (1983).

15

Von Fowler, N o t e (1908), 37 auf die Frühjahrspflügung bezogen und daher als I n d i z für die Beziehung der Elegie auf die Ambarvalia gewertet. Dies ist möglich, aber nicht unbedingt beweiskräftig angesichts der differenzierten Angaben

bei

C o l u m . 2, 4, 3 ff. und 2, 4, 9 ff. (je nach Qualität des Bodens liegen die Termine unterschiedlich;

außerdem gibt es noch Sommerpflügungen

für das

Brachland

usw.). Vgl. Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 4 6 f. z u r Diskussion u m die Bedeutung des Pflügens. 16

Als M o t i v , das die Vorstellung einer glücklichen Urzeit evoziert, gewertet von

17

Das Kranztragen der Arbeitstiere ist nicht nur Zeichen der Ausnahmesituation,

H e n n i g e s , Utopie (1979), 137. sondern bezieht sie demonstrativ in die Gemeinschaft der Feiernden mit ein: D e r Pflugstier ist ein socius hominum

in rustico opere

(Varrò rust. 2, 5, 3). -

Bekrän-

zen signalisiert allgemein Anfang der Feier und Zugehörigkeit z u r F e s t g e m e i n schaft. Dazu Blech, Studien (1982), 3 0 3 ff.

132

II. Ländliche Lustrationsriten

dem allein an diesem Tag Dienste zu leisten sind, nämlich Bacchus. Diese Zuordnung trifft Tibull nicht nur der Symmetrie wegen. Die Erwähnung des Gottes, gefolgt von der Warnung, keine solle es wagen, ihre Hand ans Wollwerk zu legen, läßt den Minyaden-Mythos anklingen, der illustriert, wie Dionysos die „Spinnstubenruhe" an seinem Feiertag durchsetzt. 18 Die letzten Imperative gelten der kultischen Reinheit: Wer nicht keusch war, muß sich vom Altar fernhalten, 19 wer am Ritual teilnehmen will, hat in einem reinen Gewand zu erscheinen und sich die Hände zu waschen. Auch dies sind Vorschriften, wie sie für Kulthandlungen in der Antike allgemein üblich waren. Doch nun sind die Vorbereitungen abgeschlossen, und „Schaut" ruft Tibull da überraschend aus, „wie das geweihte Lamm zu den flammenden Altären geht und dahinter die weißgekleidete Schar, Lorbeer ins Haar gewunden". 21 Woher kommt plötzlich diese Prozession? Da nichts dagegen spricht, das im ersten Vers von Tibull genannte Verb lustrare auch hier (wie bei Cato) zunächst ganz konkret als Terminus technicus für ein Umgangsritual aufzufassen, können wir in diesem Zuruf an die Versammelten eine Momentaufnahme sehen: Das Lamm hat nun seinen Umgang beendet 22 und nähert sich den beim Opferaltar Wartenden, an die Tibull seine Worte gerichtet hatte. Auch Catos Ritualanweisung sieht nicht vor, daß die ganze Festgemeinde an der Prozession teilnimmt: Der Opferherr, der den Befehl erteilt hat, die suovitaurilia herumzuführen, 18

19

Den überfleißigen Schwestern, die gleichsam das „Feiertagsgebot" brechen, offenbart sich der Gott in unheimlichen Erscheinungen: Nikander bei Anton. Lib. 10, Plut. qu. Gr. 38, Ail. var. 3, 42, Ov. met. 4 , 1 - 4 0 , 3 9 0 - 4 1 5 . Zum sozialen Sinn solcher Mythen vgl. D. Baudy, Heischegang (1986), 220 f. Hennemann, Tibulls rei. Dichtkunst (1971), 66 spricht zutreffend von einem „liturgischen Gestus".

20

Siehe Eitrem, Opferritus (1915), 79 ff. - Diese Angaben Tibulls eignen sich daher nicht zum Bestimmen des Festtermins. Daß solche Festelemente wie etwa die weißen Gewänder (dazu Harmon, Religion [1986], 1953) unspezifisch sind, bedeutet allerdings nicht, daß Tibull in angeblich alexandrinischer Manier die Festsituation vage halten will (so Dubia, Tibullo [1978], 33); vielmehr betont die Anführung dieser Selbstverständlichkeiten den traditionellen Charakter des Fests.

21

V. 15 f.: Cernite, fulgentes turba comas.

22

Vgl. u. a. Della Corte, La .religio' (1982), 155. - Scholz, Studien (1970), 68 hat in Anm. 59 darauf hingewiesen, daß der Plural aras den Flurumgang andeutet, weil er sich auf die Compita-Altäre beziehen muß - „ein erster Hinweis auf die Laren,

die patrii

di

ut eat sacer agnus ad aras / Vinctaque post olea

candida

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

133

geht anscheinend nicht selbst mit, und er bleibt sicherlich nicht alleine zurück. Ein bescheidenes Opfer wird hier dargebracht, einem kleineren Landgut angemessen — so jedenfalls heißt es bei Tibull 1, 1, 21-22: „Einst lustrierte ein geschlachtetes Kalb zahllose Jungrinder, nun ist ein Lamm das kleine Opfer für ein eng bemessenes Grundstück." 23 Es besteht demnach eine direkte Beziehung zwischen der Wahl des Opfertiers und der Art der auf dem Anwesen gehaltenen Herden. Wer nur Kleinvieh hielt, konnte auch nur Kleinvieh opfern. Wenn Cato also das Opfer von Suovitaurilia vorschreibt, wie sie auch der Staatskult anläßlich des Zensorischen Lustrums kennt, stellt er möglicherweise eine Idealforderung auf, die in der Praxis nicht jedem Landwirt erreichbar war. Auch Tibull läßt — wie Cato — seinen einleitenden Worten ein Gebet folgen. Angerufen werden die dit patrii, die „heimischen Götter". Gemeint sein müssen damit zunächst Ceres und Bacchus, an die sich die Eingangsverse richteten. Außerdem zählen offensichtlich auch die Laren zu ihnen, 2 4 die im weiteren Verlauf des Gedichts noch eine Rolle spielen werden und denen auch in Tibulls Elegie 1,1 das Lustrationsopfer dargebracht wird. 2 "' Sie galten allgemein nicht nur als sehr altertümliche Gottheiten, sondern auch als Hüter des jeweiligen Landguts, zu denen folglich dessen Bewohner eine ganz spezielle, sehr persönliche Beziehung pflegten. Sowohl an der Grenze des Grundstücks als auch in seinem Zentrum, am heimischen Herd, waren sie präsent. 2 ^ Als symbolische Identifikationsfiguren 23

Tib. 1 , 1 , 2 1 - 2 2 : tunc vitula innúmeros lustrabat caesa iuvencos, / nunc agna exigui est hostia parva soli. - Das Lamm als Substitut für souvitaurilia : Harmon, Religion (1986), 1953, der Le Bonniec, Culte (1958), 144 u. 147 folgt. Daß das Schaf laut Varrò rust. 2, 2, 2 als das erste gezähmte Tier galt, scheint mir für Tibull keine Rolle zu spielen; sonst wäre er wohl im Kulturentstehungsmythos (Vv. 37 ff.) darauf eingegangen.

24

Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 9 sieht in den di patrii „allgemein die Götter, die von den Vorfahren verehrt wurden". Tib. 1 , 1 , 1 9 - 2 0 : vos quoque, felicis quondam, nunc pauperis agri / custodes, fertis muñera vestra, Lares. - Ein Wandgemälde aus Pompeii (Neapel, Museo Nazionale, Inv. 8905) zeigt ein Schweineopfer am Larenaltar: Siehe Godwin, Mystery Religions (1981), Abb. 31, S. 67 sowie Fröhlich, Lararien- und Fassadenbilder (1991), Taf. 10, Abb. 2 mit Erläuterungen unter der Katalognummer L 98 (S. 292). Cato sieht bei der Ankunft auf einem Landgut die Begrüßung des „Familienlars" (und einen Umgang um das Grundstück!) vor: Pater familias, ubi ad villam venit, ubi larem familiarem salutavit, fundum eodem die, si potest, circumeat (agr. 2, 1). - Das wichtigste Material zu den Laren zusammengestellt bei Eisenhut, Lares

25

26

134

II. Ländliche Lustrationsriten

repräsentierten sie zugleich das Prinzip „Familie" und das Prinzip der Territorialität. DU patrii konnten sie also in einem doppelten Sinne sein: „heimisch" im Sinne regionaler Zugehörigkeit, aber auch als „Götter der Väter". Zahl und Individualität der angerufenen Gottheiten hat Tibull sicherlich bewußt offengelassen. So läßt sich ihnen schließlich auch der am Ende der Elegie ins Spiel kommende Cupido zuordnen. Vor allem aber konnte jeder Hörer und Leser der Elegie, sofern ihn eine reale Beziehung oder vielleicht auch nur ein sehnsüchtiger Traum mit irgendeinem Landgut verband, hier diejenigen Gottheiten ergänzen, die für ihn etwas bedeuteten. 27 Im ersten Vers sprach Tibull in der Rolle des Opferherrn die versammelte Festgemeinde an, indem er die Ritualhandlung, um deretwillen sie zusammengekommen waren, explizit machte: „Wir lustrieren die Feldfrüchte und das Land". Nun nimmt er diese Formel gegenüber den angerufenen Göttern noch einmal auf. Doch diese Wiederholung enthält zwei Variationen: Zum einen steht an Stelle des Verbs lustrare nun purgare,28 Nicht mehr der Umgang ist hier assoziiert, sondern eine der mit ihm verbundenen Intentionen, nämlich die „Reinigung". Zum andern werden als „Objekte" denen die Kulthandlung gilt, explizit nicht nur das Land mit seinen Früchten, sondern auch die Landleute genannt. Die folgenden Bitten, die das Gebet 29 an die „heimischen Götter" fortsetzen, lassen deutlich werden, was zum „Purgieren" gehört: 30

27

28 29 30

(1975/1979), 494 ff. Vgl. Orr, Rom. Dom. Religion (1978), 1563 ff.; Harmon, Festivals (1978), 1593 ff.; Simon, Götter (1990), 119 ff. (jeweils mit weiterer Literatur und Diskussion der älteren Forschung). Varrò ruft beispielsweise zu Beginn seines Werks über den Ackerbau (rust. 1, 1, 4 - 6 ) die zwölf deos Consentis herbei, und zwar, wie er betont, nicht „diese städtischen, deren vergoldete Bilder beim Forum stehen" sondern vielmehr Iuppiter und Tellus, Sol und Luna, Ceres und Liber, Robigo und Flora, Minerva und Venus sowie Lympha und Bonus Eventus. - Zur (eingeschränkten) Wahlmöglichkeit in polytheistischen Systemen und der deswegen erforderlichen „Kompetenz" im Umgang mit den Göttern grundlegend Gladigow, ΧΡΗΣΘΑΙ (1991). V. 17: DU patrii, purgamus agros, purgamus agrestes. Burriss, The Religious Life of Tibullus (1929), 122 und Dubia, Tibullo (1978) haben die Entsprechung zu Catos Gebet registriert. Daß der kathartische Aspekt und der apotropäische hier zusammengehören, hat Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 10 u. 52 betont.

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

135

„Ihr, jagt die Ü b e l aus unseren Grenzen, daß die Saat nicht der Ernte spotte durch Scheinfrucht, daß nicht das langsame L a m m die schnelleren Wölfe fürchte." 3 1 Wie in Catos Ritualanweisung wird hier deutlich, daß der Verlauf der Zeremonie und die Bestandteile des Opfers einen repräsentativen Sinn haben, den das Gebet explizit macht. D e m Ritualmuster des Umgangs entsprechend, werden auch in Tibulls Darstellung die Grenzen des zu schützenden Anwesens stark betont: Die Ü b e l - zunächst ganz allgemein gesprochen - sollen de limitibus

vertrieben werden. 3 2 Das Abwehren der Wölfe

ist das sinnliche Bild, das uns hilft, die abstrakteren Wünsche zu verstehen: Wie sie — die ja durch Umgänge an den Grenzen des Grundstücks tatsächlich lebenspraktisch verscheucht werden — sollen auch weniger greifbare Gefahren, also etwa das Entstehen von Scheinfrüchten, gebannt werden. Diesem letztgenannten Übel gegenüber kann der Umgang freilich nur noch auf symbolische Weise wirken. Auch was das Opfertier betrifft, gibt es (wie bei Cato) einen engen Zusammenhang zwischen der erhofften Wirkung des Rituals, die im G e b e t ihren Ausdruck findet, und seinem Verlauf. Da zu diesem Anwesen Schafe gehören, deren Schutz im Gebet erfleht wird, m u ß ein Schaf stellvertretend für die ganze Herde geopfert werden. Allgemein läßt sich sagen: Was in der Ritualhandlung symbolträchtig inszeniert wird, findet im G e b e t seine explizite Formulierung. Folge der Erfüllung dieser Wünsche wäre ein ländlicher Wohlstand, den Tibull nun in zwei Bildern ausmalt: D e r vor Zufriedenheit und Zuversicht strahlende Bauer wird angesichts der Fülle auf seiner Tenne ein großes Feuer entfachen; spielende Sklavenkinder in großer Zahl (auch sie ein Ausdruck bäuerlichen Reichtums) werden vor den Häusern Rutenhütten bauen. 3 3 31

Vv. 18-20: vos mala de nostris pellite limitibus, / neu seges eludat messem fallacibus herbis, / neu timeat celeres tardior agna lupos.

32

Daß der Umgang das Anwesen als sakral geschützten Raum gegen die feindliche Welt außerhalb abgrenzt, hat auch Ross, Tibullus (1986), 257 gesehen. (Weniger auf das Ritual bezogen, hat schon Wimmel, Tibull [1976], 29 auf die entgegengesetzten Motive der Hege und der Gefährdung hingewiesen.) - Die Auffassung, Tibull zeichne ein harmonisiertes Naturbild, aus dem jede Bedrohung eliminiert sei (so Reischl, Reflexe [1976], 39), leuchtet mir angesichts dieses Gebets nicht ein.

33

Vv. 21-24: tum nitidus plenis confisus rusticus areis / ingeret ardenti grandia ligna foco, / turbaque vernarum, saturi bona signa coloni, / ludet et ex virgis extruet ante

casas.

- Zu areis

in v. 21 ist anzumerken, daß Luck hier die Emendation

136

II. Ländliche Lustrationsriten

Die Zukunftsvision entwirft ein Bild der Erntezeit. Inhaltlich ist dieser Zielpunkt der Landarbeit im Gedicht längst vorbereitet: Wurden doch Ceres und Bacchus mit ihren Attributen, die für die Zeit der Fülle stehen, angerufen. Wenn sie ihren Segen bringen und zugleich aller Schaden abgewendet wird, hat der Bauer Grund zum Optimismus. Dazu paßt auch die Vorstellung von Sklavenkindern, die Rutenhütten bauen: Diese sind eine spielerische Entsprechung der Laubhütten, die während des Dreschens Schutz vor der Sonnenglut gewähren sollen. 34 Zu der betreffenden Zukunftsvision gehört insbesondere ein großes Feuer. Wir können in ihm das Opferfeuer für ein üppiges Erntefest erkennen.3^ Dieses künftige Feuer hat sein Vorbild im Altarfeuer der Gegenwart. Denn das stattfindende Opfer ist ja gerade prospektiv auf die glückliche Ernte bezogen: Um der ausgesprochenen Wünsche willen wird das Lamm den Göttern dargebracht. Im Gebet wurden die Erwartungen formuliert, die Vision malt ihre Erfüllung aus. Die traditionelle Opferschau, die uns Tibull nun vor Augens stellt, funktioniert nach eben diesem Prinzip. In einer Situation des bangen Hoffens gewinnt das Formulieren der — positiven oder negativen — Erwartungen die Bedeutung eines Verweises auf die Zukunft: Wenn jetzt alles gut-

Scaligers übernimmt. Das Bild der Tenne paßt inhaltlich natürlich bestens zu den Laubhütten in v. 24, da solche in der Nähe der Dreschplätze angelegt wurden: prope aream faciundum umbracula, quo succédant homines in aestu tempore meridiano (Varrò rust. 1, 51, 2). Wir hätten uns also ein Erntefest vorzustellen, bei dem das Korn für den Drusch bereitliegt. Mit plenis . . . agris (so die Uberlieferung) wäre hingegen das reife Korn auf den Feldern gemeint; es wäre an ein Vorerntefest zu denken. Die porca praecidanea wurde aber Ceres allein (oder zusammen mit Tellus) dargebracht: Siehe Cato, agr. 134; Paul. Fest. p. 243 u. 250 L.; Gellius 4, 6, 7; dazu Le Bonniec, Culte (1958), 148 ff. Die von Tibull mehrfach hergestellte Beziehung zwischen Ceres und Bacchus ist daher ein weiteres Indiz, das für ein Erntefest - und somit für areis - spricht. 34

Weil Kinder sie errichten, lehnt Putnam, Tibullus (1973), ad loc. die Vergleichsmöglichkeit mit den tabernacula der Neptunalia oder des Anna-Perenna-Fests ab. (Ihm folgt H a r m o n , Religion [1986], 1955.) Kinderspiel kann aber durchaus das Einüben kultureller Techniken implizieren.

35

Verschiedentlich wurde aus dem Vorhandensein des Feuers (das dann für ein H e r d f e u e r gehalten wurde) auf eine Winterszene geschlossen: So Postgate, O n some . . . Problems (1909), 130; Musurillo, T h e m e (1967), 263, A n m . 19; Ball, Tibullus (1983), 152. Dies erscheint mir (u. a. wegen des Spielens der Kinder im Freien) nicht plausibel. - Z u r sozialen Bedeutung siehe D. Baudy, Heischegang (1986), 219 ff.

137

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

geht, wenn jetzt das Tier einwandfreie Innereien aufweist, dann ist es offensichtlich den Göttern genehm, dann müssen sie unsere Wünsche erfüllen — so die innere Logik aller Haruspizin. 36 Und offensichtlich sollen wir uns vorstellen, daß die Festgemeinde inzwischen Zeuge der Schlachtung war, daß die Leber des Schafs bereits geprüft wurde. Denn plötzlich unterbricht sich Tibull mit einem direkt an die Versammelten (und an uns Leser!) gerichteten Ausruf: „Erfüllen werden sich meine Bitten", triumphiert er, denn die Leberschau zeigt, daß die Götter gewogen sind. 37

2.2. „Das Land besinge ich und die ländlichen Götter" Mit dieser Glücksverheißung haben nun auch die Anspannung und der Ernst der Feier ein Ende, nicht aber das Fest selbst. Der Landwirt läßt Wein bringen und heißt die Anwesenden, auf Messallas Wohl zu trinken. Ein solcher Trinkspruch fügt sich unmittelbar in die vorgestellte Situation ein. Tibull, der poetische Gastgeber, hat inzwischen die Lizenz erteilt, am Festtag so viel zu trinken, bis die Füße nicht mehr zuverlässig tragen. 38 Den Becher auf den Abwesenden zu heben, kann da den Lebensgenuß nur steigern, steht der Name Messallas, des Triumphators über die Aquitanier, doch für das soldatische Leben schlechthin, dem Tibull schon in der Einleitungselegie des ersten Buchs eine idyllische Vision entgegengesetzt hatte: Glücklich, wer mit seiner Liebsten auf dem Lande weilen und die Stürme draußen im Bett überdauern kann. 3 9 Auch im vorliegenden Text

36

Siehe Gladigow, Teilung (1984), 24: Merkmale des Opfervorgangs, die (wie beispielsweise das Aufsteigen des Rauchs) als Zeichen der Annahme des Opfers durch die Götter interpretiert werden können, gelten als Indikatoren für deren Wohlwollen. „Hier geht das System von Gaben an die Götter unmittelbar in ein Divinationssystem über."

37

Vv. 25 f.: Eventura precor:

viden ut felicibus extis / significet placidos nuntia

fibra

deos? - Daß die Vision der Wunscherfüllung die für die Opferung und Opferschau benötigte Zeit überbrückt, hat schon Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 13, Anm. 32 gesehen. 38

Vv. 2 7 - 3 2 : Nunc mihi fumosos veteris proferte Falernos / consults et Chio solvite vincla cado. / Vina diem celebrent:

non festa luce madere / est rubor, errantes et

male ferre pedes. / Sed ,bene Messallam' sua quisque ad pocula dicat, / Nomen et absentis singula verba 39

sonent.

Vgl. Tib. 1, 1, 4 5 - 4 8 : quam iuvat inmites ventos audire cubantem tenero continuisse sinu / aut, gélidas hibernus aquas cum fuderit

/ et

Auster, /

dominam securum

138

II. Ländliche Lustrationsriten

könnte der Trinkspruch nun ohne weiteres in das Besingen privaten Genusses einmünden. Dem ist jedoch nicht so. Es folgt vielmehr ein regelrechter Hymnos auf das bäuerliche Land und seine Götter, der die private Festsituation transzendiert: rura cano rurisque deos, „das ländliche Leben besinge ich und die Götter des Landes" (v. 37). 4 0 Der Anklang an das arma virumque cano, das die Aeneis Vergils einleitet, 4 ^ markiert auch auf dieser Ebene noch einmal die Distanzierung von epischem Heldentum. Nicht Waffen und Männer will Tibull besingen, sondern das Landleben und die Götter, die es gestiftet haben und seinen Fortbestand sichern sollen - und natürlich die Liebe, die aber erst im Schlußteil der Elegie zu ihrem Recht kommt. Doch dieser Hymnos auf den Ackerbau steht überraschenderweise keineswegs in ausschließlichem Gegensatz zu Messalla, sondern sogar unter seiner Schirmherrschaft: Diesem zweiten Maecenas 4 ^ gilt ein regelrechter Musenanruf des Dichters. Ausgerechnet dieser Kriegsheld wird nun als Inspirationsquelle herbeigerufen, damit die Bauern durch Tibulls Lied den Göttern ihren Dank abstatten können. 4 3 Hier schlägt der Dichter unerwartet einen Bogen zwischen zwei an sich unvereinbaren Welten. Dies ist nicht ohne weiteres verständlich. Es muß noch eine engere Beziehung Messallas zu diesem Hymnos geben, wenn er als „Chorführer" geeignet sein soll — und es gibt sie tatsächlich. Der Kriegsheld war als Mitglied der Arvalbrüderschaft 44 einer der zwölf Repräsentanten des römischen Staates,

somnos imbre iuvante sequi!

sowie 5 3 - 5 5 : te beliate decet terra, Messalla,

que, / ut domus hostiles praeferat exuvias: / me retinent vinctum formosae puellae.

marivincla

Da den „Fensterblick-Versen" (locus classicus ist Lucr. 2 , 1 ff.; zu weite-

ren Vorbildern siehe jetzt Delon, Tradition [1993]) alsbald die Zurückweisung von Messallas Leben des Kampfs und Ruhms zugunsten privaten Liebesglücks folgt, dürfen wir die „Stürme" natürlich auch politisch interpretieren. - Daß Messallas Abwesenheit in seiner Existenz als Krieger begründet ist, nimmt Moßbrucker, Tibull (1983), 98 an. 40

Vgl. dazu Norden, Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 150 f., 163 ff.; Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 18 ff. u. 53 ff.

41

Verg. Aen. 1,1 („Waffen und Männer besinge ich"). Vgl. auch Bilinski, Riflessi (1986), 185.

42

M. Valerius Messalla Corvinus hatte einen Dichterkreis um sich geschart, dessen hervorragendster Vertreter Tibull war. Zum Verhältnis des Poeten zu seinem Förderer siehe Moßbrucker, Tibull (1983) 139 ff.

43

Vv. 35 f.: Hue ades aspiraque mihi, dum carmine nostro / redditur caelitibus.

44

Zu seiner Biographie vgl. Scheid, Frères (1975), 50 ff.

agricolis gratia

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

139

die mit ihrem Ritual im Mai allen Schaden vom noch grünen Getreide auf dem Feld abwenden sollten.4^ Gratuliert ihm Tibull mit diesem Gedicht zur Aufnahme in das Priesterkollegium? Hat die Abwesenheit Messallas vielleicht ihren Grund darin, daß er gerade zu der Zeit, als die ländliche Gemeinde Tibulls ihr privates Fest feiert, der Arvalbrüder-Zeremonie im Dea-Dia-Heiligtum, sechs Meilen außerhalb der Stadt, beiwohnt? 46 Auf diese Fragen werden wir noch zurückkommen. Der Landmann Tibull will mit dem Hymnos, wie er angekündigt hat, den Himmlischen danken; sein Lied soll eine „Gegengabe"4'' der Landleute sein. Doch worin besteht nun sein Dank? Er singt einen Kulturentstehungsmythos. 48 Die Götter für ihre Wohltaten zu preisen — das ist es, was die Menschen ihnen zu geben haben. So rühmt der Dichter sie denn zuerst dafür, daß sie die Uberwindung der Eichelnahrung lehrten. Dies war, dem traditionellen Mythos zufolge, das Lebensmittel der Urzeit, das erst aufgegeben werden konnte, nachdem Ceres den Getreideanbau gelehrt hatte. 49 Diese konventionelle Lehre von der Siftung des Ackerbaus kann Tibull als bekannt voraussetzen. Die Anrufung der Kulturstifter Ceres und Bacchus samt ihrer Attribute im zweiten Distichon der Elegie wird hier nachträglich in einen weiteren Bedeutungshorizont gestellt: In der jährlichen Ankunft der Götter mit ihren Gaben „wiederholt" sich ihr erstes Kommen überhaupt, als sie den Menschen Brot und Wein brachten.^® Tibull folgt nun weiter dem traditionellen mythischen Schema: Die Ersetzung der wildwachsenden urzeitlichen Eichelnahrung durch Getreide

45

Siehe dazu unten, Kapitel II 4.

46

Vgl. Scheid, Frères (1975), 337 f. und 363. Daß Messallas Abwesenheit etwas mit seiner Funktion als Arvalbruder zu tun hat, haben Cairns, Tibullus (1979), 130 sowie Harmon, Religion (1986), 1955 angenommen. Anders Kubusch, Aurea Saecula (1986), 168, der keinerlei Zusammenhang mit der augusteischen Renovation dieser Priesterschaft sieht. - Pascals glänzender Einfall, daß Messalla deswegen geehrt wird, weil er die Rechnung für das Fest bezahlt (Tibullus [1988], 536), ist - anders als er selbst glaubt - als zusätzliches Indiz für die These geeignet, Tibull habe Messalla zur Aufnahme in die Arvalbrüderschaft gratuliert.

47

Das redditur

48

Zu dieser Passage vgl. Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 53 ff.; Herter,

in v. 36 drückt deutlich ein „Zurückgeben" aus.

Rez. Pöstgens (1941), 377; Gatz, Weltalter (1967), bes. 89 f. u. 145; Reischl, Reflexe (1976), 38 u. 43; Wifstrand Schiebe, D. ideale Dasein (1981), 70 ff.; Bilinski, Riflessi (1986), 184 ff. 49

Vgl. u. v. a. Verg. Georg. 1 , 1 4 7 - 1 4 9 .

50

Vgl. G. Baudy, Cereal Diet (1995), 178 ff.

140

II. Ländliche Lustrationsriten

und andere Kulturpflanzen galt gemeinhin als Grundbedingung zivilisierten Lebens überhaupt. Sie implizierte zunächst Seßhaftigkeit. Deshalb lehrten die Götter den Bau von Laubhütten.5^ Wohnhäuser wurden freilich in augusteischer Zeit längst nicht mehr aus Zweigen gebaut. Doch die Zeitgenossen Tibulls kannten sehr wohl die improvisierten Verschläge der Drescher zur Erntezeit, 52 die ebenso wie die Hütten, die spielerisch von den Kindern errichtet wurden, als „Erinnerung" an eine frühe Form der Technik und damit auch an ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte gelten konnten. 5 ·' Die folgenden Mitteilungen gehören ebenfalls in den Assoziationszusammenhang der Ernte: Die Zähmung der Stiere zum Dienst in Kombination mit der Erfindung des Wagenrads schuf erst die Möglichkeit, das Getreide einzufahren. 54 Geschickt hat Tibuil hier ein Motiv transformiert: Zunächst ist vom Pflugstier die Rede gewesen — das entsprach der „gegenwärtigen" Situation des Rituals, in das jener als „Festgenosse" einbezogen war. Nun erscheint der Stier, der zukunftsgerichteten Perspektive von Gebet und Mythos entsprechend, als Erntehelfer. Das erste Baumobst, von dem anschließend die Rede ist, reift wiederum zur Zeit der Getreideernte und trägt so mit dazu bei, eine Zeit der Fülle heraufzuführen. Dazu bedarf es in der sommerlichen Gluthitze der Bewässerung. 55 Die Traube verlangt nach richtiger Verarbeitung, der fertige Wein nach maßvoller Vermischung mit Wasser.5** All diese Gaben und Kenntnisse, die die Basis kultivierten Lebens ausmachen, sind Geschenke der Götter. Die Erde bringt sie immer wieder neu hervor: „Das Land bringt Ernten, wenn unter der Siriushitze die Erde jährlich ihr blondes Haar ablegt" (v. 47f.). 57

51 52 53 54 55

56 57

Vv. 39-40: Illi compositis primum docuere tigillis / exiguam viridi fronde operire domum. Siehe oben, Anm. 33. Zum Motiv der „Wiederholung" der Anthropogonie G. Baudy, Cereal Diet (1995). Vv. 41 f.: Illi etiam tauros primi docuisse feruntur / servitium et plaustro supposuisse rot am. Vv. 43 f.: Tunc victus abiere f e r i , tunc insita pomus, / Tunc bibit irriguas fertilis hortus aquas. - Auch hier gibt es möglicherweise eine Beziehung zu den Neptunalia. Vgl. Dumézil, Fêtes (1975), 25 ff. Vv. 45 f.: Aurea tunc pressos pedibus dedit uva liquores / mixtaque securo est sobria lympha mero. Vv. 47 f.: Rura ferunt messes, calidi cum sideris aestu / deponit flavas annua terra comas. - Durch das einleitende rura sind die Distichen 37 f. und 47 f. zu einer

141

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

Zur Erntezeit, der Zeit der Fülle, gehört auch das nun folgende Bild des Honigs. Das Erntefest, Lohn der harten Arbeit eines Jahres, stellt für eine kleine Weile das goldene Zeitalter wieder her, das verlorene Paradies, in dem Milch und Honig fließen. 58 Doch Tibull, der ja das Preislied auf die agrarische Lebensform singen will, nimmt die Assoziationen, die er evoziert, gleich wieder zurück. Auch der Honig ist das Produkt eifriger Arbeit: Bienen tragen ihn in ihrem sprichwörtlichen Fleiß zum Stock. 5 ' Das ländliche Leben hat zwar seinen Zielpunkt im jährlichen Erntefest, dessen Fülle aber muß erst mühsam erworben werden. „Vor das Gutsein haben die unsterblichen Götter den Schweiß gesetzt", lautet das berühmte Diktum Hesiods. 60 Die Jahreszeit, die uns Tibull nun vor Augen stellt, hat sich verwandelt. Frühlingsbilder werden mit dem Bild der honigsammelnden Bienen evoziert. Damit ist der Dichter zur Zeit der Festgegenwart zurückgekehrt. Zugleich leiten die Bienen, die „Vögel der Musen", wie Varrò sie n a n n t e , n u n eine Gruppe von Disticha ein, die der Kulturentstehung auf einer anderen Ebene gewidmet sind, nämlich der Entstehung von Kunst und Religion. Auch diese verdanken sich dem ländlichen Leben, denn Musik und Tanz sind Ausgleich für die harte Landarbeit und Dankesgabe der Menschen an die Götter in einem 62 :

Klammer verbunden, die den auf die Ernte bezogenen Teil der Kulturentstehungslehre umschließt. - Daß hier der Hundsstern gemeint ist, ist eindeutig. Vgl. Putnam, Tibullus (1973), 157 ad loc. Zur Assoziation von Sirius und Ernte bzw. Erntefest siehe G. Baudy, Adonisgärten (1986), 17 ff. 58

Vgl. Graf, Milch (1980), 214 ff.

59

Vv. 49 f.: Rure levis vernos flores apis ingerii alveo, / compleat ut dulci seduta melle

favos.

-

Als Urbild des Hauses von Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht

(1940), interpretiert. 60

Hes. op. 289 f.: της δ' αρετής ίδρωτα θεοί προπάροιθεν εθηκαν / αθάνατοι.

61

Varrò rust. 3 , 1 6 , 7. Grundlegend zu „Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung": Waszink (1974).

62

Bilinski, Riflessi (1986), hat 185 darauf hingewiesen, daß Tibull die Erfindung des Ackerbaus den Göttern zuschreibt, die Schaffung kultureller Werte aber den Menschen. Das hängt vor allem damit zusammen, daß Musik und Tanz nach Tibull primär als Ausdrucksformen des Kults entstehen, dieser aber als „Gegengabe" der Menschen an die Götter aufgefaßt ist (vgl. o.). Daß Tibull auch sehr stark den kompensatorischen

Wert

der

Kunst

betont,

unterscheidet

ihn

von

Lukrez

5 , 1 3 7 8 ff., mit dem er verglichen wurde (siehe ζ. B. Bilinski, a. a. O. 186 u. 188).

142

II. Ländliche Lustrationsriten

„Ein Bauer, der genug hatte vom dauernden Pflügen, sang zuerst in festem Takt ländliche Worte, und satt hat er zuerst auf trockenem Rohr gespielt ein Lied, um es den geschmückten Göttern vorzutragen." 63 Wir haben hier das mythische Urbild vor Augen, das in der aktuellen Festsituation „wiederholt" wird. Auch „heute" ist wieder der Pflug aufgehängt, Tibull identifiziert sich mit dem Landmann, der, müde von der schweren Arbeit, ein Festlied anstimmt. Und wie damals das ländliche „Ur-Lied" ein Dank an die - wohl mit Kränzen - „geschmückten" Götter war, dankt nun Tibull in seinem Preislied 64 den „ländlichen Göttern". Der Dichter gibt ihnen die Gegengabe, auf die sie Anspruch haben. Die gegenwärtige Begehung „wiederholt" die Entstehung des Götterkults. Wenn man freilich die religiöse Binnensicht vom Kopf auf die Füße stellt, bedeutet diese Beziehung des Rituals auf ein mythisches Modell eine Überhöhung der religiösen Handlung. Das angebliche Urbild verdankt seine Entstehung der Projektion des Ritus selbst; es interpretiert ihn und verleiht ihm Geltung in einem doppelten Sinn: feierliches Ansehen und normierende Kraft. In diesem Zusammenhang gilt eine eigene Anrufung Bacchus, dem Gott der dramatischen Kunst. Ein rotgeschminkter Bauer soll den Chorreigen zu seinen Ehren erfunden und dafür zum Lohn einen Bock erhalten haben. 65 Dahinter steht die traditionelle Erklärung des Namens „Tragödie" als „Gesang um den Preis eines Bocks". 66 Doch hat Tibull den τράγος, den Ziegenbock, kurzerhand durch den „Führer der Schafherden" ersetzt: So stellte er die Beziehung zum aktuellen Schlachtopfer des Festtags her.

63

Vv. 51-54: agricola adsiduo primum satiatus aratro / cantavit certo rustica verba pede / et satur arenti primum est modulatus avena / carmen, ut ornatos diceret ante déos. - Satiatus ist zweideutig: Es drückt hier nicht einfach nur den Uberdruß aus, sondern auch das Genügen in einem objektiven Sinn. (Vgl. Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 23, Anm. 60.) Der Freiraum für die Kunst entsteht also, wenn die Arbeit getan ist; der „satte" (satur) Bauer flötet!

64

Hennemann, Tibulls rei. Dichtkunst (1971), 48 bezeichnete die laudes als Aretalogien. Daß Tibull mit der Zusammenführung von Gedicht und „Kultlied" (so Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht [1940], 53) „auf den Höhepunkt der Handlung, die lustratio, hingeführt" hat, zeigte Pöstgens ebd., 67 auf. Vv. 55-58: Agricola et minio suffusus, Bacche, rubenti / primus inexperta duxit ab arte choros. / Huic datus a pleno, memorabile munus, ovili / dux pecoris: curtas auxerat hircus opes.

65

66

Siehe ζ. Β. Verg. Georg. 2, 380 ff. mit Serv. Auct. 383, Prob. 380/4, Schol. Bern. Vgl. Burkert, Griechische Tragödie (1990), 16 mit Anm. 13.

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

143

Indem Tibull mit den nächsten beiden Versen den Larenkult ins Spiel bringt, ergänzt er die Götter Ceres und Bacchus, denen sich die ländliche Kultur in einem umfassenden Sinn verdankt, um diejenigen Wesen, die als Grenzhüter des Anwesens geeignet sind, die Verteidigung nach außen zu unterstützen. Sie übernehmen hier die Funktion, die Cato dem Gott Mars überlassen hatte. Daß dieser in Tibulls Elegie überhaupt nicht vorkommt, ist wohl kaum mit einer Übertragung seiner Funktionen an andere Gottheiten zu erklären. Zu eng war sein Name mit dem Krieg verbunden. In einer vom Bürgerkrieg gezeichneten Zeit war er daher wenig geeignet, das feindliche „Draußen" zu repräsentieren. 67 Deshalb, meine ich, hat sich Tibull darauf beschränkt, die harmlosen, weil „unpolitischen" Grenzwächter der Landgüter zu nennen. Auch ihr Kult sollte in der Urzeit gestiftet worden sein: „Auf dem Land flocht zuerst ein Junge aus Frühlingsblumen einen Kranz und setzte ihn den urtümlichen Laren auf." 68 Hatten die ersten sechs Distichen des Preislieds auf die Götter durch die Ernte-Thematik einen klaren Bezug zum visionären Ausdruck der Wünsche, die sich mit dem Lustrationsopfer verbinden, so stehen die sechs Frühlings-Distichen wieder in deutlicher Verbindung mit dem stattfindenden Fest. 69 Sie bilden regelrecht dessen Aitiologie: Die Elemente der gegenwärtigen Feier werden durch ihren Stiftungsmythos überhöht. Wir müssen dann schließen, daß in dem von Tibull geschilderten Ritual Jugendliche eine besondere Rolle spielten und daß auch ein „dionysischer" Reigen dazu gehörte. Unwahrscheinlich wäre ein derartiges Element in diesem ländlichen Fest nicht. Tibull selbst evoziert eine solche Szene in der Einleitungselegie seines ersten Buchs: Wenn für die Laren, die „Wächter", ein Lamm als Lustrationsopfer dargebracht wird, „ruft ringsum die ländliche Jugend: „Io, gebt Ernten und guten Wein"'. 70

67

Daß eine Anrufung des Mars der „Anti-Kriegs-Stimmung" in diesem Gedicht zuwiderliefe, hat auch Harmon, Religion (1986), 1953 gesehen.

68

Vv. 59 f.: rure puer Laribus.

69

Die Zusammengehörigkeit der jeweils sechs Verspaare markiert Tibull dadurch, daß er in jeder Gruppe das erste und sechste Distichon mit rura (Vv. 37 u. 47) bzw. rure (Vv. 49 u. 59) einleitet. Vgl. auch Harmon, Religion (1986), 1945. Im Anschluß an die in Anm. 23 zitierten Verse heißt es 1 , 1 , 2 3 - 2 4 : agna cadet vobis, quam circum rustica pubes / clamet ,io messes et bona vina date'. - Siehe auch Tib. 2, 5, 95. Vgl. Cairns, Tibullus (1979), 128.

70

verno

primum

de

flore

coronarti

/ fecit

et antiquis

imposuit

144

II. Ländliche Lustrationsriten

Bis jetzt spielte die Szene aus der Entstehungszeit der Agrikultur in einer reinen Männerwelt; doch Tibull ergänzt nun die ländliche Familie 71 um das weibliche Element: Auch die Mädchen haben eine Beziehung zum Schaf, das am heutigen Fest geopfert wird, denn sie müssen sein „molliges Vlies" verarbeiten; Spinnen und Weben ist Frauenarbeit. Auch zu diesem der Minerva unterstellten Bereich gehört eine spezifische Art musischer Kultur: Hier entstehen die Arbeitslieder der Weberinnen, begleitet vom Klang der aufschlagenden Gewichte des Webstuhls. Tibull wäre kein Liebesdichter, fiele ihm bei der Erwähnung von Mädchen nur Wollarbeit ein. Es folgt das letzte große Motiv der Elegie, Cupidos Geburt und Wirken. Von ihm heißt es, er sei auf den Feldern geboren. Da eben diesen Feldern die Lustration gilt, gehört auch er in den Kreis der Götter, die an diesem Tag anzurufen sind. Und in der Tat, das Gedicht lädt ihn nun ein, am Fest teilzunehmen. 73 Dabei wird in einer erneuten Wendung des Sängers an die Festgemeinde deutlich, welche Rolle der Gott im Ritual spielt: Seiner Funktion im traditionellen Kult entsprechend, soll er um die Vermehrung des Viehbestands gebeten werden. Da sich Amor aber seit der Urzeit von einem kunstlosen zu einem höchst raffinierten Bogenschützen entwickelt hat und da bereits der Abend heraufzieht, haben die Feiernden auch ganz private Wünsche an den Liebesgott. Tibull, der Zeremonienmeister, fordert sie daher auf: „Ihr, besingt den vielgefeierten Gott, ruft ihn für die Herde laut: öffentlich für die Herde, heimlich jeder für sich! Oder auch jeder öffentlich für sich" ... 7 4

71

72

73

74

Die Reihe agricola - puer - puellae - femineus (labor) evoziert das Bild einer idealtypischen bäuerlichen Familie: So schon Pöstgens, Ambarvalgedicht (1940), 29. Vv. 61-66: Rur e etiam teneris curam exhibitura puellis / molle gerit tergo lucida vellus ovis. / Hinc et femineus labor est, bine pensa colusque / Fusus et apposito pollice versât opus, / atque aliqua assidue textrix operata Minervae / Cantat et appulso tela sonat latere. Vv. 67 ff.: Ipse quoque inter agros interque armenias Cupido / natus et indómitas dicitur inter equas . .. und 81: Sánete, veni dapibus festis ... Dieser „ϋμνος κλητικός" auf Cupido (Harmon, Religion [1986], 1945 f.) schlägt einen Bogen zurück zur Anrufung von Ceres und Bacchus am Anfang der Elegie. Vv. 83-86: Sánete, veni dapibus festis, sed pone sagittas / et proeul ardentes bine precor abde faces. / Vos celebrem cantate deum pecori vocate / voce: palam pecori, clam sibi quisque vocet. / Aut etiam sibi quisque palam: iam turba iocosa / obstrepit et Phrygio tibia curva sono. - Zu den stilistischen Besonderheiten hat Put-

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

145

Das fröhliche Lärmen und die phrygische Flöte werden ohnehin alles übertönen, lautet die Begründung. Handelte es sich nicht um das private Liebesglück heimlicher Liebschaften, sondern um die Hoffnung auf Kindersegen in einer legalen Ehe, wäre Flüstern freilich unnötig; denn die Götter gleichzeitig um fruchtbares Gedeihen für Felder, Haustiere und Menschen zu bitten, entsprach durchaus der Tradition. 75 Der Festtag neigt sich nun dem Ende zu, der heraufziehende Sternenreigen kündigt das Ende der „irdischen" Tänze an,7i* Dieser Tag, wie Tibull ihn schildert, ist durch seinen festlichen Charakter gleichsam herausgeschnitten aus dem Kontinuum des Alltags. Dies bewirkt bereits das eingangs geschilderte rituelle Szenario. Durch den vorgetragenen Kulturentstehungsmythos wird das Fest zusätzlich überhöht. Die Feiernden vollziehen in der rituellen Wiederholung den urzeitlichen Ubergang von der Wildheit zur Zivilisation noch einmal nach. 77 Tibull ordnet in dieses Modell auch sein eigenes poetisches Selbstverständnis ein. Denn im Gedicht reproduzierte er die kulturgeschichtliche Entwicklung, wie er sie sieht, von den religiösen ländlichen Liedern bis hin zu dem von ihm selbst gewählten Ausdrucksmedium. Den verschiedenen ländlichen Kunstformen, die beim Fest eine Rolle spielten - vom Reigentanz bis zum Götterhymnos - wurde zunächst ihre jeweilige Aitiologie zuteil. Mit dem Hymnos auf Cupido hat Tibull unmerklich sein ganzes Gedicht in eine Liebeselegie münden lassen. Er verbindet sie mit seiner Liebe zum ländlichen Leben, schreibt ihr Wurzeln in dieser von ihm so geschätzten Welt zu. Indem er sie in seinem Festtags-Modell dem Abend zuordnet, setzt er sie, als ein Produkt kultureller „Spätzeit", von den „kunstlosen" bäuerlichen Produkten ab. Zugleich macht er aber auch deutlich, wo die Wurzeln dieser Kultur liegen. Daß das Land nur ein „ideeller Ort für den Dichter"7® war, darf

nam, Tibullus (1973), 162 angemerkt, daß Tibull hier zum Formalismus ritueller Gebete zurückgekehrt ist. 75

Vgl. D. Baudy, Keuschlamm-Wunder (1989), 27.

76

Vv. 87 f.: Ludite: iam Nox iungit equos currumque sequuntur / matris lascivo sidéra fulva

choro. - Der Festtag reicht vom Morgenlicht (lux in v. 5) bis zur Nacht

(Nox in v. 87); vgl. Putnam, Tibullus (1973), 152. Das Fest tritt so in seinem Sonderstatus heraus aus der alltäglichen Reihe; vgl. Harmon, Religion (1986), 1946. 77

Diesem Thema hat sich Mircea Eliade immer wieder zugewandt, siehe insbesondere Kosmos ( 1 9 4 9 / 1 9 6 6 ) , 22 ff.; Religionen ( 1 9 5 4 / 1 9 7 6 ) , 445 ff.; D. Heilige (1957), 63 ff. Siehe auch di Nola, Ripetizione (1974); G. Baudy, Cereal Diet (1995).

78

So Moßbrucker, Tibull (1983), 96.

146

II. Ländliche Lustrationsriten

angesichts der Tatsache, daß Tibull ein eigenes Landgut hatte, 79 bezweifelt werden. Die bekannte Liebe des Poeten zum ländlichen Leben8® dürfte mehr als nur ein sentimentaler Gestus gewesen sein. Aber ist uns Tibull nicht etwas schuldig geblieben? Lautete sein Programm nicht: purgamus agros, purgamus agrestes (ν. 17)? Die Lustration des Landes können wir unschwer im Text wiederfinden: Es ist die Rede davon, daß alle mala auszutreiben seien, von der Fruchtbarkeit des Getreides wird sowohl im Gebetstext als auch im Kulturentstehungsmythos gesprochen, die Schafe sollen auf der Weide sicher sein und sich — das entnehmen wir dem letzten Teil der Elegie — vermehren. Alle Motive des Kulturentstehungsmythos bis hin zur Anrufung des Liebesgottes sind konsequent auf die Exposition bezogen. Ist es da glaubhaft, Tibull habe vergessen, ein Motiv, noch dazu eines aus einem gänzlich programmatischen und durch seine Formelhaftigkeit hervorgehobenen Vers, weiterzuentwikkeln? Ist es nicht vielmehr so, daß die Lustration der agrestes eben in der Teilnahme am geschilderten Fest selbst besteht? Ich meine das nicht nur in dem äußerlichen Sinn, daß die agrestes als Nutznießer des Landes davon profitieren, wenn von diesem Unheil abgewendet wird, damit es reiche Frucht — vom Korn bis zum Schaf! - trägt. Das versteht sich von selbst. Auch Cato hatte ja in seinem Gebetstext das Wohlergehen der familia mit einbezogen: Ob Feldfrucht, Haustier oder Herr und Gesinde, sie alle haben denselben Schutz zu ihrem „Gedeihen" nötig. Doch hat das Lustrationsritual noch eine weitere soziale Dimension, die im Rahmen des Kulturentstehungsmythos bereits thematisiert wurde. Tibull spricht sie in seiner Formel an, und er will sie vielleicht eben dadurch unterstreichen, daß er beim zweiten Mal das Wort lustrare durch purgare ersetzt. Was die Felder betrifft, so läßt sich nicht plausibel machen, daß Tibulls Lustrationsritual „kathartischer" gemeint sei als das catonische. Sinnvoll ist die Betonung des Reinigungsaspekts nur im Hinblick auf die sozialpsychologische Funktion des Rituals: Zu allen Festen gehört auch die Entspannung in sozialer Hinsicht, deren wesentlicher Bestandteil die Bereinigung aller Zwistigkeiten unter den Teilnehmern ist. 81 Vielleicht können wir am Ende noch ei-

79

Darauf wies in diesem Zusammenhang bereits Jacoby, Tibulls erste Elegie (1910), 6 7 ff. hin. Vgl. Krefeld, Liebe (1954), 2 9 ; Sirago, Tibullo (1986), 3 0 6 .

80 81

Vgl. Gasperini, M o n d o (1986), 216 und Sirago, Tibullo (1986), 3 0 9 . Vgl. Piaton, leg. 6 5 3 d: „ A b e r da haben nun die G ö t t e r aus Mitleid mit dem mühegeplagten Menschengeschlecht uns Pausen zur Erholung von den Mühen eingesetzt. Dies ist die wechselnde Folge der religiösen Feste. U n d dazu haben sie den

2. Fest und Tradition: Zu Tibulls „Ambarvalgedicht"

147

nen Schritt weitergehen: In der Verherrlichung der Werte einer einfachen ländlichen Gesellschaft 82 lag für Tibull wohl auch ein apotropäisch und kathartisch gemeinter Appell an seine Zeitgenossen im großstädtischen Rom. Seine private Sehnsucht nach einem friedlichen Landleben hatte ihre staatspolitische Entsprechung. Augustus versuchte insbesondere durch die Neukonstituierung der Arvalbriiderschaft, bei der Messalla eine wichtige Rolle zukam, die durch den Bürgerkrieg verfeindeten Parteien zu versöhnen. 83 Tibulls Hinweis auf die Wurzeln der Kultur in der „Agrikultur" fügte sich durchaus in dieses Programm ein, auch wenn er seine frivole Seite hatte: War nicht ROMA einst wie AMOR auf den Feldern geboren?

82

Menschen die Musen und ihren Chorführer Apollon samt Dionysos noch als Festgäste gegeben, damit sie ihre alten angestammten Sitten wieder in Ordnung bringen" (Übers. E. Eyth, Heidelberg 1982, 253 f.). - Daß die ganze Elegie ein „Statement of and for the community" ist, hat Bright, Haec . . . (1978), 188 gesehen. Vgl. Sirago, Tibullo (1986), 309 f.

83

Siehe Scheid, Frères, (1975), 373. Vgl. auch Zanker, Augustus (1987 /1990), 124 ff.

3. „Ambarvalia" 3.1. Ein heortologisches Problem Wenn wir davon ausgehen, daß der Lustrationsritus ein religiöses Handlungsmuster ist, das in verschiedenen Zusammenhängen praktiziert werden kann und dessen Bedeutung dadurch jeweils variiert, werden wir das irritierende Bild, das uns die sogenannten „Ambarvalia" bieten, eher verstehen. Suchten wir nämlich bei der Interpretation von Tibulls Elegie 2,1 nach demjenigen Fest im römischen Kalender, dem sich die Schilderung des Gedichts zuordnen ließe, sind wir nun in der umgekehrten Verlegenheit: Wir müssen uns fragen, welche Quellen es überhaupt für die „Ambarvalia" gibt. Können wir das Tibull-Gedicht und Catos Ritualanweisung als Belege verbuchen? Ja, mehr noch: Dieses Fest, das manche Handbücher und Lexika mit größter Selbstverständlichkeit unter den Lustrationen mit agrarischer Bedeutung anführen,1 auf das Kommentatoren zu einzelnen Dichterstellen immer wieder gerne verweisen^ - gibt es das überhaupt? Erst unlängst hat Ida Paladino seine Existenz wieder einmal rundweg bestritten, während John Scheid andererseits ganz unbefangen die Bezeichnung „Ambarvalia" für die ländlichen Feste verwendet.3 Daß wir in den überlieferten Kalendern kein Fest dieses Namens finden, will nicht viel besagen. Schließlich gehören, wie bereits erwähnt, gerade diejenigen Feste, die in engem Zusammenhang mit ländlichen Arbeitsprozessen stehen, des öfteren zu den feriae conceptivae, d.h., es sind Feiertage, deren genauer Termin jeweils neu festgesetzt wird und daher

1

Siehe z. B. Wissowa, A m b a r v a l i a (1894), 1 7 9 6 und Religion (1902 / 2 1912), 143; Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960 / 1 9 6 7 ) , 6 5 ; Eisenhut, Ambarvalia,

(1975

/ 1 9 7 9 ) , 2 9 3 ; D u m é z i l , Archaic Roman Religion (1966 /1970), I, 2 2 8 ff. Vgl. auch A l f ö l d i , D . frühe Rom (1965 /1977), 2 6 3 ff. und Cancik, Rome (1985/86), 2 5 6 ff. 2

Siehe die A n m . 2 des vorigen Kapitels. Vgl. beispielsweise auch Le Bonniec, C u l t e (1958), 135 ff.; C o l e m a n , Vergil (1977 /1981), 169 (dazu unten, A n m . 10!).

3

Paladino: Fratres (1988), 32 f. (vgl. Pascal, Tibullus [1988], 533, der die „ A m b a r v a lia" f ü r eine Gelehrtenerfindung hält). Scheid: Romulus (1990), siehe bes. 4 7 7 ff.

150

II. Ländliche Lustrationsriten

nicht in den Steinkalendern eingetragen ist/ Dies wäre also kein Grund, an der Existenz der „Ambarvalia" zu zweifeln. Schwerer wiegt, daß die Quellen, die wir als Belege für dieses Fest anführen können, es in der Regel nicht explizit benennen, daß der Festname bestenfalls ein einziges Mal belegt ist, und zwar nicht früher als in einer Passage der Historia Augusta,^ einem Werk des 4. oder 5. nachchristlichen Jahrhunderts. Und selbst an dieser Stelle ist nicht eindeutig, ob das Wort ambarvalia überhaupt als Name eines bestimmten Fests gemeint ist oder ob es sich nicht vielmehr um eine Form des Adjektivs ambarvalis handelt, zu dem beispielsweise sacrificia zu ergänzen wäre; in diesem Falle wäre dann nicht von einem Flurumgangsfest namens „Ambarvalia" die Rede, sondern von AmbarvalOpfern, deren heortologische Zuordnung offen zu bleiben hätte. 6 Ein streng kritischer Standpunkt legte uns also tatsächlich den Schluß nahe, das Fest „Ambarvalia" sei eine Erfindung der Forschung. Welche Indizien aber (wenn es schon keine Beweise gibt) haben manche Gelehrte dennoch zu der Annahme eines solchen Fests geführt? Da sind zunächst epigraphische Quellen zu nennen: die menologia rustica. Diese in Stein gemeißelten Bauernkalender verzeichnen unter den Anweisungen für die im Monat Mai notwendigen Tätigkeiten auch die Vorschrift: segetes lustrantur? Dadurch kann als gesichert gelten, daß es in dieser Jahreszeit, wenn das Getreide auf den Feldern steht und doch noch nicht erntereif ist, einen Lustrationsritus gab. Da, wie oben dargelegt, ein solcher charakteristischerweise in einem Umgang um das zu hegende Objekt bestand, können wir aus diesen Angaben der Sache, wenn auch nicht dem Namen nach durchaus auf „Ambarvalia" schließen: eben einen Umgang um die Feldflur.

4

Macr. Sat. 1,16, 6: conceptivae sunt quae quotannis a magistratibus vel a sacerdotibus concipiuntur in dies vel certos vel etiam incertos ut sunt Latinae Sementivae Paganalia

5

6

Compitalia.

Vgl. Varrò ling. 6, 2 5 - 2 6 u. Paul. Fest. 55 L.

„Vopiscus", SHA Aurelian. 20, 3: itum deinde ad templum, inspecti libri, proditi versus, lustrala] urbs, cantata carmina, amburbium celebratum, ambarvalia promissa, atque ita solemnitas, quae iubebatur, expleta. Das Problem wird dadurch verschärft, daß in dieser Quelle möglicherweise nicht auf die hier zunächst interessierenden ländlichen Riten, sondern auf ein staatliches Fest (nicht als jährliches, sondern als einmaliges geschildert!) Bezug genommen wird. Dies wirft die - ebenfalls kontrovers diskutierte - Frage auf, ob diese „Ambarvalia" der Staatsreligion dann mit dem Hainfest der Arvalbrüder zu identifizieren sind. Dazu unten mehr.

7

Menol. rust. C I L l 2 , p. 280 = ILS 8745 = Degrassi, Fasti (1963), 284 ff.

151

3. „Ambarvalia"

Wie wir uns diesen genauer vorzustellen haben, können wir verschiedenen literarischen Quellen entnehmen, in denen auf unterschiedliche Weise von Flurumgängen im Frühsommer die Rede ist: Catos Ritualanweisung zur Lustration eines Landguts etwa und Tibulls Festschilderung, die beide oben besprochen wurden. Dazu kommen einige Vergilverse, deren Interpretation allerdings gewisse Schwierigkeiten bereitet, da sie ebensowenig wie die erstgenannten Texte zweifelsfrei auf ein bestimmtes Fest zu beziehen sind. Doch auch sie passen in das Bild eines frühsommerlichen Lustrationsritus, das wir aus den Angaben Catos oder Tibulls gewinnen können, deshalb will ich mich ihnen im folgenden zuwenden. O b dieser Flurumgang oder der Festtag, an dem er durchgeführt wurde, in der Antike „Ambarvalia" genannt wurde, muß hier freilich offen bleiben.

3.2. Das „Ambarval-Opfer" bei Vergil Eine der Stellen, an denen Vergil eine Lustration der Felder erwähnt, steht in seiner bukolischen Dichtung. Dem Hirtenheros Daphnis® werden anläßlich von bestimmten Festen regelmäßige Opfergaben versprochen, und zwar nicht nur im Winter und zur Erntezeit, sondern auch, „wenn wir die feierlichen Gelübde / den Nymphen einlösen und wenn wir die Felder lustneren 1 (ecl. 5,74—75). 9 So wie das Nymphenfest im Herbst stattfindet und auf die Saatzeit vorbereitet, ist die Lustration der Felder prospektiv auf die Ernte bezogen: Die vier Feste stehen für ein ganzes liturgisches Jahr.^ Schon in der Antike wurden diese Verse sowohl mit anderen aus Vergils bukolischer Dichtung als auch mit einer Passage aus seinen „Geórgica" zusammengestellt. Vergleichspunkt ist jeweils das Opfer: So erläutert Servius, das Lustrieren der Felder bedeute an der eben zitierten Stelle dasselbe wie das Opfer eines Kalbs „für die Feldfrüchte", das im Eklogenvers

8

Zu Daphnis: G. Baudy, Hirtenmythos (1994).

9

Verg. ecl. 5, 74-75: haec Nymphis,

10

tibi semper

et cum lustrabimus

erunt,

et cum sollemnia

vota /

reddemus

agros.

Daß es sich um vier Feste handelt, hat Grimal, „Ve Eglogue", 412 ff. gezeigt. Er identifiziert das Nymphenfest mit den Fontanalia am 13. Oktober und faßt die lustratio agri als Bestandteil eines Friihjahrsfests auf. - Coleman, Vergil (1977 /1981), 169 ad loc. nimmt an, lustrabimus

beziehe sich „wahrscheinlich auf die Ambarva-

lia, die im späten Juli oder frühen August gefeiert wurden". Ich sehe nicht, welches Fest er meinen könnte.

152

II. Ländliche Lustrationsriten

3,77 in Aussicht gestellt wird.^ In der erweiterten Fassung des Kommentars wird noch angemerkt, „lustrieren" bedeute hier „ringsumgehen", es handle sich nämlich um ein ambarvale sacrificiumP' Die Assoziation eines solchen „Ambarval-Opfers" mit einem rituellen Umgang hatte schon der Grammatiker Festus (volks-)etymologisch begründet: Es sei ein Opfertier, „das um der heiligen Sache willen von jenen um die Feldflur geführt wird, die für die Feldfrüchte opfern".13 Auch Macrobius, der diese Definition zitiert, sieht als Wesensmerkmal des „Ambarval-Opfers" das Herumgehen - ambire —, und zwar speziell um die arva, die Feldflur, an. 14 Diese Art von Opferritus verbinden sowohl Servius als auch Macrobius mit einer dritten Vergilstelle, diesmal aus den Geórgica, wo vom Umgang eines Opfertiers um das noch unreife Getreide ausdrücklich die Rede ist. Ob der Ritus oder der Festtag, an dem er durchgeführt wurde, deshalb „Ambarvalia" hieß, können wir freilich diesen Angaben nicht entnehmen, da die antiken Gelehrten ihr Augenmerk nur auf den Namen des Opfers richten. Doch daß sie in verschiedenen Zusammenhängen ein einheitliches Ritualmuster erkennen, dessen Gemeinsamkeit in einer Prozession mit dem Opfertier um die Feldflur besteht, berechtigt auch uns, die erwähnten Riten zusammenzustellen. Gerade die dritte Quelle, sowohl von Servius als auch von Macrobius eben wegen des Umgangs erwähnt, ist für uns besonders aufschlußreich. „Dreimal umschreite zum Segen das Opfer die jungen Früchte", heißt es in Vergils Geórgica (1,345). 16 Es handelt sich hier, wie in Catos Lehrbuch für

11

Serv. ecl. 5, 75: ET CUM LUSTRABIMUS AGROS sic supra cum faciam vitulam pro frugibus.

12 13

Serv. auet. ecl. 5, 75: ,lustrare' hic circuire: dicit enim ambarvale sacrificium. Zitiert bei Macr. Sat. 3, 5, 7: ambarvalis hostia est, ut ait Pompeius Festus, quae

rei divinae causa circum arva ducitur ab his qui pro frugibus faciunt. - Daß facere für „opfern" stehen kann, zeigt der zitierte Vers Verg. ecl. 3, 77 mit dem Kommentar des Servius: Vergils Ausdruck „cum faciam

cum sacrificavero, ria'. 14

vitula'

sei zu verstehen als

denn figurate ,faciam vitula' ait, ut,faciam

ture', ,faciam

ag-

Macrobius kommentiert ebd. im Anschluß an das Festus-Zitat die Lustration aus

Verg. ecl. 5, 74 f. ubi lustrare significai circumire: bine enim videlicet et nomen bostiae adquisitum est, ab ambiendis arvis [...]. 15

Nämlich Verg. georg. 1, 345. Servius assoziiert diese Stelle mit ecl. 3, 77, Macrobius hingegen mit ecl. 5, 4 f. Da Servius (zu ecl. 5, 75) die beiden Eklogen-Stellen zusammenbringt, ist der Ring geschlossen.

16

Verg. georg. 1, 345: terque novas circum felix eat hostia fruges.

3. „Ambarvalia"

153

den Ackerbau, um die Ritualvorschrift für eine lustratio agri,17 wenn auch poetisch stilisiert, da ja die Geórgica insgesamt ein Lehrgedicht und keine Prosaschrift sind. Doch sind auch sie eine Anleitung zur Beachtung bäuerlicher Lebens- und Arbeitsregeln. Was allerdings die Details des von Vergil skizzierten Festes anbelangt, werden wir deutliche Entsprechungen eher in Tibulls Festschilderung finden: 18 Bacchus19 und Ceres sind präsent und eine Schar von Jugendlichen, ein Chor, der Ceres unter die Dächer ruft: „Die ganze Landjugend soll dir die Ceres verehren, Ihr sollst du Honigwaben in Milch und süßem Wein zerlassen. Und dreimal um die neuen Feldfrüchte gehe das glückbringende Opfertier, Das der ganze Reigen und die jubelnde Schar geleiten; Und Ceres sollen sie laut in die Häuser rufen!" (georg. 1, 343-347) 2 0

17

Die Identifikation des Ritus bereitete Schwierigkeiten, weil Vergil mehrere Feste evoziert, wobei die Zäsuren für moderne Leser nicht unbedingt deutlich sind. So nahm Bailey, Religion (1935), 54 sowie 98 u. 106 f. an, es handle sich in georg. 1, 338-350 insgesamt um die Cerialia, allerdings vermengt mit Elementen verschiedener anderer Feste. Mynors, Virgil (1990), 76 zu v. 338 sieht jedoch, daß aus unseren Schwierigkeiten, die religiöse Praxis der Römer zu rekonstruieren, nicht auf die zeitgenössischen Leser zu schließen ist! Er unterscheidet zwei Teile: 1. den auf die novae fruges bezogenen, den er mit der bei Tibull 2 , 1 geschilderten Lustration vergleicht, allerdings von den „Ambarvalia des Staatskalenders" (?) genauso trennt wie von den Angaben der Menologia rustica (s. o. Anm. 7), und 2. den auf das reife Korn bezogenen. Auch Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 50 hatte der seinerzeit diskutierten Dreiteilung der Passage eine Zweiteilung vorgezogen. Doch hat Le Bonniec, Culte (1958), 135 ff. die Frage nach der Gliederung der Verse 338-350 m. E. überzeugend gelöst: V. 338 ff. beziehen sich auf die Cerialia, v. 347 ab neque ante bis 350 auf die porca praecidanea; dazwischen (spätestens ab v. 343) evoziert Vergil eine ländliche Lustration (Le Bonniec: die „Ambarvalia"). - Vorsichtig Scholz, Studien (1970), 69. In einen größeren Zusammenhang stellt den Ritus Kosmala, Agros lustrare (1963), 112 ff.

18

Tib. 2 , 1 (s. voriges Kapitel). Tibull könnte auf diese Passage des von ihm bewunderten Dichterkollegen angespielt haben; vgl. Bright, Haec . . . (1978), 69.

19

Zwar ist die Rede von Wein, dieser wird aber metonymisch mit dem Namen des Gottes „Bacchus" genannt. Ceres und Bacchus (oder Liber) bilden ein traditionelles Paar: Vgl. beispielsweise Verg. georg. 1, 7; Varrò rust. 1, 5. Verg. georg. 1, 343-347: cuneta tibi Cererem pubes agrestis adoret: / cui tu lade favos et miti dilue Bacche, / terque novas circum felix eat hostia fruges, / omnis quam chorus et socii comitentur ovantes / et Cererem clamore vocent in tecta.

20

154

II. Ländliche Lustrationsriten

Die Verdreifachung des Umgangs ist eine Besonderheit, für die es sonst in diesem Zusammenhang keinen Beleg gibt. Denkbar ist, daß die Wiederholung der Prozession die Schlichtheit des Opfers wettmachen soll: Nur von einem Opfertier ist die Rede, nicht von dreien wie bei Cato. 21 Wird die angestrebte Wirkung des Rituals hier durch eine Intensivierung des Verlaufs erreicht? Oder ergibt sich die Änderung in der Durchführung durch die veränderte Festsituation? Denn das Lustrationsritual, wie Vergil es hier skizziert, ist ausschließlich auf das Gedeihen des Getreides und deshalb auch auf die Getreidegöttin Ceres bezogen, nicht in einem komplexen Sinn auf das gesamte bäuerliche Anwesen wie bei Cato. Der Umgang gilt nun ausdrücklich den „neuen Früchten"; gemeint sind „Feldfrüchte", also Getreide. Dieses ist noch nicht reif und „trocken" wie es für die Ernte sein muß, 2 2 aber es steht schon erkennbar auf dem Halm. Auch im Ritual, das die Priesterschaft der Arvalbrüder jährlich im Mai durchführte, spielte die Gegenüberstellung von grünem und reifem Getreide eine wichtige Rolle. Wir werden noch darauf zurückkommen. 23 Der Lustrationsritus steht bei Vergil in einem geistigen Horizont, der vom Ausgang des Winters 24 bis zur Erntezeit reicht. Dieser Phase des Jahreslaufs, in der das Getreide wächst und reift, sind verschiedene Ceresfeste zugeordnet, ja, sie steht in gewissem Sinne ganz unter dem Schutz dieser Göttin. Der Dichter bringt das durch die wiederholte Nennung, man könnte fast sagen: Anrufung, 2 ^ ihres Namens zum Ausdruck. Henri Le Bonniec hat m.E. überzeugend dargelegt, daß Vergil in der fraglichen Passage insgesamt drei Feiern darstellt: die Cerialia, den Umgangsritus, den der Forscher „Ambarvalia" nennt, und das Vorernteopfer der porca praecidanea,26 Denn ebenso wie der Lustration der „neuen Früchte" ein

21

Oder sollte Vergil mit der Wendung ter . . . eat hostia doch - den catonischen suovitaurilia entsprechend - ein dreifaches Opfer gemeint haben?

22 23 24

Vergil opponiert die novas fruges in v. 345 den maturis aristis in v. 348. Zum Ritual der Arvalbrüder siehe das folgende Kapitel. Die Passage beginnt mit den Versen (Verg. georg. 1, 338 ff.): in primis venerare déos, atque annua magnae / sacra refer Cereri laetis operatus in herbis / extremae sub casum hiemis, iam vere sereno. Den liturgischen Charakter der Wiederholung hat Mynors, Virgil (1990), 76 ad loc. gesehen. Siehe Le Bonniec, Culte (1958), 135 ff. und bes. 138 f. (zur Frage der Abgrenzung zwischen Cerialia und „Ambarvalia"). Vgl. auch oben, Anm. 10.

25 26

155

3. „Ambarvalia"

Fest vorausgeht, das dem sprießenden Getreide gilt, 27 folgt ihr ein Ritus, den man praktiziert, sobald die Ähren reif sind. Vergil führt nämlich die zitierten Verse folgendermaßen fort: „Und nicht eher lege jemand die Sichel ans reife Getreide, als er, mit Eichenlaub die Schläfen bekränzt, der Ceres Kunstlose Tänze dargebracht und Lieder gesungen." (georg. l,348-50) 2 8 An die Vorschrift, einen Umgang um das grüne Getreide zu machen, schließt sich hier die Forderung nach einem weiteren Ritus vor der Ernte an. Gemeint sein muß die Feier, bei der Ceres die sogenannte porca praecidanea, also das Schweine-Voropfer, dargebracht wurde. 29 Der Zeitpunkt dafür war gekommen, wenn das Korn reif war und der Schnitt unmittelbar bevorstand. Dieses Opferfest gehört zu denjenigen Riten, die eine Phase intensiver Arbeit einleiten. Feste dieser Art haben einen doppelten Sinn: Wer an der bevorstehenden Arbeit beteiligt ist (das können neben den Menschen auch die Arbeitstiere, also der Pflugstier oder die Zugtiere sein), darf ein letztes Mal Kräfte sammeln, „ausspannen", sich durch ein Festessen stärken, bevor ihm große Anstrengungen abverlangt werden. Auf diese Leistungen müssen die Arbeiter aber auch emotional eingestimmt werden: „Dienst nach Vorschrift" reicht nicht, um eine Ernte einzubringen; diejenigen, die für den Grundbesitzer arbeiten, müssen sich mit dessen Zielen identifizieren und seine Interessen zu ihren eigenen machen. Dazu sind sie um so eher bereit, je deutlicher ihnen der „Herr" signalisiert, daß sich der Einsatz auch für sie lohnt. Wer beim Vorernteopfer nicht knausert, so darf man an-

27

28

29

Daß eben dies mit dem Ausdruck laetis in herbis niec, Culte (1958), 136 mit Anm. 3 gezeigt.

Verg. georg. 1, 347-50: . . . neque

ante / falcem

(v. 339) gemeint ist, hat Le Bon-

maturis

quisquam

supponat

aristis

/ quam Cereri torta redimitus tempora quercu / det motus incompositos et carmina dicat. Cato, agr. 134: Prius quam messim facies, porcam praecidaneam hoc modo fieri oportet: Cereri porca praecidanea porco femina, prius quam hasce fruges condantur: far, triticum,

hordeum,

fabam,

semen

rapicium.

Siehe auch Varrò bei Nonius

p. 169 M.; Paul. Fest. p. 243 u. 250 L.; Gellius 4, 6, 7 f f . Vgl. dazu Le Bonniec, Culte (1958), 148 ff. u. bes. 157 ff. zur fraglichen Vergil-Stelle. Warum Mynors, Virgil (1990), 76 ad 338 einen Vergleich mit dem bei Cato geschilderten Ritus der porca praecidanea ablehnt, vermag ich nicht einzusehen.

156

II. Ländliche Lustrationsriten

nehmen, wird sich auch beim Lohn nach der Ernte und beim Erntefest nicht lumpen lassen. 30 Diese Sequenz von Flurumgang und Vorernteopfer, die Vergil in den Geórgica evoziert, muß Phylargyrius vor Augen gehabt haben, als er das in Vergils Eklogen (3,77) erwähnte Opfer eines Kalbs, von dem oben schon die Rede war, kommentierte: „Bevor sie das Getreide ernten, führen sie ein Kalb um das Getreide, und nach dem Opfer beginnen sie zu schneiden." 3 * Doch er hat dabei zwei Riten, die sich beide prospektiv auf die Ernte beziehen, aber in einem gewissen zeitlichen Abstand aufeinander folgen, irrtümlich zusammengezogen. Während das „Vorernteopfer" den Getreideschnitt unmittelbar einleitet, gilt der Umgang den noch grünen Früchten. Freilich steht dabei schon die Ernte vor Augen: Die Schar, die an der Prozession teilnimmt, ruft „Ceres laut in die Häuser". Die Getreidegöttin und mit ihr der Erntesegen wird gleichsam herbeigezogen: „Bekränze deine Schläfen mit Ähren, Ceres," heißt es bei Tibull. 32 Die Sorge gilt ja dem grünen Getreide gerade um der guten Ernte willen. Maßgeblich beteiligt am Ritus ist die Schar, der chorus der Jugendlichen. 33 Sie erscheinen als Träger des Rituals, als solche begleiten sie die Opfertiere und sprechen die Segenswünsche aus. Mit ihrem Gesang und Tanz 3 4 rufen sie die Getreidegöttin herbei, indem sie die Feier des Erntefests bereits vorentwerfen. Die Anspielung auf die Eichenkränze, welche von den Tänzern, die das Vorerntefest feiern, zu tragen sind, 35 stellt dieses und mit ihm das vorausgehende Lustrationsritual in den Rahmen des Kulturentstehungsmythos: Die Eiche, deren Früchte den Menschen, bevor sie das Getreide kannten, zur Nahrung gedient haben sollten, war ein in der Antike gebräuchliches Symbol für die unzivilisierte Urzeit. Erst durch das Wirken der Kulturstifter Ceres und Bacchus „tauschte Mutter Erde die Eichel Do-

30 31

Zum „Heischerecht" siehe D. Baudy, Heischegang (1986), 216 ff. Phylargyr. ecl. 3, 77: CUM FACIAM vitulam

circum messes conducebant

VITULAM

idest antequam

ac post sacrificium

32

Tib. 2 , 1 , 4: spicis tempora

cinge,

33

Zur Identität von chorus

und pubes

incipiebant

messes

meterent,

secare.

Ceres. agrestis vgl. Mynors, Virgil (1990), 77 zu

v. 343. 34

Daß man die motus incompositos

in v. 350 als Tanz der Jugendlichen auffassen

darf, hat Mynors, Virgil (1990), ad loc. noch einmal betont, und zwar unter Verweis auf Val. Max. 2,4,4 und Servius' Kommentar z. St. Vgl. schon Le Bonniec, Culte (1958), 158f.! 35

Verg. georg. 1, 349: torta .. . tempora

quercu.

157

3. „Ambarvalia"

donas ein gegen strotzende Feldfrucht" und lernten die Menschen, mit Wasser gemischten Wein zu trinken.'"' Vor der Ernte, so müssen wir diese Assoziationen, die Vergil evoziert, dechiffrieren, durchlebten die Bauern in ihren Riten eine symbolische Wiederholung der kulturlosen Vorzeit. 37 Hierbei gibt es nun einen entscheidenden Unterschied in der Erlebnisqualität: Während die Erwachsenen in eine zyklische Zeitstruktur eingebunden sind, in der sich die Feste des Jahreslaufs immer aufs neue wiederholen, erleben die Jugendlichen, wenn sie das Alter für ihren Statuswechsel erreicht haben, einen qualitativen Sprung bei jedem Fest, bei dem ihre Initiation inszeniert wird. Die kulturellen Errungenschaften ihrer Gesellschaft müssen von ihnen erst erworben werden; die Jugendlichen „wiederholen" in ihrer Person den menschheitsgeschichtlichen Fortschritt von der Wildheit zur Kultur individuell. Dies gehört zu den traditionellen Themen der Lieder und Tänze, die von den jungen Leuten bei den Festen vorgetragen wurden. Solche Gesang- und Tanzdarbietungen waren geeignet — ergänzend zu einem Gebet, wie es etwa Cato überliefert — die Bedeutung zum Ausdruck zu bringen, die dem Handeln der Ritualteilnehmer innewohnte. Zu jedem Fest gehörte dabei eine in letzter Konsequenz kosmogonische Dimension. Denn die mythische Kulturentstehungslehre war eingebunden in eine Lehre von der Entstehung der Menschheit; diese Anthropogonie aber war wiederum Teil der Theogonie und schließlich der Kosmogonie. 38 Die Ordnung, die der Ritus inszenierte, erhielt ihre Legitimation gerade dadurch, daß im Bedarfsfall ihr äußerstes Bezugssystem die Weltordung insgesamt - aufgezeigt werden konnte. Vergil läßt in seiner Dichtung den größeren Rahmen, in dem das einzelne Fest steht, deutlich werden, indem er es einerseits in eine Reihe mit anderen Riten stellt, wodurch er auf den Festkalender als Kontext verweist, und indem er andererseits durch Anspielungen auf bekannte Symbole wie die Eiche Bilder der mythischen Urzeit evoziert. Genau so verfährt aber auch die Ritualpraxis: Es werden Fäden gesponnen zu anderen Kulten des Jahreslaufs, und es wird durch die mythische Kommentierung des Ritus seine Einbettung in die geltende Weltsicht erzielt.

36

Verg. georg. 1, 7 ff.: Liber gui glandem

37

mutavit

et alma

Ceres, vestro si muriere tellus / Chaoniam

arista, / poculaque

inventis Acheloia

pin-

uvis.

Dieselbe Thematik findet sich auch bei Riten nach der Ernte; vgl. dazu G. Baudy, Cereal Diet (1995).

38

miscuit

Das bedeutendste Paradigma: Hesiods Theogonie.

158

II. Ländliche Lustrationsriten

Gerade die Anspielungen Tibulls und Vergils auf Chortänze von Jugendlichen anläßlich der ländlichen Lustrationsriten zeigen, daß auch bei dieser Gelegenheit denjenigen Jugendlichen, die in einer lebensgeschichtlichen Ubergangssituation daran teilnahmen, besondere Aufmerksamkeit galt. Denn die „Ambarvalia" thematisierten zweierlei, was von nun an auch für sie von Bedeutung sein sollte: Die Sorge um die gute Ernte war auch ihre Sorge, wenn sie in eigener Verantwortung ein Stück Land besät hatten. Dafür aber, daß sie die Früchte ihrer Arbeit auch genießen konnten, bildete nicht nur die Verteidigung der eigenen Grenzen gegen Feinde, Mißwuchs und Hagelschlag, sondern auch der Respekt vor den Grenzen der anderen die Vorbedingung.'' 9

39

Vgl. D. Baudy, K e u s c h l a m m - W u n d e r (1989), 21 ff.

4. Das Maifest der Arvalbrüder 4.0. Einleitung In der Diskussion um die „Ambarvalia" wurde immer wieder der DeaDia-Kult, der den fratres arvales oblag, herangezogen.1 Die Sodalität dieser zwölf „Arvalbrüder" oder, wie Mommsen den Namen wörtlich übersetzt hat, der „Ackerbrüder" 2 gehörte zu den besonders angesehenen und alten Priesterkollegien der römischen Staatsreligion.3 Ihr Abzeichen war 1

2 3

Einflußreich die Position Wissowas, der für eine Identifikation von Ambarvalia (worunter er allerdings ein staatliches Fest verstand, das er von der ländlichen lustrado agri unterschied) und Dea-Dia-Ritual plädierte: Wissowa, Ambarvalia (1894), 1796; vgl. dens., Arvales fratres, (1896), 1478. Eine modifizierte Identitätstheorie findet sich bei Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960 /1967), 65, der annahm, „daß das Fest der Dea Dia den Ambarvalien entsprach", dabei aber eine Übertragung ländlicher Riten auf den Staatskult der Arvalbrüder postulierte, was zu „einer gewaltsamen Umformung . . . geführt" habe. Scholz, Studien (1970), 64 ff. ging ebenso wie Eisenhut, Ambarvalia, (1975 /1979), 293, davon aus, daß eine Entsprechung der Riten opinio communis sei. Doch gab es stets auch Gegenstimmen, unter denen Kilgour, Ambarvalia (1938) am einflußreichsten war. Speziell gegen Lattes Auffassung richtet sich Alföldi, D. frühe Rom (1965/1977), 263 ff., dem Cancik, Rome (1985/86), 256 ff. folgt. Mommsen, Über d. röm. Ackerbrüder (1870 /1905), wiederaufgegriffen von O p hausen, „Über d. röm. Ackerbrüder" (1978). Varrò, der ling. 5, 85 ihren Namen etymologisch erklären will, stellt sie in eine Reihe mit anderen bedeutenden Kollegien; vgl. auch Augustus' Aufzählung der Priesterämter, die er innehatte, in seinen Res gestae (7, 3): [Ponjtifex [maximus, augur, XV virjum sacris facßundis, VII virum ep]ulon[um, frater arvalis, sodalis TitiusJ, fetialis fui. Siehe dazu Scheid, Romulus (1990), 13 ff., ferner Porte, Donneurs (1989), 111-115. - John Scheids Werk ist eine bewundernswert umfassende, komplexe Monographie über die Arvalbrüderschaft und ihren Kult. Die Quellen und die ältere Forschung sind darin sehr gründlich aufgearbeitet, mit einer wichtigen Ausnahme: Ida Paladinos Arbeit (Fratres [1988]) bringt einige Gesichtspunkte zur Sprache, die der Diskussion wert sind. - Die (vor Paladino und Scheid, Romulus) wichtigste Literatur zu dieser Sodalität und ihrem Kult in Auswahl: Marini, Marmorea . . . Monumenta (1787); Henzen, Acta (1874 /1967); Oldenberg, De

160

II. Ländliche Lustrationsriten

ein von weißen Binden umschlungener Ährenkranz.4 Diese Priesterschaft feierte jährlich im Mai ein dreitägiges Fest, das als Höhepunkt ihres liturgischen Jahres gelten kann.5 Es fand teils in Rom und teils in einem außerstädtischen heiligen Hain statt. Dieser lag am rechten Tiberufer in einiger Entfernung von der Stadt, und zwar in der Nähe des fünften Meilensteins an der Via Campana.*1 Er war dea Dia (der „Göttin Dia") geweiht. Ihr zu Ehren wurde auch das Fest gefeiert. Der Name dieser Göttin ist literarisch nicht belegt, auch ist außerhalb des Hains lediglich eine Inschrift bekannt, auf der sie genannt ist. Möglicherweise handelt es sich nicht um eine selbständige Gottheit, sondern um eine besondere Erscheinungsform einer anderen, „großen" Göttin/ Doch diese Frage kann hier nicht diskutiert werden. Ich beschränke mich auf eine Skizze des Maifestes der Dea Dia, sofern es für den Vergleich mit den bisher untersuchten ländlichen Lustrationen relevant ist.

4.1. Festzeit und Festsinn Das sacrum deae Diae (also das „Opferfest für Dea Dia") gehörte nicht zu den fixen Daten des Steinkalenders; es wurde vielmehr jedes Jahr aufs neue feierlich festgesetzt und bekanntgegeben. Dieser Akt hieß indictio und

4

5 6

7

sacris . . . quaestiones (1875); Wissowa, Arvales fratres (1896); ders., Religion (1902 / 2 1912), 561 ff.; ders., Zum Ritual (1917); Norden, Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 1 0 7 - 2 8 0 ; Pasoli, Acta (1950); Chirassi, Dea Dia (1968); Scheid, Frères (1975). - Zu den älteren Ausgaben der Arval-Protokolle siehe Scheid, Romulus [1990], 7 f. Jetzt verbindlich: Scheid, Commentarii (1997) = CFA. - Ich danke John Scheid für eine Konkordanz zu den von mir angeführten Stellen, die er mir vor Erscheinen der Ausgabe zukommen ließ, und für wertvolle Hinweise. Masurius Sabinus bei Gell. n. a. 7, 7, 8: cuius sacerdotii insigne est spicea corona et albae infulae. Plin. nat. 18, 6: spicea corona, quae vitta alba colligaretur, sacerdotio ei pro religiosissimo insigni data; quae prima apud Romanos fuit corona ... Zum sacrificium deae Diae siehe Paladino, Fratres (1988), 93 ff. und Scheid, Romulus (1990), 475 ff. Siehe u. a. CIL 6, 2107, 1. 3 = CFA S. 314, n° 105, 1. 3 (224 η. C.): in luc(o) d(eae) D(iae) via Camp(ana) apud lap(idem) quintum. - Zur Lage und Anlage des Heiligtums vgl. Scheid, Romulus (1990), 95 ff. (siehe auch die Karte ebd. S. 73). Dazu (mit weiterer Literatur) Scheid, Romulus (1990), 664 ff. Siehe bes. Le Bonniec, Culte (1958), 202 ff.; Chirassi, Dea Dia (1968); Schilling, Dea Dia (1969/ 1979). Vgl. auch Paladino, Fratres (1988), 230 f.

161

4. Das Maifest der Arvalbrüder

fand zwischen d e m 7. und 12. Januar statt.® Als Termin für die dreitägige Opferfeier k a m e n -

v o n Jahr zu Jahr alternierend -

entweder die Tage

v o m 10. bis z u m 12. oder v o m 2 4 . bis z u m 26. Mai in Frage. D e r Zeitraum war also de facto weitgehend fixiert, doch wurde, wie ich meine, gerade durch die jährliche Ankündigung und den Wechsel im D a t u m der „gesetzte" C h a r a k t e r des Fests unterstrichen. A u c h wenn es in der Praxis zu einem regelmäßig wiederholten Ritual geworden war, zählte es d o c h weiterhin z u den feriae

conceptivae.9

Dies war ein deutlicher Hinweis auf den

agrarischen C h a r a k t e r der Z e r e m o n i e , 1 0 denn wie oben ausgeführt, waren es gerade Feste mit landwirtschaftlichem Bezug, die in Anpassung an die zeitlich differierenden Wachstumsprozesse festgesetzt wurden. I h r agrarischer Sinn wurde auch explizit gemacht: „Damit die A c k e r F r u c h t tragen", heißt es bei Varrò, führten die Arvalbrüder ihren Ritus aus. 1 1 D a s dreitägige Opferfest, das aus einer langen Sequenz v o n Teilhandlungen bestand, 1 2 hatte insgesamt, wie sowohl Ida Paladino als auch J o h n Scheid unlängst n o c h einmal in aller Deutlichkeit herausgearbeitet haben, eine komplexe, auf das Gedeihen des Getreides bezogene S y m b o lik. 1 3 U n d zwar handelte es sich hierbei wie bei der oben besprochenen lu-

8

9 10 11

12

13

Siehe Paladino, Fratres (1988), 85 ff., die annimmt, daß die Terminwahl Mond-, Sonnen- und Ackerbauzyklen berücksichtigt (vgl. ebd. 132 ff.). Allgemein zur indictio siehe Scheid, Romulus (1990), 458 ff., der 460 zeigt, inwiefern das jeweilige Datum (7. oder 11. Januar) in Beziehung zu Augustus steht. Die beiden Ansätze ließen sich durchaus integrieren. Siehe dazu oben, Kap. II 1. 3. mit Anm. 52. Vgl. Scheid, Romulus (1990), 452 ff. Scheid, Romulus (1990), 458 schließt daraus ebenfalls auf den agrarischen Charakter des Kults, außerdem auf sein hohes Alter. Varrò ling. 5, 85: Fratres Arvales dicti qui sacra publica faciunt propterea utfruges ferant arva: a ferendo et arvis Fratres Arvales dicti. Sunt qui a fratria dixerunt: fratria est Graecum vocabulum partis hominum, ut [Nejapoli etiam nunc. - Die etymologische Spekulation braucht uns hier nicht zu interessieren. Daß es sich nicht um eine Reihe verschiedener Opferfeiern, sondern um ein einziges, wenn auch komplexes sacrificium handelt (so auch in den Protokollen der Brüderschaft), hat Scheid, Romulus (1990), 475 betont. Er verweist dabei auf Oldenberg, De sacris . . . quaestiones (1875), 6, der dies bereits festgestellt hatte. Siehe Paladino, Fratres (1988), bes. 131 ff. (die, in der Tradition Angelo Breiichs stehend, auch für die Initiationsaspekte des Kults aufgeschlossen ist) und Scheid, Romulus (1990), bes. 653 f. Dort wendet er sich vehement gegen reduktionistische Theorien, insbesondere solche, die von „Fruchtbarkeitskult" reden, und gegen „la chimère du paysan romain avec ses croyances naïves. Comme clé de déchiffrement, j'ai adopté celle que les anciens m'offraient. . . . la liturgie principale célébrée

162

II. Ländliche Lustrationsriten

stratio agri u m ein Ritual, das auf die nahe Ernte vorausverwies, diese allerdings nicht einleitete, da das K o r n auf den Feldern zu diesem Zeitpunkt n o c h gar nicht reif w a r . ' 4 Die Gegenwart und die erstrebte Zukunft waren in den rituellen Gesten gemeinsam vertreten, wenn die Arvalbrüder gleichzeitig mit unreifen und „ t r o c k e n e n " Ä h r e n hantierten. 1 ® Das reife K o r n des Vorjahres konnte so den novae fruges

gleichsam z u m Vorbild dienen,

ebenso wie die Ä h r e n k r ä n z e , die das Abzeichen der Priesterschaft waren, das ersehnte Erntefest vergegenwärtigten. 1 6 Angesichts des Zeitpunkts, zu d e m die Arvalbrüder das D e a - D i a - F e s t durchführten, und des Sinns, den m a n ihm in der Antike beimaß, n i m m t es nicht wunder, daß in der Forschung i m m e r wieder erwogen w u r d e , o b nicht zwischen i h m und den ländlichen „Ambarvalia" ein Z u s a m m e n h a n g bestanden habe, ob die Feste nicht gar identisch gewesen seien. ^

Beide

w u r d e n in der Phase des Jahres gefeiert, wenn das Getreide n o c h grün auf den F e l d e r n stand, beide galten der Sorge u m die novae fruges,^

14

15

16 17

18

der H o f f -

par les arvales est définie comme un sacrifice à dea Dia, dont l'objectif est d'obtenir une moisson." Wo genau hier der Unterschied zur traditionellen Auffassung des Fests als Fruchtbarkeitsritus liegen soll, ist mir nicht klar geworden. Den Primizial-Charakter des Fests hat jüngst noch einmal Paladino, Fratres (1988), 136 f. vertreten. Gegen diese Auffassung wendet Scheid, Romulus (1990), 520 mit Recht ein, daß sich unreife Früchte schwerlich als Erstlingsgabe eignen. Daß dies die Ähren des laufenden und des vergangenen Jahrs waren, hat Wissowa, Arvales fratres (1896), 1475 gesehen. Scheid, Romulus (1990), 610 betont auch in diesem Zusammenhang noch einmal den antizipatorischen Charakter des Ritus. Paladino, Fratres (1988), 151 sah den vorbereitenden Sinn ebenfalls (siehe aber die vorige Anmerkung!) und wies darauf hin, daß die porciliae („Milchferkel"), die geopfert werden, den fruges virides entsprechen. Siehe oben, Kap. II 1. 3. mit den Anm. 53-55 zu den milchsaugenden suovitaurilia in Catos Ritualanweisung! Vgl. Scheid, Romulus (1990), 572 f. Auch er sieht im Ährenkranz ein Zeichen der Ernte, worum die Arvalbrüder bitten. Zum Für und Wider einer Identifizierung (vgl. auch oben, Anm. 1) in der Forschungsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert siehe Scheid, Romulus (1990), 442 ff. Er gibt dem Kapitel die Überschrift „Une controverse à clore" - ein durchaus verständlicher Stoßseufzer. Doch beruht sein eigenes, an Kilgour anschließendes kritisches Urteil auf mehreren Fehlinterpretationen (u. a. der Annahme [S. 450 f.], eine Lustration und ein Opfer für die Feldfruchtbarkeit schlössen sich aus), so daß die von ihm selbst angeführten, schon seit der Antike gesehenen, Vergleichsmomente dadurch nicht an Wert verlieren. Die Kontroverse ist s o jedenfalls nicht zu schließen! Verg. georg. 1, 345: terque novas circum felix eat hostia fruges. Siehe dazu oberi, Kap. II 3. 2.

4. Das Maifest der Arvalbrüder

163

nung auf eine gute Ernte. Die manchen antiken und modernen Gelehrten gemeinsame Vorliebe für etymologische Erwägungen tat ein übriges: Da sowohl das Opfer der Flurprozessionen, das sacrificium ambarvale, als auch die arvales fratres ihren Namen von einem gemeinsamen Element, nämlich der arva, dem „Acker", erhielten, lag auch die Assoziation der beiden Institutionen nicht fern. Sie verführte in der Antike Paulus Diaconus in seinem Festus-Exzerpt zu einer falschen Etymologie: AmbarvalOpfer, schrieb er, hießen diejenigen Opfer, die für die Äcker (pro arvis) von zwei Brüdern dargebracht würden. 1 ' Daß er von Brüdern sprach, rührte offensichtlich von der Assoziation ambarvales (hostiae) arvales (fratres) her. Die Zweizahl aber hat er, wie Arnaldo Momigliano überzeugend erklärte, 20 aus dem Wortbestandteil amb- herausgesponnen: Er verwechselte die Präposition *ambi (im Sinne von „ringsum") mit dem Zahlwort ambo („beide") 21 und gab dabei der neuzeitlichen Forschung manches Rätsel auf, lockte sie auch auf falsche Fährten, da Antonius Augustinus in seiner Festus-Ausgabe von 1559 die zwei in zwölf Brüder „verbesserte". Obwohl er selbst eine andere Lösung favorisierte, war diese Emendation sehr folgenreich, konnte allerdings auf Dauer einer kritischen Prüfung nicht standhalten. 22 Und so wurde die Unbrauchbarkeit dieser Quelle als Bindeglied zwischen dem Ritual der Arvalbrüder und den ländlichen Lustrationsriten zu einem der Hauptargumente derer, die jede Beziehung zwischen beiden leugneten. Doch können wir, meine ich, auf diese falsche Assoziation gerne verzichten; der sonstigen Entsprechungen sind genug. Allerdings wird sich — dies die hier verfolgte Arbeitshypothese — keine Identität im engeren Sinn, sondern eher ein Verhältnis der Entsprechung zwischen dem ländlichen, in familiärem Rahmen gefeierten, und dem staatlichen Fest ausmachen lassen: Beide haben denselben Sinn, gehören

19 20 21

22

Paul. Fest. p. 5 L.: Ambarvales hostiae appellabantur, quae pro arvis a duobus fratribus sacrificabantur. Momigliano, Hostiae (1963), 47 f. - Vgl. auch Paladino, Fratres (1988), 32 f. und Scheid, Romulus (1990), 26 ff. Macrobius, Sat. 3, 5, 7 gibt hingegen Festus richtig wieder: ambarvalis hostia est, ut ait Pompeius Festus, quae rei divinae causa circum arva ducitur ab his qui pro frugibus faciunt. Zur Geschichte dieses Textproblems siehe Scheid, Romulus (1990), 26 ff.

164

II. Ländliche Lustrationsriten

aber verschiedenen Ebenen religiöser Praxis an.23 Sie müssen deshalb weder in identischer Form noch zur selben Zeit stattgefunden haben. Während das Dea-Dia-Fest alternierend an zwei möglichen Terminen begangen wurde, konnten sich die ländlichen Riten enger am Reifegrad des Getreides orientieren. Wann auf den Feldern das grüne Getreide stand, war nicht nur abhängig von der jeweils angebauten Sorte, sondern auch von der geographischen Lage und den witterungsbedingten Schwankungen. Es ist jedoch denkbar, daß die Publikation des Festtermins durch die Arvalbrüder auch für die familiären oder dörflichen Feste einen zeitlichen Rahmen vorgab.

4.2. Ex eo tempore ... Die Akteure des Ritus und ihre mythischen „Urbilder" Daß die ländlichen „Ambarvalia" und das Dea-Dia-Ritual der Arvalbrüder einander entsprechen, bedeutet, wie gesagt, keine Identität, nicht einmal, daß sie in jedem Fall am selben Tag stattfinden mußten. Wie oben dargelegt, halte ich eine sinnvolle Klärung des Verhältnisses beider Riten nur für möglich, wenn wir berücksichtigen, daß es sich im einen Fall um Riten handelt, die zwar Teil der allgemein anerkannten römischen Religion sind (und insofern nicht „privat"), aber in den persönlichen Verantwortungsbereich des jeweiligen pater familias fallen, im andern Fall um eine Veranstaltung der Staatsreligion, durchgeführt von staatlich bestellten Priestern zum Wohle des Staats insgesamt. Das läßt sich nicht zuletzt aus den sportulae schließen, die sie erhielten: Indem die Gemeinde die Kosten für das Ritual übernahm und sie nicht von den einzelnen Priestern tragen ließ, erkannte sie an, daß das sacrum zugunsten aller Römer durchgeführt wurde.24 Allerdings agierten die „Brüder" dabei durchaus als Repräsentanten der lustrierenden Landleute. Manche ihrer Veranstaltungen trugen einen demonstrativ privaten Charakter,25 was deutlich machte, daß die Arvalen mit ihrer Tätigkeit nicht etwa die Staatsmacht repräsentierten, die 23

24 25

Wissowa, Ambarvalia (1894), 1796, identifizierte das Staatsfest der Ambarvalia mit dem Maifest der Arvalbrüder, unterschied es aber von der privaten lustratio agri bzw. pagi. Dieser Auffassung folgte auch Eisenhut, Ambarvalia, (1975/79), 293. Ich folge hier der Interpretation Ida Paladinos, die sie in Fratres (1988), 149, vorgelegt hat. Siehe Scheid, Romulus (1990), 251.

165

4. Das Maifest der Arvalbrüder

den Interessen der einzelnen Bauern gegenüberstand, sondern daß sie umgekehrt deren öffentlich agierende Stellvertreter im Staatskult waren. Der vornehmste unter ihnen hatte dabei zumindest seit der Kaiserzeit den Rang eines Vaters: Es ist der pater patriae, der „Vater des Vaterlands".^6 Der freilich tanzte selten mit im Dreischritt — er ließ tripudieren, so wie der catonische Bauer lustrieren ließ. Während auf dem Land das Ritual zum Wohle des jeweils betroffenen Anwesens und seiner Familie durchgeführt wurde, brachten die Arvalbrüder ihr Opfer zugunsten des Staates insgesamt - pro salute rei publicae dar. Daß sie dabei als „Brüder" auftraten, unterstrich den repräsentativen Charakter ihres Tuns: Sie vertraten hier im Namen des Staats die pubes agrestis, die Jugendlichen der bäuerlichen Familie. Da nur hochrangige Mitglieder der Gesellschaft kooptiert wurden^ und sie ihr Priesteramt auf Lebenszeit innehatten,^®* waren die „Brüder" alles andere als eine Schar lärmender Jungen. Doch als Urbilder der Arvalen galten die zwölf Söhne der Acca Larentia, der Ziehmutter des Romulus, die dem Mythos nach jährlich ein Opfer für die Felder darbrachten.^ Nachdem einer von ihnen gestorben war, nahm Romulus seinen Platz ein, „und nannte sich und ihre übrigen Söhne ,Arval-Brüder'. Seit dieser Zeit hielt dieses Kollegium der Arval-Brüder an der Zahl Zwölf fest." 30 Der Idee nach verkörperten sie

26

Da der Kaiserkult, der einen breiten Raum im liturgischen Jahr der Arvalbrüderschaft einnahm (dazu Paladino, Fratres (1988), 66 ff.), sehr stark auf die kaiserliche Familie ausgerichtet war, konnte er suggerieren, daß Staatswohl und Familienwohl identisch seien.

27

Die im Jahr 2 9 - 2 8 v. Chr. rekrutierte Brüderschaft bestand beispielsweise, wie Scheid, Frères (1975), 321-323 gezeigt hat, aus je einem Repräsentanten der ältesten noch existierenden Patrizierfamilien.

28

Plin. nat. 18, 6: bonos

[ . . . ] is non nisi vita finitur

et exules etiam

captosque

co-

mitatur. 29

Rutilius Geminus bei Fulg. exp. serm. ant. 9: [Quid sint arvales fratres.]

Acca

Laurentina

cum

duodecim

Romuli filiis

nutrix

consueverat

suis sacrificium

pro agris semel

praecedentibus

in anno

sacrificare

. . . - Es ließe sich durchaus vor-

stellen, daß hier eine Prozession gemeint ist, in der die Söhne vor dem Opfertier hergehen (vgl. Pizzani ad loc. [S. 96]). Scheids Hinweis (Romulus [1990], 21) darauf, daß sacrificium

zwar im Mittelalter, nicht aber zur Zeit von Fulgentius bzw.

Rutilius, im Sinne von Opfert i e r belegt ist, wiegt allerdings schwer. Warum jedoch in einem Lexikon keine Prozession erwähnt sein sollte (so Scheid, a. a. O.), vermag ich nicht einzusehen. 30

Masurius Sabinus bei Gell. n. a. 7, 7, 8: illius locum Romulus dit seseque

et ceteros eius filios fratres

arvales

appelavit.

Accae sese filium

Ex eo tempore

de-

collegium

166

II. Ländliche Lustrationsriten

also junge Männer aus der Urzeit der Stadt, waren gleichsam deren verknöcherte Verewigung. Selbst alt geworden (oder alterslos?), konnten sie als Lehrmeister für immer neue Jugendliche fungieren. Denn jedes Jahr nahmen vier pueri aus vornehmen Familien am Fest der Arvalbrüder teil, verrichteten Hilfsdienste und ahmten die Handlungen der Priester nach; 31 nur das heilige Zentrum der Zeremonie blieb auch vor ihnen, den noch Uneingeweihten, verborgen. Doch indem sie die Gaben des Kollegiums zum Altar brachten, die gleiche Sitzposition wie die Arvalen einnahmen und schließlich wie diese selbst am Ende des Fests Glückwünsche austauschten und sportulae erhielten, spielten sie die priesterlichen Akte gleichsam nach — oder übten sie ein. Denn es handelte sich bei diesen Jungen durchweg um Senatorensöhne sie entstammten also derjenigen Gesellschaftsschicht, aus der sich die Priesterschaft rekrutierte, konnten somit möglicherweise eines Tages kooptiert werden und die priesterliche Tradition fortführen. Ihr demonstratives Nachahmen der zeremoniellen Gesten war ein Hinweis gerade auf diese Tradition: Jede Generation, so führten sie vor, erlernte durch Nachahmung der Erwachsenen die erforderlichen rituellen Handlungen. Dies wurde noch dadurch unterstrichen, daß für sie eine Vorschrift galt, die in der Antike für Jugendliche, die eine sakrale Rolle ausübten, die Regel war: Ihre Eltern mußten beide noch am Leben sein.33 Nicht nur ihre „Vollkommenheit", sondern gerade ihr Kind-Status,

mansit fratrum

arvalium

numero duodecim.

- Scheid, Romulus (1990), 282 hält

die Erklärung der Zwölfzahl für unmöglich. Angesichts der agrarischen Bedeutung des Kollegiums scheint mir jedoch eine 12-Monats-Symbolik plausibel. 31

Das Material zusammengestellt bei Paladino, Fratres (1988), 56 f. Vgl. dazu auch Scheid, Romulus (1990), 535 f., 5 3 9 - 5 4 1 , 633, 639 f., 648 sowie die prosopographische Liste auf den Seiten 5 4 7 - 5 4 9 .

32

Sie waren pueri

ingenui patrimi

et matrimi senatorum fili - so u. a. C F A S. 125,

n° 48, 1. 9 - 1 0 (80 η. C ) ; C F A S. 130, n° 49, 1.11 (81 η. C.); C F A S. 297, n° 100 b, 1.16 (218 n. C.); C F A S. 339, n° 115, 1. 20 (241 n. C.). - Vgl. Paladino, Fratres (1988), 56 mit Anm. 72: Sie nimmt an, daß sie wahrscheinlich aus den selben Familien stammten wie die Arvalen. 33

Die im Zitat der vorigen Anmerkung auftauchende Formulierung pueri mi et matrimi,

...

patri-

die dem griechischen αμφιθαλείς παίδες entspricht, gehört zur

Fachsprache religiöser Vorschriften. Belegt ist die Norm u. a. für die jugendlichen Gehilfen von Flamen Dialis und Flaminica (Paul. Fest. p. 82 L.; vgl. auch Paul Fest. 369 L.), für die Wahl einer Vestalin (Gell. 1,12, 2) und die Assistenten der Vestalinnen bei der Lustration des kapitolinischen Tempels (Tac. hist. 4, 53, 2) sowie für die Kinder, die das Festlied bei den ludi saeculares vortrugen (Act. lud. saec. Aug. C I L 6, 32323, 2 0 . 1 4 7 ; vgl. Zos. 2, 5, 5). Die Aufzählung ließe sich fort-

4. Das Maifest der Arvalbrüder

167

der auf diese Weise betont wurde, machte sie so zu idealen Repräsentanten der adligen Jugend Roms insgesamt, 34 die in der Wiederholung der Akte der Väter die römische Tradition fortsetzen sollte.

4.3. Lied und Tanz: Formen der Codierung von Ritualbedeutung Eben dies aber ist der Punkt, an dem ländliche „Ambarvalia" und Arvalbrüder-Fest einander entsprechen. Vorausgegangen ist eine komplizierte Sequenz von Opferhandlungen, die einen Gabentauschprozeß mit Dea Dia in Gang setzen, 3 ^ an dessen Ende zu gegebener Zeit das Geschenk einer reichen Ernte stehen soll. Diese Zeremonie kulminiert im Opfer eines Schafs. Darauf aber folgt der vor den Augen der Öffentlichkeit verborgene Ritus, den die Arvalbrüder ausführlich auf einer Inschrift des Jahres 218 n. Chr. publizierten. Die Priester ziehen sich in das Innere des Gebäudes zurück und verschließen die Türen. Zuvor haben sie sich von ihren Gehilfen Bücher bringen lassen. Diese enthalten das berühmte carmen arvale, das die Brüder nun, indem sie im Dreischritt tanzen, gemeinsam singen. 36 Da wir Schwie-

34 35 36

setzen. - Die wichtigste Forschungsliteratur: Marquardt / Wissowa, D. römischen Kultusaltertümer (1856 / 2 1885), 229 f.; Wissowa, Religion (1902 / 2 1912), 491 mit Anm. 9 u. 496 mit Anm. 1; Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960 /1967), 249 u. 408. Speziell zu den Säkularspielen: Pighi, De ludis (1941), 55, 61 u. 117. Siehe Paladino, Fratres (1988), 56. Diesen Aspekt betont Scheid, Romulus (1990), bes. 539 u. 653 f. CIL 1, 2 2 n. 2 = CFA S. 2 9 5 - 2 9 6 , n° 100 a, 1. 3 2 - 3 8 anni 218 in adverso (siehe auch FPR Büchner, p. 4 f.): ibi sacerdotes elusi succincti libellis aeeeptis carmen descindentes tripodaverunt in verba haec enos Lases iuvate neve lue rue Marmar sins ineurrere in pleoris satur f u , f e r e Mars, limen sali sta berber semunis alternei advocapit conctos enos Marmor iuvato triumpe triumpe triumpe triumpe triumpe. Die ausführlichste - und einleuchtendste - Untersuchung des Arvallieds hat Norden, Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 1 0 9 - 2 8 0 vorgelegt. Ich zitiere im folgenden seine Ubersetzung. (Eine forschungsgeschichtliche Einordnung in Scheids Nachwort zum ansonsten unveränderten Nachdruck 1995.) - Siehe auch Scheid,

168

II. Ländliche Lustrationsriten

rigkeiten h a b e n , das m i t A r c h a i s m e n u n d Korruptelen gespickte Lied z u dechiffrieren, w u r d e das B e n u t z e n schriftlicher Vorlagen als B e l e g dafür gewertet, daß die Priesterschaft in g e d a n k e n l o s e m Ritualismus e i n e n Text abspulte, d e s s e n Sinn ihr selbst verschlossen war.'' 7 D i e s k a n n freilich w e der aus u n s e r e n Interpretationsproblemen·'® n o c h aus d e m G e b r a u c h der B ü c h e r g e s c h l o s s e n werden. Es entspricht nämlich durchaus römischer G e p f l o g e n h e i t , sich bei G e b e t e n an e i n e n vorformulierten Wortlaut z u halten, u m j e d e n m ö g l i c h e n F o r m f e h l e r v o n vornherein a u s z u s c h l i e ß e n . 3 9 D e r H i n w e i s auf die libelli

ist also eine D e m o n s t r a t i o n v o n Traditionsge-

b u n d e n h e i t , die u m so wichtiger ist, als gerade d i e s e m Teil des Rituals die Ö f f e n t l i c h k e i t zunächst mangelt. Zuschauer waren ausgeschlossen; l e d i g lich nachträglich k o n n t e das E i n m e i ß e l n des Protokolls auf d e n Tafeln i m H a i n eine — w e n n auch selektive - Publizität herstellen. D i e s e s Lied stellt insbesondere d e s w e g e n ein Bindeglied z w i s c h e n d e n l ä n d l i c h e n Lustrationen u n d d e m Ritual i m D e a - D i a - H a i n dar, w e i l hier w i e dort d i e s e l b e n G o t t h e i t e n angerufen werden. W i e das G e b e t Tibulls

37

38

39

Romulus (1990), 616 ff. Eine Bibliographie der wichtigsten Sekundärliteratur ebd., 644 ff. Siehe Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960 /1967), 310: „[Man] rezitiert das unverständlich gewordene Lied und macht dazu feierliche Schritte". Latte wollte an der Arvalbrüderschaft demonstrieren, „wie unlebendig diese [seil, die Augusteische] Restauration war", und behauptete: „Mechanisch vollzieht man die einzelnen vorgeschriebenen Handlungen, ohne sich irgendwelche Gedanken über ihren Sinn zu machen." Sein Urteil hat unlängst noch einmal an Einfluß gewonnen, da das Kapitel über „Die Augusteische Restauration" (= Rom. Religionsgeschichte, Kap. XI, 294-311), wiederabgedruckt ist in Saeculum Augustum II (1988), 21-51. - Daß die Arvalbrüder auf die schriftliche Vorlage angewiesen waren, weil sie den Text nicht auswendig kannten, nimmt Piva, Wege (1993), 62, Anm. 14 an und verwendet dies als Argument, um das gemeinhin angenommene hohe Alter des Lieds, das er „nach sprachwissenschaftlichen Kriterien" für „uninterpretierbar" hält (ebd. 59), „weil der Inhalt des Liedes völlig schleierhaft ist" (ebd. 66), zu bestreiten (vgl. ebd. 83). Vgl. die Gegenüberstellung von drei verschiedenen Ubersetzungen bei Piva, Wege (1993), 67 f. Scheid, Romulus (1990), 617 ff. hat jedoch mit Nachdruck dargelegt, daß das carmen keineswegs so unverständlich ist, wie oft behauptet wird, und daß sich die Korruptelen plausibel als Fehler des quadratarius, der beim Einmeißeln eines für i h η schwer verständlichen Texts seine Schwierigkeiten gehabt haben dürfte, erklären lassen (ebd. 617). Darauf hat im Zusammenhang mit dem Arvallied schon Norden, Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 115 hingewiesen. Vgl. auch oben, Kap. II 1. 2. mit Anm. 27 (zu Cato) und unten, Kap. III 2.1. mit Anm. 15 (zu den Zensorischen Tafeln).

169

4. Das Maifest der Arvalbrüder

wendet sich das carmen an die Laren und wie das Gebet Catos an Mars: Sie werden um Hilfe gebeten, zugleich wird der wilde, kriegerische Aspekt des letztgenannten Gottes abgewehrt. Eduard Norden hat in enger Anlehnung an die von ihm vorgeschlagene und ausführlich begründete wörtliche Übersetzung des Arvalbrüder-Lieds dessen Gedankenfolge so wiedergegeben: Laren, helft uns. Mars, mögest du nicht das Fortschreiten des Unheils zulassen. Mars, sei satt. Spring auf die Schwelle, steh dort. Die Semonen werdet ihr im Wechselgesang herbeirufen. Mars, so hilf uns dann/® Daß auch die „Semonen" ins Spiel kommen, stellt ein weiteres Bindeglied zu den oben behandelten Gebeten dar: Wer die „Saatgötter" herbeiruft, zeigt damit, daß seine Sorge und Hoffnung dem Getreide gilt.41 Der Gesang gewinnt auf beschwörende Weise an Eindringlichkeit durch seine Wiederholungen: Die fünf Verse werden jeweils dreimal gesungen; den Abschluß des carmen bildet der fünffache sieghafte Ruf „triumpe", den man mit der Aufforderung „Tanz den Dreischritt!" wiedergeben könnte. 42 Denn das Lied wird insgesamt von einem stampfenden Tanz begleitet. Es handelt sich um ein tripudium, einen „Dreischritt" wie ihn auch die Salier, die „Springpriester" des Mars im März und Oktober bei ihren Umzügen durch Rom aufführten.43 Das verleiht dem fünffachen Ruf triumpe,

40

N o r d e n , Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 2 2 7 f.

41

Kilgour, Ambarvalia (1938), 2 3 7 meint, die Semonen seien aus der Saatzeit (Saturnalia!) ins Frühjahrsritual transferiert worden, und verbucht dies als für die augusteische Zeit charakteristischen Sinnverlust. Das scheint mir nicht plausibel, zumal da die Mailustrationen den Bauernkalendern zufolge den segetes gelten. D a z u passen die semones

recht gut; außerdem ist in vielen Kulten der Jahreslauf als K o n -

t e x t , evtl. auch im symbolischen Kürzel, beim jeweiligen Ritus präsent. -

Norden,

Aus altröm. Priesterbüchern (1939), 2 0 4 ff. faßte die Semonen als „göttliche P o t e n z e n " auf, die „mit selbsttätiger Individualität innerhalb des Machtbereichs der H a u p t g ö t t e r " wirken: siehe ebd., 221. Ich vermag ihm hierin nicht zu folgen. 42

E p h y m n i e n von Paianen und den griechischen Kultruf θ ρ ί α μ β ε , δ ι θ ύ ρ α μ β ε vergleicht N o r d e n , aus altröm. Priesterbüchern (1939), 228.

43

I m m e r noch grundlegend: Cirilli, Prêtres (1913). Vgl. Scholz, Studien (1970), 12 f. u. 28 ff.; besonders wichtig Versnel, Apollo ( 1 9 8 5 / 8 6 / 1993), 2 9 7 f., 3 2 6 f. u. 3 2 9 , der auf die Beziehungen zu den Kureten und zum Troia-Spiel eingeht. Auch To-

II. Ländliche Lustrationsriten

170

mit dem das Lied schließt, einen „martialischen" Aspekt und unterstreicht den Imponier-Gestus des Gesanges. 4 4 Analog zu den Bauern der einzelnen ländlichen Anwesen versichern sich also die Arvalbrüder göttlichen Beistands um des reifenden Getreides willen, insbesondere auch um Schaden von ihm fernzuhalten. Hatte der Landwirt eher Krankheiten, Ungeziefer und schlechtes Wetter im Sinn, so wenden sich die Arvalbrüder als Vertreter des Staates, zu dessen Aufgaben es gehört, seine Bewohner nach außen zu schützen, auch gegen Kriegsgefahr. Diese konnte insbesondere das reifende Getreide bedrohen. Zu diesem symbolischen Akt der Revierverteidigung paßt, daß sich das Ritual in einem Hain vollzieht, der seiner Lage und den mit ihm verbundenen Assoziationen nach als eines der „Grenzheiligtümer" aufzufassen ist, 4 ^ die symbolisch das römische Territorium 4 6 markieren. Gerade unter diesem Gesichtspunkt wird die Vergleichbarkeit der ländlichen Lustrationen mit dem Ritual der Arvalbrüder deutlich: 4 7 Wie es die ältere Forschung 4 8 schon richtig gesehen hatte, entspricht dem U m gang u m

die

Grenze

des ländlichen Anwesens das Fest a u f

G r e n z e des ager Romanus,49 pudium,

der

Ich postuliere darüber hinaus, daß das tri-

der Dreischritt-Tanz der Brüderschaft, ein ritualisierter Umgang

war: Wenn die zwölf Priester hinter den verschlossenen Türen, wie es

44

45 46 47

48 49

relli, Riti (1990) hat unlängst die Initiationsbedeutung der Salierfeste untersucht, was Graf, Initiationsriten (1993), 39 ff. aufgreift. Petersmann, Springende . . . Götter (1991), 73 f. sieht daher einen Siegestanz darin. Vgl. Scheid, Romulus (1990), 622, der überzeugend darlegt, daß der Ruf die im Ritual angestrebte erfolgreiche Revierverteidigung symbolisch als bereits erreicht darstellt, ebenso wie die panes laureati die künftige erfolgreiche Ernte zeichenhaft vorwegnehmen. Ein Vergleich mit weiteren Grenzheiligtümern bei Paladino, Fratres (1988), 113 und Scheid, Romulus (1990), 100 ff. Zum ager Romanus siehe Catalano, Aspetti (1978), 492 ff. Damit entfällt auch Scheids Argument, das Dea-Dia-Fest könne nicht mit den „Ambarvalia" identisch sein, weil diese Lustrationen seien, das Hainfest aber keinesfalls. Es beruht nämlich auf der einseitigen Identifikation von „Lustration" und „Reinigung", die freilich nicht zuletzt durch die Verwendung des Worts in modernen Sprachen wie dem Französischen und Deutschen nahegelegt wird. Stellvertretend sei genannt: Wissowa, Ambarvalia (1894), 1796. Gerade die offenkundige Grenzbedeutung sowohl des Heiligtums als auch des dort vollzogenen Ritus konnte Pseudo-Philoxenos zu dem Mißverständnis bestimmen, die Arvalen seien Grenzmesser; dazu Scheid, Romulus (1990), 35 ff. Möglicherweise liegt auch eine Verwechslung mit den magistri pagorum vor.

4. Das Maifest der Arvalbrüder

171

wahrscheinlich ist, im Kreis herum stampften, so konnte dieser Kreis die symbolische Bedeutung der Flurgrenze annehmen. 50 Wie die Bauern also, die im Mai „die Saaten lustrieren", zeigen die Arvalbrüder in dieser kritischen Phase, in der das Getreide grün auf den Feldern steht, erhöhte Verteidigungsbereitschaft. Da ihr Amtsjahr an den Saturnalien beginnt und da es zu ihren ersten Amtshandlungen gehört, den Termin für das sacrum festzusetzen, könnte man die Arvalbrüder als „Wächter" des wachsenden Getreides auffassen: Sie wachen über eine Periode, die nach der Aussaat anfängt und vor der Ernte endet. Wenn die Zeit der frühsommerlichen Lustrationen vorbei ist, beginnt bald darauf mit den Vorernteopfern eine neue Phase des Kalenders. In der Zeit zwischen Aussaat und Ernte aber, während das Korn in der arva heranreift, sind sie zu seinem Schutz bestellt, und Mars und die Laren helfen ihnen dabei, wie sie auch den Gutsbesitzern auf ihren jeweiligen Anwesen helfen.

4.4. Zur Wirkungsweise des Rituals: Ein Beispiel (SHA Aurelian. 18,4 ff.) Eine Passage in der Aurelian-Vita der Historia Augusta 51 macht deutlich, wie eng die Assoziation von Lustration und Revierverteidigung war; sie zeigt zugleich, wie man sich die Wirkung eines solchen Ritus vorzustellen hat. Im Jahr 270 n. Chr. rückten die ins Land eingefallenen Germanen der Hauptstadt immer näher. „Während jener angstvollen Tage, da die Markomannen" - in Wirklichkeit wohl Alamannen - „alles verwüsteten, entstanden in Rom gefährliche Unruhen, da jedermann vor einer Wiederkehr der Ereignisse unter Gallienus bangte".5^ Daß in dieser kritischen Situation „die Sibyllinischen Bücher, die bekannten Segensspender für das öffentli-

50

Daß das Schließen der Türen eine symbolische Revierverteidigung bedeutet, hat Scheid, Romulus (1990), 622 erkannt. Kilgour sind alle Indizien, die in diese Richtung deuten, entgangen; er beharrt darauf, daß bei den Arvalbrüdern nicht einmal pars pro toto ein Umgang auszumachen sei (Ambarvalia [1938], 238 f.).

51

S H A Aurelian. 18, 4 - 20, 3 (manchmal unter dem Namen des angeblichen Verfassers, Flavius Vopiscus, zitiert).

52

18, 4: In ilio autem timore, quo Marcomanni cuneta vastabant, ingentes seditiones motae sunt paventibus cunctis, ne eadem, quae sub Gallieno provenirent.

Romae fuerant,

172

II. Ländliche Lustrationsriten

che Wohl, eingesehen" wurden, 53 entsprach dem üblichen religiösen Verhaltensmuster angesichts von Unheilszeichen.®4 Erwartungsgemäß bestand die Strategie in der Verordnung bestimmter Riten, und zwar wurde verfügt, „daß an bestimmten Orten, über welche die Barbaren nicht würden hinausgelangen können, Opfer dargebracht werden sollten". 5 5 Diese Opfer, „wie sie unter verschiedenen Arten des religiösen Ritus vorgeschrieben waren," 56 hatten ganz offenkundig die Bedeutung einer Reviermarkierung, einer Präsenzdemonstration an derjenigen Grenzlinie, die unter allen Umständen verteidigt werden sollte. Ob das Imponiergehabe auf die Germanen Eindruck machte, ob es ein Zufall war oder einfach Legendenbildung, jedenfalls heißt es im folgenden: „Auf diese Weise kamen die Barbaren zum Stehen und wurden sämtlich von Aurelian, als sie in kleinen Abteilungen das Land durchstreiften, aufgerieben".57 Zunächst ist noch recht unspezifisch von „Opfern" die Rede, wenn auch von solchen, die eine reviermarkierende Funktion haben. Für den uns hier interessierenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist aber, was wir darüber hinaus durch den angeblich wörtlich mitgeteilten Senatsbeschluß erfahren: Es soll nämlich ausgerechnet „am dritten Tag vor den Iden des Januar" gewesen sein, als der städtische Prätor die Priester beauftragte, die Bücher zu befragen. 58 Das wäre demnach der 11. Januar, also einer der möglichen Termine für die indictio, die feierliche Festsetzung des Mairituals der Arvalbrüder! Und in der Tat, außer einer kultischen Entsühnung der Stadt, für die unverzüglich die notwendigen Vorbereitungen getroffen werden, kündigen die Priester einen „Flurumgang" an, nämlich „Ambarvalia". 5 ' Da dieser 53 54 55 56 57 58

59

18, 5: quare etiam libri Sibyllini noti beneficiti publicis inspecti sunt... Beispiele bei Radke, Sibyllen (1975), 161. 18, 5: . . . inventumque, ut in certis locis sacrificia fierent, quae barbari transiré non possent. 18, 6: facta denique sunt ea, quae praecepta fuerant in diverso caerimoniarum genere . . . 18, 6: . . . atque ita barbari restiterunt, quos omnes Aurelianus carptim vagantes occidit. 19,1: Die tertio iduum Ianuariarum Fulvius Sabinus praetor urbanus dixit: ,referimus ad vos, p. c., pontificum suggestionem et Aureliani principis litteras, quibus iubetur, ut inspiciantur fatales libri, quibus spes belli terminandi sacrato deorum imperio continetur.' 20, 3: itum deinde ad templum, inspecti libri, proditi versus, lustrata urbs, cantata carmina, amburbium celebratum, ambarvalia promissa, atque ita sollemnitas, quae iubebatur, expleta est. - Nur der Ordnung halber sei noch einmal darauf hingewiesen, daß ambarvalia nicht zwingend ein Substantiv zur Bezeichnung des

4. Das Maifest der Arvalbrüder

173

Ritus in die Zuständigkeit des Staates fällt, kann es sich nicht um eine ländliche Lustration, wie sie oben besprochen wurde, handeln. Andererseits ist kein von Staats wegen angeordneter Flurumgang belegt — außer dem symbolisch angedeuteten der Arvalbrüder. Ich halte es deswegen für naheliegend, die in unserer Quelle genannten „Ambarvalia" mit dem Dea-Dia-Fest zu identifizieren, wofür ja auch der Termin der Ankündigung spricht. Doch ist immerhin vorstellbar, daß mit dieser indictio zugleich auch die „privaten" Flurumgänge, zumindest soweit sie im römischen Umland abzuhalten waren, festgesetzt wurden. Bei diesem Vorgang fällt auf, daß die procuratio der Krisensituation60 nicht alleine auf ein Muster zurückgriff, das für außergewöhnliche Ereignisse reserviert war, sondern vielmehr — neben anderen Maßnahmen, insbesondere den unverzüglich dargebrachten Grenzopfern - ein Ritual anordnete, das ohnehin regelmäßig wiederkehren mußte. 61 Das Heilmittel bestand also teils in einer auf die Bedrohung abgestimmten Sofortreaktion, teils in der inszenierten Normalität. Wie aber wirkt dieses Lustrationsritual? Auf der expliziten Ebene wird dem Umgang ein „apotropäischer" Erfolg zugeschrieben: Der Feind kommt erwartungsgemäß zum Stehen.62 Implizit aber zeigt sich deutlich, daß die Reviermarkierung vor allem der emotionalen Destabilisierung der Bevölkerung entgegenwirkte: Die Angst vor einem feindlichen Einfall in Rom führte zu gefährlichen Unruhen; gerade deshalb, heißt es, seien die Sibyllinischen Bücher eingesehen worden. So gesehen, hatte die Lustration also eine nach innen gerichtete „kathartische" Bedeutung: Sie beruhigte, beschwichtigte, vermochte vielleicht eine Solidarisierung zu bewirken. Die ganze Darstellung des Vorgangs läßt die Durchführung der Riten als gezielte politische Maßnahme, ja fast als „Priestertrug", erscheinen. Psychologisch verständlich wird uns die beruhigende Wirkung der Ankündigung der Maifeiern, wenn wir uns klarmachen, daß sie das Versprechen be-

60

61 62

Festnamens sein muß, sondern ebensogut ein Adjektiv sein kann, zu dem „Opfer" zu ergänzen wäre. Die Interpretation des Sachverhalts selbst ist dadurch nicht betroffen. Mit grundsätzlichen, ethologisch fundierten Darlegungen zur kulturellen Angstbewältigung: Gladigow, Konrete Angst (1979), bes. 72 f. Er zeigt 73, daß Prokurationen häufig zur Kategorie der „bandstiftenden Riten" gehören, wobei er vor allem auf die Beziehung Menschen - Götter abhebt. Ich halte auch die lustratio urbis in diesem Fall für nichts anderes als das - doch wohl regelmäßig gefeierte amburbium. Siehe 18, 6, zitiert in Anm. 56 f.

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II. Ländliche Lustrationsriten

inhaltete, das Land werde auch zum Festtermin noch in römischer Hand sein, und was im Januar als Saat im Boden lag, werde dann kurz vor der Erntereife stehen. So wird die Aussicht auf die Wiederholung eines bewährten rituellen Musters zum „Beruhigungsmittel" zur Hoffnung auf eine ungestörte Wiederholung der geordneten Prozesse des Jahreslaufs.

4.5. „Ambarvia": Eine Hypothese Wenn wir die Verschiedenheit der Ebenen angemessen berücksichtigen, können wir sagen, daß die ländlichen Lustrationen und das Hainfest der Arvalbrüder einander entsprechen, daß sie denselben Sinn haben. Wir können dann auch eine wertvolle Quelle besser verstehen. Strabon schrieb in seiner „Geographie", und zwar in einer Passage, die von der mythischen Gründungsgeschichte Roms handelt: „Zwischen dem fünften und sechsten dieser Steine nun, die die Meilen von Rom weg angeben, wird ein Ort Festoi genannt. Diesen nennen sie die Grenze des damaligen [d. h. gründungszeitlichen] Gebiets der Römer, und die .Priester' (ίερομνήμονες) verrichten am selben Tag ein Opfer dort und an mehreren anderen Orten mit Grenzbedeutung; dieses nennen sie Ambarvia." 63 Da „Ambarvia" und „Ambarvalia" sprachlich nahe beieinander liegen, ^ konnte man Strabons Angabe als Beleg für ein Fest dieses Namens verbuchen. Da außerdem seine Entfernungsangabe der Lage des Dea-Dia-Hains entspricht, war die Quelle auch auf das dort stattfindende Fest beziehbar.6^ Dies implizierte freilich, daß Hainfest und „Ambarvalia" — was immer man darunter ver-

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Strab. 5, 3, 2 (230): μεταξύ γ ο ΰ ν τοΰ πέμπτου καί του έκτου λίθου των τ ά μίλ ι α διαοημαινόντων της 'Ρώμης κ α λ ε ί τ α ι τόπος Φηστοι. τούτον δ' οριον ά π ο φ α ί ν ο υ σ ι της τότε 'Ρωμαίων γης, οϊ θ' ίερομνήμονες θ υ σ ί α ν έπιτελοΰσιν ε ν τ α ΰ θ ά τε κ α ί έν ά λ λ ο ι ς τόποις πλείοσιν ώς όρίοις αυθημερόν, η ν κ α λ ο ΰ σιν Άμβαρουίαν. Kilgour, Ambarvalia (1938), 232 nahm an, Strabon (dem er keine große Sachkenntnis in bezug auf die römische Ritualpraxis zutraut) habe den Festnamen nicht korrekt wiedergegeben. Möglich ist aber auch, daß ambarvia ebenso neben ambarvalia vorkam wie beispielsweise amburbium neben amburbiales [hostiae ]. Henzen, Acta (1874 /1967), 47 hat den Ort Φηστοι mit dem Dea-Dia-Hain identifiziert; dagegen wandte Kilgour, Ambarvalia (1938), 231 ein, dies sei nicht zulässig, da Strabon nicht angegeben habe, in welcher Richtung von der Stadt weg der Ort liegen soll. Kilgours eigene Vorschläge zur Interpretation von „Festoi" sind allerdings nicht überzeugend.

4. Das Maifest der Arvalbrüder

175

stehen mochte — identisch waren. Kritik an dieser Auffassung konnte nicht ausbleiben. Ihre gewichtigsten Argumente sind, daß erstens ein Ort namens Festoi sonst nicht belegt ist. Zweitens, wurde eingewandt, gebe das griechische Wort ίερομνήμονες das lateinische pontífices wieder, bezeichne also eine andere Art von Priestern, als die fratres arvales es sind. 6 6 Während das zweite Argument der Kritik auf tönernen Füßen steht, bedarf es zur Entkräftung des ersten einer zugegebenermaßen kühnen Hypothese. Sie soll hier zuerst zur Diskussion gestellt werden. Der angebliche Ortsname „Festoi" könnte der Versuch sein, das lateinische Wort fasti auf Griechisch wiederzugeben. Das auffälligste Merkmal des heiligen Hains der Dea Dia waren immerhin die dort publizierten „Fasten". Daß die Arvalbrüder über einen Festkalender verfügten und über einen Kalender, der die Jahreszählung nach den Amtsperioden der Magistrate ermöglichte, unterschied sie nicht grundsätzlich von anderen Priesterschaften. Daß sie aber ihre eigenen, in Stein gemeißelten „Fasten" hatten, die dokumentierten, wer die Präsidentschaft innehatte, wie bestimmte rituelle Probleme gelöst wurden und für welche Tage die Zeremonie im Hain angesetzt wurde, 6 7 war eine Besonderheit, die sich offensichtlich der Aufwertung der Priesterschaft durch Augustus verdankte. 68 Wäre es da nicht denkbar, daß in einer Zeit, in der die Priesterschaft sicherlich eine gewisse „publicity" genoß, von dem Ort gesprochen wurde, an dem die Fasten sind, im Volksmund kurz „fasti" genannt? 6 ' Da sich Strabon seit dem Jahr 44 v. Chr. in Rom aufhielt, war er Zeitgenosse der Reorganisa-

66

A u c h in diesem P u n k t berufen sich alle neueren Kritiker auf Kilgour, der aber Ambarvalia (1938), 231 f. auch die Möglichkeit ins Auge faßt, es k ö n n e sich um die irrige A n n a h m e eines Ausländers handeln.

67

Vgl. dazu Scheid, Romulus (1990), 53 ff.

68

D a ß das Einmeißeln der Berichte auf Augustus zurückgeht, nahm Scheid, F r è r e s ( 1 9 7 5 ) , 341 an. Allgemein zur Frage, inwieweit Augustus das Priesteramt oder den Kult der Arvalbrüder reformiert oder restauriert habe, siehe Paladino,

Fratres

(1988), 3 3 ff. und Scheid, Romulus (1990), 6 7 7 ff. (vgl. dort 681 ff. den F o r s c h u n g s überblick). 69

Dies gilt auch dann, wenn (wie Scheid, Romulus [ 1 9 9 0 ] , 7 0 a n n i m m t ) , die Inschriften keine Leser hatten, vielmehr nur dazu da waren, das ewige Gedenken zu garantieren; sie konnten dennoch b e r ü h m t sein. - Allerdings scheint es mir erwägenswert, o b die Inschriften nicht von den Besuchern des F o r t u n a - H e i l i g t u m s , das in unmittelbarer Nachbarschaft lag (zu diesem Tempel siehe Scheid,

Romulus

[ 1 9 9 0 ] , 150 ff.), gesehen werden konnten. - Zur Bedeutung der augusteischen E p i graphik vgl. Rüpke, Kalender (1995), 174 ff.

176

II. Ländliche Lustrationsriten

tion des Kults. Er schloß sein Werk im Jahre 27 oder 25 v. Chr. ab. Terminus ante quem für die Institutionalisierung der Inschriften ist das Jahr 21; aus diesem datiert das älteste Fragment. Wahrscheinlicher aber ist ein früheres Datum; allerdings nicht vor der Kalenderreform Caesars im Jahre 46. 70 Es spricht einiges dafür, daß die religionspolitische Maßnahme Octavians ungefähr um 29 v. Chr. erfolgte - im August dieses Jahres publizierte Vergil die GeórgicaΖ1 Falls dieser Termin in etwa das Richtige trifft, könnte der Geograph Strabon hier auf aktuelle Entwicklungen Bezug genommen haben. Der Ort außerhalb Roms zwischen dem fünften und sechsten Meilenstein, der „Festoi" genannt wird, könnte also meiner Meinung nach tatsächlich am ehesten der Dea-Dia-Hain sein, in diesem Falle nicht nach der geheimnisvollen Göttin bezeichnet, sondern nach den berühmten Kalender-Inschriften. Auch die symbolische Bedeutung als „Grenze des damaligen Gebiets der Römer", die Strabon ausdrücklich vermerkt, entspricht dem Charakter des Heiligtums. Doch nicht nur die Ortsangabe hat Zweifel an der Brauchbarkeit des Zeugnisses geweckt, sondern auch der Ausdruck, mit dem Strabon die Funktionäre des Ritus bezeichnet: „ . . . und die ίερομνή μονές verrichten heute ein Opfer hier". Da Dionysios von Halikarnaß diesen — im Griechischen relativ unspezifisch gebrauchten — Ausdruck einmal auf die römischen pontífices anwandte, ist in der Forschung der Eindruck entstanden, es handle sich dabei um eine terminologische Zuordnung/ 2 Da jedoch neben dieser Quelle und der — selbst interpretationsbedürftigen und daher nicht zu verwendenden — Strabon-Stelle nur noch ein einziger weiterer Beleg für diesen Sprachgebrauch angeführt wird, ist die Übersetzung ίερομνήμονες = pontífices nicht zwingend. Sie ist auch nicht plausibel. Das Opferritual, das von diesen religiösen Funktionären abgehalten wird, nennt man, Strabon zufolge, „Ambarvia". Daß ein solcher Ritus von den Pontífices durchgeführt wurde, ist aber nir-

70

Paladino, Fratres (1988), 2 6 9 hat darauf hingewiesen, daß gerade Caesars Kalend e r r e f o r m das Errichten neuer steinerner Kalender notwendig machte (vgl. auch ebd. 6 3 ff.).

71 72

S o einleuchtend Scheid, Frères (1975), 346 f. Vgl. dens., Romulus (1990), 6 9 0 ff. Vgl. Kilgour, A m b a r v a l i a (1938), 233 und -

u. v. a. - A l f ö l d i , D. f r ü h e Rom

(1965 / 1 9 7 7 ) , 2 6 3 . Siehe auch bes. Mason, Terms (1974), 55.

177

4. Das Maifest der Arvalbrüder

gends belegt. 73 Falls damit „Ambarvalia" im Sinne von ländlichen Lustrationen gemeint sein sollten, waren es die jeweils für das Anwesen sakralrechtlich verantwortlichen Privatleute (also der jeweilige pater familias oder sein Stellvertreter), die das Ritual leiteten. Nehmen wir hingegen einmal an, Strabon habe sowohl diese privaten lustrationes agri als auch das Fest der Arvalbrüder im Sinn gehabt - mit welchem griechischen Wort hätte er treffender diese beiden ganz unterschiedlichen Gruppen von religiösen Funktionären gleichzeitig bezeichnen können? Es scheint mir wert zu erwägen, ob das Wort ,,ίερομνήμονες" nicht gerade wegen seiner relativen Unbestimmtheit dazu geeignet war, gleichzeitig die sacerdotes, die das Hainritual durchführten, und alle anderen, „die für die Feldfrüchte opfern", wie es bei Festus heißt/ 4 zu bezeichnen. Daß auch bei diesen der Umgang circum arva („um die Feldflur") mit der ambarvalis hostia (dem „Flurumgangsopfer") die Grenzen — nun nicht des ager Romanus, wohl aber des jeweiligen Anwesens — markierte, wurde oben bereits dargelegt.75 Damit entfiele auch ein weiteres Problem: Der Versuch, die ίερομνήμονες in dieser Quelle (ausschließlich) mit den fratres arvales zu identifizieren, war deswegen zum Scheitern verurteilt, weil diese Priesterschaft das einzige Fest, das für eine Identifikation mit den „Ambarvia" überhaupt in Frage kommt, nicht „an mehreren anderen Orten" gefeiert hat, weder gleichzeitig (was freilich unmöglich ist) noch nacheinander (was nirgends belegt ist)/ 6 Ich schlage deshalb folgende, zwar hypothetische, aber vielleicht doch erhellende Interpretation des Zeugnisses vor: Strabon hat zugleich das staatliche Fest, das die Arvalbrüder begehen, und zwar an einem Ort namens „Festoi" den ich mit dem heiligen Hain der dea Dia identifiziere, und das ländliche Fest, das an anderen Orten gefeiert wird, vor Augen. Er

73

Harmon, Religion (1986), 1951 f. erwägt, daß - aufgrund einer dann anzunehmenden religionsgeschichtlichen Entwicklung - sowohl pontífices

als auch arvales

fra-

tres am Ritual beteiligt gewesen sein könnten, begibt sich aber in diese unnötigen Schwierigkeiten nur deshalb, weil er Mason, a. a. O., ein Gewicht beilegt, das er nicht verdient. Dieser verfügt nämlich nicht über mehr Material als das hier vorgelegte. 74

Fest, bei Macrob. 3, 5, 7: qui pro frugibus faciunt.

Daß mit dem Festus-Zitat alle

gemeint sein können, die einen entsprechenden Ritus durchführen und nicht nur die Arvalbrüder, hat auch Scheid, Romulus (1990), 32 gesehen. 75 76

Siehe oben, Kap. II 1.1. mit Anm. 15. Weshalb Kilgour, Ambarvalia (1938), 234 schließlich resigniert und die Quelle für unerklärbar hält.

178

II. Ländliche Lustrationsriten

faßt die sacerdotes und die religiös Verantwortlichen der einzelnen Anwesen unter dem gemeinsamen Begriff der „Hieromnemones" zusammen. Der Name „Ambarvia" den er für das Opferritual nennt, sichert den Zusammenhang mit den oben untersuchten Riten „zugunsten der Feldfrüchte". Auf diesen Aspekt geht Strabon allerdings nicht ein, er unterstreicht vielmehr die Bedeutung der Grenzmarkierung. Falls diese Interpretation zuträfe, hätten wir einen wertvollen Beleg dafür gewonnen, daß es bei den Riten in der Jahreszeit, wo die novae fruges auf den Feldern stehen, eine Entsprechung von staatlichem und „privatem" Ritus gab. 77 4.6. Zusammenfassung Abschließend möchte ich noch einmal die Argumente zusammenstellen, die für einen Zusammenhang zwischen dem Ritual der Arvalbrüder und der — bisweilen „Ambarvalia" genannten - ländlichen Lustration, wie sie uns in den Zeugnissen Catos, Vergils oder Tibulls begegnet, sprechen: Beide Riten haben dieselbe Funktion: Sie werden durchgeführt, ut f ruges ferant arva — „damit der Acker Frucht trage". Beide haben denselben jahreszeitlichen Kontext; sie finden im späten Frühjahr oder (besser gesagt) im Frühsommer statt, vorzugsweise im Mai. Das muß nicht bedeuten, daß sie am selben Tag gefeiert wurden. „Neue" und reife Feldfrüchte spielen bei Vergils ländlichem Fest ebenso eine Rolle wie im Dea-DiaHain; der prospektive Bezug auf die kommende Ernte ist den verglichenen Riten allen gemeinsam. Die göttlichen Helfer im rituellen Kampf gegen alles Unheil sind im Arvalbrüder-Ritus Mars und die Laren; für die häuslichen Feste scheint die Möglichkeit gegeben, selektiv zu verfahren: Während Cato auf Mars vertraut, versichert sich Tibull lieber der Hilfe der Laren. Fügen wir noch eine hypothetische, aber, wie ich meine, plausible Entsprechung hinzu: So, wie bei der ländlichen Lustration der rituelle Umgang um die (vielleicht auch nur symbolischen) Grenzen des Anwesens das „Revier", den Lebensraum der Familie, markiert und verteidigt, ist das Tripudieren im Grenzheiligtum der Dea Dia eine Präsenzdemonstration, zeigt der Dreischritt-Tanz als eine Art von symbolisch verkürztem Um-

77

Entsprechendes gilt f ü r einen Lustrationsritus zum Abschluß der Aussaatperiode; dies bezeugt O v . fast. 1, 6 5 7 - 6 9 6 (siehe dazu das folgende Kapitel).

4. Das Maifest der Arvalbriider

179

gang den Willen, die Sicherheit der gesamtrömischen Feldflur zu gewährleisten. Von einer Identität der Ritualveranstaltungen auf dem Land einerseits und im heiligen Hain andererseits kann allerdings keine Rede sein. Vorstellbar ist nur eine Entsprechung: Was der Gutsbesitzer eigenverantwortlich für das einzelne Landgut feiert, zelebrieren die Arvalbrüder zum Wohle der Republik, bzw. der pater patriae für den ager Romanus. Gerade dieser Parallelismus mußte Augustus vielversprechend erscheinen. So durfte er mit der politischen Aufwertung des Arval-Kults darauf rechnen, daß weite Teile der Bevölkerung sein Signal verstanden, weil sie es an eine vertraute religiöse Praxis anschließen konnten.

5. Feriae Sementivae und Paganalia: Städtische und ländliche Lustrationen im kalendarischen Kontext 5.0. Einleitung Die oben untersuchten frühsommerlichen Lustrationsriten, die bisweilen unter dem Begriff „Ambarvalia" zusammengefaßt werden, sind sicherlich die prominentesten ländlichen Umgangsriten, aber es sind nicht die einzigen. Das Ritualmuster der reviermarkierenden Prozession mit Opfertieren, deren Schlachtung dem Umgang Gültigkeit verleiht, ist weder an eine bestimmte Jahreszeit noch an ein bestimmtes Objekt gebunden: Es kann um der Herden oder um des Getreides willen durchgeführt werden, im Januar, im Mai oder Juni, zum Wohle eines ländlichen Anwesens und seiner Bewohner, oder auch eines Dorfs, ja des römischen Staates insgesamt. Je nach der Situation, in der es wiederholt wird, verbindet sich das Muster mit neuen Formelementen, erhält es eine veränderte Bedeutung für die teilnehmenden Menschen. Dies soll unsere Untersuchung im folgenden deutlich machen. Die jahreszeitliche Situation wird anders sein, ebenso die soziale Bezugsgröße. Dennoch bleibt das Muster dasselbe. Es wird sich überdies wiederum eine Parallele zwischen „privatem" und staatlichem Fest aufzeigen lassen, die dem oben bezüglich einer Entsprechung von ländlichen „Ambarvalia" und dem Hainfest der Arvalbrüder Gesagten zusätzliche Plausibilität verleiht. Die strukturelle Verwandtschaft zwischen den frühsommerlichen Flurumgängen und anderen, die zur Aussaatzeit durchgeführt wurden, ist so groß, daß sie in der Forschung für einige Verwirrung gesorgt hat. Anlaß dafür waren einige Verse aus dem ersten Buch von Ovids Fasten.^ Sie enthalten deutliche Anklänge an Tibulls oben besprochene Elegie, beziehen

1

Ov. fast. 1, 657-696.

182

II. Ländliche Lustrationsriten

sich aber auf ein Fest im Januar, nämlich die feriae

Sementivae?

Die „jun-

gen Stiere, geschmückt mit K r ä n z e n , " stehen „an der vollen K r i p p e " 3 heißt es da. „ D e n Pflug, der seine Pflicht getan hat, soll der Bauer an den Pfosten hängen". 4 U n d Ovid fordert die Landleute auf: „Die

Dorfge-

meinde soll das Fest begehen! Lustriert euer Dorf, ihr Bauern". 5 Weil Ovid nachweislich nicht nur wie Tibull v o n einer Lustration spricht und dabei allgemein übliche Topoi der Festtagsruhe verwendet, sondern sogar kunstreich bis ins Detail die fragliche Passage v o n Tibulls Elegie 2 , 1 imitiert und transformiert, 6 konnte der Eindruck entstehen, beide D i c h t e r behandelten dasselbe Fest, Tibull schildere ebenfalls ein Winterfest. 7 Z w a r wurde diese These wieder aufgegeben, 8 d o c h stellt sich dann erst recht die Frage, was diese Ubereinstimmung zu bedeuten hat. W a r es vielleicht Ovids Absicht, in seinem Kalendergedicht mit einem poetischen Kunstgriff die Verwandtschaft der beiden Feste deutlich zu m a chen?^

2

3 4 5 6 7

8

9

Ovid (v. 658) bildet den Singular Sementiva als Attribut zu dies. Üblich ist allerdings die Verbindung Sementivae feriae; siehe Varrò ling. 6, 26: Sementivae Feriae dies is, qui a pontificibus dictus, appellatiti a semente, quod sationis causa susceptae. Entsprechend: Paul. Fest. 455 L.: Sementivae feriae fuerant institutae, quasi ex his fruges grandescere possint. Vgl. auch Varrò rust. 1, 2,1: Sementivis feriis in aedem Telluris veneram ... sowie Paul. Fest. 55 L. und Macr. Sat. 1,16, 6. V. 663: state coronati plenum ad praesepe, iuvenci. V. 665: rusticus emeritum palo suspendat aratrum. V. 669: pagus agat festum: pagum lustrate, coloni. Siehe dazu Miller, Ovid's Elegiac Festivals (1991), 108 ff., bes. 116 f. Vgl. schon K. F. Smith, Elegies (1913), 392. Daß sich Tib. 2 , 1 auf die Paganalia oder Feriae Sementivae bezöge, nahmen u. a. an: Marquardt, Römische Staatsverwaltung 3 (1878 /1885), 199; Preller, Römische Mythologie 2 (1858 /1883), 6; Postgate, Selections (1903), 87; Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen (1906), 159; Musurillo, Theme (1967), 263. Mit den Compitalia identifizierten das dort geschilderte Fest Putnam, Tibullus (1973), 159 und Wimmel, Tibull (1976), 33. So widerrief beispielsweise Postgate wenige Jahre später seine Auffassung: On some Tibullian Problems (1909), 127. Vgl. auch die Kritik bei Pöstgens, Tibulls Ambarvalgedicht (1940), 45 f. Daß Ovid mit seinem Material nicht nur spielt, sondern gezielt Bezüge herstellt, habe ich schon andernorts (Kultobjekt [1993], bes. 164 f.) zu zeigen versucht.

5. Feriae Sementivae

und

Paganalia

183

5.1. Ovids Schilderung des Saatfests (fast. 1,657-696) Sementivae, Saatfest, nennt Ovid den Tag im Januar, an dem er die Lustration des pagus stattfinden läßt. Den genauen Termin kann er, so gerne er das in seinem den römischen Festkalender kommentierenden Buch wollte, nicht angeben, denn es handelt sich auch in diesem Fall um feriae conceptivae, also ein jeweils neu — und doch nicht beliebig — festzusetzendes Wandelfest, das natürlich nicht in den Fasten enthalten sein kann.10 Dies hängt wiederum mit seinem landwirtschaftlichen Sinn zusammen. Die Muse, der Ovid kommentierende Äußerungen zum Festkalender in den Mund legt, erklärt: „Wenn der Tag auch für die heilige Handlung nicht festgesetzt ist, so steht doch der Zeitraum fest. (Es ist die Zeit), in der die Saat gesät ist und der Acker fruchtbar wird."11 Die Aufforderung an den Bauern, „auszuspannen", den Pflugrindern, den Pflügern und dem Acker Ruhe zu gönnen, gilt dann, wenn die Aussaat abgeschlossen ist.1^ Dann ist auch die Zeit gekommen, das Lustrationsfest zu feiern. Dies kann freilich im einen Jahr früher, im anderen später der Fall sein, da bekanntlich Temperatur und Niederschläge vom wiederkehrenden statistischen Mittel stets abweichen, das von ihnen abhängende Ende der Saatzeit mithin ebenfalls variabel ist. Alleine daß Ovid hier ein ländliches Lustrationsfest behandelt, legt natürlich den Vergleich mit Tibulls Festschilderung nahe. Gemeinsamkeiten finden sich denn auch in einigen Details. Das Bild der Arbeitsruhe etwa wird von Ovid mit denselben Motiven evoziert, die wir schon von Tibull kennen: Die Rinder werden bekränzt, der Pflug wird aufgehängt. Auch zu Ovids Lustrationsfest gehört ein Gebet, das Bitten um Schadensabwehr einerseits und um Erntefülle andererseits enthält.1·' Verbunden 10

11 12 13

Vv. 657-660: Ter quater evolvi signantes tempora fastos, / nec Sementiva est ulla reperta dies; / cum mihi (sensit enirn) ,lux haec indicitur' inquit / Musa, ,quid a fastis non stata sacra p e t i s - Zu den feriae conceptivae siehe oben, Kap. II 1, 3 mit Anm. 52. V. 661 f.: utque dies incerta sacri, sic tempora certa. / seminibus iactis est ubi fetus ager. - Die Ubersetzung von Börner, Ovidius, Fasten 1 (1957). Siehe die Verse 663 und 665, zitiert oben in Anm. 3 und 4, sowie v. 667 f.: vilice, da requiem terrae semente peracta; / da requiem, terram qui coluere, viris. Vv. 675-694: consortes operis, per quas correcta vetustas / quernaque glans vieta est utiliore cibo, / frugibus immensis ávidos satiate colonos, / ut capiant cultus praemia digna sui. / vos date perpetuos teneris sementibus auctus, / nec nova per gélidas herba sit usta nives. / cum serimus, caelum ventis aperite serenis; / cum

184

II. Ländliche Lustrationsriten

damit ist das Lob der Gottheiten als Kulturbringerinnen; sie werden als Gefährtinnen der Arbeit angerufen, denen sich der Übergang von der urzeitlichen Eichel- zur zuträglicheren Getreidenahrung verdankt.' 4 Doch bei näherer Betrachtung entdeckt man immer mehr Differenzen. Die Göttinnen, denen Gebet und Opfer gelten, sind bei Ovid genau benannt: Nicht eine unbestimmte Mehrzahl von ländlichen Gottheiten wird um ihren Beistand angerufen, sondern Tellus und Ceres. Diese haben nun unmittelbar mit dem Sinn des Fests zu tun: Die Erde hat die „cerealische" Saat empfangen, der Acker ist „trächtig".'5 Dieser Symbolik entsprechend werden die „Mütter der Feldfrüchte" denn auch mit speziellen Opfergaben geehrt: Mit Spelt, vor allem aber mit den Eingeweiden eines trächtigen Schweins.' 6 All dies ist ganz direkt auf die aktuelle Situation des Wirtschaftsjahrs bezogen und gehört zugleich zu den typischen Requisiten des Tellus- und Cereskults. Die ganze Szene hat, anders als Tibulls Schilderung, ausschließlich mit Getreide zu tun. Vom Thema der Kulturentstehung ist bei Ovid nur das Motiv des Ubergangs von der Eichel- zur

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15 16 17

latet, aetheria spartite semen aqua. / neve graves cultis Cerialia rura cávete / armine laesuro depopulentur aves. / vos quoque, formicae, subiectis parcite grants: / post messem praedae copia maior erit. / interea crescat scabrae robiginis expers / nec vitio caeli palleat ulla seges, / et neque deficiat macie nec pinguior aequo / divitiis pereat luxuriosa suis; / et careant loliis oculos vitiantibus agri, / nec sterilis culto surgat avena solo; / tritíceos fetus passuraque farra bis ignem / hordeaque ingenti fenore reddat ager. Vv. 675 f.: consortes operis, per quas correcta vetustas / quernaque glans vieta est utiliore cibo. - Vgl. auch Varrò rust. 1, 2,1: Das gelehrte Gespräch, das der poetischen Fiktion zufolge dem landwirtschaftlichen Werk zugrundeliegt, findet am Feiertag der Sementivae im Tellus-Tempel statt. Ich sehe darin einen Hinweis auf die Kulturstiftungsassoziationen, die sich mit der Göttin und insbesondere mit dem Saatfest verbinden. Fetus ager heißt es in v. 662. Vv. 671 f.: placentur frugum matres, Tellusque Ceresque, / farre suo gravidae visceribusque suis. Vgl. Le Bonniec, Culte (1958), 48 ff. - Daß ein Fest, das ja immer nur einen Punkt im Jahreslauf herausgreift, trotzdem auf das ganze Wirtschaftsjahr bezogen ist, zeigt plastisch Fabius Pictor bei Serv. auet. in Verg. georg. 1, 21. Er zählt die zwölf Götter auf, die der Priester beim Opferfest für Tellus und Ceres anruft. Sie stehen für Arbeitsprozesse vom Pflügen bis zum Speichern: Fabius Pictor hos deos enumerai, quos invocai ßamen sacrum Cereale faciens Telluri et Cereri: Vervactorem, Reparatorem, Inporcitorem, Insitorem, Obaratorem, Occatorem, Sarritorem, Subruncinatorem, Messorem, Convectorem, Conditorem, Promitorem. Landwirtschaftliche Erläuterungen bei Thielscher, Des Marcus Cato Belehrung (1963), 285.

5. Feriae Sementivae

und

185

Paganalia

Getreidenahrung übrig geblieben;18 die Sorgen und Wünsche des Gebets beziehen sich ausschließlich auf das Gedeihen des Korns. Daß sich diese Reduktion1^ keiner einfachen Kürzung, sondern einer inhaltlichen Konzentration verdankt, zeigt die Erweiterung des Gebetstexts. Hier führt Ovid detailfreudig eine stattliche Liste von Sorgen und Hoffnungen auf, die von der Aussaat bis zur Ernte, vom Wetter bis hin zu gefräßigen Ameisen und Vögeln sowie dem Befall mit Getreiderost und Mutterkorn reichen. Die Sorge um das Gedeihen der Saat, die in diesem Gebet ihren Ausdruck findet, ist natürlich einem Fest angemessen, das Sementivae feriae, Saatfest, heißt. Wie aber haben wir es zu verstehen, daß Ovid im Rahmen seiner Behandlung eben dieses Rituals die Bauern auffordert, ihr Dorf zu lustrieren? Paßte ein ritueller Umgang um den pagus nicht viel eher zu einem anderen Fest, nämlich den Paganalia? Falls Ovid tatsächlich auf diese anspielt, heißt das dann, daß es eine Entsprechung zwischen Sementivae und Paganalia gibt? Manche Forscher identifizieren sie geradewegs, andere behandeln sie hingegen völlig getrennt. Auch wurde der Vorwurf gegen Ovid erhoben, er habe unzulässig Dinge vermengt, die nicht zusammengehörten.20 Denn Sementivae sind nicht dasselbe wie Paganalia-, antike Quellen belegen dies. Varrò und Macrobius erwähnen beide nebeneinander.21 Daß es sich dabei um verschiedene Feste und nicht nur um verschiedene Namen für dasselbe Fest handelt, ist eindeutig. Wenn wir aber einmal versuchen, den Fastendichter so ernst nehmen, wie er es verdient, und dabei annehmen, Ovid habe sich bei dieser Zusammenstellung sehr wohl etwas gedacht, müssen wir die Gründe finden, die ihn zu dieser Kombination veranlaßt haben.

18 19 20

21

Vgl. Verg. georg. 1, 7 ff. und 1, 347 ff. (siehe dazu oben, Kap. II 3. 2.) Gerade weil Tibulls Ansatz komplexer ist, steht er eher in enger Beziehung zu Catos Ritualvorschrift als zu der Passage aus den Fasten Ovids. Eine Auswahl der wichtigsten Forschungsliteratur zu Sementivae und Paganalia: Marquardt, Römische Staatsverwaltung 3, (1878 / 2 1885), 198 ff.; Fowler, The Roman Festivals (1899/1908), 294 ff.; Wissowa, Religion (1902 / 2 1912), 143, 193, 439 f. mit Anm. 7.; G. Rohde, Paganalia (1942); Börner, Fasten 2 (1958), Kommentar zu O v . fast. 1, 658; Latte, Römische Religionsgeschichte (1960 /1967), 41 f. u. 71 f. - Scullard, Festivals (1981), 68 schrieb ganze Passagen fast wörtlich von Fowler ab. Varrò ling. 6, 24 und 26; Macr. Sat. 1, 16, 6: conceptivae

sunt

quae

quotannis

a

186

II. Ländliche Lustrationsriten

5.2. Zum Verhältnis von Sementivae und Paganalia Ovids Darstellung der Sementivae wird durch die anderen Quellen, die wir zu diesem Fest besitzen, bestätigt. So heißt es bei Varrò, die Sementivae feriae seien derjenige Tag, der von den pontífices (also Priestern des Staatskults) angesagt werde, genannt nach der Aussaat, weil er um ihretwillen begangen werde.22 Entsprechendes lesen wir im Festus-Exzerpt des Paulus oder bei Lydos.2·' Letzterer erklärt dabei ausdrücklich, für das Saatfest der Römer könne es gar keinen festgesetzten Tag geben, weil die Aussaat sich je nach Wetter verschiebe.24 Auch bei diesem Fest des römischen Staatskults 25 war es demnach wichtiger, einen jahreszeitlich passenden Termin zu wählen, als es fest im bürgerlichen Kalender zu verankern, denn der Festtag hatte unmittelbar etwas mit seiner Bedeutung zu tun: Er wurde bestimmt von landwirtschaftlichen Arbeitsabläufen, die wiederum unmittelbar abhängig sind von Naturprozessen. Was für die Sementivae gilt, läßt sich genauso von den Paganicae sagen: Sie wurden „um des gleichen Ackerbaus willen festgesetzt, damit sie jedes Dorf (=pagus) auf den Äckern feiert"; eben daher hätten sie ihren Namen. 26 Hier liegt nun m. E. der Schlüssel zum Verständnis zunächst von Ovids Darstellung, schließlich aber auch der Feste selbst. Denn nichts magistratibus

vel a sacerdotibus

ut sunt Latinae Sementivae 22

Varrò ling. 6, 26: Sementivae semente,

23

concipiuntur

Paganalia

in dies vel certos vel etiam

incertos

Compitalia.

Feriae dies is, qui a pontificibus

dictus, appellatus a

quod sationis causa susceptae.

Paul. Fest. 455 L.: Sementivae descere

possint.

παρά

'Ρωμαίοις

feriae fuerant

institutae, quasi ex bis fruges

gran-

Vgl. Lyd. mens. 3, 9: Αί του σπόρου έορταί, αί λεγόμεναι σημαντΐβαι,

τουτέστι

σπόριμοι,

ούκ

ελαχον

ώρισμένην

ήμέραν, οτι ούκ ευπρεπής πάς καιρός εις αρχήν σπόρου· ή γαρ πρώιμος δια τάς έπομβρίας ή όψιμος δια τάς βραδύτητας γίνεται. 24

E r spricht vom Anfang der Saat; aber je nach Wetterlage und Zeitpunkt des Beginns verschiebt sich dann ja auch der Abschluß. Lydos, a. a. O. zufolge soll es zwei Feste gegeben haben, und zwar in einem Abstand von sieben Tagen: „das erste für Demeter als Ge, das zweite für Kore. Alle Samen sprießen nämlich innerhalb von sieben Tagen". Anschließend erläutert er, daß der Sieben-Tage-Rhythmus auch eine Rolle bei der Embryonenentwicklung spiele.

25

Daß es sich um ein Staatsfest handelt, belegt Varrò ling. 6, 26 (zitiert oben in Anm. 22), denn nur ein solches wurde von den pontífices

angesagt. Indirekt weist

auch Ovid darauf hin, indem er den Termin in den Fasten „sucht". 26

Varrò ling. 6, 26 (zitiert oben in Anm. 2 2 ) fährt fort: Paganicae eiusdem turae causa susceptae, ut haberent in agris omnis pagus, unde Paganicae

agricul-

dictae.

5. Feriae

Sementivae

und

Paganalia

187

spricht dagegen, daß wir Ovids Aufforderungen an den pagus, das Fest zu begehen, und an die Bauern, den pagus zu lustrieren,27 auf eben diese Pagamene beziehen dürfen, die dem genannten Varro-Zeugnis zufolge denselben agrarischen Sinn haben wie die Sementivae. Worin aber unterscheiden sie sich dann von ihnen? Auch hier hilft uns der römische Antiquar weiter: Kurz bevor er auf Sementivae und Paganicae zu sprechen kam, hatte er die Paganalia erwähnt und erläutert, es handle sich dabei nicht um ein Fest des ganzen Volkes, sondern eben um eine Feier der Pagus-Bewohner.2® Daß Varrò sich anschließend für die adjektivische Namensform Paganicae^ (seil, feriae) entschied, ist als Analogiebildung zu Sementivae (seil, feriae) zu erklären und berechtigt uns sicherlich nicht zu der Folgerung, hier sei ein anderes Fest gemeint. Wenn wir die Angaben kombinieren, kommen wir also zu folgendem Schluß: Die von Ovid erwähnte Lustration der Landgemeinden im Januar, bekannt unter dem Festnamen Paganicae oder auch Paganalia, hatte denselben Sinn wie das staatsrömische Aussaatfest; sie bildete ein eigenständiges ländliches Äquivalent zu diesem. Eine Schwierigkeit bleibt allerdings bestehen: Wir kennen eine Inschrift, in der eine Lustration des Pagus im Juni erwähnt ist."5® Demnach konnte anscheinend der winterliche Ritus - unter geänderten Vorzeichen — im Sommer wiederholt werden. Ob dies öfter auch andernorts geschah oder nur ausnahmsweise wie im vorliegenden Fall, bei dem es sich um eine Geburtstagsfeier handelt, muß offen bleiben.

27

Fast. 1, 669: pagus agat festum: pagum

28

Varrò ling. 6, 24. Er will eigentlich das Septimontium erklären und zieht die Paga-

lustrate,

nalia zum Vergleich heran: Dies Septimontium in quis sita Urbs est; feriae qui sunt alieuius 29

non populi,

coloni. nominatus

ab his Septem

sed montanorum

modo,

ut

montibus, Paganalibus,

pagi.

Diese Form sonst nur auf der Inschrift RhM 29, 1914, 130 belegt: mag(istri) iter(um) paganicam

fac(iendam)

ex p(agi) s(citu) c(uraverunt)

eidemq(ue)

pag(i)

p(ecunia)

[s(ua)t] . . . Siehe dazu Latte, Religionsgeschichte (1960 /1967), 42, Anm. 2: Unter sei paganica

paganica

lustratio

zu verstehen. „Möglich ist freilich auch, daß tesse-

ra zu ergänzen ist (CIL 8, 25423; 9, 556; 11, 1947). Der Herausgeber erklärt paganicam 30

(aedem),

aber einen Tempel errichtet man nicht

C I L 9, 1618: M. Nasellius pagi Lucul. porticum perpetuum

- Sabinus

cum apparitorio

VI Id. Iun. die natale

iusserunt

ea condicione,

suetudine

sua

cenent.

- et Nasellius et compitum

Sabini epulantib.

ut Non. Iun. pagum

iterum."

Vitalis - paganis a solo pecun. hic paganis

communib.

sua fecerunt annuos CXXV

lustrent et sequentibus

et in dari

diebus ex con-

188

II. Ländliche Lustrationsriten

Welche Bedeutung können nun rituelle Umgänge um die jeweiligen Landgemeinden im Januar haben? Um dies zu verstehen, müssen wir uns die Zeit nach dem Abschluß der Âussaatarbeiten vor Augen führen. Wenn das Getreide im Boden ist, entsteht eine psychologisch zwiespältige Situation. Zum einen ist jetzt eine schwierige und mühsame Arbeitsphase abgeschlossen, und man kann aufatmen. Zum andern aber beginnt eine Zeit des Sorgens: Viel kostbares Getreide ist verstreut, in den Acker geworfen worden, und es bleibt nur die Hoffnung, daß es nicht umsonst geschah. 31 Sorgfältig hat der Bauer das passende Saatgut für den jeweiligen Boden gewählt, hat das Feld gut gepflügt, in mehreren Arbeitsgängen für die Aussaat vorbereitet und diese nun mit Bedacht durchgeführt. Aber wird sich die Mühe lohnen? Wird nun der Regen in der richtigen Menge fallen? Wird die Saat aufgehen? Wird sie von Krankheiten und Schädlingen verschont bleiben? Für eine gute Ernte werden außer bestimmten Arbeitsschritten viele Faktoren ins Gewicht fallen, die nicht mehr durch zweckrationales Handeln beeinflußbar sind. Ob die Arbeit Früchte trägt, steht nicht allein in der Macht des Landwirts. Daß er sich in einer solch kritischen Phase göttlicher Hilfe zu versichern sucht, ist verständlich. Das kostbarste, was er hatte, gab er der Erde. So bittet er sie wie ein soziales Gegenüber, ihm zu gegebener Zeit eine entsprechende Gegengabe zu schicken. 32 Die Gottheit wird seines Dankes gewiß sein - das hat uns Tibull gezeigt. Die Beziehung ist sogar noch enger als die zwischen interagierenden Partnern, die Gaben austauschen. Sie ist darüber hinaus mit sexuellen Konnotationen versehen: Die Erde ist „geschwängert", wie es bei Ovid hieß. 3 3 Mit Bangen wartet der Bauer nun, daß sie ihm neues Leben schenkt. Alle Landwirte einer Region befinden sich in derselben Situation. Sie teilen die Freude, die entsteht, wenn sich die Anspannung der Arbeit löst, und sie teilen die Sorgen, die das Wachsen des Getreides begleiten, bis es glücklich eingebracht ist. Ein Fest am Ende der Aussaatperiode verleiht dieser Gemeinsamkeit Ausdruck. Doch das durch den parallelen Lebens-

31 32

33

Diese Situation ist nirgends eindringlicher beschrieben als in Hesiods PandoraMythos, erg. 94 ff. Zur Interpretation siehe G. Baudy, Metaphorik (1982), 62 ff. Zur soziomorphen Projektion siehe Topitsch, Phylogenetische und emotionelle Grundlagen (1962), 65 ff. Zum Gabentausch grundlegend Mauss, Essai sur le don (1923/24). Zur symbolischen Paral lei i sierun g der Fruchtbarkeit von Frau und Feld vgl. auch D. Baudy, Keuschlamm-Wunder (1989), 25 ff.

189

5. Feriae Sementivae und Paganalia

rhythmus geprägte Miteinander der Nachbarn ist nicht ohne Anspannung, denn sie befinden sich zugleich in der Situation von Konkurrenten, ja sogar möglichen Feinden. Immer wieder stellt sich die Frage: Werden die Nachbarn nun die Grenzen respektieren? War das Ackerland bisher schon ein Gut, das es zu schützen galt, so ist es durch die eingebrachte Saat noch kostbarer geworden. Das Schmälern des Feldes wird von nun an nicht mehr nur Landraub 34 sein, sondern zugleich auch K o r n d i e b s t a h l . E s gilt also, doppelt auf der Hut zu sein. Daß die Grenzproblematik bei der Lustration eine wichtige Rolle spielte, belegt ein Zitat des Siculus Flaccus aus den Schriften der Feldmesser: „Doch auch Pagi werden oft deutlich begrenzt: Nicht deswegen, glaube ich, weil künftig die Frage auftauchen könnte, wessen Territorium diese Pagi sind, sondern bis wohin sich die Territorien erstrecken. Das kann doch auch beispielsweise daraus ersehen werden, daß die Magistri pagorum das Gemeindeland zu lustrieren pflegen, damit wir (die Furche) so weit ziehen, wie weit sie lustrierten." 36 Der rituelle Umgang macht also die Grenzen deutlich; die Opfer, so heißt es in unserer Quelle weiter, verleihen ihm Verbindlichkeit. Nur wer in Eintracht mit der Nachbarschaft lebt, kann (wenigstens bis zu einem gewissen Grad) sorglos sein. Das gemeinsame Feiern hat deshalb auch den Sinn, eben dieses gute Einvernehmen herzustellen und zu pflegen. Die Höfe, die gemeinsam einen pagus bilden, sind elementar aufeinander angewiesen. Ein Paulus-Exzerpt von Festus bietet uns eine Volksetymologie an, die als Etymologie wertlos, zur Beschreibung des Dorflebens aber aufschlußreich ist: Was einen pagus ausmache, sei der gemeinsame

34

Der Grenzstein ( t e r m i n u s ) stand unter besonderem Schutz: Wer ihn beschädigte oder

versetzte

(Dion.

Hal.

ant.

2, 7 4 , 3 )

oder

gar umpflügte

(Paul.

Fest.

505, 20 f. L.) galt - dem aitiologischen Mythos nach aufgrund einer Verordnung des Numa - als sacer,

mithin als vogelfrei.

35

Der nächtliche Korndieb verfällt Ceres: Plin. nat. 18,12. Vgl. Le Bonniec, Culte

36

Sicul. Flacc. de condic. agr. 129,11 ff. Thulin = 164, 25 ff. La.: Sed et pagi saepe

(1958), 164 ff. si-

gnificanter finiuntur: de quibus non puto quaestionem futurum, quorum territorium ipsi pagi sint, sed quatenus territoria, quod tarnen intellegi potest vel ex hoc, magistri pagorum quod pagos lustrare soliti sunt, uti trahamus quatenus lustrarent. - Praeterea et regiones soient etiam diversa sacra facere: ita videndum erit qualiter pagi

sacra faciant.

Vgl. dazu insbesondere Marquardt, Rom. Staatsverwaltung

3, (1878 / 2 1885), 202 und Latte, Rom. Religionsgeschichte (1960 / 1 9 6 7 ) , 42, mit Anm. 2.

II. Ländliche Lustrationsriten

190

Brunnen, danach sei er benannt. 37 Gemeinsam von einer Wasserquelle abhängig zu sein, wirkt verbindend und schafft zugleich ein Konfliktpotential. Falls ein Notfall eintritt, ist es gut, wenn man sich auf die Dorfgemeinschaft verlassen kann. Daraus ist in der Neuzeit das Gildenwesen entstanden. Erst spät haben Versicherungen deren Rolle übernommen. Zugleich hat die Pflege der guten Nachbarschaft aber auch den Sinn, Präsenz zu zeigen, Reviergrenzen zu markieren. Im Gefüge des pagus definierten sich die einzelnen Gehöfte. Dieser zugleich nachbarschaftlich-verbindende und reviersichernde Sinn wird bei verschiedenen verwandten Festen deutlich, bei den Compitalia etwa oder auch bei den Terminalia, dem Grenzsteinfest Ende Februar. Das in sich strukturierte Dorf mußte nach außen hin eine solidarische Gemeinschaft bilden, die gegebenenfalls die Felder gegen Eindringlinge schützte. Dies konnten zu Beginn der Erntezeit vor allem Soldaten sein, die ihren Proviant mit Getreideraub bestritten, aber auch einfache Diebe und Räuber oder freilaufende Tiere, zum Beispiel Schweine. Dafür, daß gerade dieses Tier als Opfer in einer festen Relation zu Ceres stand, führte Ovid als Grund an, es sei ein Schädling der frisch aufgekeimten Saat, seine Schlachtung mithin eine gerechte Strafe. 38 Die Paganalia hatten also nicht nur eine agrarische, sondern zugleich eine wichtige soziale Bedeutung. Ausschließlich diese interessierte Dionysios von Halikarnaß, als er sich mit dem Aition des Fests befaßte; 39 auf Aspekte, die mit Ackerbau und Fruchtbarkeit zu tun hatten, ging er nicht ein. Er hatte zunächst die städtischen Compitalia beschrieben, die der König Servius Tullius nach der Neueinteilung Roms gestiftet haben sollte. Dann folgte in der Darstellung der (mythischen!) Urgeschichte die Aufteilung des ländlichen Raums. Die - natürlich griechische — Etymologie weist auf den Sicherheitsaspekt hin: Mit „Pagi" seien ursprünglich Hügel gemeint, die Zufluchtsorte für die Bauern wurden. Sie bekamen, erläutert Dionysios, ihre „Archonten",4® die sowohl die Personen ihres Bezirks als auch deren Ländereien im Kopf haben mußten, denn es ging um die Kon-

37

Paul. Fest. 247 L.: Pagi dicti a fontibus, lingua Dorica π α γ α ί appellantur.

38

Ο ν . fast. 1, 349 ff. Siehe dazu - mit grundlegender Einordnung in die Tiertötungsproblematik - Gladigow, Rechtfertigung (1971), 6 f.

quod eadem aqua uterentur.

Aquae

enim

39

Dion. Hal. 4 , 1 5 .

40

Vgl. Sicul. Flacc. de condic. agr. 129,11 ff. Thulin = 164, 25 ff. La. Er schreibt von den magistri pagorum quod pagos lustrare soliti sunt.

5. Ferine Sementivae

und Paganalia

191

trolle über die Abgaben, zu denen die Bevölkerung verpflichtet war, und außerdem um den Uberblick über die wehrfähigen Männer. Die an diese Passage anschließende parallele Darstellung der Einteilung der römischen Bürgerschaft, die in einer lustratio populi auf dem Marsfeld gipfelt, bestätigt, daß wir hier mit Recht an einen ländlichen Zensus denken dürfen. Auch die Methode der Volkszählung war — Dionysios von Halikarnaß zufolge — dieselbe: Zur besseren Kontrolle wurden „Altäre für die Schutzund Wächtergötter des Dorfes" 41 angeordnet sowie die entsprechenden jährlichen Opfer. Die Paganalia wurden eingesetzt „als ein sehr heilig zu begehendes F e s t . . . dessen Gesetze die Römer noch heute streng beobachten". 42 Bei diesen gemeinsamen Opfern hatten die Gemeindemitglieder bestimmte Münzen abzuliefern, gesondert nach Geschlecht und Altersklasse, so daß man nur noch die Münzen zu zählen brauchte und den Zensus somit auf bequeme Weise erledigen konnte. 4 ·' Instruktiv ist in diesem Zusammenhang die Schilderung Plutarchs: 44 Numa habe auf Grund seiner großen Wertschätzung des Ackerbaus die ganze Feldflur in Pagi eingeteilt und Aufseher eingesetzt. Höchstpersönlich habe er dann bisweilen die Felder besichtigt und die Arbeitsleistungen der Bürger zusammen mit ihrer Moral inspiziert. Je nachdem habe er Ehrungen und Strafen verteilt. Der zweite Urkönig erscheint hier also wie ein Ur-Zensor; er nimmt persönlich einen lustrierenden, musternden Umgang vor. Der reale Zensor hat den Umgang ebenso wie der Catonische Bauer angeordnet und nicht selbst durchgeführt, aber auch er war für den Ritus persönlich verantwortlieh. 4 5

41

Dion. Hal. 4 , 1 5 , 3: βωμούς . . . θεών επισκόπων τε και φυλάκων του πάγου.

42

Ebd.

43

Auf dieselbe Weise, nur etwas komplizierter, schildert Dionysios anschließend das Taxieren der Stadtbürger. Weiteres dazu siehe unten, Kap. III 2.1.

44

Numa 16.

45

Näheres dazu unten, Kap. III 2. 2.

192

II. Ländliche Lustrationsriten

5.3. Ländliches Fest und Staatskult Stadt und Land erfahren bei Dionysios von Halikarnaß eine parallele Behandlung: Zuerst wird die Struktur der Stadt entworfen, 46 dann die entsprechende des Landes; bei der Einteilung der Bürgerschaft schlägt das Pendel wieder zurück. Der Idee nach entsprechen sich also beide Organisationsformen, weshalb auch ihre Gründung als gleichzeitig dargestellt wird. Für diesen Parallelismus gibt es m. E. einen konkreten Grund: Die Riten, die in der Stadt und auf dem Land gefeiert wurden, entsprachen einander tatsächlich. Dionysios bezeugt, daß die Feste „immer noch" so gefeiert wurden, wie Servius Tullius sie angeblich installiert hatte; das Aition ist also eine Projektion derjenigen Kultpraxis in die Urzeit, die Dionysios zwischen 30 und 8 v. Chr., als er in Rom lehrte, kennenlemen konnte. Wenn wir in den Sementivae das staatskultische Äquivalent der Paganalia (= Paganicae) sehen, haben wir davon auszugehen, daß jenes Fest repräsentativ in der Hauptstadt gefeiert wurde. Als Zentrum eines Staatswesens hatte sich Rom auch mit den Interessen des Umlandes zu identifizieren, zumal da es den Städtern der Antike durchaus bewußt gewesen sein dürfte, wie sehr sie vom landwirtschaftlichen Ertrag, sei es der Region, sei es der auswärtigen „Kornkammern", abhingen. (Die Dauerversorgung ist bekanntlich eine rezente Neuerscheinung.) Darüber hinaus besaßen viele Römer der führenden Gesellschaftsschicht Landgüter, deren Wirtschaftlichkeit für sie relevant war, auch wenn sie den Boden nicht persönlich bearbeiteten. Insofern konnte es durchaus angebracht scheinen, wenn Ovid ein Gebet an Tellus und Ceres formulierte, 47 in dem er sich zum 46

Dion. Hal. 4 , 1 5 , 1 . Servius Tullius habe als letzter König, der das Pomerium erweiterte, Rom mit einer Mauer umgeben, es in vier Teile geteilt und die Errichtung von Larenaltären an den Compita veranlaßt. Die Compitalia würden „heute noch" gefeiert. Dieses Aition ist nicht nur deswegen interessant, weil es lohnte, der Parallele zwischen Compitalia und Paganalia nachzugehen, sondern auch, weil sich im Hinweis auf die Errichtung von Larenaltären in der Stadt Augusteische Praxis spiegelt. Dazu Zanker, Augustus (1987 /1990), 135 ff. mit den Abb. 106 ff.

47

Fast. 1, 675-694: consortes operis, per quas correcta vetustas / quernaque glans vieta est utiliore cibo, / frugibus immensis ávidos satiate colonos, / ut capiant cultus proemia digna sui. / vos date perpetuos teneris sementibus auctus, / nec nova per gélidas herba sit usta nives. / cum serimus, caelum ventis aperite serenis; / cum latet, aetheria spargite semen aqua. / neve graves cultis Cerialia rura cávete / apnine laesuro depopulentur aves. / vos quoque, formicae, subiectis parche gra-

5. Feriae Sementivae und Paganalia

193

Sprachrohr der Bauern machte. Er griff darin, wie wir gesehen haben, traditionelle Topoi auf: den Preis auf die Göttinnen, Dank für den Ubergang von der Eichelnahrung zur Speise der Kultur, Bitten um Hilfe bei den Akkerbaugeschäften und gegen die zahlreichen Schädlinge und Krankheiten, die dem Getreide drohen, den Wunsch nach einer guten Ernte. Mit den abschließenden Versen formulierte Ovid sein Verhältnis zu den Bauern, die er zur Lustration des pagus aufgerufen hatte: „Das erbitte ich für euch, das erbittet selbst, ihr Bauern, und eine der beiden Göttinnen möge das Gebet wahr werden lassen." 48 Der Dichter kann an den städtischen Sementivae stellvertretend das aussprechen, was in jedem Dorf beim Fest ebenfalls zu beten ist. Nicht nur sentimentale Städterromantik ist das, sondern durchaus ein Akt der Solidarisierung.49 Wie groß die wechselseitige Abhängigkeit von Landwirtschaft und Staatsmacht ist, bringt Ovid in dem „Fürstenlob" zum Ausdruck, das auf das angeführte Gebet folgt und damit das erste Buch der Fasten abschließt. Er beschwört den Kaiser als Garanten des Friedens: Germanicus habe die Verdrängung des Pflugs durch das Schwert, des Pflugstiers durch das Streitroß, die Verwandlung der Hacken in Wurfspieße, der Spaten in Helme aufgehoben. Jetzt könne wieder gepflügt und gesät werden. Und sprichwortartig endet Ovid: „Der Friede ernährt Ceres, ein Friedenskind ist sie."^ Die kleinen Reviere der Bauern sind nur sicher und fruchtbar, solange das Staatswesen vom Krieg verschont bleibt.

48 49

nis: / post messem praedae copia maior erit. / interea crescat scabrae robiginis expert / nec vitio caeli palleat ulla seges, / et neque deficiat macie nec pinguior aequo / divitiis pereat luxuriosa suis; / et careant loliis oculos vitiantibus agri, / nec sterilis culto surgat avena solo; / tritíceos fetus passuraque farra bis ignem / hordeaque ingenti fenore reddat ager. Vv. 695 f.: haec ego pro vobis, haec vos optate coloni, / efficiatque ratas utraque diva preces. Anders als Beard, Complex (1987), 2, denke ich nicht, daß die städtische Gesellschaft, mit der wir es in Rom zu tun haben, „einige Jahrhunderte später" anzusetzen ist als die bäuerliche (die ich im übrigen nicht für „primitiv" halte). Beide koexistierten, und selbst heute ernähren wir uns glücklicherweise noch von den Erzeugnissen des Ackerbaus.

50

Ov. fast. 1, 704: Pax Cererem nutrit, Pads alumna Ceres. - Ovid arbeitet hier mit traditionellen Motiven, siehe etwa Aristoph. Pax 552 ff. Vgl. auch Jesaja 2, 4 („Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus

194

II. Ländliche Lustrationsriten

5.4. Zusammenfassung Im vorliegenden Kapitel ging es über die Klärung von Einzelfragen zu den Sementivae oder Paganalia hinaus darum, an einem Beispiel aufzuzeigen, inwiefern wir es bei den Lustrationen mit einem rituellen Muster zu tun haben. Dieses läßt sich nämlich in einem jeweils anderen Kontext wiederholen, wobei es in verschiedener Hinsicht variiert wird. Der Umgang kann einem kleineren oder größeren Territorium gelten: einem ländlichen Anwesen etwa, einer Landgemeinde, Stadt, oder dem Staat insgesamt. Jedem „Revier" ist eine jeweils spezifische Form der Gemeinschaft zugeordnet: die familia, zu der auch die zum Haus gehörigen Sklaven und Großvieh wie der Pflugstier zählen, die Dorfgemeinschaft oder eben größere soziale Einheiten. Beim lustrierenden Umgang konstituiert sich eine Gruppe, die nach innen ihre Zusammengehörigkeit und hierarchische Ordnung demonstriert, nach außen aber ihre besonderen Interessen vertritt. Wird beispielsweise das einzelne bäuerliche Anwesen lustriert, gehören die Nachbarn bereits zum „Draußen"; vollzieht sich die Lustration auf Dorfebene, bilden sie hingegen eine Gemeinschaft, die sich gegen nicht Zugehörige abgrenzt. Besonders interessant sind Fälle wie die „Ambarvalia" oder die Sementivae, bei denen sich auf der Ebene des Staatskults ein Ritual wiederholt, das seinen primären Platz in einem kleineren, ländlichen Rahmen hat. Diese Verdoppelung erhebt ein bestimmtes Partikularinteresse zum „Staatsziel", demonstriert das gemeinsame Interesse aller am je besonderen Anliegen. Die staatliche Feier in der Hauptstadt vertritt repräsentativ die zahlreichen über das Land verstreuten Veranstaltungen und macht sich, wie Ovid es vorführt, zum Sprachrohr der Bauern. Dabei wird dem Umstand Rechnung getragen, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme aufeinander angewiesen sind: So hängt die Versorgungslage der Stadt von der Produktion auf dem Land ab; zu den Bedingungen für einen guten Ertrag gehören wiederum staatliche Friedensgarantien. Die Beispiele ließen sich vermehren. Das Ritual variiert jedoch auch im Hinblick auf andere Parameter. Insbesondere steht es in einem je spezifischen wirtschaftlichen Kontext. Bleiben wir zunächst im Bereich der Landwirtschaft. Hier kann der rituelle

ihren Lanzen") oder -

umgekehrt -

Micha 4, 3 bzw. Joël 4 , 1 0

(„Schmiedet

Schwerter aus euren Pflugscharen und Lanzen aus euren Winzermessern!").

5. Feriae Sementivae und Paganalia

195

Umgang auf ganz bestimmte Bereiche von Ackerbau und Viehzucht bezogen sein; es werden etwa speziell die Schafe oder das Getreide lustriert. Eine wichtige Rolle spielt auch der gewählte Termin: Der Bezug des Ritus zur Lebenswirklichkeit ändert sich mit der Jahreszeit, in der er durchgeführt wird. Abhängig vom „seasonal pattern" verbinden sich mit der Lustration je besondere Absichten. So ist es beispielsweise etwas anderes, einen pagus im Januar zu lustrieren, als dasselbe im Juni zu tun, denn nicht nur die Situation der Natur, von der ein Bauer sich abhängig weiß, wandelt sich im Jahreslauf, sondern auch die Auseinandersetzung mit ihr, die menschliche Arbeit, organisiert sich mehrmals neu; damit verbunden sind auch wechselnde soziale Faktoren. Das sich unter diesen Umständen wiederholende Ritualmuster wird konkret gerade durch seine variablen Elemente: Insbesondere variieren die Opfergaben je nach dem intendierten Bezug zur Lebenswirklichkeit. Menschliche Akteure sind in verschiedener Weise beteiligt. Göttliche Interaktionspartner können durch andere ersetzt oder durch besondere Epitheta respezifiziert werden. Zwar sind alle Teile und Aspekte des Ritus selbst Bedeutungsträger, doch wird ihr Zeichengehalt durch die sprachlichen Anteile des Kults erheblich verdeutlicht, vertieft und ergänzt: Wo begleitende Gebete und aitiologische Mythen zur Verfügung stehen, läßt sich der mit dem rituellen Handeln verbundene Sinn auf komplexere Weise verstehen als ohne das Medium der Sprache.

6. Vom lustrale malum zur Eschprozession 6.1. Das lustrale malum Insbesondere in der älteren Forschung wurde diskutiert, ob wir für die kalendarische Fixierung der „Ambarvalia" etwas gewinnen können, wenn wir die Erzählung vom Martyrium des heiligen Sisinnius heranziehend Dieser wurde zusammen mit zwei Gefährten namens Martyrius und Alexander zu den heidnischen Anauni, die das nördlich von Trient gelegene Nonstal (Val di Non) besiedelten, entsandt. Die drei Missionare lebten dort als Asketen und bauten eine Kirche. Schließlich aber kam es im Jahre 397 Ende Mai zu einem folgenschweren Zwischenfall: Die Anauner veranstalteten eine Prozession „um die Grenzen der Felder", die Vigilius, Bischof von Tridentum, in seiner Schilderung des Vorfalls ein lustrale malum, eine „üble Lustration" nennt.^ Weil sich bei diesem Fest ein Neubekehrter aus der Landgemeinde ausschloß, indem er das Opfer an Saturn verweigerte, richtete sich der Zorn der Anauner gegen die Missionare. Sie wurden mißhandelt und tags darauf ermordet; die zerstörte Kirche wurde ihnen zum Scheiterhaufen. So traten schließlich die drei getöteten Kirchenmänner in dieser „üblen Lustration" an die Stelle des sonst bei einem lustrum üblichen dreifachen Tieropfers.' Dies gibt dem Tridentiner Bischof Gelegen-

1

Die Überlieferung: Vigilius v. Tridentum, ep. 1 u. 2, Migne P L 13, eoi. 5 4 9 - 5 5 8 ; Maximus v. Turin, serm. 81 u. 82, Migne PL 57, col. 6 9 5 - 6 9 8 (= Acta Sanctorum VII, 29. Mai, 4 0 - 4 4 ) , jetzt bei Mutzenbecher, C C L 23. - Stellvertretend sei Usener, Alte Bittgänge (1887), / Weihnachtsfest (1888 /1911), 306, zitiert: „Man entnimmt daraus, dass die ambarvalien noch bis zum ende der kaiserzeit von den bauern ganz Italiens bis in die alpenthäler hinein geübt wurden, auch an gleichen tagen."

2

Vigilius, ep. 2, 3, Migne P L 13, col. 553: lustrale malum circa fines agrorum . ..

3

Vigilius, ebd. - Maximus zufolge hätten die Anauner „ihr gewohntes Sakrileg" lustrum genannt (assueto sacrilegio, quod lustrum dicunt).

Er spielt an dieser Stelle

(serm. 81, Migne P L 57, col. 695) den Begriff lustrum im Sinne von „Reinigung" gegen die Verunglimpfung des heidnischen Ritus als pollutio aus, doch das bedeutet nicht, daß er ihn ausschließlich um des Wortspiels willen gebraucht (so Pascal,

198

II. Ländliche Lustrationsriten

heit, in seinen Briefen ausgiebig von der Opfermetaphorik Gebrauch zu machen. Nicht lange nach ihrem Tod wurden die drei als Märtyrer verehrt, und der Reliquienkult setzte ein. 4 Ihr Todestag - und somit der Tag, an dem die katholische Kirche das Fest der „Nonsberger Märtyrer" begeht - war der 29. Mai. Genau dieses Datum hat die Heiligenlegende für die Forschung so interessant gemacht, und zwar deshalb, weil der 29. Mai auch als Termin für das Fest der Arvalbrüder im Dea-Dia-Hain belegt ist. Es wurde daher ein Zusammenhang zwischen diesem Ritus der römischen Staatsreligion und jenem Lustrationsritus im Nonstal, der den Tod der Missionare nach sich zog, erwogen. 5 Dagegen wurde mit Recht eingewandt, daß das lustrale malum selbst offensichtlich bereits am 28. Mai stattgefunden hatte, denn die Märtyrer starben erst einen Tag nach der Prozession.6 Doch sollte uns diese Differenz m. E. nicht dazu bringen, einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Ritual der Anauni und den oben dargestellten Frühjahrslustrationen der Römer in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn das Nonstal ist keinesfalls so abgelegen, wie manchmal behauptet wird/ es zweigt vielmehr von einer der wichtigsten Alpenstraßen ab.8 Diese Region wurde durch den Sommerfeldzug des Jahres 15 v. Chr., in dem Tiberius und Drusus über den Brenner und das Inntal bis zum Bodensee und nach

Tibullus 526 f.). Die Wortwahl ist durchaus von sachlichen Gründen bestimmt gewesen, handelte es sich doch um eine Lustration der Landgemeinde, die in diesem dreifachen »Opfer" gipfelte. 4

Die genannten Briefe des Vigilius, die er an Simplicianus von Mailand und Johannes Chrysostomos sandte, begleiteten eine Sendung von Reliquien. - Näheres zur Heiligenverehrung und weitere Literatur bei Baur, Sisinnius (1964), 799.

5 6

Siehe oben, Anm. 1. Die Kritik energisch wieder aufgegriffen von Pascal, Tibullus (1988), 527, der dabei Kilgour, Ambarvalia (1938), 230 folgt. - Wissowa, Ambarvalia (1894), 1796 lehnte ebenfalls die Bestimmung des lustrale

malum

als „Ambarvalia" (die er mit

dem Arvalbrüder-Fest identifiziert) ab, dachte aber an die lustratio 7 8

pagi.

Siehe insbesondere Kilgour und Pascal (wie vorige Anmerkung). Diese führte von der Poebene über Tridentum (Trient) und Abodiacum nach Augusta Vindelicum (Augsburg). Vgl. Cartellieri, Alpenstraßen (1926), 113 und seine Karte Nr. V. Durch die Vallis Anaunia selbst führte die „judikarische Straße", die Trient mit Riva am Gardasee verband. Zur militärischen Bedeutung und zur Romanisierung einiger Alpentäler siehe Walser, Studien (1994), 44 ff. (mit Karten) und 49 ff.

199

6. Vom lustrale malum zur Eschprozession

Oberbayern vorstießen, unterworfen. 9 Claudius verlieh den Anauni wenige Jahrzehnte später das Bürgerrecht. 10 Daß ihnen das Fest der Arvalbrüder nicht völlig unbekannt war, scheint mir deswegen durchaus denkbar. Doch wie dem auch sei, einen Ritus, dessen Sinn es war, die „Saaten zu lustrieren", 11 mochten sie selbst dann gekannt haben, wenn sie von den Staatsriten der Hauptstadt nichts wußten. Bei diesen ländlichen Lustrationsriten kam es freilich auf den genauen Tag nicht an, da sie sich ja üblicherweise am Stand des Pflanzenwachstums orientierten. So könnte das zeitliche Zusammentreffen der Lustration im Anauner-Tal mit einem für das Arvalbrüder-Fest überlieferten Termin durchaus ein Zufall sein, zumal das Getreide in dieser Region später reift. Auszuschließen ist allerdings auch eine Diffusion des Ritus in ein Alpental fern von Rom nicht, da bekanntlich gerade in Provinzstädten wie Trient die maßgeblichen Bürger größten Wert darauf legten, sich als gute „Römer" zu erweisen, indem sie das Kulturgut der Hauptstadt demonstrativ pflegten. Die Terminschwierigkeiten lassen sich dann lösen, wenn wir annehmen, daß das lustrale mehrtägig war. 12 Oder hat vielleicht erst die Legendenbildung den Todestag der Missionare auf den 29. Mai datiert, und zwar in polemischer Absicht eben mit Blick auf das Arvalbrüder-Ritual? Daß bei der Lustration der Anauner der Gott Saturn eine Rolle spielte, nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, daß er als Gott der Saat auch für das Getreide schlechthin einstehen und somit durchaus der geeignete Adressat für einen Ritus sein konnte, der prospektiv auf die kommende Ernte ausgerichtet war. Überdies hatte er in dieser Region eine Bedeutung, die der des italischen Mars vergleichbar ist.1·5

9

Veil. 2, 95, 2; Cass. Dio 54, 22; Strabon 4, 6, 8 (206). - Siehe auch die Augustus' Eroberungen preisende Inschrift auf dem „Alpen-Tropäum": C I L 5, 7817 = Plin. nat. 3, 1 3 6 - 1 3 7 sowie Horaz' Ode auf den Imperialismus: 4 , 1 4 , 7 ff.!

10

In den Ruinen eines Saturntempels nahe Cles im Nonstal wurde auf einer Bronzetafel ein Edikt des Kaisers Claudius aus dem Jahre 46 n. Chr. gefunden, das den Anaunern ihre Rechte garantierte: C I L 5 , 1 , 5050 = DessILS 206.

11

Segetes lustrantur

stand in den Bauernkalendern, den menologia

rustica - siehe

C I L l 2 , p. 280 = DessILS 8745 = Degrassi, Fasti (1963), 284 ff. 12

So Usener, Alte Bittgänge (1887), 282 / Weihnachtsfest (1888 /1911), 306. Dafür spricht, daß auch der christliche Ritus, der offensichtlich den heidnischen später ersetzte, dreitägig war (dazu der folgende Abschnitt).

13

Daß Saturn als Hauptgott des Nonstals höchstwahrscheinlich die interpretatio mana einer Lokalgottheit ist, nimmt Pascal, Cults (1964), 177 an.

Ro-

200

II. Ländliche Lustrationsriten

Nun läßt sich diese Heiligenlegende freilich nicht als Beweisstück für die Existenz oder die Datierung der römischen „Ambarvalia" gebrauchen. Einen zusätzlichen Beleg dafür, daß zu der Zeit, wo das Getreide grün auf dem Halm stand, Flurumgänge zum Segen der Feldfrüchte abgehalten wurden, bietet sie aber doch. Wir können sie also durchaus als Zeugnis für das Fortbestehen einer Form der lustratio agri an der Wende vom 4. zum 5. Jh. verbuchen.14 Da es sich um ein Gemeindefest handelt, entspricht sie der Struktur nach - wie schon Wissowa beobachtet hat15 - am ehesten einer lustratio pagi.

6.2. Die Eschprozession 6.2.1. Aition und Ritus Sisinnius verdankt, wie im letzten Abschnitt beschrieben, seine Verehrung als Heiliger dem Umstand, daß er versuchte, einen heidnischen Lustrationsritus zu verhindern, und dabei sein Leben daransetzte. Ganz anders der heilige Mamertus: Um 470, also gut siebzig Jahre nach diesem Vorfall, soll er als Bischof der gallischen Stadt Vienna (heute Vienne) die jährliche Durchführung eines Rituals angeordnet haben,16 das trotz seines christlichen Gewands eine offenkundige Verwandtschaft mit dem heidnischen Flurumgang aufweist17 und wohl, wie dies so oft geschehen ist, diesen

14

Wenn nicht (so Pascal), dann wird immerhin eine Strukturparallele in einem anderen kulturellen Kontext deutlich. Daß es sich um ein lustrale agrorum

. . . circa

fines

handelte, belegt, wie gesagt, Vigilius, ep. 2, 3, Migne P L 13, col. 553.

15

Siehe oben, Anm. 6.

16

Avitus, Homilía de Rogationibus, Migne P L 59, col. 289 ff.; Acta Sanctorum Maii II (1866), 629 ff. Vgl. Gregor, v. Tours, Hist. 2, 34. - Siehe Usener, Alte Bittgänge (1887), 281 / Weihnachtsfest (1888 /1911), 304; Griffé, Mamertus, (1961), 1338 f. mit weiterer Literatur sowie Pax, Bittprozession (1954), 426 und Fischer, Bittprozession (1958), 519.

17

Grundlegend zur Kontinuität von „heidnischem" Umgang und christlichem Kult: Usener, Alte Bittgänge (1887); in verbesserter, aber um die Anmerkungen beschnittener

Fassung

aufgenommen

in

Usener,

Weihnachtsfest

(1888 /1911),

3 0 1 - 3 2 8 . Zum Grundsätzlichen siehe Cancik, Nutzen (1986), über „Ende und Wandlungen der römischen Religion im 4. und 5. Jahrhundert". - Daß Mamertus einen bereits bestehenden außerordentlichen in einen ordentlichen Ritus umge-

6. Vom lustrale malum zur Eschprozession

201

„entschärfen" sollte, da seine Abschaffung nicht möglich w a r . 1 8 Z u elem e n t a r wurzelte er in den Lebensinteressen der Landbevölkerung — und tut es n o c h , denn das Ritual, von d e m die Rede ist, wird heute n o c h prakt i z i e r t . 1 ' E s ist unter d e m N a m e n „ E s c h - " oder auch „ Ö s c h p r o z e s s i o n " bek a n n t . 2 0 D e r W e g führt durch die Feldflur der Gemeinde; an vier Stationen w e r d e n durch Gesang, Lesung und Gebet die Sorgen der M e n s c h e n u m Arbeit, tägliches Brot, Sicherheit und Frieden thematisiert. 2 1 Weil der G r u n d t o n des Ritus von den Bitten u m göttlichen Beistand und Segen bestimmt ist, w u r d e die Flurprozession auch „Rogationes" „Bitten", genannt. D a ß dabei zahlreiche Heilige u m Hilfe angefleht wurden, trug ihr daneben den N a m e n Litania

minor

ein, denn es wurde zwar die umfangreiche A l -

lerheiligenlitanei gebetet, doch stand der Ritus an Feierlichkeit hinter der Litania

maior

des Markustags z u r ü c k . 2 2 Selbst für die Allerheiligenlitanei

gibt es n a c h d e m Urteil Useners ein antikes Vorbild: die

18

19

20

21

22

indigitamenta,

staltet hat, nimmt Pax, Bittprozession (1954), 426, im Anschluß an Leclercq, Rogations (1948), 2459-2461 an. Vgl. Auf der Maur, Feiern (1983), 121 f. Prominentestes Beispiel: das Weihnachtsfest. Usener, Weihnachtsfest (1888 /1911) hat diesen Vorgang exemplarisch untersucht und 301 ff. die Einführung der Bittprozessionen damit verglichen. - Die den „Rogationes" eng verwandte Bittprozession am Markustag (25. 4.) hat in der Stadt Rom nicht nur das Datum der „heidnischen" Robigalia beibehalten, sondern sogar den Prozessionsweg: dazu Usener, Alte Bittgänge (1887), 283 ff. / Weihnachtsfest (1888 /1911) 306 ff. Im „Gotteslob", dem von den Bischöfen Deutschlands und Österreichs und der Bistümer Bozen-Brixen und Lüttich 1975 herausgegebenen Katholischen Gebetund Gesangbuch (ich beziehe mich auf die Ausgabe des Bistums Rottenburg mit dem gemeinsamen Eigenteil für die Diözesen Freiburg und Rottenburg) ist die „Öschprozession - Flurprozession" unter der Nummer 940 (S. 1032 -1037) aufgeführt. „Osch" ist die schwäbische Sprech- und Schreibweise. Der Esch ist der „Getreideteil der Gemarkung": Siehe Kluge, Etym. Wörterbuch (1883/1975), 174 (s.v. Esch). Das oben (Anm. 19) angeführte Gesangbuch versieht die dem modernen Leben (und auch städtischen Verhältnissen) angepaßten Bitten an den vier Stationen mit folgenden Uberschriften: 1. Um Segen für unsere Arbeit; 2. Um das tägliche Brot; 3. Um Sicherheit auf der Straße; 4. Um Frieden in unserer Gemeinde. Das Rituale Romanum, Titulus X Caput IV, handelt von beiden: De processione in Litaniis Majoribus in festo S. Marci Evangelista, et in Minoribus triduo Rogationum ante Ascensionem Domini. Siehe auch Jacobi a Voragine Legenda Aurea, cap. 70 Graesse (De letama majori et minori). Näheres dazu bei Usener, Alte Bittgänge (1887), 280 / Weihnachtsfest (1888 /1911), 303; vgl. auch Fischer, Bittprozession (1958), 518.

202

II. Ländliche Lustrationsriten

also Listen von Götteranrufungen, vorgetragen vom pontifex,23 Der bevorzugte Termin für die Flurprozession, die früher oft mehrtägig durchgeführt wurde, sind die drei Tage vor Christi Himmelfahrt.24 Je nach Datum des Osterfeste fand der dreifache Umgang also zwischen Ende April und Ende Mai statt. Der Gedenktag des Stifters, des heiligen Mamertus, liegt genau in der Mitte des Zeitraums, der für diese christlichen feriae conceptivae in Frage kommt: Er ist auf den 11. Mai fixiert. Entsprechungen zwischen der christlichen Bittprozession und dem antiken Lustrationsritus finden wir also auf verschiedenen Ebenen, in bezug auf das Ritualmuster — den Flurumgang — ebenso wie auf den Zeitraum seiner Inszenierung, nämlich die Zeit vor der Ernte. Aufschlußreich ist auch der Ort, von dem aus sich der Ritus in der christlichen Kirche verbreitete:25 Die gallische Stadt Vienna (heute Vienne) an der Rhone, südlich von Lugdunum (Lyon) gelegen, war schon von Caesar zu einer colonia mit latinischem Recht gemacht worden. Dort siedelten römische Veteranen. Eine gewisse Kontinuität des heidnischen Brauchtums noch in christlicher Zeit nähme also nicht wunder. Doch geht es hier nicht um den Nachweis des Weiterlebens antiker Riten in christlichem Gewand. Wir können uns im vorliegenden Kontext darauf beschränken, auf bestimmte Strukturparallelen hinzuweisen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Stiftungsmythos der Eschprozession, der dem rituellen Handeln seine Bedeutung verleiht. Jacobus de Voragine schildert das Aition in der Legenda aurea,26 Alleine die Katastrophen, die den Bischof dazu bewogen haben sollen, die Bitt-

23

24

25

26

Usener, Alte Bittgänge (1887), 280 / Weihnachtsfest (1888/1911), 304. - Zu den indigitamenta vgl. dens., Götternamen (1896 /1948), 75 ff., aber auch die heftige Kritik bei Wissowa, Echte und falsche „Sondergötter" (1904), 304. Material und neuere Literatur bei Eisenhut, Indigitamenta (1975 /1979). Je nach regionalen Besonderheiten kamen auch andere Termine zwischen Ostern und Pfingsten in Frage, doch wurde die Rogatio genannte Woche bevorzugt. Siehe Usener, Alte Bittgänge (1887), 281 / Weihnachtsfest (1888 /1911), 304 f. Zur Ausbreitung von Gallien aus Usener, Alte Bittgänge (1887), 281 / Weihnachtsfest (1888 / 1911), 304 f. Vgl. Griffe, Mamertus (1961), 1338 f. Die Einführung der gallisch-fränkischen Rogationstage in Rom behandelt Klauser, D. liturgischen Austauschbeziehungen (1933), 183. Jacobi a Voragine Legenda Aurea vulgo historia lombardica dicta, ed. Th. Graesse (1846) 3 1890, repr. 1965, cap. L X X , p. 3 1 2 - 3 1 6 : De letanía majori et minori (Übersetzung: Benz, Legenda, 8 1979, 3 6 0 - 3 6 4 : „Vom großen und kleinen Bittgang"). Siehe auch die oben in Anm. 16 genannten Quellen.

6. Vom lustrale malum

zur Eschprozession

203

gänge einzuführen, bilden einen gleichsam klassischen Prodigienkatalog:^ 7 Erdbeben brachten Kirchen und Häuser zum Einsturz, nachts waren Stimmen und Geräusche zu hören, am Ostertag wurde der Königspalast durch ein himmlisches Feuer vernichtet. Nicht genug dessen: Wölfe und andere wilde Tiere, vom Teufel besessen, fielen auf den Landstraßen über die Menschen her und drangen sogar in die Stadt vor.^ Wir haben es hier mit apokalyptischen Topoi zu tun, in denen sich in Krisenzeiten Ängste artikulieren, 9 Ängste, die oft durch politisch motivierte Propagandaliteratur gezielt produziert werden. Das Szenario verbreitet Weltuntergangsstimmung: Der drohende Zusammenbruch der Ordnung kündigt sich durch die einstürzenden Kirchen und den brennenden Palast an. Die wilde Natur, vertreten durch die Wölfe und andere Raubtiere mit Artfeindmerkmalen, droht die Stadt zu erobern und damit alle Kultur zunichte zu machen. Wenn in antiken Städten eine Krisenstimmung darin ihren Ausdruck fand, daß Gerüchte über symbolträchtige Katastrophen zirkulierten, wenn sich vielleicht sogar eine Protestbewegung dadurch artikulierte, daß sie solche Symbole schuf, war eine procuratio, also eine von offizieller Seite angesetzte Ritualveranstaltung, das gebotene Mittel, um der Gefahr zu begegnen.·^ Sie diente — der Binnensicht der religiösen Menschen zufolge — dazu, den Zorn der Götter zu beschwichtigen. Nach unserer Auffassung war sie vor allem geeignet, die erhitzten Gemüter der Menschen zu beruhigen. Machten außergewöhnliche Krisensituationen die Anwendung außergewöhnlicher Mittel erforderlich, so befragten bekanntlich im antiken Rom die XVviri sacris faciundis die Sibyllinischen Bücher. Dieses Priester-

27 28

29 30 31

Locus classicus ist Verg. georg. 1, 463-497. Causa autem institutionis hujus haec fuit. Tunc enim apud Viennam frequentes et maximi terrae motus fiebant, quae domos et ecclesias plurimas subvertebant, nocturni sonitus et clamores saepe audiebantur, tunc etiam aliud terribile accidit, quia in die paschae ignis de coelo cecidit et regis palatium concremavit. Aliud insuper mirabilius fiebat. Sicut enim daemones porcos Dei permissione olim intraverunt, sic permissione domini propter peccata hominum lupos et alias feras intrabant et nullos verentes non solum per vias sed per civitatem publice discurrebant, et passim pueros et senes viros et feminas devorabant (p. 313 f.). Grundlegend: Gladigow, Konkrete Angst (1979), 74 ff. Zum apokalyptischen Motiv der brennenden Stadt siehe G. Baudy, D. Brände Roms (1991). Zum römischen Prodigienwesen siehe Gladigow, Konkrete Angst (1979), 70 ff. (zur procuratio ebd. 72 ff.).

204

II. Ländliche Lustrationsriten

kollegium war ein gerade für solche Zwecke jederzeit einsatzbereiter Krisenstab. Es las aus den streng unter Verschluß gehaltenen Büchern nicht selten die Anweisung heraus, daß ein bestimmter auswärtiger Kult neu in Rom einzuführen sei. Diese Strategie war durchaus geeignet, Unruhen in der Bevölkerung zu beschwichtigen.32 Ob auch im Vienna der siebziger Jahre des 5. Jahrhunderts, in einer Zeit, die durch die endgültige Eroberung Galliens durch die Germanen gekennzeichnet war, eine heidnische Opposition die Vernachlässigung der althergebrachten Riten für die Gefährdung der Stadt verantwortlich machte, 33 ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Wenn dem so wäre, hätte der Bischof gerade deswegen versucht, den vermißten heidnischen Ritus durch einen christlichen zu ersetzen. Möglich ist andererseits auch, daß der „Bericht" des Jacobus de Voragine der historischen Grundlage entbehrt und eine Rückprojektion, vielleicht aus der Krisenstimmung seiner eigenen Zeit heraus, ist.3^ Dies muß zumindest vorläufig offen bleiben. Die Aitiologie operiert in jedem Fall mit einem gängigen Schema: Einer in vergangenen Zeiten erfolgten Katastrophe konnte (angeblich) nur durch ein Sühneritual begegnet werden — und dieses wiederholt man nun jährlich, um die Wiederkehr des Unheils zu verhindern. Denn nicht eine einmalige Krise wird hier prokuriert, sondern ein regelmäßig wiederholtes Ritual begründet. Es handelt sich bei derartigen Aitia um die historisierte Form traditioneller Kultstiftungsmythen. Diese erzählen davon, wie eine urzeitliche Konfliktsituation eben durch die Einsetzung des Kults überwunden wurde: So liefert der Mythos die Rechtfertigung für die bestehende Ritualpraxis.Immer gibt es ein erstes Mal, eine paradigmatische Pro-

32

Siehe auch das schöne Beispiel SHA Aurelian. 18, 4 - 20, 3, oben behandelt in Kap. II 4, 4!

33

Siehe beispielsweise Zosimos' Auslassungen über die Bedeutung der Ludi

saecula-

res für Rom 2 , 1 - 7 , bes. 2, 7 , 1 - 2 : „Solange denn, wie der Orakelspruch sagt und die Wahrheit bestätigt, alle diese Zeremonien ordnungsgemäß verrichtet wurden, blieb das Reich der Römer unerschüttert, und dauernd konnten sie sozusagen unsere ganze Welt beherrschen, doch als nach Diokletians Abschied vom Kaiseramt das Fest mißachtet wurde, zerfiel allmählich das Reich und ward, wie uns die Ereignisse selbst ja bewiesen haben, unbemerkt zum größeren Teil eine Beute der Barbaren" (Übers. O. Veh). 34

Zur Biographie des Jacobus siehe von Nagy / de Nagy, Legenda (1971), 9 ff. u. 77 ff.

35

Berühmtestes Beispiel: der Prometheusmythos, der das „Olympische Speiseopfer" begründet (Hes. theog. 535 ff.).

6. Vom lustrale malum

zur Eschprozession

205

blemsituation, für die der Kult eine Lösung anbietet. Einer kulturlosen Urzeit wird durch die Stiftung einer kulturellen Institution ein Ende gesetzt. Dies ist nur wenig anders, wenn das „Chaos" als historisches ausgegeben wird: Hier geht es dann darum, einem temporären Rückfall in die urzeitliche Wildheit zu begegnen. In jedem Fall soll das regelmäßig wiederholte Ritual die Kultur dagegen absichern, daß Gefahren, die mit dem Zustand der Unzivilisiertheit verbunden sind, „wieder" die Oberhand gewinnen. Daß der Lustrationsritus mit einer Kulturentstehungssymbolik assoziiert ist, erstaunt uns wenig, wenn wir uns an Tibulls Festschilderung erinnern. 36 Dort war freilich die Perspektive eine andere. Nicht so sehr die Gefahren der Unzivilisiertheit als die Segnungen der Kultur standen bei der Darstellung der ländlichen Lustration im Vordergrund. In der hier interessierenden Aitiologie der Eschprozession sind der Zusammenbruch der Ordnung und der Einbruch der Wildheit in die Zivilisation eine mittelbare Folge des von den Menschen begangenen Unrechts: Die Katastrophe ist eine Strafaktion Gottes. 37 Dies verleiht den Bittprozessionen ihren Bußcharakter: Hier kehrt der uns aus den antiken Riten bekannte kathartische Aspekt der Lustrationen verstärkt wieder. Die Bittage sind zugleich Fasttage. Denn, so heißt es bei Jacobus de Voragine, insbesondere der Frühling sei die Zeit, in der die fleischlichen Begierden zunehmen - nicht zuletzt, um dieser Herr zu werden, rufe man die Heiligen an.3^ In allegorischer Auslegung der Himmelfahrt Christi, deren Feier am Ende der Bittprozessionen steht, geht es schließlich um die Loslösung der Seele von der Materie, damit sie zum Himmel aufsteigen kann und nicht ebenso fluguntauglich bleibt wie der schwere Vogel Strauß, der viel Fleisch hat und wenig Flügel. 3 '

36 37

38

39

Siehe dazu oben, Kap. II 2. 2. Explizit im Zusammenhang mit der Besessenheit der wilden Tiere: Die Dämonen fuhren in sie ein „mit Erlaubnis des Herrn wegen der Sünden der Menschen" {permissione domini propter peccata hominum lupos et alias feras intrabant, p. 314). ... et rogationibus sanctorum et jejuniis his diebus insistendum multiplici ratione: . .. tertio ut motus carnales, qui hoc tempore magis fervent, in se quisque magis mortificet. In vere enim sanguis magis fervei et illiciti motus magis pullulant (p. 314). . . . ecclesia jejunat et orat, ut parum habeat de carne, per ipsius carnis macerationem, et acquirat sibi alas per orationem, quia oratio est ala animae, qua volat in coelum, ut sic Christum adscendentem libere possit assequi, qui ascendit iter pandens ante nos et volavit super pennas ventorum. Avis enim, quae multum abun-

206

II. Ländliche Lustrationsriten

Der antike Rhythmus von Enthaltsamkeit und Fruchtbarkeit,4® der uns in privatisierter Form auch bei Tibull begegnete, ist hier zugunsten eines Askeseideals zerbrochen. Damit zerreißt das symbolische Band, das in den antiken Mythen und Riten menschliche Fruchtbarkeit und Feldfruchtbarkeit gemeinsam umspannt. Doch darf die starke Akzentuierung des Bußcharakters in unserer mittelalterlichen Quelle nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Eschprozession, also der Umgang um den Getreideteil der Gemarkung,41 primär dem Wohlergehen in einem ganz irdischen Sinn gilt: Gott wird gebeten, „daß er die junge Frucht des Feldes behüte und mehre" 42 Ein weiteres zentrales Thema der Rogationes ist der Friede: Das Frühjahr sei die Zeit, in der Kriege sich erheben, heißt es in der Legenda aurea,43 Daß nur in Friedenszeiten der Bauer auch ernten kann, was er gesät hat, ist ein gängiger Topos der antiken Literatur; denken wir nur an Ovids Schilderung der Sementivae, die mit dem eindringlichen Vers schließt: „Der Friede ernährt Ceres (d. h. die Getreidegöttin), des Friedens Pflegekind ist Ceres".44 Unmittelbar vor dieser durch die Wiederholung so intensiven Aussage steht ein „Fürstenlob": Nach einer Zeit, in der „das Schwert nützlicher war als der Pflug", in der Spaten zu Helmen wurden, wird der Kaiser als Garant des Friedens gepriesen, der Pflügen und Säen wieder ermöglicht.4^ Diese Anrufung ist Lobpreis und Bitte in einem, gleichsam das Gebet Ovids an den Kaiser, das er dem Gebet an die Ackerbaugottheiten anfügt. Wie verhält sich aber nun die Stiftungsgeschichte der Eschprozession zu dieser selbst? Die Legenda aurea schildert das Bittritual im Anschluß an das Aition folgendermaßen: Bei einem großen Umgang wurden Kreuz und Fahne mitgeführt; die Glocken läuteten. Das Kreuz faßte Jacobus de Vorau f in carne 40 41 42 43 44 45

et parum

in plumis,

bene volare

non potest,

sicut patet in

struthione

(P- 314). Einige Beispiele in D. Baudy, Keuschlamm-Wunder (1989). Siehe oben, Anm. 20. . . . ut teneros adhuc fructus conservando multiplicet (p. 314). . . . ut Deus bella pacificet, quia in vere frequentius concitantur (p. 314). Pax Cererem nutrii, Pacts alumna Ceres (Ον. fast. 1, 704). - Zu den Sementivae siehe das vorige Kapitel. Ov. fast. 1, 697-704: bella diu tenuere viros, erat aptior ensis / vomere, cedebat taurus arator equo. / sarcula cessabant versique in pila ligones, / factaque de rastri pondere cassis erat. / gratia dis domuique tuae, religata catenis / iam pridem vestro sub pede bella iacent. / sub iuga bos ventai, sub terras semen aratas.

6. Vom lustrale malum zur Eschprozession

207

gine recht „martialisch" auf, nämlich als Feldzeichen Gottes, die Glocken als seine Kriegstrompeten, so daß das „Heer" der Gläubigen unter seinem himmlischen König gegen die Dämonen auszog wie Soldaten gegen den Feind.4