Risse als materielles Schauspiel: Performative Figuren in Szenarien von Kunst und Philosophie 9783839465448

Risse schlummern als materielle Phänomene oft unbeachtet im Hintergrund, bis sie plötzlich ins Zentrum unserer Aufmerksa

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Risse als materielles Schauspiel: Performative Figuren in Szenarien von Kunst und Philosophie
 9783839465448

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper
2. Fragehorizonte: Zur Performativität von Rissfiguren
3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren
4. Methodische Ansätze
Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache
5. Verortungen von Rissfiguren bei Martin Heidegger und Jacques Derrida
6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹ (Heideggers »Der Weg zur Sprache«)
7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«)
8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)
9. Re-Membering the Body – Figuren des Risses zwischen körperlicher Absenz und Präsenz
10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen
Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten
11. Zerrissene Schichten der Zeit
12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder
13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe – und ihren Vorläufern
14. Der Riss als Form des stummen Insistierens: Shibboleth
15. Risse auf Wanderschaft: Fissure
Schlussbetrachtungen
16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis
Danksagung
Literatur
Bildnachweise

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Holger Hartung Risse als materielles Schauspiel

Theater | Band 150

Editorial Die deutschsprachige Theaterwissenschaft hat sich in jüngerer Zeit vor allem als Ort der Rezeption und Etablierung kulturwissenschaftlicher Programme verdient gemacht. In diesem Kontext sind zentrale kulturtheoretische Innovationen entstanden bzw. vertieft worden – etwa die Theorie der Performativität. Die Reihe Theater zielt insbesondere auf solche avancierten theaterwissenschaftlichen Studien, die die Erforschung des modernen Theaters in den Kontext innovativer Kulturanalyse stellen.

Holger Hartung (Dr. phil.) ist Theater- und Tanzwissenschaftler aus Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt den Schnittstellen zwischen Theater, Performance, Choreographie und bildender Kunst sowie Fragen von Medialität, Materialität und Digitalität. Nach langjähriger Tätigkeit als Koordinator des Internationalen Forschungskollegs »Verflechtungen von Theaterkulturen«, Freie Universität Berlin verantwortet er nun den Bereich Digitale Transformation an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.

Holger Hartung

Risse als materielles Schauspiel Performative Figuren in Szenarien von Kunst und Philosophie

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Internationalen Forschungskollegs »Verflechtungen von Theaterkulturen«, Freie Universität Berlin. Diese Arbeit wurde als Dissertation im Fach Theaterwissenschaft im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaft an der Freien Universität Berlin angefertigt und eingereicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung, Lektorat & Satz: Holger Hartung Umschlagabbildung: Detailfoto aus der Aufführung Fissure (2011) von Louise Ann Wilson. Foto: Holger Hartung Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465448 Print-ISBN 978-3-8376-6544-4 PDF-ISBN 978-3-8394-6544-8 Buchreihen-ISSN: 2700-3922 Buchreihen-eISSN: 2747-3198 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/ vorschau-download

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Inhalt

Einleitung 1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper | 15 2. Fragehorizonte: Zur Performativität von Rissfiguren | 25 3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren | 31 Zwischen Trennungsmetaphorik und Textilität: Kunst- und geisteswissenschaf tliche Debatten im deutschsprachigen Raum | 35

4. Methodische Ansätze | 43 Abgrenzungen vom Schnitt | 43 Materialität/en | 44 Risse im Kontext von Theatralität und Per formativität | 54 Risse als dynamische Figuren | 60 Latenz von Rissfiguren, Risse als latente Bewegungen | 64

Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache 5. Verortungen von Rissfiguren bei Martin Heidegger und Jacques Derrida | 73 6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹ (Heideggers »Der Weg zur Sprache«) | 79 Risse auf dem ›Weg zur Sprache‹ | 84 Adornos »Jargon der Eigentlichkeit« | 85 Risse und Furchen: Fragen nach der Technik | 87

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«) | 95 Exkurs I: Tragische Nachbarschaf t (Ovids Pyramus und Thisbe) | 101 Risse belauschen: Thisbe or the Listener (Waterhouse) | 105 Der Riss als Figur allegorischer Über tragung | 109 Sprachliche Nachbarschaf ten/Ver wandtschaf ten: Ziehen und Reißen / Zug und Riss als ›Wor tfamilien‹ | 111

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes) | 117 Erster ›Auf tritt‹ der Riss-Figur | 121 Riss und Streit als ›Theatrum Mundi‹ | 124 Exkurs II: Riss und Vorhang | 126 Der Tod Jesu / Riss des Tempelvorhangs | 128 Bloße ›Kluf t‹ und ›bloße‹ Kluf t – Bloß-Stellung und Entblößung | 136 Aufreißen: Der Riss als latentes Geschehen | 140 Entspringen des Risses aus der Latenz aus / in der Wiederholung | 143

9. Re-Membering the Body – Figuren des Risses zwischen körperlicher Absenz und Präsenz | 151 Zur Abwesenheit des Leiblichen bei Heidegger | 151 Ver wirklichung im Körper – Der Riss als Knacks (Deleuze) | 156 Verkörperung von Rissfiguren | 158

Exkurs III: Dramatische Metamorphosen: Verkörper te Figuren des Risses in den komischen Fassungen von Pyramus und Thisbe (Shakespeare, Gryphius) | 162 »Kein Riss als...« – Verschiebungen innerhalb von Repräsentation und Darstellung | 170

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen (Derridas Vom Geist) | 177 Vorhang der Sprache und gespaltener ›Geist‹. Eine Szene der Sprachlosigkeit | 185 Ein geisterhaf ter Spalt: bloße Kluf t oder werdender Riss? | 192 Rückkehr/Ent zug des Risses/des Geistes | 195

Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten 11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé) | 203 Lettrismus, Situationismus, Neuer Realismus | 206 Anonymer Plakatabriss/Lacéré Anonyme | 214 Flaneur*in | 218 Die Un/Lesbare Stadt | 228 Decollage im Kontext einer Ära der Dekolonisierung | 232 Ausblick: Körper-Bilder/Bild-Körper: Saving Face (Jalal Toufic) | 235

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murakami Sabur ō) | 239 Gegenseitige Her vorbringung (Nachbild I) | 240 Die Gutai-Bewegung | 244 Gestellte Bilder (Nachbild II) | 251 Vor-Bilder/Zwischenspiele: Entr’acte (1924) | 257 Gestell I: Risse vs. Schnitte (Fontanas Taglis und Concetto Spaziale) | 264 Archiv, Reper toire und »Über-Reste« der Per formance | 267 Fragen nach der Technik: Ge-stell (Heidegger) | 271

Was bleibt – Per forming remains (Rebecca Schneider) | 274 Projizier te Körper(bilder) nach Hiroshima und Nagasaki (Nachbild III) | 277 Vor-Bilder II: Chronophotographie (Eadward Muybridge, Étienne-Jules Marey) | 282 Differenzen zwischen Muybridge/Marey und Murakami | 287 Nachbemerkung: Bergsons Philosophie als »Nachbild« (Benjamin) | 292 »Ma«/FIN: Let zte Wiederholung, ein Zögern | 294

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe – und ihren Vorläufern (Günter Brus) | 301 Vor-Läufe und Übergänge – zwischen Linie und Riss | 303 Per formanzexplosion | 308 Risse als Teil/Teilung der Maske | 313 Über-Gänge: Wiener Spaziergang (1965) | 320 Zerreißprobe (1970) | 334 Stichwor t: Probe | 336 Der Kontraktcharakter theatralen Handelns im Stresstest | 339 Die Zerreißprobe als theatrale Bezeugungssituationen | 345 Vom Schließen des Risses – Ende der per formativen Phase | 349

14. Der Riss als Form des stummen Insistierens: Shibboleth (Doris Salcedo) | 351 Ausstellung ohne Objekt | 355 Randgänge entlang des Risses | 358 Theatrale Dimension und Momente des Unheimlichen | 362 Der Riss als choreographische ›Guideline‹ | 368 Die Kluf t des Titels: Riss/Shibboleth | 373 Risse im Fundament – Öffnung des Raumes für postkoloniale Diskurse | 377 Nach-Gänge: Der Riss als Spur, Narbe, Mahn-Mal (Breitscheidplat z, Berlin) | 381

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson) | 385 Auf takt: Steinbruch | 388 »How the line became straight« (Tim Ingold) | 391 Fragen der Ver wandlung: Eine konterkarier te Abendmahlszene | 396 Zweiter Tag der Wanderung: Gegenseitige Her vorbringung von Landschaf t und Choreographie | 399 Geteiltes Wissen in Bewegung | 404 Exkurs IV: Riss als Schmerz und Fuge: Ein einsames Abendmahl (Heideggers »Die Sprache«) | 414 Let zter Tag der Wanderung | 422

Schlussbetrachtungen 16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis | 429 Per formativ-sprachliche Dimensionen von Rissfiguren | 429 Materiell-körperliche Dimensionen von Riss-Figuren | 439 Über tragungen/Resonanzen | 447 Methodische Implikation | 449 Ausblick | 451

Danksagung | 457 Literatur | 459 Bildnachweise | 483

Der Riß bleibt ein Wort, solange nicht auch der Körper inbegriffen ist und solange die Leber und das Hirn, die Organe nicht jene Linien aufweisen, anhand deren man das Künftige weissagt und sie sich selbst prophezeien. Gilles Deleuze

Einleitung

1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper

Ein deutscher Fernsehwerbespot aus dem Jahr 2012. Wir sehen ein älteres Haus frontal von vorne: eine etwas in die Jahre gekommene Villa mit einer langen, geraden Zufahrt. Symmetrisch angelegte dunkle Hecken säumen den Weg, sie sind hochgewachsen aber trotzdem nicht völlig ungepflegt. Der Blick der Kamera bewegt sich langsam auf das Haus zu. Schnitt. Ein Mann etwa Anfang fünfzig, braunes Cordjackett, schließt die Tür des Klassenraumes »4B« hinter sich. Er trägt ein paar Mappen auf dem Arm – vermutlich der Lehrer. Plötzlich hält er inne, stutzt, schaut ein paarmal irritiert von links nach rechts. Schnitt: Die Kamera nähert sich weiter dem Haus. Schnitt. Kurz darauf sitzt der Lehrer mit einer Zeitung im Café, seine Finger suchen etwas fahrig den Griff der Espressotasse. Er blickt erneut besorgt auf. Der ›Vertigo-Effekt‹1 des Bildes in Kombination mit der sich allmählich rhythmisch aufbauenden Musik suggeriert, dass etwas Bedrohliches im oder am Haus geschieht, dem wir uns immer schneller weiter nähern. Schnitt. Wieder im Café: Etwas durchzuckt den Protagonisten innerlich, er greift sich in den Nacken. Als er seine Hand betrachtet, finden sich dort staubige Brösel, kleine Steinchen. Mit besorgtem Gesichtsausdruck nimmt der Lehrer entschlossen seinen braunen Aktenkoffer und hastet durch den Regen. In seiner Eile rempelt er einige Passanten an, die ihm unter ihren Regenschirmen entgegenlaufen. Wieder ein Schnitt. Vor dem Eingang des Hauses angekommen, schwenkt die Kamera schließlich nach rechts. Der Lehrer, stark außer Atem, trifft nun ebenfalls am selben Ort ein und bleibt mit offenem Mund dort stehen, wo schließlich auch die heranfahrende Kamera ihren Fokuspunkt findet. Hier scheint der ursächliche Grund der Besorgnis zu liegen: an der Fassade des Hauses hat sich unterhalb eines Fensters ein deutlich sichtbarer Riss gebildet. Schnitt. 1 | Physikalisches Sich-Entfernen der Kamera bei abgestimmtem, gleichzeitigem optischen Herauszoomen, »so dass der Eindruck einer Veränderung im Sehen (›schreckgeweiteter Blick‹) entsteht«, Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart u.a.: Metzler, 2001. S. 70.

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Einleitung

In der nächsten Einstellung sehen wir unseren Protagonisten von hinten, während er, weiterhin sprachlos, das Mauerwerk betrachtet: Vor ihm läuft der Riss durch den graubraunen Putz der Hausfassade und setzt sich, wie wir in dieser Rückenansicht nun erkennen, oberhalb des braun-beigen Cord-Kragens am Nacken des atemlosen Betrachters fort. Die klaffende, an den Rändern versteinerte ›Wunde‹ an seinem Hals, weitet und schließt sich mit jedem Atemzug. Am rechten unteren Bildrand erscheint ein Slogan: »Keiner spürt es so wie Du«. Die Musik ebbt ab, zurück bleibt ein pulsierender Ton wie das verstärkte Geräusch eines Blutkreislaufes. Schnitt. Comic relief: Wir sehen unseren Lehrer nun in Arbeitsmontur, er verputzt den Riss mit Mörtel. Die Sonne scheint wieder, Vögel zwitschern. Logo und fröhliches Jingle der Baumarktkette »Hornbach«. 2

Abb. 1 | Hornbach-Kampagne »Keiner spürt es so wie Du«, Werbeagentur Heimat Berlin, 2012, (Videostill).

Das filmische Narrativ führt uns in einem doppelten Sinne ins Feld der Ökonomie. Es geht nicht nur um die geschickte Vermarktungsstrategie von Heimwerkerbedarf einer großen Handelskette, der kurze Film umspielt thematisch auch jene grundlegenden Bedrohungen oder Probleme, welche den Bereich der oikonomia betreffen, so wie der französische Philosoph Jacques Derrida ihn begreift, also in enger Verbindung zu dem »Gesetz des Hauses und zu dem Gesetz des Eigentums, des Eigenen«.3 Als Ort des Ineinandergreifens dieser Bereiche, des Wohnens und des Besitzens, geschieht an und in dem gezeigten ›Eigenheim‹ etwas Unheimliches: ein Riss bedroht die Stabilität des Hauses, gefährdet dabei nicht nur das 2 |  Der Videoclip findet sich online auf der Seite der Werbeagentur Heimat Berlin. Zugriff unter http://www.heimat-berlin.com/arbeiten/kampagnen/HornbachKeiner%20spürt%20es%20so%20wie%20Du./256b5f9fe6739a4ad683f8187ef29 6de. am 21. Aug. 2016. 3 |  Derrida, Jacques: »Der Entzug der Metapher«, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt am Main: 1998. S. 197-234. Hier: S. 213.

1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper

Eigentum als solches, sondern dehnt seinen Wirkungskreis auf unerklärliche Weise weiter aus: ein mysteriöser Doppelgänger des Risses, ein geisterhaftes Double findet sich plötzlich, wie ein Ableger, im Körper des Hauseigentümers wieder. Die Spaltung/Dopplung des Risses, sein unerklärliches Überspringen und ambivalenter diegetischer Status, dieses doppelte ›Spiel‹ des Risses ist das zentrale filmische Motiv, welches dem ökonomisch kurz gehaltenen Narrativ zuerst die notwendige Dynamik verleiht und am Ende für eine überraschende Wendung sorgt. Dass es sich bei der Figur des Risses in diesem Werbeclip um keine einfache filmische Metapher handelt, wird schon aufgrund ihres doppelten Auftretens deutlich. Aufgrund seiner Spaltung/Dopplung drängt sich die Frage auf, mit welcher Logik diese beiden Figuren von Rissen, am Haus und am Körper, eigentlich verbunden sind, welche symbolischen Wechselwirkungen bestehen zwischen ihnen? Während uns ein Riss an der Hausfassade als relativ gewöhnliches Alltagsphänomen erscheint, wirkt dessen überraschendes Auftreten am Körper, seine Erscheinungsweise als versteinerte Wunde im Nacken des Hausbesitzers überaus befremdlich. Während wir vielleicht geneigt sind, die körperliche Erscheinung in einem übertragenen Sinne als filmische Metapher zu begreifen (das Gefühl, dass uns etwas im sprichwörtlichen Sinne ›wie ein Riss‹ durchfährt, erscheint uns als Phänomen vertraut), wird demgegenüber auf filmischer Ebene dessen materielle ›Wirklichkeit‹ behauptet. So bleibt der Riss am Hals ein unerklärlicher Fremdkörper – als entspringe er einem Horror- oder Science-Fiction-Film oder anderen einschlägigen Genres. Beide Figuren des Risses im Werbefilm scheinen so, jeweils für sich in unterschiedlicher Weise – aber besonders auch in Ihrer eigenartigen Verbindung –, unweigerlich auf den Topos des Unheimlichen hinzudeuten. Das Unheimliche wäre dabei, wie Freud dargelegt hat, vom Vertrauten, vom Heimlich-Heimischen her zu verstehen, oder andersherum: Mit der Logik des Heims und des Heimlichen ist stets zugleich auch das Unheimliche als Spur des Fremden im Eigenen und die enge Verbindung von vermeintlich Unbekanntem und etwas Altvertrautem aufgerufen.4 Der Werbeclip spiegelt ein so gedachtes Unheimliches in den Wechselwirkungen zwischen Haus und Körper wider, als Übersprungsmomente zwischen zwei Bereichen, die wir gewöhnlicher Weise versuchen, strikt getrennt zu halten: Belebtes und Unbelebtes, Mensch und Ding.5 Freud nennt die Verschie4 | Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Ders. und Freud, Anna (Hg.): Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1917 - 1920, Bd. 12, 1966. S. 227-268. Hier: S. 231ff. 5 | Zu den Grenzüberschreitungen zwischen den Kategorien Mensch, Tier und Ding aus einer Perspektive von Tanz und Bewegungsforschung vgl. Brandstetter, Gabriele: »Human, Animal, Thing. Shifting boundaries in modern and contemporary dance«, in: Gabriele Brandstetter, Holger Hartung (Hg.): Moving (Across)

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Einleitung

bungen und Durchbrechungen der kategorischen Ordnungen »Animismen«.6 Der Riss ist innerhalb des kurzen Films zentrales Motiv und dynamische Figur der Übertragung, er zeigt sich als rätselhafter Konnex, betrifft Haus wie Körper, überspringt ihre kategorische Trennung, bringt etwas Dinghaftes am Körper und etwas Körperliches am dinghaften Haus hervor. Er durchbricht die Trennung unbelebter Materie und des organisch Lebendigen. Im Sinne dieser animistischen Logik käme dem (gedoppelten) Riss aufgrund seiner Tendenz zum materiellen Sprung und zur kategorialen Übertragung, selbst ein quasi-lebendiger Status zu, der Riss wäre im Sinne Jean Piagets selbst etwas Lebend-Bewegtes.7 Durch diese Verbindungen des Risses, sein Überspringen zwischen sonst getrennten Kategorien, findet somit im animistischen Sinne eine Verlebendigung statt. Das Haus im Werbeclip wird zu einem erweiterten Sensorium des Körpers, und andersherum wird der Körper zu einem empfindlichen Nervenzentrum des Hauses. Es wird eine (un)heimliche Verbindung im Form von Wechselwirkungen durch den doppelten (übertragenen und übertragenden) Riss in Szene gesetzt, deren inhärente, irrationale Logik und deren eigenartige Plausibilität, wie Freud mit Blick auf die Ausführungen E. Jentsch’ zum Unheimlichen formuliert, »intellektuelle Unsicherheit«8 verursachen. Die hauptsächliche Bedrohung der Figur des Risses generiert sich dabei zum einen aus der Tendenz, plötzlich und unvermittelt aufzutauchen oder unerwartet wieder aktiv zu werden. Zum anderen besteht das Kuriosum des Risses in seiner temporal wie räumlich sprunghaften Ausbreitung, in diesem Beispiel insbesondere in seiner geheimnisvollen, merkwürdigen Verdopplung und der Eigenart, wie eine Pflanze Ableger zu erzeugen. Dieses eigenartige ›Wuchern‹9 des Risses weist in der mehrdeutigen Logik der oikonomia auf kategorische Kontaminationen zwischen Ökonomie und Ökologie hin und über Borders, Bielefeld: transcript, 2017. S. 23-42. Zusätzlich zur Vermischung zwischen menschlichen und tierischen Aspekten wäre in diesem Fall auch die Grenze zum Bereich des Pflanzlichen aufgerufen. 6 | Freud: »Das Unheimliche«. S. 253. 7 | Eine häufige Definition des Lebendigen im Animismus wird durch dessen (autonome) Bewegung bestimmt: Das was sich bewegt ist lebendig, animiert. (Ich danke Gerko Egert für diesen Hinweis). Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem die dritte, bereits reflektierte Stufe animistischer Zuschreibung bei Kindern, wie sie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget beschrieben hat. Vgl. Piaget, Jean und Kohler, Richard: Das Weltbild des Kindes Schlüsseltexte Band 1. Stuttgart: Klett-Cotta, 2015. S. 205ff. 8 | Freud: »Das Unheimliche«. S. 231. 9 | Im Sinne dieses un-ökonomischen, organischen Wucherns sei hier kurz auf das Rhizom-Konzept von Deleuze und Guattari hingewiesen, dem ein unhierarchisches Denk- und Wissensmodell zugrunde liegt, das sich konventionellen Wissenskategorisierungen widersetzt. Vgl. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Rhizom. Berlin: Merve-Verl., 1977.

1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper

sie hinaus: es deutet auf eine Bewegung des unkontrollierten, unlogischen sowie unökonomischen Ausbreitens, die stets droht, weitere Grenzen zu überspringen. Der Riss, der anscheinend im Bereich des Hauses seinen Anfang genommen hat, überträgt sich aus der Ferne auf den Eigentümer und könnte – so suggeriert es jedenfalls die vorletzte Kameraeinstellung in der wir den Protagonisten von hinten sehen – sich möglicherweise mit einem erneuten ›Sprung‹ noch weiter fortpflanzen und auch uns, die exegetischen Betrachter*innen betreffen (als ein weiterer ›Medien-‹ bzw. »Bild-Sprung«10). So, wie der Protagonist mit dem Rücken zur Kamera vor uns steht, stellt er quasi einen Doppelgänger der Zuschauenden dar, eine Art diegetische Dopplung unserer selbst – wir betrachten zugleich ihn von hinten, schauen mit ihm gemeinsam auf die Wand und erkennen in diesem gemeinsamen Betrachtungsszenario uns aus einem verschobenen, gespaltenen Blickwinkel selbst wieder. In dieser Konstellation entdecken wir mit leichtem Schrecken einen blinden Fleck, einen unheimlichen Punkt an uns selbst: die klaffende Wunde am Nacken des Betrachters erscheint just an jener Stelle, die uns an unserem eigenen Körper, selbst im Spiegel, stets verborgen bleibt.11 Dieser Riss findet sich an (der) Stelle des blinden Flecks am Körper vor uns und erinnert uns damit an die Unzugänglichkeit und stellenweise Fremdheit unseres eigenen

10 | Vgl. Brandstetter, Gabriele: Bild-Sprung: TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. Berlin: Theater der Zeit, 2005a. 11 | Hier drängt sich zwar ein Hinweis auf das Spiegelstadium im Lacan’schen Sinne einerseits zwar auf, diese Parallele wird aber von vornherein doppelt gebrochen: mit dem vorliegenden Betrachtungsszenario der Rissfigur stellt sich eben gerade keine klare Spiegelsituation im Lacan’schen Sinne her, sondern eher eine Betrachtungssituation wie in René Magrittes La Reproduction interdite, 1937, oder eine ›gebrochenene‹ Spiegelsituation wie in Edouard Manets Bild Un Bar des Folies-Bergère (um 1880), wo der ›Riss‹ im übertragenen Sinne als eine symbolische Brechung der gespiegelten Perspektive zu verorten wäre. Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstatium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949)«, in: Haas, Norbert (Hg.): Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 61-70. Wie Annette Bitsch erläutert, wird nach Lacan im Spiegelstadium die »klassische Distinktion zwischen Subjekt und Objekt […] aufgehoben zugunsten einer Prozedur, die aus einer temporalisierten, für das Subjekt konstitutiven Spaltung hervorgeht«. Bitsch, Annette: »Ex Nihilo – Das Spiegelstadium in der Zeit von Lacan, Heidegger und Dalí«, in: Blümle, Claudia und von der Heiden, Anne (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich [u.a.]: Diaphanes, 2009. S. 359-392. Hier: S. 60. Ob der Riss in diesem Falle allerdings auf der spaltenden Seite oder jener der stabilisieren, »symbolischen Gesetzesfunktion« (ebd.) zu verorten wäre, bleibt ambivalent.

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Einleitung

Körpers – dieser (un-)sichtbare Konnex wiederum verbindet uns mit- und trennt uns zugleich von dem Protagonisten des kurzen Clips.12 Der Riss an der Fassade des eigenen Hauses – nach der Logik dieses Werbefilms handelt es sich um eine tiefgreifende Bedrohung für Besitz und Besitzende, ein fundamentaler Anlass zur Sorge, der vorübergehend vergessen schien, der sich aber ab einem gewissen Punkt nicht länger verdrängen lässt. Solch Verdrängtes als etwas, das an die Oberfläche unserer Wahrnehmung zurückkehrt, ist nach Freud genau das Unheimliche: »[D]ies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist«, so Freud.13 Etwas später heißt es weiter: »Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.«14 Der (doppelte/gespaltene) Riss, so könnte also einerseits eine psychologisierende Lesart lauten, wird hier zur filmischen Metapher des Verdrängten, zur »Marke der Verdrängung«15, welches spürbar an die Oberfläche der Wahrnehmung zurückkehrt und dort unsere Aufmerksamkeit als Homo oeconomicus einfordert. Zugleich wird dabei die Figur des Risses als Spur einer Verkörperung lesbar, mit der sich das Verdrängte dem Körper bereits eingeschrieben hat und uns im Verlauf der Zeit selbst als etwas Vertrautes erscheint. In den Zwischenräumen eines solchen Spektrums phänomenaler, psychologischer und animistischer Betrachtungen sowie in einem sprichwörtlichen Sinne, entwickelt der Riss eine Art unheimliches ›Eigenleben‹ als eine eigen-artige Doppel-Erscheinung. Der Riss führt ein zwiespältiges Doppel-Leben an der Trennlinie zwischen Fremdem und Vertrautem, Lebendigem und Un-Lebendigem und erzeugt so als trennende Verbindung Bereiche des Fremd-Vertrauten und Vertraut-Fremden, das nicht nur topografisch, sondern mit Freud zugleich temporal zu bestimmen wäre. Der Riss als Marke der Verdrängung und die daraus resultierende tiefe »intellektuelle Unsicherheit«16 trifft unseren Lehrer im Werbeclip freilich besonders schwer, ist die Existenzbedrohung doch somit ebenfalls eine Mehrfache: nicht nur seine intellektuellen Gewissheiten stehen auf dem Spiel, auch seine ›materielle Sicherheit‹ gerät ins Wanken, wenn die Grundmauern seines mühsam erarbeiteten, oder möglicherweise geerbten Eigenheims in Gefahr sind. Am Rande dieser ökonomisch-kurzen Geschichte werden mit dem Riss in Verbindung mit Fragen der Verdrängung einerseits und dem Bild einer alten, baufälligen Villa andererseits, en passant, auch spezifische Fragen des Erbes und 12 | Zum Aspekt von Rissen als trennende Verbindung vgl. das Kapitel »Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen (Derridas Vom Geist)«, der vorliegenden Arbeit S. 177ff. 13 | Freud: »Das Unheimliche«. S. 254. 14 | Ebd. S. 259. 15 | Ebd. 16 | Ebd. S. 231.

1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper

der Nachkriegsgeschichte aufgeworfen, welche insbesondere aus einer deutschen Perspektive die Kinder- und Enkelgenerationen nach wie vor, bzw. erneut stark beschäftigen: Welche (Familien-)Geschichte und stummen Zeugenschaften sind mit diesen Häusern verbunden, woher stammt eigentlich der Besitz der (Groß-)Elterngenerationen, welche weiteren Hinter- bzw. Abgründe treten möglicherweise mit dem Riss ans Licht? Es ergeben sich so Fragen nach der Beteiligung vorangegangener Generationen, insbesondere der eigenen Familie in Kriegszeiten, während des Nationalsozialismus und seiner Gräueltaten, am Holocaust. Welche Verantwortung, welches Erbe im übertragenen Sinne ist so mit dem weitergegebenen Familienbesitz verbunden, welche Täter- und Opferrollen sind und waren damit verknüpft, welche Tabus oder Traumata sind (noch) daran gebunden? Welche Erinnerungen stehen unwillkürlich mit dem alten Gebäude in Zusammenhang und welche Verdrängungen haben hier stattgefunden? Bedroht der Riss in der Hauswand somit, übertragen gesprochen, möglicherweise das Bild einer heilen Familie als ›bloße Fassade‹? Als bildliche Metapher tief sitzender individueller und/oder kollektiver Traumata knüpft der Werbeclip mit dem visuellen Topos des Risses so an eine Reihe existierender filmischer17 und literarischer18 Vorbilder an: Erinnert sei in diesem Kontext insbesondere an den rätselhaften Schluss in Ingeborg Bachmanns symbolisch aufgeladenen Nachkriegs-Roman Malina,19 dessen weibliche, namenlose Protagonistin am Ende ihrer von Traumata geprägten Auseinandersetzung mit den dominanten, männlichen geprägten Strukturen der Kriegs- und Nachkriegszeit schließlich stumm in einem Riss in der Wand verschwindet.20

17 | Ein Beispiel für den Riss als bildliche Metapher eines gestörten inneren Seelenzustandes wären z.B. die schrittweise psycho-pathologische Entrückung der Protagonistin in Roman Polanskis Film Repulsion (1965, dt. Ekel). 18 | Ebenso wäre die Figur des Risses als ein zentrales Motiv in Phillipe Toussaints Das Badezimmer zu nennen, auf welche der Protagonist an seinem Rückzugsort, dem titelgebenden Badezimmer starrt, vgl. Toussaint, Jean-Philippe: Das Badezimmer. Frankfurt am Main: Frankfurter V.-A., 2004. Oder auch der Riss in der Wand als beinah epiphanes Ereignis der fragmentarisch zurückkehrenden Erinnerung in Tom McCarthys Roman Remainder. Vgl. McCarthy, Tom: Remainder. Richmond: Alma Books, 2011. 19 | Bachmann, Ingeborg: Malina (Roman). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971. 20 | Sandra Boihmane hat in ihrer bemerkenswerten Untersuchung auf die vielfachen Bedeutungsebenen alleine des Romantitels hingewiesen. Sie zeichnet hier u.a. die Bedeutung des Begriffs ›Malina‹ als verborgener Ort hinter einer doppelten Wand nach, der als geheimes Versteck in den Ghettos Verfolgte vor dem Zugriff der Nationalsozialisten schützen sollte. Vgl. Boihmane, Sandra: Malina – Versteck der Sprache: die Chiffre »Malina« in Ingeborg Bachmanns Werk und in Zeugnissen von ZeitzeugInnen. Berlin: Neofelis, 2014.

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Einleitung

Eine solche Geschichte der (symbolischen) Auflehnung gegen die vielfältigen meist unverarbeiteten, traumatischen Unrechtsgeschehen und dominanten Strukturen bleibt in dem oben skizzierten Werbeclip für Handwerkerbedarf freilich ausgeblendet, jedoch deutet sich ein derartiger Kontext latent an: ein dunkles Kapitel in der Vergangenheit der Familie, in der Geschichte des Hauses, ein widerfahrenes Unrecht, ein traumatisches Geschehen, eine aufgeladene Schuld – all dies wären typische Narrative die zur Stimmung des gezeigten Szenarios passen würden. Letztendlich liegt die Pointe des Werbeclips, welche schließlich das erleichternde, erheiternde Moment in der letzten Einstellung bestimmt, dann jedoch darin, dass der gezeigte Riss gerade eben nicht symbolisch auf etwas Unaufgearbeitetes hinzudeuten scheint. Just wo sich quasi eine Hintergrundgeschichte abzuzeichnen beginnt, schneidet der aus ökonomischen Gründen kurz gehaltene Werbeclip, die sich anbahnende Story abrupt ab – und macht mit dem filmischen Schnitt zugleich einen (weiteren) narrativen Sprung: Der Riss in seiner unheilvollen Erscheinung stellt sich überraschender Weise, d.h. entgegen unserer filmischen Erwartung, selbst als die Ursache der Bedrohung heraus, es geht um ihn, den Riss, als einer stofflich-materiellen Erscheinung, die es mit etwas Mörtel im DIY-Verfahren einzudämmen gilt.21 Doch selbst hier bleibt die Figur des Risses zwiespältig: steckt nicht gerade in ihrem Selbstbezug, als bloßes, materielles Phänomen bereits wieder der Ansatz zu etwas hochgradig Symbolischem, eine Verdrängung der Verdrängung? Verschwinden der Riss und die Sorge um ihn (und das, was mit ihm ans Tageslicht treten könnte) wirklich endgültig unter dem Putz oder schlummert diese Gefahr des Hervorbrechens und Aufreißens unter der verputzten Oberfläche weiter? Der Werbeclip bringt – nicht ohne (Selbst-)Ironie – in ungewöhnlich deutlicher Weise ein Thema hervor, das sonst nur höchst selten so explizit in den Vordergrund tritt: Risse als symbolträchtige, bedeutungsschwere Figuren und zugleich ›banale‹ Erscheinungsformen des alltäglichen materiellen Verfalls. In der ambivalenten Spannung dieser beiden Erscheinungsformen und dem darum 21 | Zugleich wird mit diesem ironischen Schlussbild, wenn man so will, auf medialer Ebene die Frage des Schnittes als ein Gegenmodel zum visuellen Topos des Risses positioniert: der Schnitt als ein scheinbar verwandtes Phänomen zeigt sich bei näherer Betrachtung als eine äußerst unterschiedliche Figuration, eine ganz andere Art von Bewegung. Der filmische Schnitt, über den es mittlerweile umfassende Diskurse und Forschungsliteratur gibt, funktioniert nur scheinbar in ähnlicher Weise (Szenen-)verbindend (und trennend) – dieser erweist sich hier als ein Mittel der Eindämmung, eine Gegenfigur des Risses. Vgl. zum Topos des Schnittes beispielsweise das Essay des Film-Cutters Murch, Walter: Ein Lidschlag, ein Schnitt: die Kunst der Filmmontage. Berlin: Alexander-Verl., 2004. Vgl. weiterhin Schlemmer-James, Mirjam: Schnittmuster: affektive Reaktionen auf variierte Bildschnitte bei Musikvideos. Münster: LIT, 2006.

1. Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper

konstruierten unheimlichen, mehrdeutigen Betrachtungsszenario, das spielerisch einige zentrale Merkmale und Bezüge von Figuren des Risses aufgreift und so unter anderem die Bereiche von Metaphorik, Ökonomie, Körper- und Medienfragen in Beziehung setzt, wäre das thematische Feld der vorliegenden Arbeit vorläufig markiert, um nicht zu sagen, angerissen. Sich solchen Figuren des Risses selbst zuzuwenden, diese zum Gegenstand zu machen und ihnen in philosophischen, künstlerischen und exemplarischen kulturellen Kontexten nachzuspüren, darum soll es in der vorliegenden Arbeit gehen.

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2. Fragehorizonte: Zur Performativität von Rissfiguren

Die vorliegende Dissertation zielt darauf ab, performative Dimensionen von Rissfiguren im Kontext von Philosophie und Sprache einerseits, sowie andererseits innerhalb von diversen künstlerischen und kulturellen Szenarien zu untersuchen. Aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive erscheint die performative Dimension, d.h. wirklichkeitskonstituierende und selbstreferentielle Eigenschaft von Rissfiguren zwar naheliegend, dennoch stellen Risse für den Begriff des Performativen eine besondere Herausforderung dar, denn sie lassen sich nicht ohne Weiteres unter dem zumeist vorausgesetzten Paradigma körperlicher Handlungen und Akte subsumieren: Der Begriff [der Performativität, H.H.] bezeichnet bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken. 1

Wie ich in dieser Arbeit argumentieren möchte, kreieren Risse zwar aufgrund ihrer performativen Dimension in vielfältiger Weise Bezüge zum Körper, nämlich indem sie Schau-Räume eröffnen und affektive Relationen zu (potentiellen) Betrachter*innen schaffen, zugleich sind sie dabei selbst als fundamental abwesende, unkörperliche Figuren innerhalb materieller Dynamiken zu begreifen. In diesem Sinne wird mit Bezug auf Rissfiguren primär ein radikales Performativitätskonzept relevant, wie Erika Fischer-Lichte dieses ausgehend von Ansätzen Sibylle Krämers wie folgt bestimmt: »Das radikale Konzept verweist auf die Fähigkeit des Performativen, eine operativ-strategische Funktion zu erfüllen, welche die Grenzen von dichotomischen Klassifikationen, Typologien 1 |  Fischer-Lichte, Erika: Performativität: eine Einführung. Bielefeld: transcript, 2012a. S. 44.

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Einleitung

und Theorien aufzeigt und unterläuft.«2 Im Falle von Rissfiguren wird dabei insbesondere die Dichotomie zwischen statisch gedachten Dingen und Gegenständen einerseits, sowie handlungsfähigen Akteuren andererseits unterminiert und dementsprechend das Performativitätskonzept und dessen (materielle) Voraussetzungen kritisch in Frage gestellt. Zu ihrer theaterwissenschaftlichen Untersuchung gilt es so zunächst, das zugrundeliegende Materialitätskonzept innerhalb der Performativitätsdebatten entsprechend zu erweitern und zwar im Sinne einer bewegten Stofflichkeit – wie Jane Bennett formuliert, im Sinne von vibrant matter.3 Eine der Grundannahmen der vorliegenden Arbeit besteht darin, Risse als latente Bewegungen, d.h. als ambivalente, dynamische Figuren zwischen Materialität und Immaterialität, zwischen sprachlich-diskursiver Verfasstheit und stofflich-materieller Phänomenalität zu betrachten. Der methodische Ansatz geht davon aus, dass theater- und tanzwissenschaftliche Diskurse neben ihrer grundsätzlich interdisziplinären Offenheit besonders dazu gerüstet sind, Phänomene zu untersuchen, die aufgrund ihres ephemeren, dynamischen und/oder transformatorischen Charakters sprachlich schwer zu greifen sind. In fundamentaler Weise trifft dies auch für Phänomene von Rissen zu. Die Ephemeralität von Rissen ist dabei (mindestens) als eine zweifache zu berücksichtigen: während sie selbst als instabile, sich in häufig unvorhersehbaren Sprüngen verändernde Figuren der Bewegung erscheinen, weisen sie zugleich auf andauernde Transformationen innerhalb des zugrundeliegenden, sie tragenden Materials oder der sie bedingenden Struktur hin und stellen so deren Stabilität und Statik fundamental in Frage. Im übertragenen Sinne gilt dies auch für sprachliche Figuren von Rissen innerhalb von theoretischen und philosophischen Kontexten. Als Figuren latenter Bewegungen4 können Risse plötzlich und unvorhergesehen auftreten, sich sprunghaft ausbreiten und dadurch potentiell ihre eigene Erscheinungsform sowie ihr Umfeld strukturell und fundamental verändern. Sie können somit Ergebnis und zugleich Ausdruck materieller Spannungen und stattfindender irreversibler Transformationen sein. Risse haben somit stets eine performative, d.h. Wirklichkeit verändernde Dimension. Zudem eröffnen Risse komplex verwobene Konstellationen eines materiellen (Sich-)Zeigens und (Sich-) 2 |  Ebd. 3 |  Vgl. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A political ecology of things. Durham: Duke University Press, 2010. Bennett macht es sich zur Aufgabe, »[to develop] a vocabulary and syntax for, and thus a better discernment of, the active powers issuing from nonsubjects. I want to highlight what is typically cast in the shadow: the material agency or effectivity of nonhuman or not-quite-human things«. Ebd. S. ix. S.a den Abschnitt »Materialität/en« im vorliegenden Band, S. 44ff. 4 |  Vgl. den Abschnitt »Latenz von Rissfiguren, Risse als latente Bewegungen« im vorliegenden Band S. 64ff.

2. Fragehorizonte: Zur Performativität von Rissfiguren

Verbergens, die sich zu latent bedrohlichen, affektiven Szenarien verdichten können und uns als solche auch in verschiedenen künstlerischen Anordnungen und Konfigurationen begegnen. Interessant sind hier besonders jene Konstellationen, in denen Rissfiguren aus dem Umfeld ihrer latenten Darstellung bzw. Wahrnehmung hervortreten und sich zu affektiven Betrachtungsszenarien entwickeln. Desweiteren ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, in welcher Weise sich diese Szenarien als dynamische Konfigurationen und Bewegungsanordnungen zeigen. Zentrale Ausgangsfragen lauten somit: 1. In welchen Theorien und philosophischen Texten finden sich Figuren des Risses und wo werden diese explizit zum thematischen Gegenstand? Wie verändern Rissfiguren dabei die Argumentationslinien und welche neuen Dynamiken entstehen durch sie innerhalb der Texte? 2. In welchen kulturellen und künstlerischen Kontexten finden sich Figuren des Risses, insbesondere im Bereich von Performance, Tanz und Theater? Wie werden durch Rissfiguren Bewegungsanordnungen und affektive Betrachtungsszenarien eröffnet? 3. Welche Auswirkungen hat die Betrachtung von Rissfiguren auf das Verhältnis von- und die Wechselwirkungen zwischen ästhetischer Theorie und performativer Praxis? Lässt sich durch Rissfiguren die häufig konstatierte ›Kluft‹ zwischen Theorie und Praxis neu bewerten und produktivieren? Performative Rissfiguren in Philosophie und Sprache sowie innerhalb künstlerischer Praktiken auf- und ihnen nachzuspüren, sie eingehend zu untersuchen sowie die Kontexte und Bedingungen ihres theoretischen und künstlerischen In-Szene-Setzens zu beleuchten, sollen somit weitere Ziele der vorliegenden Arbeit sein. Der erweiterte Fragehorizont der Untersuchung konturiert sich dabei wie folgt: • Wie lässt sich das Auftreten von Rissfiguren, das, so die These, stets latent eine Szene des Materiellen eröffnet, mit Hilfe theater- und tanzwissenschaftlicher Kategorien fassen, und wie lässt sich deren potentielles, materielles und immaterielles Ausbreiten sprach- bzw. bewegungsanalytisch beschreiben? • In welcher Beziehung stehen Figuren- bzw. Szenarien von Rissen und (Körper-)Bewegungen, wie beeinflussen sie sich gegenseitig, wie initiieren-, aber auch beschränken oder verhindern sie sich? Was verändert sich durch die aktive Betrachtung von Rissen als (latente) Bewegungen?

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• Welches transformatorische und epistemische Potenzial entsteht aus dieser Verbindung? Was zeigt sich an jenen Stellen, an denen Rissfiguren auftreten und ausgestellt werden bzw. als Gegenstände hervortreten – welche Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten? • Wie tangieren uns Figuren des Risses als Betrachtende, Lesende und Wahrnehmende? In welcher Weise affizieren uns die unterschiedlichen Figuren von Rissen, wie beziehen sie sich auf unsere leibliche Wahrnehmung und unser körperliches Empfinden? Bei dieser Spurensuche geht es somit zentral um Zusammenhänge zwischen materiellen und physischen Dynamiken sowie theoretischen Dynamisierungen – sie betreffen sowohl den Gegenstand der Betrachtung als auch den methodischen Ansatz: Wenn wir davon ausgehen, dass Risse als (latente) Bewegungen Anlass zu weiteren Bewegungen geben, so geht es dabei auch um physisch zu situierende Denkbewegungen, die sich in Formen des körperlichen In-Bewegung-Setzens von Betrachtenden, Performenden, Zuschauenden, Tanzenden realisieren und fortsetzen. Die Befragung von Rissen als ›Gegenstand‹ der Betrachtung soll somit zugleich auch nach dem methodischen Potenzial risshafter Verfahren und Denkbewegungen fragen: • Welche Implikationen ergeben sich aus den spezifischen Dynamiken diverser materieller und diskursiver Rissfiguren für eine systematische Annäherung an das Phänomen und deren künstlerische Inszenierung? • Wie muss eine theater-bzw. tanzwissenschaftliche Annäherung methodisch strukturiert werden, um sich dem Phänomen angemessen zu nähern und es zu beschreiben? • Wie können die beschriebenen Aspekte der Kontingenz (als Sprünge von Rissen), d.h. jene Dimensionen des Unvorhersehbaren, Schwierigzu-Kontrollierenden, des Überspringens, Auswachsens, Wucherns aber auch Probleme (und wiederum Potenziale) des vorübergehenden Stillstandes und der resultierenden Latenz adäquat problematisiert werden? • Welche Ableitungen lassen sich erkenntnistheoretisch und methodisch aus den eingehenden Betrachtungen von unterschiedlichen Rissfiguren und den sie umgebenden Szenarien gewinnen? Die Arbeit eröffnet so aus theater- und tanzwissenschaftlicher Perspektive ein neues Untersuchungsfeld: sie beschäftigt sich durch die Betrachtung von Rissfiguren aus theatraler, performativer, choreographischer Sicht mit den Dynamiken materieller Strukturen als fundamentale ›Rand‹-bedingungen ästhetischer

2. Fragehorizonte: Zur Performativität von Rissfiguren

Erscheinungs- und Darstellungsformen und fragt nach adäquaten Methoden und Mitteln ihrer Analyse. In den zu beschreitenden Grenzbereichen zwischen Materialität, Wahrnehmung, Bewegung und Sprache sollen die Beziehungen und Bezüge künstlerischer Darstellungsformen, ihrer ästhetischen Betrachtung und den jeweils rahmengebenden sprachlichen Diskursen aus Perspektive ihrer Leerstellen, Lücken und blinden Flecken sowie ihrer kontingenten Sprünge und Überbrückungen, ihrer Bewegungen und gegenseitigen Bezüge, kurz: aus Perspektive ihrer Risshaftigkeit, erstmals grundlegend erforscht werden.

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3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren

Im Kontrast zur ubiquitären Verwendung von Riss-Metaphern z.B. in Schlagzeilen von Tageszeitungen, gesellschaftspolitischen Texten sowie dem Auftreten der Figur als visueller Topos z.B. in der Werbung, ist die Figur des Risses als solche1 in geisteswissenschaftlichen Diskursen bisher nur sehr begrenzt zum expliziten Gegenstand eingehender Betrachtungen geworden; sie blieb bisher in doppeltem Sinne eine Randfigur. In den meisten Einführungen, philosophischen, ästhetischen, religiösen, oder theaterwissenschaftlichen Lexika sucht man den Begriff derzeit vergebens.2 Dabei ist festzustellen, dass bestimmte (westliche) philosophische und religiöse3 Traditionen eine hohe Affinität zu Rissen als Denkfiguren aufweisen und zwar als grundlegende Figuren eines in Bewegung geratenen, dynamischen Denkens, mehr noch: als Denkbewegungen selbst. In diesen Diskursen taucht die Figur des Risses jedoch trotz ihrer ›Bedeutungsschwere‹ dabei meist unvermittelt und eher en passant auf. Die Diskrepanz zwischen der Unvermitteltheit und Selbstverständlichkeit einerseits, mit der die Figur und Metapher des Risses 1 |  Es bleibt an dieser Stelle vorläufig dahingestellt, was eine solch ontologische Perspektive auf Rissfiguren bedeuten würde und in welcher Weise sie ›als solche‹ zu durchdenken sinnvoll sowie zielführend sein könnte. 2 |  Vgl. Barck, Karlheinz und Fontius, Martin: Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1990-. Sowie Betz, Hans Dieter: Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen: Mohr Siebeck, 1998–2007. Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried und Eisler, Rudolf: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe, 1971-2007. Ebenso Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris und Warstat, Matthias: Metzler-Lexikon Theatertheorie. Stuttgart u.a.: Metzler, 2005b. 3 | Hier wären insbesondere jüdisch-christliche Traditionen zu nennen, vgl. hierzu den Abschnitt »Der Tod Jesu / Riss des Tempelvorhangs«, im vorliegenden Band S. 128ff.

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Eingang in theoretische und philosophische Diskurse findet, und ihre teilweise wenig hinterfragte Obskurität andererseits, ist dabei frappant. In diesem widersprüchlichen Spannungsverhältnis spielt die Figur des Risses so auch in strukturalistischen Debatten, beispielsweise in der gegenseitigen Bezugnahme von Michel Foucault und Gilles Deleuze stellenweise eine signifikante Rolle: Deleuze beschreibt Foucaults Abhandlung über die Ordnung der Dinge als den Entwurf eines neuen Denkens wie folgt: Es handele sich, so Deleuze, um ein Denken, das von sich aus in Beziehung zum Dunklen steht und in seiner ganzen Länge von einem Riß durchzogen wird, ohne den es sich doch nicht entfalten könnte. Dieser Riß kann nicht beseitigt werden, weil er selber der höchste Gegenstand des Denkens ist: der Mensch vermag ihn weder zu beseitigen noch zu kitten, weil er im Menschen das Ende des Menschen oder der Ursprung des Denkens ist. Das Cogito eines aufgelösten Ich...4

Foucault schreibt wiederum in Bezug auf Deleuze: Das Buch [Différence et répétition, Anm. H.H.] von Deleuze sollte man aufschlagen wie die Türen eines Theaters, wenn das Rampenlicht aufleuchtet und der Vorhang sich hebt. Zitierte Autoren und unzählige Anspielungen – das sind Personen. Sie sagen ihren Text auf (den Text, den sie anderswo, in anderen Büchern, auf anderen Szenen gesprochen haben und der sich hier anders abspielt; das ist die listenreiche Technik der ›Collage‹). […] Und plötzlich mitten im Buch (Deleuzens Ironie präsentiert ja das göttliche Hinken der Differenz in aller akademischen Form) – plötzlich die Wende. Der Schleier zerreißt: dieser Schleier ist das Bild, das sich das Denken von sich selber gemacht hatte und das es seine Härte ertragen ließ.5

Die Figur des Risses erweist sich bei Deleuze geradezu als eine grundlegende Denkfigur (sogar als »höchster Gegenstand des Denkens« und »Ursprung des Denkens«6) und aus Foucaults Perspektive (auf Deleuze) als quasi-epiphanes 4 | Deleuze, Gilles: »Der Mensch, eine zweifelhafte Existenz«, in: Deleuze, Gilles / Foucault, Michel (Hg.): Der Faden ist gerissen, Berlin: Merve, 1977. S. 13-20. Hier: S. 17f. 5 | Foucault, Michel: »Der Ariadnefaden ist gerissen«, in: Ebd. S S. 7-12. Hier: S. 9. Mateusz Kapuska leitet aus der nämlichen Stelle die »überagende Relevanz des Textilen als eine[r] konventionellen Repräsentationfigur« ab. Ein »textiler Bild-Riss im Bild« sei in dieser Hinsicht »zwischen dem entfremdenden Zerfall und dem einladenden Akt der der Öffnung zu verorten« Kapustka, Mateusz: »Bild-Riss und die Aporie der Sichtbarmachung. Eine Einführung«, in: Ders. (Hg.): Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, Emsdetten, Berlin: Edition Imorde, 2015. S. 7-18. Hier: S. 7. 6 | Deleuze: »Der Mensch, eine zweifelhafte Existenz«. S. 17.

3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren

Ereignis, eine fundamentale Wende im Denken, die zugleich tief eingefaltet und verstrickt in eine Vorstellung von Philosophie ist, welche eng mit theatralen Prinzipien verwoben ist. Jedoch lösen sich solche Verweise auf Rissfiguren im weiteren Verlauf der Texte häufig genauso unvermittelt wieder auf wie sie aufgetreten sind, Ihnen haftet so gesehen etwas Ereignishaftes und Enigmatisches an. Damit sind bereits zentrale Dimensionen angeschnitten, denen insbesondere der erste, primär theoretische fokussierte Teil der vorliegenden Arbeit nachspüren wird. Risse erscheinen hier als Bedingung und Form eines in Bewegung geratenen Diskurses, sowie als plötzliches, (epiphanes) Ereignis, das sich innerhalb des Denkens ereignet, das dem Denken als Form einer Wende widerfährt – ein Denken, das sich kritisch selbst betrachtet und schließlich in einer beinahe paradoxalen Geste sogar gegen sich selbst wendet. Zugleich verdeutlichen die zitierten Passagen, wie tiefgreifend Figuren des Risses im Denken dieser zwei wichtigsten (post-)strukturalistischen Philosophen verankert sind und wie ihnen dennoch etwas Sekundäres, Beiläufiges, eine schwer zu greifende Unbestimmtheit weiter anhaftet. Figuren des Risses begegnen uns so als eine Art Rand- oder ›Schwellenfigur‹ an wichtigen Stellen in verschiedenen (post-)strukturalistischen Ansätzen und führen uns dort an den Rand bzw. in die Tiefe der Paradoxien dieses Denkens, so wie es beispielsweise Jacques Derrida formuliert: Das Ereignis eines Bruches, der Riß auf den ich anfänglich anspielte, hat sich vielleicht in dem Augenblick vollzogen, als man damit beginnen mußte, die Strukturalität zu denken, das heißt zu wiederholen. Daher habe ich auch gesagt, daß dieser Riß Wiederholung sei in allen Bedeutungen, die diesem Wort zukommen.7

Positioniert zwischen dynamischen Denkfiguren des Anfänglichen, Beginnenden und Wiederholenden – damit zugleich, wiederum im Sinne Deleuze’, zwischen Momenten von Differenz und Wiederholung8 – wird der Figur des Risses so eine zwiespältige Stellung in Bezug auf das strukturalistische Denken zugewiesen: weder vollständig innerhalb noch außerhalb der Strukturalität, zugleich zentral und dezentral, bilden Rissfiguren Momente des Uneindeutigen, Unbestimmten, Widersprüchlichen – und präfigurieren als temporale Ereignisse gewissermaßen das ambivalente ›Post-‹ des poststrukturalisitischen Denkens.9 An diesen Stellen 7 | Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972b. S. 422-442. Hier: S. 424. 8 | Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München: Fink, 1992. 9 | Für Homi Bhabha markiert dieses vielfach auftretende Präfix »Post-« zugleich eine temporale Vorstellung eines »danach« (»beyond«) und einer komplexen Form

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beginnen Rissfiguren, ihr performatives Potential zu entfalten. Diese tiefe Ambivalenz, welche zugleich das strukturalistische Denken verkompliziert, prägt – dies wird der erste Teil der vorliegenden Arbeit im Detail nachweisen – auch die Auseinandersetzung Derridas mit dem ontologisch ausgerichteten Denken Martin Heideggers und seiner Form des Ursprungsdenkens innerhalb von Sprache und Ästhetik. Die Figur des Risses spiegelt dabei gewissermaßen zugleich die Verbindung und eine fundamentale Differenz zwischen Derrida und Heidegger, oder wie Derrida mit ›seinen‹ Begriffen von Zug und Entzug im Hinblick auf den Heidegger’schen Begriff vom Riss formuliert: Wie pertinent, wie fruchtbar eine rhetorische Analyse auch sein mag, die alles bestimmt, was auf diesem Sprach- oder Denkweg geschieht, in diesen Bahnen des Bahnens – es wird zwangsläufig eine im übrigen geteilte Linie gegeben haben, auf der die rhetorische Bestimmung ihre eigene Möglichkeit findet: im Zug, im Riß, d.h. im Entzug (Differentialität, Verschiebung und Ähnlichkeit).10

Die Figur des Risses spiegelt hier eine komplizierte philosophische Beziehung, die sich in der Sprache, bzw. zwischen den Sprachen der beiden Philosophen ereignet und berührt bzw. enthüllt dabei, quasi am Rande, sehr wesentliche Züge des Heidegger’schen Denkens wie auch einige von Derridas wesentlichen Positionen: Der Riß des Aufrisses ist weder passiv noch aktiv, weder einheitlich noch vielfältig, weder Subjekt noch prädikat, er trennt in dem Maße wie er vereint. Alle Wert-Gegensätze sind nur in dieser ›différance‹ möglich, in dem Zwischen ihrer Verschiebung und ihres Abstandes, das fügt und ebenso abgrenzt.11

Innerhalb des sprachlich-dekonstruktiven Ansatzes Derridas, seiner fundamentalen Kritik an Heideggers Ursprungsdenken bei gleichzeitig tiefer intellektueller Verbundenheit, erweist sich paradoxer Weise Heideggers ontisch-ontologisches Differenzdenken zugleich als Ausgangspunkt für viele der Derrida’schen Konzepte. Die Figur des Risses innerhalb und zwischen den Philosophien Heideggers und Derridas, der Wandel ihrer Bezüge, ihre vielfältigen Spuren sowie die daraus resultierenden transformatorischen Dynamiken sollen in den folgenden Kapiteln des ersten Teils dieser Arbeit ausführlich und eingehend erörtert werden.

des Zwischenraums (»interstice« oder »in-between-space«), Vgl. Bhabha, Homi K.: The location of culture. London; New York: Routledge, 2004. S. 1ff. 10 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 233. (Kursivierung im Original, hier und im Folgenden, sofern nicht anders angegeben.) 11 | Ebd.

3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren

Zwischen Trennungsmetaphorik und Textilität: Kunst- und geisteswissenschaftliche Debatten im deutschsprachigen Raum Im Gegensatz zu solch primär philosophisch bestimmten Rissbegriffen gibt es in jüngster Zeit gezielte Bestrebungen, durch die interdisziplinär ansetzende Betrachtung von Trennungsmetaphern deren Doppelstellung hervorzuheben und somit theoretische Ansätze und konkrete Beispiele (hauptsächlich aus dem Feld der Literatur und bildenden Kunst) stärker miteinander zu verschränken. Im deutschsprachigen Raum sind zwei Sammelbände erschienen, die sich mehr oder weniger explizit, (auch) dem Thema des Risses aus jeweils leicht unterschiedlich akzentuierten interdisziplinären kunst- und geisteswissenschaftlichen Perspektiven zuwenden. Zunächst wäre hier der von Katharina Alsen und Nina Heinsohn herausgegebene Sammelband Bruch – Schnitt – Riss. Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten (2014) zu nennen. Unter dem Stichwort »Trennungsmetaphorik« verfolgen die Autorinnen einen relativ weit gefassten Ansatz, der ein vielfältiges Spektrum interdisziplinärer Fragestellungen und Phänomene versammelt, so dass zusätzlich auch »andere Metaphern – wie etwa ›Falte‹, ›Fuge‹, ›Grenze‹, ›Kluft‹, ›Läsion‹, ›Lücke‹, ›Narbe‹, ›Schwelle‹, ›Spalt‹, ›Wunde‹, ›Zäsur‹ oder das geistesgeschichtlich prominente ›Fragment‹ – in den Beiträgen ebenfalls ins Blickfeld treten«.12 Aus Perspektive einer Theoretisierung von Rissfiguren und deren diskurstheoretischen Verortung ist der Band als Einstieg in das Feld überaus hilfreich, da sowohl in der Einleitung13 als auch in einigen Beiträgen eine (obgleich teilweise arbiträre) Vielzahl von Bezügen und Beispielen diverser Rissfiguren und -metaphern aufgeführt oder partiell untersucht werden. Aufgrund der Diversität von untersuchten Trennungsmetaphern und unterschiedlichen Ansätzen bleiben die Betrachtungen notwendigerweise 12 | Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina: »Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik. Interdisziplinäre Perspektiven«, in: Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina (Hg.): Bruch – Schnitt – Riss: Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten, Berlin, Münster, u.a.: LIT, 2014. S. 1-38. Hier: S. 12. 13 | In der Einleitung wird so z.B. der Riss als existenz-philosophisches Phänomen am Beispiel Jean-Paul Satres »Riss im Sein« (ebd. S. 2) erwähnt, Paul Ricœurs »Mensch als Zerrissenheit« (ebd. ), Ernst Cassirers »Riss zwischen Wahrnehmungswirlichkeit und mythischer Phantasie« (ebd. S. 3); es werden theologische Perspektiven aufgeworfen, z.B. als biblisches Zerreißen der Kleidung oder des zerreißenden Tempelvorhangs (ebd. S. 4); weiterhin werden Riss-Metaphern in Bezug auf ›Bildgeschehen‹, z.B. bei Georges Didi-Huberman, Jean Luc Nancy genannt (ebd. S. 6), aber auch auf die ästhetisch-philosophischen Betrachtungen durch Juliane Rebentisch mit Blick auf Martin Heidegger und Jacques Derrida wird rekurriert (ebd. S. 10).

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recht kursorisch, obwohl eine eingehende und systematische Differenzierung einzelner Metaphern und Ihrer jeweiligen strukturellen Spezifika als eines der Forschungsdesiderate der vorausgegangenen Tagung14 angestrebt wurde. Aufgrund des Ansatzes, primär nach den metaphorischen Deutungspotenzialen der Trennungsmetaphern zu fragen, bleiben dabei aus Perspektive von Rissfiguren zwei zentrale Aspekte leider weitgehend ausgeblendet: zum einen deren ambivalente Zwischen-Position, sowohl trennend – als auch diskursiv verbindend zu fungieren: Die daraus resultierenden widerstrebenden Spannungsverhältnisse und Dynamiken scheinen sich in der Interpretation und Analyse noch einen Grad komplizierter zu gestalten. Zum anderen bleiben mit dem hermeneutischen Ansatz, Deutungspotenziale auszuloten, einerseits materialästhetische Überlegungen unterbelichtet, zum anderen werden Fragen nach den methodologischen Potenzialen von Rissfiguren innerhalb geisteswissenschaftlicher Forschung weitgehend übersehen. Von den Beiträgen sei neben Michael Moxters »Erkundungen zur Metapher des Risses«15 vor allem kurz auf Phillip Stoellgers Beitrag zum Riss »als Grundmetapher einer apophatischen bzw. paradoxen Bildtheorie«16 hingewiesen.17 Während Moxters Riss-Beispiele weiterhin etwas arbiträr wirken, bleiben auch 14 | »Bruch – Schnitt – Riss: Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik,« Interdisziplinäre Tagung der Studienstiftung des Deutschen Volkes, 01.–03. Juli 2011, Warburg-Haus Hamburg. Sowie die Folgetagung »Bruchstücke, Schnittlinie, Umbrüche. Trennungsmetaphorik revisited« Interdisziplinäre Tagung der Studienstiftung des Deutschen Volkes, 1. Oktober 2011, Warburg-Haus Hamburg. 15 | Aus seinen anthropologischen Betrachtungen bei Kleist, sowie den zeit- und erkenntnistheoretischen Befunden bei Ricœur, und Satre erklärt Michael Moxter den Riss (mit Ricœur) zur »absoluten Metapher«: »Folgt man diesen Aufstellungen, so wird man sagen können, dass es Einheit der Erfahrung nur aufgrund von Rissen gibt, die also ursprünglich zu ihr gehören und darum nie definitiv zu kitten oder zu schließen sind. Die Vielfalt der Risse, die sich uns auftut, repräsentiert die Endlichkeit des Menschen als eines Wesens, das niemals definitiv gesichert ist, sondern im Zwischenraum […] leben muss – aber auch leben darf.« Moxter, Michael: »Zeitriss/Zwischenraum. Anthropologische Erkundungen zur Metapher des Risses«, in: Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina (Hg.): Bruch – Schnitt – Riss: Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten, Berlin, Münster, u.a.: LIT, 2014. S. 65-84. Hier: S. 79f. 16 | Stoellger, Phillip: »Im Anfang war der Riss... An den Bruchlinien des Ikonotops«, in: Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina (Hg.): ebd. S. 185-224. 17 | Zudem sei erwähnt, dass das Kapitel »Der Riss als Form des stummen Insistierens: Shibboleth (Doris Salcedo)«, S. 351ff. auf einem Aufsatz beruht, der in dem hier genannten Band erschienen ist. Vgl. Hartung, Holger: »Randgänge entlang des Risses. Doris Salcedos Installation Shibboleth«, in: Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina (Hg.): Ebd. S. 405-420.

3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren

die Argumente in ihrer anthropologischen Ausrichtung etwas diffus, insbesondere mit ihrem abschließend Schwenk zur Theologie: »Risse sind darum auch anthropologisch nie nur negativ als Verlustphänomene zu bestimmen, die eine ursprüngliche Ganzheit, Festigkeit und Konsistenz beschädigen, sondern sie sind der Ort, an dem durchlässig wird, was sonst opak bliebe.«18 Phillip Stoellger erhebt in seinen bildtheoretisch orientierten Betrachtungen den Riss zwar nicht zur ›absoluten‹ aber, in einem ähnlich ›fundamentalen‹ Ansatz, zur umfassenden, metatheoretischen »Grundmetapher«: Eine der damit verbundenen Fragen ist daher im Folgenden, ob der Riss eine Grundmetapher sein kann, um das Bild als Bild zu verstehen und zu besprechen: das Bild als Riss zwischen Sinnlichkeit und Sinn, als Riss der Sinnlichkeit und des Sinns?19

In seinen phänomenologisch gehaltenen Betrachtungen zu einer gedanklichen Verbindung des »Textile[n] und Textuelle[n]«20, wird für ihn der Riss schließlich zur »Körpermetapher, in der der Bildkörper im Blick ist – in Materialität, Präsenz und Ereignis, um mit Mersch zu sprechen, oder in Leiblichkeit, Entzug und Widerfahrung«.21 Die Riss-Metapher markiere so für ihn einen wichtigen Moment des Umschwungs vom strukturalistischen zum poststrukturalistischen Denken: Vor dem Hintergrund dieser [strukturalistischen] Modelle wurde im Poststrukturalismus und der postanalytischen Philosophie zum Problem, dass dieses Gewebe reißen kann – wenn die saubere Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn brüchig wird. […] Nicht erst sekundäre Spuren des Gebrauchs – die kleinen Risse, aus denen große werden können – geben Anlass über die Bedingungen semantischer Textilität zu reflektieren, denn: Das ›Zugrunde-Liegende‹, das in der Zeichenproduktion Grundlegende ist ›anders‹; nicht Sinn, sondern etwa Sinnlichkeit, Materialität, Körper und Dinge mit Gewicht.22

Über den Umweg einer Verbindung des Textilen/Textuellen nähert sich Stoellger einer Form der Bildtheorie im Sinne einer proklamierten »Hermeneutik der Differenz« argumentativ wieder an: Prima facie scheint der Riss von allem für das Textile zu passen und damit für das Textuelle, die semantische Synthesis, denn das Textuelle ist textil, geflochten,

18 | Moxter: »Zeitriss/Zwischenraum«. S. 81. 19 | Stoellger: »Im Anfang war der Riss...«. S. 187. 20 | Ebd. S. 193. 21 | Ebd. 22 | Ebd. S. 194.

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Einleitung gewebt, geknüpft, gefaltet und geknotet. Diese literatur- und texttheoretische Metaphorik hat einen (vermutlich noch älteren) Verwandten in der Bildtheorie. Daher stehen sich in der Rissmetaphorik Hermeneutik und Ästhetik oder Text- und Bildtheorie auffällig nahe.23

Obwohl sich Stoellger ansatzweise auch auf diverse andere Formen materiellstofflicher Strukturen bezieht, werden Formen von Rissen bei ihm dennoch weitgehend unter das Paradigma des Textilen/Textuellen subsumiert: »Reißen kann nur, was zuvor geflochten, geknüpft, gesponnen, gewebt war.«24 Von diesem Befund ausgehend, kritisiert er unter dem Stichwort der »Hermeneutik der Differenz« die Vorstellung, dass Rissen eine grundsätzlichen Einheit vorausgeht. Stoellger kritisiert damit auch den grundsätzlichen Ansatz des Sammelbandes, da es für ihn zweifelhaft werde »von einer Trennung und ihrer Metaphorik zu sprechen, denn damit würde vorgängige Einheit unterstellt«.25 Einem Stoellgers Argumenten sehr verwandten Zugriff auf ähnliche Phänomene und Fragestellungen verfolgt auch der 2015 erschienene Sammelband Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, der ebenfalls aus primär kunsthistorischer Perspektive das Ziel verfolgt, »sich kulturtheoretisch, kunstund bildwissenschaftlich, wie auch im Hinblick auf die historischen Kontexte der Bilder mit dem Problem der Desintegration und Auflösung der Denk- und Bildstrukturen auseinanderzusetzen«.26 Auch hier beschreibt der Herausgeber Mateusz Kapustka als Forschungsdesiderat eine Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Metaphern: Welche inhaltlichen Differenzen bestehen in diesem Kontext der Öffnung durch Strukturauflösung zwischen Begriffen wie Schnitt, Riss, Stich und Bruch, beziehungsweise können sie im Hinblick auf die Dynamik der Bildlichkeit überhaupt als Synonyme behandelt werden?27

23 | Ebd. S. 196. 24 | Ebd. 25 | Ebd. S. 190. 26 | So die Ankündigung der dem Band vorausgegangen Tagung »Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs Internationale Tagung. Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich in Zürich am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich, organisiert vom ERC-Projekt TEXTILE. An Iconology of the Textile in Art and Architecture am 24.-25. November 2011«, Zugriff unter: http://www.hsozkult. de/event/id/termine-16078 am 20. August 2016. 27 | Kapustka: »Bild-Riss und die Aporie der Sichtbarmachung. Eine Einführung«. S. 9.

3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren

Kapustka markiert, mit einem Hinweis auf das theatral inszenierte Reißen des Vorhangs in Malewitsch’ kubofuturistischer Oper »Sieg über die Sonne«28, insbesondere den Riss als Eröffnung eines sich prinzipiell verändernden ästhetischen Grundverständnisses, im Sinne aufbrechender Gattungseinheiten und dem Sich-Öffnen einer interdisziplinär orientierten Kunst-Szene. Im Gegensatz zum Verständnis von Riss als reiner Trennungsmetapher, betrachtet Kapustka im weiteren Verlauf seiner Argumentation die Spannungen und Dynamiken bereits deutlich ambivalenter: Ein Riss bedeutet also Fragilität. Ein Riss bedeutet aber auch Flexibilität. Ein Riss bedeutet schliesslich das Wissen über die Gleichzeitigkeit dieser beiden Eigenschaften eines Mediums. Der Vorgang des Zerreißens einer Fläche verschiebt nicht nur den Fokus von ihrer Medialität zur Materialität, sondern ruft dergestalt eine paradoxe Situation hervor.29

Während Kapustka seine bildtheoretischen Überlegungen eng an phänomenologische Betrachtungen anbindet, bleibt sein Ansatz in Bezug auf die Unterscheidung z.B. zwischen Schnitten, Stichen und Rissen in der bzw. die Bildfläche dennoch weiterhin relativ undifferenziert.30 Der prinzipielle Ansatz des Bandes bestehe laut Kapustka zudem darin, nach Momenten der Gewalt und ihrer »konstituierenden Rolle im Prozess der Bildentstehung« zu fragen: Inwieweit kann die zerrissene, fragmentierte oder aufgeschlitzte textile Fläche/ Oberfläche des Werkes, v.a. die Leinwand in der Malerei, darüber hinaus als Ort der Selbstreferenzialität und der Überwindung der Gattungsgrenzen gedeutet werden?31

28 | »Das auf diesem Vorhang dargestellte schwarze Quadrat bringt im Akt des Zerreissens hinter sich oder eher in seinem Inneren eine gegenstandslose Welt jenseits der Repräsentation zur Anschauung. Dieser Riss – mit einem Riss in Albertis Fenster vergleichbar – wendet sich gegen die permanente optische Perforation des instrumentalisierten velum im Rahmen der zentralperspektivischen Durchsehung und zieht einen neuen, umfassenden Ein-Blick in die Welt der souveränen Formen nach sich.« Ebd. S. 8. 29 | Ebd. S. 9. 30 | »Die Betrachtung des Kunstwerkes als ein Körper, dessen Ausdruckpotential mit dem körperlichen Selbstempfinden des Betrachters interagiert, ermöglicht es ferner, den tatsächlichen wie auch nur bildlich simulierten Schnitt, Stich und Riss in der geflochtenen Fläche als eine durchaus sprechende Wunde zu betrachten«. Ebd. S. 11. 31 | Ebd. S. 10.

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Einleitung

In den folgenden Beiträgen des Bandes finden sich dann eher punktuell für diese Arbeit hilfreiche Überlegungen, die sich explizit auf die Verfasstheit von Rissfiguren und deren strukturelle Spezifika beziehen. So formuliert beispielsweise Michael Lüthy (allerdings widersprüchlicherweise ebenfalls ausgehend von seinen Betrachtungen zu Fontanas Taglis genannten Schnittbildern): Ein Bild im Lichte seines Aufreißens zu betrachten heißt, es im Lichte seiner Materialität zu betrachten. Ein Riss ist ein Oberflächenmerkmal, zugleich ist er die Spur eines Ereignisses, das als solches womöglich mehr interessiert als das Resultat. Ein Riss im Bild deutet auf Spannungen hin – zwischen Prozess und Werk, aber auch zwischen Materialität und Form. […] Ein Riss im Bild führt überdies dazu, dass Augen- und Tastsinn miteinander zu konkurrieren beginnen.32

Die von Lüthy genannten strukturellen Spannungen stehen so innerhalb der bildlichen Materialität und auf einer übergeordneten, kunsthistorischen Ebene zur Debatte, als Ausdruck eines Paradigmenwechsels weg von der Werkbetrachtung hin zur verstärken Berücksichtigung prozessualer Momente der Kunst. Die erwähnte Konkurrenz zwischen Augen- und Tastsinn macht auch Gunnar Schmidt in seinem Beitrag »Visualität/Tangibilität. Zur De-, Trans- und Performation des Textilen« zum Ausgangspunkt, dessen Überlegungen prinzipiell ein performatives Interesse zugrunde liegt: Eine Reihe kanonisierter Künstler, die über den bildnerisch-visuellen Aspekt hinaus auch die performativen Möglichkeiten ästhetischen Seins ausgearbeitet haben, hatten das Gespür, die im textilen Material angelegte Aufforderung zur Berührung und zur umformenden Handhabung zu registrieren. Um diesen Paradigmenwechsel zu veranschaulichen, wird in einer diskursiven Konfiguration ausgewählter Werke der Riss zwischen Visualität und Tangibilität als dramatische Komponente thematisiert.33

Von diesem, obgleich noch etwas vagen performativen Interesse ausgehend, begreift Schmidt seinen Ansatz als Distanznahme von einer ›klassischen‹ Bildanalyse und Bildproduktion: »Das Zerreißen für das Bild und das Zerreißen des Bildes beinhalten Übergangshandlungen, aus denen wiederum neue Objekte, Räume und auch Kleidungen entstehen.«34 Er konzentriert sich unter seinem

32 | Lüthy, Michael: »Fontanas Schnitte«, in: Kapustka, Mateusz (Hg.): ebd. S. 25-38. Hier: S. 25. 33 | Schmidt, Gunnar: »Visibilität/Tangibilität. Zur De-, Trans-, und Performation des Textilen«, ebd. S. 185-200. Hier: S. 185. 34 | Ebd. S. 194f.

3. Forschungsstand: Risse als Randfiguren

»textilanthropologischem Blickwinkel«35 auf Arbeiten, die Kleidung und textile Praktiken und Raumkonzeptionen ins Zentrum stellen und sich an der Grenze zum Fetischismus, als einem Changieren zwischen »Funktion und animistischer Aufladung« bewegen.36 Abschließend sei noch der Beitrag von Birgit Schneider erwähnt, die aus einem systemtheoretischen Ansatz heraus ihre Überlegungen zur »künstlerischmedientechnischen Destabilisierung« zunächst an die Figur des Risses quasi als vorausgehendes, analog verstandenes Störungsprinzip koppelt: Werden Textilien vor dem Horizont medientheoretischer Ansätze betrachtet, kann der Riss zu einem wichtigen Pol der Überlegungen werden. Der Riss steht in krasser Gegenläufigkeit zur Ordnung der Textilien, also ihrer spezifischen Weise, Ordnungen mittels Rasterstrukturen aus Fadensystemen systematisch aufzubauen. Ein Riss in dieser Ordnung stört das textile System..37

Vor dem darauf folgenden argumentativen Schwenk zur Betrachtung medialer und systemtheoretischer Dispositive, sind dabei vor allem ihre Beobachtungen entlang alltäglicher, analoger Erfahrungen und die daraus resultierenden Ausführungen zum Riss in Abgrenzung zum Schnitt bemerkenswert: In der Regel braucht es kein Werkzeug, um einen Stoff zu zerreißen. Wer Stoffe von der Rolle kauft, kennt diesen Vorgang. Die Stoffbahn lässt sich allein von der Kraft der Hände trennen. Ein Gewebe reißt jedoch nicht ohne Struktur. Der Riss folgt der Logik des Gewebes und verläuft entlang der Richtung von Kette und Schuss. Im Englischen Verb to rip klingt die Strukturabhängigkeit des Risses an, die, ganz anders als ein Schnitt, das Material nicht beliebig durchtrennt, sondern parallel zu den Geweberippen.38

Vermutlich ausgehend von Schneiders Interesse an Prinzipien der Störung und des Rauschens, macht sie zudem auch noch auf eine weitere, zumeist vernachlässigte akustische Dimension von Rissfiguren aufmerksam.39

35 | Ebd. S. 189. 36 | Ebd. S. 187. 37 | Schneider, Birgit: »Riss, Rauschen und Störung in der Medienkunst. Mediale Auflösungserscheinungen zwischen Bildstruktur und Blick bei Nam June Paik«, in: Ebd. S. 201-213. Hier: S. 202. 38 | Ebd. S. 203. 39 | »Doch ist der Riss auf der Ebene der Phänomene kein rein visuelles Ereignis. Vielmehr ist noch einem anderen Aspekt Aufmerksamkeit zu schenken, der in der Betrachtung von Bildrissen leicht übersehen wird. Das scharfe ›S‹ in den deutschen Worten ›Riss‹ und ›reißen‹ scheint das akustische Ereignis des Risses lautmalerisch

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Einleitung

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Zwar sind beide interdisziplinär ansetzenden Sammelbände darum bemüht, Figuren wie Brüche, Schnitte, Risse oder Stiche differenziert zu betrachten, es zeigt sich in den einzelnen Fallstudien jedoch nachdrücklich, dass die jeweiligen Figuren (insbesondere Schnitt und Riss) z.T. noch weitgehend synonym verwendet und wenig differenziert betrachtet werden. Besonders performative, dynamische und szenische Aspekte und Dimensionen von Rissfiguren bleiben hierbei, bis auf wenige, oben erwähnte Ausnahmen, weitgehend unberücksichtigt. So lässt sich insgesamt konstatieren, dass ›Risse‹ insbesondere mit Blick auf theaterwissenschaftliche Fragestellungen, also spezifisch szenische, bewegungsästhetische und korporeale Implikationen, bisher noch weitgehend untertheoretisiert geblieben sind. Insbesondere die systematische Verschränkung des theoretischen Topos mit einer eingehenden Betrachtung von Beispielen wurde unter den genannten Prämissen bisher – insbesondere aus einer tanz- theaterwissenschaftlichen Perspektive – noch nicht angegangen. Der vorliegende Band zielt somit darauf ab, diese Forschungslücke zu schließen. Ausgehend von einer Situierung der Figur der Risses als theoretischem Topos (primär durch eine ausführliche und eingehende Analyse relevanter Passagen bei Derrida und Heidegger) sollen anschließend die performativen, theatralen, korporealen und dynamischen Dimensionen der Figur – in ihrer gesamten Widersprüchlichkeit – anhand von ausgewählten Beispielen aus Grenz- und Überschneidungsbereichen der bildenden Kunst, Performance Art, Theater, sowie Verweisen auf Literatur, Film, Werbung und weitere kulturelle Kontexte, ausgelotet und vertieft werden. Dabei sollen, zunächst bei sprach- bzw. stellenweise bild- und metapherntheoretischen Fragen ansetzend, im weiteren Verlauf vor allem theatrale, korporeale und choreographische und damit dynamische Aspekte beleuchtet werden und nach methodischen Implikationen des Ansatzes für das geisteswissenschaftliche und insbesondere theater- und tanzwissenschaftliche Arbeiten gefragt werden.40

nachzuahmen. Das akustische Phänomen des Risses ist kein Klang, sondern ein Geräusch, das – wenn es plötzlich auftritt, einen erschrecken lässt«. Ebd. 40 | Eine Erweiterung bzw. Kritik des eurozentristischen Ansatzes findetsich dabei implizit im Abschnitt »Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murakami Saburō)«, S. 239ff. Sowie in expliziter Form im Kapitel »Der Riss als Form des stummen Insistierens: Shibboleth (Doris Salcedo)«, S. 351ff.

4. Methodische Ansätze

Abgrenzungen vom Schnitt Wie das vorhergehende Kapitel gezeigt hat, werden Figuren des Risses, trotz der ausdrücklichen Bemühungen um ihre Abgrenzung, weiterhin wenig differenziert als Trennungsmetaphern verwendet – diese vereinfachte Sichtweise gilt es zu erweitern. In einem ersten Schritt lassen sich Rissfiguren wie folgt von Schnittfiguren1 schematisch abgegrenzen: 1. Instrumentell-technischer Ursprung: Schnitte sind i.d.R. mit einem Instrument (Schere, Messer, Säge etc.) erzeugt und damit zumeist technisch ›produziert‹. Sie könnten daher auch relativ unabhängig von der Struktur des zugrundeliegenden Materials, Stoffes oder Gewebes angesetzt und durchgeführt werden. Im Gegensatz dazu entstehen Risse eher aufgrund innerer Spannungen des Materials und orientieren sich an dessen Strukturverlauf. Ihr Verlauf ist i.d.R. im Vorhinein weniger vorhersehbar, offenbart aber zugleich in seiner Öffnung die zugrundeliegenden materiellen Strukturen. Risse können in ihrem Verlauf indirekt durch Einflussnahme auf die Spannung des Materials gelenkt oder hergestellt werden, das Resultat ist im Vergleich zu Schnitten jedoch wesentlich ›roher‹ und unpräziser. 2. Eigendynamik: Risse haben häufig die Tendenz, von selbst weiterzureißen, während Schnitte, als stets ›technisch‹ produzierte Formen, eine höhere Formstabilität aufweisen. Schnitte könne Risse begrenzen, andersherum 1 | Gabriele Brandstetter beschreibt anhand der Bilder von Henri Matisse strukturelle Zusammenhänge zwischen Schnitt, Zeichnung, Bewegung und Choreographie – vgl. Brandstetter, Gabriele: »SchnittFiguren. Intersektionen von Bild und Tanz«, in: Boehm, Gottfried; Brandstetter, Gabriele und Müller, Achatz von (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München: Fink, 2007. S. 13-32.

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Einleitung

können auch Schnittränder einreißen. Risse haben so gesehen gegenüber Schnitten eine spezifische, an ihr Trägermaterial geknüpfte Eigendynamik. 3. Singularität der Form, Bezogenheit der Ränder: Im Gegensatz zu den glatten, meist gradlinigen, weitgehend austauschbaren Schnittkanten, sind gerissene Seiten stets singulär, während sich ihre beiden Seiten zueinander wie Positiv und Negativ verhalten. Auch wenn zwei Seiten ganz abgerissen sind, bleiben ihre Seiten durch ihre spezifische Struktur aufeinander bezogen. Aufgrund dieser spezifischen Bezogenheit der gerissenen Seiten, stellen Risse ambivalente Figuren der Trennung und der Verbindung dar. 4. Selbstreferentielle Struktur: Während Schnitte die Tendenz haben, als Ränder unsichtbar zu werden, können Risse aufgrund ihrer selbstreferentiellen Struktur plötzlich, oftmals unvorhergesehen in das Feld der Wahrnehmung ein- bzw. zurückdringen und bringen dabei die Materialität ihres Trägermediums in den Vordergrund. 5. Latenz: Risse haben, auch wenn sie zeitweise ruhen, eine Tendenz zum Weiterreißen. Risse können so gesehen als latente Bewegungen begriffen werden. Sie können vorübergehend in Vergessenheit geraten, sich zeitweilig der Wahrnehmung durch ihren vermeintlichen Stillstand, eine sog. Latenzphase entziehen, aufgrund ihrer schwer vorhersehbaren dynamischen Tendenz können sie jedoch unvermittelt und plötzlich wieder aktiv werden. Ihre inhärente Latenz lässt diese Tendenz teilweise unterschwellig gewahr werden und bedingt ihr affektives Potenzial. Aufgrund der hier beschriebenen Merkmale, sollen im Folgenden die Aspekte der Materialität von Rissen und der sie tragenden materiellen Strukturen, die spezifische Dynamik von Rissen als Figuren sowie der Aspekt ihrer Latenz weiter kontextualisiert werden.

Materialität/en Die Debatten um den Begriff von Materialität haben im Vergleich von theater- und kulturwissenschaftlicher Sicht große Schnittmengen und sind dennoch aus diesen zwei unterschiedlichen Perspektiven jeweils deutlich anders konturiert. Mit der Frage nach Rissen in Szenarien ihres (Sich-)Zeigens und (Sich-)Verbergens, d.h. im Hinblick auf unterschiedliche Situationen ihres Erscheinens und Auftretens (im Sinne eines materiellen Schauspiels), scheint es hilfreich, einige Ansätze dieser zwei unterschiedlichen Perspektiven auf Fragen der Materialität vorwegzuschicken und in gewisser Weise verstärkt miteinander in Dialog zu bringen. Die beiden

4. Methodische Ansätze

Perspektiven unterscheiden sich vor allem in ihrer jeweiligen Gewichtung und ihrem Verständnis der folgenden Teilaspekte: • (Selbst-)Referentialität • Dinghaftigkeit und Stofflichkeit • Prozessualität • Ereignischarakter • Wahrnehmung, Leib- und Körperlichkeit Betrachten wir zunächst die theaterwissenschaftliche Seite: Wie es einführend im Lexikon Theatertheorie heißt, wird der Begriff der Materialität im gegenwärtigen theaterwissenschaftlichen Diskurs von jenem des Materials unterschieden und bezieht sich primär auf dessen »spezifische Verwendung und Wahrnehmung«2 – befragt wird dieser konsequenter Weise vor allem im Zusammenhang mit Prozessen der Aufführung. Dabei stehe die Materialität etwa eines wahrgenommenen Gegenstandes, Körpers oder Geräuschs stets in einem Spannungsverhältnis zu seiner Referentialität. Auch wenn die beiden Begriffe oft antonym verwendet werden, schließen sich die damit bezeichneten Aspekte jedoch nicht gegenseitig aus. […] Im Unterschied zur Referentialität eines als Zeichenträger fungierenden Objektes beschreibt der Begriff der M[aterialität] demnach die Erscheinung und Wirkung des Objektes im Moment seiner sinnlichen Perzeption.3

Während hier die philosophische Frage ausgeklammert bleibt, ob Dinge und Stoffe jenseits ihrer phänomenologischen Wahrnehmung eine spezifisch ontologische Materialität besitzen (können), diente die emphatische Betonung von Fragen der Materialität somit vor allem dazu, den theaterwissenschaftlichen Fokus von einem primär semiotisch-hermeneutischen Fragehorizont, d.h. ausgehend vom dramatischen Text und dessen ›Bedeutung‹, verstärkt auf dessen sinnlich wahrnehmbare Qualitäten in stets differenten situativen Gegebenheiten und den daraus resultierenden Wirkungen von Aufführungen zu lenken. Erika Fischer-Lichte verdeutlicht die Unmittelbarkeit dieser Wirkungen performativer Handlungen auf Zuschauende sehr anschaulich am Beispiel der Selbstverletzungen in Performances von Marina Abramovic’: Die körperliche Wirkung, welche die Handlung auslöst, scheint hier Priorität zu haben. Die Materialität des Vorgangs wird nicht in einen Zeichenstatus

2 | Fischer-Lichte; Kolesch und Warstat: Metzler-Lexikon Theatertheorie. S. 194. 3 | Ebd.

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Einleitung überführt, verschwindet nicht in ihm, sondern ruft eine eigene, nicht aus dem Zeichenstatus resultierende Wirkung hervor. Es mag gerade diese Wirkung sein – das Stocken des Atems oder das Gefühl der Übelkeit –, die eine Reflexion in Gang setzt.4

Fragen nach Materialität der an Aufführungen beteiligten Aspekte und Komponenten werden, wie hier deutlich wird, primär mit dem Fokus auf Handlungen von Darstellenden und Publikum und sich daraus ergebende Handlungsoptionen gestellt, d.h. Materialität wird unter der Prämisse ihrer performativen Hervorbringung und (bzw. als) deren Rahmenbedingungen betrachtet: Seit der performativen Wende in den sechziger Jahren haben Theater- Aktions- und Performance-Kunst eine Fülle von Verfahren entwickelt, welche die Aufmerksamkeit gezielt auf die performative Hervorbringung von Materialität in der Aufführung lenken und – in der Tat wie in einem Forschungslabor – unterschiedliche Bedingungsfaktoren und Vollzugsmodi hervorheben und fokussieren.5

Neben der Aufwertung von phänomenologischen Ansätzen gegenüber einer semiotisch-hermeneutischen Überdeterminierung, wurden somit unter der Prämisse der Performativität wirkungsästhetische Fragen und unter dem Gesichtspunkt der Hervorbringung von Materialität der Ereignischarakter betont. Mit den Stichworten der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauenden sowie dem hic et nunc der Aufführung rückte mit dem Ereignischarakter von Materialität auch dessen Prozessualität und Flüchtigkeit ins Zentrum.6 Diesen auf Prozesse der Hervorbringung und des Erscheinens von Materialität verschobenen Fokus, greift so beispielsweise auch Dieter Mersch auf in Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis – und zwar ausdrücklich in gewisser Abgrenzung zum Materiellen als etwas rein Stofflichem: Allerdings ist unter dem Ausdruck ›Materialität‹ kein vordergründig Stoffliches zu verstehen, vielmehr etwas, was sich von dort her erst ereignet. Erscheinen, das kein ›Etwas‹ beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein ›Wirken‹, das geschieht. Seine Form ist das Ereignen, sein Zeitmodus das absolute Präsens: der Augenblick.7

4 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. S. 21. 5 | Ebd. S. 128. 6 | Ebd. S. 20. 7 | Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink, 2002. S. 134.

4. Methodische Ansätze

Vor diesem Horizont bildeten sich aus theaterwissenschaftlicher Sicht wichtige Kernfragen vor allem um aufführungsanalytische Probleme der Ephemeralität des ›Gegenstandes‹, d.h. transitorische Verkörperungen, Bewegungen, situative Konstellationen und diffuse Atmosphären, während eine Materialität, d.h. ereignishafte Wirksamkeit stofflicher Texturen oder gegenständlicher Dinge aufgrund ihrer vermeintlich relativen Beständigkeit und fast an das Banale grenzende (Be-)Greifbarkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Fragen nach der Ding- und Stofflichkeit rückten somit unter dem Gesichtspunkt der performativen Hervorbringung von Materialität, der Ereignishaftigkeit des Performativen sowie der Leiblichkeit der Wahrnehmung eher an den Rand:8 Aufführungen verfügen nicht über ein fixier- und tradierbares materielles Artefakt, sie sind flüchtig und transitorisch, sie erschöpfen sich in ihrer Gegenwärtigkeit, d.h. ihrem dauernden Werden und Vergehen […] Das schließt keineswegs aus, daß in ihnen materielle Objekte – wie Dekorationen, Requisiten, Kostüme – Verwendung finden, die nach dem Ende der Aufführung als solche zurückbleiben und als Spuren der Aufführung aufbewahrt und ausgestellt werden können.9

Der Blick auf Materialität und Materie – und deren Beziehung – entwickelte sich primär entlang Fragen von Performativität und Körperlichkeit, wie dies vor allem im Anschluss an die Ausführungen von Judith Butler in Bodies that Matter im Rekurs auf Michel Foucault formuliert wurde: What I would propose in place of these conceptions of construction is a return to the notion of matter, not as site or surface, but as a process of materialization that stabilizes over time to produce the effect of boundary, fixity, and surface we call matter. That matter is always materialized has, I think, to be thought in relation to the productive and, indeed, materializing effects of regulatory power in the Foucaultian sense.10

8 | Einen neuen Ansatz bildet das Forschungsprojekt von Susanne Foellmer »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten«. Während hier angestrebt wird, das »Bleibende des Transitorischen« in den Blick zu nehmen, welches sich in »Zeitfigur von Resten« zeige, liegt der primäre Fokus auf »Praktiken des Bleibens«. Vgl. Foellmer, Susanne: »DFG-Forschungsprojekt ›ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten‹«, Zugriff unter: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin. de/we07/institut/forschung/Forschungsprojekte/UeberReste.html am 22. Sept. 2016. 9 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 127. 10 | Butler, Judith: Bodies that matter. On the discursive limits of »sex«. Abingdon, Oxon: Routledge, 2011. S. xviii.

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Einleitung

Einem als stabilisierend aufgefassten Begriff von matter als Materie setzt Butler so, ganz im performativen Sinne einer Sprache, die konstruiert, de-konstruiert und Differenzen bildet, einen doppeldeutigen (performativen) Begriff von matter entgegen, indem dieser bei ihr explizit auch das englische Verbum to matter umfasst (Bodies that ›matter‹). Eine Form fest umfasster Materie, mit geschlossenen Oberflächen und Grenzen stellt sie hierbei als produzierter und zugleich wirkungsmächtiger Effekt vom Materialisierungsprozessen heraus. Das jeweilige Materieverständnis ist somit für Butler entscheidend, denn es bestimmt (mit Foucault gesprochen) in einem biopolitischen Sinn zugleich die Frage der Geschlechterdifferenz. Butler begreift diese als grundsätzlich performativ, d.h. als etwas durch permanente Akte von Wiederholung Hervorgebrachtes: »materiality of sex is constructed through a ritualized repetition of norms« 11 und fragt umgekehrt nach Auswirkungen, im Sinne von Materialisierungen dieser performativ aufgefasst Praktiken: »how, then, does the notion of gender performativity relate to this conception of materialization?«12 Eine Kritik an Butlers Theorie der Beziehung von Materialität als Prozess der Materialisierung und Fragen des Materiellen formuliert wiederum die Physikerin und Philosophin Karen Barad: »Leider setzt Butlers Theorie die Materie letztlich wieder als passives Produkt von Diskurspraktiken fest statt als einen aktiven Akteur, der am eigentlichen Prozeß der Materialisierung teilhat.«13 Barad, auf deren Ansatz wir im Folgenden noch wiederholt zurückkommen werden, kritisiert so primär die anthropozentrische Ausrichtung von Butlers Ansatz: Wie ihre Lektüre der Materialität im Sinne von Foucaultschen regulativen Praktiken deutlich macht, sind darüber hinaus die Prozesse, die ihr [d.h. J. Butler, Anm. H.H.] wichtig sind, nur menschliche gesellschaftliche Praktiken (wodurch genau die Dichotomie zwischen Natur und Kultur wieder eingesetzt wird, die sie bestreiten will).14

Aus dieser Sicht ist auch der kulturwissenschaftliche Diskurs kritisch zu betrachten, der sich ebenfalls auf den Butlerschen Ansatz stützt und ausgehend vom performativ turn den sogenannten material turn proklamiert: »Der material turn impliziert […] die Verabschiedung eines Materiekonzeptes, das in erster Linie in

11 | Ebd. S. ix. 12 | Ebd. S. xii. 13 | Barad, Karen: Agentieller Realismus: über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin: Suhrkamp, 2012. S. 46. 14 | Ebd.

4. Methodische Ansätze

Opposition zu einem Formbegriff verstanden wurde.«15 Sigrid Köhler führt diesen material-ästhetischen Ansatz, welcher ebenfalls in Beziehung zu Diskursen des Körpers steht und den (De-)Konstruktionen der Sprache, in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Band Prima Materia weiter aus: Durch das vermehrte Interesse an der Materialität der Dinge und der Frage nach ihrer Funktion, wird zunächst das Material in den Blick gerückt, der ›Stoff‹, aus dem die Dinge sind. Die Perspektivierungen, denen auf diese Weise Raum gegeben wird, erlauben es jedoch nicht nur, die kulturellen Kodierungen und Medialisierungen des Materials zu fokussieren, um Hierarchien und Semantiken des Stofflichen zu beschreiben, sondern sie rufen philosophiegeschichtliche überlieferte Materiekonzepte auf, wie etwa die Vorstellung, dass Material immer Stoff für etwas ist, der bearbeitet werden muss und somit auf der Seite des Passiven in der Welt zu finden ist.16

Gegenüber einem tendenziell passivischen und teilweise naturalisierenden Verständnis von Materie hätten Köhler zufolge gerade poststrukturalistische Ansätze wie Dekonstruktion und Diskursanalyse demgegenüber »›metaphysische‹ Einheiten wie ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹, ›das Subjekt‹ und ›die Wirklichkeit‹ in grundlegender Weise hinterfragt und als nachträgliche Effekte der Signifikation aufgezeigt, denen immer schon eine uneinholbare Differenz eingezeichnet ist«.17 Somit werde Materie im Anschluss an diese Refokussierungen als performatives Ereignis vorstellbar, das Referenzbeziehungen aufschieben, stören oder verschieben kann. Zwar wird diese Prozessualität der Materie zuweilen durch den Verweis auf moderne physikalische Materiekonzepte plausibel gemacht, die theoretische und methodische Begründung jedoch erst durch den Bezug auf Konzepte der (sprachlichen) Performativität geleistet.18

Bevor wir erneut auf den Ansatz Karen Barads als Beispiel eines ebensolchen »modernen physikalischen Materiekonzepte[s]«19 zurückkommen, soll hier zunächst festgehalten werden, dass sich beide Perspektiven, die theater- und kulturwissenschaftliche, nicht vollständig voneinander abgrenzen lassen. Wäh-

15 | Köhler, Sigrid G. und Wagner-Egelhaaf, Martina: »Einleitung: Prima Materia«, in: Köhler, Sigrid G. (Hg.): Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte, Königstein/Taunus: Helmer, 2004. S. 7-26. Hier: S. 14. 16 | Ebd. S. 8. 17 | Ebd. S. 10. 18 | Ebd. S. 10f. 19 | Ebd. S. 10.

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rend der, das Dinghafte und Stoffliche fokussierende material turn performative Ansätze voraussetzt, zeigt sich andersherum, dass Aspekte von Dinghaftigkeit und Stofflichkeit im theaterwissenschaftlichen Diskurs ebenfalls eine, obgleich bisher eher untergeordnete Nebenrolle spielen, wenn beispielsweise gefragt wird, was es heißt, sich den Dingen aus der Perspektive des Performativen zu nähern. Was tun wir mit den Dingen und was tun die Dinge mit uns? Wie gelingt es uns, tote Dinge zu beleben, so dass sie mit agency ausgestattet werden und Macht über uns auszuüben vermögen? Zu ihrer Beantwortung vermag eine ausgefeilte Klassifizierung nur begrenzt beizutragen.20

Mit der Vorstellung, Dinge und Stoffe mit agency auszustatten, verändert sich die Betrachtung insofern, als andere Beziehungen, zwischenmenschliche wie auch menschlich-nicht-menschliche in den Blick geraten, d.h. es geht um Veränderungen in der Welt, die der Mensch verursacht, wie auch solche, die ohne ihn vonstatten gehen. Hier kann erneut der Ansatz des agentiellen Realismus von Karen Barad aufgegriffen werden, um zu zeigen, wie sich Fragen menschlicher Wahrnehmung in engerer Beziehung zu Formen stofflicher Materialität begreifen lassen und gleichermaßen eine Hierarchie menschlicher und nicht-menschlicher agencies anders konturieren lässt: Der agentielle Realismus bietet ein Verständnis von Materialisierung, das über die anthropozentrischen Begrenzungen von Butlers Theorie hinausgeht. Insbesondere erkennt er die dynamische Kraft der Materie an. Der agentiellrealistischen Auffassung zufolge bezieht sich Materie nicht auf eine feste Substanz; vielmehr ist Materie Substanz in ihrem intraaktiven Werden – kein Ding, sondern eine Tätigkeit, eine Gerinnung von Tätigsein. Materie ist ein stabilisierender und destabilisierender Prozeß schrittweiser Intraaktivität.21

Barad zieht in ihrem agentiellen, ›posthumanen‹ Ansatz einerseits eine engere Klammer um Fragen von Materie, Materialität und Materialisierung, zugleich knüpft sie diese dicht an Differenzziehungen durch diskursive Praktiken und bringt beides in eine dynamische Interaktion: Diskurspraktiken als grenzziehende Praktiken sind also voll in die Dynamik der Intraaktivität einbezogen, durch die sich Phänomene materialisieren und Relevanz gewinnen. Die Dynamik der Intraaktivität impliziert die Materie als einen aktiven »Akteur« in ihrer fortlaufenden Materialisierung. Oder vielmehr ist die Materie ein intraaktives Werden, das in ihr schrittweises Werden einbezogen 20 | Fischer-Lichte: Performativität: eine Einführung. S. 161. 21 | Barad: Agentieller Realismus: über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. S. 47.

4. Methodische Ansätze und eingefaltet ist. Materie (Materialisierung) ist eine dynamische Artikulation/ Konfiguration der Welt.22

Diese enge Beziehung von erkenntnistheoretischen und materiell-ontologischen Fragen scheint für die Diskussion von Figuren des Risses insofern zielführend, als sie theoretische Positionen und diskursive Praktiken enger an materielle anbindet und diese vermittels menschlicher und nicht-menschlicher, materieller und immaterieller agencies in ein dynamisches Verhältnis bringt: [D]ie agentiell-realistische, posthumanistische Auffassung von Diskurspraktiken legt die Grenze zwischen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen nicht schon vor dem Beginn der Analyse fest, sondern gestattet vielmehr die Möglichkeit einer genealogischen Analyse der materiell-diskursiven Entstehung des Menschlichen.23

Durch Figuren von Rissen, die sich so zugleich materiell/immateriell als auch (prä-)diskursiv begreifen lassen, kann wiederum eine Brücke zurück zu Butler und auch zur Argumentation Mersch’ geschlagen werden, indem gefragt wird, wie die dort verwendeten Begriffe des Risses beitragen können, ein menschlichnicht-menschliches Beziehungsgefüge unter Berücksichtigung materieller (Selbst-) Referentialität neu zu konturieren. Mit Dieter Mersch gesprochen wäre somit Figuren von Rissen von einer grundsätzlichen Ereignishaftigkeit des Materiellen auszugehen: Was jeweils sich ereignet, zeigt sich an seiner Oberfläche: daher der Verweis auf Materialität, an ihm ist eine Oberflächlichkeit markiert, an der sich das Symbolische allererst abzeichnet. Dieses erweist sich dann als in sich gespalten: Es enthält einen Riß zwischen dem, worauf es gerichtet ist, seinen Sinn oder seine Referenz, seine Stellung, die ihm innerhalb einer Struktur eine Ortschaft verleiht, und dem, worin es verkörpert ist, was es auslöst oder wie es vollzogen wird, und dem jeweils das ›Daß‹ (quod) seiner Erscheinung noch vorausgeht: Setzung, die ihm einen Platz einräumt, bevor etwas gesagt oder ausgedrückt worden ist: nicht zu lösende Dualität zwischen dem Ereignis seiner Präsenz und der Immaterialität seines Bedeutens.24

Während Mersch Formen konkreter Stofflichkeit in seinem Ansatz eigentlich ausschließt, ist festzuhalten, dass er Figuren des Risses weiterhin ausschließlich eher im übertragenen, sprachlich-begrifflichen Sinne, d.h. symbolisch denkt. Demgegenüber versucht die vorliegende Arbeit zu fragen, wie solche theoretischen 22 | Ebd. S. 47f. 23 | Ebd. S. 44. 24 | Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. S. 134.

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Einleitung

Riss-Figuren (auch) mit stofflich-greifbaren Rissfiguren zu verbinden wären, und welche Konsequenzen sich aus ihrer Gegenüberstellung ergeben. Bemerkenswerterweise verortet auch Butler innerhalb ihres Verständnisses von normierenden und normalisierenden Wiederholungspraktiken Formen von Lücken und Rissen (»gaps and fissures«) als konstitutive Instabilitäten (»deconstituting possibility«), welche in den Wiederholungsprozessen als sich entziehende Momente und produktive Krisen auf- bzw. erscheinen: [I]t is also by virtue of this reiteration that gaps and fissures are opened up as the constitutive instabilities in such constructions, as that which escapes or exceeds the norm, as that which cannot be wholly defined or fixed by the repetitive labor of that norm. This instability is the deconstituting possibility in the very process of repetition, the power that undoes the very effects by which ›sex‹ is stabilized, the possibility to put the consolidation of the norms of ›sex‹ into a potentially productive crisis.25

Vor dem Hintergrund solcher konstitutiven Instabilitäten und potentiell produktiver Krisen, stellt sich erneut die Frage, in welcher Weise die Abgrenzung zwischen diskursiven, performativen und materiell-stofflichen Prozessen ins Wanken gerät, bzw. wie sich eine Beziehung herstellen lässt, zwischen einem performativen, prozessualen und phänomenologischen Verständnis von Materialität und jenen stofflich greifbaren Bezügen. In diesem Sinne ist zu fragen, ob die Differenzen der Materialität des Körperlichen (die bei Butler nicht zuletzt als eine Differenz der Genderfrage erscheinen) vom Ansatz her auf Fragen der Materialität im Allgemeinen rückzuübertragen wären, ohne jedoch die Fragen nach der (u.a. menschlichen, aber auch nicht-menschlichen) Körperlichkeit aus dem Blick zu verlieren: matter matters – Materie, Materialität, hat auch Gewicht, oder vielleicht besser: die Frage der Stofflichkeit macht von Beginn an einen (konzeptuellen, diskursiven) Unterschied. Diese Arbeit setzt sich dementsprechend zum Ziel, Konzepte von prozessualer, ereignishafter, performativer Materialität in ihrer Beziehung zu- und Wechselwirkung mit Formen von stofflicher Materie zu ergründen. Dreh- und Angelpunkt dieses Rückbezugs ist dabei die Betrachtung von Figuren des Risses in einem übertragenen, figurativen Verständnis und zugleich in ihrer konkret stofflichen Erscheinungsweise. Wenn wir davon ausgehen, dass Risse in gewisser Weise in der Stofflichkeit ihres Trägermediums verwurzelt sind, dann prägen sie damit (und darin) auch jene antonyme Konfiguration zwischen Materialität und Referentialität, die einander gerade nicht ausschließen, sondern die sich gegenseitig bedingen und durchdringen. Unter der Voraussetzung, dass eine spezifische Materialität »den Gegenstand 25 | Butler: Bodies that matter. On the discursive limits of »sex«. S. xix.

4. Methodische Ansätze

für die Dauer seiner Wahrnehmung in seinem phänomenalen, selbstreferentiellen So-Sein hervortreten«26 lasse, dann gilt dies auch in einem übertragenen Sinn für Figuren von Rissen in Bezug auf die spezifische Materialität und Stofflichkeit ihres Mediums. In einem komplexen Wechselverhältnis bedingen die Strukturen (und darin enthaltene Spannungen) der ›Trägermedien‹ und die spezifische Form und Ausbreitung von Riss-Figuren, die wiederum aufgrund ihrer Bewegungen und Nicht-Bewegungen deren Struktur und inhärenten Spannungsverhältnisse bloßlegen. Sie erzeugen eine Wirksamkeit in mehrere Richtungen, einerseits wird ihre Stofflichkeit in veränderter Weise sicht- und wahrnehmbar, zum anderen Wirken sie weiter ins Material hinein, indem Sie den dort wirksamen Kräften und Spannungen nachgeben und sich weiter öffnen – i.e. weiterreißen. Mit der Untersuchung von Rissfiguren gilt es somit, den wirksamen stofflichen und materiellen Spannungsverhältnissen nachzuspüren sowie deren (Wechsel-) Wirkungen auf semiotischen, phänomenologischen und ontologischen Ebenen vertiefend nachzugehen. Risse befinden sich so als latente Bewegungen an der Grenze zwischen Stofflichkeit, Materialität und Immaterialität, d.h. sie sind selbst latent dynamische Grenzfiguren am Übergangsbereich zwischen temporaler Verfasstheit und räumlicher Ausdehnung. Aufgrund ihrer temporal bedingten, unbeständigen und daher auch ephemeren Form sowie ihrer Tendenz zur räumlichen Ausdehnung und Hervorbringung materieller Strukturen (ohne jedoch selbst vollständig ein greifbarer, stofflicher ›Gegenstand‹ zu werden) stellen Risse dadurch einen privilegierten Zugang zu jenen komplexen Fragestellungen nach ephemeren ›Gegenständen‹ wie Bewegung, Verkörperungen und Sprache dar. Die Betrachtung von Rissfiguren soll es uns so ermöglichen, eine andere, gewendete Perspektive auf die dynamischen, spannungsreichen Prozesse von Materialität und Referentialität der Bewegung, der Sprache und der Schrift zu eröffnen, gewissermaßen eine Binnenperspektive auf die Übertragungen von und zwischen materiellen Strukturen und Körpern. Gilles Deleuze hat dieser komplexen, widersprüchlichen Stellung der Rissfigur in Bezug auf Fragen der Materialisierung, aus Perspektive ihres widersprüchlichen Bezugs zu Körperlichkeit und Fragen der Verkörperung in seiner Abhandlung Logik des Sinns nachgespürt, wo er bereits auf das Konzept des organlosen Körpers27 anspielt, welches er u.a. im Anti-Ödipus und Tausend Plateaus weiterentwickeln wird:

26 | Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris und Warstat, Matthias (Hg.): MetzlerLexikon Theatertheorie. Stuttgart u.a.: Metzler, 2005a. S. 195. 27 | Der konzeptuelle Zusammenhang zwischen dem Figurbegriff und Fragen, die sich aus dem Konzept des organlosen Körpers ergeben, wären eine eigene Untersuchung wert und können an dieser Stelle vorerst lediglich markiert werden. Vgl. den Abschnitt »Geteiltes Wissen in Bewegung«, S. 404ff. in diesem Band.

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Einleitung Die Frage ob der Riß seine Verkörperung, seine Verwirklichung im Körper in dieser oder anderer Form umgehen kann, ist offensichtlich nach allgemeinen Regeln nicht zu entscheiden. Der Riß bleibt ein Wort, solange nicht auch der Körper inbegriffen ist und solange die Leber und das Hirn, die Organe nicht jene Linien aufweisen, anhand deren man das Künftige weissagt und sie sich selbst prophezeien.28

Durch die Betrachtung von Rissen als körperlich-unkörperliche, materiellimmaterielle Figuren in Bewegung eröffnet sich somit auch ein anderes Verständnis von Schrift, Sprache und Bildlichkeit aus Perspektive ihrer komplexen Differenzen, Übertragungen und Wechselwirkungen. Aufgrund der damit zusammenhängenden Performativität deuten Figuren des Risses auf gewisse Öffnungen der Diskurse hin zu einer engeren, nicht-hierarchischen Verbindung von menschlichen und nicht-menschlichen agencies sowie materiellen und immateriellen bzw. symbolischen, (selbst-)referentiellen Dynamiken.

Risse im Kontext von Theatralität und Performativität Ausgangspunkt dieser Arbeit war ursprünglich die mehr oder weniger schlichte Frage, warum Risse, wenn wir sie denn erst einmal bewusst wahrnehmen, uns in besonderer Weise affizieren und den Atem und die Sprache verschlagen? Während wirkungsästhetische Ansätze theaterwissenschaftlicher Provenienz zumeist auf die Beziehung zwischen menschlichen Akteur*innen bzw. Performer*innen und Zuschauenden als Ko-Subjekten abzielen, schließt der Ansatz der vorliegenden Arbeit somit auch ausdrücklich stoffliche Instanzen und nicht-menschliche Akteure im Sinne von agencies in dieses Beziehungsgeflecht mit ein. Andersherum soll aus einer materiellen Perspektive der Bezug zur menschlichen Wahrnehmung nicht gänzlich ausgeschlossen werden und die Beziehung zwischen diversen menschlichen und nicht-menschlichen Instanzen Berücksichtigung finden. Neben der Frage des Betrachtens und der leiblichen Wahrnehmung spielen somit auch stoffliche Eigendynamiken als Ereignischarakter von Rissen eine Rolle, die unter performativen und theatralen Gesichtspunkten untersucht werden sollen. Am Rande der angeführten Verschiebungen innerhalb der Felder von Materialität und Stofflichkeit, d.h. ihren inhärenten und nach außen gerichteten Wirkweisen, wird zugleich die Frage nach einer anderen Differenz virulent, nämlich die Überschneidung bzw. Unterscheidung zwischen den diskursiven Feldern Performativität und Theatralität. Erika Fischer-Lichte skizziert deren Grenzlinie wie folgt: 28 | Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. S. 201. Vgl. den Abschnitt »Zweiter Tag der Wanderung: Gegenseitige Hervorbringung von Landschaft und Choreographie« im vorliegenden Band, S. 399.

4. Methodische Ansätze Während Theatralität sich auf den jeweils historisch und kulturell bedingten Theaterbegriff bezieht und die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.29

Obwohl die beiden Ansätze von »ähnliche[n] Erkenntnisinteressen« geprägt seien, sieht Matthias Warstat ebenfalls für beide »verschiedene Analyseschwerpunkte« als gegeben an: Während Performativitat (als Begriff ) den Blick auf Arten und Weisen der Wirklichkeitskonstruktion durch Wiederholung lenkt, fordert der Begriff Theatralität – nicht zuletzt durch seine Rückbindung an historische Theaterformen – dazu auf, über Strategien des Spielens mit hervorgebrachten Welten nachzudenken.30

Ausgehend von Judith Butler, wird für Warstat die Ähnlichkeit/Differenz zwischen beiden Feldern aus Sicht der deutschsprachigen Theaterwissenschaft gewissermaßen zu einem Politikum: »Es liegt insofern nahe, eine Politik des Theatralen im Ereignishaften aufzusuchen, eine Politik des Performativen dagegen in der Wiederholung.«31 Auf der einen Seite generieren performative Praktiken dabei eine Form der agency aus der Möglichkeit, durch Abweichungen und Verschiebungen innerhalb der Wiederholungen auf Veränderungen in den Diskursen und Institutionen hinzuwirken. Demgegenüber ist Theatralität hingehen eher »an situative Konstellationen als an Handlungen« gebunden.32 Theatralität und Performativität seien dabei nochmal vom Theatralischen, d.h. bezogen auf das Theater als Kunstform und von der Performancekunst zu unterscheiden. Zudem würden »viele Arbeiten der Performancekunst ihre Energie gerade aus der Abwendung von traditionellen Theatermodellen«33 ziehen. Performativität wie das Theatralische (die Kunstform Theater) sind somit eng, aber auf unterschiedliche Weise, mit der Frage von Wiederholung und Wiederholbarkeit verbunden. Während die Kunstform Theater sich mit ihren Proben- und Inszenierungsprozessen (»obsessiv«) der »Errichtung von Wiederho29 | Fischer-Lichte: Performativität: eine Einführung. S. 29. 30 | Warstat, Matthias: »Politisches Theater zwischen Theatralitat und Performativitat«, in: Fischer-Lichte, Erika; Czirak, Adam; Jost, Torsten; Richarz, Frank und Tecklenburg, Nina (Hg.): Die Aufführung. Diskurs - Macht - Analyse, München: Fink, 2012. S. 69-81. 31 | Ebd. S. 73. 32 | Ebd. S. 75 33 | Ebd. S. 70.

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Einleitung

lungsstrukturen« widme – zielt es anders als die Performativität nicht unbedingt die Differenzerzeugung ab. Mit dem Begriff der Aufführung, die sowohl Rituale wie auch Theateraufführungen umfasse, rücken die beiden Konzepte, unter der Bedingung der Ko-Präsenz von Publikum und Darstellenden wieder dichter aneinander: »Aufführungen sind immer performativ«34 und damit »ebenfalls als selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend zu begreifen«.35 Gegenüber dieser Betonung von Ko-Präsenz als konstitutiv für theatrale Aufführungen, hat Gerald Siegmund in Bezug auf Theatralität die Frage einer Herstellung von Absenz-Konfigurationen betont: Er wolle so den Begriff der Absenz aufwerten und als das widerständige und kritische Potential einer Inszenierung in den Blickpunkt rücken. Nicht die Frage nach der Präsenz macht die Theatralität von Kunstwerken aus, sondern das, was diese Präsenz erzeugt und was sie als ihr Anderes ausblenden muss.36

Zur Situierung von Rissfiguren innerhalb dieses diskursiven Feldes ist Siegmunds Ansatz ein weiterer Schritt, jedoch ist seine Abkehr (bzw. tendenzielle Umkehrung) von einem Paradigma der Präsenz innerhalb der Theatralen/Performativen, ebenfalls nicht ganz ausreichend.37 Risse wären in einem vergleichbar komplexen Geflecht von Präsenz-Absenz, Differenz und Wiederholung anzusiedeln, ähnlich, wie Derrida dies für die Signatur nachgewiesen hat: Um zu funktionieren, das heißt um lesbar zu sein, muß eine Signatur eine wiederholbare, iterierbare, imitierbare Form haben; sie muß sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion loslösen können. Ihre Selbigkeit [mêmeté] ist es, die, indem sie ihre Identität und Einmaligkeit verändert, das Siegel spaltet.38

34 | Fischer-Lichte: Performativität: eine Einführung. S. 53. 35 | Ebd. S. 45. 36 | Vgl. Siegmund, Gerald: Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. 2006. 37 | Die gesamte Untersuchung Siegmunds ist von Figuren des Risses durchzogen, hauptsächlich aufgrund seiner Anlehung an Lacan und der Vorstellung von einem ›Riss‹ in der symbolischen Ordnung: »Aufgrund der radikalen Flüchtigkeit des Tanzes kann man anstatt von einer ›Produktion von Präsenz‹, wie es Gumbrecht tut, von einer Produktion von Absenz sprechen. Doch mehr noch als diese für alle darstellenden Künste geltende Feststellung meint Absenz hier noch etwas anderes. Der Begriff zielt zum einen auf den Riss in der symbolischen Ordnung, der die Körper in Bewegung auf diesen unmöglichen Ort versetzt«. Ebd. S. 45. 38 | Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Engelmann, Peter (Hg.): Limited Inc., Wien: Passagen, 2001. S. 15-45. Hier: S. 43f.

4. Methodische Ansätze

Obwohl Rissfiguren ein ähnliches Spiel zwischen Singularität und Itierierbarkeit wie Signaturen aufweisen, steht bei Ihnen gerade nicht die Lesbarkeit, sondern eher eine Frage des Aussetzens von Literalität, Les- und Verstehbarkeit im Vordergrund. Es geht nicht um die Herstellung von Verstehenszusammenhängen, sondern um deren Anderes, die Möglichkeit ihres Aussetzens. Am Rande von Rissfiguren und den sie umgebenden Diskursen (d.h. auch durch Risse als diskursive Ränder) geht es so, wie Sandra Umathum für Installationskunst und Minimal Art betont, um »Transformation der Objektumgebungen in einen Schauplatz, an dem man sich […] (auch) als Zuschauer von Akteuren oder (auch) als Akteur vor Zuschauern erfahren kann«.39 Umathum zufolge bezieht sich Theatralität in Anlehnung an Michael Fried, auf »Prozesse der zwischenmenschlichen Beziehungsherstellung«, in denen eine »Bezeugungssituation« (Brandstetter) hergestellt werde. Jedoch sei Theatralität nach diesem Verständnis »ein Begriff, der noch nichts aussagt über die Art, in der eine Bezeugungssituation organisiert ist«.40 Rissfiguren können so, greifen wir die angeführten Ansätze auf, Szenarien bilden, die sich zwar in gewisser Weise entlang der Dimensionen des Performativen, Theatralischen und Theatralen bewegen, jedoch ohne sich eindeutig innerhalb dieser Paradigmen einordnen zu lassen. Risse bleiben in einem performativen Sinne vom Rande aus, beinahe aus dem ›Off‹ wirksam. Sie bilden innerhalb der Dimensionen Performativität und Theatralität gewissermaßen selbst jene Ränder, die Matthias Warstat als Episteme theatraler Konfigurationen identifiziert, wenn es ihm zufolge in theatralen Vorgängen um Situationen des Zeigens und Erkennen, und damit auch um Prozesse des Wiedererkennens gehe: Ein Erkennen stellt sich vielmehr dann ein, wenn der Zuschauer den Rand dieses Zeichenensembles fokussiert und wenn ihm an diesem Rand eine komparative Operation gelingt, nämlich die inszenierte Welt der Aufführung mit der Welt des Theaters in Beziehung zu setzen.41

Mit dem Erkennen dieser (inhärenten, dynamischen) Ränder tritt zugleich latent die Möglichkeit von Unterbrechungen und Aussetzern innerhalb theatraler Ereignisse in das Feld der Wahrnehmung – sie bilden konstitutive Elemente solch theatraler Konfigurationen. Wie Derrida in »Signatur, Ereignis, Kontext« mit Austin zeigt, kann so einerseits die theatralische Rahmung die Performativität sprachlicher 39 | Umathum, Sandra: Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Bielefeld: transcript, 2011. S. 68. 40 | Ebd. S. 69. Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen [u.a.]: Francke, 2004. S. 27-42. 41 | Warstat: »Politisches Theater zwischen Theatralitat und Performativitat«. S. 76.

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Handlungen, d.h. von Sprechakten aussetzen, andersherum erscheint paradoxaler Weise gerade die Möglichkeit ihres Aussetzens als Möglichkeits-Bedingung für die Existenz der sprachlichen Äußerung als solcher zu garantieren: Denn ist nicht schließlich das, was von Austin als Anomalie, Ausnahme, »unernst« ausgeschlossen wird, nämlich das Zitat (auf der Bühne, in einem Gedicht oder im Selbstgespräch) die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit- vielmehr einer allgemeinen Iterabilität – ohne die es nicht einmal einen »gelungenen« [sic!] Performativ gäbe?42

Mit Hinblick auf Rissfiguren werden in dieser Arbeit so die Fragen des Aussetzens als performative Akte – auch der Sprechakte – zunehmend virulent. Dass diese Aussetzer performativer Sprechakte ihrer Möglichkeit nach auch theatrale Dispositive in Frage stellen, wird sich mit Derridas dysfunktionaler Theater-Metapher zeigen, in der metaphorische und theatrale Prozesse in ihrer Duplizierung, in ihrer Spaltung und Verdopplung in sich zu kollabieren scheinen.43 Derrida versucht, diese Ansätze jedoch stets wieder zu positivieren – er fährt fort: »Ich gehe jetzt die Dinge von der Seite der positiven Möglichkeit und nicht mehr nur vom Mißerfolg an: Wäre eine performative Aussage möglich, wenn kein Zitat als Double die reine Einmaligkeit des Ereignisses spaltete, von sich selbst trennte?«44 Im diesem Sinne geht es bei der Betrachtung von Rissfiguren und der Frage ihrer Performativität bzw. Theatralität somit um eine Dopplung/Spaltung auf mehreren Ebenen: eine Teilung, die sich zugleich auf das Ereignishafte bezieht und auf etwas Übergeordnetes, das Feld ihrer Bedingungen. Dieser doppelte performative Prozess des doppelten, geteilten Teilens betrifft so, bezogen auf dessen materielle bzw. körperliche Seite, zugleich etwas immanent Immaterielles/Un-Körperliches – sowie deren komplexe, dynamische Beziehung und Verflochtenheit. Momente der (leiblichen) Absenz erschweren so zugleich die eindeutige Einordnung von Rissen unter die theatralen Topoi Präsenz, Ko-Präsenz und Absenz. Es wäre aus einer Zwischenperspektive eher zu fragen, inwieweit Figuren des Risses auf grundlegende Latenzbeziehungen innerhalb diverser Theatralitäts-/bzw. Performativitäts-Konfigurationen verweisen – zur Frage der Latenz im folgenden Kapitel mehr. Obwohl es Warstat zufolge abwegig erscheine, »Theatralität und Performativitat als Forschungsparadigmen gegeneinander ausspielen zu wollen«45 muss doch mit Blick auf das Motiv des »Welten Schaffens« gefragt werden, ob nicht, 42 | Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 39. 43 | Vgl. den Abschnitt »Vorhang der Sprache und gespaltener ›Geist‹. Eine Szene der Sprachlosigkeit«, S. 185ff. 44 | Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 39. 45 | Warstat: »Politisches Theater zwischen Theatralitat und Performativitat«. S. 80.

4. Methodische Ansätze

wie Heidegger dies für die ›Parteien‹ »Welt und Erde« diagnostiziert, von einem (produktiven) »Streit« zwischen den Instanzen gesprochen werden muss, einer »differentiellen Einheit« (Espinet).46 Auch in sprachlicher Hinsicht wird zu fragen sein, inwieweit diese Unsichtbarkeiten, Ausblendungen, Aussetzer als solche zu markieren sind und möglicherweise durch eine Rahmen-Verschiebung sichtbar gemacht werden können. Während Warstat das Theatralische (also in Bezug auf die Kunstform Theater) mit Foucaults Überwachen und Strafen von einem panoptischen Theater- bzw. Anstaltsmodell herleitet,47 d.h. angelehnt an eine Vorstellung von Bühne als Modell totaler Sichtbarkeit, tritt in Bezug auf Rissfiguren deren besonderes Verhältnis in Bezug auf Formen und Figuren des Vorhangs, zwar als theatralisch in den Vordergrund, jedoch eher als Konfiguration einer zwiespältigen Latenz des Sichtbaren (in einem dynamischen Verhältnis zum Unsichtbaren). An dieser Stelle zeigt sich der materielle Schauspielcharakter von Rissfiguren in besonders deutlicher und nachdrücklicher Form. Von dem besonderen szenischen Verhältnis zwischen Riss- und Vorhangsfiguren ausgehend, stellt sich weitergehend die Frage, ob materielle Rissfiguren als Bewegungen eines doppeldeutigen Teilens grundsätzlich auch theatrale Dimensionen, im Sinne einer situativen Ko-Präsenz enthalten (können) – oder inwieweit sie diese als komplexe Inszenierung von »Bezeugungssituationen«48 nochmals in sich spalten können (vgl. Riss des Tempelvorhangs49). Die mit Rissen, wesentlich verbundenen Dimensionen eines grundlegenden Entzuges und der Abwesenheit verkomplizieren jedenfalls aufgrund ihrer komplexen dynamischen Verhältnisse die einfache Beantwortung dieser Fragestellung. Zwischen dem spektakulären, affizierenden Ereignischarakter von Rissfiguren und Momenten ihrer (rhetorischen und/oder szenischen) Inszenierung eröffnet sich ein teilweise paradoxes Spannungsfeld. So gesehen stellen Rissfiguren in ihren jeweils spezifischen Konfigurationen ambivalenter Uneindeutigkeit, latenter Abwesenheit und unvorhersehbaren Bewegungen die mit theatralen Konfigurationen verbundenen Fragestellungen und diskursiven Grenzen auf eine fundamentale Probe. Der mit dem Verhältnis von bzw. den Differenzen zwischen Theatralität und Performativität verbundene Fragenkomplex kann weder in dieser Einleitung noch

46 | Vgl. den Abschnitt »Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)« im vorliegenden Band, S. 117. 47 | Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. 48 | Vgl. Brandstetter: »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«. 49 | Vgl. den Abschnitt »Exkurs II: Riss und Vorhang« im vorliegenden Band, S. 126.

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im Verlauf dieser Arbeit ausschöpfend abgehandelt werden und dennoch werden die damit verbundenen Aspekte im Laufe der Betrachtungen von Risskonstellationen virulent: daher sollten diese Fragen hier als Horizont der weiteren Diskussion nicht unmarkiert bleiben. Das Verhältnis von Theatralität und Performativität, scheint bereits im Vorfeld im Hinblick auf Szenarien und Konfiguration des Risses neue Dynamiken zu entfalten: Rissfiguren verursachen als performative sowie latent theatrale Ereignisse unterschiedliche Wirkungen, und erzeugen, teilweise rückwirkend, neue Dynamiken und Öffnungen innerhalb der diskursiv verflochtenen Felder Performativität und Theatralität und ihren jeweiligen Wahrnehmungspraktiken. Während die Aspekte der Performativität und des Theatralen als methodische Ansätze zu einer Fokussierung bestimmter Risskonfigurationen beitragen soll, versucht diese Arbeit im Gegenzug die komplexen Dynamiken zwischen ihnen in einem neuen Zugriff beschreibbar zu machen.

Risse als dynamische Figuren Um Risse bereits im Ansatz aus der statischen und simplifizierenden Dichotomie zwischen immateriell aufgefasstem Begriff einerseits und materiell begriffener Phänomenalität andererseits herauszuheben, sollen diese als sprachlich-materiell eng bezogen, d.h. als strukturell und dynamisch verwoben aufgefasst werden. Um Risse als Begriffe und zugleich als wahrnehmbare Phänomene in einer komplexen Wechselwirksamkeit zu bestimmen, erscheint es hilfreich, diese ausgehend von einem materiellen, performativen Verständnis weiterhin an jenes dynamische, ja spielerische Konzept der Figur anzulehnen, wie dieses von Gabriele Brandstetter und Sibylle Peters in ihrer Einleitung des Bandes »de figura« entworfen wird: Die Herkunft von ›fingere‹, so Auerbach› drückt eher die Tätigkeit aus als das Ergebnis‹, als die fixierte Gestalt. Damit ist mit Figur immer schon ›etwas Lebend-Bewegtes, Unvollendetes, Spielendes‹ bezeichnet. Seit der Antike also transportiert der Begriff ›Figura‹ nicht nur die Vorstellung von einer (plastischen) Gestalt, sondern auch seine eigene Plastizität – jene performative Dimension, die Figur selbst als Szene von Verwandlung erscheinen läßt. Damit hängt nun der Aspekt der Neuheit zusammen, der ›Figur‹ aus dem ›Grund‹ erscheinen lässt. 50

Im Sinne einer solchen performativen Szene der Verwandlung, dies stellen die Autorinnen voran, sei der Begriff der »›Figur‹ im hergebrachten Sinn, d.h. als Repräsentationsmodell, das Einheit – Einheit der Gestalt, Einheit des Subjekts im Sinn von Identität – verbürgt, obsolet geworden«.51 50 | Brandstetter, Gabriele und Peters, Sibylle: »Einleitung«, in: Diess. (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink, 2002. S. 7-30. Hier: S. 8. 51 | Ebd.

4. Methodische Ansätze

Ein solchermaßen dynamisch bestimmter Figurbegriff (aufgrund einer unabgeschlossenen plastischen Gestalt der Figur, ihrer Nähe zu Szenen der Verwandlung und zum performativen Geschehen, ihrer bewegt-spielerischen Komponente) ist für die Annäherung an Phänomene von Rissen überaus hilfreich, zeigt sich doch gerade in der Betrachtung von Rissen als Figuren ein bewegtes Moment, etwas Kontigentes, unentschieden Spielendes im Verhältnis von Figur und Grund: Figur und Grund sind durch Markierungen, zum Beispiel Kontur und Fond, aufeinander bezogen. Sie heben sich voreinander ab im kon-figurativen Spiel von Identität und Differenz. Normalerweise ist dieses Verhältnis nicht einfach umkehrbar. Anders bei jenen Figur-Grund-Konstellationen, die sich als ›Kippfiguren‹ erweisen: In der Wahrnehmung tritt, je nach Wechsel des Focus, die eine oder die andere Seite bzw. Dimension der räumlichen Ordnung als Figur in den Vordergrund. Das Umspringen von Figur und Grund, oder auch von Figur und (Co-)Figur eröffnet dabei zugleich einen neuen Horizont des scheinbar bekannten Bildes.52

Diese Formen von Kippfiguren stellen dabei durchaus nicht bloß Ausnahmeerscheinung der Wahrnehmung dar, sondern verdeutlichen quasi ex negativo ›Grundbedingungen‹ der zeitlich bedingten Prozesse des Wahrnehmens: Ein Raum-Zeitgeschehen, das in diesem Bewegungsprozeß des Umspringens auch die Möglichkeit eines Erfahrungswandels transportiert: Durch die Verformung des gegebenen ›Musters‹ trägt sich ein Moment der Irritation in den Wahrnehmungsprozeß ein, das – wie sich mit dem Ereignis des ›Kippens‹ erweist – schon ein Potential der Figur selbst darstellt. Ein latentes Potential, das gewissermaßen die Chaosstelle im Ordnungsszenario identifikatorischer Figuration ausmacht und in der Performanz der Figur, im Vorgang ihrer Inversion, Evidenz erhält.53

In ähnlicher Weise, wie dieses für Figuren konstitutiv eingeschriebene Potential des Kippens oder Schwankens zwischen Momenten der Irritation und der EvidenzProduktion, stellt nun Gilles Deleuze ein vergleichbares Spiel des Schwankens ausdrücklich für Figuren von Rissen im Verhältnis ihres Innen/Außen dar. Ein Spiel, das sich an der Schwelle zum Tanz bewegt, wie er schreibt: Die wirkliche Differenz besteht nicht zwischen dem Innen und dem Außen. Der Riß ist weder innerlich noch äußerlich, er verläuft auf der Grenze, un-

52 | Brandstetter, Gabriele: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: Brandstetter, Gabriele / Peters, Sibylle (Hg.): Ebd. S. 247-264. Hier: S. 247. 53 | Ebd.

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Einleitung merklich, unkörperlich, ideell. Daher steht er zu dem, was im Äußeren oder im Inneren geschieht, in komplexen Interferenz und Kreuzbeziehungen, ein einer tänzelnden Verbindung, einen Schritt zum einen, einen Schritt zum anderen, in zwei unterschiedlichen Rhythmen: alles, was lärmend eintritt, tritt am Rande des Risses ein und wäre ohne ihn nichts; umgekehrt setzt der Riß seinen schweigenden Verlauf nur fort, ändert seine Richtung entsprechend den Linien des geringsten Widerstands nur, spannt sein Netz nur unter dem Schlag dessen, was eintritt.54

Figuren des Risses wären somit nicht nur als unabgeschlossene plastische Gestalten anzusehen, sondern auch als eine quasi invertierte, spielend-schwankende Figur der Inversion, nicht (nur) aus dem Grunde heraustretend, sondern (auch) »unter dem Schlag dessen, was eintritt«55 in ihn einfallend. Neben dieser räumlichen Beschreibung einer kollabierenden Innen-Außentrennung durch Rissfiguren wären Risse zudem unter dem Aspekt des Dynamischen auch von einem wesentlich temporalen Moment durchzogen, Risse ereignen sich als a-rhythmische, bewegte Figuren in der Dauer in Form eines materiellen Insistierens. So ließe sich, wie Kai van Eikels mit Blick auf die ›Figur‹ der Figur beschreibt, von einer »Quasi-Vergegenständlichung der Bewegung als etwas«56 sprechen. Im Sinne einer »Verräumlichung eines zeitlichen Geschehens« sind Risse wie (und als) Figuren dabei zugleich »Indizien der Gewalt« eines sich ereignenden Ausgleichs »und jener anderen Gewalt einer Differenz, die sich in ihr verwahrt«.57 Risse und Figuren nähern sich somit konzeptuell an und berühren sich quasi schließlich in ihrer latent dynamischen Form, oder besser: dynamischen Kon-Figuration räumlich-temporaler Unabgeschlossenheit58 und ›tänzerischer‹ Bewegtheit. Wie bereits der treffende Titel de figura des Bandes von Brandstetter und Peters anklingen lässt, schwingt im Nachdenken über die Figur und ihren Begriff somit stets bereits das Moment der De-Figuration mit: Bezogen auf die Figuren des Risses erscheint dieses de-figurative Moment ebenfalls virulent: es betrifft zusätzlich zur 54 | Deleuze: Logik des Sinns. S. 194. 55 | Ebd. 56 | van Eikels, Kai: »Die erste Figur. Zum Verhältnis von Bewegung und Zeit«, in: Brandstetter, Gabriele / Peters, Sibylle (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt München: Fink, 2002. S. 33-50. Hier: S. 33. 57 | Ebd. 58 | S.a. Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper: Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld: transcript, 2015. Foellmer untersucht insbesondere das »Phänomen des Unabgeschlossenen, als un-fertige Ästhetik proliferierender Bewegungsmuster, mit denen sich zeitgenössische Choreograph/innen beständig neu entwerfen im teils aussichtslosen Versuch, einer Stil-Bestimmung und Festsetzung in marktökonomische Zusammenhänge zu entgehen«, ebd. S. 19.

4. Methodische Ansätze

eigenen Gestalt der Figur immer auch die Umgebung, das Umfeld in welches der Riss eingebettet ist, in welchem er statthat. Das de-figurierende Moment des Risses ist dabei (potentiell) invasiv, raumgreifend, virulent, wuchernd, wachsend. Der Riss fungiert als (potentiell oder konkret) fortschreitende, bewegte Figur der Differenz, des materiellen Unterschieds und Prozess der Differenz-Ziehung, wobei sich darin eine Form der Umkehrung, des Einfallens Bahn bricht: Figuration einer Inversion, einer Figur des Umkippens – mit dieser sprachlichen Wendung wird der Riss als Figur in anderer Weise figürlich, ist er/sie doch hiermit aus dem Grunde herausgetreten, wie ein Vexierbild umgekippt; nicht von ungefähr, denn wir wollen ihn/sie ja als Thema hervorheben, herausarbeiten, hervorholen. Dies bemerkend soll gefragt werden, ob die Figur des Risses aufgrund ihres invertierenden, einfallenden, invaginierten (Derrida) Charakters59, daher an vielen Stellen eher eine Figur des impliziten als des expliziten Ausdrucks ist. Dort wo der Begriff auftaucht wird er, wie eingehend festgestellt, oft nicht ›ausdrücklich‹ bedacht, sondern verbleibt als Andeutung, stets figurativ, setzt sich jedoch übertragend fort und grundiert das Folgende sprachlich in bestimmter Weise, sich selbst ›als Gegenstand‹ tendenziell immer wieder entziehend.60 Der Begriff der Figur, der stets seine eigene De-Figuration einbegreift, soll so dabei helfen, Figuren des Risses in ihrer Ambivalenz und Doppeldeutigkeit sprachlich verhandelbar zu machen: auch als Sprachfigur – dort, wo der Begriff des Risses als Topos in der Sprache Verwendung (und Verwandlung) findet sowie an jenen Berührungs-Stellen, an denen die Figur in spezifisch stofflich-materiellen Kontexten und Konfigurationen ins Auge fällt, d.h. als vielfältiges, vielgestaltiges und raumgreifendes und zugleich dynamisches Phänomen erscheint, welches hier insbesondere in künstlerischen und kulturellen Betrachtungskontexten untersucht werden soll. In diesen Übersprungs- oder Umschlagsmomenten61, in denen sich Materialität, Bewegung und Sprache (als Wörtlichkeit und in ihren vielfältigen Prozessen 59 | »Invagination«, so erläutert Simon Morgan Wortham in Bezug auf das Derrida’sche Konzept »refers to the infolding of a portion of an outer layer, surface or edge, so as to open a pocket. For Derrida, this pocket is not a simple ›inside‹, nor can it be appropriated as such, but is instead the opening of the ›inside‹ to the ›other‹«. Wortham, Simon: The Derrida dictionary. London u.a.: Continuum, 2010. S. 75f. 60 | So ist beispielsweise die Einleitung des oben genannten Bandes über die Figur unterteilt in »Figura I: Aufriß des Szene« und »Figura II: Umriß der Beiträge« – die Figur des Risses ›geistert‹ so von Beginn an durch den Band. 61 | Kai van Eikels beschreibt Figuren als Umschlagsmomente von Bewegungen, als theatrale Beziehung zwischen Effekt und Affekt, in Form einer Gedankenbewegung, die wiederum selbst auf die Figur des Risses hinausläuft: »Kinesis heißt, wie Heidegger einmal anmerkt, ursprünglich nicht Bewegung, sondern Umschlag.

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der Übertragung) begegnen, d.h. auch dort, wo Materielles und Immaterielles aufeinandertreffen und zugleich bereits wieder auseinanderdriften, geht es um die Verhandlung von Rissen als nicht abschließend bestimmbare Figuren des Dazwischen, also um Transformationsprozesse zwischen Sprache und Materialität, Körper und Bewegung, das Schwanken zwischen Figur und Grund, Wörtlichkeit und Übertragung – sowie ihr schwer zu greifendes Anderes: das Stumme, Reglose, Immaterielle, Körperlose: all dem gilt es mit und durch Rissfiguren nachzuspüren.

Latenz von Rissfiguren, Risse als latente Bewegungen Stellt die Nähe zu Figuren (bzw. Kippfiguren) mit ihren inhärenten Spannungen zwischen Figuration und De-Figuration gewissermaßen eine Grundbedingung von Rissen dar, so soll das Verhältnis von Rissen und Bewegung im weiteren Verlauf näher ausdifferenziert werden. Der Ansatz, Rissfiguren unter dynamischen Gesichtspunkten, d.h. als Bewegungen zu betrachten, soll so ihre nichtlineare, a-rhythmische Qualität der Ausbreitung dezidierter berücksichtigen. Als Beschreibungskategorie soll dabei der Begriff der Latenz helfen, einerseits die dynamische Qualität von Rissen und deren spezifische Formen der Ausbreitung adäquat zu beschreiben, andererseits soll dadurch das bereits festgestellte Problem angegangen werden, dass sich Rissfiguren häufig ihrer Wahrnehmung, ihrer dezidierten Beschreibung und eingehenden Thematisierung zu einem gewissen Grad widersetzen. Rissfiguren scheint so ein grundlegend ambivalentes Verhältnis in Bezug auf ihre Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit zu eigen zu sein. Ein kurzer Seitenblick auf die Forschung in den material- und werkstoffkundlichen Wissenschaften scheint diesen Befund von physikalischer Seite zu bestätigen: Seit Jahrzehnten versuchen Forscher die Ausbreitung von Rissen in Materialien zu beschreiben. Klar ist: Wenn Materialien reißen, dann trennen sich Atome und es entstehen neue Oberflächen. Dabei zeigen Experimente: Geschieht das langsam, dann entstehen atomare Oberflächen, die spiegelglatt sind, während

Das akzentuiert jenes Moment der Bewegung, in der etwas geschieht, was die Bewegung insgesamt zu einem Geschehnis macht; und dabei handelt es sich genau um jenes Moment, in dem ihre theatralische Beziehung zur Zeit entsteht. […] Der kinetische Sprung des Umschlags ist uns am besten bekannt durch den eigentümlichen Affekt, der ihn begleitet: das Zerplatzen etwa, das schockierende Zerplatzen eines Luftballons […] Das Zerplatzen ist ein Erlebnis-, in gewisser Weise sogar ein Handlungsmodell – eine stetige Dehnung, Annäherung, die irgendwann zum Riß führt«. van Eikels: »Figur und Inversion«. S. 45.

4. Methodische Ansätze schnellere Risse die Oberflächen immer unregelmäßiger werden lassen, bis der Riss sich schließlich verzweigt.62

Auch im Bereich der Material- bzw. Rissforschung tritt so die Suche nach einer adäquaten Sprache zur Beschreibung von Riss-Phänomenen in den Vordergrund. Das Fehlen adäquater Beschreibungskategorien wird beispielsweise in einem Zeit-Artikel deutlich, dessen Autor sich bemüht, das Themenfeld populärwissenschaftlich darzustellen, wobei hier besonders die Beschreibung der Ausbreitungsund Bewegungsqualität von Rissfiguren auffällt: Der Risskeim ist unvorstellbar klein, zart und unschuldig, kaum ein Nanometerchen lang und im metallischen Bauteil versteckt wie die Stecknadel im Heuhaufen. Aber er wächst. Wird zum Kurzriss, den man unterm Rasterelektronenmikroskop (REM) erkennen kann. Breitet sich scheinbar chaotisch aus. Bleibt hängen an nur wenige tausendstel Millimeter großen Hindernissen. Legt eine kleine Latenzphase ein oder bleibt vollends stehen. Womöglich wächst er aber weiter, kommt in die Pubertät, findet eine Vorzugsrichtung, wird erwachsen. Und plötzlich geht alles ganz schnell: Langriss, fataler Langriss, Bruch. […] Wenn Technik versagt, findet man als unmittelbare Ursache sehr oft – einen Riss.63

Neben dieser auffallend organischen, lebenszyklischen Metaphorik scheint hier besonders die Fokussierung auf eine besondere Form der Bewegung interessant: die unregelmäßige, »scheinbar chaotische« Ausbreitung von Rissen und der Hinweis auf Momente des Aussetzens und Pausierens in ihrer Verbreitung in Latenzphasen. Ebenso wie eine Prognose über ihren zukünftigen Verlauf, ist auch die Dauer der Latenz- oder Ruhephase von Rissen meist relativ unvorhersehbar. Je länger eine solche Ruhephase andauert, desto eher können Risse wieder aus dem Blick geraten; sie werden in diesen Zwischenphasen eher ›latent‹ wahrgenommen. Umgekehrt verdeutlicht sich dort, wo Risse plötzlich wieder aktiv in Erscheinung treten, ihr Auftreten als ein Heraustreten aus einer Phase- bzw. Atmosphäre der Latenz. Der Aspekt der Latenz scheint so bei der näheren Betrachtung von Rissfiguren eine vielschichtige Rolle zu spielen, betrifft diese doch erstens die dynamische Seite der Ausbreitung von Rissen innerhalb von Materialien, nimmt zweitens zugleich Bezug auf den Prozess ihrer Wahrnehmbarkeit und adressiert drittens

62 | Buehler, Markus J. und Max-Planck-Gesellschaft: »Eine Theorie für rasende Risse«, 2006. Zugriff unter: https://www.mpg.de/522095/pressemitteilung20060116 am 20. August 2016. 63 | Strassmann, Burkhard: »Ein Riss geht um die Welt«, in: Die Zeit Nr.14 vom 25. März 2004. Zugriff unter: http://www.zeit.de/2004/14/T-Risse am 20. August 2016.

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die mit ihrer Beschreibung verbundenen Schwierigkeiten, wie Stefanie Dieckmann sie darlegt: Latenz adressiert eine bestimmte Seinsweise von Entitäten, die mit einer besonderen Form indirekter oder verzögerter Erkennbarkeit verbunden ist und sich nur in komplexer Weise zur Darstellung bringen lässt.64

Während Risse als dynamische Figuren von einer Form der temporalen Latenz durchzogen bzw. umgeben zu sein scheinen, verbindet diese Instanzen zudem das komplexe Problem ihrer Darstellbarkeit. Aufgrund solcher Momente indirekter oder verzögerter Erkennbarkeit und dem inhärent-latenten Bezug zu Fragen ihrer Darstellbarkeit bewegen sich Rissfiguren, so wäre die These, damit zugleich an der Schwelle zu theatralen Phänomenen und Prozessen. Einen Ansatz Anselm Haverkamps aufgreifend, ließe sich im Nachdenken über Figuren des Risses als fundamentale Unbestimmtheiten in der Philosophie so von einer Praxis der Latenthaltung sprechen: [D]ieses Wissenwollen, curiositas ohne Gott- und Machtverlangen, setzte die Skepsis des Nie-ganz-Wissens, den Umgang mit dem nie ganz gesicherten, ungewiß Gegebenen nicht nur voraus, sie setzte sie um (oder zumindest an, sie umzusetzen) in die Tugend der Latenthaltung, Gelassenheit in der Unsicherheit des Wissens.65

Haverkamps Latenzbegriff, als »Gelassenheit in der Unsicherheit des Wissens« (ebd.) bewegt sich dabei im weiteren Verlauf seiner Argumentation in gewisser Nähe, zu dem im Vorangegangenen bestimmten Figurbegriff, wobei er in seine Bestimmung der Latenz selbst eine sehr deutliche, obgleich nicht minder doppeldeutige, (geradezu kryptische!) Differenz einzieht: Latenz als verborgene Grundfigur der Defiguration, Deformation, Dekomposition ist nicht Dekonstruktion, sie ist der leere Boden, dessen unbegreiflich unbegrifflicher Bodensatz in unablässiger Bewegung ist, sich Raum schafft, verändert, verwirft. Die Verwerfungen sind die Kunst, der Vorentwurf des ihr dekonstruktiv möglichen.66

64 | Diekmann, Stefanie und Khurana, Thomas: »Latenz. Eine Einleitung«, in: Diekmann, Stefanie und Khurana, Thomas (Hg.): Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007. S. 9-13. Hier: S. 11. 65 | Haverkamp, Anselm: Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg. Berlin: Kulturverl. Kadmos, 2004. S. 22. 66 | Ebd. S. 85.

4. Methodische Ansätze

Unter dem Stichwort Latenzzeit wird die Latenz für Haverkamp dabei zugleich zu einem epochalen Begriff, der für ihn den kulturwissenschaftlichen Blick auf die ›Nachkriegszeit‹67 unter einen großen Vorbehalt stellt: »Kulturwissenschaft ist eine Nachkriegswissenschaft in dem Sinne, daß die Rückfälligkeit in die Barbarei nicht so sehr ihr Gegenstand als ihre methodische Voraussetzung ist«68, schreibt Haverkamp in seinem bewusst doppeldeutig als »Legende« überschriebenen Vorwort zu seinem oben bereits erwähnten Buch Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. In der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Legende, zwischen Leseanleitung und Legende im Sinne eines Mythos schwankend, steht also sein Nachdenken über die Frage von Latenz insbesondere in Richtung der sogenannten Nachkriegszeit, beginnend in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, unter einem prinzipiellen Vorbehalt, einem essentiellen Zögern, einem latenten, unausgesprochenen Zweifel(n). In der sprachlichen Figur der Latenzzeit ist nach Haverkamp so von vornherein ein Doppeltes enthalten: sie beschreibt eine Epoche, die sog. Nachkriegszeit, die fünfziger Jahre (die Haverkamp großzügig von 1947-68 rechnet).69 Als eine Zeit ›in der Schwebe‹ enthält sie dabei zugleich eine Spur zeitlicher Verzögerung: Latenzzeit ist geprägt und durchzogen von einer Verspätung, von einer verzögerten Reaktion auf die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges. Genaugenommen würde Latenzzeit so eine komplexe Zwischen-Zeit beschreiben, Wartezeit auf das Eintreten der Folgen eines bereits geschehenen aber noch nicht verarbeiteten Ereignisses, eine Zeit des Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Bezogen auf die sog. Nachkriegszeit handelt es sich um eine Zeit, die nicht nur, aber trotzdem auch, von wirtschaftlichem Aufschwung, Technisierung und deren unausweichlichen Nebenwirkungen betroffen ist. Mit diesem Vorbehalt, in dieser mehrfachvorausgesetzten Doppelbödigkeit, und der damit verbundenen Ambivalenz, erblickt Haverkamp eine Korrelation von Theorie und Kunst – nämlich als einer »Technik, nicht zu sagen: die Kunst der Latenthaltung«70, oder wie Diekmann und

67 | Vgl. zu dieser epochalen Zuordnung auch das stark persönlich geprägte Erinnerungsbuch von Gumbrecht, Hans Ulrich: Nach 1945: Latenz als Ursprung der Gegenwart. Darmstadt: Wiss. Buchges., 2012. Demgegenüber zielt der Band von Lutz Ellrich eher auf eine gegenwärtige »Latenz und Manifestation des Politischen unter Bedingungen der Mediengesellschaft« ab, in denen er auch demokratischen Gesellschaften »Zonen des Latenten und Verborgenen« attestiert. Ellrich, Lutz: »Einleitung. Latenz – Politik – Medialität«, in: Ellrich, Lutz; Maye, Harun und Meteling, Arno (Hg.): Die Unsichtbarkeit des Politischen: Theorie und Geschichte medialer Latenz, Bielefeld: transcript, 2009. S. 7-12. Hier: S. 9. 68 | Haverkamp: Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg. S. 7. 69 | Vgl. Ebd. S. 87. 70 | Ebd. S. 85.

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Khurana schreiben »der Ovid’schen Devise entsprechend, dass die Kunstfertigkeit darin bestehe, die ihr eigene Technik zu verbergen: ars adeo latet arte sua«.71 Eine ähnliche Form des Nicht-Sagens, als Aufschieben, Aussetzen und bewusstem Schweigen/Verschweigen wird sowohl bei den in dieser Arbeit betrachteten Texten Derridas als auch Heideggers eine wichtige, wiewohl dementsprechend latente Rolle spielen.72 Abgesehen von den beiden zeitgenössischen künstlerischen Beispielen im zweiten Teil dieser Arbeit entspricht die zeitliche Eingrenzung in gewisser Weise diesem Zuschnitt: sowohl die eingehende Untersuchung des ›Dialogs‹ zwischen Derrida und Heidegger als auch die ersten drei der fünf untersuchten Beispiele fallen genau in jene »Zeit der Verzögerung« und beschäftigen sich mit eher diffusen Nachwirkungen und Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges. Der zeitliche Sprung zwischen den drei künstlerischen ›Nachkriegsbeispielen‹73 im Verhältnis zu den beiden zeitgenössischen Beispielen wird wiederum mit jenem Aspekt der Latenzzeit, jener Pause, jenem Schlummern der Virulenz von Rissfiguren plausibel. Zentrale Frage ist dabei, wie sich Figuren des Risses aus dieser Latenzzeit heraus fortschreiben, fortsetzen und nachvollziehen lassen. Im Folgenden wird des Aspekt der Latenz in dieser Arbeit selbst wieder in den Hintergrund treten – mit Diekmann ließe sich hier quasi von einer »Latenz der Latenz«74 sprechen – zugleich bildet diese eine wichtige Voraussetzung für die Betrachtung von Rissfiguren. Die Grundannahmen des Verhältnisses von Rissfiguren und Atmosphären, Phasen und Szenen der Latenz sei hier abschließend noch einmal thesenartig zusammengefasst: • Als materiellen Figuren ist Rissen ein Moment der Latenz inhärent, wodurch die temporale und dynamische Seite von Rissen in den Blick gerät – als ihre Tendenz zum Reißen. Risse unterscheiden sich von der Bewegung des Reißens und Weiterreißens in ihrem Moment einer temporalen Zäsur, eines Innehaltens von unbestimmter Dauer, einer prinzipiellen Verzögerung.

71 | Diekmann und Khurana: »Latenz. Eine Einleitung«. S. 9. 72 | Vgl. den Abschnitt »Verortungen von Rissfiguren bei Martin Heidegger und Jacques Derrida« im vorliegenden Band, S. 73ff. 73 | Zur Problematik, dass durch den Epochenbegriff andere weiterhin stattfindende Kriege (z.B. der französisch-algerische Krieg oder der Vietnamkrieg) ausgeblendet werden vgl. Feldman, Hannah: From a Nation Torn. Decolonizing Art and Representation in France, 1945-1962. Durham: Duke University Press, 2014b. Vgl. das Kapitel »Decollage im Kontext einer Ära der Dekolonisierung« im vorliegenden Band, S. 232ff. 74 | Diekmann und Khurana: »Latenz. Eine Einleitung«. S. 9.

4. Methodische Ansätze

• Aufgrund der ihnen inhärenten Latenz, ihrer Latenzzeit bzw. der latenten Latenz geraten Risse als im/materielle Figuren immer wieder aus dem Blick, sie entziehen sich der Wahrnehmung, bzw. bleiben stets an ihrer Schwelle und sind somit räumliche wie temporale Schwellenphänomene. • Risse wären in diesem Sinne als ein materielles Schlummern oder Schwelen von Bewegungen des Reißens zu begreifen und damit als potentielle und zugleich bereits stattgefundene Bewegungen. • Die Betrachtung von Rissen als Latenzphänomene bringt uns auf die Spur ihres affektiven Bezugs zum Körper der Betrachtenden: in der Antizipation ihres möglichen Weiterreißens bzw. im Nachvollzug ihrer Spuren des Gerissen-Seins. Risse sind (bzw. enthalten) Spuren vergangener und zukünftiger Bewegung in Übertragung und sind als solche affektiv wirksam. • Was ihre Wahrnehmung betrifft, haben Rissen im Sinne der Latenz einen prekären Status zwischen Präsenz und Absenz, sie haben die Eigenschaft, da-zu-sein und gleichzeitig nicht-da-zu-sein, es ist daher fraglich, inwieweit und ob sie durch einen ontologischen Ansatz adäquat beschrieben werden können. • Als Latenzphänomene bewegen sich Risse an der Schwelle eines doppelten Entzuges, retraits, in latenter Weise ähnlich/different, wie Derrida dies für Figuren der Metapher nachgezeichnet hat.75 Diesem doppelten Entzug entspricht in gewisser Hinsicht das Phänomen einer »Latenz der Latenz« (Dieckmann).76 Dieser Entzug ist fundamental von einer stets entgleitenden Doppeldeutigkeit geprägt: Zug/Entzug/doppelter, d.h. wiederholter Zug. Aus dieser Eigenschaft heraus ergibt eine gewisse Affinität zur Derrida’schen différance, wie auch zu Heideggers ontisch-ontologischer Differenz und deren fundamentalen Differenzen. • Risse als Latenzphänome zu betrachten heißt, aufgrund ihren Tendenz, unregelmäßige Sprünge zu machen, vor allem ihren Übertragungscharakter in den Blick zu nehmen. Als Übertragungsfiguren bringen Risse dabei Dimensionen von Sprache, Materialität, menschlicher und nicht-menschlicher Körperlichkeit in Schwingung. Durch Betrachtung von Rissen in Latenzszenarien stellt sich die Frage nach der anhaltenden Wirksamkeit und Relevanz dieser Figuren.

75 | Vgl. das Kapitel »Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«)« im vorliegenden Band, S. 95ff. 76 | Diekmann und Khurana: »Latenz. Eine Einleitung«. S. 9.

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Zusammengefasst rücken durch die Verschränkung von Riss- und Latenzszenarien ihre materiellen, performativen und theatralen Verhältnisse, deren Dynamiken in den Fokus. Dabei wären Rissfiguren nicht lediglich von einer diffusen Atmosphäre umgeben, sondern es ließe sich, so hieße die These, bei bestimmten Figuren von Rissen (und dies wären eben jene Figuren, die in dieser Arbeit betrachtet werden sollen) ein Moment der Kristallisation von Latenzszenarien feststellen. In diesen herausgehobenen kulturellen und künstlerischen Latenzszenarien kristallisiert die Differenzbildung des Risses als performatives Geschehen im Sinne einer kommenden und gewesenen Bewegung (vorübergehend) und wird als solche wahrnehmbar und thematisierbar.

Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

5. Verortungen von Rissfiguren bei Martin Heidegger und Jacques Derrida

Die Verwendung von Figuren des Risses in philosophischen Texten bleibt, wie in der Einleitung gezeigt, häufig andeutungshaft, schematisch, suggestiv und relativ unreflektiert. Nur wenige theoretische oder philosophische Abhandlungen setzen sich dezidiert und eingehend mit Rissen als dynamischen Figuren auseinander, insbesondere solchen, die zwischen sprachlicher und materieller Verfasstheit vermitteln. Ebenso selten wird angestrebt, nach deren Wirksamkeit, ihrer Performativität bzw. Aspekten ihrer theatralen Dimensionen zu fragen und dabei ihre de-figurativen, sich entziehenden Aspekte konzeptuell einzubegreifen. Einige Textpassagen bei Martin Heidegger und Jacques Derrida sowie die darauf Bezug nehmende Literatur bilden hier positive Ausnahmen. Zwar taucht der Begriff bei beiden Denkern in Anbetracht des immensen Umfangs ihrer Werke ebenfalls verhältnismäßig selten auf, dennoch hat er hier eine bemerkenswerte Doppelstellung inne. In gewisser Weise bleibt der Begriff in ihren Texten einerseits randständig und dezentral,1 andererseits steht er aber, wie sich zeigen wird, in enger Verbindung zu zentralen Begriffen beider, wie z.B. ontisch-ontologische

1 | Die Autoren der Derrida-Wörterbuches scheinen z.B. davon auszugehen, dass der Begriff ursprünglich eher zu Heidegger gehört, demzufolge widmen sie ihm auch keinen eigenen Eintrag – er wird jedoch kurz im Zusammenhang mit Derridas Die Wahrheit in der Malerei erwähnt, und zwar in Bezug auf Heideggers Der Ursprung des Kunstwerkes und dem Streit über die Van Gogh’schen Bauernschuhe auf: »For Heidegger, the shoes belong in no particular place in that they equip us to recall the constituting rift (Riss) between ›earth‹ and ›world‹ which resides at the very heart of belonging or design«. Wortham: The Derrida dictionary. S. 224f. – Im Heidegger-Handbuch hingegen wird dem Riss kein eigenes Stichwort gewidmet, der darin enthaltene Artikel von Andrea Kern zum Ursprung des Kunstwerkes lässt die Figur des Risses gänzlich außer acht. Vgl. Kern, Andrea: »›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit«, in: Thomä,

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

Differenz (Heidegger), Streit zwischen Welt und Erde (Heidegger), Ursprung (Heidegger), différance (Derrida), Spur (Derrida), Geist/»Geist« (Heidegger/ Derrida).2 Der Riss ist so gesehen für beide kein Kernbegriff an sich, er bleibt Rand-Figur aber, wie ich argumentieren möchte, durchaus keineswegs eine unwesentliche: die Einführung und Betrachtung der Rissfigur entfaltet bei beiden eine performative Wirkung innerhalb ihrer Texte. Zugleich macht die überaus ambivalente Stellung der Figur zwischen beiden denkerischen Positionen diese besonders interessant für eine eingehende Betrachtung, lassen sich mit ihr doch differente ›Grundannahmen‹ und methodische Vorgehensweisen beider verdeutlichen.3 Während der Begriff des Risses bei Heidegger möglicherweise eine stärkere Prägung erfährt, insbesondere im Sinne einer kritisch zu hinterfragenden (Wieder-) Aufwertung bzw. Positivierung bestimmter Aspekte (z.B. eine bestimmte Seite des Materiellen) bei gleichzeitiger ›stillschweigender‹ Ausblendung anderer, ist demgegenüber die Derrida’sche Verwendung von einer (selbst-)kritischeren Distanz und einer tiefer gehenden Form der reflektorischen Durchdringung gekennzeichnet und berührt verstärkt dessen ethische Dimensionen. Wie gezeigt werden soll, handelt es sich bei den relevanten Passagen in Derridas Texten um eine komplexe und umfassende Dekonstruktion des Heidegger’schen RissBegriffs. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass Derrida den Begriff des Risses stellenweise auf Deutsch, d.h. als deutsches ›Fremdwort‹ verwendet und nach und nach mit seinem ›eigenen‹, französischen Vokabular durchsetzt und so verbindet,4 – wobei sich zugleich auch die ontologischen bzw. dekonstruktiven Ansätze beider Philosophen, mit den jeweils zentralen Fragen z.B. nach Dieter (Hg.): Heidegger-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2003. S. 162-174. 2 | Zur Nähe von Riss und Kerngedanken beider Philosophen vgl. Dieter Mersch: »Insbesondere die von Heidegger unternommene Anstrengung, die Sprache dadurch denken zu wollen, dass wir den Rissen und ›Furchen‹ nachgehen, die sich in ihr abzeichnen, hält sich mit dem seltsamen Bild der ›Furche‹ in einer auffallenden Nähe zu Derrida, wenn dieser von der ›Spur‹ und der ›Einschreibung‹ ausgeht.« Mersch, Dieter: »Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache«, in: Journal Phänomenologie, Jacques Derrida Nr. 23, 2005. Zugriff unter: http://www.dieter-mersch.de/Texte/PDF-s/ am 22. August 2016. S. 3. 3 | Vgl. hierzu insbesondere Trawnys Ausführungen zum Verhältnis von »Riss« und »Grundriss«, dem »Ursprung der Differenz« und »Differenz als Differenz« bei Heidegger sowie seinem Nachklang in Derridas Konzept der différance. Trawny, Peter: Martin Heidegger. Frankfurt am Main u.a.: Campus-Verl., 2003. S. 85ff. 4 | Derrida schreibt so beispielsweise: »Situons enfin un dernier trait, le trait luimême, Riss«, Derrida, Jacques: De l’esprit. Heidegger et la question. Paris: Galilée, 1987. S. 171.

5. Verortungen von Rissfiguren bei Heidegger und Derrida

Ursprünglichkeit einerseits und Übersetzbarkeit andererseits überschneiden und durchkreuzen werden. Die Figur des Risses verläuft so zwischen den beiden philosophischen Positionen, in verbindend-trennender Mehrsprachigkeit und von Anfang an in den Zwischenräumen ambivalenter Mehrdeutigkeit. Bei Heidegger bleibt der zuerst 1935 in Der Ursprung des Kunstwerkes 5 relativ unvermittelt eingeführte Terminus des Risses zunächst tief in dessen hermetisch anmutende Sprachlichkeit eingefaltet, die sich trotz eines mittlerweile schier unüberschaubaren Korpus von Sekundärliteratur ihre Widerständigkeit und gewisse Unzugänglichkeit weiterhin bewahrt. Um einen Einstiegspunkt und Orientierung in diesem dichten wie vielfältigen gedanklichen Geflecht Heideggers zu finden, soll hier die Figur des Risses als eine konkrete Spur und ›Leitlinie‹6 dienen. Von Interesse ist hier vor allem, wann, an welcher Stelle und auf welche Art und Weise der Begriff eingeführt wird, welche Funktion und Position er insbesondere im Kontext von Heideggers ästhetischen Überlegungen erfüllt, wie sich der Begriff und dessen Verwendung im weiteren Verlauf wandelt und welche weiterführenden ethischen und ästhetischen Implikationen sich schließlich aus Heideggers ›RissDenken‹ ergeben – nicht zuletzt auch für den Bereich künstlerischer Darstellung und ästhetischer Wahrnehmung sowie deren sprachlicher Reflektion. Unvermeidlich stellt sich auch und gerade in Bezug auf Figuren des Risses nach wie vor, bzw. erneut eine unausweichliche politisch-ethische Frage: Wo und wie ist die Berücksichtigung von Heideggers politischer Haltung zum Nationalsozialismus (vor und nach 1933, vor und nach 1945) notwendig, wie findet sie ihren Niederschlag in seiner Verwendung der Begriffe oder andersherum, wie ›bedingt‹ die politische Haltung möglicherwiese sogar gerade seinen spezifischen Denkansatz und bild-sprachlichen Gebrauch? In welcher Beziehung steht also Heideggers ›Riss-Denken‹ zu seinem, mit der Veröffentlichung der sog. »Schwarzen Hefte«7 in erdrückender Weise nachgewiesenen Antisemitismus, der bis auf 5 | Der Text basiert auf einem am 13. November 1955 in der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft zu Freiburg i. Br. gehaltenen Vortrag. Zu den verschiedenen Textfassungen und verschiedenen Reclam-Ausgaben vgl. Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 5. Holzwege. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1977. S. 344. Sowie ebd. S. 346. 6 | Als ›Leitlinie‹ verläuft die Figur des Risses jedoch selbst nicht auf geraden Bahnen, sondern eher rissförmig, tänzelnd, schwankend, unterbrechend und zugleich Verbindungen ziehend. 7 | Vgl. Heidegger, Martin; Trawny, Peter und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. Anmerkungen I - V, (Schwarze Hefte 1942 - 1948). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2015. Heidegger, Martin; Trawny, Peter und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. Überlegungen; II - VI, (Schwarze Hefte 1931 - 1938). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2014a. Desweiteren:

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

einige Ausnahmen in seinen philosophischen Texten eher unterschwellig, latent vorkommt?8 Herausgeber Peter Trawny zieht bezüglich der Frage, »in welchem Verhältnis solche [antisemitschen] Gedanken zu Heideggers gesamter Philosophie stehen«9 das folgende Fazit: Heideggers Äußerungen über das ›Weltjudentum‹ vor allem in den Schwarzen Heften lassen sich demnach nicht auf Heideggers Denken insgesamt übertragen. Doch sie haben einen ›Verdacht‹ erregt, der die Beschäftigung mit Heidegger beunruhigen muss. Heideggers Philosophieren ist auf schreckliche Abwege geraten, die zur Bewegung dieses Denkens gehören. Wer glaubt, er könnte diesem Denken begegnen, ohne auch die Abwege zu verfolgen, wird keine ernstzunehmende Auslegung entwickeln können.10

Auf welche Weise kann man sich unter diesen Voraussetzungen also heute überhaupt noch angemessen dem Korpus von Heideggers Werk nähern? Oder müssen wir uns vor dem Hintergrund dieser neuen Forschungserkenntnisse gerade nocheinmal erneut seinem sprachlich komplexen, und zugleich einflussreichen und damit weiterhin wirksamen, philosophischen Texten zuwenden und dabei eine kritische Haltung, einen ethischen Fragehorizont stärker in den Fokus bringen? Einen solchen erneuten, kritischen Zugriff soll in dieser Arbeit exemplarisch durch die Betrachtung der Figur des Risses im Werk Heideggers geleistet werden: Wie wirkt sich diese hochproblematische Ausgangslage auf die Betrachtung der bei Heidegger verhandelten Riss-Figuren aus, wie wirken diese Figuren zurück, in welcher Weise werden die Figuren des Risses so selbst zum ›Politikum‹? Wie spiegeln Figuren des Risses in Heideggers Denken dessen ›gespaltene‹ Position, die vermeintliche ›Kluft‹11 zwischen philosophischer Tiefe und antisemitischen Heidegger, Martin; Trawny, Peter und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. Überlegungen; VII - XI (Schwarze Hefte 1938/39). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2014b. Und abschließend Heidegger, Martin; Trawny, Peter und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. Überlegungen; XII - XV (Schwarze Hefte 1939 - 1941). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2014c. 8 | Vgl. die Neuauflage der kritischen Einführung von Trawny, Peter: Martin Heidegger: eine kritische Einführung. 2016. Hier insbesondere »Philosophie und Antisemitismus«, S. 92-102. Sowie Trawny, Peter und Mitchell, Andrew J. (Hg.): Heidegger, die Juden, noch einmal. (Heidegger Forum). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2015. Und Di Cesare, Donatella und Vittorio Klostermann: Heidegger, die Juden, die Shoah. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2016. 9 | Trawny: Martin Heidegger: eine kritische Einführung. S. 101. 10 | Ebd. S. 102. 11 | Zur herbräischen Herkunft der Wortes ›Kluft‹ vgl. den Abschnitt »Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)«, S. 117ff.

5. Verortungen von Rissfiguren bei Heidegger und Derrida

Vorurteilen? Durch die Untersuchung der Figur des Risses bei Heidegger sollen so die inhärenten Widersprüche in dessen Denken aufgezeigt und die politische, philosophische und ethische Brisanz daran sichtbar gemacht werden. Als methodischer Ansatz soll in verschiedenen Vorbemerkungen, Einschüben und Sprüngen, vor allem Derridas nach- und übergeordnete Perspektive dem Denken Heideggers entgegengesetzt werden – und so durch dessen neue BezugSetzungen, welche die stummen Ausblendungen, die inhärenten Widersprüche aber auch die Komplexität dieses Denkens sichtbar machen, diese zugleich ›übersetzen‹ und fortführen, ein kritisch-reflektierender Zugang in das theoretische ›Gebäude‹ Martin Heideggers verschafft werden. Relevant wird im Kontext einer Betrachtung von Rissfiguren zunächst Derridas Aufsatz, »Der Entzug der Metapher«.12 Hier entfaltet Derrida (s)eine spezifisch ›ökonomisch‹ gedachte Metaphrologie, die ein Verständnis von Metapher als simple Übertragung vom Bereich des »Sinnlichen auf das Intelligible« bzw. auf das Nicht-Sinnliche in Frage stellt und an ihre Stelle ein komplexes dynamisches wie performatives Beziehungsgeflecht setzt. Insbesondere soll hierbei Derridas eigene strategische Verwendung des Riss-Begriffes (durchaus auch im doppelten Sinne der ›Wendung‹ – denn es geht hier genau um die gezielte Einführung einer Tropik und in gewisser Weise auch eine ›Ent-Wendung‹ des Topos) näher analysiert werden. Desweiteren wird dann dessen Abhandlung Vom Geist. Heidegger und die Frage13 als weitere Grundlage dienen, in dem Derrida sich der eher unauffälligen Verwandlung des Begriffes Geist zuwendet und daran eine fundamental ethische Kritik an Heideggers Ontologie entwickelt. Derrida wendet sich in diesen beiden Texten auch einem expliziten Nachdenken über die mit Einführung der Rissfiguration verbundenen Implikationen bei Heidegger zu. Wie angedeutet, handelt es sich bei diesen Texten zugleich um eine kritische wie fundamentale Auseinandersetzung mit den philosophischen Positionen Heideggers, wie sie sich an den Rändern und Grenzen von Sprache, Schrift und ihrer jeweiligen (strukturellen) Rand-Bedingungen manifestieren. Von dieser Warte aus soll dabei auch gefragt werden, welche Funktion Figuren des Risses in der dekonstruktiven Methodik Derridas zugeschrieben werden können. Wie wird diese Figur verwendet, in welcher Weise wird sie zur Analyse 12 | Als Vortrag unter dem Titel »Le retrait de la métaphore« 1978 gehalten, wurde der Text zuerst 1987 auf Französisch publiziert und erschien im selben Jahr in deutscher Fassung, vgl. hierzu die Textnachweise in Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 480. 13 | Basierend auf einem Vortrag von 1987 unter dem Titel De l’esprit auf Französisch im gleichen Jahr publiziert, in deutscher Fassung 1988 erschienen, hier zitiert nach Derrida, Jacques: Vom Geist: Heidegger und die Frage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

von Heideggers Texten herangezogen und inwiefern ist diese Figur als Begriff selbst Gegenstand der Analyse und Kritik? Die Frage nach Rissfiguren soll so die Möglichkeit eines ›Quereinstiegs‹ in den komplexen, sowie unsymmetrischen Dialog zwischen Derrida und Heidegger eröffnen und zugleich eine intensive Relektüre in Form von close-readings ermöglichen. In verschiedenen Einschüben und Exkursen soll im Folgenden neben Aspekten der bei Heidegger systematisch ausgeblendeten Fragen von Körperlichkeit und Wahrnehmung, durch die Fokussierung auf Rissfiguren im Kontext von Performativität und Theatralität auch verstärkt nach Modellen von Betrachtung, Relationalität und Zeugenschaft gefragt werden, die in den vorliegenden Diskursen von wesentlich ethischer Bedeutung sind.

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹ (Heideggers »Der Weg zur Sprache«)

»Wir kennen heute den ›Riß‹ häufig nur noch in der abgewerteten Form, z.B. als Riß in der Wand«, formuliert Martin Heidegger im Jahr 1959.1 Im Kontext des Aufsatzes überliest man diese Bemerkung relativ schnell, denn offensichtlich soll diese Figur Heidegger lediglich der kurzen Überleitung auf seinem ›Weg zur Sprache‹ dienen. Ein materielles Verständnis von Rissen in Gestalt eines vermeintlich bekannten Phänomens »Riß in der Wand«, so suggeriert Heidegger hier beiläufig, sei eine konzeptuelle Einengung und Abwertung des Begriffs. Mit dieser Ablehnung von bestimmten Figuren des Risses offenbart Heidegger zugleich sein Ungenügen an der allgemeinen, intellektuell-philosophischen Situation seiner Zeit.2 Ohne auf die näheren Umstände und Gründe der konstatierten ›Abwertung‹ (»Wir kennen heute […] häufig nur noch«3) einzugehen, will Heidegger, so impliziert es seine Anmerkung, (wieder) zu einem substantielleren, nicht-abgewerteten Begriff des Risses zurückkehren, der zum damaligen Zeitpunkt, d.h. 1959, seiner Auffassung

1 | Heidegger, Martin: »Der Weg zur Sprache«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 19101976. Band 12. Unterwegs zur Sprache, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1985 [1959]. S. 227-258. Hier: S. 240. 2 | Unübersehbar ist die sprachliche Nähe dieser zeitgenössischen ›Geringschätzung‹ zu seinem Einstieg in Sein und Zeit, wo es gleich am Anfang heißt: »Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ›seiend‹ eigentlich meinen? Keineswegs. Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen. Sind wir denn heute auch nur in der Verlegenheit, den Ausdruck ›Sein‹ nicht zu verstehen? Keineswegs«. Heidegger, Martin und Herrmann, FriedrichWilhelm von (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 2. Sein und Zeit. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1977 [1926]. S. 1. 3 | Heidegger: »Der Weg zu Sprache«. S. 240.

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nach aus nicht näher genannten Gründen verloren, verdrängt oder vergessen zu sein scheint. Die Figur bildet an dieser Stelle quasi eine Echokammer zu dem von Heideggers geprägten Stichwort der »Seinsvergessenheit«4, welche wiederum ein konstitutives Moment des Selbstverhüllens der ontisch-ontologischen Differenz darstelle: Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit des Unterschiedes des Seins zum Seienden. Allein, die Vergessenheit des Unterschiedes ist keineswegs die Folge einer Vergeßlichkeit des Denkens. Die Vergessenheit des Seins gehört in das durch sie selbst verhüllte Wesen des Seins.5

›Sein‹ bedeutet für Heidegger stets eine Differenz: es steht im Unterschied zum offensichlicheren Seienden, während diese ontisch-ontologische Differenz dabei selbst schnell aus dem Blick gerate oder deren wesentlicher Zug es sei, sich selbst dem Denken und der Sprache zu entziehen. Die oben genannte Hinführung zielt somit, wie sich bereits hier erahnen lässt, auf einen fundamentaleren, verborgeneren, ontologischen Begriff von Rissen ab – einen der, wie Heidegger mit dem Titel des Aufsatzes andeutet, wesentlich von der Sprache her zu denken wäre und damit auch im Sinne eines Geschehens von Zeigen und Verbergen, wlecher der ontisch-ontologischen Differenz inhärent sei. Doch wovon grenzt sich Heidegger hier eigentlich (möglicherweise sogar: ›wesentlich‹) ab, was klammert er mit der so bestimmten Rissfigur von vornherein aus? Über Risse in der Wand, als greifbaren, materiell-stofflichen Phänomenen zu sprechen, würde im zeithistorischen Kontext der fünfziger Jahre in Deutschland sicherlich auch unvermeidlich heißen, über die sicht- und greifbaren materiellen und sozialen Kriegsfolgen und -schäden sowie ihre zugrundeliegenden Ursachen nachzudenken. Mit der Formulierung »Wir kennen heute […] nur

4 | In der »Seinsvergessenheit«, so Peter Trawny sehe Heidegger »kein defizitäres Vermögen des Menschen, sondern ein vom ›Sein selbst‹ ausgehendes Merkmal der Epoche der ›Metaphysik‹« (Trawny: Martin Heidegger. S. 187.). Seit der platonischaristotelischen Ära vermöge es die Philosophie nicht mehr, »das ›Sein‹ als es selbst und nicht etwa als ein besonderes ›Seiendes‹ zu verstehen. Dabei ist es einer der Hauptgedanken von Heideggers Philosophie, dass diese ›Vergessenheit‹ nicht von einer Amnesie der Philosophen verschuldet, sondern von einem sich selbst entziehenden und verbergenden ›Sein‹ aus möglich wurde«. Ebd. S. 85. 5 | Heidegger, Martin: »Der Spruch des Anaximander«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 5. Holzwege, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1977. S. 321-373. Hier: S. 364.

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹

noch...«6 kritisiert Heidegger also einerseits den philosophischen Horizont der späten fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und grenzt sich zugleich vom politisch-sozialen Zeitkontext ab – und damit unweigerlich auch von einer deutschen Kriegs- bzw. Nachkriegsgeschichte.7 Heidegger will jedoch im Folgenden den Riss eher als ein primär sprachliches und ›ursprünglicheres‹ Phänomen verstanden wissen, wenn er schreibt: »Der Auf-Riß ist das Ganze der Züge derjenigen Zeichnung, die das Aufgeschlossene, Freie der Sprache durchfügt.«8 Mit dem Terminus »Auf-Riß« bezieht sich Heidegger im weitesten Sinne auf ein allgemeines »Sprachwesen«9, welches vielgestaltige Bezüge zwischen Sagen, Sprechen, Verlauten, etc. – als umfassende Gesamtheiten sprachlicher Möglichkeiten einbegreift. Aus dieser »Zeichnung des Sprachwesens« leitet er, hier quasi im performativen Vollzug, eine Vieldeutigkeit von Sprache und einen durchaus problematischen (Selbst-)Bezug zum ›Freien‹, d.h. zur Freiheit im Sprechen her.10 Die so verstandene Freiheit des Sagens steht nämlich, mit Bezugnahme auf die Figur des Risses, wie angedeutet, unter einem bestimmten Vor-Zeichen. Mit dieser bevorzugten, primär sprachlichen Auslegung der Rissfigur verbindet Heidegger einen (unausgesprochenen) Akt der Befreiung mit einem umfassenden Ganzheitsanspruch – zugleich blendet dieser, verschwiegen, bestimmte materielle und soziale Aspekte sowie zudem die eigene Ausblendung aus. Die so ersehnte Freiheit einer vieldeutigen Sprache bleibt nicht ohne einen konkreten (Rück-)Bezug: verbunden durch die Sprach-Figur des Risses weist sie

6 | Heidegger: »Der Weg zu Sprache«. S. 240. 7 | Die von Adorno konstatierte Unmöglichkeit eines »Schreibens nach Auschwitz«, ist so gesehen für Heidegger kein Thema. Vgl. Adorno, Theodor W.: Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. München: Dt. Taschenbuch-Verl., 1963. S. 26. Zu einer Gegenüberstellung der Schriften Heideggers und Celans und deren Relektüre ›nach Auschwitz‹ durch Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy und Derrida vgl. Schäfer, Martin Jörg: Schmerz zum Mitsein: zur Relektüre Celans und Heideggers durch Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. 8 | Heidegger: »Der Weg zu Sprache«. S. 252. 9 | »Die Be-wegung bringt die Sprache (das Sprachwesen) als die Sprache (die Sage) zur Sprache (zum verlautenden Wort)«, ebd. S. 250. 10 | Dieter Mersch sieht hierin eine Verbindung von Heideggers Ansatz mit dem späteren Denken Derridas: »Martin Heideggers Der Weg zur Sprache und Jacques Derridas Die Différance teilen den gleichen Ausgangspunkt: Sie beginnen beide mit der systematischen Selbstreferenzialität der Frage nach der Sprache im Medium von Sprache. Die Schwierigkeit ist pointiert in der Unmöglichkeit, die Sprache von einem anderen Ort als der Sprache her zu thematisieren.« Mersch: »Negative Medialität. Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache«. S. 1.

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auf das Datum 1935, wo Heidegger sich zum ersten Mal und zugleich bis dahin zuletzt ausführlich dem Nach-Denken über die Figur des Risses zugewendet hatte.11 Danach war dieser Gedankenpfad – vermutlich auch aufgrund der historischen Entwicklungen und Heideggers eigenen Verstrickungen darin – vorübergehend in eine Phase der Latenz eingetreten. Hier nun nimmt Heidegger mit der so vorgezeichneten Rahmung von Riss und Auf-Riss eine Aufwertung des Sagens als Verlautbarung, d.h. »Sprache als Sprechen«12, des Hörens13 sowie: einer Figur des Schweigens vor: »Einer kann sprechen, spricht endlos, und alles ist nichtssagend. Dagegen schweigt jemand, er spricht nicht und kann im Nichtsprechen viel sagen.«14 Die Figuration von Riss und Auf-Riss bilden gemäß Heideggers Verständnis des Sagens eine Konstellation, welche die Instanzen von Sprechen, Hören und Schweigen gleichermaßen einbegreifen und ineinander verschänken. »Die gesuchte Einheit des Sprachwesens heiße der Aufriß«.15 Diese vom Riss ausgehende und dabei die ontologische Differenz einfaltende Zusammen-Fügung zu einer ›Einheit‹ führt Heidegger wie folgt weiter aus: Der Aufriß ist die Zeichnung des Sprachwesens, das Gefüge eines Zeigens, darein die Sprechenden und ihr Sprechen, das Gesprochene und sein Ungesprochenes aus dem Zugesprochenen verfugt sind.16

In diesem Satz erscheint mit der am Ende erwähnten Figur der Verfugung, der vorher genannte »Auf-Riß« als »Aufriß« (ohne seinen Binnen-Bindestrich) nun selbst wie verfugt und als gewöhnlichen Begriff, ›verdichtet‹. Mit der Einführung der Figur des Risses ereignen sich auf dem Heidegger’schen ›Weg zur Sprache‹ in gewisser Weise gleich mehrere Aufspaltungen und Verfugungen des philosophischen Diskurses: einerseits verläuft ein ›Pfad‹ der Sprache in Richtung eines ereignishaften Sagens und andererseits weist eine Abzweigung in Richtung von Sprache in Bezug zum Ungesagten ab, dem Schweigen oder Verschweigen, beides betrifft, wie wir gesehen haben, in einem durchaus performativen, Wirklichkeit-prägenden Sinne auch die eigene S ­ prache 11 | Vgl. hierzu das Kapitel »Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)« im vorliegenden Band, S. 117. 12 | Heidegger: »Der Weg zu Sprache«. S. 241. Heidegger lehnt dieses Verständnis an Humboldts »articulirten Laut« an, ebd. S. 235. 13 | »Doch was heißt sagen? Um dies zu erfahren, sind wir an das gehalten, was unsere Sprache selber uns bei diesem Wort zu denken heißt. ›Sagen‹ heißt: zeigen, erscheinen-, sehen- und hören lassen«, ebd. S. 241. 14 | Ebd. 15 | Ebd. S. 240. 16 | Ebd.

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bzw. Schrift Heideggers.17 Inmitten dieses hochgradig selbstbezüglichen, performativen Sprachverständnisses Heideggers, das Sprechen, Hören ebenso wie Schweigen einbegreift und insbesondere letzgenanntes dadurch aufwertet, findet sich dennoch, am Rande der ausgeblendeten Rissfigur unter der sprachlichen Oberfläche etwas zutiefst Widerständiges, Widersprüchliches. Mit den unterschiedlichen Aufsplittungen, Verzweigungen und ihren einhergehenden Ausblendungen und Verfugungen, die hier mit beiläufigen Auftreten der Figur des Risses aufgeworfen werden, fällt es rückblickend schwer, die Anspielungen auf das Schweigen, Sprechen, und Sagen nicht zugleich auf Heideggers eigenes Schweigen zu beziehen, das stets Anlass zu vehementen Auseinandersetzungen zwischen Heideggerianern und ihren Kritikern gegeben hat: Nämlich, Heideggers ›vielsagendes, sprechendes‹ (und hier trotzdem unausgesprochenes, verschwiegenes) Schweigen als dem Ausbleiben einer expliziten Stellungnahme zu seiner eigenen Verstrickung in die Ideologie des Nationalsozialismus, seiner politischen Haltung insbesondere ab 1933 und nach 1945.18 Indem Heidegger hier die Figur des Schweigens derart positiv in seinen philosophischen Überlegungen einbindet19 faltet sich der Diskurs des sprechenden, hörbaren ›offenen‹ Schweigens seinerseits

17 | Zur Figur des Schweigens als Grundlage des Sprechens bei Heidegger sowie Butlers Passivitätskonzept vgl. Tams, Nicola: »Gabe und Performativität. Von der performativen Kraft leerer Versprechen«, in: Hobuß, Steffi und Tams, Nicola (Hg.): Lassen und Tun kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken, Bielefeld: transcript, 2014. S. 159-181. Claudia Benthien versteht Schweigen ähnlich als »fundamental an Sprache gebunden« und somit selbst als »beredt und deiktisch« (Benthien, Claudia: »Die stumme Präsenz. Zur ›Figur‹ des Schweigens bei Ödön von Horváth«, in: Brandstetter, Gabriele und Peters, Sibylle (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink, 2002. S. 195-220. Hier: S. 196.) Zu einer kritischen Wendung von Austins Sprechakttheorie aus Perspektive des Nichttuns vgl. Gronau, Barbara und Lagaay, Alice (Hg.): Performanzen des Nichttuns. Wien: Passagen, 2008b. Hier insbesondere zu Schweigen als vor-sprachlichen ›Rhythmus‹ bei Heidegger: Schwarte, Ludger: »Die Kunst der Leerstelle. Sprachlosigkeit als Voraussetzung der Verständigung«, in: Ebd. S. 33-44. 18 | Zentrale Frage bleibt dabei, ob Heideggers weithin einflussreiche Philsophie von seinem nachgewiesenen nationalistischen (und nationalsozialistischen) Opportunismus getrennt zu betrachtet werden kann – oder ob diese wesentlich mit diesem Denken verbunden ist. Zu dem diffizilen Streit zwischen Heideggerianern und Anti-Heideggerianern, insbesondere in Bezug auf seine Rezeption in Frankreich, vgl. Altwegg, Jürg (Hg.): Die Heidegger-Kontroverse. Frankfurt am Main: Athenäum, 1988. Bemerkenswert bleibt dabei, wie Jacques Derrida sich dieser dichotomen Für-oder-Gegen-Logik entzieht. 19 | Vgl. u.a. Heidegger, Martin: »Das Seyn und seine Erschweigung (die Sigetik)«, in: Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hg.): Gesamtausgabe. III. Abteilung: Unveröf-

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in ein erneutes, tiefergehendes, verborgenes Verschweigen ein – kein ›bloßes‹ Verschweigen, sondern ein zutiefst doppeldeutiges, in-sich-gespaltenes. Von dieser Warte gilt es somit aufzuhorchen, wenn Heidegger eingangs eine (Neu-) Bewertung unterschiedlicher Figuren von Rissen fordert und damit zugleich eine Um- bzw. Aufwertung einer der Position des Schweigens vorzunehmen scheint. Sowohl dadurch, wie sich Heidegger hier zu Rissen (und durch diese hindurch) äußert, als auch durch das, was darin ungesagt bleibt, schimmern rückblickend politisch-ethische Widersprüche hindurch. Der Riss in der Wand beginnt sich hier als eine sprachlich-performative, in-sich-gespaltene Figur des Ungesagten und des Angedeuteten abzuzeichnen, einer Figur der (sprachlichen) Latenz, die es noch genauer zu untersuchen gilt.

Risse auf dem ›Weg zur Sprache‹ Widmen wir uns mit dieser längeren Vorbemerkung also nun weiter jener Denkrichtung, die Heidegger bevorzugt auf seinem ›Weg zur Sprache‹ einzuschlagen gedenkt: an Stelle einer Erscheinungsweise als »Riss in der Wand« (und damit potentiell in Richtung von Kriegsfolgen, aber auch Kriegsursachen und den daraus resultieren Fragen nach Verantwortlichkeit und Verantwortung), denkt er die Figur des Risses im Folgenden primär in Richtung eines sprachlichen ›Bildes‹ von Ackerbau und Agrarkultur weiter: »Einen Acker auf- und umreißen, heißt aber heute noch in der Mundart: Furchen ziehen. Sie schließen den Acker auf, daß er Samen und Wachstum berge.«20 Was heißt es nun unter den genannten Umständen, wenn Heidegger hier das »Freie der Sprache«21 zu suchen gedenkt? Es geht ihm also durchaus um eine materiell-stoffliche Auffassung von RissPhänomenen (als jene bekanntermaßen parallel gezogenen Furchen im Acker). Im Gegensatz zur Figur des Risses in der Wand propagiert Heidegger hiermit eine Idee des Prosperierens, des sich zukünftigen Florierens und bezieht sich damit zugleich auf eine unbestimmte, diffuse Vorzeit, in der das manuelle Furchenziehen auf dem Acker seinem Verständnis nach als Handwerk noch als eine allgemein bekannte Erfahrung galt. Heidegger impliziert, dass in einer Zeit der »Seinsvergessenheit«22 (als dem Vergessen der ontologischen Differenz), der Entfremdung, eine solche Bedeutung nur noch als Spur in der Sprache, d.h. beispielsweise in lokal gefärbten Redewendungen und mundartlichen Ausdrücken zu finden sei. In diesem früheren, althergebrachten (›ur-sprünglichen‹ sowie

fentlichte Abhandlungen, Vorträge – Gedachtes. Band 65 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1977a. S. 78-79. 20 | Heidegger: »Der Weg zu Sprache«. S. 240. 21 | Ebd. 22 | Vgl. Anmerkung 4 in diesem Kapitel.

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹

beschränkt-technischen) Sinn erscheint, so lässt sich ableiten, der Begriff des Risses für Heidegger ›fruchtbarer‹, hier scheint die Metapher aus seiner Sicht ein größeres sprachliches Potential zu entfalten, verweist auf andere, produktivere Zusammenhänge. Diese aufgewertete und zugleich rückgewandte Vorstellung vom »Riss als Furche« bringt ihn als Sprachfigur auf ›dem Weg zur Sprache‹, in dem von ihm präferierten Sinne weiter voran. Hiermit verlässt Heidegger den ihm ansonsten Nahe liegenden Kontext eines ›häuslichen‹ Denkens23 (vermeintlich) hinter sich – trotz und vielleicht gerade wegen ihrer partiellen Betroffenheit von bestimmten Figuren des Risses und dem, was durch sie hindurchzuschimmern, hereinzubrechen scheint – wie z.B. bestimmter sozialer Bezüge von Wohnen im Sinne der Nachbarschaft. In der sprach-bildlichen Offenheit einer erdverbundenen, manuell beackerten Welt fühlt sich Heidegger offenbar gedanklich freier, unbeschwerter – mit zwei keineswegs unbelasteten Begriffen könnte man auch sagen ›beheimateter‹ und ›erdverbundener‹.24

Adornos »Jargon der Eigentlichkeit« Heideggers Tendenz, Rissfiguren in einem ›ursprünglicheren‹, furchen- und erdhaften Sinne begreifen zu wollen, fällt augenscheinlich in jenes Raster, das Theodor W. Adorno mit den Stichworten »Jargon der Eigentlichkeit«25 umschrieben hat. Adorno sieht in der Philosophie Heideggers die positivierende Wendung eines Provinzialismus in Form idealisierender Archaik und vordergründiger, vermeintlicher ›Bodenständigkeit‹, die ausarte zu einem »anbiedernden Geschwätz angesichts der landwirtschaftlichen Umgebung, mit der er auf vertrautem Fuß stehen will«.26 Wie es weiter heißt: »Der Jargon teilt mit dem Positivismus die 23 | Vgl. hierzu insbesondere Heidegger, Martin: »Bauen – Wohnen – Denken«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7. Vorträge und Aufsätze, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1985b. S. 145-164. Im Zusammenhang von Bauen und Wohnen werden Risse lediglich im Sinne gezeichneter Grundrisse/Entwürfe erwähnt. Ebd. S. 161. 24 | Zum Zusammenhang von Bodenlosigkeit und Antisemitismus vgl. Nancy, Jean-Luc: »Heideggers Banalität«, in: Trawny, Peter und Mitchell, Andrew J. (Hg.): Heidegger, die Juden, noch einmal, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2015. S. 11-42. 25 | Adorno, Theodor W.: »Jargon der Eigentlichkeit«, in: Tiedemann, Rolf; unter Mitw. von Gretel Adorno (Hg.): Gesammelte Schriften. Digitale Ausgabe (basiert auf der zwanzigbändigen Buchausgabe der »Gesammelten Schriften«, von 1970 bis 1986 im Suhrkamp-Verlag erschienen = Digitale Bibliothek 97), Berlin: Directmedia, 2003. S. 413-531. 26 | Ebd. S. 449.

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krude Vorstellung von der Archaik der Sprache; beide scheren sich nicht um das dialektische Moment, daß Sprache zugleich als ein Anderes ihren magischen Ursprüngen sich entringt, verflochten in fortschreitende Entmythologisierung.«27 Indem Adorno den Begriff der »Eigentlichkeit« bei Heidegger selbst entlehnt und diesen an den soziologisch geprägten Begriff des Jargons koppelt, bringt er diesen als dialektische Gegenposition in Stellung. Der »Jargon der Eigentlichkeit« bezieht sich dabei vor allem auf Heideggers grundsätzliche Tendenz, etwas Ursprüngliches, Verborgenes innerhalb von Sprache zu postulieren, das es wieder aufzugreifen, hervorzuheben, zu bergen gelte: »Was Philosophie möchte«, führt Adorno auf Heidegger bezogen aus, sei, dass »all ihre Worte mehr sagen, als jedes sagt. Das schlachtet die Technik des Jargons aus«.28 Verstanden als eine rhetorische Technik diene dessen Verwendung so einer systematischen Verschleierung der eigenen Grundlagen: »Der Jargon, objektiv ein System, benutzt als Organisationsprinzip die Desorganisation, den Zerfall der Sprache in Worte an sich«.29 Adorno zielt darauf ab, die Philosophie Heideggers so als eine eigentliche Form der Rhetorik zu entlarven, innerhalb derer die Verwendung bestimmter »signalhaft einschnappender Wörter«30, gewisse Kontinuitäten eines Denkens sichtbar machen, das dem deutschen Faschismus entspringe und die eigene Herkunft dabei bewusst kaschiere. So offenbare (und verschleiere) sich heimlich die weiterhin andauernde Wirksamkeit der NS-Ideologie in und durch eine Sprache, deren Topoi und Wendungen, die Heidegger’sche Philosophie unmittelbar an die Sprache und Ideologie des Nationalsozialismus anschließen: Der Faschismus war nicht bloß die Verschwörung, die er auch war, sondern entsprang in einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Die Sprache gewährt ihm Asyl; in ihr äußert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil.31

Adorno skizziert den »Jargon der Eigentlichkeit« so in gewisser Nähe zum Prinzip der Latenz, indem sich dieser als sprachlich schwer greifbar, diffus aber doch deutlich spürbar erweist: »Eigentlichkeit selbst ist dabei nicht das vordringlichste; eher beleuchtet es den Äther, in dem der Jargon gedeiht, und die Gesinnung, die latent ihn speist«.32

27 | Ebd. S. 441. 28 | Ebd. S. 420. 29 | Ebd. S. 417. 30 | Ebd. 31 | Ebd. S. 416. 32 | Ebd. S. 417.

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹

Innerhalb dieser diffusen sprachlichen Latenz entdeckt Adorno zugleich ein – wir könnten sagen risshaftes – Prinzip der Spaltung, mit der sich das Heidegger’sche Denken gegen eine Form der Kritik absichere: »Glücklich überwintert im Jargon die Zweiteilung zwischen Zersetzendem und Aufbauendem, mit welcher der Faschismus den kritischen Gedanken abschnitt.«33 Die diagnostizierte Latenz und gleichzeitige Hermetik der Heidegger’schen Sprache, ihre Tendenz zur Spaltung und die eigene Absicherung gegenüber einem dialektischen Zugriff durch Vorwegnahme ihrer potentiellen Kritik bildet für Adorno ein tiefgreifendes Dilemma, wie er in einer Fußnote bemerkt: Was hier von der sogenannten ontologischen Differenz, mit Hilfe einer recht primitiven Hypostasis der Kopula, gesagt wird, um die ontologische Vorgängigkeit jener Differenz ins Sein selber zu verlegen, ist in Wahrheit die Formel von Heideggers Methode. Sie sichert sich, indem sie mögliche Einwände auffängt als Momente, die in der jeweils verfochtenen These bereits berücksichtigt seien.34

Als hermetisches System bzw. bewusste rhetorische Technik sieht Adorno so im »Jargon der Eigentlichkeit« ein Phänomen in welchem der von Walter Benjamin diagnostizierte Verfall der Aura anklingt: »Sakral ohne sakralen Gehalt, gefrorene Emanationen, sind die Stichwörter des Jargons der Eigentlichkeit Verfallsprodukte der Aura.«35 Während eine explizite Riss-Figur bei Adornos Heidegger-Lektüren ausgeklammert bleibt, ist dennoch zu fragen, wie sich die erwähnte Figur einer Spaltung innerhalb und zwischen dem rhetorischen »Jargon«-Begriff Adornos und der Denkrichtung der »Eigentlichkeit« (Heideggers) situieren ließe. Im Folgenden soll daher weiterführend dem Zusammenhang von Rissen und Technik bei Heidegger als Frage von scheinbar unkontrollierten, aufklaffenden ›Rissen‹ innerhalb einer sprachlichen Technik weiter nachgegangen werden, mit besonderem Augenmerk auf dessen Rhetorik, seine entscheidenden argmuentativen ›Schritte‹ und den (möglicherweise nicht unbewußt gesetzten) sprachlichen Fauxpas, einem verbalen Fehltritt Heideggers auf seinem »Weg zu Sprache«.

Risse und Furchen: Fragen nach der Technik Im Kontrast zu dem abgewerteten materiellen Verständnis des Phänomens »Riss in der Wand« begreift Heidegger den Riss wie gezeigt im (vermeintlich) positivierten Sinne als »Furche im Acker«, d.h. einerseits als ein ›ursprünglicheres‹ sprachliches Phänomen und andererseits als etwas Herstellbares, bzw. Hergestelltes, analog 33 | Ebd. S. 426. 34 | Ebd. Anmerkung 69. 35 | Ebd. S. 419.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

zu dem, was er in seinem Aufsatz »Die Frage nach der Technik«, knapp sechs Jahre früher, also 1953 formuliert hatte. Ähnlich wie schon bei der Einführung der Figur des Risses will Heidegger auch dort seinen Begriff von Technik nicht in dem vorherrschenden, allgemeinen, offensichtlichen Sinne verstanden wissen, sondern in einem ursprünglicheren Sinne (mit Adorno gesprochen, bewegt sich Heidegger hier wieder im Felde eines »Jargon der Eigentlichkeit«). Heidegger schreibt: So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches. Wir erfahren darum niemals unsere Beziehung zum Wesen der Technik, solange wir nur das Technische vorstellen und betreiben, uns damit abfinden oder ihm ausweichen.36

An Stelle dessen begreift Heidegger Technik in einem grundlegenderen und zugleich ursprünglich-rückgewandten, beinahe mystischen Sinne, d.h. als ein Entbergen, ein Her-vor-bringen von Wahrheit aus der Verborgenheit »sei es in der Natur, sei es im Handwerk und in der Kunst« – »sie ist etwas Poietisches«.37 Wenn Heidegger in seinem Text »Der Weg zur Sprache« nun später schreibt: »Riß ist dasselbe Wort wie ritzen«38, führt in diese etymologische Herleitung analog zu seinem Technikverständnis in Richtung von etwas Hergestelltem, Herstellbaren, Gemachtem, denn bei den Ritzen und Furchen im Acker handelt es sich, im Gegensatz zum Riss in der Wand, um etwas instrumentell Hervorgebrachtes (im archaischen Verständnis Heideggers jedoch weder etwas Maschinell-Technisches noch etwas ›ursprünglich‹ Technisches). Das Ritzen verbindet den Riss etymologisch jedoch nicht nur mit der der Furche im Acker, sondern stellt diesen auch in eine Verbindung zu Schrift und Zeichnung. Diese ursprüngliche Herkunft des Riss-Begriffs, die Heidegger hier unerwähnt lässt, geht laut den Gebrüdern Grimm u.a. auf das »gerissene, durch reiszen entstandene« zurück – und zwar insbesondere »a) von geschriebenem« und »b) von gezeichnetem«. Diese Herkunft vom »rissz, züg oder strich der buchstaben«39 ist eine Gebrauchsform des Begriffs, welcher jedoch selbst den Gebrüdern Grimm im Jahre 1893 bereits als veraltet

36 | Heidegger, Martin: »Die Frage nach der Technik«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7. Vorträge und Aufsätze, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000b. S. 5-36. Hier: S. 7. 37 | Ebd. S. 14. 38 | Heidegger: »Weg zur Sprache«. S. 252. 39 | Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Band 14. Leipzig (1854-1961): Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 2016. Zugriff unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ am 24. August 2016. Sp. 1046.

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹

gegolten hat. Diese Verbindung von Riss und Schrift leitet sich tatsächlich aus einem noch älteren, althergebrachten (veralteten), kultur-technischen Sinn ab: der ältesten verwendung von reiszen gemäsz ist als früheste bedeutung von risz anzusetzen: handlung des einritzens, linienziehens, zunächst von furchen im feldbau, dann von schriftzeichen. […] im deutschen hat dieser älteste gebrauch kaum noch spuren hinterlassen.40

Mit seinem Verständnis von »Auf-Riß als Zeichnung des Sprachwesens« bezieht sich Heidegger zwar einerseits auf diese eher verschüttete Bedeutung von RissFiguren, verschweigt dabei aber zugleich die ursprüngliche Nähe zur Schrift. Seine Bezugnahme auf das »Freie der Sprache« als einem Furchenziehen auf dem Acker erscheint zunächst als Versuch einer bewusst positivierten, produktiven (Be-)Setzung eines veralteten Riss-Begriffs. Damit geht jedoch eine doppelte Ausblendung Heideggers einher: Er ignoriert einerseits die Verwandtschaft von Riss und Schrift und negiert zugleich einen noch gebräuchlicheren Aspekt des Begriffs, der sich in der Grimm’schen Bestimmung finden lässt, nämlich jene gewalthafte Dimension von Riss als »eine durch reiszen, d.h. gewaltsam trennen, zerren, zupfen oder auf ähnliche weise entstandene lücke in einem zusammenhängenden gegenstande«.41 Bemerkenswerterweise scheint diese Ausblendung Heideggers dabei genau eine eben solchermaßen bestimmte gewaltvoll entstandene Lücke zu (re-)produzieren, sie schreibt sich erneut als Ungesagtes, Verschwiegenes in seine Texte ein, Heidegger vollzieht diese Ausblendung, an Stelle ihrer möglichen Berücksichtigung, performativ selbst. Diese unterschlagene Verwandschaft von gewaltvollem Riss, der Furche des Ackerbaus und ihrer Nähe zur Schrift, bricht sich jedoch an anderer Stelle in Heideggers Texten als Spur einer unkontrollierbaren Bewegung oder eines verzögerten Nachwirkens ihre Bahn: In der schriftlichen Fassung des Vortrags »Das Ge-Stell« (1949)42, aus der sog. Reihe Bremer Vorträge, der später als Grundlage für eine Neubearbeitung im Rahmen des Vortrags und Aufsatzes »Die Frage nach der Technik« (1953)43 dient, hatte Heidegger schon einmal eine Anmerkung zum Ackerbau gemacht, allerdings hier im Sinne von industrieller Bodenbewirtschaftung, nicht wie in dem später romantisierten Sinne eines ur-

40 | Ebd. Sp. 1045. 41 | Ebd. Sp. 1049. 42 | Heidegger, Martin: »Das Ge-Stell«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen Vorträge Gedachtes. Band 79, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1994a. S. 24-45. 43 | Heidegger: »Frage nach der Technik«.

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sprünglichen Boden »be-stellens«44 heißt. Im Vortrag »Das Ge-Stell« hatte sich Heidegger zu einer von wenigen höchst seltenen (und zugleich bloß latenten) Bezug- bzw. ›Stellung‹-Nahmen zum Holocaust hinreißen lassen. Er erläuterte dort seine Technikauffassung mit einem missglückten und zugleich entlarvenden Vergleich zwischen modernem, technisierten Ackerbau und menschlicher Massenvernichtung, welche sich Heidegger zufolge dem Wesen nach entsprächen: Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.45

Im Verlauf der fünfziger Jahre wird der brisante Vergleich von Heidegger wieder zurückgenommen, quasi gelöscht. In dem vier Jahre später verfassten, über weite Passagen identischen Aufsatz »Die Frage nach der Technik« fehlt die fragliche Stelle schließlich, hier heißt es nunmehr lediglich: Inzwischen ist auch die Feld-bestellung in den Sog eines andersgearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinne der Herausforderung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie.46

Trotz der textlichen Löschung an dieser Stelle bleibt dem Heidegger’schen Nachdenken zum Gestell (als Hinleitung zu seinem Begriff des Ge-Stells) jedoch im weiteren Verlauf eine unterschwellige (unsichtbare) Spur der Gewalt, als eine vorausgegangene Anspielung auf Massenvernichtung und den Holocaust eingeschrieben. Dieser schriftliche Löschungsversuch geht keineswegs mit einem ›grundlegenden‹ Sinneswechsel einher: Heideggers euphemistische Haltung spiegelt sich hier weiterhin in seiner Selbstbeschreibung als »Spätgeborener«, wobei er diesen Begriff auf die Philosophie Platons bezieht und nicht, wie in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg üblich, auf die jüngere deutsche Geschichte: Nach der gewöhnlichen Bedeutung meint das Wort »Gestell« ein Gerät, z. B. ein Büchergestell. Gestell heißt auch ein Knochengerippe. Und so schaurig wie dieses scheint die uns jetzt zugemutete Verwendung des Wortes »Gestell« zu sein, ganz zu schweigen von der Willkür, mit der auf solche Weise Worte der gewachsenen Sprache mißhandelt werden. Kann man das Absonderliche noch weiter treiben? Gewiß nicht. Allein, dieses Absonderliche ist alter Brauch des Denkens. Und zwar fügen sich ihm die Denker gerade dort, wo es das Höchste zu denken gilt. Wir Spätgeborenen sind nicht mehr imstande zu ermessen, 44 | Ebd. 45 | Heidegger: »Ge-Stell«. S. 27. 46 | Heidegger: »Frage nach der Technik«. S. 16.

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹ was es heißt, daß Platon es wagt, für das, was in allem und jedem west, das Wort είδος zu gebrauchen.47

Am Rande dieser Selbststilisierung als »Spätgeborener« geschieht im Text noch etwas Ungewöhnliches, latent Unheimliches, oder »Absonderliches« wie Heidegger selbst bemerkt, in seinem Rekurs auf etwas Früheres in der Sprache, auf ihren vermeintlich verlorenen und verschütteten Sinn, mit dem er »das Höchste« zu denken beabsichtigt. Überraschend lässt Heidegger an dieser Stelle ein Knochengerippe in seinem Text auftreten; es erscheint unangekündigt wie ein uneingeladener Gast oder ein Gespenst. Es wird an dieser Stelle nicht ganz klar, worauf Heidegger mit dieser Erwähnung abzielt,48 jedoch deutet sich hier bereits eine unheimliche, ja unterschwellig gewaltvolle Seite seines Gestell-Begriffs an. Das herbeizitierte Knochengerippe wird, als uneingeladener Gast umgehend als absonderlicher Fall der Sprache wieder ausgeschlossen. Wie ein ›domestizierter‹ Geist tritt es wieder ab und macht umgehend einer ›höheren‹ geistigen Idee, dem Platonschen είδος Platz. Von der früheren Erwähnung der Massenvernichtung in Gaskammern ist an dieser Stelle nun keine Rede mehr. Stattdessen zeigt sich dieses absonderliche Knochengerippe im Text, vereinzelt, uneingeladen, fleisch- und organlos: aus jeglichem Zusammenhang gerissen, seiner Vorgeschichte beraubt, kontextuell ›bloß-gestellt‹.49 Nach Heidegger liegt dabei der Gedanke fern, dass dem Knochengerippe, irgendein Unrecht widerfahren sein könnte (die Nähe und Verwandtschaft der Bilder von Knochengerippen und Konzentrationslagern weist er von sich), sondern sogar umgekehrt tritt das Gerippe hier als Täter in Erscheinung: durch sein Auftreten, sein bloßes Erscheinen im Text, werde die »gewachsene Sprache« misshandelt. Die Heidegger’sche Unterscheidung vom Riss in der Wand und von dem Riss, der innerhalb des vermeintlichen »freien« Feldes von Sprache vorliegt, diese gedankliche Aufspaltung des Riss-Begriffes selbst, einmal in Richtung des ursprünglichen, archaischen Ackerbaus und zum anderen in Richtung eines ›unproduktiven‹ Risses in der Wand (als Phänomen und Symbol von Kriegsschäden und –folgen, ungestellter Fragen nach Opfern und Tätern) scheint an dieser Stelle quasi zu kollabieren. Entlang der beiden Ränder, der sich aufteilenden Argumentationslinien, des geteilten und teilenden Risses, der einerseits auf etwas vermeintlich »Freies« in der Sprache abzielt und einen allgemeinen Begriff, von dem als ein ›bekanntes‹ Phänomen nicht weiter die Rede sein soll, lassen sich Entsprechungen, Korrespondenzen und Resonanzen zwischen beiden 47 | Ebd. S. 20. 48 | Es erinnert uns jedoch formal an den ausgegrenzten Riss in der Wand in »Der Weg zur Sprache«. 49 | Zum Aspekt der Bloß-Stellung vgl. den Abschnitt. »Bloße ›Kluft‹ und ›bloße‹ Kluft – Bloß-Stellung und Entblößung« im vorliegenden Band S. 136 ff.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

Rissbegriffen, zwei Seiten eines verwandten oder benachbarten Phänomens, wie es scheint, nicht vermeiden, nicht verdrängen. Von den bekannten, verbreiteten Rissen in den Wänden, von denen Heidegger zu schweigen beabsichtigt, bleibt ein Nachhall zurück, oder eher: durch sie dringt etwas hindurch, etwas Unterdrücktes sucht sich seinen eigenen Weg in der Sprache im Fauxpas, in der Unangemessenheit des euphemistischen Vergleichs von Massenvernichtung und motorisiertem Ackerbau, in seiner Selbststilisierung als »Spätgeborener«, im Auftritt eines scheinbar aus jeglichem Zusammenhang gerissenen, bloß-gestellten Knochengerippes. Hier deutet sich latent und dunkel, an, was sich in später mit der Veröffentlichung der »Schwarzen Heften« in seinem ganzen Ausmaß zeigen wird: die euphemistische und damit gewalthafte Logik des Denkens Heideggers, der den millionenfachen Mord im Holocaust als Form jüdischer ›Selbstvernichtung‹ umdeutet und so gezielt eine »Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle« vornimmt, wie Peter Trawny resümmiert.50 Wie tief Heideggers Antisemitismus mit seiner Philosophie verwoben ist, macht u.a. Jean-Luc Nancy deutlich, der Trawnys Formulierung von Heideggers »seingeschichtlichem Antisemitismus«51 übernimmt: diese Bezeichnung biete »eine Zusammenfassung dessen, wovon der oben zitierte Satz eine minimale Ausführung gibt: das jüdische Volk, als solches, spielt eine entscheidende, ja sogar wesentliche Rolle bei der ›Entwurzelung des Seins‹ im Heidegger’schen Denken.52 Für Heidegger sei dabei insbesondere »[d]ie Bodenlosigkeit* – das Fehlen des Bodens [ ] ein Distinktionsmerkmal des ›Judentums‹«, der sich selbst denunziere und somit ausschließe.53 Heidegger verbinde so in seinem Antisemitismus zwei Forderungen: die einer fundamentalen Zerstörung, »Destruktion« eines so gedachten »Selbst« sowie jene nach einem neuen Anfang, jenseits der Seinsvergessenheit, Geschichts- und Bodenlosigkeit, die er dem Judentum zuschreibt und die es auszuschließen gelte (bzw. die sich in Heideggers perfider Logik selbst ausschließe). Nancy zufolge gründet ein so gedachter Neuanfang und ersehnter Ausschluss, gepaart mit dem Glauben an einen unabwendbaren, möglicherweise notwendigen Untergang des Abendlandes (als dessen Bestimmung) in einem tiefen Widerspruch. Eine derart bestimmte Vorstellung vom ›Selbst‹, die mit dem Neu-Anfang aufgegeben werden müsse, bedingt die Heidegger’sche »Selbst-Behauptung« als Selbst-Verwandlung.54

50 | Trawny: Martin Heidegger: eine kritische Einführung. S. 98f. 51 | Nancy: »Heideggers Banalität«. S. 18. 52 | Ebd. S. 21. 53 | Ebd. S. 25. 54 | »Denn nur eines ist möglich: entweder das neue ›Selbst‹ muss durch und durch ursprünglich sein, oder es muss durch Entsagung, Opfer und Reformation die Frucht seiner eigenen Metamorphose werden. Nun ist alles, auf das verzichtet

6. Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹

Im Heidegger’schen Antisemitismus, so das Fazit Nancys, zeige sich so letztlich eine Form von abendländischem Selbst-Hass: Das Denken Heideggers, so wie es sich in den 30er und 40er Jahren um des Motiv des Anfangs und des Geschichtlichen geordnet hat, nimmt den Antisemitismus in Anspruch (sei es auf beschämte, wenig artikuliert und verborgen – doch das Verbergen und die Verwirrung sind dem Antisemitismus inhärent), weil dieses Denken grundsätzlich an den Selbsthass gefesselt ist, der ein unablässiges Kennzeichen des Abendlandes bildet.55

Nancy zufolge ist der Antisemitismus, und sein Verbündeter, der Selbsthass des Abendlandes, keineswegs ein abgeschlossener Teil der Geschichte oder in irgendeiner Weise passé (»Zweidrittel Jahrhunderte nach der Vernichtung sind wir noch nicht ausreichend dem gegenübergetreten, was uns geschehen ist, uns, der europäischen Menschheit«56). Wie tief das Heidegger’sche Sprach- und Philosophiegebäude in einem solchen abgründigen, (selbst-)hasserfüllten und zwiespältigen Denken und tiefsitzenden Antisemitismen wurzelt, dieses zugleich kaschiert uns so weiterhin (bis heute) wirksam zu bleiben vermag, inwieweit dies in seiner – und damit unserer – Sprache und der Verwendung seiner Metaphern nachzuweisen ist, bzw. inwieweit diese Sprache gar nicht mehr als metaphorisch zu begreifen ist – inwieweit also Heidegger gegen Heidegger zu lesen ist – , soll im folgenden Kapital aus der vermittelnden Perspektive Jacques Derridas untersucht werden.

werden muss […] wohlgemerkt nichts anderes, als das wovon die Juden Akteure und Verkörperung sind«. Ebd. S. 32. 55 | Ebd. S. 39. 56 | Ebd. S. 19.

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7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«)

Wie sich bereits angedeutet hat, ist die Vorstellung vom Haus und dessen umgebenden Wänden im Sinne des Wohnens nicht unwesentlich für das philosophische und sprachliche Selbstverständnis sowohl für Heidegger als auch für Derrida. Während Heidegger, wie gezeigt, Risse als sprachliche Figuren von seinem philosophischen ›Gebäude‹ fernzuhalten sucht, indem er diese primär außerhalb als Furchen des Ackers verortet, lässt sich bei Derrida durchaus eine Art ›Befall‹ durch Risse, als eine ›Betroffenheit‹ von Sprache und Sprechen konstatieren. Dieser Befund betrifft bei ihm insbesondere das Verhältnis von Metapher und Ökonomie, das uns nach einem kleinen gedanklichen Umweg schrittweise wieder auf die Betrachtung von Rissfiguren zurückführen wird. Dieser notwendige gedankliche Umweg erweist sich zugleich als fundamentale Aufspaltung zwischen Heideggers hermetischem, monolithischem Gedankengebäude sowie Fragen und Auswirkungen der ›Nachbarschaft‹, mit der Derrida, ›sein‹ Feld der Differenzen zwischen den unterschiedlichen Gebäuden der Philosophie/ Sprache aufwirft. Es handelt sich somit um die Aufspaltung oder Einführung eines anderen Differenzbegriffes innerhalb des philosophischen Denkens »mit und gegen«1 Heidegger. Mit Blick auf jene Passage, wo es bei Heidegger heißt, »das Denken baut am Haus des Seins«2 beginnt Jacques Derrida mit einer umfassenden Dekonstruktion eines vermeintlich ›vertrauten‹ Metaphernbegriffs und dessen »gewöhnliche[r] philosophische[r] Auslegung«.3 Die konventionelle Sichtweise, die Derrida fun-

1 | Vgl. Schäfer: Schmerz zum Mitsein: zur Relektüre Celans und Heideggers durch Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy. S. 241. 2 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 223. 3 | Ebd. S. 206.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

damental in Frage stellt, hieße, dass »die Metapher in einer Übertragung des Sinnlichen auf das Intelligible besteht«4, bzw., dass ein vertrautes, bekanntes Prädikat (und nichts ist, wie man meinen möchte, vertrauter, familiärer, bekannter, häuslicher und ökonomischer, nichts gehört der Familie mehr an als das Haus), einem weniger vertrauten, weiter entfernten, un-heimlichen* Gegenstand

zugetragen werde, und zwar als »einem Gegenstand, der auf solche Weise angeeignet, besser verstanden, bekannter werden soll«.5 Derrida zufolge erschließe sich die Funktion des Metaphorischen jedoch weder in einer einfachen Übertragung, noch in der einfachen Umkehr dieser Logik, d.h. der tropischen Wendung dieser Übertragung. Mit Blick auf Heideggers sprachliche Figur vom »Haus des Seins« fährt Derrida fort: Wenn das Haus ein wenig unheimlich* geworden ist, dann nicht nur deshalb, weil es in der Rolle des Nächsten und Vertrauten durch ›Sein‹ ersetzt worden ist. Man hat es nicht mehr mit einer Metapher im gebräuchlichen Sinne zu tun, auch nicht mit einer einfachen Inversion, welche die Plätze einer geläufigen tropischen Struktur vertauscht.6

Indem, wie Derrida bemerkt, Heidegger zusätzlich die Rolle der Sprache in diese Gleichung einführe (»Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins«7) – handele es sich dabei um eine wesentliche Ergänzung und, Derrida zufolge, nunmehr weder um eine einfache Metapher, noch eine Quasi-Metapher.8 Es gebe, so Derrida, in 4 | Ebd. 5 | Ebd. S. 222. 6 | Ebd. S. 223. 7 | So Heidegger hier zit. nach Derrida, ebd. Die vermutlich erste Erwähnung der »Sprache als Haus des Seins« findet sich in Heidegger, Martin: »Brief über den Humanismus«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 9. Wegmarken, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000a. S. 313-364. Hier: S. 313. Sowie ebd. S. 358ff. Vgl. desweiteren Heidegger: »Weg zur Sprache«. S. 255. 8 | Kai van Eikels weist in diesem Zusammenhang auf einen Widerspruch bei Derrida hin, an jener Stelle wo dieser zuvor eine umkehrende (einschränkende) Einfügung im Zitat Heideggers macht: »Die Rede vom Haus des Seins ist keine Übertragung des Bildes vom ›Haus‹ auf das Sein, sondern (umgekehrt, J.D.) aus dem sachgemäß gedachten Wesen des Seins werden wir eines Tages eher denken können, was ›Haus‹ und ›wohnen‹ sind« (Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 222. ). Van Eikels vermutet hierin ein mögliche »Mißdeutung Derridas«, also einem Kurzschluss auf Seiten Derridas und unterstreicht, dass ein komplexes

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹

diesem Satzgefüge »keinen Term, der im geläufigen, wörtlichen oder eigentlichen Sinne gebraucht würde«.9 Das Gedankengebäude Heideggers sei, aufgrund des komplexen Verhältisses von Metapher und ihren Prozessen der Übertragung, von vornherein keine einfache, ›statische‹ Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Sinn möglich. Doch was bleibt übrig, wenn sich geläufiger, wörtlicher oder eigentlicher Sinn vollständig aus der Sprache und dem Satzgefüge verflüchtigt zu haben scheinen? Es wird eine Dynamisierung der Sprache und des Denkens spürbar, die möglicherweise zugleich auf eine Mobilisierung, (wir könnten mit Blick auf Heidegger auch kritisch sagen: eine ›Mobilmachung‹) in der Sprache Hinweise geben kann: »Diese Bewegung [Kursivierung H.H.] ist nicht mehr einfach metaphorisch zu verstehen.«10 Derrida begreift Metaphorik so als eine umfassende Tropik, ein Abdriften des Sinns als permanentem Geschehen, als dauerhafte Bewegung des Verschiebens ohne einen stabilen Referenzrahmen – innerhalb eines ökonomisch-unökonomischen geprägten Feldes von Bewegung.11 Es geht hierbei nach Derrida um einen wesentlichen Entzug im ontologischen Sinn: »Die Metaphysik als Tropik, genauer: als metaphorischer Umweg, würde einem wesentlichen Entzug des Seins entsprechen.«12

Metaphernverständnis bereits bei Heidegger angelegt sei, paradoxerweise gerade in einer Form der Schlichtheit: »Es könnte sein, daß das ›sondern‹ im Satz Heideggers nicht (nur) eine Inversion anzeigt; daß der zweite Teil des Satzes einen gegenüber dem ersten radikal unterschiedenen Zustand behauptet, wobei die Asymmetrie des Unterschieds sogar die Dissemmetrie der katastrophischen Umkehr überbietet und zwar, wenn man so sagen kann, an Schlichtheit überbietet«. Eikels, Kai van: Zeitlektüren. Ansätze zu einer Kybernetik der Erzählung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002. S. 228. 9 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 224. Im Gegensatz zum Verdikt Adornos eines Jargons der Eigentlichkeit, attestiert Derrida Heidegger somit gewissermaßen einen Sprachgebrauch der Un-Eigentlichkeit. Dass diese beiden Perspektiven nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind, erschließt sich nicht erst durch die Parallele zu Freuds Unheimlichem, das stets das Heimliche enthält (und umgekehrt, das Heimliche bereits etwas Unheimliches in sich trägt). Vgl. Freud: »Das Unheimliche«. 10 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 223. 11 | Als naheliegende »Metaphern« wählt Derrida hierfür eingangs verschiedene Fortbewegungsmittel in denen sich zugleich, mit einer besonderen Wendung, bereits die Ambivalenz und Komplexität der bevorstehenden Untersuchung andeutet – im modernen Griechisch heißen die öffentlichen Verkehrsmittel wörtlich »Metaphora«: »Wir sind gewissermaßen – metaphorisch natürlich und in der Weise des Bewohnens … der Inhalt dieses Fahrzeugs: Passagiere, von der Metapher bewegt und umfangen«, ebd. S. 197. 12 | Ebd. S. 217.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

Wenn Heidegger, Derrida zufolge, also »Ausdrücke benutzt, die man als Metaphern bezeichnen möchte, zugleich aber deutlich macht, daß dies keine Metaphern sind«13, dann führt dessen wortwörtlicher ›Haus-Gebrauch‹ in der Sprache (der unserem alttäglichen, sprichwörtlichen ›Hausgebrauch‹ der Sprache, d.h. unserer Alltagssprache und unserem gewöhnlichen Sprachsinn signifikant widerspricht) Derrida mit seiner Analyse mitten hinein in ein Feld komplexer und widersprüchlicher Beziehungen und Dynamiken. In diesem mithin keineswegs ›freien‹ oder gar ›ursprünglichen‹ sprachlichen Feld, sind die verwendeten, »ökonomisch« geprägten Metaphern, wie nun deutlich wird, nicht mehr von einem stabilen Standpunkt, einer sicheren Position hermeneutisch dechiffrierbar. Derrida greift an dieser Stelle zentrale Gedanken zum Metaphorischen aus seinem früheren Aufsatz »Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text«14 auf. Dort hatte er bereits, wie Rudolphe Gasché zusammenfasst, das Verhältnis von Metapher, Begriff und deren Beziehung aus ökomischer Perspektive in den Blick genommen: »›Die weiße Mythologie‹ ist ein Text, der sich mit der Differenz (und ihrer Ökonomie) zwischen Metapher und Begriff beschäftigt.«15 Dieses Nachdenken über die Bedingungen von Begriff und Metapher spitze Derrida, Gasché zufolge, auf einer übergeordneten Ebene (nämlich jener der Analogie) zu und gelangt durch den Figurbegriff (besser: die Figur der Figur) zu einer anderen, übergeordneten strukturellen Ordnung: Die Metapher der Metapher, da sie nicht mehr von einem Begriff oder einem letzten Signifikat abgeleitet wird, ist eine mise en abyme des philosophischen Begriffs der Metapher. Als eine Beziehung zwischen Figur und Figur, zwischen Uneigentlichem und Uneigentlichem, deutet sie auf eine andere Gliederung von Metapher und Begriff hin, die Derrida an die Stelle der klassischen Opposition setzt.16

13 | Ebd. S. 222. 14 | Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen-Verlag, 1988b. S. 229-290. 15 | Gasché, Rodolphe: »Metapher und Quasi-Metaphorizität«, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt am Main: 1998. S. 235-268. Hier: S. 253. Die darin angestoßene Denkbewegung hatte bekanntermaßen zu einem Streit zwischen Derrida und Paul Ricoeur geführt, in dem sich dessen hermeneutischer Ansatz und Vorstellung einer »lebendigen Metapher« der Derrida’schen Kritik an einer Abnutzung von Metaphern gegenüberstellt; ein Faden, den wiederum Derrida in seinem »Entzug der Metapher« kritisch aufnimmt. Vgl. hierzu auch van Eikels: »Figur und Inversion«. 16 | Gasché: »Metapher und Quasi-Metaphorizität«. S. 254f.

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹

In nicht unverwandter Weise scheint es sich mit dem Verhältnis der ›benachbarten Felder‹ Metaphrologie und Ökonomie zu verhalten: Wenn Derrida eingangs zeigt, dass sich sprachlich keine Position eines ›Außerhalb‹ denken lässt, von der aus sich auf das Metaphorische in der Sprache blicken ließe, bringt er nun in einer implosionsartigen Wendung auch das Problem der Ökonomie auf den Punkt, indem er dieses performativ in sich kollabieren lässt, bzw. diese sich aus sich selbst heraus entfaltet. Die entsprechende Stelle lautet schlicht: »Mein Problem heißt: Ökonomie«.17 Derrida bestimmt Ökonomie mit dieser knappen Formel sprachlich-ökonomisch als ›sein‹ Problem und macht sich diese in doppelter Weise zu ›eigen‹. Ökonomie wird durch den Prozess ihrer Aneignung nicht nur zu seinem Problem, sondern dadurch auch zum ökonomischen Problem im Allgemeinen. Oder anders: Ökonomie ereignet sich in diesem Prozess des Zu-Eigen-Machens performativ und weitet sich dadurch als Problemfeld aus. Im Moment ihrer performativen Setzung vermittels Sprache, ist die Ökonomie zur Setzung und damit bereits zum Gesetz geworden. Sie ist ihrer definitorischen Bestimmung quasi bereits einen Schritt voraus. Die Derrida’sche Formel (»Mein Problem heißt: Ökonomie«18) lässt sich ebenfalls weder metaphorisch noch nicht-metaphorisch, sondern primär in ihrem performativen Selbstbezug begreifen. Sie entzieht sich dabei – in einem, paradoxer Weise, gänzlich un-ökonomischen Zirkelschluss – dem metaphorischen Feld und vollzieht damit, worauf Derridas Aufsatz letztlich abzielt: den Entzug der Metapher selbst. Indem sich Derrida das Feld der Ökonomie vermittels dieser performativen Setzung aneignet, zeigen sich die wirksamen Entzüge dieses sprachlichen Feldes quasi selbst und zugleich wird – im übertragenen und zugleich eigentlichen Sinne – damit auch Heidegger das Wort entzogen: Derrida dekonstruiert so die Rede von der Sprache als »Haus des Seins« in doppelter Weise, indem er anschließend zugleich eine nüchterne, vierfache Bestimmung des Feldes des Ökonomie vornimmt (jedoch gerade kein »Geviert« im Heidegger’schen Sinne).19 Dazu bestimmt Derrida das sprachliche ›Feld‹ der Ökonomie noch einmal erneut in bemerkenswert nüchterner, geradezu ›ökonomischer‹ Art und damit (im Gegensatz zu ihrer vorherigen performativen, unökonomischen ›Einfaltung‹ im Zirkelschluss) mit einer sehr klar gegliederten, vierfachen Verortung, die jedoch bei genauerem Hinsehen wiederum eng miteinander verflochten sind: a) im Sinne einer »Tropik der Abnutzung«, b) »in Verbindung zu dem Gesetz des

17 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 212. 18 | Ebd. 19 | Heidegger bestimmt dieses Geviert in seinem Bezug zum Wohnen und zur menschlichen Sterblichkeit. Vgl. Heidegger: »Weg zur Sprache«. S. 152ff.

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Hauses, c) »in Richtung auf das Ereignis« und d) als »Trans-fer, als Übertragung und Tra-duc-tion, Übersetzung«.20 Um die paradoxale Beziehung dieser beiden Felder, der Ökonomie und der Metapher, weiter zu ergründen, wird sich Derridas Argumentation im Folgenden nun immer weiter auf die Figur des Risses zubewegen. Bevor er schließlich explizit auf den Riss zu sprechen kommen wird, zeigt sich hier im Vorfeld, dass diese Figur weder eindeutig innerhalb noch außerhalb der Felder von Ökonomie oder Metapher zu verorten ist. Das Nachdenken über die Metapher zielt dabei gerade nicht auf die Frage einer übergeordneten Ordnung, eine Figur des mise-en-abyme im Sinne der »Metapher der Metapher« ab, sondern auf einen grundlegenden Entzug und möglicherweise wesentlichen Vorbehalt, wie er schreibt: »Nicht auf den Entzug des Metapher komme ich zurück, sondern auf das, was wie die Metapher des Entzugs aussehen könnte.«21 Derridas Nachdenken über den Riss wird schließlich nicht direkt und/oder ausschließlich, sondern auf einem Umweg, aus der (gedoppelten/geteilten) Perspektive dessen geschehen, was er die Verbindung zweier Familien (Wortfamilien) nennt, einen »nachbarlichen Zug, einen Zug der Nachbarschaft stiftet«.22 Es geht mit dem Riss also um eine Beziehung (und zwar keineswegs im statischen Sinne, sondern im Sinne einer dynamischen Übertragung oder einer Übersetzung) – und zwar auch einem intellektuellen Austausch mit dem Denken Heideggers. Diese gedanklichen Bewegungen, von der Metaphorik der philosophischen Sprache, d.h. mit der Metapher in der Philosophie (und deren Widerständigkeit), über das Feld der Ökonomie (das Häusliche, das Eigene, als Bewegung hin zum Ereignis, als Transfer, Übersetzung) über deren Entzug und schließlich die Frage der Nachbarschaft, sollen sie im folgenden Kapitel nochmal enggeführt und an einem Beispiel ›sprach-bildlich‹ verdeutlicht werden. Wenden wir uns vor dem thematischen Hintergrund dessen, was sich einer ökonomischen Metaphorik bzw. metaphorischen Ökonomie entzieht, vorübergehend einer allegorischen Riss-Figuration zu, in der es auch (d.h. wie zwischen Derrida und Heidegger, so wäre die These) um eine Verwandlung innerhalb nachbarschaftlicher Beziehungen, die Durchbrechung ökonomischer ›Hausordnungen‹ bzw. die In-Frage-Stellung familiärer Strukturen und Gesetze geht. Im Zentrum steht hierbei die Frage nach dem Zusammenhang von Riss, Sprache, Materialität ebenso wie einer

20 | Ebd. S. 212f. Mit dieser vierfachen Segmentierung sind zugleich wichtige Orientierungsmarken oder Eckpfosten des ökonomischen Feldes (das somit klar markiert ist und keineswegs ein freies Feld im Sinne Heideggers) benannt, die auch zur Positionierung, zur Verortung von Figuren des Risses (als Topos und Trope) relevant sein werden. 21 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 225. 22 | Ebd. S. 226.

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹

allegorischen Sprach-Bildlichkeit – das hieße im Folgenden vielleicht auch einer ›Durchlässigkeit‹ und zugleich (Un-)Übersetzbarkeit von Sprache, wodurch die Perspektive auf eine Ökonomie des Risses und die grundlegende Problematik einer Sprache als »Haus des Seins« nochmal von einer neuen Seite adressiert wird.

Exkurs I: Tragische Nachbarschaft (Ovids Pyramus und Thisbe) Die Beziehung zwischen Pyramus und Thisbe beginnt, so beschreibt es der römische Dichter Ovid an entsprechender Stelle in seinen, vermutlich in den ersten drei Jahren der christlichen Zeitrechnung verfassten Metamorphosen, als eine nachbarschaftliche: beide wohnen seiner Erzählung nach im griechischen Babylon »Haus an Haus«.23 In der antiken ebenso wie in der latinischen Logik wird mit der Zugehörigkeit zur Sphäre des Hauses zugleich das Modell patriachaler Ordnung aufgerufen: es ist das (beiderseitige) väterliche Verbot, welches dem zueinander-hingezogenen Paar aufgrund einer Rivalität zwischen den Häusern ein ›offenes‹ Verhältnis untersagt. So ›sprechen‹ sie zunächst heimlich, durch versteckte »Winke und Zeichen«.24 Mit der von Derrida und Heidegger aufgeworfenen Figuration von Sprache als »Haus des Seins« lässt es sich kaum vermeiden, die Geschichte von Pyramus und Thisbe als Allegorie der Sprache(n) und ihrer Beziehungen und Übertragungen zu lesen – bleiben wir jedoch noch etwas auf der ›wörtlichen‹, d.h narrativen Ebene. Die näheren Umstände des offenbar schwelenden Zwistes zwischen den Familien, den Grund für den Streit zwischen den ›Häusern‹, lässt Ovid offen. Die häuslichen Gebäude und ihre zugehörigen, begrenzenden Mauern, stellen in der Erzählung somit allegorische »An-Ordnungen«25 dar, es sind neben ihrem beherbergenden Charakter zugleich materielle Konkretionen familiärer Regeln und Gesetze, d.h. der vor allem väterlichen Ge- und Verbote (von den Müttern fehlt in dieser Ovidschen Binnen-Erzählung jede Spur). Die Mauern sind Manifestationen im Sinne einer ex- bzw. interiorisierten Handhabe, welche Pyramus und Thisbe die gleichzeitige Nähe und strikte Trennung vorschreiben, in der Annahme, im Inneren der Häuser wäre ihr Austausch und weitere Annäherung unterbunden. Diese Form des nahen, gemeinsamen, verbindenden Getrennt-Seins findet ihr

23 | Ovidius Naso, Publius; Rösch, Erich und Holzberg, Niklas: Metamorphosen: lateinisch-deutsch. Zürich u.a.: Artemis & Winkler, 1996. S. 127. 24 | Ebd. 25 | Gabriele Brandstetter begreift An-Ordnungen im (choreographischen) Sinne von »intrikaten Doppelfiguren: als ›assignment‹ und ›arrangement‹, vgl. Brandstetter, Gabriele: »Anordnungen (als choreographische Verfahren)«, in: Horn, Eva und Lowrie, Michèle (Hg.): Denkfiguren für Anselm Haverkamp = Figures of thought, Berlin: August-Verlag, 2013. S. 38-38. Hier: S. 35.

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Symbol in einem bis dahin unentdeckten Riss in der Wand, welcher nun ihrer Beziehung und somit der (Binnen-)Narration eine neue Dynamik verleiht: Durch einen schmalen Riß, der entstanden, als sie gebaut ward, War gespalten die Wand, die den beiden Häusern gemeinsam. Diesen Fehler, den keiner in den langen Jahrhunderten wahrnahm, Saht ihr Liebenden erst – denn was entginge der Liebe? – Ließet ihn werden zum Weg eurer Stimmen.26

Durch die Zuneigung der verliebten Nachbarn findet eine Neu-›Bestimmung‹ des Risses durch die Sprache statt: beide entdecken im Riss eine Möglichkeit, sich der Verbote und Ökonomie des patriachalen Gesetzes zu widersetzen, sich diesen für ihre Zwecke ›zu eigen‹ zu machen. Der ›gemeine‹ Riss in der Wand zwischen den Häusern, der jahrelang, sogar seit ihrer Erschaffung der Häuser unbemerkt geblieben war (er scheint dort lange still in der Latenz, verborgen im Offenen ›geschlummert‹ zu haben sich nicht durch bedrohliche Ausweitung weiter bemerkbar gemacht zu haben), wird zum ›gemeinsamen‹ Riss, zur geheimen Kontaktstelle, durch den die Sprache ihr Gehör findet. Die Liebesbeziehung erwächst so aus der Latenz des Riss-Szenarios selbst. Zugleich ›be-stimmt‹ der liebevolle Austausch den Riss neu, ganz im wörtlichen Sinne; er entdeckt ihn als mögliches ›Medium‹ des Austauschs der zu- und aneinander gerichteten Stimmen. Andersherum ›bestimmt‹ und beschränkt der Riss aber die Form der Beziehung, er prägt den gemeinsamen Austausch und betont seinerseits dessen physische Grenzen – der Riss konfiguriert eine Szene und Beziehung des körperlosen Kontaktes, er führt die Beziehung zwischen Pyramus und Thisbe in die Latenz. Die Liebe des (latent verhinderten) Paares, ihr wachsendes ZueinanderHingezogen-Sein, das Bedürfnis nach Nähe und Austausch widersetzt sich so zwar still und heimlich – zurückgezogen im tiefsten Inneren des Hauses – der beiderseitigen väterlichen An-Ordnung. In solcher Weise regt sich zunächst ›stiller‹, aber nicht länger stummer, Widerstand gegen das herrschende, patriachale Gesetz der Familie(n) an ihrem innersten Ort. Es keimt ein Widerspruch, ein heimliches Aufbegehren, versteckt im Innersten, gewissermaßen in der ›Krypta‹ des Hauses. Sprache, Beziehung, die Nähe der Häuser und die physische Trennung der Sprechenden bestimmen sich gegenseitig im performativen (Sprech-)Akt. Der Riss behält dabei einen mehrfach ambivalenten Status, er ist einerseits Ort und Medium des intimen, heimlichen Austausches und zugleich eine permanente Vergegenwärtigung, sichtbares Symbol der vorgeschriebenen, verordneten Trennung. Der Riss fungiert als Medium und Filter, der Ätherisches wie Stimmen, Worte und Atem als Form des intimen Austausches passieren lässt, aber dennoch ein physisches Zusammenkommen, den Austausch von Intimitäten als einer 26 | Ovidius Naso; Rösch und Holzberg: Metamorphosen: lateinisch-deutsch. S. 127f.

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹

direkten Berührung der Liebenden verhindert.27 In symbolischer Hinsicht bleibt der Riss in Ovids Erzählung so ebenfalls zwiespältig: einerseits spiegelt er das beginnende Aufbrechen verfestigter (Familien-)Strukturen wider, symbolisiert deren Dynamisierung und fungiert andererseits zugleich als drohende VorausSchau, d.h. ein dunkles Anzeichnen der sich anbahnenden Katastrophe. Der Riss als baulicher ›Fehler‹ ohne näher definierten Ursprung, die vermeintliche Schadstelle in der Wand, die quasi immer schon da war, zeigt sich so als ökonomisch und un-ökonomisch zugleich: er ›gehört‹ seit der Erschaffung zur Wand und zum Haus, durchbricht jedoch die (patriachal geprägte) Logik und das Gesetz des Hauses, wird zum Ort des un-ökonomischen, verliebten Ausschweifens, der Konspiration und symbolisiert darüber hinaus bereits die drohende Katastrophe für das zueinander-hingezogene, latent verhinderte ›Paar‹. Aus literarischer Sicht ließe sich die Ovidsche Figur des Risses hier mit Anselm Haverkamp als einer tief eingefalteten figura cryptica und somit einer Figur der Latenz (genau genommen: Figur einer Latenz der Latenz) verorten: zurückgezogen im inneren des Hauses, dort lange Zeit doppelt unbemerkt (sowohl von den Bewohnern, d.h. den Familien, als auch von nicht familiär eingebundenen, ›Außenstehenden‹ ohnehin) hat der Riss hier auf seine Entdeckung und die seiner Möglichkeiten als Beziehung eröffnendes ›Medium‹ eine unbestimmte Zeit überdauert. Schließlich wird er sprachlich be-stimmt (im ›wörtlichen‹ Sinne, d.h. stimmlich, qua Stimme) und ›bestimmt‹ seinerseits (heimlich) die Bedingungen unter denen sich dieses (heimliche) aufbegehrende Sprechen – gegen die ›familiären‹ Regeln – vollzieht. Die in sich tief und mehrfach verschachtelte Riss- und Sprach-Szene macht bildlich sichtbar, was Derrida meinen könnte, wenn er Heideggers Rede von der »Sprache als Haus des Seins« weder wörtlich noch übertragen versteht. Gleiches gilt, unschwer zu erkennen, auch für die Figur des Risses. Kunstvoll eingefaltet in die Erzählung finden wir mit dem Riss eine Figur vor, welche die Rahmenbedingungen von Sprache konditioniert und die von ihr bedingten Verhältnisse zugleich illustriert: Sie bringt als eine poetische Form der Latenz ›metaphorisch‹ zur Anschauung, was Haverkamp als wesentliche Eigenschaft der Ovidschen Dichtung sieht: »Ovids Metamorphosen [sind] das unübertroffene klassische, lateinische Modell der späteren Latenz der latinitas.«28 Haverkamp 27 | Der Riss schreibt so gesehen eine – im umgangssprachlichen Sinn – ›platonische‹ Form der Beziehung vor – eine Untersuchung und Vergleich zu Platons komlexer Theorie von (erotischer) Liebe und Begehren als ursrünglich Geteiltes, wäre spannend, führt aber an dieser Stelle zu weit. Zur Komplexität von Platons Liebeskonzept und deren widersprüchlichen Interpretationen vgl. beispielsweise Horn, Christoph und Plato: Platon: Symposion. Berlin: Akad.-Verl., 2012. 28 | Haverkamp, Anselm: Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002. S. 8.

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erblickt somit in Ovid die vorbildliche Figur eines Literaten, dessen künstlerisches Ideal in der Verbergung der künstlerischen Technik liege: »ars adeo latet sua«: »Die Kunst liegt darin, die ihr eigene Technik zu verbergen: sie funktioniert aus der Latenz, mittels Latenz.«29 Durch die Figur des Risses, faltet sich so bei Ovid – am Rande – ein Fragehorizont rhetorischer Technik ein, der sich selbst unsichtbar macht.30 Die Geschichte der Beziehung von Pyramus und Thisbes (sowie die des Risses zwischen ihnen, der ihre Beziehung und deren Fortgang bestimmt) wird so zugleich als Allegorie lesbar – Allegorie als »rhetorischer Vorgänger« eines Repräsentationsbegriffes, im Sinne einer Darstellung, die impliziert, »was sie darbietet, als einen ihr vorgängigen Ursprung, den sie in der Falte, dem pli dieser Implikation verbirgt, um ihn als solchen offenbaren zu können. […] Die Latenz liegt vertieft in der einfältigen Verdopplung durch die Repräsentation.«31 Latenz wird für Haverkamp so zu einer umfassenden Kategorie, die sich auch einem Medienbegriff (und der Riss erscheint ja bei Ovid gerade als eine ursprüngliche ›Medien-Figur‹) einschreibt oder sogar das Potenzial hat, diesem um- oder zu überschreiben und zu ersetzen: Ich schlage vor, anstelle der ›Medien‹ – an Stelle im genauen Sinne dessen, wofür sie stehen, und daß sie überhaupt für etwas außer ihnen selbst, sponte sua, stehen – Latenz als Grundbegriff der Kulturwissenschaften zu supponieren: von Kulturwissenschaften in einem Medienzeitalter, in der der verflossene Geist der Geisteswissenschaften die Medien heimsucht wie das Gespenst des alten Hamlet die Bühne Shakespeares.32

Bleibt die Frage vom ›Geist‹ (als ›Medium‹ im übertragenen Sinne) in den Geisteswissenschaften im weiteren Vorlauf noch mit Blick auf die philosophische

29 | Ebd. 30 | Auf diesem Umweg der latinischen Latenz gelangen wir schließlich wieder zu einer rhetorischen Annäherung von Eigentlichem und Uneigentlichen und zwar ausdrücklich, nicht implizit, wie bei Heidegger: »[Es] ergibt sich notwendig ein Begriff von Latenz, der in den Theorien der Rhetorik durchweg als Unsichtbarkeit der zu bestimmten Zwecken eingesetzten Mittel vorgestellt wird (als dissimulatio der téchne). Die Differenz zwischen einer eigentlichen und uneigentlichen Redeweise (von der Verstellung der Person durch die Maske bis zur Verstellung der Wörter durch die Trope) ist daher für die traditionelle Rhetorik konstitutiv.« Maye, Harun und Meteling, Arno: »Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte«, in: Ellrich, Lutz; Maye, Harun und Meteling, Arno (Hg.): Die Unsichtbarkeit des Politischen: Theorie und Geschichte medialer Latenz, Bielefeld: transcript, 2009. S. 13-152. Hier: S. 96. 31 | Haverkamp: Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz. S. 11. 32 | Ebd. S. 10.

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Beziehung von Derrida und Heidegger weiterhin relevant (im impliziten Zusammenhang der Figuren von »Geist« und ›Riss‹), so soll an dieser Stelle vorerst kein Fazit, sondern ein nunmehr erweitertes, weiterführendes Fragenspektrum markiert werden: Welche Funktion und Rolle könnte in einem latent-diskursiven, geisteswissenschaftlichen Feld der Figur des Risses zukommen? Inwieweit durchkreuzt oder überschreitet die Figur des Risses eine Bewegung der Metapher; inwieweit geht der Riss über ein metaphorisches Verständnis hinaus und wird zur Allegorie, oder sogar – wenn wir Haverkamps Einfaltung in das »Pli der Implikation« weiterdenken, der Riss zu einer Allegorie der Allegorie (Metapher der Metapher) und/oder markiert diesen Verhältnis als fundamental Entzogenes? Kehren wir von hier ausgehend jedoch zunächst nocheinmal zu dem Ovidschen Riss zurück als einer kryptischen, latenten Figur in der Geschichte von Pyramus und Thisbe und betrachten diese nun von einer abermals anderen ›sprachbildlicheren‹ und zugleich ›bild-sprachlichen‹ Seite, die eine Form des Hörens und Lauschens aus einer weiteren Perspektive in den Blick nimmt uns deren ›Plis‹ entfaltet.

Risse belauschen: Thisbe or the Listener (Waterhouse) Eine Darstellung des britischen, als prärafaelitisch eingestuften Malers John William Waterhouse33 aus dem Jahre 1909 zeigt die ›Szene des Risses‹ aus der Perspektive Thisbes. Anders als die meisten der mittelalterlichen Darstellungen oder späteren Kupferstiche und Drucke, welche in der Regel das ›dramatische‹, und zugleich tragische Ende der Geschichte an der Wasserstelle (teils mit-, teils ohne Löwen) in den Vordergrund stellen34, wählt Waterhouse den weniger spektakulären, konspirativen Moment im Inneren des Hauses als Motiv aus. Das Bild zeigt einen kontrastreichen Innenraum, im hinteren Bereich auffällig düster, während der Riss in der Wand in den hell erleuchteten Vordergrund rückt und kompositorisch beinah den rechten Rand des Bildes markiert. Am oberen linken Bildrand eröffnet eine Tür den Blick auf einen sonnigen Außenraum, dem Thisbe jedoch den Rücken zuwendet, um sich ganz dem Geschehen am Riss zuzuwenden. Auch in ›haptischer‹ Hinsicht stellt sich das Dargestellte gegensätzlich dar: der steinerne Boden wirkt durch die bloßen Füße Thisbes besonders kalt und hart, ebenso wie die Wand und die Mauer; sie ent-sprechen quasi dem väterlichen Verbot: undurchlässig, unnachgiebig, quasi wie in »Stein gemeißelt«. Umso deutlicher fällt demgegenüber Thisbes sanfte Berührung der 33 | Vgl. Morgan, Hilary: »Waterhouse, John William«, in: Grove Art Online 2003. Zugriff unter: https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054.article.T090816 am 15. Juni 2017. 34 | Vgl. Hüls, Rudolf: Pyramus und Thisbe Inszenierungen einer »verschleierten« Gefahr. Heidelberg: Univ.-Verl. Winter, 2005.

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Wand und des Risses mit ihrer Hand und ihrem Kopf auf – ihre ›Zuneigung‹ wird in doppeltem Sinne bildlich sichtbar. Der Innenraum stellt sich als ein Ort dar, der von Waterhouse’ Vorstellung des antiken Frauen-Bildes geprägt ist: Webstuhl, Spindel und gesponnener Faden, bereits zum Knäul gerollt, konnotieren diesen Raum als häuslichen Ort des textilen Handarbeitens, des Webens, des häuslichen Zeitverbringens und damit auch des Erzählens, des ›Spinnens‹ – im wörtlichen Sinne von Wolle und im übertragenen Sinne des GeschichtenErzählens gleichermaßen.35 Riss und Tür markieren im Bild die Verbindungen nach ›Draußen‹, als Ort außerhalb familiärer Strukturen, außerhalb des väterlichen Zugriffs, ein Ort des erhofften Treffens mit dem Geliebten und, wie wir aus dem Fortgang der Geschichte wissen, der Bedrohung durch das Untier, den Löwen. Zugleich und vor allem bedeutet ›Draußen‹ jedoch einen Ort fataler Fehlinterpretationen, in Gang gesetzt durch den vom Löwen zerrissenen, blutverschmierten Schleier Thisbes. Als fatal erweist jedoch letzten Endes nicht der tatsächliche ›Riss‹ des Löwen (es ist nämlich keiner) sondern Pyramus’ Mißdeutung des blutigen, zerrissenen Tuches – beide sterben schließlich bekanntermaßen, wie später auch Romeo und Julia, von eigener Hand.36 Das Bild von Waterhouse zeigt nun aus patriachaler Hinsicht ›Unerhörtes‹ in mehrfachem Sinn: Thisbe unterbricht ihr schaffendes Tun, verlässt ihren vorgesehenen Platz und wagt sich hervor aus der Dunkelheit ihrer handarbeitlichen Wirkungsstätte, widersetz sich quasi dem väterlichen Diktum, hingezogen zu Pyramus, der im Bilde fehlt. Markant sind vor allem Thisbes auffällige Lausch-Haltung, und ihr sprechender, ›vielsagender‹ und zugleich uneindeutiger Blick: aus dem Bild heraus schaut sie ihrerseits den exegetischen Bild-Betrachter an und macht uns auf diese Weise zum Komplizen ihrer ›geheimen‹ Verabredung – oder ist ihr Blick möglicherweise doch eher in die Ferne gerichtet, aus dem Bild heraus, durch uns hindurch in ihre für Sie 35 | Das Bild spiegelt so implizit die ›Rahmen-Handlung‹ der Ovidschen Binnenerzählung wieder, in der sich Minyas Töchter Wolle spinnend und einander lauschend die verschiedenen Liebesgeschichten erzählen, wobei die Erzähnlung von Pyraums und Thisbe einer dieser ›losen Fäden‹ bleiben wird. Vgl. Ovidius Naso; Rösch und Holzberg: Metamorphosen: lateinisch-deutsch. S. 127. 36 | Demgegenüber sei hier nochmal kurz auf das finale Verschwinden der namenlosen Protagonistin im Riss in der Wand in der letzten Szene in Ingeborg Bachmanns Roman Malina sowie deren Verfilmung nach dem Drehbuch von Elfriede Jelinek in der Regie von Werner Schroedter mit dem schließenden Satz »Es war Mord« hingewiesen – ein eingehender Vergleich der beiden Szenen würde hier zu weit führen. Zur Positionierung weiblicher Subjektivität in Bachmanns Roman vgl. die Dissertation von Kohn-Waechter, Gudrun: Das Verschwinden in der Wand: destruktive Moderne und Widerspruch eines weiblichen Ich in Ingeborg Bachmanns »Malina«. 1990. Sowie Bachmann: Malina (Roman).

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Abb. 2 | John William Waterhouse: Thisbe or the Listener/Thisbe oder d ie Lauscherin (1909).

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ungewisse Zukunft? Thisbes intensives Lauschen am Riss durchbricht die visuelle Logik des Bildes und deutet einen Medien-Sprung37 an: der Topos des ›Hörens‹ wird hier als Ihr (stummes) zugeneigtes Lauschen zur Sichtbarkeit gebracht – als eine Art Übersetzung, Übertragung vom Auditiven ins Visuelle. Der Riss, der am Rande des Bildes zugleich die Grenzen des Bildlichen markiert, wird bildlich zum Medium der Sprache, der (›unerhörten‹) Worte, des geheimen Dialogs zwischen Thisbe und dem unsichtbaren (und unhörbaren) Pyramus und zugleich zum geheimen Bund zwischen Thisbe und den exegetischen Betrachter*innen des Bildes, d.h. uns. Waterhouse zeigt uns durch diese stille, am Riss lauschende Haltung Thisbes eine Szene der Sprach-Bildlichkeit. Das Sprechen (in Gestalt eines Sprechenden) bleibt außen vor, ungezeigt, verborgen hinter der Blickundurchlässigen Mauer und zugleich ist das Thema der Stimme, der Sprache, des Sprechens und geheimen Verabredens doch präsent – das Bild nähert sich dem Thema sozusagen auf einem Umweg, d.h. zunächst von seiner stummen Seite, aus dem Bereich des Lauschens am und durch den Riss. Dieser spaltet so gesehen die Bildlichkeit des Bildes und die Lautlichkeit des Lautes auf, parallelisiert oder doppelt diese zugleich sprach-bildlich und quasi ›laut-malerisch‹, in ähnlicher Form, wie Dieter Mersch, Lauthaftigkeit beschreibend, auf die Figur des Risses zu sprechen kommt: Laut, als Singularität, als intensives Geschehen, als leibhafte Manifestation, die begegnet und durch die der Andere teilnehmend zugegen ist, sich aussetzt, entblößt, zeigt, auch das, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann, was nicht in der Textur des Textes aufgeht, daher nicht einmal ausweisbar oder markierbar scheint und doch unabweisbar »da« ist. Dies ist vielleicht am Ein- dringlichsten dort zu erfahren, wo eine Stimme plötzlich und unerwartet ansetzt zu sprechen: Im Moment des Risses, da noch nichts gesagt ist, aber gesagt werden wird, wo sich der Laut als Einschnitt, der die Stille zerreißt, selbst ausstellt.38

Zwischen dem dargestellten Riss und der (im Bild nicht) einsetzenden Stimme entfaltet sich hier eine gespannte und zugleich gespaltene Beziehung, zwischen Bild- und Lautlichkeit changierend, oszillerend, in gewisser Weise eine thematische ›Nachbarschaft‹ verkörpernd und dennoch zeigt sich im Bild ihre wesentliche Differenz: Riss und Laut sind beide anwesend-abwesend und zwar in signifikant unterschiedlicher Art und Weise. Durch die Stimme, die sich indirekt durch den Riss und im Lauschen, bzw. in der Körperhaltung Thisbes andeutet, zeigt sich zugleich (latent) der komplexe Bezug räumlicher Gegebenheit und einer anders strukturierten Temporalität des Risses, der in seiner latenten Gegenwart die 37 | Vgl. Brandstetter: Bild-Sprung: TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. 38 | Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. S. 116f.

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Präsenz/Absenz der Stimme als/in der Verlautbarung markiert. Im Riss spiegelt sich so zugleich eine Dopplung/Spaltung des Phänomens Stimme selbst: Der Riss, so könnten wir hinzufügen, verweist, wie es Mersch der Stimme zuschreibt, »auf den Leib, auf die körperlichen Aktionen, die ihr erst Raum verleihen, Atem geben«.39 Die hier sichtbar-unhörbare/unsichtbar-hörbare Stimme ereignet sich dabei wie das Reißen des Risses in ihrem Vollzug: Sie geht nicht primär in der Verlautbarung eines Gesagten auf, die sie auch ist; sie ist Vollzug: Schrei, Zuruf, einem anderen zusprechender oder von ihm vernommener Laut, schließlich Flüstern, Murmeln, inwendiges Selbstgespräch, sogar Schweigen. D.h. die Stimme drängt sich auf, sie gemahnt an eine Unausweichlichkeit, in der der Andere präsent wird: Anruf, der mich auffordert und mich zu sprechen nötigt, Antwort erbittet.40

Der Riss als Figur allegorischer Übertragung Die Geschichte Pyramus und Thisbes und ihre bildliche Interpretation durch William Waterhouse führt uns zurück zu Heidegger, und fügt seinem Verständnis von Sprache als »Haus des Seins« und ihrer dekonstruktiven Lektüre durch Derrida, dessen komplexer Metaphrologie und ökonomischen Betrachtung, eine weitere Ebene hinzu. Heideggers Vorstellung von Sprache wird so von einer anderen Warte neu bestimmt und zugleich in anderer Weise, nämlich sprach-bildlich, figürlich, lesbar, wenn er beispielsweise schreibt: »Das Zugleich von Sprechen und Hören meint mehr. Das Sprechen ist als Sagen von sich aus ein Hören. Es ist das Hören auf die Sprache, die wir sprechen.«41 Mit der tragischen (Binnen-)Erzählung von »Pyramus und Thisbes« werden verschiedene Modelle von Beziehungen und deren inhärente Gesetzmäßigkeiten aufgerufen (und In-Frage-gestellt), innerhalb derer Sprache jeweils sehr unterschiedliche Funktionen und Dynamiken zukommt. Zugleich wird hier ein allegorisches Modell eröffnet,42 das auf Sprache aus einer Perspektive von Intimität, Zuneigung und Hingabe blickt, die sich einer streng-logischen Systematik, einer Taxinomie der sprachlichen Figuren entzieht. An die Stelle exklusiver, monolitischer Setzungen, eines Bildes von Sprache als »Haus des Seins« – wie es sich besonders im Zusammenhang mit Heideggers Bild 39 | Ebd. S. 117. 40 | Ebd. 41 | Heidegger: »Weg zur Sprache«. S. 243. 42 | Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung: das Semiotische und das Performative. Tübingen u.a.: Francke, 2001. Insbesondere: »Die ›Allegorie‹ als Paradigma einer Ästhetik der Avantgarde«, ebd. S. 121-138.

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des griechischen Tempels als ›herausragendes‹ Kunstwerk ›verbildlicht‹43 – tritt, wie Haverkamp schreibt, mit der Ovidschen Erzählung die verhaltene Latenz des Lateinischen, im Sinne prinzipieller Übertragungs- und Übersetzungsfunktionen von Sprache die zunächst eine Form des Zuhörens, des zugeneigten Lauschens voraussetzen. Sprache wird so vor allem aus der Übersetzbarkeit, Übertragbarkeit, Dialogizität ›be-stimmt‹– als jenes heimlich-geteilte Geheimnis in der Krypta des Hauses/der Sprache, dass zugleich das Potential tragischer Fehlinterpretation und Mißverständnisse in sich birgt. Modell und Grundlage der Sprache sind nicht länger die patriachalen Gesetze und häuslich-familiäre Prinzipien der Weitergabe, sondern nachbarliche, selbstbestimmte, möglicherweise intime Beziehungen, die ständig dialogisch neu bestimmt werden müssen. Diese Sprache bezieht Aspekte des Tonfalls und der Stimmlichkeit, der leisen ›Zwischen-Töne‹ mit ein: Aus dieser Perspektive gerät die Materialität von Stimme, ihre Leiblichkeit in den Blick und ›kommt zu Gehör‹; sie unterwandert damit das patriachal-familiäre Prinzip der An- und Unterordnung sowie der Absonderung und räumlichen Kontrolle und stellt die Semantiken und Hierarchien der Sprache in Frage. An dessen Stelle treten nun Fragen des (körperlichen) Austauschs mit dem Anderen, vermeintlich Fremden, den Zueinander-Hingezogenen im doppelten, grundsätzlich mehrdeutigen und schließlich: mißverständlichen Sinne. Bei Ovids Pyramus und Thisbe wird der Riss, als Figur eines Risses in der Wand zwischen den Liebenden zur wesentlich zwiespältigen Allegorie des Sprechaktes, ihrer Bedingungen und (Un-)Möglichkeiten und geht zugleich als Figur darin nicht auf. Der Sprechakt verwirklicht sich hier nicht nur als performativer Akt des Sagens im Sinne eines Gelingens oder Scheiterns von Kommunikation, sondern zugleich auch als Akt des aktiven, innerlichen Lauschens und des Gehört-Werdens – und eröffnet damit das Feld einer intimen Dialogizität. Damit wird zugleich eine Frage der Rezeption und der affektiven Haltung eines Gegenübers aufgeworfen wie auch Aspekte des gegenseitigen An-Vertrauens, das sich als Voraussetzung seiner rhetorisch-gesetzlichen Regelbarkeit entzieht. Das vorläufige Fazit des hiermit aufgeworfenen Zusammenhanges von Rissfiguren und allegorischen Übertragungen (eher ›als‹ solche denn als ›solche‹ – eine leise, aber dennoch hörbare Akzentverschiebung hin zum modus operandi) bliebe zunächst die Feststellung eines paradoxalen Verhältnisses: indem dieser Austausch zweier Liebenden durch den entdeckten Riss in der Wand als Sprach-Bild bzw. als Figur und Allegorie von Sprache auf die Möglichkeit der Hingabe innerhalb von 43 | Paradoxerweise widerspricht Heidegger just jener ›Verbildlichung‹ des Tempels vehement: »Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales.« Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Heidegger, Martin und Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hg.) (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 5. Holzwege, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1977b. S. 1-74. Hier: S. 27.

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und durch Sprache verweist, ihre Formen der Übertragung entdeckt und erweitert, läuft das Ovid’sche Narrativ auf ein tragisches Ende hinaus, das wiederum auch die – möglicherweise die notwendige – Möglichkeit des Scheiterns in dieses Bild der Übertragung von und durch Sprache einträgt. Wie sich im Folgenden Kapitel zeigt, kommt unter diesen widersprüchlichen Voraussetzungen Derridas ›ökonomische‹ und ›quasi-metaphorische‹ Lesart der Heidegger’schen Rissfigur nochmal in einer anderen Weise zum Tragen.

Sprachliche Nachbarschaften/Verwandtschaften: Ziehen und Reißen / Zug und Riss als ›Wortfamilien‹ Wir bereits gezeigt wurde, geht Derrida in seiner Annäherung an die Figur des Risses innerhalb eines quasi-metaphorischen Feldes von deren grundsätzlich »ökonomischen« Zügen aus (auf diesem Umweg nähert er sich einer Kritik an Heideggers ›Sprach- bzw. Theoriegebäude‹). Mit Blick auf jenen ›Selbst-Verweis‹ Heideggers, jene Stelle wo dieser auf sich selbst Bezug nehmend schreibt: »Die Sprache wurde das ›Haus des Seins‹ genannt«44 und wo es unmittelbar zuvor heißt: »Aber die Sprache ist Monolog. Dies sagt jetzt ein Zwiefaches: Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht. Und sie spricht einsam. Doch einsam kann nur sein, wer nicht allein ist«45 beginnt Derrida einen Dialog und eine Dekonstruktion der Heidegger’schen Sprach-Konzeption und damit zugleich seines ontologischen Denkens – quasi aus dem tiefsten Inneren, der Krypta des Heidegger’schen Denk-und Sprach-Gebäudes. Dazu verortet Derrida den Heidegger’schen RissBegriff explizit im Feld von Nachbarschaften bzw. von Familienzugehörigkeiten – zunächst innerhalb einer Sprache, nämlich ausdrücklich der deutschen, deren Begriffe er teilweise in Französische übernimmt (vom Übersetzer mit einem Asterisk* gekennzeichnet): Zwei Familien sozusagen, zwei Wortfamilien, zwei Familien von Namen, Verben und Synkategoremen verbinden und verbünden sich, kreuzen sich in diesem Bündnis des Zugs, das in der deutschen Sprache geschlossen wird. Auf der einen Seite die ›Familie‹ des Ziehens* (Zug, Bezug, Gezüge, durchziehen,

44 | Heidegger: »Weg zur Sprache«. S. 254. 45 | Ebd. S. 255. – Die Konsequenzen dieses ›monologistischen‹ sprachlichen Ansatzes zeigen sich deutlich in Heideggers fingiertem ›Dialog‹ mit einem Japanischen Gelehrten, welches auf einem tatsächlichen Gespräch mit Tomio Tezuka basiert, aus dem seinen Gegenüber jedoch größtenteils rückwirkend ›ausradiert‹, bzw. zum antwortenden Alter-Ego Heideggers transformiert wurde. Vgl. Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Sprache«. Zur weitreichenden Komplexität des hier von inszenierten ›inter-kulturellen‹ Dialogs, vgl. Eikels, Kai van: Das Denken der Hand japanische Techniken. Bern, Berlin, Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, 2004. S. 81.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache entziehen*), auf der anderen Seite die ›Familie‹ der Reißens* (Riß, Aufriß, Umriß, Grundriß, usw.*).46

Die Frage der Semantik als Beziehung der Wort-Familien und Wort-Stämme, der verwandten, ›familiären‹ Abstammungen von Reißen und Ziehen, (als ein teilweise verborgenes Zu-Einander innerhalb der Sprache) innerhalb des Deutschen bringt Derrida so zu einem Nachdenken über den Begriff der Nachbarschaft, als eine Form der Nähe, die ihm zufolge ebenfalls keine statische Beziehung ist, keine fixe Größe, sondern eine Form Relationalität und somit eine Frage von Bewegung: Die Nachbarschaft ist also eine Beziehung (achten wir auf dieses Wort), die dadurch entsteht, daß der eine in die Nähe des anderen, daß der eine den anderen in seine Nähe zieht, damit er sich dort ansiedelt.47

Die Nachbarschaft (hier zunächst noch bezogen auf die Beziehung von Dichten und Denken) sprachlich als »bildliche Redeweise«48 (Derrida selbst verwendet diese deutsche Wendung) zu verstehen, wäre zwar vielleicht beruhigend, jedoch ist diese – wie bereits die Sprache als Haus des Seins – keineswegs eine ›einfache‹ Metapher. Nach Heidegger bliebe, so betont Derrida, nämlich unbestimmt, – »was Rede ist und was Bild und inwiefern Sprache in Bildern spricht, ob sie überhaupt spricht?«.49 In dieser fundamentalen, (un-, bzw. quasi-)metaphorischen Unbestimmtheit, dieser grundlegenden Beunruhigung der metaphorischen Bewegung liege möglicherweise etwas Wesentliches: »Erst wenn man das sichere Verständnis dessen aufgibt, was man unter dem Namen der Metapher und der Nachbarschaft wiederzuerkennen meint, kann man sich vielleicht der Nähe der Nachbarschaft nähern.«50 Es geht an dieser Stelle, mit dem nachbarschaftlichen Zug nicht ausschließlich um die Beziehung zwischen Wortfamilien einer Sprache, es geht zugleich auch um die Frage der nachbarschaftlichen Beziehung zwischen dem Denken Derridas und Heideggers – von dieser Warte aus, haben wir es mindestens mit zwei Sprachen (mit und gegen Heidegger gesprochen: mit zwei – möglicherweise benachbarten –»Häusern des Seins«, inklusive der komplexen Differenz zwischen sog. »Mutter-« und »Fremd-Sprache«) zu tun. Während es in Heideggers Nachdenken über die Nachbarschaft noch primär und explizit bei der Frage einer Beziehung von Dichten und Denken (in- bzw. innerhalb einer Sprache, innerhalb des Deutschen) bleibt, parallelisiert, durch46 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 226. 47 | Ebd. S. 225. 48 | Ebd. 49 | Ebd. 50 | Ebd.

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹

kreuzt und erweitert Derrida dieses mit Blick auch auf die nachbarschaftlichen Beziehungen der Bewegungen Ziehen und Reißen (die bei Heideggers eher implizit, latent vorgezeichnet sind): Heideggers Text, der nach meiner Kenntnis die Kreuzung von Ziehen* und Reißen* zum ersten mal geheißen* hat, ist der Ursprung des Kunstwerks [sic!]; und zwar meine ich jene Stelle, wo gesagt wird: »Die Wahrheit ist die Un-wahrheit«*.51

Die (widersprüchliche) Beziehung zwischen Ziehen und Reißen, Zug und Riss, beschäftigt Derrida dabei schon seit geraumer Zeit aus einer Perspektive von Bildlichkeit und Malerei52 – hier nun setzt Derrida an, diese Beziehung aus dem Zwischenraum zweier Sprachen, aus der Beziehung zweier unterschiedlicher Sprachen weiter zu ergründen, zu durchkreuzen, diese Überkreuzung zu übersetzen, sie mit seinem Begriff »trait« bzw. »retrait« oder deutsch »Zug/Entzug« zu unterstreichen, durchzustreichen, zu beschneiden und zu verkomplizieren: Auch hier müssen wir performieren, aufreißen, traktieren, verfolgen, nicht dieses oder jenes, sondern das Ergreifen selbst der Kreuzung zweier Sprachen, das zugleich gewaltsame und treue, passive und unberührt lassende Ergreifen der Kreuzung, die Reißen* und Ziehen* verbindet und bereits in der sogenannten deutschen Sprache übersetzt. Dieses Ergreifen betrifft das, was ergreift, selbst, übersetzt es in das andere, da ›retrait‹ (Entzug/doppelter Zug) im gewöhnlichen Gebrauch des Französischen niemals ›re-tracement‹ (Zeichnen eines doppelten Zuges) gemeint hat.53

Wir sind mit dieser Passage, durch die Frage der Übersetzung, Derridas Methode des Entzuges nun bei dessen Dekonstruktion des ›Heidegger’schen‹ Riss-Begriffs angelangt. Derrida betrachtet dabei Riss und Reißen, wie den Zug und das Ziehen prinzipiell aus einer (›seiner‹) ökonomischen Perspektive der Nachbarschaft, eines Zueinander-Hingezogen-Seins, einer prinzipiellen Bezogenheit, der Beziehung, eines Zulassens von Nähe, einer Aufgabe als Hingabe, aus Perspektive Derridas möglicherweise fast einer Selbst-Aufgabe – und damit, dadurch, paradoxerweise, 51 | Ebd. S. 231. 52 | Wie Gernot Wisser ausführt: »Durch das ganze Werk Die Wahrheit in der Malerei zieht sich das Spiel mit der Mehrdeutigkeit des französischen ›trait‹. Der Begriff erscheint zunächst als ›Zug‹ (von ziehen), doch kommt Derrida bald auf Heideggers ›Riß‹. […]Derrida bewegt sich in seinem Werk daraufhin, tirer und trait im Riß zu kreuzen, er kommt jedoch nie dazu.« – Dieser Schluss Wissers muss, wie wir sehen werden, revidiert werden. Vgl. Wisser, Gernot: Freiheit zur Genese: Neuer Blick auf mögliche Beziehungen zwischen den Welten der Kunst und der Religion. Berlin, Hamburg, Münster: LIT, 2000. 53 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 231.

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vollzieht er zugleich sprachlich-performativ die Betonung einer klaren Abgrenzung. Von dieser Warte, an dieser philosophisch extrem verdichteten Stelle, von diesem fundamental unbestimmten Ort scheinen die Positionen und Differenzen zwischen Derrida und Heidegger beinahe zu kollabieren: Der Zug, der Nähe stiftet, der nähernde Zug, der eigentliche Zug, der Dichten* (das man nicht vorschnell und unvorsichtig mit Poesie übersetzen darf ) und Denken in ihrer nachbarlichen Nähe aufeinander bezieht, der sie teilt und den beide teilen, dieser gemeinsame differenteille Zug, der die gegenseitig anzieht und dabei zugleich ihre irreduktible Differenz anzeigt, dieser Zug ist der Riß*, das bahnende Einzeichnen, das einschneidet, aufreißt, den Unterschied, die Grenze, den Rand, das Mal markiert (Heidegger spricht einmal von der ›mark‹*, also der Grenze*, dem Grenzland*). Dieser Riß ist ein Schnitt, ein Sich-Schneiden der beiden Nachbarn – Denken und Dichten* – im Unendlichen. Im Einschnitt des Schnittes, so könnte man sagen, öffnen sie sich einander, die öffnen sich aus ihrer Differenz, ja – um ein Wort zu benutzen, dessen Gebrauch ich an anderer Stelle geregelt habe –, sie beschneiden und bedecken sich mit ihrem jeweiligen Zug, mit ihrem doppelten Zug und aus ihrem Entzug (se recoupent de leur trait et donc de leur retrait respectif ). Dieser Riß des Beschneidens und des Bedeckens (›trait de recoupe‹) bezieht das eine auf das andere, gehört aber zu keinem von beiden. Deshalb ist er kein gemeinsamer Zug, kein allgemeiner Begriff, ebensowenig eine Metapher.54

Es ist ein komplexes, vieldeutiges (un-)ökonomisches Beziehunggeflecht, dass Derrida anhand von Heideggers Nachbarschaften zwischen Denken und Dichten sowie Ziehen und Reißen entfaltet, in dem Derrida nun immer stärker auf die entscheidende Rolle der Rissfigur (im Deutschen, bei Heidegger) hinweist: ›Diese Zeichnung ist der Riß*‹, sagt Heidegger. Er reißt auf und ermöglicht, daß Dichten und Denken* sich einander nähern. Zueinander in die Nähe ziehen beide nicht von einem anderen Ort aus, wo sie schon selbst sind und von dem aus sie sich dann anziehen lassen. Die Nähe, die In-die-Nähe-Ziehen ist das Ereignis*, das Dichten und Denken* in das Eigene ihres Wesens verweist.55

Bewegt sich bereits der Heidegger’sche Begriff der Zeichnung in gewisser Nähe zur Derrida’schen »Signatur«, so betont Derrida mit dem Riss als performatives, un-ökonomisches Ereignis (und Ereignen) neben der Nähe der beiden Positionen, zugleich die Möglichkeiten des Abstandes, des Markierung einer Grenze, sowie

54 | Ebd. S. 226f. 55 | Ebd. S. 228.

7. Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹

des Ent-Zuges, des Rückzuges, der Differenzbildung (und explizit auch die Nähe zu seinen Konzepten von Spur und différance): Der Riß des Aufrisses zeigt also Ereignis* als Eignen, als Ereignis des Eignens an. Er geht nicht den beiden Eigenen, die er ihrem Eigentum vereignet, voraus, denn ohne sie wäre er nichts. In diesem Sinn ist er – im Verhältnis zu dem von ihm Gebundenen und Geschnittenen – keine autonome, ursprüngliche, eigentliche oder eigene Instanz. Da dieser Riß, dieser Zug nichts ist, erscheint er nicht selbst; er hat keine eigene und unabhängige Phänonemalität; er entzieht sich, er ist aufgrund seiner Struktur entzogen, im Entzug, als Unterschied, Abstand, Öffnung, Differentialität, Spur, Rand, Grenze, Ziehen (›traction‹), Ein-bruch usw. Weil er sich entzieht, ist der Zug apriori Entzug, Nicht-Erscheinen, Verschwinden, Löschen seiner Markierung in seinem Aufriß. Seine Einschreibung kommt nur an, indem sie verschwindet, sich auslöscht – was auch, wie ich deutlich zu machen versucht habe, von der Spur und der ›différance‹ gilt.56

Mit der Beziehung zwischen Heidegger und Derrida ist so (zumindest aus Perspektive Derridas) von vornherein stets auch die Frage der Übersetzung und grundlegender (Un-)Übersetzbarkeit aufgerufen, sie bestimmt den Austausch57 zwischen ihnen, trägt zu einer Art ›Verdopplung‹ der Begriffe bei und zum Auftreten eines ›Spiels‹, im Sinne eines Zwischenraumes, Restes, eines kontingenten Momentes zwischen den/in ihren Diskursen – aber auch als eine Art der Dopplung, einer Wiederholung, die stets aus einer Bewegung der Übertragung bzw. Übersetzung (aber auch des Nachträglichen, der Verspätung) als einem aktiven Akt der Aneignung, der als traktierender, performierender (und performativer) Gewaltakt des Entzuges und der Differenzbildung zu denken wäre. Sprache ereignet sich Derrida zufolge nicht ohne Weiteres auf einem ›freien, eigenen Feld‹, sondern sie geschieht in ›ergreifender‹ und aneignender Weise innerhalb sprachlicher und philosophischer Nachbarschaften und Auseinandersetzungen, in der Nähe eines Denken des Anderen, in Bewegungen des Aufeinander-Zu und der Abgrenzung, in der Bearbeitung, im Traktieren, in den Mißinterpretationen und Zwischenräumen der verschiedenen Sprachen, innerhalb der Sprache des jeweils anderen, trotz und wegen der bestehenden, geheimen Absprachen. In dieser Übersetzung oder Übertragung ereignet sich das Andere der Sprache und des Sprechens, findet man zur Sprache des Anderen, der ›eigenen‹ Sprache des Anderen und dadurch möglicherweise: zur eigenen und eigensten Sprache – trotz und wegen aller Mißverständnisse.

56 | Ebd. S. 228f. 57 | Vgl. zur Frage des Austausches auch den Abschnitt »Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen (Derridas Vom Geist)« im vorliegenden Band, S. 177ff.

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Die Stelle, an der Ziehen und Reißen, Riss und Zug, trait und retrait des Risses schließlich aufeinandertreffen, sich quasi überschneiden, bleibt somit eine zutiefst widersprüchliche, vieldeutige Stelle, die zugleich einen Ort der Entzweiung darstellt, des Zwists, des Streits, des »verstehenden Ergreifens«, der Übersetzung (und zugleich des ver-einten Widerspruchs) und damit einer un/ möglichen Verständigung in und zwischen zwei unterschiedlichen Sprachen, über die Barriere, die geteilte Wand zwischen Ihnen hinweg, bzw. durch sie hindurch. In der Rückübertragung bedeutet dies für Derrida, dass diese Bewegungen, diese Akte der Gewalt nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern bereits innerhalb einer Sprache grundlegend aktiv, d.h. performativ am Werke sind: Um dieses verstehende Ergreifen und dieses Traktieren oder diese Transaktion mit der Sprache des anderen aufzugreifen, werde ich, nun zum Ende kommen, folgendes sagen: das Traktieren ist wirksam, werkbildend (›fait œvre‹), es ist schon in der Sprache des anderem am Werk, ich würde behaupten: in den Sprachen des anderen. Denn in der Sprache gibt es stets mehr als eine Sprache.58

Wenn Derrida in diesen Prozessen des Traktierens, dessen widersprüchlichen Bewegungen etwas Werkbildendes – mehr noch: das Werkbildende, quasi als eine Spur des Performativen erkennt, bleibt zu fragen, inwieweit er sich zugleich, konkret auch auf ein anderes, nämlich das Werkbildende in Heideggers Kunstwerkaufsatz bezieht, bzw. ob er sich mit diesem Verständnis möglicherweise, latent davon abgrenzt. Sehen wir uns daher nun im Folgenden detailliert an, auf welche konkrete Weise Heidegger im »Ursprung des Kunstwerkes« auf den Riss zu sprechen kommt, bzw. die Figur des Risses zur Sprache bringt.

58 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 231.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)

In Heideggers philosophisch-ästhetischen Überlegungen »Der Ursprung des Kunstwerkes«1 (1935/36), die nun im Vordergrund stehen sollen, taucht der Begriff des Risses erst an fortgeschrittener Stelle auf und zwar eher unvermittelt und überraschend – wenig scheint (zunächst) im Vorfeld darauf hinzudeuten. ­Heidegger entwirft hier einen ästhetischen Ansatz, der an sein ontisch-ontologisches Denken anknüpft, welches er vor allem im seinem Hauptwerk, Sein und Zeit entwickelt hatte. Peter Trawny fasst die darin enthaltenen Grundzüge Heideggers philosophischen Ansatzes wie folgt zusammen: Das Leben ist, wenn alle biologischen oder biologieanalogen Interpretationen dieses Begriffs ausgeblendet werden, ein Sein. Diesen Grundansatz des Denkens übernimmt Heidegger von Platon und Aristoteles. Doch in seinem bis heute einflussreichen Buch Sein und Zeit macht er deutlich, dass zwischen dem praktisch-technisch in einer Welt existierenden Menschen und dem Sein selbst ein Unterschied besteht. Die Dinge, mit denen wir täglich umgehen, und wir selbst sind nicht schon das Sein, sondern wir befinden uns in einem Bezug zum Sein. Gemäß diesem Bezug sind die Dinge und die Menschen Seiendes. Da der Mensch ein besonderes Seiendes ist, wird er als Dasein bezeichnet.2

Im ›Ursprung-Aufsatz‹ folgt Heidegger diesem Pfad des ontisch-ontologischen Differenzgeschehens zwischen Sein und Seiendem nun mit Blick auf die Frage nach künstlerischen Prozessen. Wesen, Ursprung und Herkunft des künstlerischen Entstehens, sei Heidegger zufolge als Streit, als Zwist zu begreifen und in diesem Sinne werkbildend wirksam. Heideggers ästhetischer Ansatz grenzt sich damit deutlich von einem repräsentativen bzw. mimetischen Kunstverständnis ab:

1 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. 2 | Trawny: Martin Heidegger. S. 48.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache Heidegger’s essay rejects a view of art so deeply rooted that it is often passed over as self-evident: namely that the artwork is to be understood under the category of representation, or imitation (mimesis), as when we say that a play or a novel ›re-presents‹ or ›mirrors‹ a particular society or that it expresses or stands for the opinions or emotions of its author.3

Hierbei fällt ins Auge, dass Heideggers Ansatz zugleich eine Instanz des Betrachtens kategorisch ausblendet, wie bereits Andrea Kern bemerkt: Mit Blick auf die Geschichte der Ästhetik knüpft Heidegger mit dieser Bestimmung des Kunstwerks an die von Hegel ausgehende Tradition der Werkästhetik an. Der Grundbegriff dieser Ästhetik ist der Begriff des Werks und nicht, wie die von Kant und Nietzsche ausgehende Tradition einer Erfahrungsästhetik behauptet, der Begriff der ästhetischen Erfahrung.4

Das sich somit quasi ›unbeobachtet‹ ereignende Ursprungsgeschehen, welches innerhalb der Kunst am Werk sei, erscheint bei Heidegger als ein von vornherein geteilter Prozess: Aus einer wechselseitigen Hervorbringung von Kunst, Kunstschaffenden und Werk entfaltet sich im weiteren Verlauf seiner Ausführungen ein komplexes wie zugleich in sich geschlossenes Beziehungsgeflecht: »Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere.«5 Innerhalb dieses latent hermetischen Geschehens6 unterscheidet Heidegger (analog zur ontisch-ontologischen Differenz) dabei grundsätzlich eine Ding- bzw. Zeughaftigkeit von Vorhandenem und Dienlichem einerseits vom Werkcharakter der Kunst andererseits, welchen er an einen Begriff der Wahrheit bzw. des Wahrheitsgeschehens koppelt. Konkret bezieht sich Heidegger mit seinem Werkbegriff dabei zunächst vor allem auf den Bereich der bildenden Kunst (später auch der Dichtung): Kunstwerke sind jedermann bekannt. Bau- und Bildwerke findet man auf öffentlichen Plätzen, in den Kirchen und in den Wohnhäusern angebracht. In den Sammlungen und Ausstellungen sind Kunstwerke der verschiedensten Zeitalter und Völker untergebracht.7

3 | Clark, Timothy: Martin Heidegger. London u.a.: Routledge, 2011. S. 45. 4 | Kern: »›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit«. S. 164. 5 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 1. 6 | Heidegger schränkt bzw. ergänzt: »Künstler und Werk sind je in sich und in ihrem Wechselbezug durch ein Drittes, welches das erste ist, durch jenes nämlich, von woher Künstler und Kunstwerk ihren Namen haben, durch die Kunst«, ebd. 7 | Ebd. S. 3.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur

Wenn er kurz darauf hinzufügt: »Alle Werke haben dieses Dinghafte«8, wird deutlich, das sich seine Kunstauffassung neben Lyrik primär an gegenständlichen Formen von Kunst festmacht, d.h. insbesondere an bildender Kunst (man denke z.B. an die van Gogh’schen Schuhe)9, oder Architektur (bezeichnendes Sinnbild wird hier seine exemplarische Anführung griechischer Tempelbauten10). Performative Darstellungsformen, Musik, geschweige denn Abstrakte oder avantgardistische Formen von Kunst spielen im ästhetischen Ursprungsdenken, der konservativen Kunstauffassung Heideggers entsprechend, keine Rolle. Wie der weitere Verlauf der Heidegger’schen Argumentation zeigt, werden Heideggers ästhetische Überlegungen jedoch zentral von einem dynamischen, und, wie ich argumentieren möchte, performativen sowie zugleich latent theatral geprägten Prozess- und Ereignisdenken her bestimmt, welches in Gestalt eines grundlegenden, (all-)umfassenden »Streit-Geschehens« zum Tragen kommt. Obwohl, – bzw. gerade weil – Heidegger in der Vorstellung seines künstlerischen Ursprunggeschehens von einer bestimmten Nähe zu grundlegend theatralen Prinzipien ausgeht (quasi einer Nachbarschaft), wird aus heutiger, kunst- und besonders theaterwissenschaftlicher Perspektive dabei einerseits sein WerkBegriff problematisch.11 Vor allem wird dabei aber die (latent, unterschwellig) ausgeklammerte Figur des Betrachtenden zu einem fundamentalen Problem. Als schmerzliche Leerstelle und wachsendes Paradoxon findet diese Abwesenheit von Zuschauenden/Betrachtenden ihren figuralen Ausdruck (quasi eine*n Doppelgänger*in) in dem marginalen, randständigen Begriff des Risses. Eine vorläufige These könnte daher lauten: Die Figur des Risses konfiguriert innerhalb des ästhetischen Entwurfs Heideggers die betrachtungslose Dynamik eines latent theatralen Geschehens ästhetischen Werdens. Anders formuliert: Heideggers ästhe8 | Ebd. 9 | Zum ›Streit‹ über die von Van Gogh gemalten Schuhe zwischen Martin Heidegger, Meyer Shapiro und Jacques Derrida vgl. u.a. Wetzel, Michael: Die Wahrheit nach der Malerei. München: Fink, 1997. S. 149ff. Sowie Alloa, Emmanuel: »Restitutionen«, in: Espinet, David und Keiling, Tobias (Hg.): Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«: ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main: Klostermann, 2011. S. 251-265. Hier: S. 261ff. 10 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 22. Sowie ebd. S. 27ff. 11 | »Da Aufführungen aus der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern hervorgehen, lassen sie sich angemessen nicht als Werke begreifen, sondern viel mehr als Ereignisse. Wenn der autopoietische Prozess, in dem eine Aufführung sich selbst erzeugt, vollzogen ist, liegt nicht die Aufführungen als sein Resultat vor, das sich als Werk bezeichnen ließe. Vielmehr ist damit die Aufführung vollzogen«. Fischer-Lichte, Erika: »Die verwandelnde Kraft der Aufführung«, in: Fischer-Lichte, Erika; Czirak, Adam; Jost, Torsten; Richarz, Frank und Tecklenburg, Nina (Hg.): Die Aufführung. Diskurs - Macht - Analyse, München: Fink, 2012b. S. 11-26. Hier: S. 14f.

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tisches Werk- und Ursprungsdenken begreift Materialität und Gegenständlichkeit als Ereignishaftes, d.h. als etwas dynamisch In-sich-Gegeneinander-Stehendes, »das Gegenwendige«12 bzw. die »Gegenwendigkeit«13 eines intimen wie umfassenden Streitgeschehens von Tendenzen des Sich-Zeigens und Verbergens. Innerhalb dieser Prozesse des Ver- und Enthüllens, welche in ihrem Kern die dynamische Figur des Risses in sich bergen, aufnehmen und einfalten – bleibt trotz ihrer latent theatralen Grundierung eine Instanz der Betrachtung wesentlich ausklammert. Heideggers Riss-Denken wäre somit innerhalb seines proklamierten Werk-, bzw. Wahrheitsansatzes von Beginn an als ambivalentes, mehrdeutiges, widersprüchliches Geschehen zu verstehen, welches sich innerhalb bzw. zwischen den komplex verwobenen und jedoch fundamental differenten Ordnungen, »Welt« und »Erde« ereignet. »Welt und Erde sind wesenhaft von einander verschieden und doch niemals getrennt«14, erläutert Heidegger ihre »differentielle Einheit« (Espinet)15 und fügt kurz darauf hinzu: »Das Gegeneinander von Welt und Erde ist ein Streit.«16Anhand des so entworfenen Streit-Szenarios bestimmt Heidegger schließlich eine Dimension der »Wirklichkeit des Werks« als ein »Geschehen der Wahrheit«17 – innerhalb dieses als »Urstreit«18 bezeichneten Geschehens wird sich schließlich dann auch der Begriff des Risses einnisten und von dieser Stelle ausgehend, sich kurzzeitig und zugleich wuchernd, beinahe explosionsartig ausbreiten.19

12 | Vgl. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 42. 13 | Ebd. S. 57. 14 | Ebd. S. 35. 15 | Espinet, David: »Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde«, in: Espinet, David und Keiling, Tobias (Hg.): Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«: ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main: Klostermann, 2011. S. 46-65. Hier: S. 47. 16 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 35. 17 | »Die Wirklichkeit des Werkes bestimmte sich aus dem, was im Werk am Werk ist, aus dem Geschehen der Wahrheit«. Ebd. S. 45. 18 | Ebd. S. 42. 19 | Diese »Streit-Figuration«, d.h. insbesondere die darin enthaltene Figur des Risses, soll im zweiten Teil dieser Arbeit besonders für die Auseinandersetzung mit künstlerischen Darstellungsformen zwischen visuellen und performativen Künsten in dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden, obwohl (oder gerade: weil) ein Nachdenken über Formen minimalistischer oder performativer Künste vordergründig schwer vereinbar mit den Heidegger’schen Kategorien einer »Werk-«, bzw. »Wahrheitsästhetik« zu sein scheint. Zur Abgrenzung von Werk- bzw. Wahrheitsästhetik und Erfahrungsästhetik, vgl. u.a. Kern: »›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit«. S. 164.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur

Als eine »philosophische Sensation« beschreibt noch Hans-Georg Gadamer in seiner kurzen Einführung zum Ursprung des Kunstwerkes rückblickend die neu eingeführte Begrifflichkeit. Während er »Welt« als wohlbekannten hermeneutischen Leit-Begriff einordnet und diesen im »neutestamentlichen anthropologischen Sinn«20 versteht, sei die eigentliche Überraschung im Begriff der Erde als dessen Gegenbegriff zu sehen: »...wie ein mythischer und gnostischer Urlaut, der höchstens in der Welt der Dichtung Heimatrecht haben mochte«.21 Gadamer macht für die Einführung des Erde-Begriffs maßgeblich den Einfluss der Hölderlinschen Dichtung verantwortlich. Ob auch der Riss-Begriff in diesem Sinne zu der »überraschend neue[n] Begrifflichkeit« hinzuzurechnen sei oder nicht, bleibt jedoch unerwähnt – Gadamer schenkt ihm in seiner kurzen Einführung keine weitere Beachtung. Wäre so gesehen auch der Riss als ein »mythischer und gnostischer Urlaut« zu betrachten, der aus der Welt der Poesie stammt, der sein »Heimatrecht« in der Welt der Dichtung beansprucht? Im Folgenden soll nun dezidiert untersucht werden, wie der Riss bei Heidegger in seiner Betrachtung künstlerisch-ästhetischer Hervorbringung ins Spiel gebracht wird, welcher Zusammenhang zwischen Riss und dem eingeführten Streit-Begriff besteht und wie sich diese wiederum zu den scheinbar jeweils all-umfassenden, jedoch grundverschiedenen Prinzipen von Welt und Erde verhalten, die sich laut Heidegger im Widerstreit befinden. Wie entsteht daraus sein spezifischer ästhetischer Ansatz und welche Beziehung besteht zwischen der Rissfigur und Heideggers ontisch-ontologischen Differenzdenken?

Erster ›Auftritt‹ der Riss-Figur Die erste Stelle, an welcher die Figur des Risses im Ursprung-Aufsatz erstmalig auftaucht, liest sich im Kontext ihres vorausgehenden Absatzes, wie folgt: Indem aber eine Welt sich öffnet, kommt die Erde zum Ragen. Sie zeigt sich als das alles Tragende, als das in sein Gesetz Geborgene und ständig Sichverschließende. Welt verlangt ihre Entschiedenheit und ihr Maß und läßt das Seiende in das Offene ihrer Bahnen gelangen. Erde trachtet, tragend-aufragend sich verschlossen zu halten und alles ihrem Gesetz anzuvertrauen. Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit der Streitenden.22

20 | Gadamer, Hans-Georg: »Zur Einführung«, in: Heidegger, Martin (Hg.): Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Reclam, 1960. S. 93-114. Hier: S. 98. 21 | Ebd. S. 99. 22 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51.

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Vergleichen wir zunächst drei recht unterschiedliche Interpretationen der Heidegger’schen Riss-Einführung. Der ehemalige Heidegger-Student Willem van Reijen interpretiert die Figur des Risses im Kontext des Kunstwerk-Aufsatzes wie folgt: Es geht, wie Heidegger plastisch sagt, ein Riß durch die Innigkeit von Welt und Erde. Der Ausdruck »Riß« gibt Anlaß dazu, das Verhältnis von Welt und Erde mit allen entsprechenden Wortvarianten, wie Umriß, Grundriß, Aufriß und Durch- riß zu umschreiben. Wie auch immer man dies bewerten mag, die Rede vom Riß ist auf jeden Fall insofern glücklich, als er das »Zugleich« von ursprünglicher (nicht zeitlich gemeint [sic!]) Einheit und Zerstörung dieser Einheit anspricht. Das Kunstwerk kann zumeist als Versuch der Zerstörung traditioneller Rezeptionsmuster gesehen werden. […] Das Kunstwerk kann so angemessen als Riß gedacht werden. Wenn »Wahrheit«, wie Heidegger zeigt, parallel dazu als Riß vernommen werden kann, dann ist damit die Beziehung von Wahrheit und Kunstwerk, im oben angezeigten Sinn, angemessen gedacht. 23

Während van Reijen das ambivalente Verhältnis von ursprünglicher Einheit und ihrer gleichzeitigen Auflösung aus materiell-phänomenaler Sicht von Rissphänomenen nachvollziehbar erscheint, wird dieses, wie es heißt »plastische«24 Verständnis bei ihm nicht konsequent weitergedacht. Daher greift die Übertragung auf das allgemeine Aufbrechen von Rezeptionsmustern argumentativ auch zu kurz, zumal Heideggers Ästhetik einerseits ja gerade keine Rezeptionsästhetik darstellt und zum anderen unklar bleibt, wie und in welchen Zusammenhängen sich ein solches Aufbrechen ereignet, mit anderen Worten, in welcher Weise es als Ereignis, oder besser: als ein Ereignen, d.h. als Geschehen zu konzeptualisieren wäre. Die Figur des Risses dient Heidegger ja gerade nicht dazu, das Verhältnis von Welt und Erde zu (er)klären, sondern im Gegenteil, es werden durch dieses weitere grundsätzliche Fragen erst aufgeworfen. Wie in einem Zirkelschluss kulminieren in dieser Lesart der Figur des Risses gewissermaßen die ›ursprünglichen‹ Widersprüche des Heidegger’schen Verständnis vom Ursprünglichen – und schreiben sich in ihr fort. Michael Wetzel konstatiert demgegenüber innerhalb der Heidegger’schen Überlegungen zum Ursprung des Kunstwerks und dem in ihm wirksamen Streit zwischen Welt und Erde zudem ein Moment grundlegender Verweigerung oder Verzögerung, d.h. einer Aufschiebung »zwischen symbolischer Ordnung und allegorischer Indirektheit«.25 Er erläutert Heideggers Überlegungen daher wie folgt: 23 | Reijen, Willem: Der Schwarzwald und Paris: Heidegger und Benjamin. München: Fink, 1998. S. 171f. 24 | Ebd. 25 | Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei. S. 151.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur Im Phänomen reißt etwas auf, das die Geschlossenheit des Wahrheitsgeschehens gerade wieder aus den Fugen bringt, und zwar in einem von Heidegger affirmierten Sinne einer ›Offenheit des Seienden‹, einem Entwerfen des Sinns im Ursprung der Kunst als Entspringen.26

Trotz dieses Entspringens bleibe Heidegger jedoch »im Bereich der bildenden Kunst dem monolithischen Block des Erscheinens als Werk verpflichtet, ohne der von ihm selbst im Riß angelegten Serialität des Lichtens Rechnung zu tragen«.27 Noch in der Nähe von Wetzels Interpretation, insbesondere in Bezug auf dessen Betonung von Verzögerung und Aufschiebung, bewegt sich zunächst auch Gottfried Boehms Interpretation der Heidegger’schen Riss-Figur, welche dieser in Richtung einer »Analyse der Temporalität der Werkes« versteht, die »das zentrale Bemühen des Kunstwerkaufsatzes«28 darstelle. Dieser Temporalität diene, so Boehm, auch die mit dem Streit verbundene Begrifflichkeit des Risses. Sie spielt einerseits auf »reißen« im Sinne von trennen an, zugleich aber auch auf das Hervortreten einer scharfen Unterscheidungslinie, wie wir es aus dem alten Sprachgebrauch noch kennen, der mit Riß die Zeichnung meint bzw. die Visierung. Riß und Visierung: hieran verdeutlicht sich die starke visuelle Orientierung dieser Kategorie. Heidegger arbeitet mit der Doppeldeutigkeit der Linie, die trennt und verbindet. Ihr Streit ist ein Riß, der ein »auseinander« und ein »zusammen« meint.29

Wie an diesen widersprüchlichen Interpretationen deutlich wird, bleibt die Auslegung und Interpretation der Figur des Risses innerhalb des Heidegger’schen Ästhetik relativ diffus. Während van Reijen die Figur als gelungene Setzung gleichzeitiger Einheit und Zerstörung im Kunstwerk begreift, die eine Parallelität von Kunstwerk und sich darin ereignendes Wahrheitsgeschehen angemessen beschreibt, sieht Wetzel mit Blick auf das Monolithische des Werkkonzeptes das Potenzial der Figur und ihrer weiterführenden Implikationen bei Heidegger selbst nicht als ausgeschöpft an. Boehm hingegen begreift unter dem Aspekt von Temporalität die Rissfigur als Beleg für die visuelle Orientierung Heideggers, und greift vielleicht am deutlichsten die (bi-)laterale Verfasstheit von Rissfiguren im

26 | Ebd. 27 | Ebd. S. 151f. 28 | Boehm, Gottfried: »Im Horizont der Zeit«, in: Biemel, Walter (Hg.): Kunst und Technik: Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt am Main: Klostermann, 1989. S. 255-285. Hier: S. 267. 29 | Ebd. S. 269.

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Sinne einer dynamischen Konfiguration auf, welche er als trennend-verbindende Linie konzeptuell greift. Während von den angeführten Autoren in Bezug auf Rissfiguren im Verhältnis zu Kunstwerk und Wahrheitsgeschehen so Aspekte von Serialität, Rezeptionsmustern, Visualität/Visierung, Temporalität und Dynamik30 angeschnitten werden, spielen weiterführende Überlegungen zur Materialität, Aspekte von Performativität oder einer latenten Affinität zu theatralen Vorgängen jedoch bei allen Dreien keine weitere Rolle. Ebenso unberührt bleibt hier Heideggers spätere enge Verknüpfung der Rissfigur mit Fragen von Sprache und Sprachlichkeit. Wenn Boehm zufolge die »temporale Interpretation des Werkes« so »auch den Übergang ins Feld der modernen Kunst«31 erlaube, soll nun über den Boehmschen Ansatz hinaus auch nach den theatralen und performativen Implikationen des Ansatzes und Riss-Denkens im Kunstwerkaufsatzes gefragt werden.

Riss und Streit als ›Theatrum Mundi‹ Das Streit-Szenario, in dessen Kontext der Riss-Begriff schließlich bezeichnenderweise ex-negativo auftritt, erscheint bei Heidegger zunächst als ein archaisches, ur-gewaltiges ›theatrum mundi‹: ein ursprüngliches, all-umfassendes Sich-Öffnen und Sich-Verschließen, ein gleichzeitiges Zeigen und Verbergen innerhalb der voneinander unterschiedenen Gesamtheiten Welt und Erde (somit von vornherein ein gedoppeltes/geteiltes ›All‹). Bereits zuvor macht Heidegger deutlich, dass diese beiden ›Parteien‹ Welt und Erde dabei nicht in einfacher Opposition zueinander stehen: »Aber die Welt ist nicht einfach das Offene, was der Lichtung, die Erde nicht einfach das Verschlossene, was der Verbergung entspricht.«32 Stattdessen werden sie im komplexen Geflecht der Heidegger’schen Ausführungen und Wendungen als ein diffuses, tumulthaftes Geschehen von (Sich-)Zeigen und (Sich-)Verbergen eng miteinander verwoben. Dieses Geschehen von wechselseitigem Öffnen und

30 | Eine dem dynamischen Aspekt des Riss-Figur widersprechenden Ansatz vertritt Manuel Schölles, der Heideggers Riss-Figur aus Perspektive von Ernst Jüngers Gestalt-Konzeption liest: »Der Riss stellt gewissermaßen den Komplementärbegriff zum Streit in Hinsicht auf die Dynamik des Wahrheitsgeschehens dar; während es sich nämlich beim Streit um eine Bewegung handelt, welche die Streitenden allererst als solche hervortreten lässt, verweist der Riss auf die festen Grenzen, den Umriss, dieser Bewegung, der die Streitenden einig zusammenhält.« (Schölles, Manuel: »Die Kunst im Werk. Gestalt – Stimmung – Ton«, in: Espinet, David und Keiling, Tobias (Hg.): Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«: ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main: Klostermann, 2011. S. 95-109. Hier: S. 105. 31 | Boehm: »Im Horizont der Zeit«. S. 270. 32 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 54.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur

Verschließen beschreibt Heidegger bereits kurz zuvor – in Anlehnung an ein theatrales Modell, bzw. in Abgrenzung davon: Das Verbergen verbirgt oder verstellt sich selbst. Das sagt: Die offene Stelle inmitten des Seienden, die Lichtung ist niemals eine starre Bühne mit ständig zugezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt.33

»|N]iemals eine starre Bühne mit ständig zugezogenem Vorhang« – mit dieser Formulierung handelt es sich augenscheinlich abermals um keine ›einfache‹ Theatermetapher, sondern um eine tropische Wendung – eine (latent negative) theatral-performative Grundierung der ontisch-ontologischen Differenz: In seinem emphatischen und zugleich spezifizierenden Ausschluss, vollzieht der Satz, was er proklamiert und lässt dadurch gerade fundamental offen, wie genau die Beziehung von Vorhang und Bühne zur Lichtung als einer »offene[n] Stelle inmitten des Seienden« zu verstehen wäre. Heidegger skizziert hier ein quasi-theatrales Szenario, ein eng verwobenes Widerspiel zwischen Zeigen und Verbergen, dessen Bedingungen, dessen Gesetz und Logik zugleich obskur, diffus bleiben. Heidegger zeichnet hier quasi ein unmögliches Bild des Theaters bzw. eine paradoxales Bild des Theatralen: Bezieht sich das ausschließende »ist niemals«34 nun auf die Starrheit, und/oder auf die Bühne selbst und/oder auf den ständig zugezogenen Vorhang? Das gezeichnete latent paradoxale Bild vollzieht performativ, was es proklamiert: es zeigt und verbirgt sich selbst in einem dynamischen Prozess. Formuliert als eine solch mehrdeutige, widersprüchliche Negation, bleibt trotz des expliziten Ausschlusses vom (negierten) Bild der starren, zugezogenen Bühne etwas hängen, dieses paradoxe ›Bühnen-Bild‹ bleibt an der ›Vorstellung‹ vom Spiel des Seienden haften – der vorgestellte, zugezogene Vorhang deutet sein Heben oder Öffnen ein Stückweit an, und dennoch scheint er sprachbildlich in einem unbestimmten Raum zwischen »ständig« und »niemals« zu verharren – quasi in seiner Latenz: Er bildet ein widersprüchliches Durchschimmern des Un/ Sichtbaren, eine latente Sichtbarkeit zwischen Vor-Schau und ihrer Verzögerung, ihrer (ständigen) Verschiebung, ja einen Moment, oder: eine Szene der Latenz selbst. Der Bezugsrahmen theatraler Gegebenheiten, das theatrale Dispositiv, von dem bei Heidegger Darstellende und Zuschauende gleichermaßen ausgeschlossen bleiben, erscheint so paradoxerweise in (doppelt) negativer Form als konstitutiv für das menschenleere »Spiel des Seienden«, zugleich wird dieses durch das Bild (bzw. das Bildhafte, Visuelle, das ›Schaubare‹) des Theaters eher fundamental verkompliziert, als dass es zu einer Veranschaulichung beitragen würde. Ontisch-ontologische Differenz und theatrales Geschehen scheinen sich hier gegenseitig durchkreuzen, durchpflügen, traktieren zu wollen, sie bilden 33 | Ebd. S. 52. 34 | Ebd.

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jedoch keine klar abgegrenzte Schnittfläche und bleiben – wie zwei Seiten einer Rissfigur – auf Abstand. Somit bildet sich bereits im Vorfeld zwischen beiden ein ›gespanntes‹ Verhältnis, ein latenter Streit, ein ›Riss‹. Kurz darauf kommt nun in ähnlicher Weise auch die Figur des Risses selbst ins ›Spiel‹, um bei dieser (widersprüchlichen) Theater-›Metaphorik‹, diesem Theater-›Bild‹ zu bleiben – mit Derrida besteht dabei von vornherein die Frage, ob es sich überhaupt um eine Metapher im »eigentlichen Sinn«35 handelt. Der überraschende ›Auftritt‹ der Riss-Figur, fast schon möchte man von hier einer ›Riss-Geburt‹ sprechen, kommt also keineswegs völlig unvermittelt, nicht aus dem Nichts, sondern hat schon einen Vorläufer, einen Verwandten (oder einen Nachbarn?), ein Vor-Spiel in Gestalt eines etwas anderen, latent paradoxalen, sich in der Sprache ereignenden Bühnen-Geschehens, welches sich scheinbar ohne Darstellende und Zuschauende (in der Krypta des Heidegger’schen Sprachgebäudes) vollzieht, ein de-figuriertes, entkörpertes Spiels von Vorhang und Bühne, das sich als Geschehen selbst entzieht, in die Falten seiner Implikationen. Die Figur des Risses erscheint so zunächst als Figur der Andeutung und des Vagen: »Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden.«36

Exkurs II: Riss und Vorhang Die Beziehung von Riss und Vorhang kann aus Perspektive der vorliegenden Arbeit keine unwesentliche sein: Der Vorhang, als zentrales Element der Rahmung, des ›Zeigens‹ auf den Proszenium-Bühnen des sog. klassischen Theaters, dessen Öffnen und Schließen zugleich den Zeitrahmen des Stückes, der dramatischen Handlung und ihrer möglichen Pausen vorgibt, markiert in der Regel den Unterschied zwischen Aufführung und Nicht-Aufführung. Der Vorhang ist eine Figur des Anfangs. Er bezeichnet die Öffnung einer Szene. Sie wird zum Schauplatz einer Verwandlung […] eine Bühne, auf der sich Bilder der Welt in anderem Gesicht zeigen und neue Ansichten des Selbst. Das Heben und Senken des Vorhangs öffnet und schließt diesen Raum der Verwandlung, bezeichnet Anfang und Ende und Neuanfang – des Theaters, des Subjekts, seiner Ansichten und Einsichtsweisen.37

35 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 218. 36 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. 37 | Brandstetter, Gabriele und Peters, Sibylle: »Ouvertüre«, in: Diess. (Hg.): Szenen des Vorhangs - Schnittflächen der Künste, Freiburg i. Br. u.a.: Rombach, 2008. S. 7-16. Hier: S. 11.

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Der Vorhang, der Anfang und Ende der Theateraufführung markiert, wird zugleich zum Symbol des Theaters, »zur kulturellen Metapher« und damit zur »Figur des Medialen« schlechthin, wie Brandstetter und Peters feststellen.38 In ihrer »Phänomenologie«39 des Vorhangs, findet die Figur des Risses (als doppeldeutiges Moment) – am Rande – durchaus Berücksichtigung: »Das Heben, das Fallen, das Reißen des Vorhangs: Diese Bewegungen sucht dieses Buch vor Augen zu stellen.«40 Figuren des Anfangs, durch diese Eigenschaft sind Riss und Vorhang miteinander verbunden: Im Vorhang wie im Riss ist als ›Figur‹ dabei stets eine latente Bewegung enthalten, die Implikation des Zeigens, des Öffnens, eine Vor-Schau als das Versprechen einer kommenden An-Schau. Riss und Vorhang, beide stellen sich als verbindende Figuren der Teilung dar, wobei, wie Brandstetter dies für den Vorhang ausführt »das Komplexe an dieser Teilungsfigur […] darin besteht, daß Trennen und Verbinden, Verhüllen und Zeigen zugleich und stets miteinander verknüpft geschehen«41. Beide Figuren stehen so, »pars pro toto« für eine Kosmologie der Teilung: »So kommt Welt zustande, durch Teilung und Verwandlung! Und der Vorhang ist der Rahmen dieses Geschehens. Er ist der Teiler selbst, und zugleich auch der Horizont dieses kosmischen Bildes: der Himmel – im Universum des Theaters.«42 38 | Ebd. 39 | Gabriele Brandstetter beschreibt so die ›Vorstellung‹ einer Szene, in welcher der Vorhang Hauptakteur wäre, dabei: »würde der Vorhang, der doch eigentlich die Hülle der von uns erwarteten Inszenierung sein sollte, zeigen, daß die Bühne nun ein leerer Raum ist – und er selbst die Szene: Der Vorhang tritt auf, und zeigt sich als Kleid und als Körper der Performance; Lever de Rideau!«. Ebd. 40 | Ebd. S. 7. 41 | Brandstetter, Gabriele: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, in: Brandstetter, Gabriele und Peters, Sibylle (Hg.): ebd. S. 19-42. Hier: S. 41. 42 | Ebd. Das Eintreten des Risses in den Himmel dieser Kosmologie skizziert derweil Pirandello in Mattia Pascal als wesentliche Verwandlung in der Szene der Theatergeschichte, als er einen Riss im Papierhimmel eines Marionettentheaters imaginiert: »Wenn man genau in entscheidenden Moment wo die Marionette, die Orest darstellt, sich anschickt, an Aegisth und an seiner Mutter den Tod des Vaters zu rächen, in den Papierhimmel des kleinen Theaters ein Loch risse, was würde dann geschehen? […] Noch fühlt Orest den Antrieb zur Rache in sich, er ist dabei, sie mit alles verzehrender Leidenschaft zu vollstrecken, da fällt sein Auge plötzlich auf den Riß, durch den allerlei unheilvolle Strömungen auf die Szene dringen, und er fühlt, wie die Arme kraftlos werden. Kurz: aus Orest wird Hamlet. Der ganze Unterschied zwischen der antiken und der modernen Tragödie […] besteht eben darin: in einem Loch im Papierhimmel.« Pirandello, Luigi und Rismondo, Piero: Mattia Pascal Roman. Berlin: Wagenbach, 2008. S. 167.

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Beide Figuren deuten so auf die Öffnung einer Szene des Potentiellen, eines Schau-Raums, »Raum der Verwandlung« und »Möglichkeitsraum eines Anderswerdens: kurz, einen Raum der Bewegung«43, der als solcher niemals vollständig kontrolliert werden kann. Zugleich haben wir in der Verbindung der beiden Figuren, in ihrer sprachlichen Überschneidung, im Reißen des Vorhangs, wieder unvermeidlich mit einer Doppeldeutigkeit (in der deutschen Sprache) zu tun: kann es sich doch beim Reißen des Vorhangs sowohl um das plötzliche Öffnen, die Bewegung des Vorhangs, bei dem jedoch die Struktur seines Gewebes intakt bleibt als auch die gewalthafte Zerteilung (den Riss) des Stoffes selbst handeln. In beiden Fällen zeigt sich zumeist latent etwas Unvorhergesehenes in der Sprache, sei es unerwartet oder bewußt als solches inszeniert.

Der Tod Jesu / Riss des Tempelvorhangs Ein Nachdenken über die Beziehung von Vorhang und Figuren des Risses kommt aus Perspektive einer sog. ›westlichen‹, oder ›abendländischen‹ Kultur44 – verwiesen wird damit i.d.R. auf eine jüdisch-christliche Tradition und ›Prägung‹, an einer zentralen (und zugleich mehrfach-geteilten) Schlüsselszene der Bibel kaum vorbei.45 Wir finden diese christliche ›Ursprungs-Szene‹ in der Bibel genauer gesagt an drei Stellen, dreifach wiederholt. Bei dem Apostel Markus heißt es diesbezüglich zunächst:

43 | Brandstetter: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«. S. 35. 44 | Eine Kritik an der Einseitigkeit dieser Konzepte und die damit verbundenen problematischen Machtverhältnisse wurde u.a. durch Edward Said und Dipesh Chakrabarty herausgearbeitet, vgl. Said, Edward W.: Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul, 1978. sowie Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: postcolonial thought and historical difference. Princeton u.a.: Princeton Univ. Press, 2000. 45 | Dass Heidegger mit seinem Fokus auf das Griechische als Ursprung westlicher Kultur und Denktradition genau diese christlichen Wurzeln und damit ihre Verbindungen in jüdisch-hebräische Traditionen ausblendet bzw. unterschlägt wurde ausführlich von Marlène Zarader herausgearbeitet: »Now, referring our sojourn in its entirety to just the Greek beginning implies that the biblical component (especially the Old Testament, and therefore the Hebraic one) of Western history may be taken as nonsignifying; that is, that it would not have the status of a beginning. And, in fact, Heidegger almost never refers to it, thereby attesting to the negligible character of what had been held, up until then, to be one ofthe sources of our identity«. Zarader, Marlène: The unthought debt: Heidegger and the Hebraic heritage. Stanford, Calif.: Stanford University Press, 2006. S. 5. Auf diese Unterschlagung Heideggers soll mit Bezug auf den Riss im Tempelvorhang eingegangen werden.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und gab den Geist auf. Und der Vorhang des Tempels zerriß in zwei (Teile) von oben bis unten.46

Matthäus schreibt: Jesus aber schrie wieder mit lauter Stimme und gab den Geist auf. Und siehe: Der Tempelvorhang spaltete sich von oben bis unten in zwei (Teile). Und die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich.47

Demgegenüber Lukas: Als die Sonne sich versagt hatte, riss der Vorhang des Tempels mitten entzwei. Seine Stimme erhebend sprach Jesus mit lauter Stimme: Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist. Nachdem er dies gesagt hatte, hauchte er seinen Geist aus.48

Den Erzählungen der Apostel zufolge, ereignen sich ein letzter Aufschrei Christi, bzw. eine letzte Anrufung Gottes, der Moment des Todes und ein Riss im Vorhang, der die Sicht auf den Tempel verbirgt, beinahe gleichzeitig. Auffällig bleibt, dass keiner der drei Aposteln hierfür einen Deutungsansatz liefert, wie D. Gurtner im Buch The Torn Veil bemerkt: What is remarkable is that although each Synoptic Evangelist records this event, none of them stops to explain it. The lack of explanation on the part of the Evangelists, it seems, has contributed to the great variety of interpretations of this event offered throughout the history of Christendom. Scholars both ancient and modern have addressed the enigmas raised by this text from a variety of methodological perspectives with discouragingly differing, often contradictory conclusions.49

Das sog. ›Aufgeben des Geistes‹ als Chiffre des Todesmomentes und der spektakuläre ›Akt‹ des Vorhang-Reißens ereignen sich dabei also nur quasi als Koinzidenz, sie fallen beinahe in eins, aber dennoch bleiben sie auf mehreren Ebenen signifikant verschoben: Die unterschiedlichen Narrative vermerken jeweils neben der räumlichen Dissoziation zugleich eine temporale Differenz zwischen 46 | Markus 15,37-38, zitiert nach Gnilka, Joachim: Das Evangelium nach Markus. Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn: Neukirchner und Benziger, 1999. S. 310. 47 | Matthäus 27,50-51, zitiert nach Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus. Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn: Benziger und Neukirchener, 2002. S. 330. 48 | Lukas 23,45-46, zit. nach Bovon, François: Das Evangelium nach Lukas. Neukirchen-Vluyn, Düsseldorf: Neukirchener und Patmos, 2009. S. 481. 49 | Gurtner, Daniel M.: The torn veil: Matthew’s exposition of the death of Jesus. Cambridge: Cambridge University Press, 2007. S. 1.

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den Ereignissen. Die leicht divergierenden Erzählungen des Todesmomentes Christi verbinden so zwei eigentlich disparate Geschehnisse an entfernten Orten und stellen so einen narrativ-kausalen Zusammenhang zwischen der Kreuzigung auf dem Berg Golgatha und dem Geschehen im entfernt gelegenen Tempel her, eine innere Verbindung zwischen beiden Ereignissen nach mysthischer Logik. Durch das nahezu gleichzeitige (und dennoch narrativ verschobene) Ereignen von Todesmoment und Zerreißen des Vorhangs laden sich beide Geschehnisse gegenseitig mit noch größerer Bedeutsamkeit auf. Zu den unterschiedlichen Fassungen lassen sich folgende Hinweise finden: Zu Markus, dessen Version als die Frühste der drei gilt, heißt es im ausführlichen Kommentar von Joachim Gnilka, dass diese vermutlich bereits eine Verschmelzung zweier Kreuzigungsberichte darstelle, die um manchen »erzählerischen Zug erweitert«50 worden sei und hinter der man eine »Überarbeitung eines Grundberichtes unter Zuhilfenahme apokalyptischen Gedankengutes«51 vermute. Diese Anleihen bei jüdischen Apokalypse-Szenarien, die als vormarkinische Elemente gelten, bestehen u.a. in dem ausgestoßenen, unartikulierten Aufschrei Jesu vor seinem Dahinscheiden aber auch im Motiv des zerreißenden Tempelvorhanges. In Bezug darauf heißt es bei Gnilka: Das Zerreißen des Tempelvorhangs war insbesondere zwei Interpretationen zugänglich. Die eine begreift es als Ausdruck dafür, daß mit dem Tod Jesu der Tempel und sein Kult seine Bedeutung verloren hat, zu seinem Ende gekommen und der Zerstörung preisgegeben ist […] Weil die Zerstörung des Tempels schon in Vers 29 zu verstehen gegeben war, muß das Zerreißen des Vorhangs etwas Neues einbringen. Dies ist der Gedanke, daß sich Gott im Kreuz seines Sohnes enthüllt und für alle, auch für die Heiden, zugänglich wird.52

Die Erzählung nach Matthäus, wo sich der Riss im Tempelvorhang ebenfalls nach dem Tode Jesu ereignet, scheint z.T. von Markus übernommen zu sein. In seinem ausführlichen Kommentar erkennt Ulrich Luz an dieser Stelle einen sprachlichen Stilwechsel, so dass Todesmoment und die folgenden Ereignisse stilistisch deutlich voneinander getrennt sind. Der heilsgeschichtliche Deutungsansatz des Vorhang-Reißens verbinde nach Luz die Andeutung das Ende des jüdischen Tempelkultes mit antisemitischen Motiven, d.h. eine Auslegung des Vorhang-Risses als »Übergang des Heils von Israel zu den Heiden und – polemisch – um ›Gottes Zorn über das Volk der Juden‹«53 – »Weil das Volk nicht zitterte, bebte die Erde, weil das Volk nicht erschrak, erschraken die Himmel, 50 | Gnilka: Das Evangelium nach Markus. S. 324. 51 | Ebd. 52 | Ebd. S. 323f. 53 | Luz: Das Evangelium nach Matthäus. S. 357.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur

weil das Volk seine Kleider nicht zerriß, zerrissen es die Engel«54, zitiert der Autor Luz eine antijüdischen Polemik des Meliton v. Sardes, einer der ältesten bekannten christlichen Osterpredigten aus dem 2 Jh. n. Chr. Das Zerreißen des Stoffes bringe so Motive aus der jüdischen Tradition des Trauerns und Klagens mit Aspekten von Zorn und Bestrafung in Zusammenhang und wendet das jüdische Motiv, der sog. Kria,55 das Zerreißen der Kleidung als Zeichen der Trauer, das sich bereits in verschiedenen alttestamentarischem Erzählungen finde,56 ins Antisemitische. Nach Luz verbinde sich die heilgeschichtliche Auslegung mit einer »harten Gerichtsankündigung an die Adresse der Juden« – der Tempelvorhang werde zerrissen, »damit die Schande der Juden offenkundig werde; sie werden zur Strafe unter die Völker zerstreut. Der Engel des Tempels verläßt ihn und nimmt den Heiligen Geist mit«.57 Ähnlich wie der Bericht von Matthäus schaffe im Vergleich auch der Evangelist Lukas, so schreibt François Bovon in seinem Kommentar, »den Bericht über dieses Martyrium nicht ganz neu«, sondern knüpfe »wieder an das Markusevangelium an. Er übernehme die erwähnten drei Stunden der Finsternis (V 44 II Mk 15,33), füge aber hier als zweites Zeichen die Episode des zerrissenen Vorhangs ein, die Markus etwas später erzählt (Mk 15,38)«58. Zur Interpretation des Vorhang-Risses heißt es bei Bovon: Zwei verschiedene Ausrichtungen lassen sich unterscheiden: Die eine versteht die Episode als eine Offenbarung und bindet sie an das Thema der Erkenntnis

54 | Zit. nach ebd. S. 359. 55 | Die Kria, oder im Englischen Keriah »is a Hebrew word meaning ›tearing‹. It refers to the act of tearing one’s clothes or cutting a black ribbon worn in one’s clothes. This rending is a striking expression of grief and and anger at the loss of a loved one. Keriah is an ancient tradition. When our Patriarch Jacob believed his son Joseph was dead, he tore his garments (Genesis 37:34).« Cutter, William: The Jewish mourner’s handbook. Springfield, NJ: Behrman House, 1992. S. 22. 56 | Verschiedene alttestamentarische Bibelreferenzen des Kleiderzerreißens als Zeichen der Trauer nennt z.B. Ronald L. Eisenberg: »Keriah is the tearing of a garment as a sign of grief, a traditional Jewish mourning custom based on the actions of several figures in the Bible. […] Although the rending of garments initially may have been simply a manifestation of natural feelings of grief and anger, it also developed as a symbolic substitute for the pagan practice of mutilating one’s flesh upon learning of a relative’ s death, an action that is expressly forbidden in two biblical passages (Lev. 19:28; Deut. 14:1-2)«. Eisenberg, Ronald L. und Jewish Publication Society.: The JPS guide to Jewish traditions. Philadelphia: The Jewish Publication Society, 2004. S. 92. 57 | Luz: Das Evangelium nach Matthäus. S. 258. 58 | Bovon: Das Evangelium nach Lukas. S. 482.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache an. […] Die andere große Interpretationslinie versteht die Episode als einen Riss und verbindet sie mit der Befreiung der Riten. Dieses Geschehen stellt das Zeichen dar, dass die Zeremonie im Tempel aufgehoben ist.59

Gesteigert werde die Dramatik des Todes-Momentes, neben dem Zerreißen des Tempelvorhangs, durch weitere spektakuläre, apokalyptische Erscheinungen, wie die Verdunklung des Himmels am helllichten Tage und das Erschüttern der Erde. Diese apokalyptischen Vorzeichen bringt Bovon mit dem Riss des Vorhangs in unmittelbaren Zusammenhang: »Wie der Tag in zwei Teile zerbrochen ist (drei Stunden später leuchtet das Tageslicht wieder auf), so zerreißt im selben Augenblick der Vorhang des Tempels in Jerusalem. Lukas übernimmt die Angabe von Markus, der hier seine Quelle ist.«60 Es wurde bereits an anderer Stelle, z.B. von Gerhard Klumbies, auf den Schauspielcharakter61 dieses Todes-Szenarios hingewiesen: Sowohl die Kreuzigung selbst stellt sich als eine »dramatische« Inszenierung mit vielen Zuschauenden dar, ein Spektakel, wie auch der aufsehenerregende Riss im Tempelvorhang, der einen freiwerdenden Blick auf das sonst stets Verborgene, das »Allerheiligste« des Tempels verheißt, wobei sich hier die Frage der Beobachtenden jedoch als eine kompliziertere Konstellation herausstellen wird. Ausgehend vom auffälligen Begriff θεωρία, der in der lukinischen Beschreibung der Passionsszene Verwendung findet, geht Paul-Gerhard Klumbies in seiner Untersuchung dezidiert dem Schauspielcharakter der Geschehnisse nach: Der Bedeutung der Szene entsprechend haben nach Lukas große Mengen von Menschen diese Inszenierung miterlebt (V. 48). Zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer sind zu der Aufführung zusammengekommen. Sie haben die θεωρία, das Schauspiel miterlebt.62

Wie Klumbies im Detail ausführt, deutet die »lukanische Inszenierung des Sterbens Jesu, die ausdrücklich und einzig im Neuen Testament auf den terminus technicus ›θεωρία‹ für Schauspiel zurückgreift«, somit insgesamt »auf den Erfahrungshintergrund des hellenistischen Theaters hin«.63 Insbesondere die bewusste Umkehrung der Reihenfolge der Ereignisse des zerreißenden Vorhangs und Todesmoments Christi (und damit auch der biblisch 59 | Ebd. S. 510. 60 | Ebd. S. 489. 61 | Klumbies, Paul-Gerhard: »Das Sterben Jesu als Schauspiel nach Lk 23, 44-49«, in: Biblische Zeitschrift 47 2003. Zugriff unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:d e:hebis:34-2008020420246 am 27. Aug 2016. 62 | Ebd. S. 16. 63 | Ebd. S. 22.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur

bedeutsamen Blickrichtung von West nach Ost) bei Lukas lege eine solche weltlich-theatrale Sichtweise nahe: Bezeichnenderweise reißt hier der Vorhang nicht theologisch bedeutungsvoll von oben nach unten auf, um Himmel und Erde in ein neues Verhältnis zu stellen. Auch wird nicht das Motiv des leichten Spiels des Windes von unten nach oben, wie in Arist 86, aufgenommen. Der lukanische Vorhang geht in der Mitte auf und legt damit eine Bühne frei. Die Darstellung orientiert sich an den Gegebenheiten einer Theatervorstellung, nicht am theologischen Anspruch des Markus. Das Licht geht aus. Der Vorhang wird geöffnet. Die Bühne liegt frei.64

Bereits seit dem 4. Jahrhundert wurde durch Ephräm den Syrer auf die Ambiguität der Ereignisse hingewiesen.65 Insbesondere sorgt die in der Bibel nicht weiter erwähnte historische Tatsache für vielfältige Diskussion, dass es im sog. Zweiten Tempel oder herodianischen Tempel, zwei Vorhänge gegeben hat und somit der eigentliche Ort des Risses als unbestimmt gelten muss: [P]rior to Ephraem and since, scholars have been occupied with interpreting the rending of the veil, regardless of its synoptic context, by a variety of means which often relate to which veil (inner, outer, both or neither) is in view and what the implications of its rending are for the then-present (Herodian) temple.66

Unter Berücksichtigung der Frage, ob der Innere, der Äußere oder beide Vorhänge des Tempel zerrissen sind, stellt sich der vermeintlich freiwerdende Blick auf das Allerheiligste des Tempels als ein widersprüchlicher dar: Wäre der erste, der äußere Vorhang gerissen, hätte der Riss den Blick nicht auf das Allerheiligste, sondern ggf. lediglich auf einen weiteren Vorhang freigegeben; wäre der innere Vorhang gerissen, hätte dieser zwar für den Priester den Blick ins Innerste eröffnet, für das gemeine Volk wäre er vermutlich unbemerkt geblieben.67 Dieses doppelte (Un-) Sichtbarkeitszenario oder auch: Latenz-Szenario zwischen Sichtbar-Werden, und gleichzeitigem Nicht-Sehen-Können erschließt sich jedoch nicht aus der Bibelstelle selbst, sondern ausschließlich in der Exegese – mit entsprechenden Kenntnissen 64 | Ebd. S. 13. Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch der Hinweis auf das Aufkommen des Vordervorhangs im nachantiken, römischen Theater mit der Notwendigkeit zwischen Diesseits und Jenseits zusätzlich auch zwischen Bühnenund Alltagswelt zu differenzieren. Vgl. hierzu auch Achten, Wim J.M. und Hagel, Ute: »Theatervorhang«, in: Brauneck, Manfred (Hg.): Theaterlexikon: Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992. S. 10221024. Hier: S. 1023. 65 | Vgl. Gurtner: The torn veil: Matthew’s exposition of the death of Jesus. S. 2. 66 | Ebd. 67 | Vgl. Ebd.

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der historischen Gegebenheiten. Die daraus resultierende Uneindeutigkeit der Symbolik schreibt sich in der Bibel implizit, latent fort. Je nachdem, ob von einem oder zwei Vorhängen, und ggf. von welchem Vorhang die Interpretationen ausgehen, unterscheiden sich die Auslegungen wesentlich: Wird dem allgemeinen Volk ein direkter Zugang zum Allerheiligsten geschaffen, öffnet sich dieser ein Stückweit oder bleibt dieser in Gänze verwehrt (und bleibt völlig unsichtbar)? Gerhard Klumbies bemerkt zur Frage der beiden Vorhänge: »Die Frage, um welchen der beiden Vorhänge des Tempels es sich gehandelt hat, ist möglicherweise nicht endgültig zu klären«68, ihm zufolge aber sei »eine abschließende Entscheidung für die Deutung des Geschehens auch nicht zwingend notwendig«.69 Gerade diese fundamentale Unentscheidbarkeit wird so jedoch in ihrer grundlegenden Bedeutsamkeit nicht ausreichend berücksichtigt – dabei kann sie durchaus gerade aufgrund ihrer fundamentalen Unentscheidbarkeit, als ein entscheidendes Moment angesehen werden. Interessant scheint in diesem Zusammenhang insbesondere eine altkirchliche, allegorische Deutung der Ereignisse, wie Luz sie zusammenfasst: Der zerrissene Tempelvorhang meint den Vorhang der Schrift, die durch Christus verständlich wird, die Spaltung der Felsen die Propheten, deren geistliche Geheimnisse nun sichtbar werden. Das Erdbeben zielt darauf, daß alle Menschen durch das neue Wort bewegt werden.70

Luz ›eindeutige‹ Interpretation übersieht dabei jedoch, dass die grundlegende Frage, welcher der beiden Vorhänge zerrissen wurde, wiederum gerade nicht von allen diskutiert wird, sondern historisch informierten Exeget*innen vorbehalten bleibt und sich nicht aus dem Text der Bibel selbst ergibt (– die Ablehnung eines solchen elitären Prinzip des Bibel-Auslegung wird Martin Luther schließlich zu seinen Thesen und dies wiederum zur Abspaltung des protestantischen Kirche führen). Bezeichnenderweise, wird in den retrospektiven Auslegungen der Moment der Reißens als jüdisch-apokalyptisches Motiv zum Wende- und Ausgangspunkt für spätere antisemitische Polemiken. Mit Bezug auf Ephraim Syrus fasst Luz dessen Deutungsansatz so zusammen: »Der hl. Geist zerreißt den Vorhang, um durch eine Zeichenhandlung der Schöpfung die Schande der Juden zu offenbaren, und verläßt dann den Tempel.«71 Bovon hingegen merkt zur Frage »Um welchen Vorhang handelt es sich, da es ja deren zwei gab« dessen symbolische Funktion hervor: »Philion und Josephus liefern eine jüdische Interpretation des äußeren 68 | Klumbies: »Sterben Jesu als Schauspiel«. S. 9 Anm. 41. Vgl. auch Bovon: Das Evangelium nach Lukas. S. 482. 69 | Klumbies: »Sterben Jesu als Schauspiel«. S. 9 Anm. 41. 70 | Luz: Das Evangelium nach Matthäus. S. 361. 71 | Ebd. S. 358 Anm. 25.

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur

Vorhanges: Sie hat kosmische Dimensionen. Der Hebräerbrief interpretiert den inneren Vorhang christlich«72 und bemerkt in einer Fußnote: »Die Meinungen bleiben in dieser Beziehung geteilt.«73 Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass die Erzählungen der Aposteln Markus, Matthäus und Lukas die disparaten dramatischen Geschehnisse derart miteinander verflechten, dass der Riss im Tempelvorhang und Todesmoment Christi symbolisch eng aufeinander bezogen sind. Es stellt sich dabei eine Szene der Repräsentation, Teilung und Übertragung in doppelter Richtung dar: im Leib Christi spiegelt sich für einen Moment die Symbolik des sich gewaltsam öffnenden Vorhangs und umgekehrt scheint im Zerreißen des Stoffes eine gewisse leibliche Komponente als verdoppelter Gewaltakt auf. Narrativ findet mit der ›Blick-Verschiebung‹ zum Riss des Tempelvorhanges dabei eine Aneignung der jüdisch-apokalyptisch geprägten Riss-Motivik statt, die von mehreren zentralen Uneindeutigkeiten bestimmt ist: Durch die, in der Bibel unerwähnte, jedoch historische verbürgte Existenz eines doppelten Vorhangs, bleibt die Position des Risses dabei fundamental unverortet – und damit bleibt dessen symbolischer Charakter von vornherein zutiefst zwiespältig. Durch den ›zweideutigen‹ Riss im doppelten und damit zugleich unverorteten Vorhang, geht das Verständlich-Werden der Schrift so gesehen von Beginn an mit einer fundamentalen Unentscheidbarkeit (bedingt durch die unabschließbare, unmögliche Verortung der Risses) zwischen einer diegetischen Moment der Erzählung und einer exegetischen, übergeordneten Ebene einher. Der Todesmoment Christi und das zeitlich wie räumlich verschobene Zerreißen des Tempelvorhangs markiert so verschiedene Umschlagsmomente, von jüdischer Erzähltradition zu antijüdischen Ressentiments, aber auch einen nicht genau zu bestimmenden Punkt, an dem historische Berichte zu christlichem Mythos umgeprägt werden. Das Narrativ der christlichen Ursprungsszene enthält so eine doppelte Bewegung der An- und Enteignung, dessen mythologische Ausdeutung durch die historische Unklarheit der Bestimmung des (exakten) Vorhangs eingeschränkt und durch diese entscheidend mitgeprägt wird. So, wie die Position des Risses im Vorhang mehrfach offen bleibt, ist dementsprechend auch die gegenseitige symbolische Aufladung in Zusammenhang mit dem physischen Leiden und den inneren Konflikt Christi uneindeutig: Dessen sprichwörtliche »innere Zerrissenheit«, die tiefen Glaubenszweifel in seiner Klage über seine Gottesverlassenheit im Moment des Todes scheint ihren Nachhall und zugleich ihre Bestätigung in der Zerrissenheit des Vorhangs als Wirken Gottes an einem anderen Ort, an einem Nebenschauplatz zu finden. Dieses vermeintliche Einwirken Gottes, sein Herablassen auf die Ebene des unmittelbar Stofflichen,

72 | Bovon: Das Evangelium nach Lukas. S. 490 Anm. 40. 73 | Ebd. S. 490.

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der Materialität, bleibt wie die Unverortbarkeit des Risses selbst unbestimmt: symbolisiert es den Zorn Gottes, Befreiung, anti-jüdisches Ressentiment, Befreiung vom Tempelkult, Beginn des Christentums, Lesbarkeit der Schrift oder gerade ihre fundamentale Uneindeutigkeit und damit die Notwendigkeit der Exegese? Durch wen soll diese Exegese stattfinden, wer erfährt von dem uneindeutigen Riss, oder vielmehr: von der Uneindeutigkeit dieses Risses? Der Todesmoment Christi als Ende seines leiblichen, »Da-Seins« (um ein zentrales Wort Heideggers aufzugreifen) auf Erden sowie das gleichzeitige, uneindeutige Materialisierung Gottes im Riss des Vorhangs, eröffnet so mit aller Gewalt eine Szene der Entkörperlichung, der Riss im Vorhang wird zur Ablenkung des Blicks vom leidenden Körper, der Riss, hier begleitet und bestimmt vom Schrei des Sterbenden, fungiert als dramatisch inszenierte Ablenkung bzw. Spaltung des »Blicks«, der Aufmerksamkeit, er wird zur symbolischen Ersatzfigur im Moment des Todes. Darin liegt ein weiteres doppeltes (diegetisches und exegetisches) Skandalon74 des Risses im Tempelvorhang: es lenkt einerseits alle Aufmerksamkeit im Moment des Todes von Jesus ab, Jesus stirbt allein, während sich Gott an einem anderen Ort ›tätig‹ zeigt, Abseits der Aufmerksamkeit der biblischen Leser*innen – und andererseits bleibt der Riss, als Zeichen eines göttlichen Einwirkens, das den Todeszeitpunkt (uneindeutig) markiert, zugleich unbestimmt, unbestimmbar, unverortbar. Mit dieser christlichen Ur-Szene, als einer zutiefst uneindeutigen Stelle, vollzieht sich somit der Beginn einer divergierenden Auslegung der biblischen Schrift als einer christlichen ›Vor-Schrift‹. Die Leiblichkeit Christi verwandelt und überträgt sich in ein entkörperlichtes, stets zweideutiges Moment des Risses, des Vorhangs und bzw. als Schrift und ihren endlosen Exegesen.

Bloße ›Kluft‹ und ›bloße‹ Kluft – Bloß-Stellung und Entblößung Kehren wir nach dieser Betrachtung, dieser (zweifachen) Umlenkung des Blicks auf einen ›Nebenschauplatz‹ zu Heidegger und danach zu Derrida zurück: An dieses jüdisch-christliche Unentscheidbarkeitsszenario scheint Heideggers Theatermetapher sowie sein zeitlich versetztes Aufgreifen der Rissfigur implizit anzuknüpfen: das Bild der (niemals) starren Bühne mit einem (möglicherweise niemals) ständig zugezogenem Vorhang und das Auftreten des Risses, scheint 74 | Dieser Riss als Skandalon zeigt eine Verwandschaft mit jenem Skandalon, welches Dieter Mersch dem Leiblichen attestiert, wenn er fragt: »in welchem Maße sich die Leiblichkeit auf ein Ensemble von Zeichen oder Symbolen zurückführen läßt, oder ob nicht vielmehr ein Rest, eine nicht zu tilgende Rückständigkeit bleibt – jene ›Unergründlichkeit im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper‹, wie Helmuth Plessner gesagt hat, im Wortsinne also ein skandalon der Leiblichkeit«. Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. S. 48f.

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dieses christliche, in seiner Motivik ursprünglich jüdische und sich zugleich ins anti-semitische wendende Szenario heimlich, stumm vorauszusetzen und zugleich diesen ›anderen‹ doppelten Ursprung und die damit verbundene leiblichen Aspekte vollständig auszublenden, ja, zu negieren.75 Dass solche Ausblendungen christlicher und hebräischer Quellen bei Heidegger System haben, hat Marlène Zarader ausführlich herausgearbeitet: »Through the reduction of the entirety of the biblical universe to the sole dimension of faith (Christian faith), the Hebraic source of thought is in no way invalidated by Heidegger, rather he occults it, to the point of leaving something like a blankspace in his text.«76 Wenn wir im Folgenden die Einführung der Rissfigur bei Heidegger genauer betrachten heißt das somit, am Rande der zentralen Frage Zaraders zu folgen: »can we find in Heidegger’s text traces of a heritage that he did not recognize, a heritage that would thus function as the unthought of his text?«77 Im Verlaufe der Untersuchung kommen wir so auf verschiedene Verstrickungen mit christlichen und jüdisch-hebräischen Figuren sowie deren Ausblendung durch Heidegger zurück. Das ›Spiel‹ des Risses selbst beginnt bei Heidegger (wie gezeigt, nicht ohne ein theatrales ›Vorspiel‹78) nun – nicht zufälligerweise – zunächst im ›Off‹, abseits vom eigentlichen Streit-Geschehen. Heidegger formuliert: »Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden.«79 Gerade diese zunächst negative, ausschließende und zugleich modal spezifizierende Nennung des Risses wirft bei näherer Betrachtung allerdings erst recht grundsätzliche Fragen auf: Ist nun das Aufreißen einer »bloßen Kluft«80 75 | Bezeichnender Weise spielt zwar ein Tempel in Heideggers Ausführungen eine Rolle in seinen ästhetischen Überlegungen, allerdings gerade kein jüdischer, sondern ein griechischer Tempel. Als »Tempel-Werk« dient ihm als weiteres, wiederkehrendes Beispiel des Streits zwischen den Prinzipien Welt und Erde: »Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt«. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 28. 76 | Zarader: The unthought debt: Heidegger and the Hebraic heritage. S. 7. Zu der weitgehenden unkritischen Akzeptanz dieser Ausblendungen bei den meisten Heidegger-Lesenden bildet vor allem Paul Ricoeur eine Ausnahme der Heidegger in dieser Hinsicht an verschiedenen Stellen explizit kritisiert, wie Zarader bermerkt. Vgl. Ebd. 77 | Ebd. S. 9. 78 | Vgl. den Abschnitt »Erster ›Auftritt‹ der Riss-Figur« im vorliegenden Band, S. 121ff. 79 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. [Hervorhebung H.H.]. 80 | Ebd.

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eine Ausnahmeerscheinung bei Rissen oder im Gegenteil, deren wesentliche Eigenschaft? Gibt es möglicherweise unterschiedliche Formen von Rissen – eventuell auch solche, die dem Streit entsprechen? Sind Streit und Riss demnach als grundverschieden oder prinzipiell als ähnlich zu betrachten? Besteht zwischen Ihnen selbst ein »Streit« oder herrscht dort ein Hiatus – eine »bloße Kluft«? Was können wir uns ›eigentlich‹ unter dem Riss als einer »bloßen Kluft« vorstellen? Zur Annäherung an diese (unbeantwortbaren) Fragen sollten wir insbesondere im Zusammenhang mit der oben erwähnten Bibelstelle nicht übersehen, dass auch bereits der Begriff der Kluft (mindestens) eine weitere Bedeutung in sich trägt– bedeutet Kluft doch umgangsprachlich, im übertragenen, un-eigentlichen Sinn, zugleich auch ›Kleidung‹ die z.B. als Uniform eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisiert oder als (Fest-)Kleidung zu besonderen Anlässen getragen wird.81 Die ältere, ursprüngliche Bedeutung von Kluft wird in diesem Falle von Heidegger, wenig überraschend, nicht weiter angesprochen: geht der aus der Soldatensprache stammende Ausdruck doch bezeichnender Weise auf einen hebräischen Begriff zurück. Obgleich Heidegger diese Herkunft des Wortes Kluft (›selbstredend‹) verschweigt, gibt in einer vorausgegangenen Passage bezüglich das Zusatzes »bloß« einen anderen aufschlussreichen Hinweis der in eine ähnliche Richtung von Kleidung82 weist: Schon indem wir die eigentlichen Dinge bloße Dinge nennen, verrät sich die Sachlage. Das »bloß« meint doch die Entblößung vom Charakter der Dienlichkeit und der Anfertigung. Das bloße Ding ist eine Art von Zeug, obzwar das seines Zeugseins entkleidete Zeug.83

81 | Zur Herkunft heißt es im Duden zum Begriff Kluft, dieser sei: »aus dem Rotwelschen in die Studenten- und Soldatensprache übernommen, vielleicht zu hebräisch qillûf  = das Schälen, zu: qĕlippạ̈ = Schale, Rinde«. Zur Bedeutung ist vermerkt: »1. uniformartige, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe kennzeichnende Kleidung 2. Kleidung für einen bestimmten Zweck (z. B. Arbeits-, Festkleidung)«. Bei Kluge heißt es zur Herkunft »Die Beleglage für das Wort ist aber kompliziert. [Es] ist von *klāwot auszugehen, das in den ältesten Belegen den Vokal gekürzt hat, im rheinländischen Jiddischen zu klaft, im donauländischen Jiddischen zu kluft (kloft, klift) wurde. Sicher ist also nur, dass das Wort aus dem Rotwelschen, und letztlich aus dem Jiddischen stammt; aber der Ausgangspunkt bleibt unklar und umstritten.« (Kluge, Friedrich und Seebold, Elmar: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, Boston: De Gruyter, 2015. Zugriff unter: http://www.degruyter.com/view/product/42888 am 26 Aug. 2016. 82 | Von einem Verweis auf die jüdische Tradition der Kria, des Zerreißens von Kleidung ist selbstredend noch viel weniger die Rede! 83 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 15.

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Mit der Betonung des Risses als »Aufreißen einer bloßen Kluft«84 handelt es sich somit um eine weitere Form ›Bloß-Stellung‹ oder auch der ›Entblößung‹ im Sinne eines Entschälens (in der verdeckten Bedeutung aus dem hebräischen!) und einer ›Entkleidung‹ – im Sinne Heideggers eine Fokussierung auf das Wesentliche, jene Bedeutung hinter der Bedeutung, die sich als Form der latenten Be-Dingung, die sich zu einer Art Grund-Bedingung in seinem Schreiben ausweitet. Darin zeigt (und verhüllt) sich jedoch auch noch eine andere, mehrdeutige ›Kluft‹ im ursprünglichen, d.h. hier übertragenen und übertragenden Sinn. Ihre inhärente Differenz, eine doppelte Kluft-in-der-Kluft wird ›bloß‹ latent sichtbar (keineswegs völlig ›bloß‹) – sie wird von vornherein sprachlich neu ›ummantelt‹, umhüllt, – verkleidet. Diese sprachlich ambivalente Bloß-Stellung stellt so bei Heidegger nicht nur eine gewisse, latente Bezogenheit von Kluft und Ding her, ihre Blöße erweist sich als Voraussetzung, als gemeinsamer Zug, Befreiung von jeglichem Zeugsein, somit wie Heidegger zuvor schreibt, vom »Charakter der Anfertigung und Dienlichkeit«.85 Doch diese Befreiung vom Charakter der Dienlichkeit muss unter den gegebenen Voraussetzungen angezweifelt werden: handelt es sich doch hier, so schimmert durch, zugleich um einen subtilen Zug der sprachlichen Aneignung und der Enteignung: Heidegger gebraucht den aus dem Hebräischen abgeleiteten Begriff der Kluft als eine andere ›Kluft‹, eine Kluft der Mehrdeutigkeit, der Ambivalenz. In einer gleichzeitigen Bewegung des Ver- und Enthüllens wird diese zu einer Form der (impliziten, latenten) sprachlichen Verschleierung oder Verkleidung, sie faltet quasi das Pli der Implikation in ihre doppelte Bewegung des Ver-/Enthüllung ein.86 Hier beginnt sich eine strukturelle Parallele zur oben erwähnten Bibelstelle zu materialisieren: auch bei Heidegger stellt die Figur des Risses eine inszenierte Ablenkung des Blickes, eine Spaltung der Aufmerksamkeit vom zentralen, vordergründigen Streitgeschehen auf eine ambivalente Randfigur dar – die Betonung der »bloßen Kluft« doppelt diese Ablenkung und faltet sie nochmal in sich ein. Diese gezielte Verwendung der Riss-Figur setzt diese tiefe Ambivalenz, die (latent) auf ihren vorchristlichen Ursprung hindeutet fort und negiert damit zugleich ihre Herkunft aus der jüdischen Mystik. Sie kaschiert dabei jene mit dem Todesmoment Christi einsetzende (Um-)Deutungsgeschichte, die somit ihre (teilweise) Wendung ins anti-semitische einschließt. Wenn Heidegger in diesem Zusammenhang von einem Verbergen als »Doppelgestalt des Versagens 84 | Ebd. S. 51. 85 | Ebd. S. 15. 86 | Erneut scheint hier latent jene Beziehung zum »absonderlichen« Bild des von jeglichem organischen und leiblichen Fleischen getrennten, ›abgesonderten‹, ent-leibten »Gerippes« auf, das Heidegger an anderer Stelle erwähnt hatte. Vgl. Heidegger: »Frage nach der Technik«. S. 16. Sowie den Abschnitt »Risse und Furchen: Fragen nach der Technik« im vorliegenden Band, S. 87f.

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und des Verstellens«87 und von einem »zwiefachen Verbergen«88 der Wahrheit spricht, fällt es nun schwer, die Lichtung des Seienden, welche »niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang«89 sei, nicht mit dem Bild des jüdischen Tempels und seinem doppelten und vor/nach dem Tode Jesu gerissenen Vorhang in Verbindung zu sehen. Zugleich überlagert Heidegger dieses Bild des doppelt verhüllten jüdischen Tempels insbesondere mit seiner wiederkehrender Erwähnung des griechischen Tempels als Kunst- und Bauwerk als einem ›ursprünglicherem‹ Modell.90 Heidegger greift mit der Riss-Figur so gesehen letztlich ein altes jüdisches Motiv der Apokalypse-Szenarien auf, blendet aber zugleich sowohl diesen jüdischen Traditionszusammenhang (des hebräischen Begriffs der Kluft und das Zerreißen derselben in der jüdischen Tradition der Kria) sowie die Umdeutung und Fortschreibung dieses Szenarios und Verwendung in der christlichen Tradition, inklusive der Leidensgeschichte Christi (quasi) vollständig aus. Obgleich Heidegger den Riss so seinem jüdisch-hebräischen (und leiblich-christlichen) Wurzeln entzieht, widersetzt sich die Figur diesem Entzug mit einer Gegenbewegung: Der ›ursprünglichen‹ Zwiedeutigkeit der jüdischen Motivik entsprechend, zeigt sich das beschriebene Geschehen des Aufreißens auch in Heideggers Beschreibung latent als bloßgestelltes, bloßstellendes Geschehen (als »Doppelgestalt des Versagens und Verstellens«91), das sich zugleich selbst in fundamentaler Weise seiner eindeutigen Einordnung und Zuschreibung entzieht.

Aufreißen: Der Riss als latentes Geschehen Mit der zunächst negativen, d.h. ›ausschließenden‹ Bestimmung der Rissfigur als »kein Aufreißen einer bloßen Kluft« wird die »Sachlage«92, wie Heidegger zuvor es in Bezug auf das (aufgerufene und ausgeschlossen) ›Bühnenbild‹ des Seienden genannt hatte, nun auf mehreren Ebenen äußerst komplex. Indem 87 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 41. 88 | »Zum Wesen der Wahrheit als der Unverborgenheit gehört dieses Verweigern in der Weise des zwiefachen Verbergens.«, ebd. 89 | Ebd. 90 | Zum komlexen Verhältniss und (un-)möglichen Dialogen von griechischen und jüdischen philosophischen ›Ursprüngen‹, bei Derrida und dem besonderen Verhältnis des Deutschen und vermeintlich griechischen Wurzeln der Philosophie bei Heidegger (und Hölderlin) vgl. Bernasconi, Robert: »There Is Neither Jew Nor Greek: The Strange Dialogue Between Levinas and Derrida«, in: Direk, Zeynep und Lawlor, Leonard (Hg.): A companion to Derrida, Malden, Mass. u.a.: Wiley, 2014. S. 251-268. 91 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 41. 92 | Ebd. S. 15.

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hier die biblische Riss-Figur zugleich latent aufgerufen und im Moment ihrer Setzung bereits von vornherein negiert wird, betreibt Heideggers implizit eine Umdeutung des doppeldeutigen Riss-Geschehens. So ereignet sich hier auch noch eine andere Form der (Ver-)Wandlung des Risses (als Ablenkung des Blickes vom leiblichen Leiden Christi): der Riss rückt einerseits in dieser ›bloßgestellten‹ Form in die Nähe zum Dinghaften und ist, als latente Be-Dingung zugleich als ein fortwährendes Geschehen des Aufreißens, der andauernden Spaltung und kategorischen Ein-Teilung zu denken – ein Geschehen, das sich im Ereignen zeigt, sich zeigend ereignet, als ein fortwährendes Ereignis erscheint: der »Riss als Aufreißen«.93 Dabei wäre der Akt der Öffnung, das Öffnen oder Aufreißen, wie es im und durch den (negierten, ausgeschiedenen, ausgestellten, ausgenommenen, vermiedenen) Riss geschieht, erneut in der Nähe zu Heideggers Begriff des Unverborgenen zu verorten: »Unverborgenheit des Seienden, das ist nie ein nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis. Unverborgenheit (Wahrheit) ist weder eine Eigenschaft der Sachen im Sinne des Seienden, noch eine solche der Sätze.«94 Der Riss wäre also hier, mit Heidegger und über ihn hinaus, kein Ergebnis, kein Resultat, kein Ziel oder Zweck des Streitgeschehens zwischen Verbergen und Zeigen, sondern andersherum: die ›eigentliche‹ Kluft, welche sich latent, potentiell im bzw. am Riss auftut, läge in dessen unbestimmbarer Beziehung zum Streit, sie ›bedingt‹ den Streit durch ihr ausgegrenztes »Dasein« zwischen Ding und Geschehen. Mit seiner latenten Bestimmung des (ausgeschlossenen Risses) als aufreißendes Geschehen unterscheidet Heidegger zugleich den Riss vom Streit – oder: im Aufreißen einer bloßen Kluft unterscheidet sich der Riss vom Streit, d.h. Riss und Streit unterscheiden sich in ihrem Geschehen – möglicherweise – grundsätzlich. Diese Unterscheidung ist keine unwesentliche, sie berührt (möglicherweise) das ›Wesen‹ beider, sowohl des Risses als auch des Streits. Die Unterscheidung von Riss und Streit lässt beide gleichzeitig in ihrer Eigenheit hervortreten: Riss und Streit erzeugen sich so gegenseitig in ihrem möglichen oder potentiellen Unterschied, sie bedingen sich, latent, in ihrem (Differenz-)Geschehen. Und dennoch bleiben beide, Riss und Streit, aufgrund ihres radikalen Unterschieds, nämlich der Form ihres jeweils spezifischen Unterscheidens für sich genommen fundamental unbestimmt. Die Frage, ob das »Aufreißen einer bloßen Kluft« somit eine wesentliche Bestimmung von Rissen ist (das hieße, von Rissen in jeglicher Form), bleibt somit grundsätzlich, d.h. (erneut: möglicherweise) wesentlich unbestimmt – insofern müssen wir dieses als eine mögliche Erscheinungsform von Rissen begreifen, als einen durch Risse hervorgebrachten bzw. in ihnen enthaltenen Möglichkeits-

93 | Ebd. S. 51. 94 | Ebd. S. 41.

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raum – der schrittweise seine Wirksamkeit entfaltet. Zu einem ähnlichen Fazit kommt auch David Espinet in Bezug auf Heideggers (werk-)ästhetischen Ansatz: In größtem Gegensatz zur mimetischen Kunstbestimmung, die Wirklichkeit nur abbildet, denkt Heidegger die Gestalt des Werkes so von diesem ursprünglich klaffenden Riss her, aus dem Wirklichkeit erst hervorgeht. Für Heidegger gilt, dass dieser Riss als ›Kunst […] das Feststellen der sich einrichtenden Wahrheit in die Gestalt ist‹. Entgegen des gängigen Verständnisses von ›Aufriss‹ als einer fest umgrenzten Figur bezeichnet ›Riß‹ für Heidegger den ›Streit von Maß und Unmaß‹, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, der ›durch den schaffenden Entwurf ins Offene gebracht wird‹. Die Gestalt als Riss ist eine sich selbst bildende Form, eine ›forma formans‹, eine stets nur teilweise fertige Form, eine differenzielle Fuge, aus der die Gefügtheit des Werkes entspringt, anders gesagt, ein Möglichkeitsbereich der Wirklichkeiten eröffnet.95

Wir können somit festhalten, dass innerhalb der von Espinet bezeichneten »forma formans«96, einer aus sich heraus selbstbildenden Form, ein Moment der Ungewissheit aufscheint. Dies entspricht dem in Rissen enthaltenen »Spiel«, als jener sie definierende Spielraum, als ihre mögliche Kluft – »differentielle Fuge«97, wie Espinet es nennt.98 Möglicherweise haben Streit und Riss eine gewisse Affinität, möglicherweise bedingt der Riss den Streit in seiner ausschließlichen Form oder seinem Einschluss. Möglicherweise kann jedoch immer zugleich heißen: oder aber auch nicht. In diesem Offenbleiben dieses uneindeutigen Unterschieds wäre ein Moment des Widerstandes zu entdecken, der in dieser Weise bei Heidegger nicht ausdrücklich zur Sprache kommt, aber möglicherweise trotzdem latent darin enthalten ist. Hier würde ein Denken mit- und zugleich gegen Heidegger

95 | Espinet: »Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde«. S. 61. 96 | Ebd. 97 | Ebd. 98 | Das, was Espinet mit dem Riss als größtmöglichen Gegensatz zur mimetischen Kunstbestimmung bezeichnet, ein Geschehen, das als »differentielle Fuge« stets nur »teilweise fertig« ist, korrespondiert stark mit dem Ansatz Peggy Phelans, den sie in ihrem Buch Unmarked darlegt, wo sie das Verhältnis vom Realen (in Anlehung und zugleich Abgrenzung vom Lacan’schen »Realen«) und der Repäsentation als einer Theorie der Abwesenheit darlegt. Ein Ansatz, indem sich wiederum – zentral und zugleich am Rand – Figuren des Risses einnisten: »Representation follows two laws: it always conveys more than it intends; and it is never totalizing. The ›excess‹ meaning conveyed by representation creates a supplement that makes multiple and resistant readings possible. Despite this excess, representation produces ruptures and gaps; it fails to reproduce the real exactly.« Phelan, Peggy: Unmarked. The politics of performance. London u.a.: Routledge, 1996. S. 2. (Kursivierung H.H.).

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seinen möglichen Einsatzpunkt erhalten. Folgendes wäre also dem Nachdenken Heideggers über Risse hinzuzufügen: Aus seiner inhärenten Widersprüchlichkeit heraus kristallisiert sich an den Rändern des Risses der Widerspruch des (Un-) Möglichen als etwas Tendenzielles, als Potenzialität und grundlegende Latenz: Die tiefe, grundlegende Un-Eindeutigkeit be-dingt und ›ver-körpert‹ die umfassende Möglichkeit einer anderen Art und Weise des Erscheinens, verleibt sich diese ein und konfiguriert zugleich die mögliche Unmöglichkeit des Oder-auch-Nicht, (»ou pas«, wie Derrida formuliert),99 also seine eigene potentielle Aussetzung, die Un-Möglichkeit eines eigenen Nicht-Seins. Hierin scheint nun das transformative Potential, das gesamte Spektrum der Verwandlungsmöglichkeiten der Riss-Figur auf.

Entspringen des Risses aus der Latenz aus / in der Wiederholung Wie dargelegt, wird der Riss von Heidegger bei seiner ersten Erwähnung im Ursprung des Kunstwerkes »als bloße Kluft«100 zunächst vom Streit zwischen den Parteien Welt und Erde mit einer besonderen Wendung ausgeschlossen. Dabei erweist sich die Figur jedoch bei näherer Betrachtung als ein aus dem Abseits Wirksames: abwesend und dennoch präsent als etwas Latentes, wirksam als Randbedingung, unterschwelliges ›Gesetz‹ einer tiefenwirksamen Unbestimmtheit, ist sie als solches insistierend (sie bilden den zerklüfteten, durchpflügten und beackerten Grund der Heidegger’schen ›Erdhaftigkeit‹). Das nachhaltig wirkende Insistieren und der gleichzeitig wirksame Entzug der Riss-Figur, kommt im weiteren Verlauf der Heidegger’schen Argumentation nun bezeichnender Weise mit ihrer Wendung vom Impliziten ins Explizite weiter zum Tragen. Die Figur des Risses tritt aus ihrer Latenz in einer nunmehr ›bestimmten‹ Art und Weise hervor; der Riss wird selbst zur bestimmenden Figur einer grundlegenden Verwandlung. Heidegger wendet sich dem Riss nach seinem Ausschluss als »bloßer Kluft« also im folgenden Satz erneut zu. Betrachten wir die Stelle nochmal im Zusammenhang: Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit der Streitenden. Dieser Riß reißt die Gegenwendigen in die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen Grunde zusammen.101

99 | »Es geht um den Weg, um das, was auf ihm vorbeigeht, was an ihm vorübergeht, was unterwegs geschieht oder nicht (›ou pas‹)«, Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 234. 100 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. 101 | Ebd.

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In seiner wiederholten Nennung hat sich, quasi wie von selbst, eine Transformation des Risses zur bestimmten Figur – »[d]ieser Riß«102 – bereits vollzogen. Die Bestimmung des Risses in der und durch die Wiederholung ist eine Rückkehr im doppelten Sinne: der Begriff trägt in seiner erneuten Nennung nun einen Rückbezug in sich.103 Dabei bleibt der Bezug des Pronomens wesentlich uneindeutig, zwiespältig: bezieht sich »dieser« auf den negierten Riss, der eine bloße Kluft aufreißt, dieser Riss, der in Bezug auf den Streit eigentlich keiner ist – oder handelt es sich bei der »Innigkeit der Streitenden« ebenfalls um einen Riss – einen erneuten aber grundsätzlich anderen? Der Riss, so könnten wir diese doppeldeutige Bestimmung weiter fortführen, entspringt (mit einem Sprung, einem Schlag) hier seiner negativen Setzung und Bindung an die bloße Kluft – der Riss enthält dabei zugleich in sich einen doppelten Sprung (im Sinne einer bloßen Kluft und einer plötzlichen Bewegung von ihr weg), als eine Möglichkeit zum Ent-Springen. Er bleibt, so scheint es paradoxerweise, aufgrund seiner Bestimmung im Entspringen jedoch an die »bloße Kluft«104 (die ja ihrerseits eine zwiespältige Bedeutung in sich trägt) gebunden, welche im Streit ursprünglich ausgeschlossen wurde und setzt sich zugleich über diese hinweg – wächst durch und über seine bloße Kluft hinaus. Der Riss ent-springt der Uneindeutigkeit ohne ihr zu Entkommen. Die grundlegende Spur der Doppeldeutigkeit (als »inniger Streit«) bleibt daher der Bestimmung des Risses immanent: Sein Entspringen bleibt so gesehen stets ein Doppeltes: eines, das ursprünglich an die (unbestimmte und zwiespältige) bloße Kluft und ein verweisendes »als« gebunden ist und eines, dass von sich heraus aus dieser Gebundenheit entspringt, ex negativo, sich selbst durch die selbstbestimmte Wiederholung aktiviert und seine ursprüngliche Bindung an das »Bloße« der Kluft (und damit auch ihre ›Blöße‹) ablegt. Im Riss liegt daher die Bestimmung des Unbestimmten, d.h. ihm liegt eine unbestimmte Bestimmung zugrunde. Sein Ent-Springen aus dem Unbestimmten eröffnet dabei zugleich sämtliche Möglichkeiten des Ent-Sprechens (»Riß als...«) und des Ent-Sagens (»kein Riß als...«).105 Durch dieses erneute Ent-springen/Ent-sprechen/Ent-sagen beginnt die 102 | Ebd. 103 | Der Riss erscheint hier als »marked« im Sinne Phelans, das heißt, das in ihm ein Moment der Gewalt enthalten ist: »This relationship between self and other is a marked one, which is to say it is unequal. It is alluring and violent because it touches the paradoxical nature of psychic desire; the always already unequal encounter nonetheless summons the hope of reciprocity and equality; the failure of this hope then produces violence, aggressivity, dissent.« Phelan: Unmarked. The politics of performance. S. 3f. 104 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. 105 | Ebd.

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Figur des Risses zu wirken: sie wird selbst aktiv, selbst-aktiv, der Riss wird zum Akteur, zur »forma formans«106, zum performativen Geschehen, auto-poietischen Ereignis: »Dieser Riß reißt«, wie es im zweiten Satz heißt.107 Durch die Form/ Formel des doppelten Entspringens, einer ersten, ausgegrenzten, negativen Setzung und der positivierten Form seiner ent-springenden Rück-kehr vollzieht der Riss bei Heidegger eine positive Wendung: indem er seiner Negativität entspricht wird er zur gewendeten Figur, zur Figur der Wendung, sie ent-springt und ent-spricht der Wendung, sie wird selbst zur (sprachlichen) Wendung. Der Rückbezug des so bestimmten Risses, sein Zurückreißen, weist auf etwas (vermeintlich) Ursprüngliches, seine Herkunft, nämlich: seinen unbestimmten bzw. unbestimmbaren Ursprung.108 Diese fundamentale Unbestimmtheit führt jedoch Heidegger zufolge gerade zum »einigen Grund«, der versammelnden Einheit. Der Rückriss des Risses reicht bis vor den Streit zurück, er scheint dem Streit vorauszugehen – in der Einheit des Risses liegt (»im Grunde«) etwas Ursprünglicheres als im Streit. Der Riss er- und enthält nach Heidegger seine eigene Bestimmung im Zweifachen seines Ursprungs jedoch zeigt sich dieses erst im Moment der Wiederholung. Diese positive Bestimmung in der- und durch die Wiederholung, ist eine Rück-kehr zu, bzw. ein Rückbezug auf seine Negative Setzung und wird dadurch zu deren Umkehrung: ein Rückzug des Negativen. Die vorläufige Eingrenzung des Risses (»kein Riß als«) wird somit aufgehoben, entgrenzt, entsetzt. Im Folgenden heißt es dann schließlich, quasi-abschließend auch: Die Wahrheit richtet sich als Streit in ein hervorzubringendes Seiendes nur so ein, daß der Streit in diesem Seienden eröffnet, d. h. dieses selbst in den Riß gebracht wird.109

106 | Espinet: »Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde«. S. 61. 107 | Dieses Geschehen scheint dabei in seiner Betrachtungslosen Logik einer Vorstellung von »Autopoiesis der feedback- Schleife«, wie Fischer-Lichte diese in ihrer Ästhetik des Performativen skizziert, zu widersprechen, bzw. sich zu ent-ziehen: »Wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, ist es die autopoietische feedbackSchleife aus Handlungen und Verhaltensweisen der Akteure und Zuschauer, welche die Aufführung entstehen läßt. Der Künstler als autonomes Subjekt, welches ein autonomes Werk schafft, das die Rezipienten wohl jeweils anders zu deuten, jedoch in seiner Materialität nicht zu verändern vermögen, hat sich hier offensichtlich verabschiedet - wenn auch noch nicht im Bewußtsein großer Teile des Publikums.« Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 284. 108 | S. Derridas dreifacher unbestimmte Bestimmung des »Ursprungs« als »hétérogène à l’origine« (Vgl. Vom Geist, S. 125). 109 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51.

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Was wir hier vorfinden, scheint gewissermaßen das widerzuspiegeln, was Derrida an anderer Stelle als den gewaltsamen, erzwungenen, mißbräuchlichen Prozess der Katachrese beschrieben hat, den er als »zweiten Ursprung« bezeichnet. Es handele sich dabei um eine Inschrift des Zeichens, die Auferlegung eines Zeichens auf einen Sinn, der kein eigenes Zeichen in der Sprache hatte. So sehr, dass es hier keine Substitution, kein Übertragen der eigentlichen Zeichen gibt, sondern eine irruptive Extension eines eigentlichen Zeichens auf eine Idee hin, auf einen privaten Sinn ihres Signifikanten.110

In diesem Sinne eines zweiten, gewaltsamen, erzwungenen und mißbräuchlichen Ursprungs, entpuppt sich die Figur des Risses nun im Folgenden bei Heidegger Satz für Satz, Schritt für Schritt, zur gangbaren, und schließlich – durch seine fortwährende Wiederholung – zur gängigen Wendung im doppelten Sinne: Trope und Topos. Selbstbestimmt der Negativität, der Ausgrenzung entsprungen, beginnt der Riss sich als Figur/Figuration auszudehnen, zu wuchern, als Begriff in weitere Felder überzugreifen und wird so selbst rasch, überraschend zu einem umfassenden semantischen Gefüge oder einem philosophischen ›Gerüst‹ oder Ge-Stell. Heidegger formuliert weiter: Dieser Riß reißt die Gegenwendigen in die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen Grunde zusammen. Er ist Grundriß. Er ist Auf-riß, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung des Seienden zeichnet. Dieser Riß läßt die Gegenwendigen nicht auseinanderbersten, er bringt das Gegenwendige von Maß und Grenze in den einigen Umriß.111

An dieser Stelle scheint die grundsätzlich positive, ontologische Bestimmung von Rissen als umfassende Konfiguration bereits vollzogen zu sein. Die Figur des Risses zeichnet sich, wie es scheint, kurzzeitig und quasi von selbst als umfassender ›Grundriss‹ der Heidegger’schen Philosophie ab. Der zunächst ausgeschlossene, ›negierte‹ Riss (»kein Riss«112) , der im Kontext der »Streit«-Frage aufgeworfen wurde, schlägt an dieser Stelle als Wendung an eine positive Bestimmung der Figur um, der Riss ›kippt‹ ins Positive. Während die auseinandertreibenden, zersetzenden Kräfte des Streits und der Streitfrage noch nicht ganz abgeklungen scheinen, zeigt sich der Riss in ›verwandter/verwandelter‹ Form – mit einer neu bestimmten, fundamental veränderten Qualität des Haltens, des Ein-Haltens, der Inne-Haltens. Der Riss gebietet dem grundlegenden Streit in 110 | Derrida, Jacques: »Die weiße Mythologie«, Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen-Verlag, 1999. S. 229-290. Hier: S. 275. 111 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. 112 | Ebd.

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seiner Differenz einen gewissen Einhalt. Wie der Streit spaltet der Riss zwar auf, hält die »Gegenwendigen«113, die gegeneinander gerichteten Seiten oder Parteien in einem gewissen Abstand, aber stets aufeinander bezogen; der Riss fügt sich hier zu einem Schema, einer (obgleich gespaltenen) Einheit. Er avanciert so quasi selbst zum Wahrheitsgeschehen, dass sich einem direkten Zugriff aber in seinen verschiedenen Ge-fügen wieder zu entziehen scheint: Die Wahrheit richtet sich als Streit in ein hervorzubringendes Seiendes nur so ein, daß der Streit in diesem Seienden eröffnet, d. h. dieses selbst in den Riß gebracht wird. Der Riß ist das einheitliche Gezüge von Aufriß und Grundriß, Durch- und Umriß. Die Wahrheit richtet sich im Seienden ein, so zwar, daß dieses selbst das Offene der Wahrheit besetzt.114

Dieses Wahrheitsgeschehen, welches sich im und durch den Riss ereignet, bleibt einerseits unberührt vom menschlichen Einwirken und zugleich spiegelt sich darin andererseits ein starkes Konzept von Materialiät und materiellen Ge-fügen wieder: Der Riß muß sich in die ziehende Schwere des Steins, in die stumme Härte des Holzes, in die dunkle Glut der Farben zurückstellen. Indem die Erde den Riß in sich zurücknimmt, wird der Riß erst in das Offene hergestellt und so in das gestellt, d. h. gesetzt, was als Sichverschließendes und Behütendes ins Offene ragt.

Für Heidegger ergibt sich aus diesem Denken eine prinzipielle Nähe von Ge-stalt und Ge-Stell, die zu einer Art von ›Fügung‹ oder Fuge wird, die die Figur des Risses betreffen, in all den multiplen Bedeutungen und Unterschieden, die sich zwischen den beiden Termini aufspannen, d.h. durchaus mit ihrer ›Schicksal-haften‹ Anklängen und zugleich Konnotationen von Hören im Sinne des Gehorchens: Der in den Riß gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt. Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Ge-stalt. Sie ist das Gefüge, als welches der Riß sich fügt. Der gefügte Riß ist die Fuge des Scheinens der Wahrheit. Was hier Gestalt heißt, ist stets aus jenem Stellen und Ge-stell zu denken, als welches das Werk west, insofern es sich auf- und herstellt. Im Werkschaffen muss der Streit als Riß in die Erde zurückgestellt, die Erde selbst muß als das Sichverschließende hervorgestellt und gebraucht werden.115

113 | Ebd. 114 | Ebd. 115 | Ebd.

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Heidegger scheint an dieser Stelle quasi ›en passant‹ eine wesentliche, positive, ontologische Bestimmung der Figur des Risses aus einer zunächst negativen Setzung vorzunehmen, die sich im Folgenden selbst sprachlich-performativ eine quasi-theatrale Grundierung erhält. Die Figur des Risses entspringt und entspricht hier einer doppelten Differenz, einerseits zum Streitgeschehen und andererseits zur ›bloßen Kluft‹, die ihrerseits verwandte oder benachbarte, ambivalente Differenzgeschehen darstellen. Quasi zugleich (aber eben doch mit einer signifikankten Verschiebung!) ent-spricht und ent-springt die Riss-Figur ihrer ursprünglich(en) text-immanenten, negativen Setzung in anderer/weiterer Hinsicht, indem sie sich gerade nicht auf sie beschränken lässt. Die Riss-Figur zeigt sich hier als (betrachtungsloses) auto-poetisches Riss-Geschehen, das unmittelbar nach seiner Setzung zum selbst-bestimmten Sprach-Geschehen, umfassenden semantischen Gefüge und bestimmenden Gesetz auswächst. Am Rande des Geschehens handelt es dabei um eine Form der erd- und bodenhaften ›Materialisierung des Risses‹. Mit dieser ›Enthüllung‹ der Riss-Figur finden zugleich implizit weitere Bezugsetzungen und Ausblendungen statt, welche die weitere Entwicklung der Riss-Figur unterschwellig mitbestimmen. Zwar könnte es bei Heidegger zunächst so erscheinen, als ob die Riss-Figur hier aus ihrer Unbestimmtheit heraustritt und als ob mit der weitreichenden Semantik von Riss-Figuren das Streit-Geschehen von Welt und Erde – aus sich heraus – umfassend definiert worden sei und die ursprüngliche Gegenwendigkeit eines künstlerischen Geschehens somit nun ausreichend erfasst sei, d.h. in Maß und Grenze gesetzt. Dennoch würde es hier wesentlich zu kurz greifen, die Figur des Risses einfach und verfrüht mit dem Titel-gebenden »Ursprung des Kunstwerkes« (ebenso, aber nochmals anders, bezüglich ihrer Nähe/Nachbarschaft zur der ontisch-ontoligischen Differenz) gleichzusetzen und als solche ›eindeutig‹ zu identifizieren. Es bleiben hier einige wesentliche Bezüge der Riss-Figuren, insbesondere der genauere Zusammenhang zwischen Ontologie, Materialität und Sprache weiterhin ungeklärt, solange sich das Geschehen des Risses, wie das der ontischontologischen Differenz, zwar als materiell-stoffliche Geschehen, aber zugleich als körperlose oder wesentlich entkörperte, betrachtungslose Konfigurationen ereignen, welche Fragen von Wahrnehmung und Zeugenschaft systematisch ausgeklammert lassen. Nach Derrida sind die Fragen nach der Einfügung und Stellung von Metaphern im philosophischen Text – dies gilt somit auch für die Frage nach Rissen als (allegorischen) Figuren, Metaphern, Tropen und Topoi und Katachresen – jedoch auch, unterschwellig am Rande oder sogar zuallererst, Fragen des Körpers, eines philosophischen Corpus, d.h. ihrer philosophisch-körperlichen ›Tauglichkeit‹: Die Metapher im philosophischen Text. In der Gewißheit, jedes Wort dieser Äußerung zu hören, sich darin überstürzend, eine Figur in den zur Philosophie

8. Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur tauglichen Körper einzufügen – einzuschreiben –, könnte man sich anschicken, eine bestimmte Frage abzuhandeln: Gibt es eine Metapher im philosophischen Text? in welcher Form? bis zu welchem Ausmaß? ist sie wesentlich? zufällig? und so weiter.116

Nimmt in diesem Sinne die Figur des Risses im philosophischen Text die Rolle einer Metapher ein? Und wäre die Vorstellung einer als körperhaft gedachten Philosophie wiederum selbst eine Metapher? In welcher Beziehung könnten Rissfiguren innerhalb dieses philosophischen ›Corpus‹, innerhalb eines solchen Denkens des Körpers einnehmen? Handelt es sich hierbei primär um rhetorische, philosophische und/oder physisch-körperliche Fragen? Nach Derrida sind diese Ansätze nur als eng miteinander verbunden zu begreifen: »Aus der Philosophie, die Rhetorik. Aus einem Körper etwa, mehr oder weniger.«117 Machen wir hier einen erneuten thematischen Zwischenschritt und Seiten-Sprung, um dann auf das Thema des Risses bei Heidegger noch einmal aus einer erneut verschobenen Perspektive zurückzukehren. Greifen wir im Folgenden, ausgehend von diesen Fragen der Aufspaltung, der Nähe, des Aufeinander-Bezogen-Seins nun das Thema der Verkörperung in Bezug auf Rissfiguren auf und das Thema der Sprache mit Blick auf das (in ihr) Abwesende, des Ent-Zugs von Körperlichkeit, dem Ent-Körperlichten und schließlich der paradox erscheinenden Frage, was es heißen könnte, sich dem Riss ›selbst‹ zuzuwenden.

116 | Derrida: »Die weiße Mythologie«. S. 229. 117 | Ebd.

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9. Re-Membering the Body 1 – Figuren des Risses zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

Zur Abwesenheit des Leiblichen bei Heidegger Es hat sich gezeigt, dass im Streitgeschehen zwischen Welt und Erde, in dessen Verstrickungen Heidegger den Ursprung des künstlerischen Werdens verortet, zwar die Figur des Risses als Initialmoment eines Verwandlungsgeschehens auftaucht, aber zugleich Dimensionen einer leiblichen Wahrnehmung, des Körperlichen, wie überhaupt Instanzen des Betrachtens und damit Fragen von Zeug*innenschaft ausgeklammert bleiben. Dieser Befund spiegelt die anhaltende kontroverse Debatte um das Thema Leiblichkeit im Gesamtwerk Heideggers, welche u.a. Patrick Baur in seiner Arbeit Phänomenologie des Leibes ausführlich darlegt: Das Erstaunen darüber, »dass ein Denker wie Martin Heidegger […] keine dezidierte Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit des Menschen entwickelt hat, […] hatte bereits zu Heideggers Zeiten eingesetzt und einte Kommentatoren von Plessner bis Sartre«.2 In ähnlicher Weise verweist auch auch Kevin A. Aho in seiner Untersuchung zu Heidegger’s Neglect of the Body auf die kritischen Reaktionen zu Leerstellen des Leiblichen in Heideggers Daseins-Konzeption: A number of critics have argued that Heidegger’s conception of Dasein needs to be expanded to include the body that is organically connected to nature and to the most primitive forms of life. […] What these criticisms tend to suggest

1 | Diese Formulierung ist dem Titel des folgenden Bandes entlehnt: Brandstetter, Gabriele / Völckers, Hortensia (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2000. 2 | Baur, Patrick: Phänomenologie der Gebärden. Leiblichkeit und Sprache bei Heidegger. Freiburg; München: Karl Alber 2013. S. 291.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache is that Heidegger’s project is missing an explicit recognition of how the body participates in shaping our everyday understanding of things.3

Für Baur steht der Befund einer weitgehenden Vermeidung des Themas ›Leiblichkeit‹ in einem Zusammenhang mit Heideggers spezifischer Figur des Schweigens: »Heideggers Schweigen zur Thematik [des Leibes] wird hier also aufgefasst als eine spezifische Form des anderen Ausdrucks – es hat die Funktion, auf die enorme Schwierigkeit der Frage nach der Leiblichkeit hinzuweisen«.4 Zugleich schweigt Heidegger keineswegs vollständig – u.a. lässt sich im Rahmen der Zollikoner Seminare eine ›späte‹ und zögerliche Hinwendung Heideggers zum Thema Leib festhalten. Hier findet sich eine vielzitierte Passage, in der Heidegger indirekt auf eine Kritik Sartres5 wie folgt antwortet: »Sartres Vorwurf kann ich nur mit der Feststellung begegnen, daß das Leibliche das Schwierigste ist und daß ich damals eben noch nicht mehr zu sagen wußte.«6 Insgesamt bleibt die Frage, ob und wie die Materialität des Körperlichen, Fragen der Leiblichkeit, ob also das »Das Theater mit dem Körper« (Bynum)7 bei Heidegger eine zentrale und/oder wesentliche Rolle spielt, für sich selbst ein Streitfall: Diese zwei Seiten – Heideggers relatives Schweigen von der Leiblichkeit einerseits, seine z. T. sehr ausführlichen Kommentare, wie sie beispielsweise auch in den Interpretationen zu Nietzsche auftreten – machen in der Zusammensicht

3 | Aho, Kevin: Heidegger’s neglect of the body. Albany, N.Y.: SUNY Press, 2009. S. 3. Zu den wichtigsten Kritikern aus dieser Richtung zählt Aho Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Alphonse de Waelhens sowie Maurice Merleau-Ponty. Ebd. S. 18. 4 | Baur: Phänomenologie der Gebärden. Leiblichkeit und Sprache bei Heidegger. S. 16. 5 | Medard Boss spricht im Dialog mit Heidegger von einem »Vorwurf von Jean Paul Sartre [ ], der sich darüber wunderte, daß Sie im ganzen »Sein und Zeit« nur sechs Zeilen über den Leib geschrieben hätten«. Heidegger, Martin: »Zwiegespräche mit Medard Boss (1961-1972)«, in: Heidegger, Martin und Boss, Medard (Hg.): Zollikoner Seminare: Protokolle —Zwiegespräche —Briefe, 1994b. S. 193-298. Hier: S. 292. Suarez verweist hierzu auf eine konkrete Stelle in Sartres L’être et le Néant – diese lässt sich aber in der deutschen Übersetzung von Das Sein und das Nichts, trotz angegebener Paginierung der Original-Ausgabe von 1943 nicht verifizieren. Vgl. (Vgl. Suárez, Luisa Paz Rodríguez: »Leibliche Erfahrung und Räumlichkeit des Daseins«, in: Esterbauer, Reinhold; Paletta, Andrea; Schmidt, Philipp und Duncan, David (Hg.): Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg München: Verlag Karl Alber, 2016. S. 68-89. Hier: S. 72. 6 | Heidegger: »Zwiegespräche mit Medard Boss (1961-1972)«. S. 292. 7 | Bynum, Carolyn: »Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin«, in: Historische Anthropologie, Heft 4,

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz deutlich: Das Thema ›Leiblichkeit‹ ist bei Heidegger ein heterogenes Feld, eine komplexe Konstellation von Aussagen und Aussageverweigerungen.8

Baur verfolgt jedoch ›zu Gunsten‹ von Heidegger die These, dass dessen »Konzeption der Gebärde die Leiblichkeit vor allem als Vollzug gefasst wird und er dabei eine positive, d. h. sachlich aufschließende Idee von Leiblichkeit entwickelt, die in enger Verbindung zur Sprache steht«9, wobei, wie Baur betont, Heideggers Konzept der Gebärde deutlich von einer Idee der Geste zu unterscheiden sei. Es finde so, Baur zufolge, bei Heidegger eine lantente Ablösung der Leiblichkeit von der Physiologie des Menschen statt: »Der Mensch wird nicht nur nicht primär als Leibwesen gedacht, der Leib wird bei Heidegger auch stets als nichtphysiologisch und nicht primär biologisch verstanden.«10 Genauer betrachtet sind es jedoch weniger seine expliziten Ausführungen, als vielmehr eine performative sprachliche Geste Heideggers, welche die Idee von Leiblichkeit einem Konzept der Gebärde auflöst und diese damit zugleich vom Menschen ›abstrahiert‹, bzw. den Menschen von der Sprache subtrahiert: [D]ie Frage der Leiblichkeit […] wird für Heidegger zunehmend als Moment einer Gebärde denkbar. Aber diese Gebärde tritt als ein Sichvollziehen der Sprache selbst auf – und begreift dann auch den Menschen in sich ein. Zuletzt verschwindet sogar das Wort ›Leib‹ zunehmend aus Heideggers Denken: es wird mehr und mehr durch das Wort ›Gebärde‹ ersetzt und durch die Sprache, die dieses Wort nennt: Den in sich sich selben Vollzug des Gebärde, die Sprache ist und den Menschen in sich einbegreift.11

Das Ansinnen Baurs, Heidegger auf dem Umweg der Gebärde doch ein ›impliztes‹ Denken des Leiblichen zuzuschreiben, kann jedoch nicht ganz überzeugen. Baur übergeht relativ leichtfertig die komplexe Problematik des partiellen Schweigens Heideggers und seiner strategischen Aufwertung dieses Topos12 und widmet sich kaum den ethisch-sozialen Implikationen einer Auflösung des Leiblichen in der Gebärde. Für Heidegger scheint die ›Lösung‹ des »Schwierigsten«13, dem Problem des Körpers, nicht in der eingehenden Auseinandersetzung zu liegen, sondern in einer sprachlichen ›Auflösung‹, ja Auslöschung leiblicher Begrifflichkeit, denn andersherum – mit und gegen Baur – bedeutet dies ja gerade, dass Heidegger 8 | Baur: Phänomenologie der Gebärden. Leiblichkeit und Sprache bei Heidegger. S. 17. 9 | Ebd. S. 27. 10 | Ebd. S. 24. 11 | Ebd. S. 297. 12 | Vgl. den Abschnitt »Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹ (Heideggers »Der Weg zur Sprache«) im vorliegenden Band, S. 79. 13 | Vgl. Fußnote 4 im vorliegenden Kapitel.

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die Gebärde (stillschweigend) als Nicht-Leibliches konzipiert. Heidegger löst die phänomenale Leiblichkeit zunehmend in der Prozesshaftig des Sprachlichen auf und trennt sie quasi von der menschlichen Sphäre ab und löscht diese quasi aus – seine Vorstellung von ›Gebärde‹ ist gerade keine körperliche Geste; Heidegger nähert sich dem Ideal einer vom Menschen abglösten Sprache, die nicht mehr vom Körper und seiner Leiblichkeit kontaminiert wird. Diese Problematik wird von Baur angedeutet, aber nur unzureichend problematisiert: Die […] aufgezeigte Denkbewegung macht deutlich, in welch radikaler Weise Heidegger den Leib und die Leiblichkeit im Kontext der Sprache verortet – und wie die Gebärde, die man sich doch als Gebärde einer Menschen, eines menschlichen Subjektes vorzustellen gewohnt ist, hier genutzt wird als Moment und Element einer De-Subjektivierung.14

Andersherum, so ließe wir demgegenüber einwenden, bleibt der Körper/ Leib-Komplex weiterhin unterschwellig zugleich ein ›performativ-sprachliches‹ Problem für das Denken Heideggers, dessen Sprache er kontaminiert, so sehr Heidegger auch versucht, diesen herauszuhalten, zu verdrängen, zu löschen. Eine Szene einer latenten körperlichen ›Bedrängung‹ zeigt sich im Ursprung des Kunstwerkes beispielsweise an jener Stelle, wo Heidegger durch das Dinghafte der Dinge seine Vorstellung von Wahrnehmungsvorgängen darstellt. Indem Heidegger den Dingen, ein, wie er sagt »freies Feld gewähren«15 möchte, kommen sie dem Wahrnehmenden näher, und – wie sich zeigt – kommt etwas in ihnen dabei selbst möglicherweise Heideggers eignener ›Wahrnehmung‹ zu Nahe: »In dem, was der Gesicht-, Gehör- und Tastsinn beibringen«, schreibt Heidegger kurz zuvor, »in den Empfindungen des Farbigen, Tönen- den, Rauhen, Harten rücken uns die Dinge, ganz wörtlich genommen, auf den Leib.«16 Was er als eine solche Szene des Auf-den-Leib-Rückens begreift, zeigt sich jedoch erneut, wie in seinem latent-theatralen Szenario einer Spaltung von Sein und Seiendem oder auch im streiterischen Tumult von Welt und Erde, als deutlicher Kontrast zwischen einem starken, ausgeprägten Konzept von Materialität, das vom Ding- und Zeughaften bestimmt wird (d.h. von ihnen abgegrenzt- und zugleich durch sie geprägt) und zugleich eine Szene leiblicher Abwesenheit. Mit seinem Modell von Wahrnehmung möchte Heidegger, wie er schreibt, »vollends jenes« bedenken, »was wir suchen, das Dinghafte des Dinges«, wobei ihn jedoch »dieser Dingbegriff wiederum ratlos« lässt.17 Er setzt wieder mit der inzwischen schon beinah vertrauten Negation, hier in Form eines »Niemals« ein: 14 | Baur: Phänomenologie der Gebärden. Leiblichkeit und Sprache bei Heidegger. S. 298. 15 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 10. 16 | Ebd. 17 | Ebd.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz Niemals vernehmen wir […] im Erscheinen der Dinge zunächst und eigentlich einen Andrang von Empfindungen, z. B. Töne und Geräusche, sondern wir hören den Sturm im Schornstein pfeifen, wir hören das dreimotorige Flugzeug, wir hören den Mercedes im unmittelbaren Unterschied zum Adler-Wagen.18

Die Dimension des Körper- bzw. Leiblichen bildet so nicht nur in den Dingen sondern, grundsätzlich innerhalb der Heidegger’schen Kategorie des Daseins einen ›blinden Fleck‹. Etwas bleibt somit im Argen in Heideggers Philosophie und seinem Denken, das nicht unabhängig vom Körper zu ›begreifen‹ ist, sich jedoch nicht direkt, nicht unmittelbar als Problem des Körpers stellt. Sondern, und dies wäre keineswegs das direkte Gegenteil, es ist mit einer nicht un-wesentlichen Absenz diverser Dimensionen des Körperlichen verbunden.19 Aho verweist so darauf, dass eine Kritik an der Heidegger’schen Vernachlässigung des Körperlichen weiterhin angebracht sei. Es sei notwendig »to show that Heidegger was not, at bottom, interested in giving an account of embodied agency«.20 Ohne die Frage nach dem ›Problem des Körpers‹ in Heideggers Werk hier umfassend abhandeln zu können, soll die Überlegung, welche Rolle Leib und Körper als Verkörperung (d.h. als ein Geschehen) – und daran anschließend auch leibliche Wahrnehmung innerhalb Heideggers Riss-Denken eine Rolle spielt, uns im Folgenden weiter beschäftigen. Eine vorläufige These zum Zusammenhang zwischen leiblicher Ausblendung und Fragen der Risshaftigkeit soll lauten: Die Frage, wie Körper-/Leiblichkeit in Heideggers Denken ausgeblendet bleibt, ist nicht ohne einen engen Bezug mit seinem (im-)materiellen Riss-Denken zu begreifen. Diesen Ansatz aufgreifend, gilt es von hier ausgehend, über Heidegger hinaus, den folgenden Perspektiven zu eröffnen: Wie könnte ein Denken, eine Vorstellung von Riss-Figuren aussehen, das beim Körperlichen (und seinen 18 | Ebd. 19 | Hierzu wären beispielsweise auch Heideggers Überlegungen zu Körper- und Leiblichkeit und eine eingehende Untersuchung des Heidegger’schen Begriffs vom »Körperding« in Sein und Zeit heranzuziehen. Vgl. hierzu Heidegger und Herrmann: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 2. Sein und Zeit. S. 75. S.a. Derridas Hinweis auf das »dunkle Problem eines »Zu-sammenvorhanden-seins«* von ›Körperding‹ und ›Geistding‹«. Derrida: Vom Geist. S. 33. 20 | Aho: Heidegger’s neglect of the body. S. 6. Zugleich warnt Kevin Aho jedoch bei der Annäherung an dieses Problem des Körpers bei Heidegger vor Mißinterpretationen: »I suggest that the criticisms of Heidegger regarding his neglect of the body hinge largely on a misinterpretation of Heidegger’s use of the word ›Dasein.‹ For Heidegger, Dasein is not to be understood in terms of everyday human existence or embodied agency but—from his earliest Freiburg lectures onward—as an unfolding historical horizon or space of meaning that is already ›there‹ (Da), prior to the emergence of the human body and its various capacities.« Ebd. S. 4.

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leiblichen Bedigungen) ansetzt, oder andersherum, wie könnte ein Vor-Stellen von Körperlichkeit aussehen, dass sich durch Risse, bzw. aus Figuren und Figurationen des Risses heraus ereignet? Mehr noch: Wie ließe sich ein Denken der Körper (auch: denkender Körper) auf dem Umweg einer Unkörperlichkeit von Riss-Figuren, d.h. Figuren am Rande ihrer Materialität/Materialisierung vorstellen, welche Bewegungen würde ein ein körperliches Denken verursachen, das sich zugleich externalisiert und aus dieser gespaltenen Position zum Körper als einem anderen Körper insistierend zurückkehrt? Wie ließe sich ›das Problem‹ des Körperlichen als geteiltes Problem begreifen, dass damit auch einen Zugang, eine Brücke zu Anderen ermöglicht?

Verwirklichung im Körper – Der Riss als Knacks (Deleuze) Machen wir hier einen Sprung, vorübergehend weg von Heideggers latent unkörperlichem Denken, hinein in die Sphären, Faltungen und Schichtungen – die Kontaminationen des Körperlich-Leiblichen: In Gilles Deleuze Abhandlung zur Logik des Sinns, konzipiert dieser eine Serie unterschiedlicher Paradoxa, die einer eigenen, poetischen mit und durch Körperlichkeit gedachten ›Logik‹ folgen. Darin finden sich am Rande (auf dem Umweg einer Lektüre F. Scott Fitzgeralds Der Knacks 21) wichtige Hinweise auf Figuren der Risses, die durchzogen sind von Spuren des Körperlichen und der Verkörperung; Deleuze situiert ein präzise beobachtetes, materielles Denken des Risses quasi explizit am Rande eines inhärent dynamischen, körperlichen Denkens und eines dynamisierten Denkens von Körperlichkeit: Der Riß ist weder innerlich noch äußerlich, er verläuft auf der Grenze, unmerklich, unkörperlich, ideell. Daher steht er zu dem, was im Äußeren oder im Inneren geschieht, in komplexen Interferenz und Kreuzbeziehungen, ein einer tänzelnden Verbindung, einen Schritt zum einen, einen Schritt zum anderen, in zwei unterschiedlichen Rhythmen: alles, was lärmend eintritt, tritt am Rande des Risses ein und wäre ohne ihn nichts; umgekehrt setzt der Riß seinen schweigenden Verlauf nur fort, ändert seine Richtung entsprechend den Linien des geringsten Widerstands nur, spannt sein Netz nur unter dem Schlag dessen, was eintritt. Bis zu dem Augenblick, in dem die beiden, in dem der Lärm und das Schweigen sich im Krachen und Zerbersten eng und dauerhaft ineinander binden, was nun bedeutet, daß das Spiel des Risses sich in der Tiefe des Körpers inkarniert hat, während zur gleichen Zeit von innen und von außen die Ränder gestreckt wurden.22 21 | Vgl. Fitzgerald, Francis Scott und Schürenberg, Walter: Der Knacks. Berlin: Merve-Verl., 1984. 22 | Deleuze: Logik des Sinns. S. 194.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

Auffällig an dieser Stelle ist die vorausgeschickte spezifische Affinität des Risses zum Tänzerischen, die komplexe Beziehung zu Formen der Materialität, die in verschiedenen Rhythmen, in unterschiedlichen Schritt-Setzungen geschieht, sich als ein a-rhythmisches Voranschreiten ereignet und schließlich in einem spürbaren, lautlichen Tumult zuspitzt und sich »in der Tiefe des Körpers inkarniert«.23 Der Riss im Sinne Deleuze’, so scheint es, findet hier eine kaum genau zu bestimmende Form der Entsprechung im Körper, in der Körperlichkeit, er springt in seiner tänzerischen Bewegung quasi auf den Körper über und ent-springt diesem. Etwas später kommt Deleuze auf diese Auslegungen zurück und nimmt eine (latent paradoxale) Bestimmung von Phänomenen des Risses aus einer fundamentalen, konstitutiven Beziehung des Risses zum Körper, oder genauer, zu Prozessen der Verkörperung vor – unter der Bedingung einer prinzipiellen Unentscheidbarkeit: Die Frage ob der Riß seine Verkörperung, seine Verwirklichung im Körper in dieser oder anderer Form umgehen kann, ist offensichtlich nach allgemeinen Regeln nicht zu entscheiden. Der Riß bleibt ein Wort, solange nicht auch der Körper inbegriffen ist und solange die Leber und das Hirn, die Organe nicht jene Linien aufweisen, anhand deren man das Künftige weissagt und sie sich selbst prophezeien.24

Wie hier unmittelbar deutlich wird, steht der Deleuze’sche Ansatz, der (seiner späteren Theorie des organlosen Körpers vorausgreifend) Fragen von Körperlichkeit und Verkörperung ins Zentrum rückt, diametral entgegengesetzt zum Nachdenken Heideggers über Figuren des Risses. Selbst beim kursorischen Lesen der Deleuze’schen Passagen wird ein wesentlich erweitertes Referenzspektrum spürbar, das gänzlich andere Semantiken bzw. Dynamiken von Rissfiguren mit sich führt, aus denen sich wiederum ein signifikant anderes Momentum in Bezug auf ihre (körperlich-leiblich) Nachvollziehbarkeit generiert. Andersherum, so lässt sich ableiten, ergibt sich für das Nachdenken über Risse eine andere, tiefergehende, wesentliche Form der Leerstelle, wenn ihr Bezug zu Verkörperung nicht eingehend berücksichtigt wird – vielleicht, so ließe sich mit und gegen Heidegger einwenden, wäre ein Riss, der den Körper außer Acht lässt, tatsächlich eine »bloße Kluft« innerhalb der Sprache. Oder nochmal mit Deleuze: »Der Riß bleibt ein Wort, solange nicht auch der Körper inbegriffen ist.«25 Um die enge Bezogenheit von Rissfiguren und Formen der Materialität zu untersuchen, können Körper- und Leiblichkeit keine unwesentliche Rolle spielen, zugleich soll, die Argumente Karen Barads im Hinterkopf behaltend,26 diese Form der subjektbezogenen 23 | Ebd. 24 | Ebd. S. 201. 25 | Ebd. 26 | Vgl. den Abschnitt »Materialität/en« im vorliegenden Band, S. 44.

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Verkörperung nicht die einzige, zentrale, sinnstifftende Instanz werden, sondern eine gleichberechtigte Perspektive zu weiteren »non-human agencies« bilden. Risse, denen als zutiefst unkörperliche Figuren über das einfache Wort oder den Begriff hinaus, bereits ein dynamischer Überschuss eingeschrieben ist, suchen mit Deleuze ihre paradoxale Verwirklichung im Körper – in diesem Sinne soll das folgende Kapitel der Überlegung dienen, in welcher Weise wir uns eine ebenso latent paradoxale Verkörperung von Rissen vorstellen können, bzw. in welcher Weise der Begriff der Verkörperung aus einer Perspektive von Rissen zu erweitern wäre.

Verkörperung von Rissfiguren Der Begriff der Verkörperung wird, Erika Fischer-Lichte zufolge, im 18. Jahrhundert eingeführt, um den Vorgang bezeichnen zu können, in dem etwas Unkörperliches mit einem Körper begabt wird und [der] insofern einer Zwei-Welten-Theorie entspringt. Er entspricht philosophischen Auffassungen der Zeit, die den von René Descartes angenommenen Dualismus von Körper und Geist idealistisch aufzuheben suchen.27

Basis dieses Ansatzes ist zum einen Helmuth Plessners Unterscheidung zwischen Körper-Haben und Leib-Sein bzw. seinem In-der-Welt-Sein. In das Blickfeld rückt somit die Materialität der Körperlichkeit (aus theaterwissenschaftlicher Perspektive insbesondere diejenige von Schauspielenden), die Fischer-Lichte mit Plessner als conditio humana begreift; es handele sich um das »Material der eigenen Existenz«.28 Während sich diese fundamentale Unterscheidung in Richtung einer Phänomenalität des Leibes einerseits und dem semiotischem Körper andererseits weiter ausdifferenzieren lässt, klingt in ihren Schnittbereichen – unter Berücksichtigung der oben ausgeführten Betrachtungen Derridas und Heideggers – zugleich eine Unterscheidung zwischen zwei weiteren ›Systemen‹ an: Es wäre zu fragen, inweit Plessners Unterscheidung von Körper-Haben und Leib-Sein in gewisser Weise komplementär zu Heidegger ontologischen Kategorien von Welt und Erde gesehen werden könnte, inwieweit Heideggers In-der-Welt-Sein, das wiederum direkt auf seine ontologische Kategorie des Da-Seins Bezug nimmt, mit dem

27 | Fischer-Lichte, Erika: »Verkörperung«, in: Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris und Warstat, Matthias (Hg.): Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart u.a.: Metzler, 2005. S. 403-405. Hier: S. 403. Zur umfassenderen Darstellung und Kontextualisierung vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 130ff. 28 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 129. Vgl. Pleßner, Helmuth und Dux, Günter: Philosophische Anthropologie. Frankfurt am Main: Fischer, 1970.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

Leib-Sein korrespondiert, bzw. welche Spannungen, Wechselwirkungen und wesentliche Lücken, welche ›Kluft‹ demgegenüber zwischen den unterschiedlichen Materialitätsvorstellungen Erde und Körper zu konstatieren wäre.29 Mit Blick in Richtung Derrida ließe sich einwenden, dass in der Plessnerschen Unterscheidung zudem die Problematik der beiden sich gegenseitig durchdringenden Sphären Ökonomie und Ontologie aufgerufen wird: [D]er Mensch hat einen Körper, den er wie andere Objekte manipulieren und instrumentalisieren kann. Zugleich ist er dieser Leib, ist Leib-Subjekt. Indem der Schauspieler aus sich heraustritt, um ›im Material der eigenen Existenz‹ eine Figur darzustellen, weist er nachdrücklich auf die Dopplung und die in ihr gegründete Abständigkeit hin.30

In dieser Spannung liege die »Bedingung der Möglichkeit« für die »performative Hervorbringung von Körperlichkeit in der Aufführung und zum anderen für ihre je spezifische Wahrnehmung durch die Zuschauer«.31 Das Paradigma der Verkörperung stellt, Fischer-Lichte zufolge, demnach eine Verkomplizierung dualistischer Sichtweisen dar; an die Stelle einer Frage eines ›Entweder-oder‹ tritt die komplexe Durchdringung, gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Bezug-Systeme und Strukturen; zugleich eröffnet sich hier der Fragehorizont in Richtung der Bedingungen, Voraussetzungen und Wechselwirkungen innerhalb der Verkörperungsprozesse. Hierin klingt durchaus Heideggers wechselseitige Durchdringung der Sphären von Welt und Erde an, die in einem Streit-haften Tumult des gegenseitigen Zeigens und Verbergens zugleich prozesshaft ineinander verwoben sind. In der Verkörperung als einer »Begabung des Unkörperlichen« schwingt also ebenfalls von vornherein eine Spur der Abwesenheit mit: 29 | Die Unterschiedlichkeit der Ansätze, bzw. eine direkte Kritik Plessners am Denken Heideggers fasst Olivia Mitscherlich wie folgt zusammen: »Plessner sieht den Existentialismus nun deswegen an der Theorie scheitern, weil dieser mit dem geschichtlichen Selbstentwerfen die Grundschicht menschlichen Lebens in einer Weise versteht, die entscheidende Aspekte an der menschlichen Wirklichkeit abblendet. Er betont dementsprechend, daß die ›ungeschriebene Lehre‹ im Rücken des Heidegger’schen Philosophierens keineswegs unschuldig ist. Indem Heidegger die menschliche Wirklichkeit ausschließlich als geschichtlich begreift, unterschlägt er nämlich die gegenläufige Dimension menschlicher Wirklichkeit: daß der Mensch seine Wirklichkeit nicht nur geschichtlich entwirft, sondern auch umgekehrt in die ihm fremde Wirklichkeit der Natur eingelassen, von ihr bestimmt ist. Er ignoriert mit anderen Worten die natürliche Ohnmacht des Menschen als eines lebendigen physischen Dings.« Mitscherlich, Olivia: Natur und Geschichte: Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie. Berlin: Akademie Verlag, 2007. S. 42. 30 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. S. 129. 31 | Ebd.

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»Eine Verkörperung gibt einen Körper an etwas, das keinen Körper hat. Eine Verkörperung gibt ihren Körper her für etwas, das sie selbst nicht ist.«32 Die Berücksichtigung des Absenten öffnet so den Blick für die Bedingungen von Verkörperung als theatrale Prozesse: »Nicht die Frage nach der Präsenz macht die Theatralität von Kunstwerken aus, sondern das, was diese Präsenz erzeugt und was sie als ihr Anderes ausblenden muss.«33 Im Sinne eines solchen Spiels von Ausblendungen und Präsenzerzeugungen als Bedingungen des Theatralen, fragt Dieter Mersch nach dem »Verhältnis von Verkörperung und Entkörperung«34 und verbindet mit dem Begriff der Verkörperung eine Reihe methodologischer Paradoxa (referentiell, materiell und performativ), die an Stelle einer Fokussierung auf Präsenz ebenfalls stärker auf etwas Absentes, einen Entzug innerhalb dieser Darstellungsprozesse hinweisen: Was an Darstellungen interessiert ist, dass sie ihr Dargestelltes ver-körpern. Mit der Seite ihrer Ex-sistenz, ihres Erscheinens wird zugleich die Seite der ›Verkörperung‹ relevant. Man könnte sagen: Verkörperungen bildet [sic!] die eigentliche Arbeit der Darstellung. Mit ihr gelangt anderes in die Sicht als nur ihr Sinn, die Ordnungen ihres Bedeutens, nämlich deren nichtrepräsentierbare Präsentation.35

Während Mersch zum Einen den positiven Akt der Setzung von Darstellungen, einer »Affirmation des ›Dass‹ (quod)«36 hervorhebt, trägt sich aufgrund der beschriebenen Paradoxa referentieller, materieller und performativer Prozesse von seiner semiotischen Seite her zugleich eine »Unruhe des Zeichens«, bzw. eine »systematische Unerfülltheit« in der »Unbegreiflichkeit des Bedeutens« in diesen Prozess ein.37 Innerhalb dieses Feldes struktureller Unentscheidbarkeiten weise nun, mit Derrida gesprochen, die »Logik – oder Grammatik […] das Paradox der Referenz an ein konstitutionelles Scheitern, das im Zeichen stets einen Spalt offen lässt, während die Rhetorik sie in eine unendlich-differierende Kreativität ummünzt«.38 Ansätze einer solchen kreativ-scheiternden »Verkörperung« struktureller Unruhe, bzw. Unerfülltheit findet Mersch dabei bereits und besonders in den Figuren, bzw. Figurationen des Barock: 32 | Schäfer, Martin Jörg: »Verkörperte Entkörperung, theatraler Materialismus. Hegel, Schiller, Nancy«, in: Fischer-Lichte, Erika; Horn, Christian und Warstat, Matthias (Hg.): Verkörperung, Tübingen u.a.: Francke, 2001. S. 91-110. Hier: S. 91. 33 | Siegmund: Abwesenheit. S. 10. 34 | Mersch, Dieter: »Paradoxien der Verkörperung«, S. 10. 35 | Ebd. S. 5. 36 | Ebd. S. 2. 37 | Ebd. S. 3. 38 | Ebd. S. 4.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz Nichts anderes bedeutet der Prozess der barocken Allegorese. Ihr Medium ist die Verkörperung. Im Repertoire der Verkörperung aber wächst das Paradox der Referenz ins Monströse. Ihm eignet eine immanente Wucherung, das sie zu immer größeren, immer subtileren oder ausladenderen Formen zwingt.39

Mit den Ausführungen Walter Benjamins landet Mersch dabei nun bei einem Zusammenhang von Verkörperung und Repräsentation als Figur des Risses: Walter Benjamin hat diese Monstrosität als Vergeblichkeit der Transzendenz beschrieben. Die ›Apotheose der Allegorie‹ mit ihrer ›endlos vorbereitenden, umschweifigen, wollüstig zögernden Art‹, wie er sagt, leidet am Riss der Repräsentation, der sie im Innern von sich trennt.40

Die gesamte auf Walter Benjamin verweisende Passage scheint der Länge nach durchzogen, umspielt oder auch vorstrukturiert von einer grundsätzlichen rißhaften Spur, die am Ende schließlich ihre Konkretion in einer sprachlichen Figur des Risses selbst findet. Die barocke Allegorese bringe, so Mersch mit Benjamin, bereits zentrale Fragen und Probleme der Verkörperung auf den Punkt, sie antizipiert darin zugleich bereits einen inneren Riss, der – begleitet von weiteren Paradoxa, nämlich dem performativen und dem materiellen – Prozesse der Repräsentation im Inneren aufspaltet und von sich selbst trennt. Hierin klingt deutlich Heideggers Einführung der Riss-Figur an: »Der Streit [zwischen Welt und Erde] ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft.«41 Dieser Spur von Figuren des Risses in Bezug zu Fragen der Verkörperung innerhalb Formen der barocken Allegorese soll nun im folgenden Kapitel konkret nachgegangen werden, unter Berücksichtigung der folgenden Fragestellungen: • Wie stellen sich Rissfiguren aus einer Perspektive der Verkörperung und der Körperlichkeit dar, wie gehen mögliche Prozesse von Darstellung mit der prinzipiellen Schwierigkeit um, dass es sich beim Riss um ein fundamental unkörperliches Phänomen handelt? • In welcher Weise wären Risse in das »mapping«42 von Körpern einzutragen, d.h. in die Ordnungen Verortungen von Kategorien des Köperlichen?

39 | Ebd. S. 5. 40 | Ebd. 41 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. 42 | Philipp Sarasin versteht dieses ›mapping‹ als feststellen einer »Codierung des Körpers durch Narrative, Plots, Diskurse und entsprechend regulierte Prakriken, Bilder und Repräsentationstechnologien, die ihn als sozial existierenden bis ins Innerste hinein produzieren«. Sarasin, Philipp: »›Mapping the Body‹. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ›Erfahrung‹«, in: Sarasin, Philipp

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Welche Orte beschreiben Risse auf der ›Karte‹ des Körpers, welche (diskursiven) Differenzen werden dort durch sie verzeichnet? • In welcher Weise haben Risse (potentiellen) Anteil an Prozessen eines »ReMembering the Body«43, wie Gabriele Brandstetter jene Vorgänge genannt hat, in denen es einerseits um Formen des Erinnerns und zugleich der Strukturierung von Wahrnehmung aus Perspektive desintegrierter Körperlichkeiten geht, in denen Körper-Bilder und Modelle von Körperlichkeit permanent um- und weitergeschrieben werden? • Welche Spannungsverhältnisse entstehen zwischen Riss-Figuren und Körpern? Wie steht es um die sprachliche Verfassung dieser Prozesse der Verkörperung von Rissen: In welcher Weise übersteigen Figuren des Risses in und als Körperlichkeit die ›Ordnungen‹ des Körpers, wie bringen sie dessen Zeichenhaftigkeit und Zeichensysteme zur Sichtbarkeit und inwieweit übersteigen sie diese Prozesse der Signifikation? Es geht somit um eine Annäherung von Fragen nach Riss und Körper aus Perspektive der spezifischen Formen ihres jeweiligen ›Insistierens‹, die unterschiedlichen Weisen auf die beide Phänomene ein ›hier‹ bzw. einem ›nicht-hier‹, das sich zugleich fundamental von einem möglichen ›dort‹ unterscheidet, beschreiben, vorgeben, darstellen, wie sie in nachdrücklicher Weise auf sich und ihre unmittelbare Umgebung verweisen und zugleich immer wieder dabei an der Schwelle eine Rückzuges aus der Bereich der Aufmerksamkeit oder der Wahrnehmbarkeit stehen.

Exkurs III: Dramatische Metamorphosen: Verkörperte Figuren des Risses in den komischen Fassungen von Pyramus und Thisbe (Shakespeare, Gryphius) Ovid, der sich für die Metamorphosen seinerseits bei Motiven aus der ptolomäischen Zeit bedient hatte,44 schafft mit ›seiner‹ Erzählung (d.h. mit seiner schriftlichen Fassung) von »Pyramus und Thisbe« eine Vorlage, eine Stanze, die in in diversen literarischen und bildnerischen Traditionen verschiedener Epochen aufgegriffen wurde und damit in unzähligen Gestalten und Ausgestaltungen immer wieder auftaucht. Die Geschichte der Rezeption und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema, die ›Fortschreibung‹ (als Wiedererzählung

(Hg.): Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. S. 100-121. Hier: S. 115. 43 | Brandstetter (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung. 44 | Vgl. Hüls: Pyramus und Thisbe Inszenierungen einer »verschleierten« Gefahr. S. 7.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

und/oder ›Neuerfindung‹) der Geschichte der unglücklich Verliebten, erfährt dabei ihrerseits eine stetige Wandlung, die ›Metamorphosen‹ schreiben sich als solche darin ständig fort. Das Spektrum ihrer Verwandlungsmöglichkeiten ist im vollen Umfang so erst langsam im Nachhinein sichtbar geworden und spiegelt seit ihrer Aufzeichung durch Ovid, kurz nach dem Jahre Null der christlichen Zeitrechnung, in ihren unterschiedlichen Verwandlungen und Ausprägungen den jeweiligen Zeitgeist wider. Zu den literarischen und bildlichen Variationen kommen schließlich ab Ende des 15. Jahrhunderts zahlreiche dramatische Fassungen hinzu; die Erzählung erlangt nach und nach »Bühnenreife«45 und taucht so u.a. bei William Shakespeare, als prominentestem Vertreter, in verschiedenen Variationen wieder auf. Deutlich erkennbar ist die ›dramatische Verwandtschaft‹ zur Tragödie von Romeo und Julia; aber Ovids Erzählung findet bekanntermaßen auch im Sommernachtstraum eine weitere Bearbeitung, wo die ursprüngliche Binnenerzählung eine dem barocken Gestus entsprechende Wendung erfährt: Shakespeares genialer Neueinfall war die Theaterfassung mit dem Theater auf dem Theater. Zur Hochzeit des Theseus und der Hippolyta führen Handwerker das Spiel von Pyramus und Thisbe auf und machen dabei alle nur erdenklichen ›handwerklichen‹ Fehler.46

Shakespeares Idee zum Spiel-im-Spiel befragt die eingebettete tragische Erzählung bezeichnender Weise im Register des Komischen (und Absurden) anhand der Beziehung von Schauspiel und Handwerk – und zwar in doppelter Richtung: mit dem Auftreten der Handwerker als Schauspielende stellt sich zugleich die Frage nach dem Schauspiel als ›Handwerk‹: es geht hier somit auch um Techniken der Darstellung, der Sprache und des Sprechens sowie dezidiert – um Fragen der Verkörperung. Der komische Gestus einer laienhaften und zudem durch und durch dilettantischen Form der Darstellung, welches das Schauspielen als missglückendes schauspielerisches ›Handwerk‹ ausstellt, übersieht dabei keineswegs die Gelegenheit, sich das Motiv des Risses, als (er)baulichen Fehler47 (möglicherweise ›handwerklichen‹ Ursprungs) spielerisch vorzunehmen und 45 | Ebd. S. 89. – Leider geht Hüls auf die näheren Umstände dieses »Reifungsprozesses« nicht weiter ein. 46 | Ebd. S. 94. 47 | Aristoteles betont in seiner Poetik, mit Bezug auf das Verhältnis von Komödie und Verfehlung, die Notwendigkeit einer gewissen ›Harmlosigkeit‹ der dramatischen Handlung: »Die Komödie aber ist, wie gesagt, Nachahmung von zwar schlechteren Menschen – aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern ›nur‹ zum Unschönen gehört das Lächerliche. Denn das Lächerliche ist eine bestimmte Art der Verfehlung ›des Handlungszieles‹ und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist.« Aristoteles; Schmitt, Arbogast; Grumach, Ernst und Flashar, Hellmut (Hg.): Poetik. Berlin: Akad.-Verl, 2008. S. 8.

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das Spiel-im-Spiel auf komische Weise ein weiteres Mal in sich einzufalten (der Riss als ›Spiel‹-im-Spiel-im-Spiel). Wand und Riss werden dabei in Shakespeare’s Fassung gleichzeitig von einer einzigen darstellenden Figur (Handwerker-alsSchauspielende-als Wand/Riss) verkörpert, wie der ebenfalls als sprechende Figur auftretenden »Prolog« erläutert: Der Mann ist Pyramus, wofern ihr es wollt wissen; Und dieses Fräulein schön ist Thisbe, glaubt es mir. Der Mann mit Mörtel hier und Leimen soll bedeuten Die Wand, die garstge Wand, die ihre Lieb tät scheiden. Doch freut es sie, drob auch sich niemand wundern soll, Wenn durch die Spalte klein sie konnten flüstern wohl.48

Die »Wand« präsentiert sich kurz darauf als Figur des Stücks selbst: In dem besagten Stück es sich zutragen tut,
 Daß ich, Thoms Schnauz genannt, die Wand vorstelle gut.
 Und eine solche Wand, wovon ihr solltet halten,
 Sie sei durch einen Schlitz recht durch und durch gespalten,
 Wodurch der Pyramus und seine Thisbe fein
 Oft flüsterten fürwahr ganz leis und insgeheim.
 Der Mörtel und der Lehm und dieser Stein tut zeigen,
 Daß ich bin diese Wand, ich wills euch nicht verschweigen;
 Und dies die Spalte ist, zur Linken und zur Rechten,
 Wodurch die Buhler zwei sich täten wohl besprechen.49

In Shakespeares »Lustspiel« entwickelt sich aus der Verkörperung der Wand durch Darstellende ein anzügliches, stets doppeldeutiges Spiel voller Anspielungen auf Ähnlichkeiten zwischen von Riss und diversen Körperöffnungen: Pyramus Und du, o Wand, o süß’ und liebenswerte Wand,
 Die zwischen unsrer beiden Eltern Haus tut stehen;
 Du Wand, o Wand, o süß’ und liebenswerte Wand!
 Zeig deine Spalte mir, daß ich dadurch mag sehen.


48 | Shakespeare, William: »Ein Sommernachtstraum (Übersetzt von August Wilhelm Schlegel)«, Complete works: English & German Bd. 61 Digitale Bibliothek, Berlin: Directmedia Publ., 2002. Zugriff unter: http://www.digitale-bibliothek.de/ band61.htm am 27. Aug 2016. Hier: S. 12856. 49 | Ebd. S. 12858.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz (Wand hält die Finger in die Höhe.)
 Hab Dank, du gute Wand! der Himmel lohn es dir!50

Der ›banale‹ Riss in der Wand verwandelt sich in der barocken Überführung ins dramatische Genre in ein körperlich geprägtes Motiv, er erscheint nun als im doppelten Sinne ›ordinäres‹ Loch, als obszöner Spalt in einem mehrdeutigen, sexuell konnotierten Sinne. Die von einem Schauspielenden verkörperte, ›semipermeable‹ Trennwand wird aktiv in das (Liebes-)Spiel mit einbezogen und tritt dabei an die Stelle des unerreichbaren Anderen. Als dessen Stellvertreter und Platzhalter wird dem Riss beinahe eine Art Fetisch-Funktion zuteil, eine Ersatzfigur als Spiel- und Austragungsort vulgärer, anzüglicher Anspielungen – selbst schon beinahe ein Objekt der Begierde: Thisbe
 O Wand, du hast schon oft gehört das Seufzen mein, Mein’n schönsten Pyramus weil du so trennst von mir; Mein roter Mund hat oft geküsset deine Stein’,
 Dein’ Stein’, mit Lehm und Haar geküttet auf in dir. […] Pyramus O küß mich durch das Loch von dieser garstgen Wand! Thisbe Mein Kuß trifft nur das Loch, nicht deiner Lippen Rand.

Durch die dramatisch antizipierte Verkörperung von Wand und Riss/Loch/Spalt durch eine*n Darsteller*in, wird dieses Spiel zum Bild einer absurden Menage á trois, mit und durch eine verkörperte Figur der Wand/des Risses in Gestalt einer*s stummen Dritten. Die Dualität der Paarbeziehung bricht in ihrer Verkörperung auf der (diegetisch gedoppelten) Bühne auf, wird gespalten, verlängert, verschoben, spielerisch um eine Mittler-Figur ergänzt, sozugagen ›medial‹ erweitert. Der deutsche Dramatiker Andreas Gryphius, lehnt sich mit seiner barocken Komödie Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz (1657) sowohl bei Ovid als auch bei Shakespeare motivisch an und steigert die sprachliche Derbheit der Darstellung nocheinmal.51 Gryphius flechtet in die Darstellungsszene dabei zugleich ein explizites Nachdenken über die möglichen Formen des Verkörperns 50 | Ebd. S. 12859. 51 | Zu einer detailierten Beschreibung der Genese des Peter Squentz-Stoffes und der enthaltenen Figuren bis Gryphius vgl. Burg, Fritz: »Über die entwicklung des Peter-Squenz-stoffes bis Gryphius«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Heft 25, 1881. S. 130-170 sowie Best, Thomas W.: »Gryphius and the ›Squentz-Stoff‹«, in: Monatshefte, Nr. 2, Heft 76, 1984. S. 182-191.

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und Darstellens von Wand und Riss ein und erschafft so ein absurd-komisches Spiel mit Fragen von Konvention und Repräsentation. So lässt er die Charaktere (Peter Squentz, Pickelhäring, Meister Kricks, Meister Bulla-Butän, Meister Klipperling, Meister Lollinger, Meister Klotz-George) im ersten Aufzuf des dritten Kapitels sinnieren: P. Sq.
 […] Wie werden wir es mit der Wand machen? M. Klipperl.
Eine Wand auffzubauen für dem Könige / das wird sich nicht schicken. P. H.
 Was haben wir viel mit der Wand zu thun? P. Sq.
 Ey ja doch / Piramus und Thisbe müssen mit einander durch das Loch in der Wand reden. M. Klipperl.
 Mich düncket / es wäre am besten / man beschmierete einen umb und umb mit Leimwellern / und steckte ihn auff die Bühne / er müste sagen daß er die Wand wäre / wenn nun Piramus reden sol / müste er ihme zum Maule das ist zum Loch hinein reden / Wenn nun Thisbe was sagen wolte / müste er das Maul nach der Thisbe kehren.52

Gryphius führt die Idee Shakespeares fort, den ursprünglich tragischen ›Stoff‹ von Pyramus und Thisbe in eine Komödie zu übertragen, verschärft aber den Kontrast, indem er seine vermeintlich tumben Handwerker eine Aufführung vor dem König planen lässt. Ihre prahlerischen Bemühungen, sich standesgemäß auszudrücken, werden von ihrem offensichtlichen Unvermögen zu einem solchen verbalen Registerwechsel konterkariert und persifliert. Mit ihrer ›Inszenierungsidee‹, einer weiteren Version der Verkörperung von Wand und Riss vereint zu einer Figur, die sich zwischen das Paar drängt, schaffen die schauspielenden Handwerker (bzw. Gryphius, der ihnen die Worte in den Mund legt) ein absurdes Bild der Wieder- und Weitergabe von Sprache, welches auch ihre eigene Situation ironisch spiegelt. Sie imaginieren Wand/Riss als einen Ort, an dem Rede, als gesprochene Sprache nicht auf ein ›offenes Ohr‹ trifft, sondern auf einen geöffneten (staunenden? gähnenden? erstarrten?) Mund, in den Hineingesprochen wird. Der offene, ›zuhörende‹ Mund zeigt sich als 52 | Gryphius, Andreas und Dünnhaupt, Gerhard: Absurda Comica oder Herr Peter Squentz: Schimpfspiel. Stuttgart: Reclam, 1983. S. 14f.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

widersprüchlicher Ort der Aufnahme und Weitergabe von Sprache; beschnitten vom Hör-Sinn wird er zum Ort, der Aussage geben soll, »stummes« Zeugnis von dem, was ihm zuvor eingeredet wurde ohne es eigentlich aufgenommen, verstandesmäßig durchdrungen zu haben. Gryphius schafft hiermit, hermeneutisch gesehen, eine Szene, in der Worte dem anderen sprach-bildlich ›in den Mund gelegt‹ werden – und reflektiert damit zugleich ironisch die eigene Tätigkeit als dramatischer Autor. Ein komplexes Spiel mit Worten, Sprach-Bildern und Darstellungs-Ebenen, als Akte überlagernder und widersprüchlicher Verkörperungen: die Handwerkenden als Schauspielende verkörpern die Figuren Pyramus’ und Thisbes; die sie trennende Wand tritt als Figur auf, der Riss der Wand findet seine Verkörperung im geöffneten Mund, der sich zur einen oder anderen Seite wendet. Es bleibt in der Logik des gewählten ›Sprach-Bildes‹ dabei ›offen‹, was mit den ›in den Mund gelegten Worten‹ eigentlich geschieht – es wird auf einen geöffneten Mund eingeredet, der wiederum, als stummer Rachen, die Worte zu verschlucken scheint – in diesem Akt der Darstellung deutet sich ein Versagen der Sprache in ihrer Dialogizität an. Die absurde Szene nimmt das Bild des ›Worte-in-den-Mund-Legens‹ allzu wörtlich.53 Hierin trägt sich die Spur eines Nicht-Funktionierens des Dialogischen in die Medialität der gesprochenen Sprache ein – eine Verschiebung des Akzentes der Sprache weg von einer dialogischen Logik, hin zu einem körperlichen Darstellen und Zeigen, das in seinem Kern stets die Möglichkeit eines mißlingenden (Sprech-)Aktes beinhaltet. Gryphius baut, Shakespeares Ansatz weiterführend, auf diese Weise einen augenzwinkernden Kommentar über schauspielerische Techniken in seinen Text ein, welche die darstellende Person als vorübergehenden, tumben ›Behälter‹ von Worten imaginiert, und die von vornherein der Weitergabe möglicher Feinsinnigkeiten des dramatischen Textes entgegenstehen. Die in der dramatischen Vorlage vorgegebene Verkörperung der Schauspielenden durch tumbe, schauspielende Handwerker*innen (auch dies als ein weiterer ironischer Kommentar auf das zeitgenössische Schauspiel-als-Handwerk zu lesen), die sich mit ihrer Tätigkeit auf fremdem Terrain bewegen verschärft und verdoppelt szenisch die Frage nach der ›Materialität‹ des gegenwärtigen Spiels und wird zugleich an die historisch bedingte Frage der Ständezugehörigkeit und ein ironisches Spiel mit dem bürgerlichen Bildungskanon gekoppelt. Zugleich ist natürlich zu bedenken, dass diese Form der komisch-gebrochenen ›Selbst-Darstellung‹ eine 53 | Peggy Phelan schreibt in The Ontology of Performance: »The mimicry of speech and writing, the strange process by which we put words in each other’s mouths and others’ words in our own, relies on a substitutional economy in which equivalencies are assumed and re-established. Performance refuses this system of exchange and resists the circulatory economy fundamental to it.« Phelan: Unmarked. The politics of performance. S. 149.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

außerordentlich hohe schauspielerische Anforderung an die Darstellenden und ihre darstellerische ›Technik‹ erfordert, die sich jedoch im Sinne einer Latenz des Schauspiels selbst kaschiert. Die Form der Darstellung wendet dabei das ›züchtige‹, unkörperliche Bild der heimlichen Liebe in Ovids Erzählung ins Übertriebene, Überzeichnete, Plakative und entdeckt dabei den Riss als ›eindeutig-zweideutigen‹ Ort sexueller Anspielungen: P. Sq.
 Nihil ad Rhombum. Das ist: nichts zur Sache. Thisbe muß dem Piramus den Liebespfeil durch das Loch ausziehen / wie wollen wir das zu wege bringen? P. H.
 Lasset uns dennoch eine Papierne Wand machen / und ein Loch dardurch bohren. M. B. b.
 Ja / die Wand kan aber nicht reden. M. Kricks.
 Das ist auch war. M. B. b.
 Jch wil mir eine Papierne Wand an einen Blindrähmen machen / und weil ich noch keine Person habe / so wil ich mit der Wand auff den Platz kommen und sagen / daß ich die Wand sey.54

Die Absurdität, das Ordinäre, das Anzügliche, das ausgestellt Naive, die Bloßstellung, das Peinliche, dies sind alles weitere Züge, die sich hier am Rande des ›Risses in der Wand‹, mit seiner Wendung ins Komische ansiedeln.55 54 | Gryphius und Dünnhaupt: Absurda Comica oder Herr Peter Squentz: Schimpfspiel. S. 15. 55 | Mit diesem Kontext greifen die barocken Texte durchaus zeitgenössischen Fragen der Verkörperung und Sprache voraus, so schreibt der Performance-Künstler und –Theoretiker Boris Nieslony zum Themeneld Sprache/Verkörperung: »Da der Mensch ein Leib ist und einen Körper hat, entsetzt er sich mit seinem Leben einem Problem, dem Riss, ein Bild zu sein und ein Bild von sich zu machen. Die Performance-Art ist der Ort, in dem der Riss sich als Entsetzen zeigt. Die Sprache, die dort zum Sprechen kommt, ist die Sprache des Peinlichen und der Infamie«. Nieslony, Boris: »MA. Kaufen: Leib - Bücher/Schuh - Kleber; Fragmente einer Annäherung«, 2000. Zugriff unter: http://biennale2000.werkleitz.de/katalog/ nieslony.html am 28. Aug 2016.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

Die Darstellung der Figur des Risses greift über in den Bereich der Sprache und des Körperlichen: Hier wird die Frage nach dem ›Medium‹ der Sprache aufgeworfen, den körperlichen und materiellen Voraussetzungen sowie nach den Möglichkeiten ihrer Übertragung, sowie ihrer Be- und Einschränkungen. Körper wie Riss erweisen sich hierbei ebenso als widerständige ›Medien‹, die sich schwer instrumentalisieren lassen, in deren Gebrauch und Betrachtung sich stets etwas Ungewolltes (mit-)zeigt, eine Neigung zum Ordinären, zum Peinlichen. Dieses ausgestellt Fehlerhafte, dieses Abweichen von der direkten, unmißverständlichen Übertragung von Sprache und ›klarer‹ Bedeutung, erweist sich jedoch zugleich als Ort des Spielerischen, des Komischen, des Unerwarteten, im positiven Sinn Überraschenden aber auch als Szene des Peinlichen, Vulgären. Auf komische, kreative Weise umspielen die beiden Fassungen von Shakespeare und Gryphius mit ihren imaginierten Verkörperungen von Rissenfiguren zugleich Fragen nach dem Misslingen von Darstellungen und Sprechakten, bei denen das Mit-Denken des Körperlichen zentral wird: der (darstellende) Körper drängt sich selbst als Thema auf, er drängt sich zwischen die Figuren der Liebenden und ›untermauert‹ die zum Scheitern verurteilte Beziehung des getrennten Paares (der tragische Schluss bleibt in den komischen Fassungen konsequenterweise ausgeblendet) – zugleich spiegeln die Texte ein ironisches Nachdenken über das Verhältnis unterschiedlicher Autor*innenfunktionen im Übergang vom dramatischen Text zur Bühnendarstellung. Auf diese Weise imaginiert der Dramentext eine Szene, die spielerisch ihre eigene dramatische Vorlage ironisch bricht, nämlich indem die Figuren die Möglichkeiten der Inszenierungsweisen selbst durchdeklinieren und auf diese Weise die Position von Autor*in/Regisseur*in in absurder Weise doppeln, wiederholen und zugleich parodieren. Wie sich mit den Fassungen von Shakespeare und Gryphius zeigt, wird die ursprünglich Ovidsche Erzählung der Metamorphosen dem ›Geiste‹ der BarockZeit entsprechend zugleich zu einer Allegorie der Darstellung. Die Figuren von Pyramus und Thisbe werden hier in der Verkörperung des Risses durch eine*n Schauspielenden zum sprechend-stummen Bild der Beziehung von DramenAutor*in und Schauspielenden, getrennt-verbunden durch einen dramatischen Text – als einer undurchdringlichen, jedoch vom doppeldeutigen Riss durchzogenen Mauer. In der imaginierten Durchführung bzw. Ausführung und Aufführung dieser dramatischen Vor-Schrift erweist sich der Körper als Problemzone der Darstellung, denn, wie wir bereits wissen, darf die Beziehung zwischen Pyramus und Thisbe nur solange Bestand haben, wie sie ›unkörperlich‹ bleibt, d.h. solange die geheime Verabredung zwischen beiden durch den verbindenden Riss verläuft, der in diesem allegorischen Sinne paradoxer Weise ebenfalls, den dramatischen Text symbolisieren würde.

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Diese Verbindung von Riss und Körper/Darstellung ruft so gesehen eine »groteske Gestalt des Leibes« auf, wie sie von Michail Bachtin im Kontext von Karneval und Lachkultur beschrieben worden ist: Den grotesken Gestalten liegt eine besondere Vorstellung vom körperlichen Ganzen und von dessen Grenzen zugrunde. Die Grenzen zwischen Leib und Welt und zwischen Leib und Leib verlaufen in der grotesken Kunst ganz anders als in der klassischen oder naturalistischen.56

Eine besondere Funktion dieses ständig im werdenden begriffenen, unabgeschlossenen Leib-Konzeptes kommt dabei dem Mund zu, das groteske Gesicht »läuft im Grund auf den offenen Mund hinaus. Alles andere ist im Grunde bloß die Umrahmung dieses klaffenden und verschlingenden leiblichen Abgrundes«.57 Sämtliche leiblichen Vorgänge werden dabei in der Beschreibung Bachtins zum leiblichen Drama, oder zum »grotesken Drama des Leibes«.58 Diese grotesk-leibliche Logik, deren architektonische Entsprechung die Betonung von Türmen und Kellergewölben (und damit auch: der Krypta des Hauses) gehören, findet nach Bachtin ihre Fortsetzung in der nicht-offiziellen, familiären und intimen Rede in enger Verbindung zum Fluchen und Lachen steht. Während die neuzeitliche Logik den Körper als abgeschlossenes Einzelphänomen und individuellen Leib konzipiert, stellt Bachtin diesem als groteskes Konzept eine Idee der »Zweileibigkeit«59 entgegen. Eben eine solche geteilte/gespaltene Zweileibigkeit wird in Ovids Pyramus und Thisbe durch den Riss konfiguriert, repräsentiert in der unterbrochenen Verbindung zweier zueinander hingezogener Körper zwischen die eine dritte, teilende Figur tritt. In der barocken, grotesken Entwicklung dieser getrennten Verbindung entfaltet sich die Figur des Risses von einer leiblichen Seite und faltet sich zugleich wiederum selbst ein in ein rhetorisches Spiel und Nachdenken über die Darstellungsmöglichkeiten (und Grenzen) des Körpers im Rahmen des barocken Theaters.

»Kein Riss als...« – Verschiebungen innerhalb von Repräsentation und Darstellung Kehren wir nach diesem Exkurs nun noch ein letztes Mal einmal zurück zu Heideggers ›ursprünglicher‹ Riss-Stelle im Ursprung-Aufsatz: Eine weitere, 56 | Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval: zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main: Fischer, 1990. S. 15. 57 | Ebd. S. 16. 58 | Ebd. S. 18. 59 | Ebd.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

letzte Wendung in Bezug auf die bisher verhandelten Fragen nach der Rolle von ­Theatralität und Verkörperung scheint innerhalb des ontologischen StreitGeschehens in Heideggers Darstellung bisher noch nicht hinreichend berücksichtigt zu sein (insbesondere im Kontext der oben ausgeführten Überlegungen zum Verhältnis von Riss, Verkörperung und Darstellung). Es handelt sich hier um die modale Konjunktion, wir könnten auch sagen, die semantischen ›Verschiebung‹ des als: »Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit der Streitenden.«60 Risse, so scheint es aufgrund der spezifischen Einführung innerhalb der ›Streitfrage‹ bei Heidegger, werden gerade in der Negativität ihrer Setzung vom verschiebenden als bedingt, ihr Ausschließen wird durch das verschiebende ›als‹ ermöglicht. Das ›als‹ in »kein Riß als das Aufreißen«61 spezifiziert die Ausschließung vom Streitgeschehen und zugleich die positive Möglichkeit einer Ausnahme (von der Ausnahme), Ankündigung einer möglichen Rückkehr, der Wiederholung. Rudolphe Gasché weist darauf hin, dass Heidegger einer verwandten Frage bereits in Sein und Zeit im Sinne einer »Als-Struktur des Seinsverständnisses« nachgegangen ist: Das Dasein* [im Sinne Heideggers] begegnet den Dingen um sich herum zunächst als Dingen, die diesem oder jenem Zweck dienen, und nicht als reinen Dingen oder Gegenständen, denen es sodann bestimmende Eigenschaften verleiht. Die Auslegung des umsichtig Verstandenen hat die Struktur des etwas als etwas.62

Diese Struktur bedingt dabei zugleich prinzipiell Heideggers Sprachauffassung: Die Als-Struktur des Verstehens, die Heidegger ans Licht gebracht hat, charakterisiert jedes Seinsverständnis als von einer Übertragungsbewegung abhängig. Die Beziehung ›auf etwas hin‹ in der primären Weise des umsichtigen Verstehens macht aus jedem Verstehen von etwas ein Verstehen von etwas als etwas.63

Positiv gesprochen, ergibt sich Gasché zufolge aus einem solchen Verständnis des »etwas als etwas«, eine daraus resultierende Artikulation »auf etwas hin«, woraus sich eine schließlich grundsätzliche »Möglichkeit der Sprache« als strukturelle Voraussetzung ableiten lässt: Das »existenzial-hermeneutische ›Als‹« ist der Name, den Heidegger dem ursprünglichen als jeder Auslegung gibt, die umsichtig, oder anders gesagt, ›auf 60 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. (Kursivierung H.H.). 61 | Ebd. (Kursivierung H.H.). 62 | Gasché: »Metapher und Quasi-Metaphorizität«. S. 234. 63 | Ebd. S. 247.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache etwas hin‹ versteht [ ]. Dieses Als ist die fundamentale Struktur des Logos als Rede, als der primären Artikulation des Verstehens und der Auslegung, und es vollzieht die ursprüngliche Ent-deckung und Er-schließung der Welt, die Heidegger später die ursprüngliche Öffnung nennt, innerhalb derer dann die propositionale Prädikation erfolgen kann (oder auch nicht).64

Der Einwand am Ende des Satzes, die Parenthese des »oder auch nicht«65 – ist im Sinne der Öffnung einer »differentiellen Einheit«66 nun für die Betrachtung von Figuren des Risses von besonderem Interesse, deutet sich doch darin jene grundsätzliche Möglichkeit des Widerständlichen und der Ausnahme an, welche die positiv bestimmten Verstehensstruktur des »als« einerseits bedingt und sich ihr aber zugleich auch prinzipiell zu entziehen scheint (als mögliche Unmöglichkeit der Sprache)67 – im Sinne des von Wetzel erwähnten Widerstandes, der »die Geschlossenheit des Wahrheitsgeschehens gerade wieder aus den Fugen bringt«.68 Die Wendung »Der Streit ist kein Riss als das Aufreißen einer bloßen Kluft« ist jedoch weder als eine einfache Negation (bezogen auf Streit und Riss) noch als Analogie (von Riss und Aufreißen) zu verstehen. Die Beziehung von »ist kein« und »als« bleibt auf Abstand, sie erzeugt ein Spannungsverhältnis, einen gespannten Spielraum zwischen dem ontologischen »ist« bzw. »ist kein« und der auf Analogie ausgerichteten Als-Struktur. Möglicherweise könnte man von einer latenten Bestimmung (des Streits) sprechen, die letztlich durch das »als« des Risses bedingt wird. Während sich die Frage nach dem Streit innerhalb ontologischer Kategorien stellt (»der Streit ist...«), kommt der Riss als ein prinzipielles Schwanken zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist Spiel (»ist kein... als«). Es scheint sich hier um eine Form Annäherung aus einer prinzipiellen Differenz heraus zu handeln.69 Dieter Mersch betont in diesem Sinne neben der konjugierenden Funktion zugleich einen spaltenden Aspekt – explizit in Gestalt einer Form des Risses – der 64 | Ebd. S. 244f. 65 | Ebd. S. 245. 66 | Espinet: »Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde«. S. 47. 67 | Im Riss verbindet sich von vornherein das Eigentliche mit dem Un-eigentlichen, oder, um mit Derrida zu sprechen wäre der Riss möglicherweise (im Grunde wie auch die différance) »hétérogène à l’origine«, im vollen Umfang seiner drei Beutungsmöglichkeiten. Vgl. Derrida: Vom Geist. S. 125. Diese Möglichkeit der Unmöglichkeit macht ansatzweise begreifbar, wie Heidegger zu solchen Aussagen gelangt wie: »Die Wahrheit ist Un-Wahrheit« – auf die auch Derrida später Bezug nehmen wird. Vgl. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 48, sowie Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 231. 68 | Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei. S. 151. 69 | Alle Zitatstellen aus Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

sich innerhalb der Struktur des »als« zwischen metaphysischer Prädikation und semiotischer »repräsentatio« bewegt: Beide [semiotische Vorstellungen des Zeichens als Substitut oder Platzhalter] beruhen auf der Unterstellung eines Risses, einer ursprünglichen Differenz: Etwas wird »als etwas« bestimmt – bzw. etwas steht »für etwas anderes«. Das »als« beinhaltet bereits mit der Trennung, die es vornimmt, eine Bezeichnung, wie umgekehrt die Substitution eine Spaltung vornimmt, die das »Als« erst erlaubt.70

Mit Mersch stellt sich die verschiebende (Kreis-)Bewegung einer verschiebenden als selbst wiederum ›als‹ (nunmehr verschobene, eingefaltete) Figur eines Risses dar – eine scheinbare Dopplung oder fast tautologische Spaltung, die dennoch eine signifikante Verschiebung als Bewegung in sich trägt. Wie verhält es sich innerhalb des Heidegger’schen Ursprung-Aufsatzes mit dem Primat des als aus Perspektive des Risses, wie es innerhalb des mittlerweise bloß-gestellen (bis auf sein bloßes ›Gerippe‹), ent-kernten Satzes »Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft«71 zum Ausdruck kommt? Während das »kein« das Satzes selbst eine fundamentale Kluft aufzureißen scheint, wird die modale Konjunktion des »als« in Verbindung mit dem Riss im Sinne einer Bedingung, einer Einschränkung der radikalen Unterscheidung wirksam. Unter den Bedingungen des »kein Riss als« lässt sich die Frage nach dem Riss jedoch nicht ohne Weiteres innerhalb ontologischer Kategorien verfolgen, bzw. formuliert er einen (doppelten) fundamentalen Vorbehalt. Zugleich öffnet diese Wendung den Blick hin auf die strukturellen Bedingungen und Möglichkeiten ihres doppelten Bezugs/ihrer Unterscheidung. Im ontologischen Sinne existiert der Riss somit nicht einfach am Rande des Streits – sondern er insitiert in Form eines bestimmenden »als«, also eines relationalen Bezuges, welcher abermals innerhalb des Ontologischen (Ontisch-Ontologischen) eine komplexe Differenz einträgt oder einfaltet. Dieses differentielle Insistieren ist daher nicht einfach als ein Gegensatz zur existentiellen Frage des Streits zu verstehen. Diesbezüglich führt Willem van Reijen aus: Das Sein ist eher als »Riß«, denn als etwas Zeitloses, Substantielles zu denken. Das Sein muß […] als »Unter-Schied« gedacht werden – nicht als Unterschied von Sein und Seiendem, sondern als Unterschied für Sein und Seiendes. Als jener Unter-schied also, der das diskursive Unterscheiden von Sein und Seiendem ermöglicht.72

70 | Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. S. 212. 71 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. 72 | Reijen: Der Schwarzwald und Paris: Heidegger und Benjamin. S. 146.

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Die Figur, die ein solch figürliches, körperlich-unkörperliches Denken ermöglicht, so scheint es, ist der Riss – die ontisch-ontologische Differenz wird durch die spezifische Form der Bewegung von Figuren des Risses und ihren Übertragungen ein Stück begreifbarer, bevor sie sich unserem (stets körperlichen) Denken wieder entzieht, ausblendet, ›entreißt‹. Positiv gesprochen, vollzieht sich an dieser Stelle der Sprung, die Spaltung in den Dingen/Phänomenen und aus ihnen heraus, als ein diskursives Differenzdenken, als dynamisches, performatives Geschehens- und Ereignisdenken, aber auch als ein Denken in Richtung ihrer strukturellen Be-Dingungen und Möglichkeiten. Zugleich nähern wir uns hiermit der Bestimmung der dynamischen Negativität, einer spezifischen Unruhe, welche der Figur des Risses inhärent ist und die Derrida zufolge zu einem fundamentalen (Selbst-)Entzug führt. Hierzu nocheinmal die oben zitierte Passage Derridas: Da dieser Riß, dieser Zug nichts ist, erscheint er nicht selbst; er hat keine eigene unabhängige Phänomenalität; er entzieht sich, er ist aufgrund seiner Struktur entzogen, im Entzug, als Unterschied, Abstand, Öffnung, Differentialität, Spur, Rand, Grenze, Ziehen (›traction‹), Ein-bruch usw. Weil er sich entzieht, ist der Zug apriori Entzug, Nicht-Erscheinen, Verschwinden, Löschen seiner Markierung in seinem Aufriß. Seine Einschreibung kommt nur an, indem sie verschwindet, sich auslöscht – was auch, wie ich deutlich zu machen versucht habe, von der Spur und der ›différance‹ gilt.73

Riss, Zug, »différance« und Spur teilen somit, Derrida zufolge, gewisse Grundeigenschaften des Entzugs. Wie Kai van Eikels unterstreicht, stellt diese Passage bei Derrida in »gleitender Weise den Bezug des Ereignisses zu dem heraus, was bei Heidegger der Riß, in seiner [d.h. Derridas] Philosophie die Spur oder die différance heißt« und die deshalb dazu auffordere, »Ereignis, Riß, Spur und différance zusammen zu denken.«74 Van Eikels interpretiert die Bezüge wie folgt: Der Riß des Aufrisses zeigt das Ereignis an. Seine eminente Sprachlichkeit (›die Sprache selbst‹) steht außer Zweifel, er verläuft in der Sprache und aus ihr heraus. Mit eben dieser Bewegung bezieht er sich auf das Ereignis; er ist Zeige und Zeichen des Ereignisses in der Sprache.75

Obgleich eine sprachliche Verfasstheit des Risses, dessen semantische Bezüge und Bezugnahmen, wie sich im Vorausgegangenen bereits gezeigt hat, gerade nicht völlig »außer Zweifel« zu stehen scheinen, sondern eben gerade zur Debatte gestellt werden sollen (mit dem Riss ist, wie gezeigt, stets auch grundsätzlich 73 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 229. 74 | van Eikels: Zeitlektüren. Ansätze zu einer Kybernetik der Erzählung. S. 227. 75 | Ebd.

9. Re-Membering the Body – Risse zwischen körperlicher Absenz und Präsenz

die Aussetzung von Sprachlichkeit, das Latente, Implizite, Verschwiegene aufgeworfen), ist sowohl der Hinweis auf dessen inhärente Tendenz zur Bewegung wie auch den anzeigenden Charakter des Risses als »Zeige und Zeichen« (ebd.) hier im Hinblick auf das folgende Kapitel wertvoll.76 Dieses verweist im Sinne des Lateinischen monstrare auf die referentielle und dadurch zugleich in doppeltem Sinne ›monströse‹ Eigenschaft von Rissen, Bezüge anzuzeigen, herzustellen, und sich zugleich auszudehnen, auszubreiten, Kategorien und Genres zu überbrücken und zu überspringen. Ziehen wir daher diesen (an-) zeigenden, relational-verbindenden und zugleich tief spaltenden Charakter des Risses, in Bezug zu Heideggers Formulierung des »kein Riss als« nun näher in Betracht. Es stellt sich hier die Frage, ob eben dieser anzeigende Charakter des Risses dazu dienen kann, eine Dimension spezifisch körperlicher Abwesenheit, einen Entzug des Körperlichen im Akt der Verkörperung sichtbar zu machen, nachzuvollziehen, aufzuzeigen? Wie ließe sich eine Spaltung des Risses, eine Gleichzeitigkeit körperlicher Anwesenheit und Abwesenheit im Moment der Darstellung vorstellen? Im Nachklang der weiter oben aufgeworfenen Fragen der Verkörperung und Darstellung an den Schwellen des Peinlichen, Infamen, Obszönen,77 aber auch des Fragmentierten, chimärischen oder zerstückelten Körpers wird im Kontrast zu Heideggers einerseits ›Geist‹-bezogener und andererseits latent theatral geprägten Theorie des Risses die Abwesenheit einer bestimmten Dimensionen der Materialität, nämlichen, jene des Körperlichen, Leiblichen deutlich spürbar. Die dadurch zurückgedrängten Fragen der Phänomenalität, der körperlichen Basis von Spürbarkeit und Wahrnehmung zugunsten einer Aufwertung einer ›ursprünglicheren‹ sprachlichen Form (einer ›geweihten‹, hermetischen, unantastbaren Sprachlichkeit) tritt mit der Rückkehr ins Themenfeld von Rissen als auf Körperlichkeit bezogenen Figuren selbst als grundsätzlich (und zugleich spürbar) Abwesendes deutlich hervor. Durch die Problemfelder des Körperlichen, der Körperlichkeit und der Verkörperung, durch ›das Problem des Körpers‹, seiner Darstellungsmöglichkeiten und -grenzen wird die Frage nach Figuren des Risses physisch ›kontaminiert‹: das Phantasma einer sie tragenden und bedingenden ›reinen‹ Materialität und Sprache wird selbst aufgespalten und zeigt sich von ihrer diffusen, uneindeutigen, anzüglichen, unreinen, körperlich-leiblichen, 76 | Van Eickels geht es im Weiteren dabei primär um die Frage nach dem Ereignis und nur sekundär um den Riss, wie er im Folgenden deutlich macht: »Die Rede vom Ereignis des Risses sagt also viel, vielleicht alles über den Riß, über das Ereignis sagt sie nichts. Sie markiert lediglich dessen Grenze durch das Aufreißen des Risses, das heißt durch die Quasi-Metaphorisierung, die das Ereignis zur Sprache bringt«. Ebd. S. 228. 77 | Vgl. Kruschkova, Krassimira und Baumann, Valérie: Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Wien u.a.: Böhlau, 2005.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

unsprachlichen und widersprüchlichen Seite. Es fragt somit umgekehrt, inwieweit der »zur Philosophie taugliche[ ] Körper«78, durch Figuren und Bewegungen des Risses diese gewaltvolle Ausblendung und fundamentalen körperlichen Abwesenheit markieren kann – und wie die damit verbundenen Probleme ausgelöschter Beobachtendeninstanzen und negierter Zeug*innenschaften thematisiert werden können. Wenden wir uns abschließend mit Derrida der Verbindung der Figur des Risses und der (gespaltenen) Figur des »Geistes« aus einer besonderen, theatralen Perspektive zu.

78 | Derrida: »Die weiße Mythologie«. S. 229.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen (Derridas Vom Geist)

Der Hauptstrang von Derridas Argumentation in dessen Abhandlung Vom Geist. Heidegger und die Frage 1 besteht in der eingehenden Analyse des Wandels, den der bis zu diesem Zeitpunkt wenig beachtete und bis dahin eher am Rande stehende Begriff des »Geistes« im Werk Heideggers vollzieht, welchen Derrida innerhalb einer »komplexen Topologie« von »Verschiebungen und Verlegungen«2 nachzeichnet.3 Diese (›kathartische‹)4 Verwandlung des Begriffes »Geist«, seiner anfangs ausdrücklichen Vermeidung, Verwendung in Anführungszeichen und dessen späterem uneingeschränkten, emphatischen Gebrauch, die Derrida anhand von Sein und Zeit, der ›Rektoratsrede‹ bis hin zu Heideggers Trakl-Text »Einleitung in die Metaphysik« und einer Vielzahl weiterer Texte und Verweise untersucht,5 beleuchtet die tiefgehende Verstrickung von Heideggers Philosophie und dessen Nazismus. Während die vielfältigen Stränge und Argumentationslinien hier unmöglich in ihrer Vollständigkeit wiedergegeben werden können, soll im Folgenden lediglich die spät im Text eingeführte Figur des Risses (als Ereignis) hervorgehoben wer1 | Im Original 1987 erschienen als Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. Der Text basiert auf einem im selben Jahr gehaltenen Vortrag. 2 | Derrida: Vom Geist. S. 120. 3 | Für eine umfassende Analyse der komplex verwobenen Argumentationssträge des Buches vgl. die Aufsatzsammlung von Wood, David: Of Derrida, Heidegger, and spirit. Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 1993a. 4 | »Die Katharsis, die mit dem Gebrauch der Anführungszeichen einhergeht, löscht die Spuren des Uneigentlichen* aus, befreit das Wort von den lateinischcartesianischen Merkmalen«. Derrida: Vom Geist. S. 32. (Kursiv im Orig.) 5 | Insbesondere Heideggers Nietzsche, Hölderlin, and Schelling Lektüren. Vgl. Krell, David Farrell: »Spiriting Heidegger«, in: Wood, David (Hg.): Of Derrida, Heidegger, and spirit, Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 1993. S. 11-40. Hier: S. 11.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

den, sowie ausgewählte Verbindungen zu anderen Sprachfiguren, insbesondere eine bemerkenswerte ›Theater-Szene‹, in welcher Derrida die Verwandlung des Geist-Begriffes zusammenfasst. Die Figur des Risses ›geistert‹ so zunächst eine Weile relativ unauffällig durch den gesamten Text Derridas; sie deutet sich z.B. dort vage an, wo dieser die Heidegger’sche Trakl-Lektüre einordnet: Diese Bewegung folgt einer Art Grenzlinie. Beide Seiten der Grenzlinie werden dabei berührt, so daß eine genaue Aufteilung, eine Trennung fast unmöglich ist. Die Grenzlinie verläuft zwischen einem metaphysischen Denken des Geistes auf der einen Seite […] – und jenen Dichtern*, die Hölderlin – der nämliche und doch noch ein anderer – und Trakl heißen, auf der anderen Seite, auf der anderen Seite der Teilung.6

Eine solche teilende und zugleich beide Seiten berührende Trennlinie, berührt und betrifft auch ihn selbst, Derrida, in seinem eigenen Verhältnis zu Heidegger. Auch diese ›persönliche‹ Trennlinie läuft durch den gesamten Text und kulminiert schließlich in einer Thematisierung der Heidegger’schen Rissfigur, jedoch nicht ›als solcher‹, sondern in ihrer Verbindung zu Derridas ›eigenem‹ Begriff: dem »Zug«. Er konstatiert so gegen Ende seines Textes: »Es gilt schließlich, einen letzten Zug zu erörtern und dem Zug selbst, dem Riß* seinen Ort zuzuweisen.«7 Hier, wo Derridas Sprache sich schließlich dem Riss direkt zuwendet, wo der sonst ›eigentlich‹ eher (er)öffnende Riss schließlich ›zum Zuge‹ kommt – beginnt ein Abschluss, eine Ankündigung des vorläufigen Endes eines bestimmten Pfades der Derrida’schen Auseinandersetzung mit Heidegger – ein letzter Zug. Derridas Begriff des ›Zuges‹ (franz- »trait« – ein deutlicher Bezug auf den Aufsatz »Entzug der Metapher«)8 hat – bzw. seine diverse Ent-/Züge haben – auch hier etwas Strategisches, es sind argumentative Linien, diverse Ansätze mit denen er den ebenfalls verdichteten Gedankengängen (unauflösbare »Knoten«)9 Heideggers begegnet. Es sind zugleich Momente eines sehr persönlichen Einlassens (auch im Sinne von Selbst-Bezügen), Ansätze einer intensiven Zuwendung10 und in6 | Derrida: Vom Geist. S. 95. 7 | Ebd. S. 121. 8 | Vgl. Derrida: »Der Entzug der Metapher«. 9 | »Der Spur des Spiritualen [spiritual] bei Heidegger zu folgen, bedeutet nicht, daß man sich dem Inneren jenes Knotens, dem Knotenpunkt nähert – ich glaube nicht, daß es ihn gibt; wohl aber, daß man sich dem nähert, was in sich die größte Widerstandskraft eines Knotens versammelt«. Derrida: Vom Geist. S. 16. 10 | »Derrida’s relation with Heidegger is, if anything, more intimate than friendship«, Wood, David: »Responses and Responsibilities: An Introduction«, in: Wood, David (Hg.): Of Derrida, Heidegger, and spirit, Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 1993b. S. 1-9. Hier: S. 1.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

volvierte Auseinandersetzung mit jenen problematischen Bezügen Heideggers, mit denen dieser sich in der Nähe des faschistischen ›Zeit-Geistes‹ bewegt und diesen gedanklich vorantreibt. Derrida beschreibt diesen hier unumwunden als einen schonungslosen Geist, welcher die Seele verfolgt, jagt, in das Unterwegs treibt, verschleppt und ›deportiert‹.11 Mit der Hinwendung zur Figur des Risses offenbart sich, wie es scheint, der volle Umfang des Gewaltpotenzials des emphatischen »Geist«-Begriffs Heideggers – dabei wird deutlich, wie viel für Derrida auf dem Spiel steht, denn es geht zugleich implizit um die Frage von Nähe und Differenz innerhalb sowie zwischen seinem und Heideggers Denken: Es gilt schließlich, einen letzten Zug zu erörtern und dem Zug selbst, dem Riß* seinen Ort zuzuweisen. Das Wort ›Riß‹* bahnt auch dem Unterschied den Weg. Es kehrt häufig wieder, um den Rückzug, den Entzug, den doppelten Zug [retrait] des Geistes zu benennen: jenen Zug, durch den der Geist sich auf sich selbst bezieht und sich teilt, sich spaltet, in einer Art von innerer Zwietracht, die dem Bösen eine Stätte bietet und es der Flamme einbeschreibt. Man könnte von einer Schrift des Feuers, von einer Feuersschrift reden.12

Trotz seiner deutlichen, gewissermaßen ›dramatischen‹ Worte am Schluss13 bleibt Derrida seinem dekonstruktiven Verfahren treu, mit dem er rückblickend gerade keine pauschale, distanzierte Anklage an die Adresse Heideggers erhebt, sondern vielmehr nach der andauernden Wirksamkeit jener hochproblematischen Denkfiguren fragt – ebenso wie nach der eigenen Verfangenheit oder Verstrickung in diese Sprache und in die Logik dieses Denkens, welches er ausdrücklich nicht als etwas Vergangenes, Abgeschlossenes betrachtet: Es geht keineswegs um etwas Abstraktes. Vielmehr haben wir es mit vergangenen, gegenwärtigen, kommenden ›Ereignissen‹ zu tun, mit einer Zusammenstellung von Kräften und Diskursen, die einen gnadenlosen Krieg zu führen scheinen (etwa in einem Zeitraum, der sich von 1933 und heute erstreckt).14

11 | Vgl. Derrida: Vom Geist. S. 122. 12 | Ebd. S. 121. 13 | Derrida spricht so z.B. auch von der »Spontaneität der Auto-Affektion« des Geistes bei Heidegger, »der Geist (über)gibt sich sich selbst dem Außer-sich-sein (hin), er entflammt, er selbst legt und fängt Feuer, zum Guten und zum Schlechten, da er sich auch als Böses affiziert«. Ebd. S. 115. 14 | Ebd. S. 127. Bereits eingangs schreibt Derrida, er wolle deutlich machen, »was nach meinem Eindruck in Heideggers Texten in der Schwebe, unbestimmt, also noch in Bewegung ist, zumindest für mich, im Kommen«. Ebd. S. 15f.

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Es geht Derrida also ausdrücklich auch um die Frage der eigenen Verstrickung in das Denken Heideggers und um eine Haltung zur Geschichte aus der Gegenwart heraus (sowohl, so könnten wir dies verstehen, bezogen auf jene Gegenwart Derridas als auch auf jene der zukünftigen Leser*innen, d.h. die unsere) und eine sich daraus ergebende Verantwortung gegenüber der Zukunft. Die erwähnte Jahreszahl 1933 markiert dabei gleichzeitig den Bezug zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland wie das Datum von Heideggers NSDAP-Beitritt sowie seiner Ernennung zum Rektor der Universität Freiburg. In der kurze Zeit später folgenden, sogenannten »Rektoratsrede«15 äußert Heidegger schließlich ein unumwundenes und später nie eindeutig widerrufenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus öffentlich.16 Mit dieser Einleitung, dieser Absicht, dem »Zug selbst, dem Riß«17 einen Ort zuzuweisen, stellt Derrida auch sein eigenes Nachdenken über den Zug und das Ziehen in Frage, was es heißt, selbst »Züge zu machen«, welche Bedeutungsebenen darin mitschwingen, welche semantischen Bereiche in Schwingung geraten, welche Wortfamilien mit dem Zug verbunden sind – und zwar zunächst aus seiner eigenen Sprache heraus, dem Französischen.18 Wie wir gesehen haben, hatte Begriff des Zuges, »trait« im Französischen, insbesondere der Rück-Zug – »retrait« – bereits im Aufsatz über den »Rückzug der Metapher« eine immanent wichtige Rolle gespielt;19 in seiner Abhandlung Vom Geist geht Derrida mit der

15 | Vgl. Heidegger, Martin: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität«, in: Heidegger, Herrmann (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 16. Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000c. S. 107-117. 16 | Eine Distanzierung Heideggers findet sich der Zeit zufolge in dem letzten, bisher unveröffentlichen »Schwarzen Heft« mit Anmerkungen Heideggers aus den Jahren 1945/46. Vgl. Cammann, Alexander und Soboczynski, Adam: »Martin Heidegger. Er ist wieder da«, in: Die Zeit 2014. Zugriff am 1. September 2017. 17 | Derrida: Vom Geist. S. 121. 18 | »The title [De l’esprit, Anm. HH] is unmistakably French, and not merely because the word esprit belongs to the French language […] – the entire problem of translation – opens at the center of the book.« Wood: »Responses and Responsibilities: An Introduction«. Hier S. 1. 19 | Vgl. das Kapitel »Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«)« im vorliegenden Band, S. 95ff.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

»Kontamination«20 der ›Überkreuzung‹21, zwischen Zug/Ziehen und dem Riss/ Reißen nun noch einen Schritt weiter. Der Aspekt des Schließlichen (»Es gilt schließlich...«22) lässt sich aus Perspektive der vorliegenden Arbeit retrospektiv auch noch anders lesen: es scheint, als habe Derrida zeitweilig – bewusst oder unbewusst – vermieden, sich direkt, eingehend oder abschließend mit der Frage bzw. dem Problem des Risses auseinanderzusetzen. Trotz des gleichzeitigen Veröffentlichungsdatums liegen etwa elf Jahre (auch hier ließe sich von einer ›Latenzzeit‹ sprechen) zwischen der Entstehung der Texte vom »Rückzug der Metapher«23 und Vom Geist. Heidegger und die Frage.24 Zudem wird in beiden Abhandlungen die Auseinandersetzung mit der Figur des Risses bis zum letzten Kapitel zurückgehalten, dabei liegt diese in beiden Texten schon eine geraume Zeit ›in der Luft‹, bleibt aber textimmanent eher latent, stets an der Schwelle dazu, explizit zu werden, kommt ›als solche‹ in beiden Abhandlungen dann erst spät zur Sprache.25 Im Gegensatz zu der von Derrida beschriebenen ›Aufgabe‹ Heideggers bzgl. der Zurückhaltung des Geist-Begriffs, und dessen schließlicher ›Enthüllung‹ des »Geistes«/Geistes in 20 | Derrida weist relativ am Anfang darauf hin, dass er Kontamination als »verunreinigende Berührung des Wesensdenkens, des zu denkenden Wesens der Technik« sowohl als Wunsch als auch »Fatalität einer ursprünglich verunreinigenden Berührung des Denkens« begreift. Derrida: Vom Geist. S. 18. 21 | Wie deutlich wird, handelt es sich nochmal um eine andere »Kreuzung« als jene kreuzweise Ausstreichung des Wortes »Sein«, die Heidegger im Text »Zur Seinsfrage« vormnimmt, als auch um die hypothetische Durchstreichung des Namen »Felsplatte« aus Perspektive des Tieres, die Derrida als durchstreichen des Durchstreichens, als vermeiden des Vermeidens interpretiert. Ebd. S. 65. 22 | Ebd. S. 121. 23 | Vgl. das Kapitel »Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«)« im vorliegenden Band, S. 95ff. 24 | Während der Vortrag »Le retrait de la métaphore« 1978 gehalten, aber erst 1987 publiziert wurde, fallen bei »De l’esprit. Heidegger et la question« Vortrag und Publikation beide auf das Jahr 1987. Vgl. Textnachweise in Haverkamp, Anselm (Hg.): Die paradoxe Metapher. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. S. 480. sowie Derrida: Vom Geist. S. 5. 25 | Als Beispiel für eine solche, latent ›risshafte‹ Stelle sei die folgende Passage angeführt: »Der ›Abschluss‹ […] stellt eine gewundene Struktur das, die ich heute – um auf eine andere Figur zu rekurrieren – ›invaginiert‹ nennen möchte. […] Ich könnte viele Belegstellen anführen; so spreche ich zum Beispiel in meinem Aufsatz La différance davon, daß ›der Text der Metaphysik von seiner Grenze nicht umgeben, sondern durchzogen, daß er in seinem Inneren von der vielfachen Furche seines Randes markiert‹ wird, Spur, ›die zugleich gezeichnete und ausgelöschte, zugleich lebendige und tote Spur ist‹ «. Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 209.

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der Rektoratsrede, wirkt Derridas schließliches ›Aufgeben‹ seines Vermeidens der Riss-Figur ganz und gar nicht wie ein ›entscheidender‹ Befreiungsschlag, sondern vielmehr: wie der erneute Ansatz zu einer weiterführenden komplexen Selbst-Verstrickung. Innerhalb dieser Untersuchung, die sich dem Topos des Vermeidens (den »Gestalten des Vermeidens und Nicht-Vermeidens«, wie Derrida schreibt)26 verschrieben hat und sich so Heideggers Aussagen widmet, die Begriffe »Geist« und »geistig« zu vermeiden27 – geht es somit vielleicht auch um Derridas eigenes Vermeiden, welches hier (implizit) zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird. Derridas Hinwendung zur Rissfigur lässt sich somit zweifach als ›Aufgabe‹ deuten: Entweder der Autor kann seinem eigenen Vermeiden hier nicht mehr Stand halten und der Begriff des Risses bahnt sich selbst den Weg. Oder handelt es sich möglicherweise um eine bewusste Aufschiebung, eine semantische wie temporale, ›Verschiebung‹ – so wie Derrida das Verschieben, die Aufschiebung, den gedanklichen Umweg, als einen elementaren Aspekt der »différance« beschreibt?28 Riss und »différance« teilen so gesehen wichtige Merkmale, markieren Differenzen als verbindende Trennungen, fungieren als zeitliche Aufschübe und Latenzphasen, jedoch ihrerseits auf unterschiedliche, differente Arten und Weisen. Derridas Konzept von Zug/trait, dies sollte inzwischen deutlich geworden sein, rührt an- und berührt seine dekonstruktive Verfahrensweise: indem er Zug und Riss annähert, beide Begriffe schließlich synonym setzt, indem das Eine als das Andere erscheint, entsteht in und aufgrund ihrer verbleibenden Differenz ein Spannungsfeld, eine Nähe, Nachbarschaft und ein ›Streit‹ zwischen ihnen, sie wirken aufeinander ein, sind einander ausgesetzt. Derridas Zug nimmt den Riss und seine spezifische Dynamik in sich auf, schenkt ihm ein neues Zuhause, gibt 26 | Derrida: Vom Geist. S. 17. 27 | Vgl. Ebd. S. 7. Bei näherer Betrachtung wird dieses Vermeiden Heideggers kompliziert: »Wie kann man erklären, daß er oft nicht nur vom Wort ›Geist‹, sondern ebenfalls im Namen des Geistes gesprochen hat, von der Emphase zuweilen mitgerissen? Hat er vielleicht das nicht vermieden, wovon er wußte, daß er es hätte vermeiden sollen? Daß er aufgrund eines sich selbst gegebenen Versprechens hätte vermeiden müssen? Hat er das Vermeiden vergessen?« Ebd. S. 8. 28 | Derridas semantische Herleitung der »différance« vom lateinischen »differre« betont dabei die »Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben, […] Umweg, Aufschub, Verzögerung, Reserve, Repräsentation, alles Begriffen, die ich hier in einem Wort zusammenfasse: Temporisation«, Derrida, Jacques: »Die différance«, in: Derrida, Jacques und Engelmann, Peter (Hg.): Randgänge der Philosophie, Wien: PassagenVerlag, 1988a. S. 31-56. Hier: S. 36. Die Frage, ob »Temporisation auch Temporalisation und Verräumlichung ist, Zeit-Werden des Raumes und Raum-Werden der Zeit«, eine Frage die für Figuren des Risses zentral scheint, wird bezeichnender Weise von Derrida an dieser Stelle ebenfalls verschoben. S. Ebd.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

ihm eine neue Heimat in seiner eigenen Bewegung, denn wir befinden uns ja bereits mitten in der Übertragung, in der Bewegung einer anderen Sprache, ›in translation‹. Dort, wo der Zug Derridas den fremden/fremd-sprachigen Begriff einbegreift, dort wo er im Umkehrschluss zum Riss wird, ist er – paradoxerweise – schließlich ganz bei sich, selbst, wird schließlich er-selbst, oder wie es im französischen Original heißt: »le trait lui-même, Riss«.29 An dieser Stelle, zugleich, bleibt der deutsche Begriff innerhalb des französischen Textes Fremdwort – und wirkt wie ein Fremdkörper. Was passiert somit an dieser Stelle, in diesem Moment der Berührung, der gegenseitigen Kontamination zwischen dem ›eigenen‹ und dem ›fremd‹ erscheinenden Begriff? Der Riss findet seine Bestimmung in der Übertragung. Diese Annäherung, Gleichsetzung, Übersetzung von Riss und Zug, enthält aber auch etwas Merkwürdiges, etwas Beunruhigendes: es zeigt sich hier gerade keine dialektische Abgrenzung von Heideggers (faschistischem) Ansatz, sondern Derrida problematisiert, quasi an seinem Denken, wie dieses Denken fortbesteht und die Dekonstruktion dieses Denkens weiterhin eine notwendige Aufgabe bleiben muss, die beim eigenen Denken (und Denken des Eigenen)30 ansetzen muss.31 In diesem Sinne vollziehen die beiden Begriffe trait und Riss hier eine symbolische Vertauschung. Sie verweisen auf eine wechselseitige Voraussetzung und dynamische An-Nahme, der Riss findet seine rückwirkende Bestimmung (er ist »kein Riß als Aufreißen einer bloßen Kluft«32, wie Heidegger es ausgedrückt hatte, 29 | Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. S. 171. 30 | Grundsätzlich zeigt sich Derridas dekonstruktive Herangehensweise als ein immanent ökonomisches Denken im Sinne des Eigenen aber auch des Wohnens: »Die Bewegungen der Dekonstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. Sie sind nur möglich und wirksam, können nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen bewohnen; sie in bestimmter Weise bewohnen, denn man wohnt beständig und umso sicherer, je weniger Zweifel aufkommen. Die Dekonstruktion hat notwendiger Weise von Innen her zu operieren, sich aller subversiven und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen« Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983. S. 45. 31 | Bzgl. seiner Heidegger-Lektüre versuche Derrida »die Dekonstruktion als ein Denken der Affirmation zu definieren. Denn ich glaube, daß es notwendig ist, möglichst uneingeschränkt die tiefe Zugehörigkeit des Heidegger’schen Textes (Schriften wie Taten) zur Möglichkeit und Realität aller Nationalsozialismen vorzuführen; denn ich glaube, daß die unergründliche Monstrosität nicht in wohlbekannte und eigentlich beruhigende Schemata eingeordnet werden darf«. Derrida, Jacques und Eribon, Didier: »Die Hölle der Philosophie (Ein Gespräch mit Jacques Derrida)«, in: Altwegg, Jürg (Hg.): Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988. S. 83-93. Hier: S. 88f. 32 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

was Derrida so gesehen implizit zu bestätigen scheint) und es findet zugleich ein ›Austausch‹ im Sinne einer unumgänglichen und zugleich unmöglichen Übersetzung statt, so wie ihn Derrida gegen Ende seiner Abhandlung beschreibt: Unter ›Austausch‹ verstehe ich, daß man manchmal die Plätze tauscht, daß sich die Stellungen hin und wieder vertauschen, was verwirrend und beunruhigend ist. Von Anfang an habe ich in diesem Vortrag von der ›Übersetzung‹ geredet, davon, daß diese verschiedenen Denkformen und Diskurse übersetzt werden und sich in dem, was man gewöhnlich ›Ereignisse‹ der ›Geschichte‹ und der ›Politik‹ (dunkle Wörter, die ich in Anführungszeichen setze) nennt, wiederfinden; man müsste aber auch das ›übersetzen‹, was ein solcher Austausch der Positionen seiner radikalsten Möglichkeit nach impliziert. Eine derartige ›Übersetzung‹ scheint unumgänglich und dennoch im Augenblick unmöglich zu sein. Sie bedarf anderer Verfahrensweisen: mit dem, was ich in diesem Vortrag im Sinne habe, ziele ich darauf ab.33

Eine solche »andere Verfahrensweise«, deutet sich in der unabgeschlossenen Bestimmung der Figur des Risses an, welche die Auseinandersetzung in einer spezifischen Art und Weise öffnet, weniger als Setzung, eher als ein dynamisches Geschehen der Differenzierung. Im Riss/Zug zeigt sich so jener Abstand zwischen Heidegger und Derrida, eine dynamische, unabgeschlossene Grenze – eine dynamische, trennende Verbindung. Kein einfacher Zug, keine einfache Bestimmung, sondern die An-nahme (und auch: die ›Aufgabe‹) eines Abstandes, durch den sich zwei Positionen annähern und dadurch zugleich unterscheiden: Derridas Formulierung »Das Wort ›Riß‹ * bahnt auch dem Unterschied den Weg«34 ähnelt und unterscheidet sich in ihrer Setzung des Fremd-Wortes zugleich von der Formel Heideggers: »Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit der Streitenden«35. Die ›Spur‹ dieses Abstandes, ihr gebahnter Abstand, ihr kon- und de-figurierender Zug, wird erst in der Auseinandersetzung deutlich, in der Annäherung durch den Streit, durch das Berühren, welches an den Rändern des Risses/Zuges geschieht. Durch das Aufgreifen der fremd-sprachigen RissFigur Heideggers und ihrer spezifischen inhärenten Dynamik wird eine andere Form von An-Nahme als ein philosophischer Rollentausch möglich, vermittels der Sprache und vermittels einer affektiven Bezugnahme und Beziehung – eine Beziehung, die sich im performativen Vollzug der Sprache und ihrer potentiellen Übersetzungen ereignet, eine Sprache, die Anteil nimmt, die sich ihre Verant-

33 | Derrida: Vom Geist. S. 127. 34 | Ebd. S. 121. 35 | Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

wortung für die Fortsetzung des Dialogs mit dem Vorangegangenen (und dem Folgenden) immer wieder bewusst macht.

Vorhang der Sprache und gespaltener ›Geist‹. Eine Szene der Sprachlosigkeit Mit der trennenden Verbindung von Riss und Zug stehen dabei auch die Bezüge und Rückbezüge der Rissfigur in den Texten Heideggers zur Debatte, denen sich Derrida hier zuwendet. Ein wesentlicher Bezug den Derrida mit der Bezugnahme auf Riss und Zug markiert, ist der Heidegger’sche Begriff des »Geistes« selbst, dem ja die gesamte Untersuchung gewidmet ist: Der Riß, der Zug ist ein zweifacher Hinsicht bemerkenswert, er markiert sich selbst zweimal. Verdoppelt, doppelt markiert, im Geist selbst, ist er der Geist, in den er sich einschreibt, einzeichnet, in dem er sich zurück- und zusammenzieht.36

Um in Ansätzen die Tragweite dieser Verbindung (»Der Riß […] ist […] der Geist«), als doppelt markierter, fundamentaler Einschreibung deutlich zu machen, – um sie quasi doppelt zu markieren –, wollen wir im Folgenden zunächst auf eine andere Passage zurückkommen, in der Derrida die Wandlung und Verwandlung des Heidegger’schen »Geist«-Begriffes veranschaulicht und im Rahmen einer theatralen Szene, die wir, wie inzwischen deutlich sein dürfte, ebenfalls nicht voreilig als ›bloß‹, ›einfach‹ oder im konventionellen, gebräuchlichen Sinne, als ›metaphorisch‹ begreifen dürfen. In dieser frühen Passage in seinem Text Vom Geist, fasst Derrida den fundamentalen Wandel des Heidegger’schen »Geist«-Begriffs in einer ›Theaterszene‹ zusammen, als eine komplexe Vorhangs-, Verwandlungs-, Traum- und Geisterszene. Bemerkenswerterweise ist hier gerade (noch) nicht unmittelbar von der Figur des Risses die Rede. Es lässt sich jedoch mit gutem Grund behaupten, dass diese hier aufgrund der von Heidegger gesetzten Bezüge zwischen Riss- und Theaterszene ebenfalls bereits implizit ›eine Rolle spielt‹ – und sich später rückwirkend in diese Szene eingetragen haben wird. An Stelle eines Risses, finden wir in dieser Szene bezeichnender Weise zunächst die Figur eines fiktiven Vorhangs, was im Kontext des biblischen Bezuges von Riss und Vorhang37, keine unwesentliche Rolle spielt. Die Passage, an der Derrida die ›entscheidende‹ Wandlung in Heideggers Schreiben anhand der Setzung/Aufhebung (Vermeidung) von Anführungsstrichen beim Geist-Begriff zusammenfasst, lautet wie folgt: 36 | Derrida: Vom Geist. S. 123. 37 | Vgl. das Kapitel »Exkurs II: Riss und Vorhang« im vorliegenden Band, S. 126ff.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache Es handelt sich um das Gesetz der Anführungszeichen. Zu zweit halten sie Wache: an der Grenze oder vor der Tür, stets vor den Eingang gestellt, an diesen Orten, die dramatische Orte, Orte dramatischer Ereignisse sind. Es bietet sich an, die Bühnenwirksamkeit des Dispositivs in Betracht zu ziehen: man kann sich – in einer Art Halluzination – die Theater-Szene und die Maschinerie, derer sie bedarf, vorstellen. Ein Stoff, der einem Wandbehang ähnelt, einem Schleier oder einem Vorhang, wird angebracht, er wird mit zwei Paar Klammern befestigt und in der Schwebe gehalten. Der Vorhang ist gespannt und zugezogen; er bleibt allerdings einen Spalt breit geöffnet. Die Spannung hält sechs Jahre an – die Spannung, die der Zuschauer empfindet, die Spannung, die sich nach dem Vorspann steigert. Dann, mit einem Schlag – mit einem einzigen Schlag, nicht mit drei Schlägen –, werden die Anführungszeichen aufgehoben, hebt sich der Bühnenvorhang. Bereits am Anfang stellt sich ein Knalleffekt ein; der Geist selber tritt auf; es sei denn, er schickt sein eigenes Phantom auf die Bühne, seinen eigenen Geist*.38

Eine denkbar merkwürdige ›Geister‹-Szene mit der Derrida die anfängliche Vermeidung, dann die eingeschränkte Verwendung in Anführungszeichen und den schließlich uneingeschränkten Gebrauch des zurückkehrten Begriffes »Geist«/Geist in der politisch hochproblematischen ›Rektoratsrede‹ Heideggers von 1933 bedenkt.39 Derridas szenische Umschreibung erscheint zugleich als eine Um-Schreibung und eine ›Überführung‹, eine Über-Setzung ins ›Reich‹ des Theaters, welche die rhetorische Inszeniertheit der sprachlichen (Ver-) Wandlung Heideggers, als Spiel zwischen Andeuten, Sagen bzw. Schreiben und Nicht-Sagen/-Schreiben, eigentlichem und un-eigentlichem Sprechen sowie Heideggers nachträglichem Schweigen in den (Bühnen-)Vordergrund stellt: eine sprachliche »Szene der Latenz« par excellence.40 Die Wandlung der 38 | Derrida: Vom Geist. S. 40. 39 | Vgl. Heidegger: »Selbstbehauptung«. 40 | Eine verwandte »Szene der Latenz« beschreibt Gabriele Brandstetter am Beispiel eines Stücks von Jerôme Bel: In der Sequenz des hochgradig selbstreflexiven Stückes Last Performance (1998), verdeckt ein kleiner, vorgehaltener Vorhang die wiederholte Durchführung einer Tanzsequenz und wird dabei selbst über die Bühne bewegt: das Theater betreibt hier eine Art Introspektion und faltet sich quasi selbst-betrachtend in sich selbst ein. Diese »Szene der Latenz« verweist nun Brandstetter zufolge dabei auf die Latenz des Szenischen im Allgemeinen: »[D] as, was im Bild der ›Vierten Wand‹ stets präsent ist und bleibt, ist die Szene der Latenz. Der Vorhang erstellt einen doublierten Raum, der sich in Innen und Außen, in sichtbare und verborgene Dimensionen teilt. Das, was die Performance (nicht) zu sehen gibt, erscheint gleichsam als verwandelter Verwandler, das Gespenst des (ver)wandelnden Vorhangs. So evoziert dieser sich als ›Darsteller‹ über die Bühne bewegende Vorhang den Gestus eines Entzugs. Und er präfiguriert auch so etwas

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

Heidegger’schen »Geist«/Geist-Begriffs von der Un- zur Eigentlichkeit erscheint als eine Geist(er)-Szene und zugleich als ein unmögliches, absurd anmutendes Sprach-Theater. Kein »Jargon der Eigentlichkeit«, im Sinne Adornos, sondern eine ›unmögliche‹, paradoxe Szene, ein ›eigentlich‹ undarstellbares Drama,41 eine dramatische (Alb-)Traum-Szene.42 Die absurde, paradoxe wie dysfunktionale Szene kann kaum anders als wörtlich betrachtet werden: entweder man beginnt ihre Analyse als ob wir es mit einer erlebten oder erlebbaren (zugleich wirklichen, wirksamen) Theater-Szene zu tun hätten. Oder man betrachtet die Szene im ›übertragenen‹ Sinne – (quasi-) metaphorisch – als gedoppeltes Spiel der Sprache – dies wäre auch dies ja im Prinzip nichts Anderes als eine (im ›eigentlichen‹ Sinne) ›wörtliche‹ Betrachtung (d.h. eine Betrachtung der Wörter, Buchstaben und Schriftzeichen Heideggers selbst) – es geht ja gerade um die Sprache, den Text, um die die schrift-sprachliche Wortverwendung, und –Wandlung, die Verwandlungen und Bedeutungsverschiebungen eines bestimmten Begriffs bei Heidegger. Die Unterscheidung zwischen ›wörtlicher‹ und ›figurativer‹ Lesart scheint im Vollzug, in der Performativität der dargestellten Szene quasi zu kollabieren. Bleiben wir also zunächst im Bild, in seiner gedanklichen Bewegung und betrachten wir den Schluss der Szene: gerade, als das Spiel endlich loszugehen scheint, als der Geist – ist es Heideggers Begriff vom »Geist« oder bereits der Geist Heideggers? – auftritt, da reißt die dramatische Handlung (auf einen Schlag, wie es heißt) schon wieder ab. Der ausdrückliche ›Knalleffekt‹ des Auftritts (»Coup de théâtre dès l’ouverture«43) – ist zugleich bereits der Schluss der Szene. Anfang und Ende fallen zusammen, sie kollabieren gemeinsam. Der Vorhang reißt auf, hebt sich mit einem Schlag und es folgt die stumme Pointe: Der Geist

wie eine ›lazarische Gebärde‹ der Auferstehung: nämlich das Versprechen der Möglichkeit der Wiederbelebung und Transfiguration der leeren Szene. Brandstetter und Peters: »Einleitung«. S. 20f. 41 | Erinnert sei hier an Derridas ›Vorstellung‹ des metaphorischen Entzuges: »Das Drama – denn dies ist ein Drama – besteht darin, daß es mir selbst wenn wollte, nicht gelingen würde, unmetaphorisch von der Metapher zu sprechen; sie würde fortfahren, sich meiner zu entledigen, um – wie ein Bauchredner – mich zum Sprechen zu bringen, mich zu metaphorisieren.« Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 199. 42 | So gesehen handelt es sich quasi um eine Art der ›Traum-Deutung‹ im uneigentlichen Sinne, ist der (Alb-)Traum hier doch nicht Gegenstand der Deutung im Freudschen Sinne, sondern eher Modus Operandi. Vgl. »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972a. , 302-350. 43 | Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. S. 53.

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kommt nicht zu Wort.44 Das ›eigentliche‹ Spiel, so scheint es, hat bereits vorher stattgefunden, früher, als Vor-Spiel, Vor-Spann, als (›bloßes‹) Spiel des Vorhangs, in der Spannung und Spaltung seiner latenten Öffnung. Im Grenzbereich zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bleibt der Stoff, der die (imaginierten) Zuschauenden die Blicke verwehrt, dabei selbst wie verschwommen: Er ähnelt einem »Wandbehang, Schleier oder einem Vorhang«45, drei, so müssen wir festhalten, sehr unterschiedliche Formen von Stoff, Stofflichkeiten von unvereinbarer Qualität, Funktion und Blickdichte. Unmöglich, sich das beschriebene Gewebe bildlich, konkret vorzustellen. Unmöglich erscheint jedoch nicht nur die Textur, sondern auch die beschriebene Anbringung: gespannt, zugezogen und zugleich einen Spalt (ist es eine »bloße Kluft« oder nicht?) geöffnet – all dies scheinen lauter Unklarheiten oder Widersprüche in der Beschreibung zu sein. Was hält eigentlich die Spannung dieses bildlichen Vorhangs aufrecht? Oben wird er von den Klammern gehalten, unten befindet er sich »in der Schwebe« und in der Mitte klafft der besagte Spalt. Die Blicke werden nicht gänzlich durchgelassen und sie werden auch nicht gänzlich verwehrt. Schwebend, ungehalten, ungezogen, – eine widersprüchliche, ja ›unerhörte‹ Metapher mit Blick auf die Sprache. Sprachlich gesehen ist die paradoxe Szene die Darstellung eines strukturellen, materiellen, performativen Scheiterns: die Klammern, welche den Vorhang halten sollten (und übertragen gesprochen, den Rahmen der Erzählung, des Theater-›Bildes‹ bilden), versagen ihren Dienst. Das Scheitern ist jedoch kein rein Materielles: Es ist keine bloße Materialermüdung, sondern es handelt sich um einen regelrechten ›Gesetzesbruch‹: Die Anführungsstriche, die Zeichen der Schrift als aufgestellte »Wachen« (ob zum Schutz vor Eindringlingen oder zur Bewachung eines Gefangenen, eingeschlossenen »Geistes« bleibt diffus) vor und hinter den Geist gesetzt, sollten Ihr eigenes ›Gesetz‹ bewachen, das, was zusammen mit ihrer eigenen Setzung gesetzt/Gesetz wurde – nämlich, dass nicht der Geist im ›eigentlichen‹ oder ›wörtlichen‹ Sinne gemeint war, dieser sollte ja vermieden werden, sondern bloß der Geist im übertragenen Sinne, der »Geist«, bloß als ein Zitat. Die Wachen/Klammern, als Gesetztes/Gesetze scheitern an Ihrer Aufgabe, jedoch keineswegs ›kläglich‹ (i.e. klagend), sondern: ebenfalls stumm, wie der Geist selbst. Im übertragenen Sinn: Das Figurative, wie das sog. ›Eigentliche‹ des sprichwörtlichen Sprechens (der Schrift) versagen im Kern: nicht (nur) die Sprache als solche versagt hier ihren Dienst, sondern bereits vorab ihre Regeln, ihr Gesetz, ihre ›tragende‹ Logik. Derrida ›inszeniert‹ die Verwandlung

44 | Zum Stichwort »das Wort beschneiden« vgl. Derrida, Jacques: Schibboleth: für Paul Celan. Wien: Passagen-Verl., 2002. 45 | Derrida: Vom Geist. S. 40 (»une sorte de tenture, un voile ou un rideau«, Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. S. 53).

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

von Heideggers »Geist«/Geist als einen Kollaps der Differenzen zwischen dem eigentlichen Sprechen und dem Eigentlichen im Sprechen, indem er diese auf eine andere ›Bühne‹ überträgt, oder vielmehr, ihr behauptetes ›als ob‹ bloßstellt. Vergessen wir nicht: Der Vorhang, das Theater, ihre Spannung und latente Spaltung: wir sprechen ja hier auch, d.h. möglicherweise ›eigentlich‹ (aber zugleich verborgen, in uneigentlicher Weise) über die Sprache selbst, bzw. die Schrift Heideggers, die Derrida quasi in eine Theater-Metapher (ist es noch eine oder ›eigentlich‹ bereits keine mehr?) übersetzt und so ›verwandelt‹, sie wird in seinem Text zu einem unmöglichen Vorgang, einem widersprüchlichen Text- bzw. Textur-Ereignis gemacht. Derrida ›enthüllt‹ (auch im Sinne einer Bloß-Stellung46), bzw. entschleiert durch die Form seiner Übertragung an dieser Stelle zugleich wesentliche theatrale und paradoxe Eigenschaften, die der Sprache Heideggers bereits zuvor innegewohnt haben: Es drängt sich hier deutlich die Anspielung auf Heideggers ›unmögliche‹ Theaterszene im Ursprung des Kunstwerkes auf, mit der dieses paradoxe Szenario ebenfalls andeutungsweise zu spielen scheint, es aufgreift und verwandelt.47 Durch diese Anspielung steht, wie wir zuvor gesehen haben, desweiteren auch die eng verbundene Riss-Metapher (wenn es denn eine solche ist) im Raum – beinahe wie der sprachlose »Geist«/Geist in der dramatischen Szene.48 Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne: der Geist-Begriff scheint sich der eindeutigen Auslegung zu entziehen, er bleibt zweideutig, zwiespältig: »Geist«/Geist. Als solcher, gespalten/spaltend, erscheint er im doppelten Sinne fundamental körperlos, selbst geradezu risshaft, insbesondere, wenn wir darauf vor- bzw. zurückgreifen, was Derrida etwas später im selben Text formuliert: Der Riß, der Zug ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert, er markiert sich selbst zweimal. Verdoppelt, doppelt markiert, im Geist selbst, ist er der

46 | Vgl. den Abschnitt »Bloße ›Kluft‹ und ›bloße‹ Kluft – Bloß-Stellung und Entblößung« im vorliegenden Band, S. 136ff. 47 | Vgl. hierzu die entsprechende Stelle bei Heidegger: »Das Verbergen verbirgt und verstellt sich selbst. Das sagt: Die offene Stelle inmitten des Seienden, die Lichtung, ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt«, Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 41. 48 | Im Öffnen und gleichzeitigen Sich-Verschlossen-Halten des Vorhangs, scheint sich die ontisch-ontologischen Differenz anzudeuten, dieses Spiel des Uneindeutigen, welches auch im Geschehen des Reißens wirksam ist, ist nicht unähnlich den theatralen Vorgängen des Zeigens und Verbergens, die ebenfalls komplex verwoben sind und keineswegs dialektische Gegensätze ›darstellen‹, die jedoch im Gegensatz zu Heideggers Konzeption eine Betrachendeninstanz voraussetzen.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache Geist, in den er sich einschreibt, einzeichnet, in dem er sich zurück- und zusammenzieht.49

Das uneindeutige Changieren, die Camouflage, bzw. De-Camouflage des Heidegger’schen Textes ›inszeniert‹ Derrida so als eine dramatische TraumSequenz, indem er die Heideggers Setzung der Anführungszeichen als den Beginn einer mehrfachen Verwandlungs-Szene beschreibt: Die Anführungszeichen werden zu Klammern, die noch – vorübergehend – etwas Stoffliches festhalten, einen teilweisen Sichtschutz, etwas Verstecktes in der Sprache, im Text, halbwegs verborgen, halbwegs sichtbar, was somit gleichzeitig die Neugier der Lesenden/ Zuschauenden befeuert. Durch die Anführungszeichen – beinahe können wir sie auch als ›Rufzeichen‹ verstehen – wird der Geist ›angeführt‹, angerufen, herbeizitiert. Sie sind es, die einen Ort des ›quasi‹, des ›als ob‹ markieren, einen Ort der Verwandlung, des Übergangs, der Schwelle – innerhalb von Sprache. Der in Anführungsstriche gestellte Begriff gilt nicht vollständig als er selbst, sondern nimmt Bezug – verkörpert zugleich als etwas Anderes, ein Außerhalb, der Begriff in Anführungszeichen nennt seinen Gegenstand ohne vollständig darin aufzugehen; eine Setzung die zugleich ein- und ausgrenzt. Innerhalb der performativen Dimension von Sprache, das angesprochene gleichzeitig zu bewirken, wird hier etwas außer Kraft gesetzt, Gültigkeit suspendiert, zurückgehalten und später auch zurückgenommen. Derrida greift also den Geist(-Begriff) Heideggers auf und ›nimmt ihn beim Wort‹, versteht ihn ›wörtlich‹, indem er dessen eigenen theatralen Gestus, sein Sich-Zeigen, welches sich inmitten eines eigenen Verbergens ereignet, offenlegt. Der Geist-Begriff materialisiert sich nun latent, als latent theatrales Geschehen. Er wird andeutungsweise mit dem Körper (eines Phantoms) begabt – als QuasiVerkörperung: keine »leibhaftig« schauspielende Person, sondern wiederum (»bloß«) ein Geist, der Geist selbst, »bloßer« Geist, ein anderer Geist der als Wiedergänger auftritt, der in Erscheinung tritt: diese Quasi-Verkörperung bleibt ein Drama der Sprache (wie eine Metapher/als Metapher: Drama eines Dramas)50 – und dennoch zeigt sich gerade in diesen andeutungshaften Verwandlungen und Quasi-Verkörperungen eine latente, performative Kraft und Wirksamkeit der quasi-theatralen, quasi-metaphorischen Sprache. Es sind Heideggers Worte, ja ganz wörtlich, seine Zeichen-Setzungen, die hier ›buchstäblich‹ als (Theater-)Spiel nachvollzogen werden, die in den Bereich des 49 | Derrida: Vom Geist. S. 123. 50 | »Das Drama – denn dies ist ein Drama – besteht darin, daß es mir, selbst wenn ich es wollte, nicht gelingen würde, unmetaphorisch von der Metapher zu sprechen; sie würde fortfahren, sich meiner zu entledigen, um – wie ein Bauchredner – mich zum sprechen zu bringen, mich zu metaphorisieren« Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 199.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

Theaters (oder eher des Dramas) verschoben werden und diese Räume als solche sichtbar machen und zugleich ›sprengen‹. Die Aufhebung der Anführungszeichen markieren, ›bezeichnenderweise‹ das Heben des Vorhangs,51 welches sich als erneute »Ungezogenheit« ereignet, worin noch etwas »Unmögliches« geschieht – wo wir nach dem Lösen der Klammern das bildliche Fallen des Vorhangs, nicht sein Schließen erwarten würden, geschieht das genaue Gegenteil: der Vorhang hebt sich – wie man sagen würde: »wie von Geisterhand«. Das Heben des Vorhangs mit einem Schlag, dies ist der uneigentliche »Coup de théâtre dès l’ouverture«52 – kein sanftes Heben des Stoffes sondern das gewaltvolle Hochreißen des Vorhanges. Es folgt der Auftritt des Geistes als er selbst, oder, so fragt Derrida, ist es möglicherweise bloß sein Phantom, besitzt der Geist vielleicht einen Doppelgänger, ein Double des ohne bereits gespaltenen/gedoppelten »Geist«/Geists?53 Der Anfang der Szene ist ihr Ende, zur Fortsetzung fehlen in Derridas imaginierter Szene die Worte: Der Geist, als solcher entlarvt, bloßgestellt, nackt, »bloßer« Begriff, bleibt bezeichnenderweise selbst stumm. Wovon diese Szene ›eigentlich‹ spricht, bleibt offen, und steht als solches offen, latent und stumm im Raum. Es geht somit auch um Performanzen des Nicht-Sprechens, des Schweigens und Verschweigens auf offener Bühne, in der Sprache, in aller Offenheit. Die Szene scheint in ihrer sprechenden Stummheit ein anderes Bild Derridas in sich einzufalten, zu invaginieren, umzukehren, nämlich die Figur eines »ermüdete[n], verbrauchte[n] Schauspieler[s]«, der bei Derrida für das »alte Thema« der Metapher einstehen musste.54 Das Theater als Metapher faltet zugleich die Metapher als Drama, das Drama der Metapher als dramatischen Text in sich selbst ein und zieht sich als Metapher zurück »von der Szene der Welt«.55 Die Logik dieser theatralen Metapher ›geht nicht auf‹ – dies wäre die entscheidende Erkenntnis: das bildhafte Verhältnis zwischen Sprache und Theater in dieser

51 | »le levée des guillemets marque le lever de rideau«, Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. S. 53. 52 | Ebd. 53 | »Stellt nicht die Verdoppelung, der Geist als Doppelgänger, der Geist* als Geist* des Geistes*, als Geist des Geistes, dem immer ein Doppelgänger folgt, das Unvermeidliche dar, das, was Heidegger letztlich nicht mehr vermeiden kann? Der Geist ist sein eigener Doppelgänger, seine eigene Verdopplung«. Derrida: Vom Geist. S. 50f. 54 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 200. 55 | Ebd. S. 199. »Ihr Entzug [d.h. der Metapher, H.H.] hätte somit die paradoxale Form einer unbotmäßigen und überbordenden Insistenz, einer überschwenglichen Remanenz, einer eindringlichen Wiederholung, die jeweils durch einen zusätzlichen Zug (trait), einen weiteren Gang, einen Rück-gang und einen doppelten Zug (retrait) den Zug (trait) markiert, den sie im Text selbst hinterlassen haben wird«. Ebd. S. 200.

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paradoxen, unmöglichen Szene wankt, die Sprachbilder bleiben Fragmente, sie fügen sich nicht zum geschlossenen Bild, nicht zu einer vernünftigen Szene. Es wird somit unmöglich zu entscheiden, ob es sich hier um eine ›sprechende‹ oder ›abgenutzte‹ Metapher (und ob es sich überhaupt um eine Metapher) handelt – die Szene bleibt zwar stumm, aber ›sprechend‹ in ihrer Stummheit –, jegliche Antwort auf diese Frage wäre notwendigerweise in- und an sich widersprüchlich. Die Szene spricht in einem Moment des Sich-selbst-Widersprechens, die Imagination der Lesenden (der bildlichen Zuschauer*innen dieses Sprach-Spiels) kann sich im Akt des Lesens nicht auf ein kohärentes »Bild« einstellen, beim genauen Hinsehen widersetzt sich uns die Sprach-Bildlichkeit. Und dennoch entfaltet dieses paradoxe Bild, wie auch Heideggers Verwandlung des »Geist«/ Geist-Begriffs weiterhin eine »Bühnenwirksamkeit«.

Ein geisterhafter Spalt: bloße Kluft oder werdender Riss? Vergessen wir nicht, worum es an dieser Stelle aber auch geht, latent oder möglicherweise sogar ›eigentlich‹; was hier auf dem Spiel steht, was Derrida jedoch so nicht direkt zur Sprache bringt, was in dieser Szene weitgehend unausgesprochen bleibt: wir sprechen auch von der sogenannten ›Rektoratsrede‹ Heideggers56, in dessen 1934 gedruckter Fassung dieser den Geist-Begriff schließlich ohne Anführungszeichen nennt und so den Geist offen »ins Feld führt«, ohne Anführungszeichen (dieses Skandalon blieb in der Rede selbst freilich unhörbar, stumm!). In seiner Antrittsrede unter dem Titel »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität« schreibt Heidegger eingangs im nationalistisch verbrämten Tenor: Die Übernahme des Rektorats ist die Verpflichtung zur geistigen Führung dieser hohen Schule. Die Gefolgschaft der Lehrer und Schüler erwacht und erstarkt allein aus der wahrhaften und gemeinsamen Verwurzelung im Wesen der deutschen Universität. Dieses Wesen aber kommt erst zu Klarheit, Rang und Macht, wenn zuvörderst und jederzeit die Führer selbst Geführte sind— geführt von der Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags, der das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt.57

Das beschriebene Fallenlassen der Anführungszeichen, der Moment des VorhangHochreißens, wie auf einen Schlag, ereignet sich nun kurz darauf: Denn ›Geist‹ ist weder leerer Scharfsinn, noch das unverbindliche Spiel des Witzes, noch das uferlose Treiben verstandesmäßiger Zergliederung, noch

56 | Heidegger: »Selbstbehauptung«. 57 | Ebd. S. 107.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen gar die Weltvernunft, sondern Geist ist ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins.58

Unmittelbar darauf macht Heidegger deutlich, aus welchem »Geist« dieser Führungsanspruch entspringt, diese »wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins«, wie dieses Verständnis der 1933 herrschenden Ideologie des Nationalsozialismus die Hand reicht und sich unumwunden, ganz explizit in dessen Blut- und Bodenrhetorik einbettet: Und die geistige Welt eines Volkes ist nicht der Überbau einer Kultur, sowenig wie das Zeughaus für verwendbare Kenntnisse und Werte, sondern sie ist die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung seines Daseins. Eine geistige Welt allein verbürgt dem Volke die Größe. Denn sie zwingt dazu, daß die ständige Entscheidung zwischen dem Willen zur Größe und dem Gewährenlassen des Verfalls das Schrittgesetz wird für den Marsch, den unser Volk in seine künftige Geschichte angetreten hat.59

In diesem später nie widerrufenen Aufruf zur »geistigen Führung«60 bekennt sich Heidegger relativ offen, unumwunden ›entschlossen‹ zur nationalsozialistischen Ideologie und einem tief verwurzelten nationalistischen Impetus seiner Philosophie. Heideggers völkisches Denken zeigt sich hier offen als ein entschlossenes Wegbereiten für Kräfte, die beim ›bloßen‹ Denken und Philosophieren nicht Halt machen werden und dessen fatale Auswirkungen sich in der Geschichte des Holocausts zeigen wird: Denn das Entscheidende im Führen ist nicht das bloße Vorangehen, sondern die Kraft zum Alleingehenkönnen, nicht aus Eigensinn und Herrschgelüste, sondern kraft einer tiefsten Bestimmung und weitesten Verpflichtung. Solche Kraft bindet an das Wesentliche, schafft die Auslese der Besten und weckt die echte Gefolgschaft derer, die neuen Mutes sind. Aber wir brauchen die Gefolgschaft nicht erst zu wecken. Die deutsche Studentenschaft ist auf dem Marsch.61

Das so geprägte Denken bedeutet für Heidegger »Bindung ist die in die Volksgemeinschaft«.62 Er führt diese Bindung wie folgt als eine Verschränkung von drei ›Diensten‹ aus:

58 | Ebd. S. 112. 59 | Ebd. 60 | Ebd. S. 107. 61 | Ebd. S. 112. 62 | Ebd. S. 113.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache Die drei Bindungen – durch das Volk an das Geschick des Staates im geistigen Auftrag – sind dem deutschen Wesen gleichursprünglich. Die drei von da entspringenden Dienste – Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst – sind gleich notwendig und gleichen Ranges.63

Es ist auch die Gespenster dieses ›Geistes‹/Geistes, den Derrida in seiner Traumbzw. Theaterszene erneut (aber verwandelt) auftreten lässt, eines Heidegger’schen Denkens, dass sich nicht nur deutlich in der Nähe zum Faschismus bewegt, sondern dazu aufruft, ihm quasi vorauseilend Gefolgschaft zu leisten, d.h. selbst führend zu sein. Als ein solcher wird dieser ›Geist‹, nimmt man ihm beim Wort, zu einer anderen, gewaltvollen, Verstummung führen, als ein Geist der keinen Widerspruch duldet. Der Riss, den dieses Denken unter dem Deckmantel der Versammlung und Einheit prä-figuriert ist so tiefgreifend spaltend wie fatal. Was ›heißt‹ es nun, wenn dieser ›Geist‹/Geist, von Derrida als solchem entblößt, auf der Bühne selbst verstummt? Wird hier restrospektiv auf jenes Schweigen Heideggers Bezug genommen, mit dem er sich in der Zeit nach 1945 und weitgehend bis zu seinem eignen Tod, umgeben wird? Oder deutet sich hier möglicherweise auch das Schweigen all derer auf, die von diesem ›führenden‹ und ›herrschenden‹, diesem versammelnden und zugleich spaltenden Denken zunächst Mundtod gemacht oder ermordet wurden? Warum dieser mühsame Umweg? Warum benennt Derrida diese offensichtliche Ungerechtigkeit, diese (Mit-)Schuld, diese Verantwortung nicht beim Namen, warum geht er den Umweg über diese uneindeutige Geisterszene? Es geht offensichtlich darum, nicht nur diese (bereits) offensichtliche nationalistisch verbrämte Seite in Heideggers Text zu beleuchten, sondern etwas Tieferliegendes, Gefährlicheres, nämlich die unsichtbaren, zugrundeliegenden Prinzipien, die möglicherweise nach wie vor wirksam sind, die sich latent, auch durch ein anhaltendes, vorübergehendes Schweigen, ein fundamentales Schweigen hindurch fortsetzen und uns berühren und betreffen. Das Schweigen in der Szene (und danach) ist nicht daher einfach zu deuten, es hat keine einfache Bedeutung und zugleich ist es von grundlegender Bedeutung. Mit dem Verständnis eines ›einfachen‹ Schweigens oder Verstummens ergründet sich die Szene also keineswegs – schon gar nicht abschließend, denn nach Derrida ist die Metapher (ohne eindeutig sagen zu können, ob es sich sowohl beim ›Theater‹ als auch beim »Geist«/Geist um eine solche handeln würde) weder als Übertragung des Sinnlichen auf das Intelligible zu begreifen, noch als dessen ›bloße‹ Inversion: sie ist immer auch Aussetzung, Entzug, An- und Ent-Eignung. Die theatrale Szene, wie die Metapher (möglicherweise auch: der Riss) bringen das Schweigen (sprichwörtlich, bildlich, im übertragenen Sinn, sozusagen – in Anführungszeichen) zum Sprechen, verwandeln es in ihrer latent paradoxalen 63 | Ebd. S. 112.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

Gegenseitigkeit, in dem Unterschied den sie aus sich selbst heraus erzeugen. Was hier somit auch zur Debatte steht, sind die Rahmenbedingung und Grundlagen eines ›sprechenden‹ Schweigens, gerade wenn es vermeintlich eine eindeutige Sprache zu sprechen scheint: Es geht somit auch um die latente, mißbräuchliche Theatralität des faschistischen Geistes bzw. einem gewaltsamen, nur scheinbar ›Einheit‹-stiftenden doppelgesichtigen, maskierten Geistes, einem doppelten, zweideutigen ›Geist‹/Geist der Spaltung. In dergestalt theatraler/performativer/dramatischer/schriftlicher Form zur Darstellung gebracht erscheint die Sprache, erscheint das geschriebene Wort paradoxerweise in seiner (un-)eigentlichen Form: stumm. Der »Geist«/Geist Heideggers in Derridas dramatischer Übertragung stumm, doppelt-stumm, er ent-spricht von sich aus, aus sich heraus dem nachhaltigen Schweigen Heideggers und Derrida, der ihn dieses Schweigens überführt und die Gewalt dieses Schweigens spürbar werden lässt. Das theatrale Moment eines ›hinter dem Vorhang‹ gehaltenen Gewaltaspekts in der Sprache, einen tief eingefalteten aber dennoch latent spürbaren Faschismus Heideggers, gibt sich nicht nur an den vermeintlich offensichtlichen Passagen, wie in den ›Führungsansprüchen‹ der Rektoratsrede sondern auch am Rande seiner späteren Texte, im sprachlichen Fauxpas, in den rhetorisch auffällig inszenierten Auftritten von Gerippen oder in dezenten setzen und Fallen-Lassen der Anführungsstriche als ›solcher‹ zu erkennen. Am Rande einer Figur des Risses zeigt sich dieses Spürbar-werden der latenten sprachlichen Gewalt, die gewaltvollen Züge, dessen was sich in und anhand von Sprache zeigt und in ihr verbirgt, in sie einfaltet: der »Geist«/Geist einer möglichen, aus ihr hervorgehenden, kommenden Spaltung, die Andeutung eine ›bloßen Kluft‹. Durch die Figuren des Risses gilt es somit auch die anhaltende Wirksamkeit latent faschistischer Züge innerhalb von Repräsentationsstrukturen (ihrer anhaltenden »Bühnenwirksamkeit«) kritisch zu befragen und sichbar zu machen – dies wird Gegenstand der Auseinandersetzung mit den performativen Aktionen, in der sog. Nachkriegszeit im zweiten Teil des vorliegenden Bandes.

Rückkehr/Entzug des Risses/des Geistes Ist die theatrale Sprachszene noch die Szene, in welcher der Geist-Begriff als gespenstische Theater-Figur in Erscheinung tritt, so ist die Szene des Risses eine des geisterhaften Rückzuges, möglicherweise auch einer (un-)heimlichen Rück-Kehr des Geistes als etwas Unerledigtes, Ungeklärtes, weiterhin latent Wirksames. Im dem, an dieser Stelle unausgesprochenen, unbenannten, noch namenlosen, sich später rückwirkend eintragenden Riss hallt somit auch eine stumme Anklage Derridas an Heidegger nach:

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache Es gilt schließlich, einen letzten Zug zu erörtern und dem Zug selbst, dem Riß* seinen Ort zuzuweisen. Das Wort ›Riß‹* bahnt auch dem Unterschied den Weg. Es kehrt häufig wieder, um den Rückzug, den Entzug, den doppelten Zug [retrait] des Geistes zu benennen: jenen Zug, durch den der Geist sich auf sich selbst bezieht und sich teilt, sich spaltet, in einer Art von innerer Zwietracht, die dem Bösen eine Stätte bietet und es der Flamme einbeschreibt. Man könnte von einer Schrift des Feuers, von einer Feuersschrift reden.64

In und aus diesem Versatzstück Derridas ist nun der (gespaltene) Vorhang verschwunden, entfernt, gelüftet, ersetzt durch oder verwandelt in – einen Riss. Die Figur des Risses erscheint so als Repräsentation, als Platzhalter, als ›Geist‹, Phantom oder Doppelgänger dieses verwandelten Verwandlers, des ›sprachlichen‹ Vorhangs, eine Figur des (wieder) Anfangens, der Differenzbildung und Spaltung innerhalb der Schrift. Im Vergleich zu der Geisterszene zu Beginn scheint der Vorhang, der einen Spalt geöffnet war und ist, hier durch den Geist ersetzt zu sein, der sich nun selbstständig spaltet, und sich durch den »Zug«, jenen Begriff Derridas mitzu-teilen sucht. Die Spaltung setzt sich fort, hier nicht mehr stofflich-greifbar in Form und Gestalt des Vorhangs (bzw. als dessen unmögliche Assemblage) sondern als ein Replacement, als Doppelgänger des ›Geist‹/Geists, welcher nun durch den Geist selbst figuriert wird. Der Geist fungiert als Vorhang in der Schrift als Form der Sprache, die sich selbst verbirgt und sich so entzieht. Diese Spaltung des Geistes geschieht von und durch sich selbst in einem Moment der Auto-Affektion. Der Geist der Zwietracht spaltet und verbreitet sich wie Feuer und gleicht darin dem Riss, der ebenfalls dem Unterschied den Weg bahnt, sich einschreibt. Riss, Geist, Schlag, Schrift und Feuer gehen hier eine als unheilvoll beschriebene Allianz oder Komplizenschaft ein, kehren in unterschiedlichen Gestalten wieder, verwandeln sich und setzen ihr Wirken trotzdem oder gerade dadurch immer weiter (und immer wieder) fort: Der Riß, der Zug ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert, er markiert sich selbst zweimal. Verdoppelt, doppelt markiert, im Geist selbst, ist er der Geist, in den er sich einschreibt, einzeichnet, in dem er sich zurück- und zusammenzieht. Er gehört zur Flamme, die er teilt. Es besteht eine wesentliche Affinität zwischen ihm und dem ›Schlag‹.65

Was Derrida hier beschreibt, ist ein Prozess der drohenden, möglicherweise noch (oder: wieder) folgenden Verwandlungen, ihrer (Spät-)Folgen und stummen, heimlichen, latenten Gefolgschaften. Die verborgene Schonungslosigkeit dieses 64 | Derrida: Vom Geist. S. 121. 65 | Ebd. S. 123f. In diesem Sinne ein impliziter Bezug zum »Coup de théâtre dès l’ouverture«, vgl. Fußnote 505.

10. Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen

unterschwelligen Denkens wird deutlich, wenn Derrida den Heidegger’schen Geist (in Anklang an und Abgrenzung von dessen Nitzsche-Lektüre) als mitreißenden »Schrittmacher« bezeichnet: »er reißt die Seele mit sich, er führt sie und ebnet ihren Weg«66 Es geht im Verhältnis von Geist und Riss somit um die zentralen Argumente, die zentralen Thesen Heideggers und dennoch bleibt dieser zugleich wesentliche Leerstelle, die mit und durch Sprache nicht (mehr) erfasst werden kann, wie es im »Entzug der Metapher« heißt: Der ›Entzug/doppelte Zug‹ ist weder ein Ding, ein Seiendes, noch ein Sinn. Er zieht sich vom Sein des Seienden als solches und von der Sprache zurück, ohne zu sein, ohne daß er an anderer Stelle ausgedrückt wäre; er reißt die ontologische Differenz selber auf.67

Dem Riss ist somit ein differenzierender, wie auch performativer und potentiell transformatorischer Zug zu eigen, er entfaltet seine Wirksamkeit durch die diversen Verwandlungen und Anverwandlungen ihres als, ihres Als-ob und entzieht sich darin und dadurch selbst. Zugleich scheint hier im Umkehrschluss auch eine ontologische Dimension des Risses als zutiefst gewaltvolles Geschehen auf, ein Reißen, welches sich innerhalb der ontologischen Differenz ereignen kann, insofern kann es weder abschließend als zugehörig noch als von ihr unabhängig bestimmt werden. Ein solches Ereignen des Risses zeigt sich dabei indirekt, latent, in Gestalt einer sich entziehenden Bewegung (und trotzdem: eines selbstbestimmenden Geschehens), in einer Bewegung in und aus der Sprache heraus, im metaphorischen Rückzug, zugleich mehr und weniger als eine Metapher: Der Riss ist Metapher und erscheint als Metapher, ›bloß‹, als ihr Doppelgänger, als ihr Geist, ihr gestaltloses Wesen, defigurierte Figur. In großer Nähe und zugleich auf Abstand zum Heben, Hochreißen des Vorhangs, oder auch unvorhergesehenen Reißen der nachgebenden Struktur, des Stoffes selbst; dies ist es das widersprüchliche Schauspiel einer Sprache, die stumm bleibt. Die verstummte Sprache zeigt sich im schriftlichen Text als Bild einer sprechenden Metapher. Die Sprache im Text markiert, einem Vorhang gleich, eine Differenz zwischen Zeigen und Verschweigen und ist dabei dadurch wirksam, dass sie einen Spalt lässt, eine leere Stelle, dass sie einen (unkörperlichen, latenten) gespaltenen, spaltenden ›Geist‹/Geist beschreibt, der ein vieldeutiges Schweigen erzeugt und zugleich selbst beharrlich verschwiegen ist. An dieser geteilten Linie scheint der Riss zwischen Text, Sprache und Denken zu verlaufen und die Lesenden als (stumme) Zeug*innen körperlich zu betreffen, sie zu berühren. Ein Auftritt der Rissfigur im ›eigentlichen Sinne‹ findet nicht statt, oder: 66 | Ebd. S. 89. 67 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 233.

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Risse in Szenarien von Philosophie und Sprache

als er sich schließlich scheinbar ereignet, stellen wir fest, dass das eigentliche Spiel bereits stattgefunden hat, dass die Verkörperung der Sprache an anderer Stelle bereits geschehen ist, dass sie sich an anderer Stelle ›materialisiert‹ hat. Als Riss in der Sprache des Textes, der sich als offene Frage seinen möglichen und unmöglichen Verkörperungen zuwendet.

Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten In den vorangegangenen Überlegungen zur Verortung von Rissfiguren innerhalb philosophischer Diskurse, insbesondere bei Heidegger und Derrida, haben sich vielfältige performative Aspekte von Rissen im Kontext von sprachlichen Szenarien gezeigt. Risse zeigten sich hier als Figuren der Latenz in einem komplexen Verhältnis zu Metaphorizität und in Kontexten struktureller, latent gewalthafter Ausblendungen. Die Ergebnisse der detailierten Betrachtung verschiedener Textpassagen bei Derrida und Heidegger wurden in mehreren Einschüben mit theatralen Szenarien konfrontiert, die Rissfiguren im Kontext von Fragen der Darstellung und Verkörperung situieren. Als Weiterführung und Vertiefung der bisherigen Ansätze sollen Risse im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung nun verstärkt in künstlerischen Kontexten als performative Figuren in Bewegung untersucht werden. Die folgenden Kapitel stellen künstlerisch-performative Arbeiten in den Vordergrund, in denen Figuren von Rissen in Szenarien der Betrachtung und der Bewegung eine signifikante Rolle einnehmen. Dies können einerseits ›produzierte‹, also künstlich bzw. künstlerisch hergestellte Formen von Rissen sein, oder ästhetische Rahmungen, die ausschnitthaft bereits bestehende materiellstoffliche Risse in das Blickfeld rücken und sie in einer anderen Weise zur Spüroder Sichtbarkeit bringen. Heideggers ästhetisches Modell der gegenseitigen Hervorbringung von Werk, Kunst- und Kunstschaffenden, seine von Theatralität durchzogene ontologische Ästhetik, der eine Form der Widersprüchlichkeit, des ›Streits‹ und eine ambivalente Affinität zum Risshaften inhärent ist, dessen ontisch-ontologischer Festschreibung des Risses, die, wie Derrida nachweist, sich zugleich immer wieder entzieht, wird hierbei, ein Bezugs- und Referenzsystem am Rande darstellen. Die Problematik des von Heidegger aufgeworfenen Werkbegriffs soll dabei ausdrücklich um Fragen nach den diversen Rollen(-wechseln) der Zuschauenden und Betrachtenden als am künstlerischen Prozess konstitutiv Teilnehmende erweitert und somit aus einer theaterwissenschaftlichen (und

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten

damit aisthetischen, phänomenologischen) Sicht kritisch beleuchtet und zugleich aktualisiert werden. Im Hinblick darauf, wie Risse ästhetische Räume in spezifischer (materieller wie performativer) Weise zugleich eröffnen und im Zuge ihrer latenten oder faktischen Bewegungen fundamental wie irreversibel verändern, wird eine Frage nach konventionellen Subjekt-Objekt-Beziehungen obsolet. Risse verkomplizieren dieses Verhältnis derart, dass von vornherein nach einer anderen Basis der Beschreibung von Wahrnehmungsprozessen gesucht werden muss. Risse lassen sich so, im Sinne theatraler/performativer Szenarien, als niemals vollständig kontrollierbare Versuchsanordnungen beschreiben, als Spuren und Ansätze einer künstlerischen Auseinandersetzung, welche Betrachtende implizieren und in vielfältiger Weise Fragen des Austauschs, der komplexen und vielschichtigen Beziehungen innerhalb und zwischen ihren jeweiligen (Zeit-) Räumen, Rhythmen und Tempi aufwerfen. In dieser Weise des veränderten Greif- und Nachvollziehbar-Werdens mittels und durch Bewegungen von Körpern und Figuren des Verkörperns ist zunehmend auch eine andere Form der Temporalität von Rissen aufgerufen: es wird somit in verschiedenen Konstellationen um die Fragen von ›Zeitschichtungen‹ und ihres Aufbrechens, Fragen von Wiederholung und Differenz aber auch der Einfaltung unterschiedlicher Zeit-Dimensionen (z.B. im Verhältnis materieller Veränderungsprozesse in Relation zu unterscheidlichen Formen von Lebenszeit) durch Figuren von Rissen gehen. Die Fragen von zeitbezogenen Sedimentierungen und ihrer Aufrisse berühren am Rande auch Sprach-, Bild- und Medienfragen: so wird mit Rissen insistierend die Frage der Materialität ›hinter‹ und innerhalb von Bildlichkeit und Bild-Sprachlichkeit aufgerufen. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit Rissen, entstehen experimentelle Anordnungen, welche die Zusammenhänge von Raum-, Zeit-, Bild und Körperlichkeit neu konfigurieren und durch Prozesse des De-Figurierens sprach-bildliche Gefüge zu sprengen suchen und potentielle Vor- und Nachbilder evident werden lassen. Solche Formen der latenten ›Entbildlichung‹ und ›Entsprachlichung‹ durch Rissfiguren berühren zugleich Prozesse des Ver- und Entkörperns, die als Formen dynamischer (De-) Figuration am Rande stattfinden. Die genannten Fragestellungen werden so im Sinne einer Befragung nach den Grenzen von Wiederholungen und Fragen der technischen Reproduzierbarkeit zu vertiefen sein. Trotz einer gewissen Heterogenität der Beispiele, d.h. deutlich unterschiedlicher künstlerischer Strategien und kultureller Kontexte konzentrieren sich die Entstehungszeiträume der einzelnen Arbeiten nicht zufälliger Weise zunächst auf die Periode der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts (Jacques Villeglé, Murakami Saburō, Günter Brus) und erstrecken sich sowohl in ihrer andauernden Auseinandersetzung als auch sprunghaft, d.h. durch erneutes Aufgreifen (mit Doris Salcedo, Louise Ann Wilson) bis hin ins neue Jahrtausend.

Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten

Hierbei bieten sich verschiedene syn- und diachrone Vergleichsmomente der körperlich-phänomenologischen Auseinandersetzungen mit Rissfiguren und -figurationen an, welche die differenten künstlerischen Heransgehensweisen und Ausrichtungen der Fragestellungen sowie die unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexte evident machen. Aufgrund der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung bietet es sich an, die Arbeiten der französischen Nouveaux Realistes am Beispiel Jacques Villeglés und jenen von des japanischen Gutai-Künstlers Murakami Saburō nacheinander zu betrachten, und Aspekte der Körper-Inszenierung, Bildlichkeit und Autorschaft aus jeweils kulturell spezifischer Perspektive zu beleuchten. Daran anschließend geht es mit Günter Brus als Künstler des Wiener Aktionismus um eine etwa zeitgleiche Periode. Im Übergang von der Malerei zu performativen Aktionen rückt Brus am Rande einer kraft- und gewaltvollen, mithin zerstörerische ›Selbst-‹Befragungen des Körpers auch immer wieder sich verwandelde Figuren von Rissen in den Fokus. Mit den über vierzig Jahre später entstandenen Arbeiten von Doris Salcedo und Louise Ann Wilson geht es dann schließlich um zwei zeitgenössische weibliche Künstlerinnen, die in äußerst unterschiedlichen Kontexten und Tätigkeitsfeldern (Salcedo arbeitet im Bereich visual arts, während Wilson demgegenüber primär als ortspezifische Theaterregisseurin aktiv ist) verwandte Themen bearbeiten. In beiden Fällen geht es um Rissfigurationen als ›choreographische‹ Versuchsanordnungen, d.h. Risse geben hier Anlass zu gemeinsamen Bewegungen und Betrachtungen von Zuschauenden und bei Wilson zudem von Darstellenden. Mit den beiden letztgenannten Beispielen geht es dabei zugleich um eine UmSchreibung patriachaler Diskurse: es handelt sich um choreographische Settings, die wegführen von autoritativ-dominanten, expressiven und appropriierendem Gesten sowie von einer Ästhetik der Konfrontation, hin zu situativen, relationalen Gefügen und Perspektiven, d.h. in teilenden und mitteilenden, kollaborativen und partizipativen Szenarien – in jenem doppelten, durchaus feministischen Sinne eines »Welt teilens«, wie Luce Irigaray es formuliert.1 In der über 60-jährigen Zeitspanne der hier betrachteten künstlerischen Arbeiten zeigen sich Risse so als an-dauernde, wiederkehrende und sich verwandelnde Figuren, welche diverse Epochen und Kunstformen miteinander in Beziehung setzen, in Dialog bringen und dabei unabgeschlossene Fragen neu, wiederholend, insistierend aufwerfen. Es geht hier um andauernde, existentielle und sich zugleich verändernde Fragen, die im Falle von Villeglé, Murakami und 1 | Vgl. Irigaray, Luce: Welt teilen. Freiburg im Breisgau: Alber, 2010. Irigaray beschreibt das Prinzip ›Welt‹ als aufgrund von irreduzibler Differenz und Alterität von vornherein Geteiltes: »In dem Moment, wo ich die Alterität des anderen als eine anerkenne, die nicht auf die meine und das, was mir eigen ist, zu reduzieren ist, wird Welt nicht auf eine einzige zu reduzieren sein: Es gibt immer zumindest zwei Welten«. Ebd. S. 8.

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Brus die Künstler in ähnlicher Weise nahezu lebenslang beschäftigt haben und deren anhaltende Virulenz sich (sowohl in verschiedenen Retrospektiven um die Jahrtausendwende als auch durch die untersuchten Arbeiten jüngeren Datums von Salcedo und Wilson) auch nach der Jahrtausendwende bestätigt.

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé)

Ein großes Tableau unleserlich gewordener Schrift hinter Glas: auf etwas mehr als zwei Meter fünfzig Breite und in einer Höhe von etwa fünfzig Zentimentern versammeln sich Fragmente von gedruckten Buchstaben, Teile von großen Lettern, schwarze und teilweise rote Schrifttypen, Reste dicker roter Unterstriche. Von ehemals großformatigen Ankündigungen sind bloß abgerissene Fetzen übriggeblieben, als Reste von Plakatschichten überlagern sie sich gegenseitig. Das Wenige, was lesbar geblieben ist, zeugt vom Kontext des französischen Kultur- und Sprachraumes: »...LYSEES«, »-Marceau«, »Concertino«, »...otel-c« »BUREA...«, »Musi«, »STRAWI«, »Montaigne«, »Métr«, »15, e«. Die vornehmlich durch Risse hervorgebrachten Lücken und Fragmente animieren zum Suchen, Rekonstruieren von Zusammenhängen und zum Re-Kombinieren. Auch die titelgebenden Wortbruchstücke »Ach Alma Manetro« unterstreichen dieses Suchspiel und lassen sich so schließlich im Bild verstreut wiederentdecken. Je größer die einzelnen Lettern ursprünglich waren, desto unleserlicher sind sie durch die unterbrechenden Risse und Verwerfungen geworden, desto grafischer wirken nun ihre Linien: der unterbrochene Schwung, der ein großes »S« erkennen lässt, der Halbkreis, der auf den Innenbogen eines großen »R« oder »P« hindeutet. Die Risse in ihren unregelmäßigen Formen bilden einen Kontrast zur glatten

Abb. 3 | Jacques Villeglé und Raimond Hains: Ach Alma Manetro (1949).

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Linienführung der Buchstaben: in ihren einzigartigen Verläufen eröffnen sie zugleich eine Tiefendimension, sie offenbaren darunterliegende Schichten, zeigen Typografie und Schrift als Palimpseste. Die in städtischen Räumen üblicherweise in regelmäßigen Zeitabständen überkleisterten Lagen von Postern zeigen sich nun in chaotischer Gleichzeitigkeit. Die Risse erzeugen darin und dazwischen ein ungeordnetes typo-grafisches Nebeneinander, offenbaren ein Darüber und Darunter und stiften in scheinbar kontingenten Juxtapositionen ein kaum noch intelligibles Durcheinander. Die Sukzession, das vormals geordnete Nacheinander der Plakate, die zuvor jeweils die ganze, ungeteilte Aufmerksamkeit für sich beansprucht haben ist durch- und unterbrochen: die Integrität der schriftlichen Informationen ist verworfen, die Linearität der Schrift aufgehoben, die Risse erzeugen in ihrer De-Figuration ein neues, entstelltes, einzigartiges ›Schrift-Bild‹. Dieses frühe Beispiel aus dem Jahre 1949, der Zeit der Zusammenarbeit zwischen Jacques Villeglés und Raymond Hains, zeugt von einer Zeit kultureller Ankündigungen auf Plakaten, die noch ganz typografisch basiert waren und auf die Verwendung von Fotos und Bildern verzichteten. Die Entdeckungsreise mit dem Auge entlang der Schriftfragmente, das spielerische Suchen nach Zusammenhängen und neuen Kombination steht in einem Widerspruch zu den gewohnten Ordnungen der Schrift und des Lesens als Akte ordentlicher, klar strukturierter Kommunikation, im Sinne einer ›sauberen‹ und unmissverständlichen Vermittlung von relevanten Informationen. Über den ursprünglichen Inhalt der Plakate lässt sich in ihrer jetzigen Form nur noch mutmaßen, vermutlich handelte es sich um Ankündigungen diverser Kultur- und Konzertveranstaltungen, die ursprünglich mit klar geregelten Ordnungsstrukturen, Einlassbedingungen, Adressen, Anfangszeiten, Eintrittspreisen verbunden waren. Hinter den ›oberflächlichen‹ Ankündigungen und Aufrufen verbergen sich so weitere Schichten kultureller Codes, die solch zumeist bürgerliche Veranstaltungen damals wie heute üblicherweise begleiten: Kleiderordnungen, Begrüßungszeremonien, Ordnungen teurer und billiger Plätze im Saal oder diverser Verhaltensregeln. Die abgerissenen Plakate verweigern ihren Beitrag zu solch gesellschaftlichen ›Einordnungen‹ und Klassifizierungen: Die Adressfragmente und Daten im Bild reichen nicht mehr aus zur Orientierung, die bekannten Namen lösen sich auf, die ehemaligen Ankündigungen geben nur noch Anlass zu Vermutungen – befasst sich die Veranstaltung nun mit Montaigne oder ist dies bloß Teil der Adresse? – es bilden sich lediglich imaginierte Szenen vergangener Events und verpasster Gelegenheiten, die zerrissenen Fragmente zeugen von einer vergangenen Aktualität; die Ankündigungen sind inzwischen längst historisch geworden. Zugleich müssen sich die zerrissenen Plakate, die sich ihrer Einordnung so emphatisch entziehen, heute wieder in neue Regularien, Ordnungen und Anordnungen eingliedern, wie beispielsweise im Museum Tinguely, wo die Aufforderung an die Besuchenden unmißverständlich lautet: »Bitte die Kunstwerke

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé)

Abb. 4 | Museumshinweis vor dem Bild Ach Alma Manetro (1949).

Abb. 5 | Jacques Villeglé und Raimond Hains: Ach Alma Manetro hinter Glas (1949, Detail).

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nicht berühren. Ne pas toucher les œuvres d’arts s.v.p. Please, do not touch the artworks.«

Lettrismus, Situationismus, Neuer Realismus Die Personen, die Jacques Villeglé vom künstlerischen Ansatz her am nächsten stehen, sind jene bildende Kunstschaffende, die sich als Bewegung des Nouveaux Realisme zusammengeschlossen haben, hier insbesondere die relativ eigenständige Untergruppe der Affichisten, die sich zeitweilig äußerst intensiv mit dem Phänomen abgerissener Plakate auseinandergesetzt haben: neben Villeglé und Hains sind dies vor allem François Dufréne und der italienische Künstler Mimmo Rotella. Auch der deutsche Künstler Wolf Vostell arbeitet zur gleichen Zeit an ähnlichen (Riss-)Thematiken und verwendet vergleichbare künstlerische Ansätze, er findet jedoch keinen dauerhaften Anschluss an die französische Gruppe.1 Darüber hinaus ergibt sich auch eine gewisse konzeptuelle Nähe und zugleich doch einige grundlegende Differenzen zu anderen zeitgenössischen Strömungen der beginnenden fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts auf: den Lettristen um Isidore Isou einerseits und den Situationisten um Guy Debord andererseits. Im Folgenden sollen kurz einige thematische und verfahrenstechnische Ähnlichkeiten skizziert werden um die Differenzen der einzelnen künstlerischen Ansätze im Unterschied zu Villeglé zu verdeutlichen. Der Philosoph, Autor und Filmemacher Isidore Isou hatte sich bereits in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in künstlerischen Projekten und philosophischen Schriften einer Autonomie der Buchstaben verschrieben. 1946 hatte er den Begriff ›Lettrisme‹ als Neologismus geprägt und zum programmatischen Ansatz des Kunstschaffens ausgerufen, wie Richard Grasshoff beschreibt: In ihren lettristischen Werken manifestiert sich ein emanzipatorischer und dekompositorischer Akt, der sich gegen eine wortsemantische Sprache stellt, indem er Wörter fragmentiert, destruiert, atomisiert. Doch greifen Lettrisme und andere buchstabenorientierte Gruppen des 20. Jh. auch buchstabenmystische und ludistische Traditionen auf, die deutlich älter sind als der dekompositorische Lettrismus der Avantgarden, auf die sich der Lettrisme beruft.2

Die Idee einer künstlerisch-experimentellen Hinwendung zum einzelnen Buchstaben als lettristischem Prinzip, sei, so Grasshoff, jedoch wesentlich früher anzusetzen. Während eine »dekompositorische Dimension« in Bezug auf 1 | Vgl. Schlicht, Esther: »Poesie der Grossstadt Oder Die Welt als Gemälde«,

in: Diess.; Roland Wetzel; Max Hollein und Museum Tinguely (Hg.): Poesie der Grossstadt. Die Affichisten, Köln: Snoeck, 2014. S. 29-43. 2 | Grasshoff, Richard: Der befreite Buchstabe: über Lettrismus. 2000. S. 25f.

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Wortsemantik so schon seit der frühen Antike z.B. als Stil- und Denkfiguren in Kombinatorik, Atomistik, Analytik und Enzyklopädik vorkomme,3 verwandele dieser eher latente ›Lettrismus‹ schließlich seine Grundzüge mit dem Aufkommen der historischen Avantgarde ab 1910 und offenbare »sein radikal-destruktives Gesicht, das lange hinter den mystischen und den ludistischen Spielarten des Lettrismus verborgen« geblieben sei.4 Eine gewisse konzeptuelle Nähe (vielleicht eher eine ›Nachbarschaft‹ als eine ›Verwandschaft‹) lässt sich zwischen Isous Schrift- und Sprachexperimenten und Jacques Derridas kritisch-theoretischer Auseinandersetzung mit Schrift und Sprache feststellen. Inbesondere fällt Derridas performatives Konzept der différance ins Auge, seines Ansatzes, eine ›buchstäbliche‹ Differenz in das französische Wort für Differenz (différence) einzutragen, die nur im Schriftbild, nicht aber im Aussprechen des Wortes intelligibel wird.5 Zwar bestehen in ihren jeweils theoretischen bzw. künstlerischen Ansätzen nach wie vor signifikante Unterschiede,6 dennoch geht es beiden um die Hinterfragung einer Materialität und Performativität der Sprache, oder genauer: der Schrift – durch einen spielerischen Umgang mit ihren Wort- bzw. Begriffs-Bestandteilen und deren Dekonstruktion. Dabei wahren Isou wie Derrida eine ähnliche ›Grenze‹: wird von beiden zwar die Integrität des Wortes zur Disposition gestellt, bleibt aber zugleich dessen Einzel-Komponenten, die Buchstaben vollständig intakt. Isou knüpft dabei an diverse zeitgenössische Strömungen und Vorläufer an, meistens jedoch ohne explizite Nennung der Einflüsse und formt so eine Kunstrichtung, die sich in ihrem spielerischen Charakter einerseits an dadaistische Prinzipien anlehnt und sich zugleich explizit davon abzugrenzen sucht.7

3 | Ebd. S. 47ff. 4 | Ebd. S. 27f. 5 | Vgl. Derrida: »Die différance«. 6 | »One crucial difference between lettrism and Derrida’s 1963 affirmation of différance (a difference of one silent letter with ›différence‹) is lettrism’s emphasis on the ›live display‹ of poems […] Lettrists favored the contingent process of production and communication in the presence, in clear contrast to Derrida’s theoretical critique of phono-centrism and presence«. Wall-Romana, Christophe: Cinepoetry: imaginary cinemas in French poetry. New York, NY: Fordham Univ. Press, 2013. S. 224. 7 | »Ironically the Lettrists, like the Dadaists before them, countered the logocentricism of speech, as well as the word’s onto-theological underpinnings, even as they aspired to harness all types of writing and sound in the service of a communicative immediacy beyond mediation. Indeed, Isou considered the word ›the first stereotype,‹ claiming the letter as the new ground by which to achieve true communication«. Cabañas, Kaira Marie: Off-screen cinema Isidore Isou and the Lettrist avant-garde. Chicago [u.a.]: University of Chicago Press, 2014. S. 87. Vgl.

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Zugleich wird Isou, auch aufgrund seiner publizistischen Tätigkeit selbst zu einem Vorläufer und Referenzpunkt weiterer avantgardistischer Kunstrichtungen, wie den Nouveaux Réalistes um den Kunstkritiker und Initiator Pierre Restany sowie den stärker politisch geprägten Bewegungen wie den Situationisten um Guy Debord, die direkt aus der Gruppe der Lettristen hervorgehen wird. Während sich bei Villeglés Bildern häufig eine vergleichbare Dekomposition von Schrift und damit die prinzipielle Abwendung von Wortsemantik und Logozentrismus vorfinden lässt und die Bilder so ebenfalls die grafische Seite von Buchstaben betonen, gehen die von ihm gesammelten, zerrissenen Plakate noch einen Schritt weiter. Die ›Unversehrtheit‹ der einzelnen Buchstaben-Körper bleibt bei Villeglé, anders als bei Isou, nicht unangetastet, sondern wird grundlegend in Frage gestellt: die Integrität der einzelnen Lettern beginnt sich vollständig aufzulösen. Die Buchstaben büßen dadurch auf eine substantielle Weise ihre Lesbarkeit und Artikulierbarkeit ein, sie haben keine Laut-Entsprechungen mehr und bilden so visuelle Kompositionen unaussprechlicher Bruchstücke, sie zeigen etwas ›Unsagbares‹. Die fragmentierten Lettern werden als primär grafische und im Wortsinne ›vielschichtige‹ Oberflächenerscheinungen ›demaskiert‹. Mit der Abspaltung Guy Debords von der lettristischen Bewegung, die zunächst zur Ausgründung der Lettristischen Internationalen (dem Gründungsakt hat Villeglé nach eigenen Angaben »mit gewissem Abstand« beigewohnt, so Villeglé im Gespräch mit Nicolas Bourriaud)8 und späteren Umwandlung zur Situationistischen Internationalen, findet schließlich eine verstärkte Politisierung und Radikalisierung der Ansätze Isous statt. Indem Künstler wie Guy Debord ähnliche Strategien eines ›Manifestantismus‹, dem enthusiastischen Verfassen von Grundsatztexten als Prinzip verfolgen, bringen sie dadurch eine konzeptuelle Grundierung der künstlerischen Arbeiten weiter voran, wobei diese Leit-Texte, welche die politische Stoßrichtung einer neuen Bewegung vorgeben sollten, zunehmend an Eigenständigkeit gewinnen. Wie in seiner bekanntesten Schrift Die Gesellschaft des Spektakels deutlich wird, geht es Debord aus seinem marxistisch geprägten Ansatz heraus darum, eine philosophisch-theoretische Position gegen die Konsumier- und Vermarktbarkeit der künstlerischen und ästhetischen Ansätze zu beziehen. Seine theoretische Fundierung basiert dabei auf der Annahme, dass die Gesellschaft bereits zutiefst vom Spektakel durchdrungen ist – bezeichnender Weise beschreibt Debord in seiner Analyse dabei eine fundamentale Form einer tief widersprüchlichen Zerrisenheit:

Home, Stewart: The assault on culture utopian currents from lettrisme to class war. London: Aporia Press, 1988. S. 12ff. 8 | Bourriaud, Nicolas und Villeglé, Jacques: »An Urban Comedy. Interview with Jacques Villegle by Nicolas Bourriaud«, in: Bourriaud, Nicolas; Bon, François und Cabañas, Kaira (Hg.): Jacques Villeglé, Paris: Flammarion, 2007. S. 125-160. Hier: S. 143.

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé) Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf die Zerrissenheit auf. Aber wenn der Widerspruch im Spektakel auftaucht, wird ihm seinerseits durch eine Umkehrung seines Sinnes widersprochen; so daß die aufgezeigte Teilung einheitlich ist, während die aufgezeigte Einheit geteilt ist.9

Die Analyse dieser Zustände soll dabei »den Situationisten als Theorie-Instrument« dienen, wie Michael Ballhausen den konsumkritischen Ansatz zusammenfasst: Debord formuliert in dieser Streitschrift seine umfassende Kritik eines Abrückens der unmittelbar-tatsächlichen Ereignisse und Erlebnisse in bildhafte Repräsentationen, die der Kontrolle des jeweils dominanten Herrschaftssystems unterworfen sind. […] Die Mitglieder dieser Gesellschaft werden in interpassive Hypnose getaucht, die alle potentiell Handelnden zu in jeder Hinsicht regungslos schauenden, hohlen Konsumenten mit leerem angepasstem Blick macht.10

Aus seiner kritischen Analyse der »Spektakelgesellschaft« ergibt sich bei Debord schließlich auch eine grundsätzliche Kritik der vorausgegangenen Avantgardebewegungen, wie Martin Puchner schreibt: The Situationists’ critique of the historical avant-garde was a direct result of their critique of the spectacle: far from interrupting the spectacle, avant-garde art had become part of the spectacle through art auctions, museums, academies; the spectacle had even managed to incorporate many avant-garde techniques for purposes of advertising and marketing.11

Auf der künstlerisch-praktischen Seite wendet sich Debord, wie der Name seiner Bewegung suggeriert, der Herbeiführung von durchaus theatral geprägten »Situationen« zu, die als Akte eines Widerstandes gegen die Spektakel-Gesellschaft verstanden und im alltäglichen Leben verankert werden sollten: »Inspired by the Marxist philosopher of the everyday, Henri Lefebvre, the Situationists produced

9 | Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Hamburg: Edition Nautilus, 1978. – dieser Befund gleicht in auffälliger Weise Heideggers Bestimmung des Streits zwischen Welt und Erde. Vgl. den Abschnitt »Erster ›Auftritt‹ der Riss-Figur« im vorliegenden Band, S. 121ff. 10 | Ballhausen, Thomas: »Latenz und Aktualität. Marginalien zu Guy Debord als literarischem Medienarbeiter«, in: Grigat, Stephan; Grenzfurthner, Johannes und Friesinger, Günther (Hg.): Spektakel - Kunst - Gesellschaft: Guy Debord und die Situationistische Internationale, Berlin: Verbrecher-Verl., 2006. S. 197-216. Hier: S. 211. 11 | Puchner, Martin: »Society of the Counter-Spectacle: Debord and the Theatre of the Situationists«, in: Theatre Research International, Nr. 1, Heft 29, 2004. S. 4-15. Hier: S. 6.

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a revolutionary theory applied to the sphere of everyday life«12. Martin Puchner beschreibt dabei eine grundlegend theatrale Färbung dieser ›Situationen‹: Despite this pro-manifesto and anti-art stance, the Situationists drew on the theatre, envisioning the construction of theatrical ›situations‹ influenced by the emerging New York happening as well as modern theatre artists such as Brecht and Artaud,13

zugleich nahmen die Situationisten eine ambivlante Haltung gegenüber ›dem Theater‹ (ein Feindbild, dass sie vor allem in der Idee von Wagners Gesamtkunstwerk verbildlicht sahen) ein, da sie in ihm eine latente Komplizenschaft mit der Spektakelgesellschaft vermuteten: »At the same time, however, the Situationists considered the theatre to be dangerously complicit with the spectacle – spectacle, after all, means ›theatre‹ in French.«14 Aus dieser Ambivalenz heraus ergibt sich nach Puchner eine tiefe Zerrissenheit der situationistischen Bewegung selbst: »Torn between relying on the theatre to describe the situation and attacking the theatre for its affinity to the spectacle, the Situationists viewed the theatre with profound ambivalence.«15 Aus dieser ambivalenten und zugleich dialektisch-entschlossenen Haltung heraus entwickelten die Situationisten Anleitungen für verschiedene Alltagspraktiken und Verfahren, die Formen des Widerstandes gegenüber der Vereinnahmung durch die Spektakelgesellschaft verkörpern sollten, so u.a. ihre Ansätze von Détournement (»Zweckentfremdung von vorgefertigten ästhetischen Elementen«)16, sowie vor allem den sog. Dérives, einem gezielt-ziellosen ›Umherschweifen‹ im urbanen Umfeld: »Detournement became the primary technique, after 1962 more present in the SI’s [the Situationist International’s] discourse than the spatialized derive, as a means to contest spectacle.«17 Mit den künstlerischen Konzepten der Dérives und Detournements ergeben sich zwar markante Parallelen zu den Arbeiten Villeglés, zugleich wird aber deutlich, dass Villeglés Ansatz weniger dialektisch-direkt auf gesellschaftliche Veränderung abzielt, geschweige denn von einem teleologisch-revolutionären

12 | Ebd. 13 | Ebd. S. 5. 14 | Ebd. S. 7. 15 | Ebd. 16 | Wiegmink, P.: Theatralität und öffentlicher Raum: die Situationistische Internationale am Schnittpunkt von Kunst und Politik. Tectum-Verlag, 2005. S. 41. 17 | Cabañas, Kaira: »Poster Archaeology«, in: Bourriaud, Nicolas; Bon, François und Cabañas, Kaira (Hg.): Jacques Villeglé, Paris: Flammarion, 2007. S. 65-123. Hier: S. 109, Anm 53.

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Grundgedanken geprägt ist. Seine Arbeit ist vielmehr von dokumentarischen, archivierenden und musealisierenden Tendenzen gekennzeichnet, zudem entspricht auch sein künstlerischer Habitus weniger der eines linksradikalen Revolutionärs oder Aktivisten, sondern scheint eher einer gewissen bürgerlichen Zurückhaltung geprägt zu sein. Zudem arrangiert sich Villeglé in gewisser Weise mit der von Debord abgelehnten Spektakelgesellschaft, seine Kunst ›speist‹ sich ja in direktem Sinne aus ihren Oberflächen und Randerscheinungen; er profitiert mit seiner vorgefundenen Kunst durch die Hinüberführung und Teilnahme an den Kunstmärkten, zugleich werfen die Arbeiten Villeglés subtile Fragen an den herrschenden Marktbedingungen des Kunstgeschäfts auf. Villeglés Bilder nehmen auf eine andere Art und Weise Anteil an einer gesellschaftlichen Zerrissenheit (die durchaus in Beziehung zu dem zwiegespaltenen Verhältnis der Situationisten zum Spektakel/Theater zu situieren wäre) bzw. gehen sie auf Abstand zu diesen, oder anders formuliert, ver(sinn)bildlichen und reflektieren seine Arbeiten diese gesellschaftlichen Spannungen und ihre Entladung in Figuren von Rissen.18 Diese ambivalente, zwischen teilnehmen und teilhaben schwankende Haltung Villeglés zeigt sich auch an einem gewissen Pragmatismus, der von seiner besitzergreifenden Signatur auf den gefundenen, eingesammelten und angeeigneten Exponaten verdeutlicht wird. Wie Villeglé zu seiner Unterschrift auf den angeeigneten Plakaten selbstkritisch anmerkt, bleibe es zwar nach seiner Auffassung bedauerlich, wenn man ein abgerissenes Plakat signiert. Die Signatur ist ein bourgeoises Relikt – eine Sünde, wie Jean-Paul Satre gesagt hätte. Als klares Zeichen entschieden sich Braque und Picasso, später auch Juan Gris, von 1908 bis 1914 gegen das Signieren ihrer Gemälde. Ihr Ziel war die Entpersonalisierung der Kunstwerke.19

Zugleich, so fügt Villeglé jedoch beinah entschuldigend hinzu, haben ihm »die ökonomischen Zwänge nicht immer gestattet, dieser Utopie zu folgen«.20 In dieser Selbst-Positionierung Villeglés wird das Spannungsfeld deutlich, in dem er sich zusammen die Gruppe der Nouveaux Réalistes bewegt, spielen sie doch gewissermaßen mit ähnlichen Themen, Elementen und Ansätzen wie die Situationisten, zugleich zeigt sich, dass ihre künstlerischen und theoretischen Präferenzen deutlich anders gelagert sind. So unterschiedlich, wie die Arbeiten der Unterzeichner des Gründungsdokumentes sind, so allgemein bleibt die Formulierung der Grundsätze der Nouveaux Réalistes: »Le Jeudi 27 october 1960. 18 | Hierin spiegelt sich bereits die Nähe Villeglés zum Benjaminschen/Baudelaireschen Flaneur. Vgl. den Abschnitt: »Flaneur*in« im vorliegenden Band, S. 218ff.. 19 | Villeglé, Jacques de: Urbi & Orbi. Zur Kunst des Plakatabrisses. Hamburg: Ed. Nautilus, 2007. S. 38. 20 | Ebd.

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Abb. 6 | Gründungsmanifest der Nouveaux Réalistes (1960).

Les nouveaux réalistes on puis conscience de leur singularité collective. Nouveau Réalisme = nouvelles approches perceptives du réel.«21 Gezeichnet wurde der von dem ›Gründungsvater‹ Pierre Restany verfasste Text neben ihm selbst von Yves Klein (in dessen Wohnung das Treffen stattfand) von Arman, Raymond Hains, Martial Raysse, Daniel Spoerri, Jean Tinguely und Jacques Villeglé. Neben dem relativ vagen Anspruch des Neuen Realismus einen neuartigen künstlerischen Wahrnehmungsansatz zu begründen, sind es hier vor allem die Unterschriften selbst, die als solche einen wesentlichen Teil der Aussage 21 | Bourriaud, Nicolas; Bon, François und Cabañas, Kaira Marie (Hg.): Jacques Villeglé. (Flammarion Contemporary). Paris: Flammarion, 2007. S. 151.

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und der Übereinkunft prägen. Fast, so scheint es, bekunden die Künstler*innen – entgegen dem oben geäußerten Bedauern Villeglés – einen gewissen Willen, ein Bekenntnis zur Signatur selbst. Die appropriative Geste, das Finden und künstlerische Aneingnen von Fundstücken des Alltags, das ›Herausreißen‹ dieser Objekte aus ihrem Kontext sowie ihre Apropriierung durch die Signatur bleibt ein zentrales Moment der Bewegung.22 Villeglés Interesse an zerrissenen Plakatoberflächen verbindet ihn mit weiteren Künstlern: Neben ihm selbst und Raymond Hains beschäftigten sich bereits unabhängig auch François Dufrêne und der Italiener Mimmo Rotella mit dem Phänomen. Aufgrund dieser formalen Ähnlichkeit ihrer Arbeiten mit zerrissenen Plakaten führt der Kritiker und theoretische ›Vater‹ der Neuen Realisten, Pierre Restany die vier Künstler zusammen, die nebenbei jeder für sich unterschiedliche Experimente mit Sprache durchführen, sei es in lautmalerischer, phonetischer Form wie bei Rotella und Dufréne oder in visueller Form von grafischen Experimenten wie Schriftverzerrungen, als sogenannte Ultralettern bei Hains und Villeglé.23 Während der nur drei Jahre andauernden Existenz des Noveau Realisme bilden die vier Künstler so eine eigene Untergruppe, die Affichisten. Im Unterschied zu den Ansätzen der Situationisten zielt der politische Anspruch der Arbeiten der Affichisten in der Proklamation weniger auf eine konkrete politische Haltung ab, als dass eher grundlegende Strukturen und Rahmenbedingungen von politischen Äußerungen, Diskursen und den Artikulationsformen kritisch in Betracht gezogen werden: »Detournement differs from Villegle’s anonymous lacerations precisely because the latter do not fix meaning, pointing instead to the conditions of possibility for what could and could not be said within the space of the urban poster.«24 22 | Derrida hebt in seinem bekannten Essay zur Signatur vor allem die NichtAnwesenheit des Unterzeichners als wesentlich hervor: »Eine geschriebene Signatur impliziert per definitionem die aktuelle oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners«, Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 43. Die Abwesenheit der anonymen Riss-Verursacher bildet somit eine vergleichbare, wesentliche Voraussetzung, gewissermaßen die Vorzeichnung der Villegléschen Signatur auf den Plakaten. Gegenüber der Signatur teilen/spalten Risse den Prozess der Urheberschaft in Richtung einer anderen, wesentlichen, und wesentlich anderen Form von anonymer Abwesenheit. Risse ähneln sich selbst in ihrer Differenz, und ähneln/unterscheiden sich in ihrer weitergehenden Abkopplung von ihren Urhebenden wiederum von Signaturen. 23 | Für einen kurzen Abriss und guten Überblick vgl. Stella, Dominique: »Die personifizierten Namenlosen oder Die kurze Geschichte der Affichisten«, in: Krempel, Ulrich; Cabañas, Kaira M. und Sprengel Museum Hannover (Hg.): Nouveau Réalisme Revolution des Alltäglichen, Ostfildern: Hatje Cantz, 2007. S. 30-53. 24 | Cabañas: »Poster Archaeology«. S. 109, Anm 53.

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Während sich das künstlerische Schaffen von Dufrêne, Hains und Rotella in unterschiedliche Richtungen von der Beschäftigung mit Rissen wegentwickeln wird, bleibt Villeglé dieser Sammel-Leidenschaft als künstlerischem Ansatz treu. Seine Signatur unter den Plakaten wird so auch auf umgekehrte Weise lesbar, neben dem Akt der Aneignung, bleibt er den gerissenen Plakaten ›verschrieben‹, fast scheint es ein lebenslanger Vertrag mit den Rissen und ihren anonymen Ursprüngen zu sein, den Villeglé immer wieder nachzeichnet.

Anonymer Plakatabriss/Lacéré Anonyme In Villeglés nunmehr über fünfzig Jahre andauernder Auseinandersetzung, d.h. der Sammlung, Aufbereitung und Ausstellung ein- und abgerissener Poster und Plakate, hauptsächlich aus dem Pariser Umfeld, später zunehmend auch aus anderen Städten und Ländern, ist ein umfassendes grafisches Archiv, ein soziales sowie historisches Panorama urbaner Landschaften entstanden. Die Arbeiten zeugen dabei ›stumm‹ vom gesellschaftlichen Wandel, den inhärenten Widersprüchen, wie auch dem politischen wie ökonomischen Streit um Repräsentation und Aufmerksamkeit, wie sie sich innerhalb der visuellen Kommunikationsform ›Plakat‹ als kulturelles, politisches und seit den Nachkriegsjahren zunehmend kommerzialisiertes und von Körperbildern bevölkertes, sexualisiertes Medium offenbaren.25 Risse, in ihren unregelmäßigen Formen und ungeordneten Bahnen bilden in ihnen, im Gegensatz zur verhältnismäßig kurzen Halbwertzeit der enthaltenen Informationen, eine dauerhafte, wiederkehrende, singuläre und doch gerade in Ihrer ständigen Differenz beständige Konstante. Die Plakate verändern sich, während die Risse über die Jahre als verbindendes Motiv erhalten bleiben. Auch die Arbeitsweise Villeglés bei den Plakatabrissen ist dabei in all den Jahren in ihren wesentlichem Aspekten annähernd dieselbe geblieben, man könnte sagen, er ›bedient‹ sich der Risse in mehrfacher Weise: auf seinen Streifzügen durch die Stadt hält der Künstler Ausschau nach ansprechenden Riss-Motiven, schneidet diese kurzerhand heraus oder reißt sie selbst ab, nimmt wie ein Sammler die gewählten Ausschnitte inklusive der darin enthaltenen Rissfiguren mit in sein Atelier, wo er sie eher minimal zum Zwecke der späteren Ausstellung präpariert und teilweise montiert. Außer diesem Akt der Selektion und dem aneignenden Abriss der Poster findet durch ihn, zumindest nach eigener Aussage, keine weitere ›künstlerische Bearbeitung‹ statt. Im Streit um die hiermit aufgeworfene Frage nach der Rolle und dem Selbstverständnis des Künstlers wird es schließlich zum 25 | Vgl. zu einem entwicklungsgeschichtlichen Überblick des Plakats als Genre u.a. Müller-Brockmann, Josef und Yoshikawa, Shizuko: Geschichte des Plakates. Zürich: ABC-Verl., 1971. Sowie zu wirkungsästhetischen Aspekten: Henatsch, Martin: Die Entstehung des Plakates: eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Hildesheim: Olms, 1994.

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Zerwürfnis mit Raymond Hains kommen.26 Während es Hains primär um eine Form des abstrakten künstlerischen Ausdrucks geht und seine »›personifizierten Abstraktionen‹ (abstractions personnifiées) auf die Persönlichkeit des Künstlers ausgerichtet« seien, steht für Villeglé gerade die künstlerische Zurückhaltung im Vordergrund: Wenn ich die Geste des Abreißens mit der Absicht fortsetzte, einen Riss auffälliger zu gestalten, ihn zu verschönern (!!!), einen Fleck zu vergrößern, ein Gesicht zu enthüllten oder auf der Kreuzung mehrerer Rissen den Zusammenstoß zwischen einem Wort und einer Silbe zu verstärken, kann es mir – der ich mich ursprünglich für die spontaneistische pikturale Theorie und Praxis des inaction painting entschieden habe – dann völlig gleichgültig sein, dass ich dadurch meinen kaltblütigen Gegnern, den Anti-Spontaneisten, eine Angriffsfläche biete?27

Die Tätigkeit Villeglés besteht nach seinem künstlerischen Selbstverständnis somit primär in Akten der Rahmengebung, bzw. seiner Verschiebung. Selektion des Ausschnittes, Abnehmen und Abtransport der Fundstücke sind dabei Prozesse, die der Künstler mit den Prinzipien der Fotografie vergleicht: »What’s similar to photography is the compositional framing. But […] instead of releasing the shutter, we took a sample of the subject.«28 Im Gegensatz zum eher immateriellen Eingriff der Fotografie handelt es sich bei dieser Form des ›sampling‹ oder, wie er selbst sagt, den sogenannten Decollagen29 um eine unmittelbare, materielle Form der Aneignung der Objekte, er selbst spricht gelegentlich etwas ironisch und selbststilisierend von Raymond Hains und sich als »Plakaträuber«30 und zwar nur eingeschränkt im konkreten, materiellen Sinne (denn wer würde hier eigentlich ›beraubt‹?) als eher im übertragenen Verständnis, welches auf die De- und Re-kontextualisierung der Bilder abzielt und dabei eine bewussten Dopplung oder Wiederholung des Reiß-Aktes betont:

26 | Stella: »Die personifizierten Namenlosen oder Die kurze Geschichte der Affichisten«. S. 34. 27 | Villeglé: Urbi & Orbi. S. 37. 28 | Bourriaud und Villeglé: »An Urban Comedy. Interview with Jacques Villegle by Nicolas Bourriaud«. S. 148. 29 | Zur Herkunft des Begriffs vgl. das Kapitel »Von der Collage zur Decollage« in Villeglé: Urbi & Orbi. S. 63f. Zur Nähe/Distanz zwischen den Affichisten und dem deutschen Künstler Wolf Vostell sowie seinem eigenen, erweiterten Begriff der »dé-coll/age« vgl. Schlicht: »Poesie der Grossstadt Oder Die Welt als Gemälde«. 30 | Villeglé: Urbi & Orbi. S. 13f.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten Die Decollage bezeichnete von nun an den Akt, ein geklebtes oder befestigtes Objekt aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herauszureißen. Als Kunst der Decollage wurde die auswählende aneignende Geste definiert, die das herausgelöste Objekt ohne eine (additive oder subtraktive) Manipulation von der realen Welt in die fiktive Welt der Kunst übergehen ließ. Der Ausdruck Decollage wurde von allen ›Plakaträubern‹ bewusst gewählt, um den Bruch mit der Transpositionskunst und der Kunst der Assemblage zu bezeichnen, von der die Collage eine Spielart ist.31

Neben dem aneignenden Abriss der Bilder und dem autoritativen Akt ihrer titelgebenden Benennung, meist in Form des Fundortes oder lesbar gebliebener Textfragmente, ist es somit die Signatur des Künstlers, in welcher sich der Akt des physischen Aneignens in symbolischer Weise nocheinmal wiederholt. Obwohl der Prozess des Auswählens und Mitnehmens durchaus mit gewissem körperlichen und logistischem Aufwand verbunden ist, wie sich aus einigen dokumentierenden Fotos, Filmaufnahmen und Villeglé Beschreibungen erahnen lässt, taufen Hains und Villeglé ihre Methode augenzwinkernd »inaction painting«32 in Abgrenzung zum expressiven Gestus des ›aktionistischen‹ Künstlers Jackson Pollock. Sie verweisen so explizit darauf, dass ein zentraler Aspekt ihres künstlerischen ›Schaffens‹ in einem (scheinbaren) Untätig-Bleiben besteht,33 d.h. primär in Akten des Beobachtens und Auswählens begründet liegt. Trotz oder vielleicht wegen der implizierten Schwierigkeiten des besitzergreifenden Aktes (symbolisiert und verdichtet im Zug der Signatur) tritt Villeglé als Künstler in seinen äußerst differenzierten Selbstdarstellungen häufig hinter eine Figur unbekannter Passant*innen als »anonymen Abreißenden« zurück: »Die Gattungsbezeichnung

31 | Ebd. S. 65. 32 | Ebd. S. 8. 33 | Barbara Gronau und Alice Lagaay verstehen ›Nichttun‹ als durchaus aktiven, performativen Akt, welcher »die klassische Dichotomie zwischen Tun und Lassen« durchschneide. Gronau, Barbara und Lagaay, Alice: »Einleitung«, in: Dieselben (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen, 2008a. S. 11-20. Hier: S. 15. Weiter spezifizierend fragen die Autorinnen: »[W]ie kann ein Nichttun selbst zeichenhaften Charakter annehmen? […] In dem Maße, wie ein Nichttun für andere wahrnehmbar sein soll, muss es im weitesten Sinne in Szene gesetzt und ausgestellt werden. Die Mittel, die dabei zur Anwendung kommen können, reichen von der Setzung von Leerstellen, dem Spiel mit Absenzen und der theatralen Aufführung bis hin zur endlosen Wiederholung oder Überlagerung von Gesten, Zeichen oder Formeln, sodass eine semantische Überdeterminierung erzeugt wird«. Ebd. S. 14. Im Falle der Arbeiten Villeglé kann sowohl ein Spiel mit Leerstellen, als auch den erwähnten zeichenhaften Überlagerungen festgehalten werden.

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›anonymer Plakatabriss‹ (Lacéré Anonyme) gibt der unbekannten Menge der heimlichen Plakatabreißer das Genie zurück, das ihnen gebürt.«34 Das künstlerische Konzept hinter dieser weitgehenden Delegation der Urheberschaft an die Figur eines Unbekannten schwankt in ihrem Gestus dabei zwischen dem Imaginieren eines produktiven Kollektivs und der Vorstellung eines abreißenden, latent aggressiven Individuums. Die Vorstellung dieser gedoppelten/geteilten Figur verleiht dem Künstler Villeglé auf dem Umweg ihrer Beschreibung wiederum eine andere Form von Autorschaft, Villeglé entdeckt hierin sein spezifisches künstlerisches Interesse und schärft dadurch seine gesellschaftskritische Position: [D]ie Verbindung, welche die Bezeichnung anonymer Plakatabriss (Lacéré Anonyme) zwischen verschiedenen, sich ignorierenden oder bekämpfenden Einzelpersonen dieser Gruppe [des anonymen Kollektivs] herstellt, kann keine Verbindung der kulturellen Geschäftigkeit sein. Das anonyme Individuum oder die anonyme Gruppe, die im Dickicht der modernen Städte um das Recht auf freie Rede kämpfen, können erst dann einen Ausdruck in der Gesellschaft bekommen, wenn ihr Platz durch einen Namen, den das elitäre System unklugerweise akzeptiert, taktisch vorbereitet wird.35

Die zerrissenen Poster scheinen so auf den ersten Blick zunächst aus einer allgemeinen, urbanen Anonymität heraus zu entstehen; an Stelle einer großen, kollektiven Geste deutet sich in den einzelnen Rissen mitunter auch ein individuelles, möglicherweise bewusstes, intentionales, teilweise ein politisch motiviertes Handeln an, jedoch ohne dass es sich jemals vollständig entziffern oder dechiffrieren und als solches bestätigen ließe. Möglicherweise handelt es sich bei den Rissen um Produkte aus bewusstem Protest, Langeweile, Neugier, Verspieltheit, Gedankenabwesenheit – oder aber auch um Ergebnisse von Wettereinflüssen in Form von Wind-, Regen- und Sonneneinwirkung. Die Plakate liefern zwar aus ihren (sich zunehmend auflösenden, verflüchtigenden) Inhalten heraus einen gewissen Kontext, teilweise mögliche Anhaltspunkte über die Ursachen der Risse – eine abschließende Gewissheit über die Motive des Abreißens bleibt jedoch rückblickend meistens aus. In seinem Artikel »From Detail to Fragment: Décollage Affichiste« resümiert der Kunsthistoriker Benjamin Buchloh dementsprechend die signifikanten Unterschiede zwischen den Decollage-Prinzipien der Neuen Realisten und den Collage-Verfahren surrealistischer Strömungen der Vorkriegsjahre wie folgt:

34 | Villeglé: Urbi & Orbi. S. 39. 35 | Ebd.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten [T]he decollagistes’ insistence on gesturality and anonymous participation in the process of creation clearly transcends the legacy of surrealist automatism and its emphasis on random acts, to an increased fragmentation and to a potentially infinite repetition of the lacerating gesture with its implied abolition of the notion of a completed »work« or »object«.36

Die Frage der Beziehung zwischen den sammelnden, appropriierenden Decollagisten, insbesondere Villeglés und den anonymen Riss-Erzeuger*innen bleibt mit Blick auf Fragen von Autorschaft weiterhin virulent und schwer bestimmbar, sie bleibt innerhalb der Bilder gewissenermaßen ein klaffende Stelle, durchaus im Sinne Heideggers’ Streit als latent paradoxale »Innigkeit der Streitenden«.37 Villeglés Arbeiten und seine begleitenden Erläuterungen ziehen so gewissermaßen in Heideggers werkbildenden Prozess der gegenseitigen Hervorbringung von Kunst und Kunstschaffenden eine Figur des Unbestimmbaren, Unbenennbaren, des Anonymen (Lacéré Anonyme), in der sich latent auch eine Figur der zukünftigen kontemplierenden Bild-Betrachtenden vorausspiegelt, dem nun im Folgenden weiter nachgegangen werden soll.

Flaneur*in Einhergehend mit Villeglés kategorischer Ablehnung einer konventionellen Vorstellung vom expressiven, autonomen und werkschaffenden Künstlersubjekt (jedoch unter Beibehaltung/Fortführung bestimmter konventioneller Positionen von Autorschaft), kehrt eine Figur zurück, die vor allem seit Walter Benjamins Auseinandersetzung mit den Texten Baudelairs wesentlich mit der Stadt Paris und dem Topos des Urbanen verbunden ist: die Figur der flanierenden Person. Villeglé äußert wie selbstverständlich, dass für ihn und Hains das »zerrissene Material zum incitamentum wurde«, das dazu diente, »die unterbewussten Fähigkeiten des melancholischen Flaneurs zu wecken«.38 Walter Benjamin hatte sich dem/der Flaneur*in als literarischer Figur in verschiedenen Lektüren Baudelaires zugewandt und entdeckte in ihr gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts einen neuen urbanen Typus als Reaktion auf sich fundamental verändernde Wahrnehmungsbedingungen. Benjamin entfächert anhand der flanierenden Figur komplexe Zusammenhänge gesellschaftlicher 36 | Buchloh, Benjamin H. D.: »From detail to fragment: décollage affichiste«, in: October, Nr. 56, 1991. S. 98-110. Hier: S. 108. 37 | Zur Erinnerung sei hier nochmal die entsprechende Passage zitiert: »Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit der Streitenden«. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. S. 51. Vgl. den Abschnitt »Riss und Streit als ›Theatrum Mundi‹ «, S. 124ff. 38 | Villeglé: Urbi & Orbi. S. 44. (Kurisiv im Orig.)

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé)

Verwandlungen durch umfassende Prozesse der Industrialisierung und voranschreitender Urbanisierung, welche die Arbeitswelt ebenso wie die ästhetische Wahrnehmung beeinflussen und tief durchdringen. Im großstädtischen Alltagserleben wird Benjamin zufolge der Schock zum epochalen Paradigma: »Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das ›Erlebnis‹ des Arbeiters an der Maschinerie.«39 Den literarischen Resonanzraum dieser latent gewaltvollen Modernitätserfahrung, findet Benjamin im Schreiben Baudelairs, konkret in dessen Entwurf einer neuen poetischen Prosa, welche die vorgenannte Schockerfahrung in einer Form der poetischen »Träumerei« verarbeite, was laut Benjamin auf einem Zusammenhang hinweise, der bei Baudelaire zwischen der Figur des Chocks und der Berührung mit den großstädtischen Massen besteht. Sie unterrichtet weiter darüber, was unter diesen Massen eigentlich zu denken ist. Von keiner Klasse, von keinem irgendwie strukturierten Kollektivum kann die Rede sein. Es handelt sich um nichts anderes als um die amorphe Menge der Passanten, um Straßenpublikum. Diese Menge, deren Dasein Baudelaire nie vergißt, hat ihm zu keinem seiner Werke Modell gestanden. Sie ist aber seinem Schaffen als verborgene Figur eingeprägt […]40

Diesen Befund, den wir auch als Latenz der Menschenmenge im Schreiben Baudelaires fassen können, fügt Benjamin in einer Anmerkung hinzu: »Dieser Menge eine Seele zu leihen, ist das eigenste Anliegen des Flaneurs. Die Begegnungen mit ihr sind ihm das Erlebnis, das er unermüdlich zum Besten gibt.«41 In der Figur des Baudelairschen Flaneurs entdeckt Benjamin eine für ihn wesentliche Randfigur, eine ›Randgänger*in‹ im Wortsinne: eine in gewisser Weise teilnahmslose, latent beteiligte Figur, die in die Menschenmenge eintaucht, aber zugleich eine innere Distanz zu ihr wahrt: Es ist eben dies Bild der Großstadtmenge, das für Baudelaire bestimmend geworden ist. Wenn er der Gewalt erlag, mit der sie ihn an sich zog und als Flaneur zu einem der ihren machte, so hat ihn doch das Gefühl von ihrer unmenschlichen Beschaffenheit dabei nicht verlassen. Er macht sich zu ihrem Komplizen und sondert sich fast im gleichen Augenblick von ihr ab.42

39 | Benjamin, Walter: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hermann; Adorno, Theodor W. und Scholem, Gershom (Hg.): Walter Benjamin – Gesammelte Schriften 1.2 [Abhandlungen], Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974e. S. 605-653. Hier: S. 632. 40 | Ebd. S. 618. 41 | Ebd. 42 | Ebd. S. 626.

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Zu einer solchen ›flanueristischen‹ Grundhaltung bedarf es somit eines gewissen innerlichen Mindest-Abstandes von der Masse der Menschen, eine bestimmte Geisteshaltung und Zwischen-Position. Der/dem teils dazugehörenden, teils gedanklich abwesenden Flaneur*in ist so eine besondere Aufmerksamkeit des »Darin« als mentaler Zustand eines Dazwischen-Seins zu eigen, eine Wahrnehmung, die sich weder als Kontemplation noch als Zerstreuung fassen ließe. Der Baudelairsche Flaneur entwickele so laut Benjamin zugleich einen Genuss an der Gesellschaft als ein halb bereits von ihr Ausgeschiedener. In der Haltung des so Genießenden ließ er das Schauspiel der Menge auf sich einwirken. Dessen tiefste Faszination lag aber darin, ihm im Rausch, in welchen es ihn versetzte, die schreckliche gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zu entrücken.43

Mit anderen Worten, für die flanierende Person ähnelt die Wahrnehmung der Massen einer ästhetischen Erfahrung. Bezeichnender Weise bleibt die Frage, ob und inwieweit Benjamin Baudelaire selbst mit dessen Flaneur identifizieren soll unentschieden. So, wie zwischen dem Flaneur und der Menschenmenge, bleibt auch zwischen Baudelaire und dem Flaneur, in der Beschreibung Benjamins, ein gewisser Abstand, eine Art trennende Verbindung. Es zeige sich so laut Benjamin, daß Baudelaires Flaneur nicht in dem Grade ein Selbstporträt des Dichters ist, wie man es meinen könnte. Ein bedeutender Zug des wirklichen Baudelaire – nämlich des seinem Werk verschriebenen – ist in dieses Bildnis nicht eingegangen. Das ist die Geistesabwesenheit. – Im Flaneur feiert die Schaulust ihren Triumph.44

Dieser besondere Modus der Wahrnehmung, einer Form der Geistesabwesenheit, bleibt somit bei Benjamin auf unterschiedlichen Ebenen widersprüchlich, ebenso wie die Frage, ob sich in der Figur Flanierender ein Selbstporträt Baudelairs erkennen lasse.45

43 | Benjamin, Walter: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, in: Tiedemann, Rolf und Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Walter Benjamin – Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 1 [Abhandlungen] Zweiter Teil, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974c. S. 511-604. Hier: S. 562. 44 | Ebd. S. 572. 45 | Zu einer Kritik der Benjaminschen Unentschiedenheit in der Frage des Flaneurs als ›Selbstporträt‹ Baudelairs vgl. Neumeyer, Harald: Der Flaneur Konzeptionen der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999. S. insbesondere S. 58ff.

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé)

So entsteht in der Darstellung Benjamins langsam eine Kluft zwischen Baudelaire und der flanierenden Figur, deren Ursachen wiederum von Baudelaire aufgegriffen und in literarische Motive umgemünzt werden: Nicht oft konnte sich Baudelaire in den späteren Jahren als Promeneur durch die Pariser Straßen bewegen. Seine Gläubiger verfolgten ihn, die Krankheit meldete sich und Zerwürfnisse zwischen ihm und seiner Mätresse traten hinzu. Die Chocks, mit denen seine Sorgen ihm zusetzten und die hundert Einfälle, mit denen er sie parierte, bildet der dichtende Baudelaire in den Finten seiner Prosodie nach.

Die aufgrund der zunehmenden Prekarisierung Baudelaires entstehende Kluft zu seinem Flaneur kommt bezeichnender Weise schließlich in einer sehr persönlichen, konkret materiellen, physischen ›Betroffenheit‹ durch Rissfiguren zum Ausdruck. Für Baudelaire werden Risse zur einer konkreten, physisch-leiblichen Bedrohung, die Vorstellung eines Risses und seines möglichen (Weiter-)Reißens schreibt Baudelaire sich im wörtlichen Sinne gewissermaßen ›auf den Leib‹: »Physische Leiden«, schreibt er [Baudelaire, Anm. H.H.] am 26. Dezember 1853 an seine Mutter, »bin ich in dem Grade gewohnt, ich verstehe so gut, mir unter einer zerrissenen Hose und einer Jacke, durch die der Wind streicht, mit zwei Hemden auszuhelfen, und ich bin so geübt, mich bei durchlöcherten Schuhen mit Stroh oder selbst Papier einzurichten, daß ich fast nur noch moralische Leiden als solche fühle. Immerhin muß ich offen sagen, daß ich nun soweit bin, aus Furcht, meine Sachen noch mehr zu zerreißen, keine sehr plötzlichen Bewegungen mehr zu machen und nicht mehr viel zu gehen.«46

Die Spuren von Rissen in der Kleidung werden bei Baudelaire zum Ausdruck einer umfassenden Prekarisierung eines »Depossedierten«, wie Benjamin ihn bezeichnet.47 Die Furcht vor dem möglichen Weiterreißen bereits vorhandener Risse, ihre Latenz, wird für Baudelaire so zu einer physischen Bedrohung, die zu seiner zunehmenden Immobilisierung führt. Es entsteht aufgrund seiner der Sorge um die eigene ›Kluft‹ ein weiterer Riss, eine verbindende Trennung zwischen Baudelaire und dem Flaneur, die in der Figur des Kleidung-Risses ihren literarischen Ausdruck und ihre materielle Entsprechung findet. Die Sorge um das sprichwörtliche ›letzte Hemd‹ lähmen den Flaneur Baudelaire als solchen. Literarisch gesprochen erscheint der Riss gegenüber der Figur des gedankenversunkenen Flaneurs hier als Gegenspieler, als Einfall der Realität des Prekären, Form der materiellen Auflösung, der Defiguration und zugleich 46 | Baudelaire, zitiert und übersetzt von Walter Benjamin, in: Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«. S. 575. 47 | Ebd.

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als Figur des Umspringens zwischen literarischem Motiv und gelebter, prekärer Wirklichkeit des Autors. Die Betroffenheit von Rissen, als Figuren verbundener Trennung korrespondiert mit einer Form der verbundenen Getrenntheit der flanierenden Person von der Menge, als »ein halb bereits von ihr Ausgeschiedener«.48 Wie bereits oben erwähnt ermöglicht diese melancholische Grundstimmung Baudelaire einen genußvollen und zugleich erschaudernden Blick auf die Masse der Menschen in der Stadt, der zwischen Rausch und kritischer Bewußtheit schwankt.49 Der Blick Flanierender auf die Menge bleibt mit der Gesellschaft verbunden und zugleich von Ihr getrennt. Dieser Zustand des Dazwischen und die aus ihr resultierende (doppelt) gespaltene Wahrnehmung lässt sich Benjamin zu folge nur schwer direkt vermitteln: »Darum kommt die Großstadt bei Baudelaire beinahe nie in der unmittelbaren Darstellung ihrer Bewohner zum Ausdruck.«50 Die ambivalente, getrennt-verbundene Haltung als Depossedierter, mit der Baudelaire die ebenfalls vom Abstieg und Zerfall bedrohte Menschenmenge betrachtet, kulminiert schließlich in einer weiteren, übertragenen Figur des Risses, welche sich hier auf die besondere Wahrnehmung des Flaneurs bezieht. Der direkten und expliziten Darstellung eines bereits weitgehend verarmten London, wie beispielsweise in der Lyrik Percy Bysshe Shelleys, setzt Benjamin die diffuse, vorausschauende Wahrnehmung des Baudelairschen Flaneurs entgegen: Dem Flaneur liegt ein Schleier auf diesem Bild. Die Masse ist dieser Schleier; sie wogt in »den faltigen Mäandern der alten Metropolen«. Sie macht, daß das Grauenhafte auf ihn bezaubernd wirkt. Erst wenn dieser Schleier zerreißt und dem Blick des Flaneurs »einen der volkreichen Plätze« freigibt, »die im Straßenkampfe menschenleer daliegen« sieht auch er die große Stadt unverstellt.51

In der Weise, wie die flanierende Person als Teil der städtischen Menschenmenge zugleich einen Abstand zu ihr behält, erweist sich auch ihr Blick auf die Menschenmassen als ein gespaltener. Diese gespaltene Wahrnehmung ermöglicht ihm zwar einen ästhetischen Reiz in den großstädtischen Phänomenen, gar etwas Bezauberndes, Berauschendes im Grauenhaften zu erblicken, währenddessen 48 | Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«. S. 562. 49 | »In der Haltung des so Genießenden ließ er das Schauspiel der Menge auf sich einwirken. Dessen tiefste Faszination lag aber darin, ihm im Rausch, in welchen es ihn versetzte, die schreckliche gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zu entrücken«. Ebd. 50 | Ebd. 51 | Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«. S. 562 (Die eingeflochtenen Zitate beziehen sich auf: Baudelaire, Charles: Baudelaire. Oeuvres. Texte établi et annoté par Y.-G. Le Dantec. Paris: Argenteuil, 1931).

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verwandelt sich aber die vormals verborgene Figur der Menschenmasse in ihren Augen: in einer unheimlichen Hellsichtigkeit erblickt die flanierende Person in der Masse ihre eigene zukünftige Abwesenheit, die Menschenmasse zerreißt in ihren Augen als Schleier und hinterlässt mit ihrem Riss das luzide Bild eines gewalterfüllten, menschenleeren Raumes. Diese Verwandlungsszene, die Benjamin selbst wie einen diegetischen Schleier vor die Texte Baudelairs zieht, und das sich daraus entfaltende Riss-Szenario entfaltet, erzeugt abermals – denken wir an die Vorhangs-Verwandlungsszene bei Derrida, mit der er den Auftritt des Heidegger’schen Geist(begriffs) imaginiert – ein latent paradoxes Bild (oder ein paradoxes Bild der Latenz), in dem der direkte, unverstellte Blick auf die Massen selbst unmöglich erscheint. Im jenem Moment, als sich der metaphorische Schleier als (halb-)durchsichtiger Vorhang zerteilt, sind die Massen verschwunden, verwandelt, selbst Schleier geworden/gewesen: die verwandelte Masse zerteilt sich selbst vor den Augen der flanierenden Person und hinterlässt eine unheimliche Ahnung einer noch ausstehenden, zukünftig kommenden, tragischen Menschenleere. Es scheint Benjamins eigene ›diffuse‹ Hellsichtigkeit, bzw. vorausahnende Wahrnehmung in einer Zeit zwischen den zwei Weltkriegen zu sein – er verfasst seinen Text »Das Paris des Second Empire« im Herbst 1938,52 d.h. ein Jahr vor Kriegsbeginn und zwei Jahre vor seinem Suizid – die sich in diesem Zitat widerspiegelt und die Benjamin via Baudelaire in den Bewegungen der Menschenmassen einen durch sie hindurchgehenden, kommenden ›Riss‹ erahnen lässt. Sind für Baudelaire Risse in der Kleidung noch Teil jener spürbaren, konkreten Erfahrung von materieller Armut, die ihn von seinen Gängen durch die Stadt eher abzuhalten scheinen, entfaltet die Figur des Risses bei Benjamin ihre Bedrohlichkeit verstärkt aus ihrem politischen Symbolcharakter heraus, der sich den anonymen städtischen Menschenmengen als Vorausahnung einer kommenden Selbstauflösung oder Auslöschung einschreibt. Die Baudelairsche/ Benjaminsche Flaneur*in bewegt sich so auf den Spuren verschiedener Risse innerhalb und zwischen den Menschen der Menge, getrieben von einer bösen Ahnung, ihr Blick von der Masse selbst ver- und zugleich entschleiert. Zwei zentrale Themen Benjamins überlagern sich (im doppelten Sinne) so gesehen in den Decollagen Villeglés und seinen zahlreichen Begleittexten: 1. eine doppelte/gespaltene Figur Flanierender (zwischen Benjamin und Baudelaire), die bei Villeglé ebenfalls gedoppelt/gespalten erscheint,

52 | Vgl. Tiedemann, Rolf und Schweppenhäuser, Hermann: »Anmerkungen der Herausgeber«, Walter Benjamin – Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 1 [Abhandlungen] Dritter Teil, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974. S. 797-1272. S. insbesondere S. 1065ff.

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nämlich als Riss-produzierendes, anonymes Individuum einerseits und in Gestalt der flanierenden Künstler/Sammler andererseits, d.h. Villeglé selbst, der als Künstler von den Rissen angezogen bzw. angetrieben wird. 2. Als weiteres zentrales Thema Benjamins wird hier auch die Frage nach dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aufgerufen – quasi ›angerissen‹. Die dort angesprochene technische Reproduzierbarkeit findet in der Massenvervielfältigung und Verbreitung von Postern ihr Medium par excellence und bildet in ihren mehrfachen Überlagerungen die Grundlage für die entstehenden Kunstwerke Villeglés. Walter Benjamin hatte bekanntermaßen in seinem in verschiedenen Fassungen (und Abschriften)53 vorliegenden Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprozierbarkeit« aufgrund neuer technischer Aufnahmeverfahren und Vervielfältigungsmöglichkeiten einen voranschreitenden Verlust der Aura von Kunstwerken konstatiert. Als Erscheinung des Einmaligen, der Bindung an ein Hier und Jetzt, werde diese durch die drei Faktoren Mobilität, steigende Anzahl und technische Manipulationsmöglichkeit bedingt. Dabei sei »die Zertrümmerung der Aura, [… ] die Signatur einer Wahrnehmung, deren ›Sinn für das Gleichartige in der Welt‹ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt«.54 Weniges verbildlicht diesen gesteigerten Sinn für das Gleichartige der Welt der Moderne so sehr, wie die flächige und reihenweise (und sich zudem in der Regel unsichtbar aufschichtende, palimpsesthafte) Hängung von Plakaten, als einem Neben- Unter und Übereinander gleichartiger, differenter und konkurrierender Informationen. Deren wiederkehrende, sich wiederholende Formen können dabei zu Formationen und Anordnungen verdichten, die Siegfried Kracauer treffend mit der Figur des Ornaments beschrieben hat. Die scharfe gesellschaftskritische Analyse Kracauers, die einen Zusammenhang zwischen Massenphänomenen, kapitalistischer Produktionsweise und faschistischen Tendenzen in Gestalt von unterschiedlichen Körperphänomenen und Repräsentationsweisen nachzeichnet, verfolgt einen methodologischen Ansatz, der dezidiert auf die Betrachtung von kulturellen Oberflächen abzielt: »Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen

53 | Zur überaus komplizierten Publikationsgeschichte, Entstehung der diversen Fassungen und Abschriften sowie Rolle der Übersetzungen vgl. Ebd. S. 982 sowie S. 1035. 54 | Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung«. S. 480.

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der Epoche über sich selbst.«55 Kracauer hat in diesem verstärkt auftauchenden Phänomen des Ornaments ähnlich wie Benjamin eine Korrelation zwischen dem Aufkommen maschineller Serienfabrikation und einer veränderten ästhetischen Wahrnehmung aufgezeigt. Er entdeckt in der Struktur des Massenornaments das Prinzip des kapitalistischen Produktionsprozesses: »Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität.«56 Dieses Ornament, das sich wie der kapitalistische Produktionsprozess »Selbstzweck« sei, entdeckt Kracauer in der Chorusline der Tillergirls ebenso wie in den geometrischen Masseninszenierungen, wie sie z.B. in Stadien dargeboten und anschließend in Wochenschauen reproduziert und verbreitet werden: »Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.«57 Wie in der Baudelairschen/Benjaminschen Figur der Flaneur*in, in der ein Moment des Widerständlichen gegen das Aufgehen in der Menge spürbar ist, scheint auch Kracauer, relativ kryptisch, auf eine verbleibende Spur eines seelenhaften Restes, eingebettet, und latent verborgen in den Zwischenschichten ornamentaler Oberflächen. Es ist für Kracauer die bedrohte Instanz der Vernunft, welche diese Oberflächen durchdringen und sie wiederum – wie im Benjaminschen Bild des Schleiers – aufreißend zum Sprechen bringen kann: Wird das Massenornament von der Seite der Vernunft her erblickt, so offenbart es sich als mythologischer Kult, der in ein abstraktes Gewand sich hüllt. Die Vernunftgemäßheit des Ornaments ist mithin ein Schein, den es im Vergleich mit körperlichen Darstellungen von konkreter Unmittelbarkeit annimmt. […] Wo die Vernunft den organischen Zusammenhang zerfällt und die wie immer kultivierte natürliche Oberfläche aufreißt, dort redet sie, dort zerlegt sie nur die menschliche Gestalt, damit die unverstellte Wahrheit von sich aus dem Menschen neu modelliere. In dem Massenornament ist sie nicht durchgedrungen, seine Muster sind stumm.58

Bei Jacques Villeglé lassen sich nun ähnliche Spuren individueller, zwischen bewusst und unbewusst schwankende Gesten des Widerstandes in den Rissfiguren in- und zwischen den Plakatschichten wiederfinden. Risse bilden darin Spuren von Gesten und Bewegungen, sie markieren einen kaum bestimmbaren zeitlichen Abstand, in und zwischen den verschiedenen sichtbar werdenden Schichten des Vergangenen. Mit Blick auf die Ausführungen Kracauers weisen diese Rissfiguren 55 | Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse: Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. S. 50. 56 | Ebd. S. 54. 57 | Ebd. S. 51. 58 | Ebd. S. 60f.

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aber auch über den Moment ihrer Entstehung hinaus, weiter in die unbestimmte Vergangenheit zurück und knüpfen implizit an die Gesten und Bewegungen des Widerstands in der Kriegs- und Vor-Kriegszeit an. Durch die erneute Fokussierung auf Risse in den Plakatwänden stellt Villeglé eine indirekte Verbindung zu diversen Individuen und (verschwundenen) Menschenmengen her, die sich durch den urbanen Raum bewegen und bewegt haben. Auf dem medialen Umweg der zerrissenen Plakate nähert sich Villeglé den Flanierenden und bewegten ›Massen‹ der Großstadt an und hält zugleich einen gewissen Abstand; er hebt jedoch ihre Spuren hervor, die hinterlassenen Risse als (latent) unbestimmte Markierungen ihrer individuellen Gesten. Umgekehrt, so scheint es, rufen die Risse in den Plakaten den Typus der flanierenden Person unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkrieges zurück auf den Plan – u.a. in Gestalt des abreißenden, sammelnden und signierenden Künstlers Villeglé. Der Blick auf die Menschenmengen erhält somit durch die Risse einen anderen Charakter: Hier konfiguriert sich erneut ein komplexes Verhältnis zwischen Künstler und anonymer Menschenmenge/individuellem namenlosen Subjekt, Villeglé nimmt mit dieser anonymen Gruppe durch die Risse des Stadtbildes Kontakt auf, er geht auf Tuchfühlung: »Begegnen sich«, so fragt Villeglé »im Plakatabriss – im Sinne von Cusanus’ Prinzip der coincidentia oppositorum – der Künstler und der Mensch von der Straße, Kollektiv und Individuum?«.59 Zugleich bleibt jedoch in dieser Annäherung eine Spur von Distanz enthalten, denn es ist unklar, wem sich der Künstler auf diese Weise, durch die Figuren des Risses annähert, bleiben sie doch in Ihrer Entstehungsweise letztlich unbestimmbar, anonym. Villeglés flanierendes Entdecken der zerrissenen urbanen (Werbe-)Oberflächen nimmt dabei die flanierende Betrachtung Museumsbesuchender vorweg; die diversen Bewegungen der urbanen und musealen Flaneure scheint somit von den Rissen gewissermaßen vorgezeichnet bzw. -geschrieben zu sein, sie funktionieren als latente Choreo-Graphie. Die Figuren der Risse und Villeglé als ihr Sammler verbinden so, selbst quasi zum Medium werdend, die Figuren der in der Vergangenheit agierenden anonymen Riss-Produzierenden und den zukünftig durch das Museum schlendernden Besuchenden und Betrachtenden; beiden Figuren steht Villeglé nahe und hält sie doch, durch und in den Figuren der Risse auf räumlicher und zeitlicher Distanz. Vermittelt durch die Figur des Risses, findet eine Annäherung der unterschiedlichen Figuren Flanierender (Villeglé, anonyme Abreißende, zukünftige Museumsbesuchende) an das unbekannte Individuum in der anonymen Menge statt und damit zugleich, so ließe sich mit und gegen Walter Benjamin, in gewisser Hinsicht auch eine Re-Auratisierung der technisch reproduzierten Massenware

59 | Villeglé: Urbi & Orbi. S. 40.

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»Poster«. In der Figur des Risses vollzieht sich mit dem zeitlich verzögerten Kontakt zum unbekannten Individuum in der Menge, zu den anonymen Verursachenden des Risses, eine Wiedereintragung jener gleichzeitigen, spürbaren und widersprüchlichen Präsenz von Nähe und Ferne, mit der Walter Benjamin seine Figur der Aura definiert: »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.«60 Unter der Voraussetzung, dass Risse dem Massenmedium Plakat wieder etwas Auratisches eintragen, verläuft dieser Prozess parallel mit einem Verstummen der Plakate selbst. Ihr visuelles, massenkommunikatives, um Aufmerksamkeit ringendes ›Marktgeschrei‹ wird von den Rissen durchbrochen und ausgestellt, stumm geschaltet, indem sich die Risse als uneindeutige Spur des Widerstands, des unbestimmten Zerfalls, möglicherweise auch der zielgerichteten Zerstörung eintragen – oder einfach dem Wettereinflusses geschuldet sind. Diese Risse sind jedenfalls jeweils singulär, potentiell menschlich-individuellen oder auch nichtmenschlichen Ursprungs. Es bleibt zutiefst uneindeutig, ob die Risse bewusste, individuelle Gesten sind oder ob es sich eher um etwas Akzidentelles handelt – die Frage nach der Intentionalität ist somit nicht beantwortbar. Insbesondere der Topos einer ›künstlerischen Intention‹, wird von Villeglés Arbeiten systematisch negiert. Die motivische Selektion Villeglés bleibt zwar eine entscheidende, aber sie ist nicht mehr eindeutig im Sinne eines Modells künstlerisch-intentionalen Handelns zu beantworten. Das Auffinden der Plakate mag von einer künstlerischen Intuition, urbanen Erfahrung und einer vertrauten Kenntnis der Stadt geprägt sein, es hängt also auch mit den städtischen Ordnungen des Raumes zusammen und damit auch von vielfältigen Zufällen ab: Kontingenz spielt in diesem künstlerischen Prozess eine entscheidende Rolle. Der künstlerische Anspruch, den Villeglé an die Plakate anlegt, besteht zugleich in einer Form des Angesprochen-Werdens, das aus den Plakaten hervorgeht, das sich an ihn und uns als spätere Betrachtende ›wendet‹ und seine, ebenso wie unsere Aufmerksamkeit einfordert. Die Plakate und die darin enthaltetenen Risse machen aus Villeglé so gewissermaßen einen Vorläufer der musealen Betrachter*innen, so wie er die Plakate umsetzen wird, versetzen sie umgekehrt ihn und uns in einen anderen Wahrnehmungsmodus, sie ermöglichen eine andere Betrachtungsweise des urbanen Raumes. Villeglé stellt so durch sein künstlerisches Schaffen eine Verbindung zwischen sich, den anonymen Verursacher*innen der Risse der Vergangenheit uns als zukünftigen, potentiellen Betrachtenden her, der Künstler selbst bildet, mit und neben den Figuren der Risse eben diese Schnittstelle.

60 | Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung«. S. 440.

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Die Un/Lesbare Stadt Während die »anonymen Abreißenden« in ihrer Tätigkeit so gewissermaßen eine Gruppe ohne gemeinsamen Nenner bilden, eine undarstellbare, »entwerkte« Gemeinschaft, (communauté désœvrée)61 im Sinne Jean-Luc Nancys, d.h. »eine Gemeinschaft, die gewissermaßen ohne Gemeinschaft ist«62, bleiben aufgrund dieser Anonymität die genauen Umstände unter denen die bildinhärenten und zwischenbildlichen Risse entstehen, grundsätzlich im Ungewissen. Was diese Gruppe verbindet, ist eine Form der Bewegung: Mobilität innerhalb der Ordnungen und Taktungen einer Großstadt und die sich in Gestalt der Risse manifestierenden diversen individuellen »Taktiken«, sich den dominanten Strukturen zu widersetzen oder zu entziehen, Gegenordnungen zu entwerfen, zu proben und zu verkörpern. Auf diese Weise produzieren die Passant*innen als unbekannte Plakatabreißende Formen von »Unlesbarkeit« – einerseits im Wort-Sinne, und andererseits, so, wie Michel de Certeau sie in Kunst des Handelns im übertragenen Sinne beschreibt: Die Elementarform dieser [urbanen, H.H.] Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen »Textes« folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können.63

De Certeaus philosophische Betrachtungen urbaner Praktiken beruhen im Ansatz auf Vorstellungen und Beschreibungen einer Konzeptualisierung von ›Stadt-als-Text‹, die jedoch ihrerseits wiederum ständig zwischen Formen von Lesbarkeit und Unlesbarkeit schwanken. Die als lesbar gedachte »Konzept-Stadt«, eine mittels urban design gestaltete Utopie, eine saubere, zeitlose, synchrone, funktionierende Stadt, die, wie de Certeau schreibt, »Verwaltung mit Ausgrenzung« verbinde, faltet so gesehen – auf ›Umwegen‹ des gelebten Alltags auch ihr eigentlich Ausgeschlossenes, Unlesbares, Sich-Entziehendes in sich ein: »Eine metaphorische oder herumwandernde Stadt dringt somit in den klaren Text des geplanten und leicht lesbaren Stadt ein«.64 Innerhalb der als lesbar konzipierten Stadt bilden die Fußgänger*innen und 61 | Zur Übersetzung des Titels formuliert Nancy selbst: »Der deutsche Titel dieses Textes – Die undarstellbare Gemeinschaft - übersetzt nicht, sondern ersetzt vielmehr den französischen Titel - La communauté désoeuvrée – (Die entwerkte Gemeinschaft wurde jedoch als Titel des ersten Kapitels beibehalten)«. Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart: Schwarz, 1988. S. 5. 62 | Ebd. S. 151. 63 | Certeau, Michel de und Voullié, Ronald: Kunst des Handelns. Berlin: MerveVerlag, 1988. S. 181f. 64 | Ebd. S. 182.

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Passant*innen Figuren, die jener der Metapher entsprechen, sie verkörpern metaphorische Vor-Gänge, die neben der klaren Lesbarkeit stets auch etwas Anderes zum Ausdruck bringen, das einen unerwarteten Umweg der Gedanken mit sich führt oder zur Folge hat. Diese Vorstellung von der Metapher verläuft gewissermaßen parallel, oder in Nachbarschaft, zum Derrida’schen Konzept von Metapher, deren Einführung er (quasi-)metaphorisch im Sinne einer ›Anfahrt‹ beschreibt: [W]ir sind unterwegs, von Station zu Station, zu Fuß, Schritt für Schritt oder im Autobus (wir zirkulieren schon im Autobus, den ich gerade genannt habe, in der Übersetzung, ja – je nach ihrem Element – zwischen Übertragung* und Übersetzung*, bezeichnet doch metaphorikos im sogenannten modernen Griechisch alles, was die Transportmittel betrifft). Metaphora fährt durch die Stadt, sie befördert uns als ihre Bewohner, auf verschiedenen Strecken, mit Ampeln, Einbahnstraßen, Kreuzungen oder Scheidewegen, Geschwindigkeitsbeschränkungen und Vorschriften. Wir sind gewissermaßen – metaphorisch natürlich und in der Weise des Bewohnens – der Inhalt dieses Fahrzeugs: Passagiere, von der Metapher fortbewegt und Umfangen.65

Dem Derrida’schen Konzept der Metapher liegt ein Wortspiel zugrunde, die Wiedereinschreibung einer (an einem anderen Ort, an anderer Stelle, in einer anderen Sprache) gebräuchlichen Wendung: indem er mit dem neugriechischen Begriff der Metaphorikos die Metapher von Beginn an wörtlich (und damit zugleich als in sich widersprüchlich) begreift, führt ihn dies auf einem gedanklichen Umweg zu den technischen Transportmitteln der Großstadt, den öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Menschen werden in diesem Sprach-Bild zu Passagieren, wartenden Insassen und Bewohnenden, zu Mitfahrerenden, die gelegentlich aus- und umsteigen müssen um ihr (unbestimmtes) Ziel zu erreichen. Bei de Certeau finden wir im Gegensatz dazu noch stärker selbstbestimmt handelnde Praktiker*innen des Raumes vor, aktive Passant*innen, Fußgänger*innen, die das ›Stadtbild‹ prägen. Gemeinsam ist beiden ›Metaphern der Metapher‹ hier jedoch die Durchkreuzung und Überschneidung von metaphorischen Vorgängen und Bewegungen in der Großstadt, wobei unbestimmt bleibt, ob die Großstadt zur Metapher von Schriftlichkeit wird und/oder umgekehrt; die beiden Bilder halten sich – gewissermaßen schwankend in die eine oder andere Richtung – zunächst die Waage. Schließlich, ab einem gewissen Punkt, kippt jedoch das Sprach-Bild bei beiden: So wie Derrida von einem unwillkürlichen Abdriften der Sprache durch und mit

65 | Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 197.

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der Metapher spricht, so postuliert de Certeau dann auch grundsätzlich: »Die Konzept-Stadt verfällt.«66 Die Risse in den Plakaten Villeglés wären somit als Spuren und Ausdruck dieses doppelten, eingeschlossenen Zerfalls eines statisch gedachten Stadt- und Sprachkonzeptes zu begreifen, sie bilden jene Ein- und Entschreibungen, welche die Stadt permanent umfunktionieren, oder eher: de- und re-funktionalisiernen, sie an ihren Rändern bearbeiten und abschleifen, zum Ausfransen bringen; die sie um- und weiterschreiben – »entschreiben«, wie es bei Jean-Luc Nancy heißt.67 Die Risse in den Plakaten, als uneindeutige, unvorhersehbare und unlesbare Spuren und Hinterlassenschaften Passierender, ließen sich so zugleich als Raum-Beschreibungen oder ›De-Scriptionen‹68, Be- bzw. Entschreibungen im tief-zweideutigen Sinne: choreo-graphische Spuren von Bewegungen begreifen, die zwischen urbaner Lesbarkeit und Unlesbarkeit schwanken: Artikulationen69 zwischen bewegter, gelebter Stadterfahrung, d.h. einer Praxis des Raumes und einem statisch gedachtem Raum. Es ist zugleich ein Schwanken zwischen dominanten Diskursen, offiziellen »Strategien« und den bewussten und unbewussten Gesten diverser Counter- oder Bewältigungsstrategien, subversiver Praktiken und »Taktiken«70 und zugleich zwischen metaphorisch und unmetaphorisch aufgefassten Passagen, Passant*innen und urbanen Praktiken. Während Villeglés gerissene Plakatschichtungen, als Palimpseste offizieller Ankündigungen, politischer Aufrufe, Protestveranstaltungen, Werbe- und Produktplakaten, Hinweise auf Kulturveranstaltungen etc., bereits dominante Diskurse und subversive Gegenstrategien gegenseitig überlagern, immer wieder verdecken und sich somit permanent selbst unlesbar (und unsichtbar) machen, bringen die Plakat-Risse diese alten Schichten stellenweise zu einer neuen unvorhergesehenen Sichtbarkeit. Ihr unerwartetes Wieder-Auftauchen produziert nun selbst, aus 66 | Certeau und Voullié: Kunst des Handelns. S. 186. 67 | »Es ist das Entschreiben unseres Körpers, mit dem wir beginnen müssen. Seine Außen-Einschreibung, seine Außer-Text-Setzung als die seinem Text ureigene Bewegung: der verlassene, auf seiner Grenze zurückgelassene Text selbst. Es ist nicht länger ein ›Fall‹, das hat kein Oben, kein Unten mehr, der Körper ist nicht herabgefallen, sondern ganz an der Grenze, am äußeren, äußersten Rand, den nichts wieder schließt«. Nancy, Jean-Luc und Hodyas, Nils: Corpus. Berlin: Diaphanes, 2007. S. 15. 68 | Beschreibung wird hierin von de Certeau als Schreiben eines nicht-lesbaren Textes begriffen, vgl. de Certeau und Voullié: Kunst des Handelns. S. 182. 69 | »Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist«. Ebd. S. 189. Und weiter heißt es: »Es gibt eine Rhetorik des Gehens. Die Kunst, Sätze zu drehen und zu wenden, hat als Äquivalent eine Kunst des ›Rundendrehens‹«. Ebd. S. 192. 70 | Ebd. S. 23.

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sich heraus eine andere Form der Unlesbarkeit auf einer anderen ›Zeit-Ebene‹, nämlich im Dazwischen, zwischen den Ebenen – gerade zwischen den zeitlichen gelagerten ›Sedimentschichten‹ des kommerziellen, konsumorientierten und/ oder kulturell-politischen Lebens. Die Risse bringen innerhalb dieser sich immer wieder selbstverdeckenden Lagen, die proklamierenden Zeitschichtungen, die sprechenden, rufenden, schreienden und durch Überkleben wieder zur Verstummung gebrachten Oberflächen, die überlagerten kapitalen Lettern und kreischenden Farben (wieder) zur Sichtbarkeit, welche sich daraufhin, von ihrer Tagesaktualität entkoppelt, von ihrer ästhetischen Seite zeigen. Voraussetzung dieses anderen Sichtbar-Werdens und Betrachtens ist die Enthobenheit aus den urbanen Kommunikationszyklen, entscheidender Aspekt ist der ›abgelaufene‹ Charakter des Informationsgehaltes der Plakate, der nun in ihnen enthaltene, eingefaltete verspätete Moment.71 Die Risse in den Plakaten deuten dabei auf etwas Eingeschlossenes und zugleich defigurieren sie die temporalen Über- und Unterordnungen, sie decken die Funktionsweise dieser urbanen Kommunikationsform inklusive ihrer Voraussetzungen auf und deuten dabei auf etwas implizit Enthaltenes, auf eine stumme Voraussetzung. Sie entdecken jenes von vornherein mitgedachte Unlesbar-Werden, die notwendige Überdeckung und Selbstauslöschung dieser zeitlich begrenzten Kommunikation, ihr vorprogrammiertes Verfallsdatum, ihr voranschreitendes Ablaufen, ihre notwendige Löschung aus dem öffentlichen Raum aufgrund kurzer Halbwertzeiten der enthaltenen Informationen. Die Plakate sind dafür konzipiert, durch neue Plakate überklebt zu werden, sich gegenseitig zu überdecken und auszulöschen. Die Risse widersetzen sich nun dieser Marktlogik: als wiederkehrende, unbestimmbare, unterschiedlich motivierte, uneindeutige Gesten und Spuren stellen in ihrer Zusammenschau Unlesbarkeit auf einer höheren Ordnungsstufe her und dar, sie machen ein komplex verschachteltes System von Sichtbarkeits-Regimen evident. Vor dieser Folie eines Un- und Anders-lesbar-Werdens, innerhalb dieser verschobenen Wahrnehmung städtischer Räume und ihrer Zwischenschichten, wird der Künstler Villeglé zum Literaten, Vermittler und Transpositeur einer Unlesbarkeit, ein Künstler, der sich eine andere Form der urban literacy angeeignet hat, der Riss-Spuren als individuelle Mikro-Wiederaneignungen innerhalb des verwalteten (und selbst-verwaltenden), kategorisierten und disziplinarisch geregelten städtischen Raumes sammelt und dokumentiert, indem er für ihre

71 | Zum Thema Verspätung und Nachträglichkeit als philosophische Konzepte im Kontext einer Unlesbarkeit, vor allem anhand von Derridas Konzept der »différance«, vgl. Zeillinger, Peter: Nachträgliches Denken: Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida. Münster, Hamburg, Berlin, London: Lit, 2002. S. 69ff.

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museale Archivierung, ihre Haltbar-Machung sorgt und sie in einen anderen Rhythmus versetzt.

Decollage im Kontext einer Ära der Dekolonisierung Entgegen der vorherrschenden Sichtweise, die Arbeiten der Neuen Realisten und insbesondere der Affichisten als symptomatische Kunst eine Nachkriegsepoche einzustufen, richtet die amerikanische Kunstwissenschaftlerin Hannah Feldman in ihrer Studie mit dem Titel From a Nation Torn: Decolonizing Art and Representation in France einen Blick aus postkolonialer Perspektive auf diesen Zeitraum. Ihr argumentativer Ansatz besteht darin, neben dem Ende des zweiten Weltkrieges und der anschließende »Rekonstruktions-Ära« der fünfziger Jahre in Frankreich, ebenfalls die schwelenden Konflikte und anschließenden Unabhängigkeitsbewegungen, vor allem in Algerien in das Blickfeld zu rücken und die Zeit nach 1945 aus der Perspektive französischer Geschichte somit nicht als Nachkriegszeit, sondern primär als eine Ära der »Dekolonisierung« in Frankreich zu begreifen: It follows that the art of this period is not »post-war« as we have come to understand it. Instead, it is an art that was created within, shaped by, and fully legible only in the historical context of an ongoing war—or wars, as the case may be. It is, therefore, art we need to understand as »art during-war«.72

In ihrer Untersuchung geht es somit zentral um die Frage, in welcher Weise kulturelle und künstlerische Produktion diese Epoche der, wie sie schreibt, »long 1950’s«73 als eine Zeit des andauernden Kriegszustandes widerspiegelt und damit jene Widersprüche, Spannungen und Diskrepanzen reflektiert, welche zwischen der offiziellen propagierten Doktrin eines vermeintlichen »Nachkriegszustandes« im Sinne eines stabilisierenden Wiederaufbaus und einem von staatlicher Seite beschränkten Anspruch auf politische Sichtbarkeit und Repräsentation kolonisierter, subalterner Minderheiten im öffentlichen Raum entstehen. Ihren Ansatz »decolonizing art« versteht Feldman daher bewusst in einem zweideutigen Sinn, als einen Akt der »Dekolonisierung« von- und durch Kunst, die es ihr zufolge einerseits bestimmten, nach wie vor kolonialistisch geprägten, dominanten Diskurse zu entziehen gilt – gerade indem sie auf die subversiven Momente fokussiert, die sich dort zugleich als inoffizielle Diskurse im Sinne subalterner Erzählungen einschreiben (können). Ein zentrales, diese Epoche charakterisierendes Stichwort bezieht Feldman dabei vom Titel einer 72 | Feldman, Hannah: From a nation torn: decolonizing art and representation in France, 1945-1962. Durham; London: Duke University Press, 2014a. S. 2. 73 | Ebd. S. 7.

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gemeinsamen Ausstellung Jacques Villeglés und Raymond Hains’: »La France Déchirée« (»Das zerrissene Frankreich«). Hains, der den Titel geprägt hatte, verweist damit einerseits auf die Technik der Decollage und zugleich auf einen gleichnamigen Buchtitel von Jacques Fauvet, der auf die politische Zerrissenheit des Landes in dieser Zeit anspielt. Ziel von Feldmans Studie sei somit to understand France through the fundamental tears and contradictions at the heart of empire, just as it proposes to understand culture, regardless of whether it is attributed to an »Algerian« maker or a »French« one, as also always subject to the transnational conditions of the subjects who produce it and those who are produced by it.74

So spiegeln sich in und zwischen den von Rissen befallenen Plakaten die politischen Konflikte der Zeit wider und enthüllen ein Stück Zeit- und Kulturgeschichte: neben Frankreichs Algerienkrieg zwischen 1954 und 1962, dem einhergehenden Nationalismus de Gaulles, u.a. auch der Vietnamkrieg der USA.75 Auf den Plakaten finden sich häufig Staatsparolen, sowie diverse Für- und Gegenstimmen, wodurch sich die Risse somit auch als politische Geste eines stummen Protests von beiden Seiten ›lesen‹ und verstehen lassen. Auch die Kunstwissenschaftlerin Kaira Cabañas interpretiert die Risse in den Plakaten so teilweise als eine Art Grenzlinie zwischen zulässigen, offiziell legitimierten, gedruckten Diskursen einerseits und einer Art Marker inoffizieller Gegendiskurse als stummen Gesten des Risses: One effect, then, of this series of political posters, is to point to the conditions of possibility for what could and could not be said on the walls of Paris’s streets at the time of the French-Algerian war. For the Algerians’ speech was all but absent-except, perhaps, as the imagined agent of a tear.76

Risse in den Bildern Villeglés werden laut Cabañas so teilweise als Ausdrücke und Gestalten einer verabsentierten Gegenrede lesbar. Zugleich, so möchte ich entgegensetzen, überschreiten die zerrissenen Poster ihre eindeutige Zuschreibung: Villeglés Bilder gehen über die einfache ›Illustration‹ einer gesellschaftlichen ›Zerrissenheit‹ hinaus. Bei genauerer Betrachtung und Hinterfragung der verbreiteten Metapher stellt sich heraus, dass die Kräfte die zu dieser Zerrissenheit führen in diverse Richtungen wirken und keineswegs gleichmäßig verteilt sind. Wie sich an Villeglés Decollagen und den anderen Arbeiten der Affichisten zeigt,

74 | Ebd. S. 8. 75 | Cabañas, Kaira Marie: »Poster Archeaology«, in: Bourriaud, Nicolas; Bon, François und Cabañas, Kaira Marie (Hg.): Jacques Villeglé, Paris: Flammarion, 2007. S. 65-124. Hier: S. 87ff. 76 | Ebd. S. 93.

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geht es um vielfältige Kräfte, Bewegungen und Spannungen: diverse dominante Diskurse die bestrebt sind, sich urbaner Oberflächen zu bemächtigen und an ihnen auszubreiten und desweiteren vielschichtige, vielstimmige (und zugleich aus diversen Gründen stumme), nicht abschließbar bestimmbare Gegendiskurse, die auf Unterbrechungen, Diskontinuitäten und politische Tiefendimensionen anspielen. Es ist aus dieser politischen Perspektive kein Zufall, dass Hannah Feldman sich in ihrer Studie primär auf Raymond Hains bezieht, dessen künstlerisches Interesse an abgerissenen Plakaten im Vergleich zu Villeglé von kürzerer Dauer erwiest, woraus sich ein klarer Fokus auf die politisch besonders angespannten 1950er Jahre ergibt – mit all ihren politischen und sozialen Auswirkungen in die 1960er. Aus Feldmans Studie heraus wird die immanent politische und zugleich globale Dimension der Plakatrisse in einem spezifischen Zeitkontext deutlich. Es zeichnet sich hier seit den fünfziger Jahren bereits ein vielfältiges gesellschaftliches Bedürfnis an einer Form der politischen Teilhabe ab, das zugleich auf transnationale Verbindungen und kulturelle Differenzen hinweist. Gegenüber Hains verdeutlich die Betrachtung von Villeglés in über fünfzig Jahren entstandenem Werk hingegen noch weit größere zeitliche Zusammenhänge – damit auch ein größeres, schwieriger einzugrenzendes thematisches und politisches Feld. Es zeigt sich, dass Risse als an sich und in Oberflächen ereignende Phänomen tagesaktuelle Fragen und sogar jahrelang schwelende und sich wandelnde politische Konflikte überdauern. Es handelt sich nicht nur um einen Kampf um die Dominanz der Oberflächen, sondern es geht auch um eine Frage ihres gesellschaftlichen Stellenwertes, als kommunikative Foren inoffizieller, subversiver Diskurse. Risse betreffen in diesem Kontext somit einen Fragehorizont, an dem sich ästhetische Phänomene und politische Diskurse überlagern und durchkreuzen. Das Motiv von Rissen und Zerrissenheit lässt sich somit auf unterschiedlichen materiellen und diskursiven Ebenen wiederfinden; so geht es einerseits um die gegensätzlichen politischen Meinungen und Einstellungen wie z.B. während des Referendums zur Frage der Unabhängigkeit Algeriens – wobei die Stimme der algerischen Minderheiten weitgehend von den offiziellen Diskursen ausgeschlossen blieben. Andererseits spiegelt sich in den Plakaten ein aufkommender Wohlstand und das wachsende Konsumbedürfnis eines Teils der Gesellschaft. Wie sich im Wandel von primär typographischen Plakaten hin zu grafischen und fotografischen geprägten Werbeflächen zeigt, geht es hierbei auch um die zunehmende Ausbreitung von Körper-Bildern und Bild-Körpern in und auf urbanen Oberflächen. Innerhalb dieser Entwicklungen von schrift- zu bildbasierter Kommunikationsformen im Medium des Plakats, und ihren beschleunigenden Zyklen und Halbwertzeiten, eröffnen Risse eine Form der verschobenen Temporalität, welche

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé)

die Unabgeschlossenheit von Debatten, die Rückkehr von Themen, und deren Neubewertung voranstellen. Durch Figuren des Risses innerhalb der Plakate entsteht durch einhergehende Juxtapositionen des Späteren mit dem Früheren, Verschneidungen von dia- und synchronen Betrachtungsweisen, ein veränderter Blick auf Vergangenheit und Gegenwart urbaner Räume etwa im Sinne einer konjunkturellen moyenne durée (Fernand Braudel).77

Ausblick: Körper-Bilder/Bild-Körper: Saving Face (Jalal Toufic) Die anhaltende Virulenz, wie auch die politische Dimension von Riss-Figuren über eine primär »westlich« geprägte Perspektive hinaus, zeigt sich beispielsweise am Wiederauftauchen von Plakatrissen als einem ästhetischen Motiv in einem Film des im Libanon geborenen Künstlers, Filmemachers und Philosophen Jalal Toufic. In dem Video Saving Face zeigt er die abgerissenen Poster der Kandidaten einer Präsidentschaftswahl im Libanon aus dem Jahre 2000, oder genauer gesagt: den engagierten und mühseligen Vorgang des Abreißens in Aktion. Toufic verleiht der Figur des anonymen Abreißers in seiner etwas siebeneinhalb minütigen, fragmentarischen Dokumentation quasi ein konkretes Gesicht (›Saving Face‹), indem er nicht nur die Spuren seines Wirkens filmt, sondern den Abreißer selbst bei der Arbeit zeigt. Toufic ›entreißt‹ die unbekannten Plakatabreißenden Villeglés, auch ohne explizit auf diesen Bezug zu nehmen, quasi ihrer Anonymität und verdoppelt/teilt die Figur: Mit einem Spachtel ausgestattet sind hier zwei verschiedene, unabhängig voneinander tätige Männer dabei, mit großer Ausdauer die Poster verschiedener politischer Kandidaten von einer Wand zu kratzen und zu reißen. Und dennoch bleibt der Abreißer latent anonym, denn wir erfahren weder Näheres über seine Identität, seine Motive, seine Lebensumstände – noch sehen wir viel von seinem Gesicht: Toufic beobachtet ihn hauptsächlich aus einer Rückansicht. Die ohne Stativ filmende Kamera bleibt in sicherer Distanz zum Geschehen, filmt die Tätigen von der anderen Straßenseite von hinten. Minutenlang schälen sie fetzenweise die Plakatschichten und Gesichtskonturen von der Wand, immer wieder zeigen sich unter der Oberfläche weitere Schichten mit neuen, alten Gesichtern. Das verklebte Material ist widerständig, selten entfernen sie größere Stücke, meist eher kleinere Fitzel. Restspuren und zerrissene Fetzen flattern derweil im Wind; verschiedene Gesichtsfragmente aus unterschiedlichen Lagen verbinden sich langsam zu monströsen De-Collagen. Toufic schreibt dazu in einem gleichnamigen Essay: 77 | Dieses Konzept einer konjunkturellen, ›mittleren Dauer‹ steht im Kontrast zu Braudels Vorstellung einer der longue dureé, die sehr viel größere Zeiträume, langsamste historische Prozesse oder geologische Zeitdimensionen in den Blick zu nehmen versucht. Vgl. Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten We have in the torn and peeled off wall posters and the accretions of faces over each other one of the sites where Lebanese culture in specific, and Arabic culture in general, mired in an organic view of the body, in an organic body, exposes inorganic bodies to itself and exposes itself to inorganic bodies.78

Toufics provokante Grundannahme, dass, »unconsciously, i.e., in the unconscious, and with rare exceptions, we still generally believe in the ontological identity of model and image«79, einem anhaltenden Glauben an die Identität von Vorbild und Abbildung, hat zur Folge, dass er die gegen die Poster gerichtete Gewalt als eine Gewalt unmittelbar am Körper auffasst. Toufic begreift die Bilder in einem Nicht-Figurativen Sinn. Er betrachtet den Vorgang des Abreißens weniger als einen Gewaltakt, der sich einfach gegen Poster als geklebte Bilder richtet, sondern betrachtet diesen Vorgang des Decollagierens als eine Vermischung »organischer und unorganischer Körper«.80 Wenn Toufic nun unter Bezug auf Deleuze’ Kinound Bildtheorie hinzufügt, dass Oberflächenreflektion und Mikrobewegungen den Dingen im übertragenen Sinne ein ›Gesicht‹ verleihen, d.h. dass Dinge uns wie ein Gesicht anblicken, so scheinen es in seinem Videofilm nicht nur die Bilder der Politiker zu sein, die uns Anblicken, sondern dann erzeugen gerade die frisch gerissen Fetzen, die sich im Wind bewegen eben solche Mikrobewegungen, ein entstelltes und zugleich doppeltes Gesicht. Die zusätzlichen (Körper-)Bewegungen der Handheld-Kamera multiplizieren die Mikrobewegungen dabei ein weiteres Mal. Und, um noch einen Schritt weiter zu gehen, ließe sich argumentieren, dass nicht nur die wehenden Fetzen und Wackelbilder der Kamera als Mikrobewegungen relevant sind, sondern gerade auch die Risse selbst – mit ihren von vornherein enthaltenen latenten Bewegungen – grundsätzlich derartige Mikrobewegungen suggerieren und zu einer noch tiefergehenden ›Verlebendigung‹ der decollagierten Porträts führen. Wenn wir die Risse als aktive ›Agenten‹ (im Sinne Barads81), als ›Gegenüber‹ oder Gegenwendigkeit (Heidegger82) innerhalb dieser Vermischung begreifen, handelt es sich um ein dynamisches Konglomerat nicht nur aus organischen und unorganischen Körpern, sondern auch um eine Mischung (und

78 | Toufic, Jalal: Two or three things I’m dying to tell you. Sausalito, Calif.: Post-Apollo Press, 2005. S. 9f. 79 | Ebd. S. 22. 80 | Dies wäre vergleichbar mit der unheimlichen Übertragung, dem (Medien-) Sprung des Risses in der Hornbach-Baumarktwerbung (Vgl. Abschnitt »Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper« im vorliegenden Band, S. 15ff.). 81 | Vgl. Abschnitt »Materialität/en« im vorliegenden Band, S. 44ff. 82 | Vgl. den Abschnitt »Latente Theatralität/theatrale Latenz der Riss-Figur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)«, S. 117ff., insbesondere Fußnoten 12 und 13.

11. Zerrissene Schichten der Zeit (Jacques Villeglé)

Verwischung) organischer und unorganischer Körper, als Nicht-Körper – d.h. Risse als nicht-menschliche, latent dynamischen Inversionsfiguren. Risse mit ihren latenten und/oder konkreten Bewegungen, ihrer Tendenz zur Bewegung, beleihen die Dinge mit einem Gesicht: etwas blickt uns aus dem Riss heraus an. Wir schauen es an und es schaut auf uns zurück. Sind es unsere Mikrobewegungen, unserer eigenes leichtes Schwanken, dass sich unwillkürlich beim Atmen vollzieht, oder hat sich der Riss bewegt? Reißt er gerade in diesem Moment? Bewegt es sich oder ich mich? Diese Frage lässt uns den Atem stocken – um die Mikrobewegungen unseres eigenen Körpers als Störfaktoren zu minimieren halten wir die Luft an. Toufics Film zeigt zum Schluss eine Reihe von Stills: Fotos halb ein- und abgerissener Wahlplakate, Standaufnahmen, während die Tonspur im Hintergrund weiterhin Stadtgeräusche hörbar macht, die sich dann mit verschiedenen Soundeffekten zu mischen beginnen: Reißgeräusche, der Verschluss einer Kamera, flüsternde Stimmen, düsteres Rauschen, eine zerbrechende Scheibe, Rascheln, Regengeräusche. Die Tonspur suggeriert allerhand Bewegungen und die Stills der zerrissenen Gesichter antworten – trotz ihrer Regungslosigkeit – mit ihren latenten Bewegungen, gewesene und zukünftige Momente der Ein- und WeiterReißens, Spuren gewesener und kommender Bewegungen.

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12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murakami Saburō)

Bleiben wir vorübergehend, für einen Moment, noch bei den theoretischen Ansätzen Jalal Toufics und führen wir uns anhand einer anderen Passage nochmal seine spezifische Weise vor Augen, das Bildliche unmittelbar auf den Körper zu beziehen. Ausgehend von einer Filmszene beschreibt Toufik die Möglichkeit eines physischen Eintretens in die Sphäre des Bildlichen als »ästhetischen Fakt«: While watching a great dance film, I witnessed a dancer enter a painting. Taking into account that human bodies cannot do this, was that movement metaphorical or symbolic or oneiric? It was none of these. It struck me as a fact, an aesthetic fact. Consequently, since it happened and since normal human bodies cannot enter paintings, the question becomes: what kind of body is produced by dance and can do what I just witnessed, enter a painting? It is a subtle body with different characteristics than the physical one.1

In der kurzen Abhandlung The Subtle Dancer führt Toufic seinen vorherigen Ansatz, Bildlichkeit aus einer Perspektive der Vermischung organischer und unorganischer Körper zu betrachten, weiter fort und gibt diesem eine neue Dynamik, indem er die (un-)möglichen Wechselwirkungen zwischen den Sphären von Bildlichkeit, Tanz und Medien/Film neu beleuchtet. Toufic begreift die filmische Idee, dass ein Tänzer (hier augenscheinlich in Gestalt von Gene Kelly als Maler Jerry Mulligan in An American in Paris, 1951) ein Bild betritt, jenseits ihrer filmischen, trick-technischen Produktion, als ›faktische Bewegung‹ auf, eines, wie er es nennt »subtle bodies«, d.h. eines Körpers, der sich subtil durch die medienbedingten Schwellen hinweg- bzw. hindurchbewegt:

1 | Toufic, Jalal: »The Subtle Dancer«, ohne Jahresangabe. Zugriff unter: http:// d13.documenta.de/research/assets/Uploads/Toufic-The-Subtle-Dancer.pdf am 26. Nov. 2016. S. 2.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten In one sort of »dance,« the dancer remains in the homogenous space and time where his or her physical body is—I consider this sort a form of theater or performance rather than dance. But another kind of dance projects a subtle dancer into a realm of altered movement, body, space and time specific to it, though having an affinity to the undeath realm.2

Lassen wir uns auf dieses Gedankenexperiment ein und greifen dessen physischphilosophisches ›Momentum‹ auf, um die Bewegung dieses philosophischen Ansatzes weiterzuführen bzw. zu einem anderen historischen Punkt zurückzuführen. Die Idee einer »subtilen« tänzerischen Bewegung, in Form von Medien-Sprüngen an Schwellen unterschiedlicher Genres (und ihrer Affinität zum Bereich des Geisterhaften, der »Untoten«) führt uns zu der Aktion eines japanischen Künstlers, der an ähnlichen medialen Grenzen operiert und verwandte Bewegungen der materiellen und konzeptuellen ›Durchbrechung‹ in seinen Arbeiten vornimmt. Im Folgenden sollen ausgewählte Aktionen des 1925 in Kobe geborenen und 1996 in Kyoto verstorbenen Künstlers Murakami Saburō3 im Vordergrund stehen, der in ähnlicher Weise dem ›Einfall‹ des Körpers in die Welt des Bildlichen nachgeht, wie Toufic ihn skizziert (bzw. Gene Kelly im Film verkörpert und als Bewegung ›vollzieht‹). Durch die eingehende ›Re-Vision‹ einzelner Dokumente und Fotos soll die Einordnung Murakamis Arbeit(en) als Teil der Gutai–Gruppe im Kontext japanischer Avantgardebewegungen der 1950er bzw. 1960er Jahre um weitere ›Layer‹ erweitert werden: zum einen geht es hierbei, wie ich zeigen möchte, um eine vielschichtige und radikale Wende innerhalb des Verständnisses von Visualität durch und vermittels eines grundlegenden Wandels im Verhältnis von Körperlichkeit und Bildlichkeit im Kontext der japanischen ›Nachkriegszeit‹.4 Desweiteren sollen die Aktionen/Arbeiten Murakamis in einen erweiterten Rahmen intermedialer Bezüge gestellt werden die Frage nach den in ihnen enthaltenen Risse durch entsprechende medien-philosophische Diskurse beleuchtet werden.

Gegenseitige Hervorbringung (Nachbild I) Ein bekannt gewordenes Schwarz-Weiß-Foto vom 10. Oktober 1956 zeigt Murakami Saburō vor einer Reihe paralleler, in Form eines Gestells montierter Leinwände. Den größten Teil des annähernd quadratischen Fotos nimmt die vorderste, vom 2 | Ebd. 3 | Entsprechend der Japanischen Konvention nenne ich im Folgenden zuerst den Nach- und dann den Vornamen des Künstlers. 4 | Mit Blick auf das vorherige Kapitel ist der Terminus, der eine zeitliche Abgeschlossenheit suggeriert ebenfalls mit Vorsicht zu betrachten. Vgl. Feldman: From a Nation Torn. Decolonizing Art and Representation in France, 1945-1962.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō)

Abb. 7 | Murakami Saburō, Passage (Tsūka, 1956).

Blitz des Fotografen hell ausgeleuchtete Leinwand ein, in deren unterer Hälfte ein gerissenes, annähernd menschengroßes Loch klafft. Die Perspektive des Fotos lässt gerade so die Staffelung weiterer durchlöcherter Leinwände dahinter erkennen. Die Struktur der Risse im ›Inneren‹, sowie seitlich heraushängende Papierfetzen erschweren das Zählen der einzelnen Schichten. Rechts im dunklen Hintergrund zeichnen sich vage Konturen weiterer Personen ab. Der Künstler selbst, im weißen Overall mit dunklem Gürtel und schwarzen Schuhen, befindet sich am linken Rand des Bildes im Laufschritt: den Oberkörper deutlich nach vorn geneigt, Kopf und rechte Schulter voran, hält er seine Arme nach hinten, dicht am Oberkörper und bewegt sich mit fast gestreckten Beinen von der Leinwand weg. Sein Körper wirft ebenfalls einen kräftigen Schlagschatten nach hinten, die weiße Kleidung ist vom Licht des Blitzes überstrahlt, beinah konturlos, während die etwas weiter entfernte Leinwand sichtbare Falten und Verwerfungen in der Oberfläche aufweist – die Lochränder und gerissenen Fetzen werfen ihrerseits dunkle Schlagschatten ins Innere des Gestells.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten

Aufgrund der Position und Haltung Murakamis scheint das Foto exakt jenen Moment festzuhalten, in dem der Künstler soeben aus der dunklen Tiefe der Löcher herausgetreten ist, die er gerade selbst produziert hat. Das Bild lässt sich so gesehen als ein Nachbild interpretieren: Murakami wird am Ende seiner Aktion, gewissermaßen im ›Auslaufen‹ schnappschussartig abgelichtet. Seine dynamische Pose, sein großer Schritt suggeriert dabei ein entschlossenes Hervorpreschen, dem ein kraftvolles Durchstoßen der Papierwände vorausgegangen ist. Gerade in diesem Moment, noch mitten im Lauf, zeigt das Bild eine überraschende ›Wendung‹: Murakami schaut sich um, sein Kopf ist nach links gedreht, die Torsion seines Oberkörpers bringt seinen Körper in eine instabile, einseitige Haltung. Murakami schaut nach hinten, an seiner linken Schulter vorbei in Richtung des Loches, bzw. der vielfachen durchlöcherten Papier-Schichten, die sich wie ein Tunnel neben ihm auftun. Murakamis körperliche Rückwendung betont des Status des Fotos als Nachbild: es faltet rückblickend das Narrativ seiner Entstehung in sich ein, es deutet Murakamis performative Aktion als eine ›transgressive‹ Vor-Geschichte an, in der sein Körper die Schichten von Leinwänden, wie es scheint mit dem Kopf voran durchstoßen musste,5 immer weitere Risse und Löcher erzeugend, um sich den Weg durch die vor ihm liegenden Papierwände zu bahnen und schließlich an den Punkt zu gelangen, an dem das Foto ihn jetzt zeigt, mitten in der Bewegung erstarrt. Auch auf die Gefahr des eigenen Stolperns hin, nimmt er durch seine Körper-Wendung im Ansatz bereits eine Betrachterhaltung ein: er erscheint bzw. inszeniert sich selbst als Künstler-im-Gehen und zugleich als Rezipient-im-Werden.6 Obwohl gerade erst aus dem durchbrochenen Gestell ›aufgetaucht‹ und vor der Linse erschienen, ist der Körper des Künstlers bereits fast schon wieder im Verschwinden begriffen, so als würde er in jedem Moment nach der Leinwand nun auch aus dem Foto links herauslaufen – sein rechter Fuß hat den Bild-Rahmen bereits verlassen. Es scheint so, als würde Murakami nach dem diegetischen somit auch den exegetischen Bildrahmen ›sprengen‹ wollen: Murakamis Körper bildet eine Art Schnittstelle, er selbst wird zum Vermittler zwischen den diegetischen ›Bild-Schichten‹ des Gestells und dem exegetischen Rahmen des Fotos. Wie eine vom leeren Zentrum ausgehende Welle trägt sein Körper die Bewegungen weiter 5 | Die Drehung des Kopfes offenbart dabei ein kleines Bändchen an seiner Brille, das diese beim Laufen und Durchberechen des Papierlagen festhalten soll – so erinnert dieses zugleich dezent an einen gewissen Widerstand des Materials und eine »resistance of the object« (Fred Moten). 6 | Das ästhetische Modell Heideggers gegenseitiger Hervorbringung von Werk und Künstler müsste somit um die Frage nach einer/einem Dritten, nämlich der/ dem Betrachtenden erweitert werden. Vgl. den Abschnitt »Latente Theatralität / theatrale Latenz der Rissfigur (Heideggers Ursprung des Kunstwerkes)« im vorliegenden Band, S. 117ff.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō)

nach außen und erzeugt in dieser, durch das Foto festgestellten Pose Resonanzen zwischen Innen und Außen, zwischen den gerissenen Wandungen der Löcher und dem exegetischen Rahmen des Fotos. Das Bild ist im Zusammenhang mit der zweiten Gutai-Ausstellung (Ohara Hall, Tokio, 11.-17. Oktober 1956) entstanden. Bereits im Jahr zuvor, 1955, hatte Murakami eine Serie von Leinwand-Durchbrechungen in verschiedenen Ausführungen begonnen, die später unter dem Titel »Paper-Breakings« zusammengefasst werden.7 Als erster früher Ansatz, quasi ein ›Vorläufer‹ der späteren Papier-Durchbrechungen, wird eine Aktion Murakamis im Rahmen der Experimental Outdoor Exhibition of Modern Art to Challenge the Midsummer Sun (im Ashiya Park, Hyōgo, 25. Juli – 6. August) aufgefasst, bei der der Künstler eine auf dem Boden ausgelegte Teerpappe im Darüberlaufen aufriss. Es folgte kurz darauf, am 18. Oktober 1955, eine erste serielle Papierdurchbrechung: Im Rahmen der ersten Gutai-Ausstellung in Tokio unter dem Titel Muttsu no ana (»Sechs Löcher«, gelegentlich auch unter dem Titel: Isshun ni shite rokko no ana o akeru – im Englischen oft übersetzt als »At One Moment Opening Six Holes«8) durchstieß Murakami, das erste Mal öffentlich, drei frontal voreinander fixierte, jeweils doppelt bespannte Papier-Leinwände unter größten Mühen insgesamt sechs Mal mit seinem Körper. Wie verschiedentlich kolportiert wurde, zog er sich bei der Aktion vermutlich sogar eine leichte Gehirnerschütterung zu.9 Es folgten später weitere Aktionen, wie das Durchlaufen singulärer Papierwände unter dem Titel »Entrance« – bezogen auf den Eingang der jeweiligen Ausstellungsräume (1955, sowie zwischen 1962 und 1993 etwa zwölf weitere Aktionen unter diesem Titel)10 sowie einer späteren Bühnenaktion unter dem Titel »Confronting Screens«, als integraler Bestandteil der Veranstaltung »Gutai-Kunst im Theater« (1957).11 Murakami durchlöcherte hierbei, zumeist mit dem Rücken zum Publikum gewendet, mit einem Schlaginstrument papierne Leinwände.

7 | Den besten Überblick über die Chronologie der »Paper Breakings« gibt der Katalog: Murakami, Saburō: Murakami Saburō: through the ’70s. Artcourt Gallery, 2013. S. 108ff. 8 | Schimmel, Paul: »Leap into the Void: Performance and the Object«, in: Schimmel, Paul und Stiles, Kristine (Hg.): Out of actions between performance and the object 1949-1979, London: Thames and Hudson, 1998. S. 17-120. Hier: S. 28. 9 | Vgl. Murakami: Murakami Saburō: through the ’70s. S. 67. sowie Osaki, Shinichiro: »Body and Place: Action in Postwar Art in Japan«, in: Schimmel, Paul und Stiles, Kristine (Hg.): Out of actions between performance and the object 1949-1979, London: Thames and Hudson, 1998. S. 121-158. Hier: S. 146. 10 | Vgl. u.a. Murakami: Murakami Saburō: through the ’70s. S. 68., sowie ebd. S. 109ff. 11 | Vgl. Ebd. S. 116.

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Das in der relativ kurzen Gutai-Phase (1954-1972) entwickelte Motiv des Durchlaufens, Durchstoßens und Einreißens von Leinwänden wurde für Murakami so im Laufe der Jahre, bei insgesamt nahezu 40 Anlässen, zu einer Art ›Signature Performance‹: Risse/Löcher als Resultate von kraftvollen Papierdurchbrechungen werden für Murakami zu einer Art ›Lebensthema‹, dessen Impuls, Durchschlagkraft und vielfältige Resonanzen sein weiteres malerisches Werk weitgehend in den Schatten stellt. In einem späten, vorletzten ›Re-Enactment‹ im Pariser Centre Pompidou, am 9. November 1994, wiederholt Murakami schließlich seine Aktion »Passage« nocheinmal im Rahmen einer großen Retrospektive.12 Drei Tage danach, am 12. November 1994, erfolgt die allerletzte Papierdurchbrechung, bezeichnenderweise unter dem Titel »Exit«, gut zwei Jahre vor seinem Tod. Aus diesen vielfältigen Wiederholungen und Re-Performances, die in ihrer vielschichtigen Anordnung und Durchführung zugleich Konzepte und Fragen von Re-Enactment, Re-Performance13 (und möglicherweise auch eines Pre-Enactment14) zur Debatte stellen, sollen im Folgenden ausgewählte Papierdurchbrechungen als ästhetisch radikale Aktionen kontextualisiert und mit Blick auf die spezifische Einbeziehung von Rissen/Löchern weitere Implikationen für die Zusammenhänge von Materialität, Körper- und Bildlichkeit dargelegt werden.

Die Gutai-Bewegung Zeitlich parallel zu künstlerischen Bewegungen, wie der im vorigen Kapitel erwähnte Gruppe der Neuen Realisten in Frankreich, sowie ihre Untergruppe, den mit Plakatrissen arbeitenden Affichisten, sucht in Japan eine Gruppe von bildenden – und ebenfalls zumeist jungen, männlichen – Künstlern, nach radikalen und neuen Darstellungs-, Ausdrucks- und Präsentationsformen. Murakami 12 | Vgl. den Abschnitt »Ma«/FIN: Letzte Wiederholung, ein Zögern« im vorliegenden Band, S. 294ff. 13 | Vgl. Jones, Amelia: »The Now and the Has Been. Paradoxes of Live Art in History«, in: Jones, Amelia und Heathfield, Adrian (Hg.): Perform, Repeat, Record: Live Art in History, Bristol: Intellect, 2012. S. 9-26. Hier: S. 15ff. 14 | Hierzu bemerkt Oliver Marchart: »In jüngster Zeit hat das populäre Performancegenre des Re-enactments eine zeitliche Umkehrung erfahren: das Pre-enactment. Im Pre-enactment werden zumeist Phänomene der Gegenwart mit Mitteln der Performance und des Theaters kritisch-explorativ in die Zukunft fortgeschrieben. In einem radikaleren Sinn, […] lässt sich Pre-enactment aber auch definieren als die künstlerische Antizipation eines künftigen politischen Ereignissen [sic!].« Marchart, Oliver: »Präfiguration und Pre-enactments. Politische und künstlerische Aktionsformen der Zukunft im Jetzt«, in: Excellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration. (Unversität Konstanz) Zugriff unter: https://www.exzellenzcluster. uni-konstanz.de/5521.html am 25.07.2018.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō)

fasst die Ansätze und Maßgaben des Gründers und geistigen ›Vaters‹ der Gutai Bewegung, Yoshihara Jiro,15 wie folgt zusammen: Für Jiro Yoshihara zählte weder die technische Vollendung eines Werks noch seine malerische Beschaffenheit. Ob im Werk sowie in seinem Herstellungsprozess Kreativität sichtbar wurde, war allein entscheidend. Der starke Wunsch, einem freien, risikobereiten Geist Ausdruck zu verleihen, war mit anderen Worten ausschlaggebendes Kriterium. Werken, die auch nur die leichteste Spur von Nachahmung zeigten, stand Yoshihara hingegen völlig gleichgültig gegenüber. Originäre, ungewöhnliche oder rätselhafte Arbeiten aber unterstützte er gegen jeden Widerstand.16

Die vom 1954 bis 1972 existierende Gruppe gibt sich den vollständig lautenden Namen Gutai Bijutsu Kyōkai (auf Deutsch anfangs etwas unspezifisch als »GutaiKunst-Vereinigung« übersetzt)17, wobei sich inzwischen häufig der Gebrauch der Kurzform eingebürgert hat: Gutai, wobei selbst dieser verkürzte Begriff in sich mehrdeutig bleibt: The name, chosen by the young artist Shimamoto Shōzō, the group’s secretary, was composed of two ideograms: gu (tool, or means) and tai (substance, or body); the word could be understood as either concrete or concreteness.18

Dass es bei den Gutai-Künstlern neben einer intensiven Auseinandersetzung mit den Grenzen und Möglichkeiten von Malerei immer auch zentral um die Frage nach der Rolle von Körpern in Prozessen ästhetischen Schaffens geht, wird in der üblich gewordenen Übersetzung des Gruppennamens als »Konkrete Kunst« jedoch häufig unterschlagen, wie Mariko Aoyagi hervorhebt: I would like to emphasize that the meaning of the name Gutai is ›embodiment‹; the pervasive translation of Gutai as ›concrete‹ will not be adopted here. […] It can be said that the translation does not reflect the original meaning of the 15 | Auch hier entsprechend der japanischen Konvention Nachname–Vorname. 16 | Murakami, Saburō: »Gutai ist Gutai«, in: Hülsewig-Johnen, Jutta und Kunstmuseum Düsseldorf (Hg.): Dada in Japan japanische Avantgarde, 1920 - 1970; eine Fotodokumentation. Kunstmuseum Düsseldorf, 18. Mai bis 26. Juni 1983, Düsseldorf: Kunstmuseum, 1983. S. 21-22. Hier: S. 21. 17 | Vgl. Shirakawa, Yoshio: »Gutais Anfänge«, in: Ebd. S. 23. 18 | Merewether, Charles: »Disjunctive Modernity. The Practice of Artistic Experimentation in Postwar Japan«, in: Merewether, Charles; Hiro, Rika Iezumi; Tomii, Reiko und Getty Research Institute. (Hg.): Art, anti-art, non-art: experimentations in the public sphere in postwar Japan, 1950-1970, Los Angeles: Getty Research Institute, 2007. S. 1-33. Hier: S. 7.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten name of the group. The kanji used to write ›gu‹ means tool, measures, and a way of doing something, while ›tai‹ means body. Shozo Shimamoto suggested this name on the basis that it included the character for body, and use of the body was crucial to the investigations of the group. Shozo Ukita and Shoichi Hirai both also translated ›gutai‹ as ›embodiment‹.19

Eine solche Ausblendung des Körpers in der Übersetzung des Gruppennamens, das latente Verschwinden des Körpers aus dem Diskurs, das wir in ähnlicher schon in Bezug auf die Philosophie Heideggers beobachtet haben, scheint hier eng mit Bedürfnis bzw. dem Problem der ästhetischen Kategorisierung verknüpft zu sein, d.h. einer Zuordnung der Arbeiten zu einem bestimmten künstlerischen Genre und damit auch der Bildung genealogischer Modelle. Das Kollektiv bildender Künstler experimentiert mit verschiedenen Aus- und Darstellungsformen, wie Präsentationen unter freiem Himmel, veranstaltet u.a. ein »Festival in the Sky« sowie verschiedene revueähnliche Abende auf Theaterbühnen.20 Für die zeitgenössischen Kritiker stellten die Aktionen der Gutai-Künstler*innen eine ästhetische und interpretatorische Herausforderung dar, als ein grundlegendes Problem der Kategorisierung, wie die Kunsthistorikerin Ming Tiampo feststellt: »Gutai faced perplexed critics, who for the most part ignored them«21 – sie ergänzt: »Not fitting into established categories, Gutai’s space- and time-based paintings were revolutionary, anomalous, and puzzling.«22 – Dieser Befund eines bemerkenswerten Befremdens gilt für die hier betrachteten Arbeiten Murakamis, wie ich argumentieren möchte, in besonderer Weise und dauert im Grunde bis heute an. Bei Murakamis Papierdurchbrechungen ist es, wie in vielen weiteren Aktionen von Gutai-Künstlern insbesondere eine Frage nach dem Körper in Bewegung und dessen Darstellbarkeit, die einen wiederkehrenden Ausgangspunkt bildet und den Fragehorizont bestimmt. Festhalten lässt sich als These vorab, dass die zu zeigende Vielschichtigkeit von Murakamis Aktionen verschiedene Dichotomien und klare Abgrenzungen im wörtlichen wie im übertragenen Sinne durchbricht: Sie entzieht sich, wie ich zeigen möchte, so beispielsweise einer klaren Opposition 19 | Aoyagi, Mariko: »Placing Gutai Within Traditional Japanese Art Through its Sensory Elements«, in: Modern Art Asia Nr. 3, 2010. Zugriff unter: http:///www. modernartasia.com/issue_3.html am 27. November 2011. 20 | Für einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Gutai Aktionen, Werke und Ausstellungen, Vgl. den Katalog aus Anlass der Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2013: Munroe, Alexandra; Tiampo, Ming und Jiro, Yoshihara (Hg.): Gutai splendid playground. New York, NY: Guggenheim Museum Publ., 2013. 21 | Tiampo, Ming: Gutai: decentering modernism. Chicago, London: The University of Chicago Press, 2011. S. 11. 22 | Ebd. S. 51.

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von ›westlichen‹ gegenüber sog. ›asiatischen‹ Motiven (sie enthält und negiert in gewissem Sinne beides) sie durchbricht aber auch spielerisch eine dichotome Gegenüberstellung von darstellender Kunst im Sinne einer primär ephemeren Form versus bildender Kunst als Produktion bleibender, archivierbarer Objekte. Diese Betonung einer Vielschichtigkeit und deren Durchbrechung geschieht bei Murakami einerseits durch seinen extremen physischen Einsatz als auch andererseits, aufgrund der weniger offensichtlichen, multiplen (inter-)medialen Referenzen, die hier im weiteren Verlauf näher betrachtet werden sollen. So, wie die diversen Aktionen der Gutai-Bewegung bisher weitgehend aus einem Verständnis experimenteller Malerei interpretiert wurden – bleibt die bildende Kunst auch für die performativen Aktionen Murakamis häufig der bevorzugte Interpretationsrahmen, wobei dadurch gerade die ›Vielschichtigkeit‹ sowie die räumliche (und damit einhergehend die hermeneutische) ›Tiefe‹ der Aktionen übersehen werden. In vielen Texten und Untersuchungen zu der Arbeit Murakamis wurden zunächst ›reflexartig‹ die Action-Paintings Jackson Pollocks als Vergleich herangezogen, wobei schnell deutlich wird, dass die Interpretation der Aktion Murakamis vor dem Hintergrund von Malerei – auch im Sinne des Action Painting – deutlich zu kurz greift. Dies wird besonders auffällig, wenn beispielsweise die Kunstwissenschaftlerin Joan Kee zur Papierdurchbrechung formuliert: »Murakami became the medium that made the mark; he became the ›paint‹ of his painting when he ran through his walls of paper.«23 Während (oder gerade weil) Kee jedoch selbst in ihren Betrachtungen einen deutlichen Akzent auf das Hinterlassen von materiellen Spuren setzt, ließe sich gegen ihre Argumentation einwenden, dass Ihre Betrachtungen zu eng an einem Verständnis der Aktionen im Kontext von Malerei verhaftet bleiben und performative Aspekte nur ungenügend beleuchten.24 Paul Schimmel, Kurator der Ausstellung »Out of Actions«25 betont hingegen insbesondere bei Murakami die relative Zweitrangigkeit der Produktion eines dauerhaft bleibenden Objekts; erwähnt in seiner Beschreibung die Produktion von Rissen und unterstreicht desweiteren den spezifischen kulturellen Entstehungskontext Japans:

23 | Dennoch weist Kee zurecht darauf hin, dass bei genealogischen Interpretationsmodellen, wie z.B. a) Gutai als Nachfolger Pollocks, b) Gutai als Vorläufer Kaprows, bzw. c) Gutai als »Brücke« zwischen beiden, ein spezifisch japanischer Kontext der Arbeiten unterschlagen wird. Kee: »Situating a Singular Kind of ›Action‹: Early Gutai Painting, 1954-1957«. S. 138. 24 | Ebd. S. 123. 25 | Die Ausstellung mit Fokus auf die Beziehung von Aktions- und Objektkunst insbesondere in den Jahren 1949-1979 wurde 1998 am The Geffen Contemporary at The Museum of Contemporary Art, Los Angeles gezeigt.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten He [Murakami] created picture planes and environments made of paper, which he hurled himself through in skilled reference to the Japanese martial-arts tradition. These performative actions resulted in a residue (ripped paper) that would remain on view for the duration of the exhibition in which they were presented, after which this residue was destroyed. Instead of producing objects for posterity, Murakami thus chose to create works anew for each exhibition.26

Einen noch stärkeren Gegenpol zu dem ›malerischen‹ Verständnis der Aktionen bildet eine Lesart Rebecca Schneiders, welche diese – quasi in Vorgriff auf zentrale Argumente ihrer Untersuchung Performing remains – gänzlich vor dem Hintergrund performativer bzw. theatraler Dispositive situiert.27 Sie schreibt über das oben gezeigte Foto: In the afterlife of the document, Murakami appears to »burst« toward the viewer, as if entering the scene. The exuberant rupturing of the screen(s), however, not only enabled the entering of the painter as »self,« but, in making the canvas a theater curtain, enabled the opposite move […]: the exit of the artist.28

Während sowohl die Auffassung des Künstlers als »personifizierte Farbe« (Kee) als auch der gerissenen Leinwände als Theatervorhang (Schneider) für sich genommen jeweils zu ›ein-dimensional‹ bleiben, weisen die zitierten Autorinnen mit ihren Formulierungen implizit auf die Schwierigkeit der Beschreibung von Aspekten der Transformation und des künstlerischen Perspektiv- bzw. Rollenwechsels hin. Wie sich andeutet, sind diese Prozesse des Übergangs eng mit theatralen, performativen, und wie ich argumentieren möchte, erweiterten 26 | Schimmel: »Leap into the Void: Performance and the Object«. S. 27f. Diese Ausführungen beziehen sich klar auf die frühen Aktionen Murakamis. Das entstandene Objekt der Aktion Passage am 8. November 1994 im Centre Pompidou wurde sorgefältig konserviert als Teil des Sammlung des Museums aufbewahrt. 27 | Schneider verbindet in ihrem Aufsatz die Frage nach der notwendigen Wiederholung kritischer Positionen gegenüber einer Idee des Singulären, seiner Verbindung zum Ursprungsdenken und zum Topos der Originalität mit der programmatischen Frage nach Wiederholung und Wiederholbarkeit in Theater und Performance im Kontext eines erstarkenden Konservatismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts – und den damit verbundenen Debatten um ›legitimate/illigitimate histories‹. Vor diesem Hintergrund situiert sie Murakami als Vorläufer/Vorbild einer Aktion Jim Dines im Jahre 1960, der – als ironische Geste gegen Jackson Pollock und Ives Klein – nach dem Trinken von Farbe, den Farbeimer über den Kopf geschüttet hat und durch ein als Leinwand aufgespanntes Bettlaken gesprungen ist. Vgl. Schneider, Rebecca: »Solo Solo Solo«, in: Butt, Gavin (Hg.): After Criticism: New Responses to Art and Performance, Malden, MA: Blackwell, 2005. S. 23-47. Hier: S. 34f. 28 | Ebd. S. 35.

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medialen Dispositiven verwoben. Die Kunsthistorikerin Ming Tiampo beschreibt diese fragile Zwischen-Position der Gutai-Kunst als eine Art Schwellenphänomen – insbesondere mit Bezug auf Murakamis Schaffen: Murakami pushed Gutai’s challenge to the flat Abstract Expressionist canvas further than any of his peers. […] Murakami’s breach transformed the canvas as limit into the canvas as threshold, opening the realm of painting to include time and space.29

Neben der anhaltenden, grundsätzlichen Schwierigkeit einer Kategorisierung der Aktionen muss im Falle der Gutai-Gruppe, und bei Murakami im Speziellen, zudem die Bildung genealogischer Modelle auch aus transkultureller Sicht kritisch gesehen werden, wie Tiampo unterstreicht: [H]ow is it that Gutai is considered derivative of Jackson Pollock, but Pollock not derivative of Wassily Kandinsky or André Mason? What is the difference between derivation and family resemblance? Is it possible to move beyond analytical terms such as originality, influence and derivation that remain embroiled in discourses of domination?30

Während die schwierige, jedoch von Yoshihara selbstgewählte und seinen Schülern verordnete Kategorie der ›Originalität‹, so einerseits komplexe mit dem SchülerLehrer-Verhältnis verbundene kulturspezifische Machtfragen aufwirft, beinhaltet der Terminus andererseits übergeordnete kultur-imperialistische Implikationen, die es für Tiampo zu durchbrechen gilt: »Finally and most importantly, how do we construct another set of analytical terms that would allow us to write a global history of modernism?«31 Tiampo weist dabei auf die wiederkehrende, gleichfalls zu einseitige Zuschreibung von einem Klischee des ›authentisch‹ Japanischen innerhalb der Gutai-Kunst durch verschiedene Kritiker hin, die dem aktiven Bestreben der Gruppe nach internationaler Vernetzung und Sichtbarkeit nicht gerecht wird: »Despite Gutai’s conscious internationalism, the group has been consistently reinscribed by critics, scholars, curators, and collectors into a Japanese history of art.«32 Die Komplexität der Frage nach den internationalen Beziehungen der Gruppe zeigt sich besonders markant an den polarisierten Bewertungen des Einflusses von Michel Tapié, dem französischen Kritiker und Kurator, auf die Gutai-Gruppe und dessen Beziehung zu deren Gründer Yoshihara:

29 | Tiampo: Gutai: decentering modernism. S. 25. 30 | Ebd. S. 6. 31 | Ebd. 32 | Ebd.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten The relationship [between Tapié and Yoshihara] was denounced as a corrupting force that had led Gutai artists astray from its Japanese roots by introducing the group to European markets, thereby encouraging Gutai artists to trade paper supports for canvas and to privilege gestural abstraction over other, more experimental forms such as performance.33

Tiampo versucht gegenüber der Sichtweise eines einseitigen Einflusses »the encounter between West and non-West as a two-way exchange«34 zu begreifen, ohne jedoch die vorherrschenden Asymmetrien dieses Austausches zu vernachlässigen – und geht damit über das Said’sche Konzept von Orientalismus hinaus: Although the concept of Orientalism describes, how the West responded to the non-West by portraying it as passive and unchanging while using it as source of inspiration or ›raw materials‹, it does not address how the non-West responded to the West, or how those response in turn were received.35

In dieser Weise verkompliziert und überschreitet Tiampo die in der postkolonialistischen Darstellung üblich gewordene Kritik am eurozentristischen Bild der »Moderne« und stellt dieser am Beispiel der Gutai-Gruppe eine »transnational history of modernism«36 entgegen. Vor diesem Hintergrund wären die selbstgesteckten Ziele der Gutai-Gruppe, der postulierten Suche nach »Originalität«, eine Haltung, die sich explizit gegen die jegliche Formen von Wiederholung und Mimesis richteten und jegliche mimetische Ansätze des Gründers und Gruppenleiters Yoshihara recht rigide im Ansatz unterdrückt und sanktioniert wurden, kritisch neu zu betrachten und verstärkt nach den komplexen künstlerischen bzw. medialen Bezügen – im Gegensatz zu künstlerischen Einflüssen – zu fragen. Murakamis Arbeit scheint, wie ich argumentieren möchte, dem Anspruch nach unbedingter Originalität in einem doppelten Sinne zu »ent-springen«37: Murakami erhält seinen wesentlich künstlerischen Impuls so zwar einerseits aus Yoshiharas Forderung, jedoch verkörpern und verkomplizieren seine Aktionen diesen Anspruch nach Originalität andererseits durch die komplexen, vielschichtigen Bezüge zu diversen Vor- und Nachbildern. Dies gilt sowohl in Bezug auf

33 | Ebd. 34 | Ebd. S. 5. 35 | Ebd. S. 6. 36 | Ebd. 37 | In ähnlicher Weise wie sich Heideggers eingeführter Riss-Begriff zur Frage nach einem möglichen künstlerischen »Ursprung« verhält, vgl. den Abschnitt »Entspringen des Risses aus der Latenz aus / in der Wiederholung« im vorliegenden Band, S. 143ff.

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mediale Referenzen sowie die inhärenten Verschachtelungen von Differenzen/ Wiederholungen, durch (und innerhalb) des von ihm verwendeten medialen Settings und der performativen Strategien. Das Interesse der vorliegenden Untersuchung an der Arbeit Murakami Saburōs besteht somit weder darin, genealogische Fragen zu vertiefen, noch eine Frage der künstlerischen Gattung abschließend zu bestimmen, sondern eher darin, die Raster der bisher angelegten interpretatorischen Kategorien deutlich zu erweitern. Die Stärke der hier besprochenen Arbeiten, Murakamis Papierdurchbrechungen, liegt bis heute gerade darin, dass sie sich einer eindeutigen Gattungszuweisung widersetzen, d.h. weder eindeutig den ›visual arts‹, noch allein einem performativen bzw. theatralen Paradigma zuzuordnen sind – u.a. bedingt durch die relativ kurze Dauer der Aktion selbst und die spezifische Form der zerrissenen, durchlöcherten Objekte als ›Bilder‹. Es wird vielmehr die grundlegende Frage aufgeworfen, ob wir überhaupt noch bzw. schon von Bildern im eigentlichen (oder uneigentlichen) Sinne sprechen können. Im Falle Murakamis wird, wie ich argumentieren möchte, die Bildlichkeit der aufgestellten Leinwände durch die spezifische Form ihrer komplexen künstlerischen und performativen Anordnung und der darin/dadurch ›aufgeworfenen‹ Rissfiguren zutiefst in Frage gestellt. Murakamis Arbeiten entfalten ihre anhaltende Faszination gerade aus ihrem anhaltend uneindeutigen Zwischenstatus, ihrem An-der-Schwelle-Bleiben bzw. ihres wiederholten Schwellen-Durchbrechens und Überschreitens, ihrer mehrfachen Grenzverletzung, der Betonung ihrer Moment- und Ereignishaftigkeit von Übergängen sowie dem Aufsprengen von eindeutigen (oder dichotomen) Zuschreibungen.

Gestellte Bilder (Nachbild II) Ein anderes Bild der Aktion, das dem oben gezeigten sehr ähnlich ist, erscheint zunächst aus einem früheren Moment der ›Foto-Sequenz‹ zu stammen, welche die Aktion Murakamis dokumentiert. Bei genauerem Hinsehen erweist sich das Bild jedoch als ein ›Nachbild‹ – im doppelten Sinne. Anders als es scheinen könnte, handelt es sich bei dem zweiten Bild, nicht um einen unmittelbaren »Schnappschuss« während – bzw. am Ende der öffentlichen performativen Aktion selbst, innerhalb die Löcher/Risse in den Leinwänden entstanden sind, sondern, wie ich zeigen möchte, um ein im Nachhinein ›gestelltes‹ Bild, eine Re-inszenierung, ein Re-Enactment der Aktion fürs Foto. Obwohl die genauen Umstände der Entstehung in schriftlichen Berichten wenig belegt sind, bestätigt die Gegenüberstellung der beiden hier gezeigten Bilder, die These des ›gestellten‹ Fotos, im Sinne einer nachträglichen Re-inszenierung. Während das untere Bild auf den ersten Blick ein früheres Stadium des Durch-

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laufens wiederzugeben scheint,38 wurde bei genauer Betrachtung der Risse, die vordere Leinwand ausgetauscht (die vordere Leinwand des unteren Bildes steht offenbar im oberen Bild in zweiter Reihe). Es handelt sich augenscheinlich nicht um zwei Schnappschüsse im Verlaufe einer Aktion, sondern relativ deutlich um zwei verschiedene »Durchläufe« (im oberen, scheinbar späteren Bild »fehlt« der Riss in der Leinwand zur linken Seite hin). Die singuläre, spezifische Form der einzelnen Risse macht die Leinwände unterscheidbar und gibt rückblickend Auskunft über den Ablauf der verschiedenen Aktionen und Stufen der Wiederholung. Während sich das montierte Gestell sich hier als Anordnung also wandelbarer erweist, als dessen montierte Gestalt vermuten lässt, muss der dokumentarische Charakter der Fotos, der Grad und Status ihrer Zeugenschaft kritisch hinterfragt werden. Betrachtet man die Bildsequenz eines anderen Fotografen, Otsuji Kiyoji, der ebenfalls bei der selben Aktion zugegen war, wird ein kleiner ›Unfall‹ am Ende der Aktion erkennbar. Es zeigt sich hier, dass anscheinend das Papier der vordersten Leinwand dem sich dagegenstemmenden Körper Murakamis zu viel Widerstandstand geboten hat. Statt in der Fläche einzureißen hat augenscheinlich der Rahmen des Gestells nachgegeben und, wie sich in der nummerierten Bilderfolge (Abb. 10, Bild Nr. 33) erkennen lässt, ist daraufhin die ungerissene Leinwand also solche zur Seite ›aufgeklappt‹ – zur Überraschung des staunenden Künstlers und zur Freude der anderen Anwesenden (Abb. 10, Bild Nr. 34). Als Reaktion auf diesen unvorhergesehenen kleinen ›Zwischenfall‹ kam es daraufhin vermutlich zu einer Art Bild-Wiederholung, einem (Nach-)›Stellen‹ der Szene, einer Form der (Re-)Inszenierung, die so den sehr bewussten Umgang der Gutai-Künstler*innen mit unterschiedlichen ›Medien‹ und zugleich den Stellenwert der Fotografien an sich für Murakami verdeutlicht. Zum anderen zeigen sich hierin weitere Layer in der ›eingehenden‹ Beschäftigung Murakamis mit Prinzipien der Wiederholung auf verschiedenen medialen Ebenen, die in ihrer Form latent an theatrale Probenarbeit erinnern, jedoch weniger auf eine abschließende »Aufführung« abzielen, sondern eher Aufschluss geben über die kontinuierliche mediale Reflektion als Form der ›Durchdringung‹ und Weiterentwicklung der eigenen Thematik und künstlerischen Tätigkeit. Am Rande geht somit auch um die kritische Auseinandersetzung mit dem Medium der Fotografie selbst, wie sich jenem Setting zeigt, in dem das durchlöcherte Leinwand-Gestell ursprünglich in der Galerie präsentiert wurde, nämlich zusammen mit einem anderen Foto des ›unverletzten‹, undurchdrungenen Objekts als einer Art ›Vor-Bild‹, wie Joan Kee berichtet: »These holes were displayed in conjunction with photographs of the pristine, untouched canvas; there was

38 | Joan Kee zeigt die Bilder in entsprechend umgekehrter Reihenfolge.

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Abb. 8 und Abb. 9 | Gegenüberstellung zweier »Exits«: Murakami Saburō, Passage (Tsūka, 1956).

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Abb. 10 | Murakami Saburō beim Durchlaufen des Leinwandgestells.

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a before-and-after effect that underscored the sequential nature of the work.«39 Bezeichnenderweise scheint die Juxtaposition des Gestells und dem Foto des unverletzten Gestells auf keinem Foto festgehalten worden zu sein. Mit den oben gezeigten ›gestellten‹ Bildern gerät eben diese logisch erscheinende Reihenfolge und Sequenzialität zumindest teilweise ins Wanken. In ihrer Zusammenschau erzählen die für das Time Magazine gestellten Fotos mit der nummerierten Sequenz der Fotos Otsuji Kiyoji somit eine etwas andere Geschichte. Die hier vorgeschlagene Re-Lektüre soll jedoch keineswegs eine ›wahrere‹ Geschichte in den Vordergrund stellen, vielmehr geht es in diesem Kontext um die (unsichtbaren) Lücken, Rahmen und Leerstellen welche diese und jegliche Fotos notwendigerweise mit sich bringen – in ihrer Gegenüberstellung mit anderen Dokumenten beginnen diese häufig, latent differente Geschichten, z.B. die kleiner ›Unfälle‹ am Rande zu erzählen – und neue Lücken hervorzubringen. Die nachträglich gestellten Bilder sollen so als Bestandteil und Fortschreibung des Gestells Murakamis betrachtet werden, die Aktion des Durchbrechens prä-figuriert durch ihre Anordnung das spätere Bilder-Stellen: Das oben zuerst betrachtete ›Nachbild‹, das sich zugleich als ›Vorbild‹ für das gestellte zweite Foto erweist, zeigt demgegenüber eine Momentaufnahme, die den kleinen ›Zwischenfall‹ als einen fragilen Zwischenzustand einfängt und in der Schwebe hält, ein dynamisches Zwischenbild, eingefroren im Moment der (Über-)Belichtung.40 Während der Künstler auf die in seinem Lauf durchbrochenen Bildschichten wie in einen Zeittunnel zurückschaut, konfiguriert das Foto, aus seiner immer schon vergangenen Perspektive, neben dem Rückblick auf mögliche Vor-Bilder zugleich eine Voraus-Schau: Was, so scheint das Foto wie auch die aufgebrochenen Leinwände zu denen sich Murakamis zurückwendet, zu fragen, wird zurückbleiben, wenn der Künstler verschwindet, was bleibt im kommenden Danach nach dem »exit of the artist«?41 Ein anderes Bild bestätigt die rückblickende Reflexion und kontinuierliche Arbeit an dem Format der Papierdurchbrechungen und ihre vielfältigen Ausführungsformen.Beinahe scheint das Bild unseren heutigen Blick auf es zu antizipieren: was wird Murakami zurückgelassen haben – was wird zurückgeblieben sein? Welchen Status wird das durchlöcherte, zerrissene Leinwand-Gestell ohne den Künstler haben? In welchem Verhältnis stehen Foto und zerrissenes

39 | Kee: »Situating a Singular Kind of ›Action‹: Early Gutai Painting, 1954-1957«. S. 138. Leider fehlt bei Kee die Quellenabgabe zu dieser Beobachtung. 40 | Zum Prinzip der Überbelichtung durch das Blitzlicht in Fotografie als Allegorie einer »Aporie der Moderne« in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Ivy, Marilyn: »Dark enlightenment: Naitō Masatoshi’s flash«, in: Photographies East: the camera and its histories in East and Southeast Asia, 2009. S. 229-257. 41 | Schneider: »Solo Solo Solo«. S. 35.

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Abb. 11 | Murakami Saburō innerhalb seines Leinwandgestells, mit Yamazaki ­Tsuruko (im Hintergrund rechts).

Leinwand-Gestell heute zueinander? Ist das Verschwinden des Körpers als Thema vielleicht bereits von vornherein in der spezifischen Anordnung der Leinwände als ›Gestell‹ angelegt? Als ›Nachbilder‹ erzeugen die obigen Fotos so zugleich weitreichende Resonanzen, indem sie Fragen nach ihren eigenen Vor-Bildern aufwerfen. Dieser Spurensuche nach medialen ›Vorläufern‹ jenseits der Malerei, soll im Folgenden weiter nachgegangen werden.

Vor-Bilder/Zwischenspiele: Entr’acte (1924) Für seine Aktionen »Entrance« bzw. die späteren Aktionen »Exit« hatte Murakami Saburō bei verschiedenen Gelegenheiten eine einfache, im Türrahmen von Galerie bzw. Museum aufgespannte Papierwand durchlaufen und mit dieser Geste nicht nur einen ironischen Kommentar zu den ›Schwellen‹, den ›Zugangs-

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voraussetzungen‹ und ›-beschränkungen‹ (sowohl für Kunstschaffende als auch Besuchende) gemacht,42 sondern knüpft mit seiner Aktion der Durchbrechung einer singulären Leinwand zugleich an eine kurze, jedoch markante Szene aus der frühen, experimentellen Zeit des im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert aufkommenden Films an. Dieser filmgeschichtliche Vorläufer, ein augenscheinliches Vor-Bild43 für Murakamis Aktion, findet sich ganz am Ende des 1924 uraufgeführten avantgardistischen Kurzfilms Entr’acte von Rene Clair. Wie der Titel bereits vorausschickt, handelte es sich bei dem Film selbst um einen Zwischenakt, ein Zwischenspiel oder Pausenfüller innerhalb des Balletts Relâche, 1924 aufgeführt vom Ballet Suedois unter der Leitung von Jean Börlin zu Musik von Erik Satie.44 Der Film führt mit großer visueller Experimentierfreude den ironischen Gestus dieses, wie Gabriele Brandstetter schreibt, »Antiballets« fort, dessen Titel Relâche sich im Französischen bereits als Hinweis auf das Ausfallen einer Aufführung (miß-)verstehen lässt, die ihrerseits auf einer Makroebene die »Annihilierung des gewohnten theatralischen Rahmens« und das Prinzip »Interruption« darstelle – worauf schließlich der Filmtitel Entr’acte anspielt.45 Der Zwischen-Film setzt so innerhalb einer übergeordneten szenischen Unterbrechung (nämlich während der Theaterpause) wiederum selbst verschiedene mediale Unterbrechungen in Szene und reflektiert dadurch zugleich mit verschiedenen filmischen Mitteln seine eigene »Position« innerhalb des übergeordneten (inter-)medialen Rahmens: Die Unterbrechung des szenischen Textes durch den Film, die gegenseitige Brechung und die konfligierende Disjunktion der Medien Tanz, Theater und

42 | Ein Kurzfilm zeigt Murakami beispielswiese bei seiner Wiederholung der Aktion »Exit« und letzten Papierdurchbrechung überhaupt, am 12. November 1994, wo er bereits vor dem Durchbrechen der im Türrahmen aufgespannten, bemerkenswert leichten Papierwand, theatralisch seinen Hut aufsetzt. Vgl. https:// youtu.be/SNqexv5mRvQ, zueltzt besucht am 13. April 2018. 43 | Zeitlich gesprochen handelt es sich in jedem Falle um ein Vor-Bild. Ob Murakami diesen Film persönlich gekannt hat, ließ sich nicht bestätigen. Die Einflüsse europäischer Avantgarde-Filme auf japanische Film- und Kulturschaffende ist jedoch vielfältig, vgl. Gerow, Aaron Andrew: Visions of Japanese modernity: articulations of cinema, nation, and spectatorship, 1895-1925. Berkeley: University of California Press, 2010. Häufig sind, wie Ming Tiampo bestont, diese Einflüsse jedoch zu einseitig bewertet. Vgl. Tiampo: Gutai: decentering modernism. 44 | Eine Choreographie von Jean Börlin mit dem Ballet Suedois nach dem Libretto von Francis Picabias mit Musik von Erik Satie, uraufgeführt am 4. Dezember 1924 in Paris. 45 | Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1995. S. 507.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō) Film realisiert in der Großstruktur von Relâche das stroboskopische Prinzip, das auch die Struktur der Mikroebene trägt.46

Als zentrale Strukturelemente des Stückes nennt Gabriele Brandstetter dabei Fragmentierung, Partikularisierung, Mechanisierung und das wiederkehrende Prinzip der Auslöschung im Rahmen verschiedener Alternationen von Verschwinden und Wiederkehren. Der übergeordnete Einbettungs-Rahmen des Balletts lässt sich dabei – andersherum – zugleich als eine Übertragung von Medientechniken auf den Körper betrachten: Im Vordergrund stand, wie Brandstetter schreibt, bei Relâche das Prinzip des »Instanteismus«, welcher als Wahrnehmungskonzept »das stroboskopische Prinzip der Medientechnik (Chronofotographie, Kinematographie) auf die Inszenierungs- und Körper-Technik« übertrage.47 Entr’acte operiert ähnlich und entfaltet somit verwandte ästhetische Motive aus filmischer Perspektive: Der Film ist ein ständiges Spiel mit Sicht- und Unsichtbarkeit von Körpern, in dem Dinge und Menschen vermittels Schnitttechnik plötzlich zum Erscheinen gebracht werden oder sich ›in Luft‹ auflösen. Der Film zeigt in verschiedenen Sequenzen geisterhaft bewegte Objekte (eine Kanone, einen Sarg, Menschen), die vermittels Stop-Motion-Technik realisiert bzw. bewegt werden, d.h. der Film verwendet Bild-Sprünge, sog. jump-cuts, welche einzelne Bewegungsschritte ausblenden, während die verbleibenden Bilder elliptisch zu neuen film-diegetischen Bewegungen zusammengesetzt werden. Die letzte Szene von Entr’acte greift auf noch einen weiteren, buchstäblichen, Bild-Sprung48 zurück und bringt diesen als spielerischen Angriff auf die Leinwand (als exegetisches Element des Film-Dispositivs) selbst in Stellung: Ein aus einem Sarg entstiegener ›Taschenspieler‹49 (Jean Börlin) zaubert zunächst die staunenden Beobachter*innen um sich herum einzeln aus dem Bild, um schließlich – als filmisches Finale – selbst von der Bildoberfläche in einem fade out (an Stelle des üblichen fade to black) zu verschwinden. Ein ironischer Kommentar zur Rolle des Filmregisseurs, wie es scheint: seine Figur erscheint zugleich, ganz formell, 46 | Ebd. S. 457. Mit Jalal Toufik ließe sich an dieser Stelle erneut von »subtle bodies« sprechen, die signifikant andere Qualitäten als physische, lebendige Körper zu haben scheinen. Vgl. Toufic: »Subtle Dancer«. S. 2. 47 | Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. S. 507. 48 | Ein dreifaches Prinzip des Bild-Sprunges erläutert Gabriele Brandstetter als das »Verhältnis von Bild und Bewegung, von stasis und kinesis im Wechsel unterschiedlicher Medien«; als »die Bildlichkeit der Bewegung im Bild, ein Wechsel in der Dynamik der Bewegung, ein Bruch, ein Riss« sowie als »die Unterbrechung, die sich im Übergang der Medien zeigt: Das Bild springt.« Vgl. Klappentext von Brandstetter: Bild-Sprung: TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien. 49 | Im Abspann aufgeführt als »Le prestidigitateur«, Vgl. http://www.imdb.com/ title/tt0014872/fullcredits/?ref_=tt_ov_st_sm, zuletzt besucht am 13. April 2018.

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als visueller ›Dirigent‹, seriöser director of photography, aber auch als Trickster und verspielter Zampano. Während daraufhin bereits in großen Lettern »FIN« auf weißem Hintergrund als Ankündigung des Film-Endes zu lesen ist, reißt plötzlich die Leinwand wieder auf – als Verwirrspiel zwischen gefilmter, diegetischer Leinwand und der materiellen Leinwand im Theater: ein weiterer Mann im Anzug, vielleicht ein Dirigent, (vermutlich handelt es sich um Roger Désormière, der Dirigent des Stückes Relâche) kommt, als eine Art Ins-Auge-springendes-Postscriptum wieder zurück ins Bild – und zwar in Zeitlupe.50 Das Ende des Filmes wird durch den filmisch verlangsamten Sprung und resultierenden Leinwandriss unterbrochen, verzögert, suspendiert. Hinter der diegetischen Leinwand werden durch ihre flatternden Fetzen hindurch die Dächer des (vermutlich Pariser) Stadtraums sichtbar. Schnitt. Es folgt eine weitere Volte: Am Boden liegend erhält der Dirigent in einer neuen Einstellung einen Tritt gegen den Kopf, woraufhin sich die Laufrichtung des Films umzukehren scheint und er rückwärts wieder in die sich vor ihm wieder verschließende Leinwand zurückkatapultiert wird. Ein ›Umkehrschluss‹ im wörtlichen Sinne: der Film kehrt quasi zurück zu seinem vorherigen Schluss, er kommt erneut zu dem selben Bild, dessen Doppeldeutigkeit, als diegetisches und exegetischen Bild sich offenbart und wieder verschließt. Die Risse und Leinwand schließen sich wieder, so wie es nur mit filmischen Mitteln möglich ist, und erscheinen dabei, paradoxer Weise zugleich ähnlich einem Theatervorhang: different und zugleich Differenz markierend. Das Heraustreten und -springen aus der Leinwand, das Spiel mit der möglichen Durchbrechung ihrer Zweidimensionalität ist seit Beginn der laufenden Filmbilder somit eine zentrale Faszination und ein wiederkehrender Filmtopos.51 Während die frontal gefilmte und wiederum projizierte Leinwand für Kinozuschauer*innen zunächst als weiße Fläche erscheint, somit ›unsichtbar‹ ist, wird in Entr’acte durch ihr abschließendes Aufbrechen, den vom Körper erzeugten Riss, der Film als Film ausgestellt und spielt zugleich mit der Illusion einer Raumtiefe, welche 50 | Diegetische und exegetische Leinwand, beide eigentlich unsichtbar, werden durch ihr aufreißen zur doppelten Sichtbarkeit gebracht und zugleich kaschieren sie sich erneut gegenseitig. Die Parallele zum doppelten, expliziten und impliziten, sich gegenseitig verdeckenden Vorhängen vor dem Tempel in Jerusalem und ihr uneindeutiger Riss im Todesmoment Christi drängen sich abermals auf. Vgl. den Abschnitt »Der Tod Jesu / Riss des Tempelvorhangs« im vorliegenden Band, S. 128ff. 51 | Angefangen bei der sagenumwobenen Szene einer frühen Projektion des Films L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat (1895) der Brüder Lumière, oder beispielsweise dem aus der Leinwand heraustretenden Protagnoisten in Woody Allens The Purple Rose of Cairo (1985).

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Abb. 12 | Schlusssequenz aus Entr’acte, Screenshots (1924, Regie: René Clair).

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einen zentralen Bestandteil des kinematographischen Dispositivs bildet.52 Mit dem und durch den Film zeigt sich der Riss filmisch als etwas Umkehrbares, seine unwiderrufliche materielle Faktizität wird in der Umkehrung seiner Bewegung in Frage gestellt, wenn nicht sogar suspendiert. Das Spiel mit und ›zwischen‹ filmischen und theatralen Ausdruckmitteln, der Übertragung von Stilmitteln von einem medialen Dispositiv ins andere kulminiert hier am Ende der vom Film ursprünglich ausgefüllten Theater-Pause und am Übergang zum zweiten Teil des Balletts in einer spielerischen Geste, welche die filmische Leinwand aufreißt (bevor sie sie mittels Umkehrung der filmischen Laufrichtung wieder zusammenfügt) und so zunächst dem wieder aufgehenden Vorhang des Balletts symbolisch vorgreift – und ihn zugleich noch ein Stück hinauszögert, zeitlich verschiebt. Der Film ›stiehlt‹ sich in seinem Rück- bzw. Vorgriff auf theatrale Mittel noch etwas Zeit und verlängert so den Moment der Unterbrechung, den er zugleich mit dem ihm umgebenden theatralen Rahmen teilt. Im Gegensatz zum harten filmischen Schnitt zeigt sich im filmischen Motiv des Risses dessen besondere Qualität: eine Zeitlichkeit des Hinauszögerns, der Latenz und Unterbrechung, des unerwarteten Weiterreißens und WiederVerschließens, der Aussetzung kontrollierter, zeitlich fest geregelter Abläufe. Der Riss fungiert als eine Figur des Übergangs zwischen den unterschiedlichen Medien, zugleich erweist er sich als ein Spiel der Verzögerung und Suspension eben dieser Übergänge zwischen unterschiedlichen Darstellungsformen. Gabriele Brandstetter merkt hierzu an, dass Fernand Léger, der Regisseur des avantgardistischen Films Ballet Mécanique (1924) in einer Rezension von Relâche das Stück als Bruch mit dem traditionellen Ballett feiert, er spricht hier wörtlich von einem Bruch als Riss: »La rupture, la cassure, avec le ballet traditionnel«53 und,

52 | Mit der Umkehrung der Filmrichtung am Ende von Rene Clairs Entr’acte ist ein weiteres zentrales Filmprinzip aufgerufen und zugleich konterkariert, nämlich das sequentielle, gleichmäßige Ablaufen der filmischen Einzelbilder als Durchschnittsbilder, die Deleuze von einer antiken Vorstellung von herausgehobenen Momenten (ähnlich tänzerischen Posen) unterscheidet, vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989. S. 16ff. Entr’acte spielt hier mit einer weiteren spezifisch filmischen Suggestion, nämlich der möglichen Umkehr der Laufrichtung der Bilder, die auf zwei Weisen hätte erzielt werden können: a) durch Umkehrung der Laufrichtung des Projektors oder b) durch Kopie und erneute Montage der Filmbilder in umgekehrter Reihenfolge. Mit dem symbolischen Tritt gegen den Kopf und dem Hineinschleudern ›zurück in den Film‹ verweist der Film paradoxerweise gerade auf seine Apparatur und technischen Voraussetzungen und arbeitet so gegen die filmische Illusion – bzw. wird gerade hier ein weiterer filmischer ›Layer‹ zu dem Szenario hinzugefügt. 53 | Zit. nach Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. S. 511. Anm. 56.

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wie Brandstetter schreibt, betont Léger »insbesondere das Neue der Zeitstruktur, das Unterbrechungs- und filmische Bewegungsmuster des szenischen Textes«.54 Die Figur des Risses erscheint so, im bildlichen Sinne wie auch im figurativen, übertragenen Sinne als Figur trennender Verbindung zwischen den unterschiedlichen ›Medien‹ Film- und Bühnenkunst. Indem Murakami Saburōs Arbeit – bewusst oder unbewusst – implizit an diesen komplexen filmischen (und zugleich theatralen) Topos anknüpft, überträgt sich das Spannungsfeld zwischen dem aufkommenden Film und dem traditionellen Ballett der 1920er Jahre zum einen in einen anderen medialen (sowie zeitlichen und kulturellen) Rahmen, hier geht es (ebenfalls) um das Trennende, bzw. den verbindend-trennenden Riss zwischen den ›Medien‹ der Malerei und der Aktionskunst, später Performance-Kunst und Body Art, die sich als neue Genres seit den 60er Jahren anfangen zu formieren bzw. als Kategorien in der Theaterwissenschaft vor allem rückblickend Verwendung finden.55 Dieses wäre als eine erste Übertragungsbewegung, als erste Übersetzung des Risses zu nennen: der Riss zwischen zwei Medien wird als Riss zwischen zwei anderen Medien, als Meta-Differenz ›übersetzt‹. Murakami stellt gewissermaßen den Riss in der Leinwand, der das Ballett für den Film (und vice versa) geöffnet hatte, vor einen neuen Hintergrund, einen weiteren ›Streit‹ zweier künstlerischen Genres, dem der Malerei und der Fotografie und verbindet ihn so mit den Fragen der Übergänge zwischen dem frühen Film und performativen Darstellungsformen, wie die des Tanzes. Während wir sowohl bei Murakami als auch bei René Clairs Film ein ähnliches Motiv, nämlich das Durchspringen/Durchlaufen von aufreißenden (malerischen bzw. filmischen) Leinwänden vorfinden, scheint doch der Gestus, die Bildaussage, besonders mit Blick auf Murakamis oben beschriebenes ikonisches Foto, eine andere zu sein. Die Laufrichtung des Films Entr’acte kehrt sich zwar um, als filmische Geste am Ende des Films, die diegetische Leinwand wird jedoch nicht ›life‹ von Balletttänzern des Ballett Suedois durchbrochen, sondern von dem Filmdarsteller zerrissen und erweist sich somit als medial umkehrbar. Bei René Clair verbleibt die Wendung am Schluss innerhalb der filmisch-diegetischen 54 | Ebd. Anm. 56. 55 | Sandra Umathum hebt hervor, dass der Begriff der Performance erst in den 1970er Jahren Eingang in die deutsche Theaterwissenschaft gefunden hat und hier häufig mit Blick auf auf die Performance-Kunst der 1960er Jahre gebraucht wird. Umathum, Sandra: »Performance«, in: Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris und Warstat, Matthias (Hg.): Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart u.a.: Metzler, 2005. S. 231-234. Hier: S. 232. Marvin Carlson betont, dass die erste historisierende Erfassung des Performance Begriffs im anglophonen Raum 1979 durch RoseLee Goldberg erfolgte. Vgl. Carlson, Marvin A.: Performance: a critical introduction. New York, NY u.a.: Routledge, 2004. S. 79. Vgl. Goldberg, RoseLee: Performance: live art 1909 to the present. London: Thames and Hudson, 1979.

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Ebene – in Form der Umkehrung der Bildsequenzen – und somit ein primär symbolischer Angriff auf den Rahmen des kinematographischen Dispositivs. Murakamis Durchbrechung und anschließende ›Wendung‹ im oben gezeigten Foto geht einen Schritt weiter: nachdem er den Rahmen seines ›Mediums‹ körperlich durchdrungen hat, vollzieht er – nachträglich für das ober besprochene gestellte Foto – eine physisch-körperliche Wende – er wendet sich seinem produzierten Objekt, seinem ›Medium‹ in Anschluss der Aktion, bzw. ihrer Re-inszenierung fürs Foto, in anderer Weise reflektierend zu. Der Riss in Murakamis Leinwand erscheint nicht umkehrbar, sondern bietet sich selbst als Figur der Reflektion an und stellt sich als solche aus.

Gestell I: Risse vs. Schnitte (Fontanas Taglis und Concetto Spaziale) Im Gegensatz zu der Durchbrechung einzelner Papierwände, wie bei Murakamis Aktionen »Entrance« bzw. »Exit« aber auch der auf einer Theaterbühne gezeigten Arbeit »Confronting Screens«, macht die sequentielle Anordnung der Leinwände bei »Passage« und »Six Holes« im direkten wie im übertragenen Sinn diese Aktionen ›vielschichtiger‹. Während bei Murakamis Installation »From a Box« (1955), Papierwände zu einem Kubus angeordnet waren und so vor ihrer Durchbrechung einen (anfangs) geschlossenen Raum konfigurierten, wird bei den zuvor genannten Arbeiten aufgrund ihrer sequentiellen Aufstellung deutlich, dass die einzelnen Leinwände keine direkte mimetische Nachbildung eines traditionellen japanischen Raumes darstellen – obwohl sie als ›papierne Wände‹ latent auch auf diesen zu verweisen scheinen. Noch handelt es sich bei den aufgestellten Papierwänden um malerische Bilder im konventionellen Sinne – macht doch die Art und Weise ihrer Anordnung, das »Gestell« in welches sie gefasst sind, die individuelle Betrachtung einzelner Leinwände als »slices« unmöglich, da sich die einzelnen Elemente größtenteils gegenseitig verdecken.56 Anders als bei den bekannten Schnitt-Bildern Lucio Fontanas, den zwischen 1958 und 1968 entstandenen Bild-Skulpturen Concetto Spaziale/Attese, die der Werkgruppe der Taglis (»Schnitten«) zugerechnet werden,57 und auch seinen etwa zehn Jahre früher entstandenen Buchi, durch Stiche in die Leinwand entstandenen Durchlöcherungen, scheint es Murakami demgegenüber durch die gerissene Struktur der Löcher als Nicht-Schnitthaftes, Nicht-Instrumentelles, Körperlich-Hervorgebrachtes, zudem wesentlich auf die die Schichtung, das

56 | Insofern haben sie von ihrer Anordnung, trotz der Abstände, eine ›latente‹ Nähe zu den Decollagen Villeglés. 57 | Vgl. u.a. Gottschaller, Pia und Khandekar, Narayan: Lucio Fontana the artist’s materials. Los Angeles: Getty, 2012.

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Zusammenspiel der einzelnen gerissenen, durchbrochenen Lagen anzukommen. Murakamis Körper hat unmittelbarer physisch auf diese eingewirkt;58 er ist im wahrsten Sinne selbst in die Anordnung der Bilder/Löcher ›eingegangen‹ und aufgrund der spezifischen Form der gerissenen Löcher weiterhin emphatisch absent – und gerade dadurch latent präsent. Obwohl Murakamis Körper sowohl aus dem Foto als auch dem Objekt verschwunden ist, bleibt die Spur seines Körpers und dessen hervorpreschende Bewegung durch die spezifische Form und Größe der gerissenen Löcher erhalten, die Spur der Bewegung klafft in den vielfachen Rissen und Löchern und bleibt gerade dadurch latent anwesend. Die Serialität der Leinwände ist bei Murakami zentral, die Anordnung zum Bilder-Gestell ist ein wesentliches Merkmal, sie ›bildet‹ die Grundlage auf denen sich die Differenzen der einzelnen Risse und Löcher abzeichnen. Die Risse innerhalb der einzelnen Leinwände zeigen sich als spezifischere Formen im Vergleich zu den Schnitt-Bildern Fontanas, die Risse bilden zueinander eine wesentlich andere Differenz als die Differenz der Schnitte Fontanas, die zwar auch miteinander zu ›kommunizieren‹ scheinen, und doch stehen die einzelnen Schnitte jeweils weniger ›für sich‹. Die aufgestellten, gerissenen Löcher, die Risse stehen demgegenüber anders ›zueinander‹ und geben in anderer Weise Auskunft über die Bewegung ihres körperlichen Hervorgebracht-Werdens. Dadurch entsteht eine andere Form des ›Sogs‹ der suggerierten/imaginierten Bewegung. Sind bei Fontanas Schnittbildern Concetto Spaziale/Attese die einzelnen Leinwände von Schnitten betroffen (und wurden zumeist jeweils konventionell als singuläre Bild-Objekte nebeneinander ausgestellt) so bilden Murakamis gerissene Leinwände aufgrund ihrer seriellen Aufstellung – umgekehrt – selbst (durch ihre Zwischenräume) ›Schnitte‹ in Bezug auf seine gewissermaßen choreographische Lauf-Bewegung, die Leinwände geben Zeugnis von den Unterbrechungen ihres körperlich-räumlichen Durchlaufens. Die Beziehung ist komplex: Bewegung und Leinwände unter- bzw. durchbrechen sich in diesem (retrospektiv re-imaginierbaren) Durchlauf gegenseitig. Die gestaffelten

58 | Eine detailierte Beschreibung des Prozesses der Schnittproduktion findet sich in Whitfield, Sarah; Fontana, Lucio und Gallery, Hayward: Lucio Fontana. London: University of California Press, 1999. S. 29ff. Whitfield berichtet anhand der gestellten Foto-Serie des Fotografen Ugo Mulas, dass auch Fontana in einer Kombination von schneiden und reißen gearbeitet hat, diese spezifische Technik jedoch in der Foto-Session nicht zum Einsatz brachte: »Fontana began his cuts by painting the canvas almost soaking it in shop-bought emulsion paint. Then, after a few hours, and while it was still slightly damp, he put the canvas on thc easel and made the cut. The canvas was then left to dry. The final stage (the stage that is missing from the Mulas photographs) was to gently open the cut using the hand as a blade, a gesture described by a close friend of Fontana’s, who witnessed it as a ›caress‹«. Ebd. S. 31.

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Abb. 13 | Leinwand-Gestell Murakamis, welches von ihm im Rahmen der Retro­ spektive seiner Arbeiten im Pariser Centre Pompidou am 8. November 1994 durchlaufen wurde.

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Abb. 14 | Lucio Fontana Concetto spaziale, Attese (1964).

Leinwände bilden untereinander und mit den gerissenen Löchern als durchbrochene Unterbrechungen von Bewegung einen engen Bezugsrahmen, ein dichtes Beziehungsgeflecht. Die Leinwände bilden, als Gestell, als zusammengefügte Reihung ein Bezugsganzes, das jedoch nicht einfach an der vordersten Leinwand endet, sondern sich imaginativ als Reihe in beide Richtungen fortsetzen lässt.59

Archiv, Repertoire und »Über-Reste« der Performance In der Gegenüberstellung von Leinwand-Gestell (konkret, der Abbildung des durchlaufenen Gestells der Aktion von 1994) und den weiter oben abgebildeten ›gestellten‹ Aktions-Fotos haben wir es ebenfalls mit einer interessanten, in den 59 | Eine weniger saubere, rohe, risshafte Variante von Fontanas tagli lässt sich in der Berührung seiner Praktiken des Schneidens und Durchstechen von Leinwänden entdecken: »Sometimes the hole and the cut trespass into each other’s territory. The long meaty gash in […] Concetto Spaziale of 1963 (a work that is too fragile to travel) combines the fleshy lips oft he late holes with the downward thrust of the cut. This extraordinarily potent image, which occupies the centre of the canvas […] can be read both as figure on the cross and as a vulva«. Ebd. S. 42ff.

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Fotos selbst eingefalteten Rahmenverschiebung zu tun, innerhalb derer sich ein Spannungsfeld bzw. eine Akzentverschiebung ergibt: ist in dem einen Fall fraglich, ob es sich bei den Leinwänden in irgendeiner Weise schon/noch um Bilder im eigentlichen Sinne handelt, so stellte sich im Falle der vermeintlichen fotografischen Schnappschüsse die Frage, in welcher Weise die Tatsache ihres ›Gestellt-Seins‹ Einfluss auf ihren Aussagewert als dokumentarisches Zeugnis haben: Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Gestell und Foto, innerhalb dessen beide ›Dokumente‹, als Form der »Überreste«60 in unterschiedlicher Art und Weise die komplizierte Beziehung von physischer Aktion des Durchlaufens, ihren Wiederholungen als verschiedenen Durchläufen bezeugen und zugleich in Frage stellen. ›Überreste‹ der Performance bilden, laut Suanne Foellmer und Richard Gough, stets »doppelt temporale Konfigurationen« und geben Anlass zu Formen hermeneutischen ›Re-cyclings‹: [I]n the moment we see – or rather find – a leftover, and in the minute we address it, it becomes revalorized, escapes the sphere of the unmarked, and re-enters the realm of meaning, of interpretation – it jumps directly back into the hermeneutic circle, of course re-shaped by its new, revitalized or, rather, transformed appearance.61

Murakami stellt so bereits von vorneherein in seinem Durchlauf durch das Gestell und durch die fortgesetzte Reihe vergleichbarer Aktionen grundsätzliche Fragen nach den Implikationen des Seriellen und eröffnet innerhalb dessen durch die vielgestaltigen Formen der Risse unweigerlich ein Feld komplexer Verschachtelungen von Differenz und Wiederholung (Deleuze),62 d.h. einer Frage nach den verschiedenen Formen möglicher Wiederholungen als etwas stets radikal Anderem. Aus Perspektive dieser Differenzphänomene schließen sich hieran Fragen der Technik von Wieder-Holung, als Formen des Erinnerns und Aktualisierens an, im Sinne von Körper-Technik (im Marcel Mausschen Sinne) und künstlerischer

60 | Vgl. das von Susanne Foellmer geleitete Forschungsprojekt »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten«, welches den »Fokus auf das Bleibende des Transitorischen [ ]richtet, das sich in einer doppelten Verfasstheit zeigt: Als Zeitfigur von Resten, die als Spuren von Performances Entgrenzungen in die ästhetischen Erfahrungsräume von Museum, (Aufführungs-)Video oder anderen Aufzeichnungsmedien vollziehen«. https://ueberreste.wordpress.com, zuletzt besucht am 13. April 2018. 61 | Foellmer, Susanne und Gough, Richard: »Before Left Over«, in: Performance Research, Nr. 8, Heft 22, 2017. S. 1-6. Hier: S. 2. 62 | Vgl. Deleuze, Gilles und Vogl, Joseph: Differenz und Wiederholung. München: Fink, 2007.

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Praxis, sowie Überlegungen zu dem was bleibt: Fragen der Zeugenschaft, des Dokumentierens, der Archivierung und der Weitergabe. Viele Aspekte dieser Fragenkomplexe wurden ausführlich unter den Stichwörtern Archive and Repertoire (Diana Taylor) sowie Performing Remains (Rebecca Schneider) wechselseitig bezugnehmend diskutiert und sollen hier nur kurz – mit Blick auf die darin ebenfalls auftauchende Figur des Risses – skizziert werden. In Archive and Repertoire diskutiert Diana Taylor ausführlich die nach wie vor vorherrschende Einschätzung, dass Performance primär als etwas Flüchtiges und Ephemeres zu begreifen sei und damit in Gegensatz zur Logik des Archivs als etwas Bleibendem, Stabilen, Beständigem stehe. Taylor kritisiert in ihrer Analyse insbesondere die mit dieser Dichotomie verbundenen problematischen Hierarchisierungen, die sie im Wesentlichen als geltendes Paradigma westlicher (Kunst- und Performance-)Diskurse einordnet. Aus postkolonialer Perspektive zeichnet Taylor dabei die Auswirkungen einer Privilegierung logozentrischer Erinnerungs- und Notationssysteme gegenüber anderen, häufig geringgeschätzten Körperpraktiken und sozialen Ordnungssystemen nach und argumentiert für eine notwendige Aufwertung körperlicher, insbesondere nonverbaler Wissensweitergaben in Form des ›Repertoire‹. Besonders interessant wird ihre Analyse – im Hinblick auf Murakamis Objekt/Aktion – an jenen Stellen, wo es um die komplexe Beziehung von Archiv und Repertoire als körperliche Register des Erinnerns geht, deren diskursive Berührungspunkte Taylor bezeichnender Weise in Form eines konzeptuellen »Risses« beschreibt: The rift, I submit, does not lie between the written and spoken word, but between the archive of supposedly enduring materials (i.e. texts, documents, buildings, bones) and the so-called ephemeral repertoire of embodied practice/knowledge (i.e., spoken language, dance, sports, ritual).63

Während die Verwendung des Riss-Begriffes (»rift«) hier zunächst noch dualistische Anklänge zu haben scheint, distanziert sie sich von einer solchen Auffassung von Riss als einem schieren Hiatus: The relation between the archive and the repertoire, as I see it, is certainly not sequential (the former ascending to prominence after the disappearance of the latter […]). Nor is it true versus false, mediated versus unmediated, primordial versus modern. Nor is it binary.64

63 | Taylor, Diana: The archive and the repertoire: performing cultural memory in the Americas. Durham u.a.: Duke Univ. Press, 2005. S. 19. 64 | Ebd. S. 22.

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Der konzeptuelle ›Riss‹ zwischen den Prinzipen des Archivs und des Repertoires, den Taylor hier konstatiert, wird bei Murakami in komplexer Weise materiell- und zugleich physisch, bild-sprachlich wie sprach-bildlich, als ›Einfall‹ des Körpers nachvollziehbar gemacht; es ist ein vom bewegten Körper hervorgebrachter Riss, der an der Grenze zwischen Metaphorizität und Materialität verläuft. In der hier spezifischen Gestalt gerissener Löcher berühren sich die Ränder des Risses in besonderer Weise dabei selbst: als gerissenes Loch öffnet der Riss die Leinwand; wobei die ambivalenten Spuren der Körper-Bewegung die Frage nach dem Bild des Körpers selbst offen lassen. In und durch die Unterbrechungen der Bewegung, im Durchlauf der Segmentierungen bringen sich die Risse und die Abwesenheit des Körpers gegenseitig hervor, in einem Zustand gegenseitiger Durchbrechung materialisiert sich die instabile Spur eines absenten, unzeitigen Körpers, der sich nicht festhalten lässt. Was im Gestell der Leinwände zurück bleibt, sind komplexe Verflechtungen diverser Vorbilder und Nachbilder als verspätete und zugleich verfrühte Unzeitigkeiten, in die der bewegte Körper sich als Spur eingetragen haben wird. Die Ansätze Diana Taylors weiterführend, versuchen Gunhild Borggreen und Rune Gade in Performing Archives/Archives of Performance die Dichotomie von Performance und Archiven als flüchtig versus beständig noch weitergehender auszuhebeln, indem sie in ihrem Zugang vor allem einen Fokus auf Formen transformatorischer Zwischenräume bzw. –zustände fokussieren: »The issue of interregnum, the in-betweenness, may be said to focus on the process of transformation, the gap between the performance and its recording or reproduction.«65 Murakamis Riss-Arbeiten bewegen sich physisch an eben einer solchen Schnittstelle – einem Dazwischen von Performance und bildender Kunst, das die Möglichkeiten und Grenzen des Archivierbaren befragt und sich selbst an der performativen Schwelle zum Archiv-Werden bewegt, indem es performativ vorausschauend seinen medialen und materiellen Status reflektiert. Zugleich thematisiert seine Arbeit genau jene vermeintliche Leerstelle, welche die Flüchtigkeit/das Bleibende der Performance mit der Flüchtigkeit/dem Bleibenden des Archivarischen verbindet. Zwischen diesen Positionen befindet sich bei Murakami keine sauber trennbare Grenze, kein klarer Schnitt, sondern gerissene, klaffende, weiterhin ausfransende Löcher, eine im/materielle Bewegung, die die musealen Archivare, Kuratoren und Restaurateure ihrer potentiellen Fortbewegung vor besondere Herausforderungen stellen wird.

65 | Borggreen, Gunhild; Gade, Rune und Roms, Heike: Performing archives - archives of performance. Copenhagen: Museum Tusculanum, 2013. S. 10f.

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Fragen nach der Technik: Ge-stell (Heidegger) Die auffällige Anordnung von Murakamis Leinwänden, ihre Zusammenfügung zu einem physisch schwer durchdringbaren ›Gestell‹ von Leinwänden (und zwar durchaus im doppelten Sinne der aufgestellten und verbundenen Leinwände wie auch der ›gestellten‹ Fotos desselben) – führt uns nocheinmal zu einem anderen, ebenfalls schwer zu durchdringenden Begriff des »Ge-stells« bei Martin Heidegger. Heidegger hatte, wie bereits zuvor erwähnt, in einem Aufsatz aus dem Jahre 1953 (und somit etwa zeitgleich zu den ersten künstlerischen Experimenten der Gutai-Gruppe) seinen Begriff des »Ge-stells« in den Kontext einer »Frage nach der Technik« (so der gleichlautende Titel des Aufsatzes) gestellt. Im »Ge-stell« wähnt Heidegger etwas wesenhaftes der (»modernen«) Technik zu erkennen: »Wir fragen nach der Technik, um unsere Beziehung zu ihrem Wesen ans Licht zu heben. Das Wesen der modernen Technik zeigt sich in dem, was wir das Ge-stell nennen.«66 Durch Hinzufügen eines Gedankenstriches im Wort Gestell hatte Heidegger dem Kern des Begriffs ein inhärente Differenz eingeschrieben und somit im (wiederum doppelsinnigen) »Wesen« der Technik eine Selbst-Differenz markiert, etwas Un-Technisches im Technischen, das sich ihm zufolge weder unmittelbar aus der Betrachtung (»moderner«) Technik erschließt noch in ihr aufgeht. Hierzu sei es vielmehr notwendig, das Wesen der Technik in einem übergeordneten Differenzrahmen zu situieren, wie er schließlich am Ende seines Aufsatzes bemerkt: Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.67

Während in »Die Frage nach der Technik« Riss und Ge-stell nicht unmittelbar aufeinander bezogen sind, stellt Heidegger diese Beziehung in seinem UrsprungAufsatz her: Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt. Sie ist das Gefüge, als welches der Riß sich fügt. Der gefügte Riß ist die Fuge des Scheinens der Wahrheit. Was hier Gestalt heißt, ist stets aus jenem Stellen und Ge-stell zu denken, als welches das Werk west, insofern es sich auf- und herstellt.

66 | Heidegger: »Frage nach der Technik«. S. 24. 67 | Ebd. S. 36.

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Die Passage kann hier nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden,68 nur soviel sei hier festgehalten: Während sich der Riss bei Heidegger als Werk und Gestalt fügt, so bildet das Ge-stell dessen Rahmen. Zugleich sind beide Konzepte, Riss und Ge-Stell dadurch verbunden, dass sie jeweils von einem zentralen Moment der Selbstdifferenz betroffen sind: das in sich unterbrochene Ge-stell markiert eine wesentliche Differenz, eine Leerstelle bzw. Absenz in seinem Innern. Zugleich wird auch im Falle des Ge-Stell-Begriffes abermals die Ausblendung jeglicher Dimensionen der Körperlichen bei Heidegger virulent – wäre es doch durchaus naheliegend, Technik auch im (Mausschen) Sinne von Körper-Technik zu betrachten. Die im »Ge-Stell«-Begriff markierte (Selbst-)Differenz lässt sich so abermals als Leerstelle des Körperlichen lesen. Eben einen solchen übergeordneten Differenzrahmen der (bildenden) Kunst – unter Berücksichtigung einer komplexen Vergegenwärtigung von körperlicher Absenz – scheint Murakami mit seiner Arbeit zu qua Verkörperung zu thematisieren. Hier materialisiert sich quasi der Ge-Stell-Begriff Heideggers69 und bildet in seinem Inneren durch die Risse als Spuren des bewegten Körpers zugleich eine wesentliche Differenz gegenüber diesem. In der Gegenüberstellung von Murakamis Leinwand-Gestell und der Theorie des Ge-Stells bei Heidegger, wird eine wesentliche Leerstelle im Inneren sichtbar: Während sich die Abwesenheit des Körpers in Heideggers Philosophie immer wieder entzieht bzw. in einer doppelt eingefalteten Latenz verborgen bleibt, markieren die Risse im Leinwand-Gestell dessen emphatische Abwesenheit. In Murakamis von Rissen/Löchern gezeichnetem Gestell öffnet sich die ›Gegenwendigkeit‹ – durch sie und in Ihnen scheint sich die Bewegung seines Körpers quasi permanent fortzusetzen: Im Schwanken des Körpers zwischen Präsenz und Absenz ereignet sich etwas Gespenstisches und Un-Heimliches bei der Betrachtung des sequentiell aufgestellten Leinwände: die bildlosen KörperBilder, die gerissenen Löcher als Bilder-Körper drohen aufgrund ihrer spezifischen Materialität (selbst-)ständig weiterzureißen, sich unabhängig vom vergangenen 68 | Zu einer ausführlichen Interpretation vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. S. 243ff. 69 | Es ist problematisch von einem Ge-Stell-Begriff Heideggers auszugehen. Juliane Rebentisch, unterscheidet in ihrer Untersuchtung zwei differente Ge-Stell-Begriffe bei Heidegger, die dieser jedoch ästhetisch auf ihr ›poetisches Entbergen‹ reduziere. »Was damit aber verloren ist die in sich gegenwendige Struktur des Ge-stells, die allein, so meine ich, aus diesem Begriff einen ästhetischen macht.« Diese Gegenwendigkeit, so meine ich, verbindet Riss und Ge-Stell in fundamentaler Weise. Rebentisch fährt fort: »Und nicht nur das: In einem wohl ganz anderen Sinn als dem, den Heidegger meinte, steht allein das in sich gegenwendig strukturierte Ge-stell auch für eine spezifisch ästhetische Öffnung asymmetrischer SubjektObjekt-Verhältnisse«. Ebd. S. 248.

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Moment ihrer ursprünglichen Perforation weiterzubewegen. Der emphatischen Abwesenheit des Körpers im Gestell Murakamis und der latenten Fortsetzung seiner Bewegungen in den Rissen – auch und gerade nach dessen Ableben –, haftet so etwas Un-Heimliches, Gewaltsames, Menschlich-Nichtmenschliches an, in dem jener ›absonderliche‹ Gedanke Heideggers anklingt, jene ungewöhnliche, ›abwegige‹ Figur der Gewalt, die Heidegger auch seinem Ge-stell-Begriff zu- und einschreibt: Nach der gewöhnlichen Bedeutung meint das Wort »Gestell« ein Gerät, z. B. ein Büchergestell. Gestell heißt auch ein Knochengerippe. Und so schaurig wie dieses scheint die uns jetzt zugemutete Verwendung des Wortes »Gestell« zu sein, ganz zu schweigen von der Willkür, mit der auf solche Weise Worte der gewachsenen Sprache mißhandelt werden. Kann man das Absonderliche noch weiter treiben? Gewiß nicht. Allein, dieses Absonderliche ist alter Brauch des Denkens.70

Wie bereits bei seiner Einführung des Riss-Begriffs (dort bildete das Dispositiv des Theaters, bzw. dessen spezifizierenden Ausschluss eine wesentliche Differenz) bildet eine Ausgrenzung, ein Ausschluss des Absonderlichen, nämlich eines unerwarteten Knochengerippes, das Fundament, quasi die Wesensgrundlage auf der Heidegger seinen ›eigentlichen‹ Ge-Stell-Begriff entwickelt. Erneut fußt sein ontisch-ontologisches Differenz-Denken in einer latent gewaltsamen Negation, die sich, bedingt durch die Spezifizität ihrer Einführung und ihre Relativierung als ›alter Brauch‹, dem Folgenden nachwirkend einschreibt. In seiner Absonderlichkeit verdeckt die Figur des Gerippes zugleich ihre eigene Unkörperlichkeit – das Gerippe wäre so gesehen ein fleisch- und körperloser Körper oder sein mechanisch-technisches Anderes. Vom ›abwegigen‹ Knochengerippe bleibt in gespenstischer Weise etwas an Heideggers »Ge-stell«–Begriff haften; dieses als »schaurig« bezeichnete Bild, der damit verbundene Sprachgebrauch hinterlässt seine (unsichtbaren) Spuren im weiteren Verlauf des Textes. Der Gedankenstrich im »Ge-stell« markiert so gesehen nicht nur die Differenz von Technik und Technischem, sondern, mit der und durch das Leinwand-Gestell Murakamis deutlich aufscheinenden Abwesenheit des Körpers zugleich Spuren einer symbolischen (sprachlichen) Gewalt. In der Übertragung und Resonanz zwischen Heideggers Konzept und Murakamis Aktion/»Ge-stell« – wird eine Differenz zwischen abwesendem Körper und ambivalenter Präsenz/Absenz seiner Körperlichkeit sichtbar. Mit Murakamis Gestell wird so greif- und spürbar, in welcher Weise ein bewegter, lebendiger Körper den unterbrochenen Begriff vom »Ge-stell« radikal in Frage stellen kann, indem er es buchstäblich durchläuft bzw. durchkreuzt. Im performativen Akt 70 | Heidegger: »Frage nach der Technik«. S. 20.

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seines vorübergehenden Verschwindens deutet sich dabei latent seine eigene potentielle Auslöschung an, die sich – als gerissene Spuren – differentiell darin eingeschrieben.

Was bleibt – Performing remains (Rebecca Schneider) Mit dem Gestell Murakamis ergibt sich somit die Frage, was ›eigentlich‹ (zurück-) bleibt, nachdem der Künstler Murakami das Gestell durchlaufen hat und selbst im Begriff ist, endgültig von der ›Bildfläche‹ zu verschwinden? Welche Fragen stellen sich nach dem Durchkreuzen des Gestells durch den Körper, insbesondere dadurch, dass der Körper darin latent anwesend zu bleiben scheint, durch die vielfältigen Spuren seiner Bewegungen in und zwischen den Schichten des zerrissenen Gestells? Was bleibt, was bleibt zurück und was verschwindet, wenn wir Murakamis Aktion primär unter dem Gesichtspunkt einer »Performance« betrachten? Mit diesen Fragen geht es nach Rebecca Schneider um etwas immanent Politisches: [T]here is a political promise in this equation of performance with disappearance: if performance can be understood as disappearing, perhaps performance can rupture the ocular hegemony […]. And yet, in privileging an understanding of performance as a refusal to remain, do we ignore other ways of knowing, other modes of remembering, that might be situated precisely in the ways in which performance remains, but remains differently?71

Murakamis Arbeit scheint auf die Fragen, was von Performance übrigbleibt, in welcher Weise diese weiterhin Bestand hat und wie sie nachwirkt auf vielfältige Weise komplexe Antworten zu geben. Ein interessanter Aspekt besteht, wie sich nun zeigt, auch in der Fortschreibung von Figuren des Risses innerhalb (kunst-) wissenschaftlicher und performance-theoretischer Diskurse: Hier zieht sich erneut die Figur des Risses (»performance can rupture the ocular hegemony«72) wie ein roter Faden durch die Diskussion zum Verhältnis von Performance, Archiv und der Frage nach dem, was (übrig) bleibt. Rebecca Schneider greift den oben erwähnten argumentativen Ansatz Taylors auf und betrachtet ihn nochmals aus einer verschobenen Perspektive, gewissermaßen mit einem etwas anderen ›Twist‹: Dieser besteht darin, den Begriff remains als etwas Doppeldeutiges zu verstehen, bedeutet es doch im Englischen einerseits das Bleibende im Sinne von Relikten, und andererseits in einem körperlich-leiblichen Sinne die »sterblichen Überreste«. An Stelle einer 71 | Schneider, Rebecca: Performing remains: art and war in times of theatrical reenactment. London u.a.: Routledge, 2011. S. 98. 72 | Ebd. S. 104.

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Opposition von Performance (bzw. Repertoire) und Archiv begreift Schneider zum einen das Archiv selbst als performed/performing, und damit ebenfalls als einem grundsätzlichen Verschwinden ausgesetzt: »The archive performs the institution of disappearance, with object remains as indices of disappearance and with performance as given to disappear.«73 Zugleich verweist sie darauf, dass die jeweilige Frage eines Verlust-Denkens innerhalb der Konzeptualisierungen von Performance- und Archiv keine ontologische, sondern eine performativ hervorgebrachte ist: [W]e have become increasingly comfortable in saying that the archivable object also becomes itself through disappearance — as it becomes the trace of that which remains when performance (the artist’s action) disappears. This is trace-logic emphasizing loss — a loss that the archive can regulate, maintain, institutionalize —while forgetting that it is a loss that the archive produces.74

Gerade die Logik des Archivs wäre demnach – mit dem und durch den Körper – zuerst von einem prinzipiellen Rückzug, d.h. Verschwinden und Vergessen des Leiblichen her zu denken: »In the archive, flesh is given to be that which slips away. According to archive logic, flesh can house no memory of bone. In the archive, only bone speaks memory of flesh. Flesh is blind spot. Dissimulating and disappearing.«75 Die Frage, in welcher Weise das Verschwinden bzw. das Überbleiben in Verbindung mit Tod und möglichem Fortbestehen, ja Weiterleben stehen, zeigt sich so als fundamental kulturspezifische Frage und zwar im Sinne einer kulturellen Einstufung und Bewertung von performativen Praktiken – Schneider fährt fort: Of course, this is a cultural equation, arguably foreign to those who claim orature, story-telling, visitation, improvisation, or embodied ritual practice as history. […] Indeed the place of residue is arguably flesh in a network of body-to-body transmission of affect and enactment — evidence, across generations, of impact.76

Innerhalb ihrer Betrachtungen zu Performing remains kehrt so nicht nur die Figur des Risses wieder, sondern auf Umwegen und zugleich auf eine beinahe ›geisterhafte‹ Weise auch Heideggers befremdliche Vorstellung, die ›abwegige‹ Annäherung von Gestell und menschlichen bzw. ›entmenschlichten‹ Gerippe. Wenn Heidegger das »Gerippe« als fleischlose Körpergestalt des Gestells kurz erwähnt und anschließend (als mittlerweile fast schon unheimlich-vertrauter Geste)

73 | Ebd. 74 | Ebd. S. 103. 75 | Ebd. S. 100. 76 | Ebd.

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wieder als das »Absonderliche«77 ausgrenzt, so begleitet es seinen Gedankengang vom- und durch das Gestell hin zu seinem Begriff Ge-Stell unterschwellig, heimlich: einmal herbeizitiert ›geistert‹ es fortan weiterhin unvermeidlich unterschwellig durch seinen Text.78 Die mit dem menschlichen Gerippe aufgerufenen Fragen, ließen sich demgegenüber allerdings auch in ihrer Beziehung zu einer gelebten Wirklichkeit befragen, z.B. im Sinne vielfältiger Körper-Techniken (nach Marcel Mauss damit auch an der Schwelle zu medialen Praktiken),79 aber auch im Umgang mit den Toten – in jedem Fall wäre dies ein Ansatz zu einer sozialen Verortung. Dieser Schritt zum Bedenken des Körpers wird Heidegger jedoch wie festgestellt ausdrücklich vermeiden.80 Der Körper, die leibliche Seite des menschlichen Wesens bleibt in diesen Gedankengängen weiterhin ausgeschlossen. Die dahinterliegende Frage im Zwischenraum der Texte Schneiders (mit Derrida) und Heideggers, könnte lauten: in welcher Weise steht das Wesen des Technischen, das Heidegger durch das Ge-stell zu bedenken sucht, in heimlicher Beziehung zu Tod und Sterben, oder wie Rebecca Schneider formuliert: We might think of it this way: death appears to result in the paradoxical production of both disappearance and remains. Disappearance, that citational practice, that after-the-factness, clings to remains — absent flesh does ghost bones.81

In Gestalt der Risse, so wäre die These, bleibt dem Gestell Murakamis etwas von der verschwindenden/verschwundenen Leiblichkeit des durchlaufenden Subjekts anhaften, dass die »Haut der Bilder« (Ferrari/Nancy)82 innerhalb des Gestells perforiert. Die gerissenen Löcher erinnern einerseits an den mehrfachen, wiederholten Kraft- bzw. Gewaltakt im Durchlauf durch das Gestell und verweisen zum anderen auf ihr Eingebettet-Sein in eine Serie von wiederholten Durchläufen und zugleich 77 | Heidegger: »Frage nach der Technik«. S. 20. 78 | Ebenso wie ihn der beiläufig zitierte Riss in der Wand verfolgt. Vgl. den Abschnitt »Risse in der Wand, Furchen auf dem ›freien Feld‹ (Heideggers »Der Weg zur Sprache«)« im vorliegenden Band, S. 79ff. 79 | Erinnert sei hier insbesondere an Mauss Beispiel des Einflusses amerikanischer Kinofilme auf die Gangarten junger Frauen in Paris. Vgl. Mauss, Marcel: »Die Techniken des Körpers«, Soziologie und Anthropologie. 2, Gabentausch, Todesvorstellung, Körpertechniken, Wiesbaden: VS, 2010. S. 199-222. Hier: S. 202. 80 | Heidegger wird sich stattdessen, ausgehend von der Differenz zwischen Gestell und Ge-Stell, zum Prinzip der Gefahr äußern und etwas demgegenüber ›Rettendes‹ entdecken, wird etwas zu Geschick und Geschichte sagen, zum technischen Bestand und wird über die Frage nach Ver- und Entbergen schließlich bei der ›Kunst an sich‹ landen. 81 | Schneider: Performing remains. S. 102. 82 | Ferrari und Nancy: Haut der Bilder.

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zitierenden Bezugnahmen anderer Aktionen und ›Vor-Bildern‹. Murakamis Performance als Akt der in-sich-wiederholten, physischen Leinwand-Perforation schließt durch die Risse multiple Verweise auf Differenzen, auf permanente Veränderungen als gewaltvolle Transformations- und Wiederholungsprozesse im Inneren des Gestells ein. Durch die multiplen gerissenen Löcher ›ent-springt‹ Murakamis Aktion dabei einer Vorstellung des singulären, unwiederholbaren Moments, er geht durch die eingeschlossenen Akte der Wiederholung und ihrer Differenzen durch ihn hindurch und über diesen hinaus. In und zwischen den jeweils singulären Rissen/Löchern zeigt sich eine Einmaligkeit des Durchlaufes als mehrfache Wiederholung. Seine Singularität ist in dieser Arbeit nicht von der Wiederholbarkeit abkoppelbar. Somit ›ent-springt‹ Murakamis Aktion zugleich der Logik des Archivs, es scheint durch diese hervorgebracht zu sein, auf ihr zu beruhen, und strebt doch zugleich danach, sich aus sich dieser Sphäre zu entziehen, d.h. das hervorgebrachte Objekt dieser Logik zu entreißen. Die paradoxale An- bzw. Abwesenheit des Körperlichen bleibt in Gestalt der Risse im Gestell enthalten, das Körperliche und die vermeintlich ephemere Bewegung ›geistert‹ als berührbare und spürbare Spur, als andauernde Bewegung, als anwesend-abwesender Sog, durch die Zwischenräume, ›lebt fort‹ in den Differenzen der einzelnen Risse/ Löcher und bildet so eine Figur des Leiblichen, ein bewegt-bewegendes Mehr als bloßes Papier, er gemahnt an das (symbolische) Vorhandensein von Haut-undKnochen innerhalb des Gestells. Im Folgenden soll nun unter weiterer Berücksichtigung des kulturspezifischen Kontextes der Entstehung die bisher in der Forschung ungenügend beleuchteten (inter-)medialen Bezüge weiter herausgearbeitet werden, um zu zeigen, wie fundamental Murakamis Arbeit die Frage nach dem Status des Bildes (der Bilder, oder eher: Bildlichkeit) verkompliziert und damit zugleich die Position und Rolle des Körpers innerhalb von Bild-Produktionen in Frage stellt. Wenn wir in diesem Zusammenhang von einer – latenten – ›Inter‹-Medialität sprechen, so geht es damit vor allem um die komplexen temporalen Dimensionen, welche die Arbeit Murakamis über seine Lebzeiten hinaus ein- und zugleich entfaltet. Hierbei stellt sich sowohl die Frage, in welcher Weise die gerissenen, in mehrfachen Lagen gestaffelten Löcher als Spuren den Körper und seine Bewegung repräsentieren, als auch, in welcher Weise sie gerade deren Abwesenheit vergegenwärtigen und etwas ›Un-Repräsentierbares‹ einschließen.

Projizierte Körper(bilder) nach Hiroshima und Nagasaki (Nachbild III) Ein weiterer, zusätzlicher ›Layer‹, der aus kulturspezifischer Sicht als eine zusätzliche interpretative Folie über das simplifizierende Verständnis der durch-

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löcherten Papierschichten als malerische Leinwände gelegt werden muss, ist die Berücksichtigung ihrer Ähnlichkeit zu traditionellen japanischen Raumteilern, sog. Shōji oder Fusuma.83 Eine solche Assoziation legt Murakami selbst in der wiederholt zitierten Legende des Ursprungs seiner Aktion nahe, der zufolge sein noch junger Sohn ihn auf die entscheidende Idee gebracht haben soll, als dieser wutentbrannt durch die Papierwand seines Ateliers gestürmt sein sei. Ming Tiampo interpretiert diese Szene wie folgt: »[H]is son realized that the barrier between him and his father was only conceptual, marked by the thin paper screens used as dividers in Japanese homes.«84 Die papiernen japanischen Wände lassen sich im Gegensatz zu Stein- oder Holzwänden durch ein grundsätzlich anderes Verhältnis von Durchlässigkeit und Beschränkung in mehrerer Hinsicht charakterisieren: während sowohl Shōji als auch Fusuma in klimatischer und akustischer Hinsicht eine eher semipermeable Schicht darstellen, d.h. teilweise durchlässige Barrieren sind, bilden sie vor allem eine Form der visuellen Abtrennung – beide Wand-Formen sind traditionell blickundurchlässig. Gegenüber den opaken Fusuma sind die Shōji-Raumteiler dabei von stärker Lichtdurchlässigkeit gekennzeichnet.85 Bezogen auf physische Körper markieren beide Formen von Raumteilern zugleich latente physisch-materielle Abgrenzungen und bilden dabei primär symbolische – und teilweise bewegliche – Grenzen im Raum.86 Es handelt sich so gesehen um symbolisch-materielle Gewebe, die eine dynamische Grenze verschiedener Formen von visuell-physischer Un/Durchlässigkeit im Raum konfigurieren. Bei den Rissen/Löchern in den Leinwänden Murakamis handelt es sich von daher auch um materielle Konkretionen kulturspezifischer Grenzen/Grenzverletzungen, d.h. um Durchbrechungen zwischen symbolischen und materiellen Texturen und kulturell definierten Trennlinien. Im Lichte dieser

83 | Vgl. Cornell, Laurel L.: »House Architecture and Family Form: On the Origin of Vernacular Traditions Early Modern Japan«, Nr. 2, 8 1997. Zugriff unter: http:// www.jstor.org/stable/41757333 am 30. Sept 2017. 84 | Tiampo: Gutai: decentering modernism. S. 24. 85 | Vgl. Einträge zu »fusuma« und »shouji« (Englisch) im Japanese Architecture and Art Net User System. Zugriff unter http://www.aisf.or.jp/~jaanus/deta/f/fusuma. htm, am 30. Sept 2017. 86 | »In the traditional wooden architecture of Japan the rooms are partitioned by shoji and fusuma (sliding doors), which are removable […]. As a result there is a very different sense of personal space inside a Japanese house. This suggests that the boundaries (for example, between various kinds of domestic activities) are relatively clear in the West, whereas, in Japan they are more ambiguous.« Goda, Sachiyo: An Investigation into the Japanese Notion of ›Ma‹: Practising Sculpture within Space-time Dialogues. Doctoral thesis, Northumbria University. 2010. Zugriff unter: http://nrl. northumbria.ac.uk/4393/ am 7. Oktober 2017. S. 42.

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formalen Ähnlichkeit muss sich die Frage einer ästhetischen Grenzverschiebung in einem künstlerisch-avantgardistischen Sinne, die Frage einer Erweiterung und Verschiebung darstellerischer Möglichkeiten in Bezug auf die Funktion von Leinwänden notwendiger Weise in einer ganz anderen Art und Weise stellen, als sie dies aus einer ausschließlich ›westlichen‹ Perspektive tun würde. Im Gegensatz zu dem vordergründig kindlich-spielerischen gefärbten Entstehungsmythos (der sich zugleich aus Kinderperspektive ja durchaus sehr ernst darstellt und von der Geschichte eines frustrierten Aufbegehrens gegen die Regeln und symbolischen Grenzen einer Welt der Erwachsenen zeugt), zeichnet sich vor dem historischen Hintergrund der Zeit Mitte der fünfziger Jahre zudem noch ein anderer Hintergrund ab, der mit aller Gewalt Heideggers »Frage nach der Technik« erneut aufwirft – aus einer zutiefst körperlich-leiblichen Perspektive –, nämlich der zu dieser Zeit relativ kurz zurückliegende Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki. Eine derartige Lesart der Arbeit Murakamis deutet der Kurator Paul Schimmel an: »The artist hurling himself through the picture plane was an assault on the traditions of both Western and Eastern art, as well as a metaphor of the atomic bomb’s rupture of the fabric of humanity.«87 Um die These einer engen Bezugnahme von Murakami zu dem »unermesslichen Desaster« (Jalal Toufic)88 von Hiroshima und Nagasaki weiter zu stützen, lässt sich der theoretische Ansatz des Filmwissenschaftlers Akira Mizuta Lippitt hinzuziehen, der den Atombombenabwurf unter dem Gesichtspunkt eines radikalen Bruches in der visuellen Ordnung innerhalb der Kulturgeschichte Japans betrachtet: »Since 1945, the destruction of the visual order by the atomic light and force has haunted Japanese visual culture«.89 Lippitt geht es in seiner Untersuchung zentral um die Frage von »Atomic light«, eines gewaltvollen Ein- und Durchdringens vom katastrophalen Blitz der atomaren Explosion in und durch organische Körper hindurch. »Unsichtbarkeit« (nämlich die der Körper) erhält vor diesem Hintergrund einen fundamental anderen Stellenwert und paradigmatisch verschobene Bedeutung: »Invisibility suggests a range of phenomenal states, from material dispersion to radical absence. With transparency the body is there but traversed – violated.«90 Die Explosion der Atombomben über den japanischen Städten und die resultierenden atomaren Blitze von Hiroshima und Nagasaki durchdrangen die lebendigen Körper in weitaus radikaler Form als Röntgenstrahlen, sie erweisen

87 | Schimmel: »Leap into the Void: Performance and the Object«. S. 28. 88 | Toufic, Jalal: Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster. Berlin: August-Verl., 2011. 89 | Lippit, Akira Mizuta: Atomic light (shadow optics). Minneapolis: University of Minnesota Press, 2005. S. 4. 90 | Ebd. S. 87.

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sich rückblickend als alles Lebendige negierende Licht-Strahlen, die alle organischen (menschliche, animalische und pflanzliche) Körper im Moment ihrer Durchdringung auslöschten und dadurch einen nachhaltigen Einfluss auf die gesamte visuelle Ordnung der japanischen Kultur nahmen. Lippit beschreibt diese Katastrophe als Prozess der gewaltvollen Einschreibung mehrfacher Unsichtbarkeiten als tödliche Schattenwürfe: At Hiroshima and then Nagasaki, a blinding flash vaporized entire bodies, leaving behind only shadow traces. The initial destruction was followed by waves of invisible radiation, which infiltrated the survivor’s bodies imperceptibly. What began as a spectacular attack ended as a violent form of invisibility.91

Organische Körper verloren im Licht dieser Katastrophe den Status als Eigentümer ihrer eigenen Schatten – sie wurden im Angesicht des atomaren Blitzes ausgelöscht und selbst zu Schatten transformiert: Zurück blieben körper- und gegenstandlos gewordene, dauerhaft eingebrannte Silhouetten, permanent eingebrannte Spuren ausgelöschten Lebens, deren schattenwerfenden Körper im Moment ihrer Belichtung/Durchleuchtung bereits im radikalen Sinn »in Luft aufgelöst« wurden. Der atomare Blitz generierte so gesehen eine Form von nicht dagewesener Unsichtbarkeit: er raubte den Körper mit ihrem Leben auf diese Weise zugleich ihre Visualität im Sinne von materieller Körperlichkeit, mit ihrer lebendigen, im Raum ausgehdehnten, körperlichen Gestalt verschwand zugleich jegliche Opazität, jegliche Eigenschaft, selbst Licht zu reflektieren. Die Körper wurden so in einer radikalen Weise licht-durchlässig, die sie selbst als Körper negierten. Als immaterielle Erscheinungen, Negative, brannten sich die Schatten in die widerstandsfähigeren Oberflächen, wie auch in das kollektive visuelle Gedächtnis ein. Die atomaren Explosionen von Hiroshima und Nagasaki veränderten Lippitt zufolge dadurch grundlegend das Verhältnis von Sicht- und Unsichtbarkeit sowie das Verständnis ihrer möglichen- und bis dahin unvorstellbaren Zwischenformen und Übergänge. Dieses durch den Atombombenabwurf fundamental erschütterte Verständnis von Visualität bringt Lippit auf den Begriff einer hereingebrochenen A-Visualität, die eine Verschiebung, eine Zäsur und radikale Unterbrechung innerhalb der gewohnten Ordnung des Visuellen terminologisch zu greifen versucht. »The atomic blast […] brought forth a spectacle of invisibility, a scene that vanishes at the instant, of its appearance only to linger forever in the visual world as an irreducible trace of avisuality.«92 Jalal Toufic spricht im Zusammenhang mit derartigen »unermesslichen Desastern« von einem »immateriellen Rückzug« der einen unwiderruflichen Verlust von Tradition nach sich zieht. Unermessliche Desaster lassen sich Toufic 91 | Ebd. S. 86. 92 | Ebd. S. 82.

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zufolge u.a. daran erkennen, dass eine Periode folgt, in der Künstlerinnen und Künstler versuchen würden, neue Zugänge und Bezüge zu den kulturellen Erzeugnissen aus der Zeit vor dem Desaster herzustellen und versuchen, diese »zu neuem Leben zu erwecken«.93 Vor diesem zeithistorischen und kultur-spezifischen Hintergrund gilt es nun, die Frage von ›Projektion‹ in und durch Murakamis Performance noch einmal anders zu betrachten, im wörtlichen Sinne zu revidieren: es geht in den hier untersuchten Arbeiten Murakamis somit auch um ein neues Verständnis des Visuellen im Kontext eine »immateriellen Rückzuges«. Murakamis Aktion des gewaltsamen Durch- und Eindringens erscheint zugleich als radikaler Schritt des physischen Widerstands gegen die visuellen Zäsur(en) als Folge des »unermesslichen Desasters«. Die Formen der Projektion, Reflektion und Traversion erscheinen vor dem Hintergrund einer radikalen Negation von (u.a. menschlichen, tierischen und organischen) Körpern und Materialität durch Licht, Strahlung als mögliche Form der physischen Wiederaneignung des Visuellen. Die Negation der Körper als das Auslöschen ihrer Sichtbarkeit, die Negation organischen Lebens als visuelles »Negativ-Werden« der Körper durch den atomaren Blitz wird von Murakami durch den Prozess einer Umkehrung ›durchgearbeitet‹ oder besser: rückblickend ›durchlaufen‹: mittels seines eigenen Körpers auf die Leinwände übertragen, rückprojiziert. Der Körper durchdringt und durchquert die parallelen Schichten der aufgestellten Leinwände selbst als widerständiges Projektil, als body that matters (um den Begriff Butlers zu verwenden). Anstatt sich selbst visuell zu ›negieren‹, d.h. in Schatten zu verwandeln, statt selbst radikal licht-durchlässig zu werden, durchdringt die Körper im Gegenzug die weißen Leinwände als Projektionsflächen; er verändert diese und transformiert dadurch sein Verhältnis zur eigenen A-Visualität, als einer inkorporierten Zäsur in der Ordnung des Visuellen, welche die Frage nach seiner eigenen Bildlichkeit (und Möglichkeiten seiner Bild-Werdung) in radikaler Weise durchkreuzt. Körper und Bildflächen transformieren sich in dieser Weise des Durchlaufens in Murakamis Aktion gegenseitig. Der projizierte Körper verschwindet zeitweise ›im Laufe‹ der Aktion von der ›Bildfläche‹ während er seinerseits die Leinwände zu durchlässigen Membranen (Deleuze, Lippitt) transformiert, zu bildlosen Bildern als Haut (Nancy), d.h. zu latenten Beinahe-Bildern, die an Stelle der Haut durchdrungen werden. Die gerissenen Löcher treten als negative Formen symbolisch an die Stelle des negierten, des Negativ-gewordenen und nun re93 | Toufic: Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster. S. 15. Toufic zufolge stellt dieser immaterielle Verlust Historiker*innen vor unlösbare (unsichtbare) Herausforderungen: »Nicht von Ungefähr besteht eine der Beschränkungen, denen die Geschichte als Forschungsdiszplin unterworfen ist, darin, dass der materielle Fortbestand der Urkunden sie für die Notwendigkeit, diese zu neuem Leben zu erwecken, blind macht«, ebd.

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imaginierten Körpers, sie erzeugen innerhalb der opaken Bildflächen gerissene Löcher, Leerstellen, eine erzwungene Durchsichtigkeit als die physische Öffnung des Materials. Wenn es sich überhaupt schon/noch um Bilder handelt, so ist ihnen wesentlich eine Leerstelle des Bildlichen/Körperlichen inhärent. Andersherum: Das Gestell Murakamis ist bildlich, indem der Körper des Künstlers an seiner Stelle, d.h. stellvertretend die einzelnen Bilder durchläuft und diese als Bilder negiert und für den Körper öffnet. Stellvertretend für die gewaltsam negierten Körper erzeugt Murakami im Durchlaufen des Gestells Risse als wiederkehrende, negative, körperliche Durchbrechungen der Schnitte des Bildlichen, wodurch den einzelnen ›Bildern‹ in ihrer Wendung von innen nach außen vom einfallenden Körper im Akt der Durchdringung ein quasi-theatrales ›als‹ spurhaft eingeschrieben wird: Mit Rebecca Schneider könnten wir diesen Vorgang in seiner doppelten Ausrichtung als performing remains beschreiben: Die Performanz bleibt in Form der gerissenen Löcher, d.h. als Risse erhalten. In den fotografischen Fixationen der Aktion und des Gestells, insbesondere in ihren geblitzten Überbelichtungen, lässt sich entgegen dem »immateriellen Rückzug« einem physischen unsichtbar-Werden nach dem »unermesslichen Desaster« zudem eine Performanz der sterblichen Überreste (performing remains) erblicken: Risse als performative Figuren bilden hier sprichwörtlich a-visuelle ›Projektionen‹ von Schatten der Vergangenheit.

Vor-Bilder II: Chronophotographie (Eadward Muybridge, Étienne-Jules Marey) Um der von Rebecca Schneider kritisierten Kurzschließung von Performance als dem Ephemeren, Verschwindenden Rechnung zu tragen, soll im Folgenden eine Gewaltgeschichte des Auslöschens weiter in den Blick genommen werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Zäsuren, Intervalle, Segmentierungen sowie die aus ihnen resultierenden Zwischenräume innerhalb Murakamis BilderGestell94 gelegt. Die unterschiedlichen Formen der Unter- und Durchbrechung markieren als Spuren der Aktion Murakamis das Objekt zentral und unwiderruflich wie eine physische Signatur.95 Von dieser Warte aus soll gefragt werden, in 94 | Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Kapitels möchte ich mit DidiHuberman bei den Leinwänden trotz aller oben genannten Einwände und Widersprüchen von Bildern sprechen, es wären Bilder, die eine Gewaltgeschichte in sich einschließenden, »Bilder trotz allem«, wie Huberman über fotografische Dokumente aus den Konzentrationslagern sagt. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. München: Fink, 2005. 95 | Derrida beschreibt für die Signatur eine hier absolut relevante, komplexe zeitliche Verschachtelung von An- und Abwesenheiten: »Eine geschriebene Signatur impliziert per definitionem die aktuelle oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners. Aber, wird man sagen, sie kennzeichnet - und bewahrt auch

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welcher Weise die Zwischenräume der einzelnen Leinwände mit den ihnen (hin-) zugefügten Rissen und Löchern korrespondieren, die ihrerseits die Leerstelle der Körpers innerhalb der jeweiligen Leinwände markieren. Die Fragen nach dem Dazwischen, die insbesondere unter temporalen Aspekten berücksichtigt werden sollen (nämlich als Fragen vielfältiger Differenzen), ›bilden‹ einen größeren medialen Zusammenhang von Murakamis Arbeiten, die an verschiedenen Stellen Parallelen (und zugleich markante Differenzen) zu den frühen chronophotografischen Serien Étienne-Jules Mareys und Eadward Muybridges aufweisen. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden näher in Betracht gezogen werden. Die in zahllosen Bewegungsexperimenten entstandenen Chronophotographien des amerikanischen Fotografen Eadward Muybridge (1830-1904)96, wie auch die seines französischen Zeitgenossen Étienne-Jules Marey (1830-1904),97 bewegten sich im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Untersuchung und künstlerisch-ästhetischem Schaffen.98 Die Erfindungen und Entwicklungen der dazu notwendigen Apparaturen entstanden im Kontext eines umfassenden Wandels des Blickes auf Körper und Bewegung um die Zeit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Im Vordergrund stand hierbei einerseits eine verstärkte Suche nach neuen Darstellungstechniken, welche die als unzureichend empfundene menschliche Wahrnehmung ergänzen- und somit für das menschliche Auge unsichtbare Ebenen sicht- und zugleich messbar machen sollten. Die chronophotographischen Studien bildeten so gesehen Kulminationspunkte und zugleich sein Anwesend-Gewesen-Sein in einem vergangenen Jetzt [maintenant], welches ein zukünftiges Jetzt bleiben wird, also in einem Jetzt im allgemeinen, in der transzendentalen Form der Jetztheit/Bewahrung [maintenance]«. Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 43. 96 | Zur allgemeinen Einführung in die Arbeiten von Marey vgl. Braun, Marta: Picturing time: the work of Etienne-Jules Marey (1830-1904). Chicago u.a.: Univ. of Chicago Press, 1994. 97 | Zur Einführung in Muybridges Werk vgl. Braun, Marta: Eadweard Muybridge. London: Reaktion Books, 2010. Sowie Solnit, Rebecca: River of shadows: Eadweard Muybridge and the technological wild west. New York u.a.: Viking, 2003. 98 | »If Muybridge had projected his moving-image sequences at the Wintergarten ballroom in 1891, rather than at the Urania scientific lecture-hall, he would certainly have received a mixed reception — his audience, in that variety-entertainment venue, would have responded well to the spectacular dimensions of the Zoopraxiscope discs, such as their chases and acrobatics, and to the showmanship elements of Muybridge’s on-stage persona, but not to the knowledge-oriented emphasis of his commentaries and his scientific ambitions.« Barber, Stephen: Muybridge. The Eye in Motion. Washington D.C.: Solar Books, 2012. S. 155.

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Katalysatoren unterschiedlicher Forschungspraktiken und Diskurse im Bereich neuer Darstellungstechniken, Medien (insbesondere Momentphotographie und aufkommender Film), künstlerischer (malerischer und tänzerischer) Diskurse um das Verhältnis von Bewegung und Bild, sowie angrenzender medizinischer und militärischer Körper- und Hygienediskurse, die auf die Optimierung von Bewegungen abzielten und auch Fragen der Disziplinierung der Körpers zum Gegenstand hatten.99 Zentrales Element in den Bewegungsstudien sowohl Muybridges als auch Mareys ist dabei die visuelle Segmentierung des Bewegungsablaufes zum Zwecke einer Bewegungsanalyse, denn: »während das träge menschliche Auge Bewegung in ihrem zeitlichen Fluß als ein Kontinuum wahrnimmt, hält die Momentaufnahme deren kontinuierlichen Lauf in einem nunmehr endgültig beliebigen Moment an«.100 Ermöglicht hatten diesen abbildungstechnischen Fortschritt die chemische und mechanische Weiterentwicklung der Photographie, die durch kürzere Belichtungsdauern neue Einblicke in menschliche und animalische Gangarten und Bewegungsabläufe ermöglichte. Als weitreichende Folge der Chronophotographien erscheint eine grundsätzliche Veränderung des Sehens in doppelter Hinsicht: »Von der Veränderung des Sehens konnte im Sinne einer Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Details oder im Sinne einer Veränderung der Wahrnehmung oder der Sehgewohnheiten verstanden werden.«101 Sehen wir uns eine seitlich aufgenommene Muybridge Bild-Serie genauer an: Die abgebildete Sequenz zeigt einen fast nackten, athletisch gebauten jungen Mann im Laufschritt vor einer schwarzen, mit weißem Linienraster versehenen Rückwand.102 Die Serie von zehn hochformatigen Bildern sind jeweils im konstanten 90-Grad-Winkel von der Seite aufgenommen, die Hüfte des Läufers befindet sich dabei relativ exakt im Zentrum des jeweiligen Ausschnitts. Der Laufende ist von allen Seiten gleichmäßig ausgeleuchtet, lediglich ein kleiner Schlagschatten fällt lotrecht unter den Körper. Von links oben nach rechts unten betrachtet, zeigt die Serie den segmentierten Ablauf eines einzelnen, großen Schrittes, unterteilt

99 | Vgl. Mayer, Andreas: »Autographien des Ganges«, in: Mayer, Andreas und Métraux, Alexandre (Hg.): Kunstmaschinen Spielräume des Sehens zwischen Wissenschaft und Ästhetik, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 2005. S. 101-138. 100 | Hick, Ulrike: Geschichte der optischen Medien. München: Fink, 1999. S. 316. 101 | Mayer: »Autographien des Ganges«. S. 137. 102 | Im Original zeigt die Serie zusätzlich eine synchron aufgenommene Serie von vorne. Der Vergleich der beiden Serien würde hier zu weit führen. Zu weiterführenden kulturspezifischen Implikationen der Muybridgen Serien vgl. Barber: Muybridge. The Eye in Motion. Zum Aspekt der Obszönität der Aufnahmen entblößter Körper vgl. Gordon, Sarah: Indecent exposures: Eadweard Muybridge’s Animal locomotion nudes. New Haven; London: Yale University Press, 2015.

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in gleichmäßige Bewegungseinheiten: befindet sich das linke Bein der Läufers eingangs angewinkelt vor dem Körper, ›bewegt‹ es sich im Verlauf der Bilder über die Streckung nach vorn, dem Auftreten auf dem Boden, dem Abstoßen des Körpers, weiter über die Streckung nach hinten bis zum Anwinkeln des linken Beins ans Gesäß. Während die Arme die Bewegung ergonomisch kreuzversetzt begleiten (im Vergleich dazu ist Murakamis Haltung im oben gezeigtem Bild – entsprechend der gegengesetzten Leserichtung in Japan – genau seitenversetzt!), bleibt der Oberkörper auf allen Bildern etwa konstant im gleichen, leicht nach vorn gebeugten Neigungswinkel. Aufgrund der Gleichförmigkeit des Hintergrundes und des gleichbleibenden, frontalen Kamerawinkels erscheint es so, als würde sich der Läufer auf der Stelle bewegen. Blickt man wie oben beschrieben von Bild zu Bild, d.h. in »westlicher« Leserichtung von links oben nach rechts unten, wird die Bewegung als eine durchgängige Bewegung lesbar, die Serie lässt sich als linearer Ablauf einzelnen Momentaufnahmen begreifen. Dennoch stellt sich keineswegs eine kinematografische Illusion von Bewegung ein, man nimmt, wenn nicht sogar alle, so doch zumindest mehrere Bilder in ihrem gleichzeitigen Nebeneinander wahr. Es handelt sich eher um ein sequentielles ›Lesen‹ der Bilder, inklusive eines Zeilensprungs in der Mitte der Serie. Die Bewegung erscheint dabei in der Logik einer monotypischen Schrift, d.h. jedem einzelnen Bewegungsschritt wird wie Buchstaben jeweils gleichviel Raum zugeteilt. Das Ablaufen-Lassen der Bilder bleibt der Imagination überlassen und lässt sich zugleich kaum vermeiden: aufgrund der relativ kleinen ›Schritte‹ der Bilder bleibt kein Raum für die Vorstellung eines ›Sprunges‹, eines gänzlich Anderen im Dazwischen – die bildinhärente Logik der Serie scheint ihren sequentiellen Ablauf zu erzwingen. Vergleichen wir die Bildserie des Läufers bei Muybridge mit einer weiteren Aufnahme Murakamis, so werden einige formale Ähnlichkeiten und zugleich deutliche Differenzen im Ansatz evident. Während beide in gewisser Weise die Frage der Möglichkeiten einer Abbildung, ja einer Bildwerdung von Körperbewegung, insbesondere eines laufenden Körpers stellen, so ist das Verhältnis von Bild, Bewegung und Körper dabei ein fundamental anderes. Es soll im Folgenden gefragt werden, inwieweit wir einen gewissen Widerstand sowohl des menschlichen Körpers als auch des Bildes als etwas Materiellem/Körperlichem konstatieren müssen, sich solchen Prozessen der Bildwerdung zu widersetzen. Welche Rolle können wir den Rissen innerhalb dieser Prozesse zuschreiben? Gegenüber der Muybridgen Bildserie macht das folgende Foto (Abb. 16) deutlich, als welch widerständliche Anordnung sich Murakami die Beziehung Bild und Körper ›vor-stellt‹ und diese zu durchdringen vornimmt – und wie demgegenüber das Gestell der Leinwände sich wiederum seiner Bewegung entgegenstellt und widersetzt.

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Abb. 15 | Eadward Muybridge: The Human Figure in Motion. Athlete. Running (1887).

Die Leinwände bilden gegenüber dem laufenden Körper etwas mehrfach Widerständiges, sie segmentieren den Bewegungsverlauf, sie zerschneiden den Pfad der Bewegung in relativ gleichmäßige Einheiten, sie widersetzen sich vehement dem Vorankommen Murakamis – bis dieser in Konfrontation mit den papiernen Wänden an seine physischen Grenzen stößt (wie auch disziplinären Grenzen im Sinne der klar abgrenzbaren ›bildenden Kunst‹). Das obige Foto, welches aus der bereits oben abgebildeten Serie von Otsuji Kiyoji stammt, die während einer Aktion aufgenommen wurde, zeigt Murakami in einer Haltung, die Zeugnis vom notwendigen Kraftaufwand ablegt: gekrümmt, kompakt wie wir ihn hier sehen, soweit möglich eine Schutzhaltung einnehmend. Der Schwerpunkt seines Körpers liegt weit links von der lotrechten Achse, mit der Schulter voran stemmt er sich gegen die noch nachgebende, sich unter dem Druck krümmende Wand; der Durchbruch ist an dieser Schicht noch nicht ganz geschafft. Keine Spur von der Mühelosigkeit und der athletischen Leichtigkeit des Läufers bei Muybridge; das Gestell Murakamis, sein ›Medium‹ mit papiernen Wänden, erweist sich als ein äußerst widerstandsfähiges Gegenüber. Murakamis Gestell verkörpert, was wir mit Fred Moten »resistance of the object« nennen können.103

103 | Moten spricht in diesem Zusammenhang von einer Auflösung des klaren Subjekt-Objekt-Verhältnisses im Sinne einer Besitzergeifung oder gar einer Besessenheit: »While subjectivity is defined by the subject’s possession of itself and its objects, it is troubled by a dispossessive force objects exert such that the subject seems to be possessed—infused, deformed—by the object it possesses. Moten, Fred: In the break: the aesthetics of the Black radical tradition. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2003. S. 1.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō)

Der Vergleich der Arbeiten Muybridges und Murakamis macht auf beiden Seiten etwas deutlich: auf der einen Seite zeigt sich durch relative Unsichtbarkeit der Aufzeichnungsapparate in der Muybridgen Versuchsanordnung (lediglich ansatzweise sichtbar in Gestalt des Rasters im Hintergrund) das zugrundeliegende Ideal einer vermeintlich ›objektiven‹ Messung und Aufzeichnung, welche die Bewegung nicht weiter beeinflussen möge. Auf der anderen Seite zeigt sich das Interesse Murakamis daran, den Widerstand seiner ›Bilder‹ zu maximieren, und diesen Widerstand in den unterschiedlichen Medien und Stufen des Prozesses festzuhalten, um sich mit ihm im Wortsinne ›eingehend‹ auseinanderzusetzen. Im Vergleich zu den Chronophotographien stehen die Leinwände nicht nur für die aufgestellten Bilder, welche mit ihren gerissenen Löchern später an seine Laufbewegung erinnern werden, sie bilden selbst zugleich die Abgrenzungen und Zwischenräume, die unsichtbaren Schnitten und Rahmungen, die ihr Nebeneinander, Zueinander, ihre Differenz ermöglichen. Bildlichkeit und ›Sehen‹ wird damit bei Murakami weniger zu einer Frage der malerischen Darstellungsmöglichkeiten als vielmehr ein komplexes mediales Setting sowie ein umfassender physischer Vorgang, der den Künstler und die gegenwärtigen bzw. potentiellen Zuschauenden/Betrachtenden in einer, durch die Risse, ›unabgeschlossenen‹ Konfiguration in Beziehung setzt.

Differenzen zwischen Muybridge/Marey und Murakami Während die Namen Muybridge und Marey in Bezug auf ihre chronophotografischen Serien häufig quasi synonym verwendet werden, unterscheiden sich ihre darstellungstechnischen Strategien durchaus signifikant, in den unterschiedlichen Anordnungen ihres Aufbaus, durch die Weiterentwicklung ihrer Apparaturen – vor allem aber mit Blick auf ihre ästhetischen Konzepte: Wenngleich sich Marey und Muybridge durchaus wechselseitig befruchtet haben, weisen ihre jeweiligen methodischen Verfahren letztlich doch in entschieden divergente Richtungen. Während nämlich Muybridge seine Phasenbilder der Bewegung als einzeln abgegrenzte in Sukzession präsentiert und zudem ihre mimetische Re-Synthese anstrebt, um sie auch als kommerzielle Schaustellungen auszubeuten, bieten die Bilder Mareys die Bewegungsphasen im simultanen Nebeneinander dem wissenschaftlich ausgerichteten Blick zum unmittelbaren Vergleich an.104

Einer der wesentlichen Unterschiede ist somit der Unterschied zwischen photographischer Serie, d.h. der Aufzeichnung von Bildersequenzen mittels mehrerer Photo-Apparate bei Muybridge und demgegenüber der Verwendung von

104 | Hick: Geschichte der optischen Medien. S. 318.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten

Abb. 16 | Murakami Saburō beim Durchlaufen seines Leinwand-Gestells.

Mehrfachbelichtungen und zunehmend stärkeren grafischen Abstraktionen bei Marey, die eine visuelle Partikularisierung der gezeigten Körperbilder zur Folge hatte. Während Muybridge mit seinen ›diskreten‹ Bilderreihen so einem mimetischen Körperbild verhaftet bleibt und stärker an einer Re-Synthese der Phasenbilder nach dem Prinzip des Kinematographen interessiert ist, werden bei Marey die Phasenbilder nach und nach zunehmend ineinander geschichtet, wodurch sich die abgebildeten Körper abstrakter werden, sich zu de-figurieren scheinen und dabei zunehmend »in Luft auflösen« – was bei seinen später hinzukommenden Studien zu Luftwirbeln durchaus wörtlich zu verstehen ist. Bernd Stiegler resümiert: »Alle Versuche Mareys konzentrieren sich auf den für das Auge unsichtbaren Bereich, erkunden die terra incognita der Felder der Unsichtbarkeit im Sichtbaren.«105 In ihrem Buch Relationscapes befasst sich Erin Manning mit den unterschiedlichen visuellen Strategien Mareys und Muybridges aus einer verstärkt ästhetisch-konzeptuellen Perspektive:

105 | Stiegler, Bernd: Philologie des Auges die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Fink, 2001. S. 108.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō) While Muybridge’s images look like cinematic stills, it is the movement’s interval and duration that is palpable in Marey’s images, rather than the actual stills themselves. In Marey’s work, duration is felt, whereas in Muybridge, duration is divided.106

Im Gegensatz zu den linearen Abfolgen der Bewegungssequenzen Muybridges stellt Manning bei Marey immer stärker abstrahierenden Bildern eine affektive Qualität fest, die in anderer Weise Aussagen über die Vorgänge von Wahrnehmung ermöglichen. Hierbei verbinden sich die intervallmäßigen Segmentierungen zu neuen Formen und Kompositionen von »Gesamtheiten«: Uncannily, what Marey’s experiments foreground is the very mechanism of perception itself: that to see is not to re-compose an already-composed form. His work makes apparent that to see is to create-with the force of a movement taking-form, where what we see is a composition of holes (intervals) and wholes (pure experience, duration) that together create a field of forces around which perception takes form.107

Das Gleichzeitige Neben- und Ineinander sogenannter »w/holes« als Kompositionen von Leerstellen, Intervallen und Gesamtheiten mache so eine Form von relationalen Kraftfeldern sichtbar oder besser: spürbar, an denen entlang Wahrnehmung sich prozesshaft zu »formieren« beginne. Die Frage des Sehens wird bei Marey, laut Manning, zu einem relationalen, affektiven Geschehen, das ständig von Formen vergangener, bereits geschehener Wahrnehmungen beeinflusst und kontaminiert ist: We see not an object but its activity of relation. We see holes: contours, edges, active intervals moving. We feel wholes: experiential duration not yet divided into actual objects. We see not only what we actually look at but what we remember ourselves seeing. What we remember ourselves seeing is actualized through non-sensuous perception, which refers to how an experience of pastness—past seeings—finds its way into our present as a force of potential. It’s not just that we see what we’ve already seen—it’s that what we’ve already seen contaminates what we feel we see and re-composes what we’re actually not seeing.108

Erin Manning stützt sich in ihren Betrachtungen, wie Deleuze, auf die Bewegungstheorie Henri Bergsons. Dieser hatte zu Beginn der Jahrhundertwende des beginnenden 20. Jh. eine (jedoch gerade nicht im cartesianischen Sinne) dualistische Bewegungstheorie, sowie Ansätze zu einer Bild- und Medientheorie 106 | Ebd. S. 108. 107 | Ebd. S. 85. 108 | Ebd.

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herausgearbeitet, die jeweils stark vom Einfluss des aufkommenden Kinos, beeinflusst gewesen sind.109 Die Theorie Bergsons ist von einer ebenso passionierten Ablehnung, wie unterschwelligen Faszination einer Form »kinematographischer« Wahrnehmung geprägt, der er eine von ihm favorisierte, von Dauer und Vitalität durchdrungene Ausfassung von Bewegung und Wahrnehmung entgegensetzt.110 Während Manning nun Muybridge tendenziell einer Form der kinematographischen Wahrnehmung und die Bilder Mareys einer Form der stärker affektiv geprägten Bezüge im Sinne der Bergsonschen Dauer zuordnet, stellt sich die Frage, wie Murakamis Aktion/Ge-stell innerhalb dieser zugleich ähnlichen und dennoch wesentlich differenten Wahrnehmungs-Modelle anzusiedeln wäre, finden wir hier doch beides vor: körperliche Bewegung, segmentiert, unterteilt, »durchschnitten« von Leinwänden, und gleichzeitig deren Durchbrechung, Spuren einer vitalen, widerständigen Bewegung die transversal zu den »Zeitschnitten« einzelner Raumpositionen/schichten verläuft und sich ihren Raum gerade in dem Dazwischen sucht. Indem die gerissenen Löcher in ihrem Neben- Nach und Ineinander einen affektiven Sog bilden, deren Anordnung als Schichten so gesehen die ›Ge-Schichte‹ ihres Entstehens fühl- und nachvollziehbar macht, wird der Betrachtende in dieses relationale Gefüge einbezogen, die Schwelle zwischen Künstler und Betrachtenden nivelliert sich dabei ›zusehends‹. Die Risse/Löcher in Murakamis Anordnung stellen gewissermaßen als Leerstellen die Verbindung zwischen den zwei ästhetischen Modellen dar, sie bilden im Sinne ihrer Risshaftigkeit zugleich eine Verbindung/Trennung. Murakamis Aktion/Gestell bildet selbst eine raumzeitlich gespannte, schwer bestimmbare Form des Dazwischen, welche zugleich eine Vorstellung »veräumlichter« Zeit und segmentierter Bewegung als auch die gewaltvolle, vitale Durchbrechung dieser Modelle konfiguriert. Aus dieser ambivalenten, beinahe paradoxalen Beziehung heraus eröffnet sich die Möglichkeit eines anderen Zugangs zu einer Vorstellung von Vergangenheit und Gegenwart – die ›Bilder‹ Murakamis sind, wie die Bilder Mareys, aufgrund ihrer Risshaftigkeit dabei grundsätzlich stärker von einer Idee des Andauerns der Bewegung durchzogen: The dynamic ground out of which Marey’s work evolves is an associated milieu for the rethinking of the rift between the sensuous and the non-sensuous,

109 | Zur wechselseitigen Bezugnahme zwischen Marey und Bergson vgl. Braun: Picturing time: the work of Etienne-Jules Marey (1830-1904). 110 | Vgl. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Zürich: Coron-Verlag, 1967. Insbesondere Kap. IV, S. 275ff.

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Abb. 17 | Étienne-Jules Marey: Mouvements d’un cheval blanc, Chronophotographie (1886). between the sensing experience of the present-passing and the non-sensuous future-feltness of the past.111

So wie Erin Manning es für Marey beschreibt112, bildet auch Murakamis Aktion/ Ge-stell als experimentelle Anordnung einen solchen »Grund« für die ReKonzeptualisierung der Differenz, eines, wie sie schreibt Risses (»rift«) zwischen der sinnlichen Erfahrung einer schmerzhaft voranschreitenden Gegenwart und der sich den Sinnen entziehenden »future-feltness of the past« – was sich vielleicht am besten als »(Vor-)Ahnung« oder »Zukunfts-Gespür« der Vergangenheit übersetzen ließe. Diese Form der Wahrnehmung als »(Vor-)Ahnung« scheint, zeitlich gesprochen, in zwei verschiedene Richtungen zu weisen, sie schaut rückblickend in die Vergangenheit und blickt uns aus der Vergangenheit heraus, vorausahnend an. Das (›gestellte‹) Foto (Abb. 7), welches Murakami noch mitten in seiner Laufbewegung bereits rückblickend zeigt, verbindet seinen (räumlichen) und unseren (zeitlichen) Rückblick, in einem Moment der affektiven Bezugnahme, 111 | Manning: Relationscapes: Movement, Art, Philosophy. S. 105. (Kursivierung H.H.). 112 | Eine weitere Passage scheint fast ›gespenstisch‹ auf Murakami übertragbar zu sein: »We see not an object but its activity of relation. We see holes: contours, edges, active intervals moving. We feel wholes: experiential duration not yet divided into actual objects«. Ebd. S. 85.

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durch den gerissenen Tunnel innerhalb der materiell gebildeten Schnitte der Zeit, welche die Bewegung nicht neutral registrieren, sondern diese immer schon maßgeblich beeinflusst haben. Die hinter ihm aufklaffende Reihe gerissener Löcher eröffnet sich so als Antizipation einer zukünftigen Vergangenheit, bzw. der vergangenen Zukunft. Das Ge-stell potentieller Bilder und deren mehrfach gerissene Zentren bilden im Nach-Gang einen affektiven Sog widersprüchlicher Zeitlichkeiten, welches die Betrachtenden einbezieht, indem es (statt den Körper bildhaft zu repräsentieren) sie dazu anhält, Murakamis Körper und dessen Bewegung zu (re-)imaginieren.

Nachbemerkung: Bergsons Philosophie als »Nachbild« (Benjamin) Kommen wir nochmal auf Walter Benjamins Aufsatz »Über einige Motive bei Baudelaire« zurück, in dem er sich, wie bereits dargelegt, mit der Veränderung der Wahrnehmung und Erfahrung zu Beginn der Moderne im frühen 20. Jahrhundert auseinandersetzt und auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen ein Moment des Schocks konstatiert: Schock als Erlebnis des Passanten in den Massenbewegungen der Großstadt, des Arbeiters in einer zunehmend maschinisierten Arbeitswelt sowie die »chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip des Films«.113 Im Kontext dieser umfassenden Konfiguration einer veränderten, zunehmend fragmentierten Wahrnehmung in der aufkommenden Moderne114 formuliert Benjamin zugleich eine relativ harsche Kritik an Henri Bergsons Materie und Gedächtnis.115 Bergson, so urteilt Benjamin hier, verschließe mit seiner Theorie gewissermaßen die Augen vor der Erfahrung unwirtlichen, blendenden Epoche der Industrie und bezeichnet dessen Philosophie als das »Nachbild« eben dieses Ausblendungsprozesses. Benjamin findet mit diesem Urteil ein im doppelten Sinne ›treffendes‹ Bild, bringt das Stichwort des »Nachbildes« doch einerseits Bergsons gespaltene, fasziniert-ablehnende Haltung gegenüber der kinematographischen Wahrnehmung auf den Punkt, zugleich ist es ja gerade das Nachbild auf der Netzhaut des Auges, eben dieser Moment einer Verzögerung, einer physischen Latenz, welches die kinematografische Wahrnehmung erst ermöglicht.116 Das verzögernde

113 | Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«. S. 631. 114 | Die spielerische Seite dieser Schockmomente erkundet Rene Clairs Entr’acte, vgl. den Abschnitt »Vor-Bilder/Zwischenspiele: Entr’acte (1924)« im vorliegenden Band, S. 257ff. 115 | Bergson, Henri; Oger, Erik und Frankenberger, Julius: Materie und Gedächtnis eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner, 1991. 116 | Vgl. Stiegler: Philologie des Auges die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. S. 104.

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Nachbild auf der Netzhaut des Auges, das sog. »Augengedächtnis«117 bildet die Voraussetzung der visuell nahtlosen Verknüpfung der eigentlich disparaten, vor dem Auge pulsierenden, flimmernden Filmbilder. Das Nachbild der Retina bildet den Übergang, es fügt den disparaten Kinobildern auf der Leinwand somit eine Überbrückung, eine Unterbrechung der Unterbrechung hinzu: Es gibt ihnen eine Form der Bewegung zurück, es re-vitalisiert die still-gestellten Bilder. So, wie Benjamin es mit Bergson beschreibt, scheint es zugleich kein Entkommen von der modernen Erfahrung wie auch dem Hereinbrechen des filmischen Sehens als Signatur einer umstrukturierten Wahrnehmung zu geben – das filmische Nachbild wirkt trotz eines Verschließens der Augen nach, es bricht unwiderruflich in die menschliche Wahrnehmung ein und lässt sich selbst mit geschlossenen Augen nicht mehr Ausblenden. Murakamis Akt der ›Passage‹ durch die Leinwände scheint aus dem Impuls einer ähnlichen unvermeidlichen Schockerfahrung heraus zu ›passieren‹ und ließe sich so als ein Insistieren auf der nachhaltigen Wirkung von Nachbildern (und deren unsichtbaren Vorbildern) begreifen, die unsere Vorstellung von Bildlichkeit und der Rolle des Körpers innerhalb solcher Bildwelten durchpflügen. Murakami exteriorisiert diese traumatischen Vor-/Nachbilder einer Schockerfahrung, bringt sie in ihrer Vielschichtigkeit, in serieller Staffelung zur Aufstellung und findet einen Weg, diese Anordnung, dieses Gestell der Bilder (trotz allem) mit und durch den Körper zu durchbrechen. Sein Durchlaufen unter- und durchbricht die klare Trennung unterschiedlicher Bildwelten, unterschiedlicher Vorstellungen von Bild und Bildlichkeit sowie der bildlichen Vorstellung vom Leib und des Leibes. Die durchbrochenen, zerrissenen, durchlöcherten Leinwände erscheinen so als bildlich-bildlose, als ›unzeitige‹ Bilder: als unmögliche Vor-Bilder, potentielle Noch-nicht-Bilder, zukünftige Nachbilder, die nicht ohne den bewegten Körper vorstellbar sind, nicht ohne diesen zu denken wären und dennoch zugleich dessen mögliche Abwesenheit berücksichtigen und antizipieren. Ein weiterer bemerkenswerter Punkt ist in diesem Zusammenhang Benjamins abweichende Darstellung der Aura, die er hier abweichend von seiner berühmten Formulierung in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschreibt. Hier hatte Benjamin die Aura als »sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«118 definiert und deren fortschreitenden Verlust als Signatur einer veränderten Wahrnehmung beschrieben. Im Aufsatz über Baudelaire formuliert er nun: »Die Aura

117 | »Das unwillkürliche physiologische Gedächtnis der Retina gestattet die technische Reproduktion von Bewegungsabläufen, die für die ersten Kinogeher von der natürlichen Wahrnehmung nicht unterschieden werden konnten«. Ebd. 118 | Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung«. S. 440.

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einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.«119 Die Aura sei somit als das »Zurückblicken« des unbelebten Objekts zu begreifen, was fast einer Art magischen Belebung des Objekts gleichzukommen scheint. In diesem Sinne, könnten wir den Gedankengang Benjamins fortschreiben, konfigurieren die Löcher in Murakamis Gestell als w/holes (im Sinne Mannings) einen magisch belebten und zugleich leeren, vereinsamten, gespenstischen Blick, ein Zurückschauen des verlassenen Objekts – sie bilden quasi das ›Gesicht‹ und den Blick eines radikal abwesenden Körpers.120

»Ma«/FIN: Letzte Wiederholung, ein Zögern Neben diversen Fotodokumenten der frühen Aktionen kursiert eine kurze, private Filmaufnahme (vermutlich genauer: eine Videoaufzeichnung) von Murakamis letzter Wiederholung seiner »Passage«, dem letzten Re-Enactment seiner Aktion aus Anlass einer großen künstlerischen Retrospektive im Jahre 1994, zwei Jahre vor seinem überraschenden Tod im Alter von 71 Jahren.121 Das Videobild zeigt Murakami in einem dunklen Overall mit Gürtel schräg von hinten, etwa einen Meter vor der ersten Wand goldenen, noch völlig intakten Papiers. Im Hintergrund hören wir lautes Gemurmel und Unterhaltungsgeräusche. Murakami konzentriert sich, legt seinen Kopf leicht in den Nacken, sein Blick wandert kurz nach oben, er betrachtet die vor ihm aufgebaute Wand in ihrer gesamten Höhe. Dann setzt er zum Durchlaufen an, macht einen Schritt mit dem linken Fuß nach vorn und bewegt sich mit der Schulter voran auf die Papierfläche zu, als wolle er sich mit seinem ganzen Körpergewicht in die Fläche werfen. Unerwartet ereignet sich an dieser Stelle ein Moment des Zögerns. Murakami stoppt, hält für einen ganz kurzen Moment inne. Er setzt erneut an, holt nun aber zuerst mit dem rechten Arm aus und versetzt dem Papier einen Fausthieb, was einen lauten dumpfen Knall erzeugt, der zugleich eine Ahnung von der relativen Stärke und Widerstandsfähigkeit der Papierstruktur vermittelt. Ein zweiter Schlag mit der linken Hand nimmt weitere Spannung aus dem gerahmten Papier und schließlich betritt er das Gestell mit dem linken Fuß voran und verschwindet in den gerissenen und weiter zerberstenden Lagen des Materials. Die Kamera verfolgt ihn von der Seite, verliert Murakami jedoch gleich in einem Tumult von Material und Bewegung aus dem Blick. Wir hören lediglich weitere Knall- und Reißgeräusche, mühsam scheint sich Murakami seinen Weg durch die materiellen Schichten zu bahnen, während die Kamera

119 | Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«. S. 647. 120 | Vgl. Toufic: Two or three things I’m dying to tell you. S. 9ff. 121 | https://youtu.be/EWctXXGeJMA, zuletzt besucht am 13. April 2018.

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versucht, seine Bewegung innerhalb des Gestells zu antizipieren und ihn am Ausgang wieder in den Fokus zu bekommen. Nach etwas mehr als zehn Sekunden taucht er schließlich auf der anderen Seite wieder auf; etwas desorientiert stützt er sich mit den Händen und Knien auf dem Boden ab. Das Publikum hat hier einen größeren Halbkreis um die letzte Schicht des Gestells geformt, das Blitzlicht einer Fotokamera leuchtet auf. Dann, aufstehend, im Zurücktreten, wendet sich Murakami um, will sein Objekt betrachten, macht einen Schritt von seinem Objekt weg, taumelt. In diesem Moment, quasi als er die zurückblickende Position des anfangs besprochenen Fotos nochmals durchquert, stolpert Murakami und stürzt rückwärts auf das applaudierende Publikum zu, bis er schließlich kurz vor ihnen mit dem Gesäß auf dem Boden zu sitzen kommt und für einen kurzen Moment, quasi selbst als Teil des Publikums sein eben entstandenes ›Werk‹ betrachtet. Erst danach steht er etwas mühsam wieder auf, beginnt sich unter dem Applaus der Zuschauenden zu verbeugen, schüttelt die Hand eines Besuchers, die Menschen-Ansammlung um ihn herum beginnt umgehend sich aufzulösen. Das kurze, amateurhaft wirkende Video vermittelt einen eher fragmentarischen Eindruck von der Aktion und ist dennoch oder gerade aufgrund seines ›unmittelbaren‹, improvisierten Charakters es ein wertvolles Dokument. Auch wenn sich das späte Re-Enactment möglicherweise von früheren Aktionen in einigen Punkten unterscheidet (z.B. bedingt durch das Alter Murakamis, seinen inzwischen arrivierten Status, das große Vernissage-Publikum etc.), erhalten wir aus der Aufnahme eine ganze Reihe wertvoller Informationen über den Gesamtverlauf der Aktion, sowie einige überraschende Details. Zunächst wäre hier die akustische Dimension zu erwähnen, das laute Knallen des Papiers unterstreicht nochmals dessen materielle Widerständigkeit, zudem zieht sich die Aktion trotz ihrer relativ kurzen Gesamtdauer überraschenderweise ziemlich in die Länge, es wird deutlich, dass es sich um keinen Durchlauf ›in einem Zug‹ handelt, sondern ein mühsames ›Bahnen‹ des Weges. Dann zeigt die ungeschönte, gänzlich ›unheroische‹ Situation am Ende, mit ihrem desorientierten, unbeholfenen Sturz, wie Murakami auch viele Jahre nach seiner ersten Aktion immer noch den starken inneren Impuls zu haben scheint, schon bevor er mit seinem Durchlaufen fertig ist, sich umzuwenden und umgehend eine Betrachterrolle einnehmen zu wollen. Wir werden Zeuge eines unmittelbaren Wechselns zwischen den Rollen des Performers und des Rezipienten, welches Murakami im direkten Sinne ins Stolpern bringt. Der Moment des Zögerns zu Beginn ist eben so leicht zu übersehen, wie zugleich bemerkenswert. Die überraschende, nicht einfach einzuordnende Geste, gibt Anlass darüber zu spekulieren, was diesen eigenartigen Moment des kurzen Innehaltens verursacht: Hat Murakami hier plötzlich Bedenken,

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dass der Widerstand des Materials für seinen Körper – er ist hier 69 Jahre alt – möglicherweise eine Überforderung sein könnte? Erinnert er sich plötzlich an vergangene Durchläufe wie beispielsweise seine erste Aktion, bei der er eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen haben soll? Projiziert er bereits hier im Vorfeld seine Erfahrungen, Erwartungen und eigenen Spekulationen auf das vor ihm aufgetürmte, ihn im Gegenzug ›voller Spannung‹ erwartende Material? Zugleich ließe sich aber fragen, ob im Moment des Innehaltens nicht etwas Grundsätzlicheres enthalten ist, eine Geste des ober erwähnten »Oder-auch-Nicht«, eine Möglichkeit, die Wiederholung der Wiederholung in einem Moment der Unterbrechung hinauszuzögern und im letzten Moment kritisch zu hinterfragen. Kommen wir so, abschließend, nochmal auf die Theorie Bergsons und die Rolle eines Moments der Verzögerung zunächst in der Lesart Alia Al-Sajis zurück: It is through [ ] delay that a different temporality is opened up, irreducible to the (quasi-)repetition of the same that defines inert matter for Bergson. […] To delay immediate reaction is to interrupt the seamless continuity of past-present actuality in favor of a virtualization of the past that allows it to ›act‹ differently in the present – to suggest and create rather than simply play out and repeat.122

Die Bedeutung einer Verzögerung als Form der Einführung einer grundsätzlich anderen Zeitlichkeit beschreibt Alia Al-Saji mit Blick auf die Theorie Bergsons in seinen Worten als Form einer »Virtualisierung«, die die Möglichkeit eines anderen Verlaufs oder Fortgang innerhalb des zeitlichen Kontinuums eröffnet. Murakami scheint in seinem Moment des Zögerns der Aktion ›projizierend‹ etwas vorwegzunehmen, eine Verzögerung von Bewegung, die sich bald in Gestalt der Risse im Papier re-konfiguriert, als solche zukünftig (rückblickend) eingeschrieben haben wird und in seiner antizipierenden Geste bereits vor ihrem eigentlichen Ereignen bereits eine Betonung erfährt. Es scheint, als würden in der Geste des Zögerns die Risse im Papier vorweggenommen, prä-konfiguriert. Es ginge hier somit auch um die Unterbrechung einer Bewegung als Antizipation des erwarteten materiellen Widerstandes, als Möglichkeit eines anderen Verlaufs, als Möglichkeit einer Verweigerung. Dies wäre, wie Alia Al-Saji mit Blick auf Bergson schreibt, die Unterbrechung einer Aktualisierung von Wiederholung als Virtualisierung im Sinne eines ›acting differently‹. Ein japanisches Konzept, welches diesen Moment des Zögerns als Unterbrechung von Bewegung mit dem Eintritt in das Material und den Zwischenräumen des Gestells verbindet, wäre im Begriff des »MA« zu sehen, das sich verschie-

122 | Al-Saji, Alia: »Life as Vision: Bergson and the Future of Seeing Differently«, in: Kelly, Michael R. (Hg.): Bergson and phenomenology, Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan, 2010. S. 148-173. Hier: S. 156.

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denen Beschreibungen zufolge, sowohl auf räumliche als auch auf zeitliche Dimensionen bezieht: The word ma basically means an »interval« between two (or more) spatial or temporal things and events. Thus it is not only used in compounds to suggest measurement but carries meanings such as gap, opening, space between, time between, and so forth. A room is called ma, for example, as it refers to the space between the walls; a rest in music is also ma as the pause between the notes or sounds.123

Das umfassende Konzept findet sich unterschiedlichen Bereichen des alltäglichen Lebens wie auch der Kunst und Ästhetik wieder: »Ma penetrates all arts - from preparing, serving and drinking tea to doing business, from folding paper (origami) to martial arts, from painting and cinema to architecture.«124 Zentral ist dem Konzept von Ma dabei eine Positivierung der Unterbrechung, des Intervalls, der Pause als Formen kreativer, emotionaler, imaginativer (Zeit-) Räume: […T]he meaning of ma in many of these arts affirms the power, interest, depth or profundity that shines through the gaps, cracks, and intervals in space and time. […] Such intervals are thus referred to as creative/substantial negative spaces, imaginative spaces, or emotional spaces that the positive spaces, narrative sequences, or forms of an art help create but into which they dissolve.125

Innerhalb des Konzeptes von Ma wird dabei eine komplexe Verschachtelung verschiedener Raum-Zeitlichkeiten aus ihren Momenten der Unterbrechung deutlich: »Ma is a spatio-temporal interval in which a dynamic in-between is systematically prior, though retrospectively simultaneous to the installed entities.«126 Zugleich verdeutlicht sich hierin eine komplexe Relationalität, ein vielschichtiges Eingebunden-Sein, eine Verflechtung: »As such, the word ma clearly begins to take on a relational meaning – a dynamic sense of standing in,

123 | Pilgrim, Richard B.: »Intervals (›Ma‹) in Space and Time: Foundations for a Religio-Aesthetic Paradigm in Japan«, in: History of Religions, Nr. 3, Heft 25, 1986. S. 255-277. Hier: S. 255. 124 | Oosterling, Henk: »A Culture of the ›Inter‹. Japanese Notions of ma and basho«, in: Kimmerle, Heinz und Oosterling, Henk (Hg.): Sensus Communis in Multi- and Intercultural Perspective: On the Possibility of Common Judgments in Arts and Politics, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000. S. 61-84. Hier: S. 72. 125 | Pilgrim: »Intervals (›Ma‹) in Space and Time: Foundations for a ReligioAesthetic Paradigm in Japan«. S. 261. 126 | Oosterling: »A Culture of the ›Inter‹. Japanese Notions of ma and basho«. S. 73.

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with, among, or between.«127 Durch das das raum-zeitliche Konzept von Ma ließe sich so gleichermaßen auf das von Intervallen der Leinwände geprägte Gestell, die Aktion Murakamis, so wie die daraus resultierenden zerrissenen Schichten und Lagen beziehen. Dabei entfaltet sich durch das Konzept von Ma ein besonderes Gespürs für den Moment von Bewegung: »Ma is the way to sense the moment of movement.«128 Diese Form der Sensibilität für Bewegung eröffnet eine besondere Möglichkeit der Beziehung von Aktivität und Passivität, die sich gleichermaßen auf die (reißende bzw. nicht-reißende) Bewegung des Materials, wie die körperlich (Raum-)Bewegung Murakamis und die Differenzen zwischen diesen Instanzen beziehen ließe: »In ma space and time are both involved: ma is a dynamic spacetime interval wherein activity and passivity, agens and patiens are one and the same, yet different.«129 Das Konzept von Ma schließt so unmittelbar an Erin Mannings Beschreibung Ihres – an Bergsons Theorie geschärften – Intervall-Verständnisses an, das sie als virtuell, unkörperlich und dennoch als greifbar und substantiell beschreibt: »The interval is virtual, incorporeal. Yet it has substance: it is palpable.«130 Manning beschreibt die Qualität dieser ›Substanz‹ des Intervalls im Weiteren in Anlehnung an ein »nachhaltiges« Bewegungsverständnis, das außerhalb ontologischer Dimensionen wirkmächtig ist, indem es »agiert«: »The substance of the interval is its capacity to retain qualities even after its perishing within an actual occasion. This quality of movement is not: it acts.«131 Manning umreißt so ein Konzept des Intervalls als virtuell, d.h. als Unterbrechung im linearen Zeitverständnis, welches durch komplexe Zeitverschachtelungen gekennzeichnet ist und an Stelle einer zeitlichen Sukzession eher die Ko-Existenz verschiedener (Un-)Möglichkeiten von Realität nebeneinanderstellt: As pure duration, the interval creates a schism in linear time, preserving the future in the present. The time-slip of the interval is the future anterior: the will-not-yet-have-happened. The interval never marks a passage: it creates the potential for a passage that will have come to be. This duration is defined less by succession than by coexistence, virtually.132

127 | Pilgrim: »Intervals (›Ma‹) in Space and Time: Foundations for a ReligioAesthetic Paradigm in Japan«. S. 256. 128 | Oosterling: »A Culture of the ›Inter‹. Japanese Notions of ma and basho«. S. 73. 129 | Ebd. S. 72. 130 | Manning: Relationscapes: Movement, Art, Philosophy. S. 24. 131 | Ebd. 132 | Ebd.

12. Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murami Sabur ō)

In vergleichbarer Weise scheinen auch die Risse in der Aktion und im objekthaften Gestell Murakamis sich mit den unterschiedlichen raum-zeitlichen Dimensionen des Konzeptes Ma zu verbinden, sie durchbrechen die Staffelung der Leinwände und weisen so insistierend auf die Intervalle der Bewegung der Körpers hin. Als selbst unterbrochene, pausierende, latente Momente eines potentiellen Weiterreißens, durchziehen sie die performative, installative Anordnung Murakamis tangential, sie konfigurieren eine komplexe raum-zeitliche Verbindung, indem sie den segmentierten Raum für die Bewegung öffnen (bzw. geöffnet haben werden). Die Risse innerhalb des Ge-stells bilden eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Wiederholungen der Aktion Murakamis und verbinden zugleich die einzelnen Leinwand-Durchbrechungen die im Inneren des Ge-stells stattgefunden haben, mit den beschriebenen herausgehobenen Momenten des Davor und Danach, Momente des Zögerns und des Stolperns. Diese Momente davor und danach scheinen durch die erzeugten Risse eine neue virtuelle ›Sichtachse‹ aufeinander zu erhalten, der zögernd-verzögerte Moment einer Gerade-noch-Nicht schließt an den hinausgezögerten Moment eines stolpernden, taumelden Gerade-Noch an, es verbindet die Bewegung Murakamis durch diese Momente hindurch mit den Wiederholungen seiner Aktion: die bereits ›durchlaufenen‹, die potentiell noch bevorstehenden und jene, die niemals stattgefunden haben werden. Durch ein an das japanische Konzept Ma angelehnter Blick auf Risse ermöglicht so eine Wahrnehmung von Murakamis Objekt/Gestell in dem das Tun und Nicht-Tun, Aktivität und Passivität als virtuelle Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinanderstehen; es ermöglich einen virtualisierten Blick auf Variationen der Aktion, als würde sie in ähnlicher Form potentiell wieder stattfinden können und zugleich auf die virtuelle Möglichkeit, niemals stattgefunden zu haben.

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13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe – und ihren Vorläufern (Günter Brus)

Figuren und Figurationen von Rissen1 sind im vielgestaltigen künstlerischen Schaffen des österreichischen Malers und Wiener Aktionisten Günter Brus unübersehbar. Sie begegnen uns in seinen Arbeiten auf unterschiedlichen Ebenen: als häufig wiederkehrende Bildmotive, als performative Bewegungsfiguren in Wechselwirkung mit verschiedenen ›Mediensprüngen‹ und als übergeordnete, leitmotivische Denkfigur. In vielen Bildern, Fotos und einigen existierenden Filmaufnahmen von Brus’ Aktionen, insbesondere im Zeitraum der sechziger und siebziger Jahre, finden wir so sehr unterschiedliche Gestalten und Ausprägungen von Rissfiguren: konkrete Risse in Papierschichten, Risse als aufberstende Materialoberflächen oder als häufig wiederkehrende, teilweise bloß angedeutete schwarze, mäandernde, bisweilen zackige gemalte und gezeichnete Linien. Diese Linien umspielen und überschreiten häufig die Ränder der Bilder und bewegen sich so (symbolisch und physisch-konkret) in der Nähe zu Schnitten oder Nähten, und damit auch im übertragenen Sinne entlang ihrer definitorischen Unschärfen: die trennscharfe Unterscheidung zwischen gezeichneten, symbolischen und ›konkreten‹ materiellen Rissen (bzw. Schnitten), verschwimmt dabei zunehmend. Dies gilt insbesondere im Übergang zwischen künstlerischen Genres, von der Malerei zu den verschiedenen Malerei-einbeziehenden performativen Aktionen Brus’ und den daraus resultierenden, weiterführenden Medienwechseln, insbesondere zu Fotografie und Film.

1 | Der Ansatz, von Rissen als »Figuren« zu sprechen, ermöglicht die folgenden Betrachtungen unabhängig davon, ob es sich um ›tatsächliche‹ Risse handelt oder um angedeutete, maskenhaft aufgetragene, gezeichnete etc. Anstatt hier eine trennscharfe Unterscheidung einzuführen, soll eher nach den unscharfen Übergängen zwischen diesen unterschiedlichen Formen und Gestalten des Risshaften gefragt werden. Vgl. den Abschnitt »Risse als dynamische Figuren« im vorliegenden Band, S. 60ff.

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Zwar ist das vielfältige malerische wie zeichnerische Werk Brus’ und insbesondere seine radikalen performativen Aktionen in den Jahren von 1964 bis 1970, im Kontext künstlerischer Entwicklungen der späteren, ausklingenden Nachkriegszeit im deutschsprachigen Raum relativ umfassend beschrieben, analysiert und kontextualisiert worden2 (nicht zuletzt auch immer wieder durch den Künstler selbst oder unter dessen Mitwirkung) – eine tiefergehende, explizite Auseinandersetzung mit der prominenten (Rand-)Figur des Risses stand in den Beschreibungen, Analysen und Kontextualisierungen in der existierenden Literatur bisher als solche wenig im Vordergrund. Während verschiedene Autor*innen gelegentlich die Frage berühren, wie die unterschiedlichen Figuren des Risses sich nach und nach ›gebildet‹ und in den unterschiedlichen Arbeiten manifestiert und zunehmend transformiert haben, wurden die weiterführenden Implikationen dieser Figur, möglicherweise Aufgrund ihren unscharfen Abgrenzung und ihres transformatorischen Charakters bisher nur unzureichend untersucht. Die Figur des Risses behält – so zentral sie bei Brus auch im Laufe seiner unterschiedlichen Arbeiten auftritt, in der Sekundärliteratur, wie bereits in anderen Zusammenhängen häufiger konstatiert, eine auffällige Randständigkeit. Im Folgenden soll das Auftauchen dieser werkdurchziehenden Rissfiguren unter Berücksichtigung der existierenden Untersuchungen nachgezeichnet werden und nach den verschiedenen Transformationsbewegungen gefragt werden sowie dem Wirkungs- und Bedeutungspotential dieser unscharfen Rand-Figur. Von dieser Warte wird es weiterführend um die Frage des Potentials von Rissfiguren gehen, Übergänge zwischen unterschiedlichen Medien und Arbeitsweisen aufzuzeigen, die sich konventionellen Kategorisierungen künstlerischer Genres entziehen und wiedersetzen. Mit diesen Durchbrechungen üblicher Stil- und Genrezuschreibungen wandelt sich bei Brus langsam der ›Einsatz‹ des eigenen Körpers, die Verwendung von Sprache sowie die Rolle und Funktion von Zuschauenden: neben Fragen der Performativität werden am Rande der verschiedenen Rissfiguren somit auch Aspekte einer (latenten) Theatralität – insbesondere im Hinblick auf Konstellationen von Zeugenschaft – relevant. Ein thematischer Fokus dieses Kapitels widmet sich daher dem Zusammenhang zwischen Rissfiguren, Aspekten der Verkörperung und der Probe, des Probens, bzw. der experimentellen Anordnung und performativen Erprobung. Somit rücken weiterführende Zusammenhänge zwischen individuellen und gesellschaftlichen Transformationen ins Blickfeld: konkret zwischen Inszenierungen der Selbstverletzung und Formen latenter, staatlicher und institutioneller Gewalt, Fragen nach Grenzen und Begrenzungen im Kontext gesellschaftlicher, sozialer und künstlerischer Beziehungen. Bei Brus erweisen sich diese Zusammenhänge 2 | Hierbei wurden u.a. kunstwissenschaftliche, performance-theoretische, historischpolitische, sprachliche, psychologische, physiologische, biographische Aspekte umfassend ausgeleuchtet.

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als Suche nach Möglichkeiten des Ausbruchs aus beengten gesellschaftlichen Vorstellungen, konservativen Auffassungen von Kunst und ihrer institutionellen Beschränkung. Im Rahmen dieser Fragestellungen ist mit Figuren des Risses auch ein interdisziplinäres Feld zwischen malerischen, zeichnerischen Verfahren einerseits, sowie performativen und theatralen Dimension andererseits eröffnet. Es geht somit um inhärente Spannungsverhältnisse sowie ihre gegenseitigen Auf- und Entladungen und damit nicht zuletzt auch immer wieder um die Frage nach dem Verhältnis zu Zuschauenden und der Zeugenschaft der Anwesenden – wie auch der Abwesenden, u.a. im Zuge von vielfältigen Fragen nach dem Status von produzierten Dokumenten, Fotografien, Filmen, etc.

Vor-Läufe und Übergänge – zwischen Linie und Riss Um die Rolle und die verschiedenen transformatorischen Entwicklungslinien der unterschiedlichen risshaften Figuren innerhalb der Aktionen Brus’ besser nachvollziehbar zu machen, sollen zunächst einleitend, anhand der existierenden Literatur, Spuren von Rissen und Rissfiguren im frühen zeichnerischen und malerischen Schaffen Brus’ aufgezeigt werden, mit Blick darauf, wie und wo diese Figuren auftauchen, wie sich diese im Laufe seiner frühen künstlerischen Phasen verändern, bzw. wie Figuren von Rissen die aktionistische Phase vorprägen bzw. in diese hineinwirken. Die folgende Darstellung beschreibt ein frühes Riss-Szenario als erstes, noch unabsichtliches In-Erscheinung-Treten der Figur: Die Künstler Günter Brus und Alfons Schilling waren in diesem Frühjahr 1960 auf der Insel Mallorca gestrandet […] Brus und Schilling geraten in einen furiosen Sog. Brus zeichnet hastend auf dünnen Papierbahnen dunkle Konglomerate in senkrechten und waagerechten Kratzfolgen, in einer Intensität, die durch das Blatt hindurch will. An zahlreichen Stellen reisst das Papier und zeigt zum ersten Mal seine Wunden.3

Der Autor und Künstler Theo Altenberg beschreibt hier im poetisch gefärbten Stil (Brus eigenem Sprachgestus nicht unähnlich) eine frühe künstlerische Entwicklung weg von der figürlichen Darstellung im Rahmen der Zeichnung – hin zu einer intensiven (bereits performativ angehauchten) Bearbeitung der künstlerischen Materialien, im Rahmen derer, zunächst eher beiläufig, erste Figuren von Rissen in seinen Zeichnungen auftreten. Altenberg zieht in seiner Beschreibung dabei

3 | Altenberg, Theo: »Nah Tod Leben bei vollem Bewußtsein«, Günter Brus. Bodyanalysis Actions 1964 - 1970, Berlin: Edition Kröthenhayn, 2010. S. 31-55. Hier: S. 31f.

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Abb. 18 | Günter Brus, Ohne Titel (1960). Schraffuren mit eingerissenem Papier.

wie selbstverständlich eine (vorausblickende) Verbindung von Haut und Papier, indem er diese frühen Riss-Stellen bereits als »Wunden« bezeichnet. Brus zeichnerische Methode besteht hier anfangs in beinah manischen Wiederholungen eines zeichnenden Schraffierens, teilweise Kratzens, welche das verwendete Papier ›flächig‹ zu traktieren beginnt. Als eine äußere Ursache kann hierfür der von Monika Faber beschriebene Wechsel des Malgrundes von der Staffelei zum Boden gelten, wodurch Brus »die klassische ›Fensterfunktion‹« des Bildes hinter sich lasse und sich damit von »Assoziationsmöglichkeiten mit Vorbildern aus der Natur« verabschiedet habe.4 Die Entstehung von Rissen im Papier wird hier zunächst als ein eher zufälliges Ereignis aufgrund der prekären materiellen Bedingungen gesehen, eine Art ›Randerscheinung‹:

4 | Faber, Monika: »›Malexzess‹. Frühe Aktionen von Günter Brus dokumentiert in Fotografien von Siegfried Klein (Khasaq)«, in: Klocker, Hubert; Faber, Monika und Brus, Günter (Hg.): Günter Brus Aktionen 1964/65, Milano: Mazzotta, 2005. S. 13-41. Hier: S. 18.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus) Aufgrund der beschränkten Arbeitsmöglichkeiten hatte Brus auf Mallorca zunächst nur kleinformatige abstrakt-gestische Zeichnungen geschaffen, deren mehr oder minder rechtwinklig übereinander gelegte Bleistiftschraffuren jedoch bereits mit derartiger Vehemenz aufgetragen waren, dass das verwendete dünne Papier an zahlreichen Stellen einriss.5

Im Zusammenhang von Rissen, Materialität und dem ›vehementen‹ körperlichem Gestus des Malens zeichnet sich dabei zwar eine gewisse Nähe aber auch eine deutliche Differenz zur Arbeitsweise Lucio Fontanas und seinen Schnittfiguren ab: Andererseits wurde der Zeichenstift bei diesen frühen informellen Blättern [Günter Brus’] so fest in das Papier getrieben, dass es riss, oder dass die verbleibenden Zeichen fast als kleine Hackeneinschläge wahrgenommen werden können. Natürlich lässt sich hier Lucio Fontanas aufgeschlitzte Leinwand zitieren, doch Brus bediente sich keines Messers, um das Papier gleichmäßig zu durchdringen.6

Die schwarzen Linien dieser informellen Malerei bilden so schon früh einen engen Bezug zu den noch relativ kleinen, unabsichtlich erscheinenden Rissen innerhalb des Papiers, beide geben in leicht unterschiedlicher Form Zeugnis von der Art und Weise ihres Auftrages ab, d.h. sie zeugen von den Bewegungen des Malens und bringen so dessen spezifische Materialität hervor: »Der Akt des Malens als körperlicher Vorgang überlagert die Bedeutung der Gestaltung der Fläche, die offen und ohne Zentrum gedacht ist.«7 Während sich hier bereits hier zunehmend der Fokus auf die gestische Aktion des Malens und damit den Bewegungen des malenden Körpers richten, scheinen zugleich figürliche Abbildungen von Körpern innerhalb der informellen Schaffensphase Brus’ abwesend, ersetzt durch Spuren des physischen Traktierens in Form abstrakter Schraffuren und hakenartigen, immer insistierender auftretenden risshaften Figuren. Rissfiguren werden so nicht nur als konkrete materielle Risse, sondern zunehmend als eine bestimmte Form der abrupten Linienführung gegenwärtig, die zwischen Riss- und Narbenhaftigkeit changiert.

5 | Badura-Triska, Eva: »Günter Brus. Der Körper des Künstlers als Arbeits- und Erfahrungsmedium«, in: Badura-Triska, Eva; Klocker, Hubert und Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig (Hg.): Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, Köln: König, 2012b. S. 52-54. Hier: S. 52. 6 | Faber: »›Malexzess‹«. S. 18. 7 | Schwanberg, Johanna: »Chronologie 1958–1964«, in: Schröder, Klaus Albrecht; Faber, Monika und Albertina, Graphische Sammlung (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung, Köln: König, 2003. S. 18-65. Hier: S. 20.

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Abb. 19 | Günter Brus, Ohne Titel (1962).

Aus dem Impuls heraus, diesen informellen Malstil weiterzuentwickeln und den Bereich des bildnerischen Schaffens zu erweitern, konzipiert Brus verschiedene Strategien, aus denen heraus die schwarzen Linien und flächigen Schwärzungen verstärkt raumgreifend werden. Brus gestaltet so ein begehbares, labyrinthisches Rundumbild unter dem Titel Malerei in einem labyrinthischen Raum (1963), welches aus verschiedenen großformatigen, schwarzweißen Bildtafeln bestand, in denen sich die manisch wirkenden Strich-Wiederholungen zu schwarzen, im Zickzack verlaufenden Linien transformiert haben und zu einer formatfüllenden Riss-Landschaft ausgeweitet zu haben scheinen. Parallel zu dieser Einführung zerklüfteten Riss-Landschaften verschiebt sich durch den installativen Charakter der Bildanordnungen zugleich die Rolle des Körpers beim Malen und Betrachten. Wie die Kunsthistorikerin Eva Badura-Triska beschreibt, steht bei dieser Arbeit das labyrinthische Prinzip der Desorientierung jedoch noch als primär produktionsästhetisches Mittel im Vordergrund: Sämtliche Wände werden mit Molino überzogen, längs und quer durch den Raum spannt Brus Schnüre, auf die er Packpapierbahnen hängt. Letztere werden nicht bemalt, sondern dienen lediglich dazu, während des Malprozesses die Sicht auf das Gesamte zu verunmöglichen und so ein Abgleiten in traditionelle,

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Abb. 20 | Günter Brus, Ohne Titel, aus: Malerei in einem labyrinthischen Raum, (1963). auf ein in sich geschlossenes Bildganzes abzielende Kompositionsansätze zu vermeiden. Für die anschließende Ausstellung werden sie wieder beseitigt.8

An diesem Mittel der Fragmentierung des Raumes und der resultierenden Desorientierung während des Malens zeigt sich Brus’ deutliches Bestreben, aus einem konventionellen künstlerischen Rahmen mittels strategischer (Selbst-) Beschränkung herauszutreten. Es kann daher ein deutlicher Zusammenhang zwischen der bewussten Desorientierung im Raum und der mäandernden schwarzen Linienführung im Bild gesehen werden. Das Motiv des Labyrinthischen deutet dabei bereits auf einen paradigmatischen Richtungswechsel: Wie in den folgenden Aktionen geht es so zunehmend um ein körperliches Hineinbegeben in den künstlerischen Prozess, eine Form der Hingabe im doppelten Sinne der Aufgabe: einerseits als Sich-Widmen und zugleich als bewusstes Aufgeben bestimmter Aspekte von Kontrolle im künstlerischen Prozess. Dabei werden zunehmend die konventionellen Produktionsweisen und -mittel des Malens in Frage gestellt, insbesondere die, durch bürgerliche Konvention reglementierte Rolle des Körpers. Brus bewegt sich so langsam weg von einem ›autoritativen‹, kontrollierenden Selbstverständnis als Künstler hin zu einer zunehmenden Einbeziehung des Körpers als störender/verstörter Faktor im Prozess des bildnerischen Schaffens bzw. Werdens. Gewissermaßen zeichnet sich der Eintritt des Körpers in den erweiterten Raum des Bildes ab, dessen Grenzen sich in diesem Prozess langsam aufzulösen beginnen. Die Arbeit Malerei in einem labyrinthischen Raum kann dabei entwicklungstechnisch als eine Schwellenarbeit gesehen werden, in der sich bereits die deutliche Tendenz zu einer konzeptuelleren Arbeitsweise und des verstärkten Agierens im Raum während des Produktionsprozesses zeigt. Vorerst wird Brus jedoch für die Präsentation seiner Arbeiten noch in konventionelle 8 | Badura-Triska: »Körper des Künstlers«. S. 54.

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Abb. 21 | Günter Brus, Ana (1964).

Bahnen zurückgedrängt: »Wenn gleich diese extreme Form von Aktionsmalerei bereits in hohem Maße den Charakter einer Aktion im Raum hat, sind das Endresultat hier noch immer aus dem Labyrinth wieder herausgelöste Bilder.«9

Performanzexplosion Mit den frühen Aktionen Ana (1964), Silber (1965), den Serien Selbstbemalung, Selbstverstümmelung (1964/65) vollzieht Brus schließlich den Übergang zur Aktionskunst, anfangs zunächst in privaten Räumen ohne öffentliches Publikum. Dennoch finden sämtliche Aktionen stets unter Zeugen statt und werden fotografisch bzw. filmisch begleitet und dokumentiert. Im Rahmen dieser als

9 | Badura-Triska: »Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion«. S. 54.

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Abb. 22 | Günter Brus, Ana (1964).

»Performanzexplosion«10 beschriebenen Phase entstehen diverse künstlerische Szenerien und Szenarien als Visionen von Gewaltausbrüchen; inszenierter Exzesse dienen als »paradigmatische Umwertung[en] des Körpers zum direkten Zeichenträger«11, in denen sich die vielfältigen Beziehungen von Rissfiguren und dem (nur noch teilweise malenden) Körper weiter transformieren, intensivieren, vertiefen und ausweiten. Die Fotografien von Brus’ erster Aktion Ana (1964) von Siegfried Klein (unter dem Künstlernamen »Kasaq«) zeigen deutlich, wie im anfänglichen Agieren und

10 | Klocker, Hubert: »Günter Brus, Werkstruktur, 1960-er Jahre«, in: Klocker, Hubert; Faber, Monika und Brus, Günter (Hg.): Günter Brus Aktionen 1964/65 , Milano: Mazzotta, 2005. S. 7-12. Hier: S. 11. 11 | Ebd.

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in der rauschhaften Bemalung des Raumes vielfältige, konkrete und symbolische Rissfiguren auftauchen. Während Brus sich bei der Aktion eingangs aus den körperumhüllenden Bandagen befreit, reißt das wenig strapazierfähige bodenbedeckende Papier unter Brus’ raumgreifenden Bewegungen mehrfach ein, im Foto verbinden sich die weißen faltigen Stofflappen mit den eingerissenen und zusammengestauchten Papierlagen und erinnern formensprachlich noch stark an den Gestus der frühen Schraffuren der informellen Zeichnungen.12 Erst in der folgenden Aktion wird Brus diesem teilweise noch unkontrollierten, expressiven Ausdruck bewusst eine Form der Ruhe und Konzentration als kontrapunktische Qualität entgegensetzen, wie z.B. bei der Durchführung seiner Aktionen Selbstbemalung (1965). Monika Faber betont in dieser künstlerischen Schaffensphase die Verbindung der Einführung der motivischen ›Leitlinie‹ wie auch die zunehmend tragende Rolle der Medien Fotografie und Film, die weitere künstlerische Ebenen und mediale Rahmungen bilden, auf denen sich die Spur der risshaften Linie abbilden und fortzupflanzen vermag: Kurt Krens Film zu »Ana« hat die Aufgabe kongenial bewältigt, zugleich den Malakt wie auch seine Spuren im Raum festzuhalten. Im Rückblick entdecken wir hier erstmals jene »Linie« die dann bei der »Selbstbemalung« so wesentlich werden sollte. Aber diese Linie spielt noch nicht ihre Rolle als Riss, Naht oder Spaltung, wie auch immer die Tatsache gedeutet werden soll, dass der Körper des Künstlers durch diesen schwarzen Strich weniger bemalt als in zwei Hälften geteilt erscheint. Was als Linie am Boden beginnt, endet bei »Ana« noch in einem »Malrausch« (Eigendefinition Brus).13

Mit der unscharfen Bezeichnung »Riss, Naht oder Spaltung« wird die Ambivalenz der von Brus ge- bzw. erfundenen Figur deutlich, eine klare Kategorisierung fällt selbst im Rückblick schwer und darf als kennzeichnender Aspekt dieses ambivalenten Bild- und Arbeitsmotives gelten. Die somit bereits in Zeichnungen und Bildern etablierte risshafte Linie wird Brus auch in seinen in den Raum erweiterten Aktionen begleiten: Im Rahmen dieser Aktion, die Selbstbemalung betitelt und in die drei Teile Handbemalung, Kopfbemalung und Kopfzumalung untergliedert ist, führt er erstmals das später in wichtigen Aktionen wie dem Wiener Spaziergang wieder eingesetzte Motiv eines den Körper in zwei Hälften teilenden schwarzen Strichs

12 | Ebd. S. 50. 13 | Faber: »›Malexzess‹«. S. 17.

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Abb. 23 | Günter Brus, Selbstbemalung 1 (Handbemalung – Kopfbemalung – Kopfzumalung) (1964). ein, das als Andeutung der Verletzung wie auch analytisches Symbol gelesen werden kann.14

In der Aktion Selbstbemalung/Kopfzumalung wird sich umfassend zeigen, wie systematisch Günter Brus die unterschiedlichen Funktionen der schwarzen Linie in der Nähe zu Rissen, Schnitten und Nähten als imaginativ körperspaltendes Element austesten und durchdeklinieren wird: In der Zusammenstellung von Abbildungen zeigen sich die verschiedenen Überlagerungszustände motivischen Ausprobierens einer gedanklichen Figur

14 | Klocker, Hubert: »Günter Brus Biografie«, in: Badura-Triska, Eva; Klocker, Hubert und Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig (Hg.): Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, Köln: König, 2012b. S. 370-375. Hier: S. 371.

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Abb. 24 | Günter Brus, Selbstverstümmelung (1965).

der Körper- bzw. Kopfspaltung als risshafte Trennlinie, die den Körper tangiert, und (hier noch symbolisch) malträtiert. Unterschiedliche Formen von Linien teilen Brus’ Kopf in zwei Hälften: eine im Zickzack verlaufende, aufgemalte nahthafte Linie, die mit schwarzer Farbe zunehmend erweitert wird, dann Kopf und Hintergrund verbindet und dabei sämtliche Gesichtskonturen auslöscht. Stich- und Schnittwerkzeuge flankieren Brus’ Kopf und deuten auf eine Penetration, ein instrumentelles, gewaltvolles Eindringen in den Körper. Demgegenüber steht eine »Verpackung« des Kopfes in eine Maske aus Stanniolpapier (später wiederkehrend als bildprägendes Element in der Aktion Silber) und eine Geste des körperlichen Aufbrechens/Aufreißens dieser Maske, die das Hervorkommen eines neuen/alten Gesichts nach sich zieht sowie dessen erneute Maskierung mit schwarzer Farbe.

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Während sich zusehends die Figur der schwarzen »Linie« mit Gesten und Andeutungen des Reißens, der Spaltung verbindet, wird der Körper des Künstlers nicht nur zum »Handlungsraum«15 sondern zugleich zum agierenden Subjekt: Die anfänglich bestimmende Rolle der Materialästhetik, die den passiven Körper als Teil von Objekt-Körper-Konstellationen präsentiert, wird zunehmend reduziert, und dem Körper als Einschreibfläche wird eine wesentlich aktivistischere Funktion zugewiesen.16

In der künstlerisch-experimentellen Erprobung und der systematischen Analyse der visuellen und materiellen Eigenschaften des Körpers als Objekt, Gegenstand und Akteur, findet so gesehen ein Akt der künstlerischen Selbst-Ermächtigung statt, der eine symbolische Gewalt gegen sich selbst als künstlerischen Mittel einschließt. Innerhalb dieser bereits latent performativen Experimente und systematischen Erprobungen beginnen jene zwischen Linie, Naht, Spalt und Riss ›schwankende‹ Figuren symbolisch in die Sphären des Körperlichen einzudringen und in unterschiedlichen, sehr konkreten Körper- und GewaltSzenarien zu verdichten. Das Motiv der körperspaltenden Linie in Kombination mit einer Körpergeste des ›Aufreißens‹ wird in der Aktion Selbstverstümmelung (1965) erneut aufgegriffen. Hier zeigt sich bildmotivisch noch deutlicher ein Hang zum künstlerischen Selbst-Entwurf als lebendig-unlebendige Figur, die im Foto als leichenhaftes, verwesendes Objekt erscheint. Die Verwendung riss- bzw. nahthafter Körperteilungen geht in dabei eine enge Verbindung mit Techniken der materiellen Überformung und skulpturalen Gestaltung der Körperoberfläche einher. Brus Körpergestaltungen, die verschiedenen materiellen Um- und Überformungen deuten sich hier in verschiedener Hinsicht als Formen einer ›Maskierung‹ an.

Risse als Teil/Teilung der Maske Zentrales Merkmal von Masken sei nach Richard Weihe eine »Idee der Transformation«: die »Maske ist die Hypothese der Existenzform eines Anderen. Die Maske will auf das Gesicht aufgesetzt werden, damit es anders erscheine«.17 In einem weiteren Sinne könne als Maske die Abdeckung nicht nur des Gesichts, sondern auch des gesamten Körpers mit einem anderen Material (z.B. auch Schminke) verstanden werden. Während im Bereich der zeichenhaften 15 | Klocker: »Die Aktionen von Bruhs, Muehl, Nitsch und Schwarzkogler ab Mitte der 1960-er Jahre«. S. 209. 16 | Ebd. 17 | Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske: Geschichte einer Form. München: Fink, 2004. S. 17.

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Masken spezifizierend zwischen Theater-, Ritual und Gesellschaftsmasken unterschieden werden könne, spiele bei allen Formen grundsätzlich auch eine »thanatologische Dimension« eine Rolle, d.h. der Herstellung einer Beziehung zwischen Lebendem und Totem: »Ein lebloses Objekt verbindet sich mit einem lebendigen Körper. Dieses Objekt signalisiert den Auftritt in einer künstlichen Welt, in der die Maske beheimatet ist, einer hergestellten, zeichenhaften Welt.«18 Während es bei der Maske, vereinfacht gesagt, stets um eine Dialektik des Zeigens und Verbergens gehe, stellt sich dieser Prozess von vornherein zugleich als latent paradoxe Dynamik heraus, denn die Maske »zeigt, indem sie verbirgt«19, wobei sich aus der »Suggestion eines Dahinter«20 jeweils eine komplexe Beziehung zwischen Maske und Maskentragenden ergebe. Ähnlich wie bei der deiktischen Funktion des Bildes ermögliche so auch die Maske eine Abstandnahme des Menschen von sich selbst, quasi eine Form bildnerischer Differenzbildung: Der Mensch kann sich seine eigene Maske aufsetzen, seine eigene Rolle konstruieren. Er verwirklicht sich gerade in dieser Möglichkeit der Verdoppelung durch ein Bild von sich, darin äußert sich sein Personsein. So gesehen ist der Mensch kein Individuum (Unteilbares), sondern vielmehr ein Dividuum, eine Person, die sich teilen (sich re-produzieren) oder falten kann. Durch die Faltung der Person entsteht ein Double, die Konstitution des Homo duplex. Der Begriff Homo duplex enthält keine moralische Wertung; er hat nichts mit jener Mythologie gemein, wonach ein echter oder wahrer Charakterkern von einer gesellschaftlichen, trügerischen, falschen Hülle umschlossen ist.21

Mit den Ansätzen des Dividuellen und des Doubles, eines gespaltenen, geteilten, sich in Auflösung befindlichen und zugleich gedoppelten Körpers/Subjekts, lässt sich quasi ›nahtlos‹ auf Günter Brus künstlerische Praxis dieses Zeit übertragen, dessen Verwendung einer maskenhaften, ihn umgebenden Hülle, die zudem zunehmend von einer riss-, bzw. naht- und teilweise schnitthaften Zeichnung betroffen ist. Es handelt sich quasi um eine ›(be-)zeichnende‹ Doppel-Bewegung: Während die Risslinie vom Künstler gemalt/gezeichnet ist, ist umgekehrt auch der Körper des Künstlers vom Riss als Spur eines imaginären Gewaltaktes ›gezeichnet‹. Die gegenseitige (Kenn-)Zeichnung erscheint – verwiesen abermals auf Heideggers ontologische Ästhetik – als ein mehrfach wiederholter Akt der gegenseitigen Hervorbringung, hier in einer Konstellation, die das Verhältnis von künstlerischem Subjekt und Objekt bis zur Unentscheidbarkeit ›verdichtet‹ und gleichzeitig (entlang von gerissenen Linien) spaltet und teilt. 18 | Ebd. S. 18. 19 | Ebd. S. 14. 20 | Ebd. S. 17. 21 | Ebd. S. 14.

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Abb. 25 | Günter Brus, Selbstbemalung (1964).

Auf den thematischen Zusammenhang von weißer Körperbemalung in verschiedenen Aktionen Günter Brus’ und Fragen der Maske, insbesondere der Totenmaske wurde bereits von Gerald Schröder hingewiesen: Wenn Brus [auf dem Foto Ludwig Hoffenreichs] seinen Kopf hier mit einem Messer und einem Korkenzieher flankiert, wird die Bedrohung des Körpers zugleich als potentieller Schmerz und zwar als schneidender und bohrender Schmerz, sichtbar. Einer Visualisierung scheint der ruhige Gesichtsausdruck jedoch zunächst zu widersprechen: Der Mund ist gerade nicht zum Schrei geöffnet und das Gesicht nicht verzerrt. Doch erscheint das Gesicht mit seinen geschlossenen Augen und seiner weißen Farbe, welche die Gesichtszüge wie in

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten Gips erstarren lässt, als Totenmaske, was wiederum auf die enge Verwandtschaft von Schmerz und Tod aufmerksam machen kann.22

Dieses widersprüchliche Szenario von Schmerz und Ruhe deutet nach Schröder auf eine mediale Selbstreflektion, in welcher das das ruhige Gesicht das Prinzip der fotografischen Fixierung antizipiert: Indem Brus sein Gesicht mit weißer Farbe bemalt, die zu einer dicken Kruste erhärtet und dadurch die Beweglichkeit des Gesichts wie eine Totenmaske einfriert, macht er die zeitliche Fixierung sichtbar, die auf der produktionsästhetischen Ebene der Fotografie erfolgt.23

Gerade in der Kombination aus ruhigem Gesichtsausdruck und weißer Körperbemalung wird somit einem Prinzip vorgegriffen, mit dem Roland Barthes die Photographie als Prozess der Bild-Werdung beschreibt: »ein Subjekt, das sich Objekt werden fühlt; Plastron, Opfer, Tod in Person«. In seiner einflussreichen Studie Die Helle Kammer bezeichnet Barthes so die Photographie als »urtümliches Theater«: »die bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichtes, in der wir die Toten sehen«.24 Diese Darstellung des Reglosen, Toten im Moment des Fotografiert-Werdens, der Übergang bzw. Spaltung/Dopplung von Subjekt und Objekt findet in der Totenmaske ihr skulpturales Pendant und in der Zeichentheorie Barthes ihre textuelle Entsprechung (und zwar an der Schwelle zum Bildlichen). In Reich der Zeichen, seinem Buch über Japan als Ort einer anderen, ihm nur beschränkt zugänglichen Schriftkultur, stellt Roland Barthes seinem Text eine Leseanleitung voran, die sich auf das Verhältnis von Text und Bild beziehen: Der Text ist kein ›Kommentar‹ zu den Bildern. Die Bilder sind keine ›Illustrationen‹ zum Text. Beide dienten mir lediglich als Ausgangspunkt für eine Art visuellen Schwankens […] Text und Bilder sollen in ihrer Verschränkung die Zirkulation, den Austausch der Signifikanten, Körper, Gesicht, Schrift, ermöglichen und darum das Zurücktreten des Zeichen lesen.25

Mit Barthes’ (handschriftlichem) Bezug zur Risshaftigkeit der Zeichen und einer gegenübergestellten Abbildung, der Szene einer doppelten/geteilten (De-) Maskierung, schließt sich quasi ein referentieller Kreis und erweitert das refe22 | Schröder, Gerald: Schmerzensmänner: Trauma und Therapie in der westdeutschen und österreichischen Kunst der 1960er Jahre. Paderborn: Fink, 2011. S. 341. 23 | Ebd. 24 | Barthes, Roland: Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989 [1980]. S. 41. 25 | Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. S. 11.

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Abb. 26 | Figur des chinesischen buddhistischen Mönchs Baozhi und beigefügter Kommentar Roland Barthes’ (»Das Zeichen ist ein Riß...«).

rentielle Feld zugleich maßgeblich: Ein Foto rechts zeigt die hölzerne Figur eines chinesischen buddhistischen Mönchs Baozhi (418-514 n. Chr., mit japanischem Namen Hôshi), dessen Gesicht gespalten und gedoppelt ist: ein Gesicht, welches sich mit einem Spalt, vielleicht einem Riss zu öffnen beginnt und darunter ein neues, ein gleiches und gleichzeitig ein anderes, zweites Gesicht offenbart. Es erscheint den Betrachtenden als ein ruhiges, in-sich-ruhendes Zwie-Gesicht, welches uns mit (doppelt) geschlossenen Augen (nicht) anschaut: Wir betrachten die hölzerne Figur (auf dem Foto) und fragen uns: Blickt sie zurück oder nicht? Offenbart sich hier etwas Anderes oder Dasselbe (respektive etwas Anderes im Selben, und Selbes im Anderen) im Angesicht des spaltenden Risses bzw. der risshaften Spaltung? Auf der Seite daneben finden wir eine handschriftliche Eintragung Barthes’: »Le Signe est une fracture/qui ne s’ouvre jamais que sur le visage/d’un autre signe«, den die Herausgeber wie folgt ins Deutsche übertragen haben: »Das Zeichen ist ein Riß, der sich stets nur auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet.«26 Körper und Foto, Gesicht und Maske, Foto und Text, alle diese ›Instanzen‹ bleiben jeweils für sich – mit der oben genannten Vorbemerkung – in gewisser Weise disparat und bilden dennoch einen engen (kon-)textuellen Bezug unterund zueinander: Ihre Verbindung ergibt sich gewissermaßen auf den Umwegen 26 | Ebd. S. 76.

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textueller Verschiebungen bzw. in den dadurch aufgeworfenen, gespaltenen Zwischenräumen. Barthes macht das erwähnte Schwanken zwischen Text und Bild somit ›greifbar‹ und weitet dieses zu einem vielfältigen Vibrieren zwischen Bild, Text und Handschrift aus, zwischen deutschem und französischem Text, dem französischen Wort »fracture«, welches an die die (›typisch deutsche‹) Fraktur-Schrift zu erinnern scheint und nun mit dem Wort »Riß« ins Deutsche übertragen wurde.27 Dieses Schwanken betrifft aber auch die historische Figur chinesischen Mönchs Baozhi und dessen Darstellung als hölzerne Figur in der japanischen Heian Periode (794-1185)28, in dem sich der Legende nach, die göttliche Gestalt der buddhistischen Gottheit Bodhisattva Kannon gezeigt habe. Die Beschreibung Barthes’ löst die hölzerne Gestalt mit dem gespaltenen Gesicht aus ihrem kulturellen Bezug zur buddhistischen Legende und versetzt sie in einen anderen Kon-Text, eröffnet eine abstraktere, übertragene Seite und fragt nach ihrer Zeichen- und Symbolhaften Dimension: »Das Zeichen ist ein Riß, der sich stets nur auf dem Gesicht eines anderen Zeichens öffnet.«29 Der Riss/Spalt im Gesicht auf dem Foto der hölzernen Figur offenbart ein anderes Gesicht, sie zeigt sich als doppel-gesichtig: diese Figuration scheint nun symbolisch für den Prozess der Signifikation selbst zu stehen und bleibt von seiner konkreten Geschichte, seinen historisch-mythischen Bezügen zugleich getrennt – der Riss verkörpert so die mögliche Re- und De-Kontextualisierung von Zeichen und Schrift als gewaltvollen Vorgang. So macht das Bild einen Prozess des uneindeutigen Schwankens nachvollziehbar, der von dieser Übertragungsbewegung ausgeht, die auch ein Feld vielfältiger Fragen kultureller Appropriation durchziehen (– für Barthes ›schwanken‹ insbesondere japanische Zeichen unentscheidbar zwischen Bild und Text). In diesem Zusammenhang lässt sich die (latent unbeantwortbare) Frage nicht umgehen, wo die verbindend-trennende Figur des Risses in diesen Prozessen zu verorten wäre, wo stünde oder vielmehr – wo verliefe – dieser Riss zwischen Bild und Text, wie tritt der Riss in das Spiel der Zeichen ein, wie tritt er aus diesem Prozess hervor und wieder heraus, wie entzieht er sich dem Spiel des Zeichenhaften als etwas primär körperlich Spürbarem? Es scheint, als würden Risse dem Prozess von Signifikation neue Dynamiken zuteil werden lassen, neue Richtungen geben, indem sie spürbare Qualitäten des Barthes’schen Schwankens, die leiblich erfahrbare Seite dieser Medien- und Kontextsprünge tangieren. 27 | Erinnert sei hier nochmals an Derridas Dekonstruktion des Wortes »Riß« als deutschem Begriff, der die von Heidegger stets mitbedachte Mehrfach-Bedeutug als Zeichnung und Entwurf in sich trägt. Vgl. den Abschnitt »Dem Riss ›seinen‹ Ort zuweisen (Derridas Vom Geist)« im vorliegenden Band S. 177 ff. 28 | Vgl. »Portrait des chinesischen Mönchs Baozhi (418-514)«. Zugriff unter: https:// www.univie.ac.at/rel_jap/an/Bild:Baozhi_heian.jpg am 31. Juli 2018, 29 | Barthes: Das Reich der Zeichen. S. 76.

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Abb. 27 | Selbstbemalung (1964).

Im Unterschied zu diesem Hervorbrechen eines anderen Gesichts als eines komplexen Gleichen-Anderen und vielschichten Zu-Gleich, deutet die Brus’sche risshafte Linie auf seinem eigenen Gesicht, auf einen Aufbruch aus sich selbst heraus an, evtl. als etwas noch Zukünftigem, Kommenden. Es zeigt sich hier eine Andeutung des Anderen als temporaler Widerspruch, da sich dieser noch ganz oder gerade noch nicht vollzogen ist. Es ist ein Aufbrechen, dass im Kommen begriffen ist und als solches im Foto eingefroren wird. Indem der Riss sich so zeigt, weist er durch sich selbst auf etwas Anderes, Bevorstehendes, d.h. auf andere zeitliche Dimensionen hin, auf ein Davor und ein Danach und den an-

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dauernden Prozess einer Transformation im Dazwischen. Der auf den eigenen Körper des Künstlers aufgetragene (symbolische) Riss eröffnet so auch ein Feld von komplexer Autorschaft, scheint doch der Künstler den Riss, und zugleich der Riss den Künstler als solchen hervortreten zu lassen und zugleich treten beide ›Figuren‹ hintereinander zurück, sie heben sich beide in einer gewissen Art und Weise auf, löschen sich aus, entziehen sich einander. In den Aktionen Selbstbemalung/Selbstverstümmelung beginnt nun teilweise die schwarze risshafte Linie als gemaltes Element zu verschwinden, in dem oberen Bild scheint die konturierende, spaltend/gespaltene riss- bzw. nahthafte Linie der Maske ihren Platz einzunehmen, die Figur des Risses wird durch die aufgelegte Material-Schicht plastischer, leibhaftiger. Das Bild aus der Serie Selbstbemalung zeigt Brus mit geneigtem Haupt, einerseits seinen risshaft gespaltenen Schädel präsentierend, zugleich in einer Haltung, die latent zwischen Demut und Gedemütigt-Sein schwankt. In dieser beinah skulpturalen Selbst-Überformung deutet sich ein noch diffuses Dahinter, bzw. Darinnen eines sich öffnender Körpers an. In Anspielung auf etwas ›Aufknospendes‹, ein sich öffnender Kokon, dringt verstärkt temporales Element hervor, mit der Idee von etwas Folgendem, einer Sukzession (und Neugeburt) gewinnt die weiße Maske eine gewisse Ähnlichkeit mit der Figur eines sich öffnenden Vorhangs. Maske und Vorhang scheinen dabei nicht nur ihre raumerweiternde Zwischenstellung sondern, insbesondere im Falle Brus’, auch eine gewisse Affinität zu Motivik des Risses zu teilen, während – andersherum – der Riss in seiner Zwiespältigkeit seinerseits Maske und (Körper als-)Vorhang zu (zer-)teilen vermag. Die in weiteren Aktionen Brus’ bevorstehenden Haut- und Körperverletzungen zeigen sich hier zunächst als ein noch maskenhaftes Spiel, sie spielen auf die folgenden, physischen Selbstverletzungen bereits an und deklinieren sie motivisch durch. Die skulpturale, maskenhafte Linie zeigt sich als angedeuteter und zugleich andeutender Riss, ein Verweis auf andere (symbolische) Risse, vergangene und bevorstehende Gewaltakte und/oder (darin besteht ihre Latenz) als Hinweis auf ein noch bevorstehendes Reißen, ein Reißen möglicherweise an einem anderen Ort, eine vertraute, verwandte Figur in einer anderen Gestalt die droht, zurückzukehren.

Über-Gänge: Wiener Spaziergang (1965) Im Kontrast zu vorigen Formen des »Malrausches« und der »Performanzexplosion« finden wir in der Aktion Wiener Spaziergang im doppelten Sinne vorübergehend ein anderes (Eigen-)›Bild‹ des Künstlers, eine Haltung und Bewegung, die an die demütige Geste des geneigten Hauptes wie in der Fotografie aus der Serie Selbstbemalung/Selbstverstümmelung anknüpft. Eine merkwürdige, deplatziert wirkende Form der Ruhe und Gelassenheit scheint die gesamte Aktion Wiener Spaziergang inklusive der aus ihr hervorgegangenen Fotos zu durchziehen.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

Abb. 28 | Günter Brus: Wiener Spaziergang (1965).

Ein ikonisch gewordenes Schwarz-Weiß-Foto von Ludwig Hoffenreich während der Aktion im Jahre 1965 zeigt Günter Brus in aufrechtem Gang neben einem österreichischen Polizeibeamten, beide laufen gemeinsam auf den Fotografen zu. Brus geht leicht nach hinten versetzt an der äußeren Kante des Bürgersteigs in einer ›ergebenen‹ Haltung: Die Arme entspannt nach unten haltend, den Blick auf die regennasse Straße vor sich gerichtet, mit einem nach Innen gekehrten Blick – es scheint fast, als habe Brus ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Für die Aktion trägt er einen eleganten, schmal geschnittenen Anzug mit Hemd, beides ist, wie sein gesamter Körper, inkl. Gesicht, Hände, Haare vollständig in weiße Farbe getüncht. Vom Haaransatz, über die Nase, Lippen, Hals teilt eine schwarze, an den Seiten ausfransende Linie seinen Körper leicht unsymmetrisch entzwei. Etwas unterhalb der Brust wird der Verlauf des schwarzen Striches breiter und zunehmend ausufernd: auf Höhe des Bauches gleicht die Kontur der Linie eher einem unordentlichen Fleck, der dann, wieder schmaler werdend, oberhalb seines Schrittes

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abknickt und seinen Verlauf entlang von Brus’ rechtem Bein fortsetzt, über Knie und Sprunggelenk bis zur vorderen Spitze seines rechten Schuhs. Der Polizist neben Brus, ein stattlicher Beamter im zugeknöpften Regenmantel (dabei hat sich der Himmel seit dem Regen inzwischen offensichtlich wieder aufgehellt, die Straße ist teilweise bereits wieder getrocknet) schreitet entschlossen voran, auch er trägt einen entspannten, ebenfalls beinah (selbst-)zufriedenen Gesichtsausdruck. Brus scheint sich etwa im Gleichschritt mit dem Polizisten zu bewegen – beide wirken in ihrem jeweiligen ›Kostüm‹ zusammen wie ein ungleiches und dennoch einander-zugehöriges Paar, deren optische Erscheinung sich komplementär ergänzt. Historische Wiener Fassaden säumen die zentralperspektivische Ansicht des quadratischen Fotos; eine massiv vernietete Stahltür mit Sichtschlitz ragt auf der linken Seite des Bildes empor und erinnert an schwer gesicherten Luftschutzräume aus Kriegszeiten. Eine entgegengesetzt laufende Passantin mit Handtasche und Stöckelschuhen sowie ein weiterer Mann vor ihr, sind offenbar vor der raumgreifenden Gruppe aus Künstler, dem Staatsbeamten und dem vorauslaufenden Fotografen (dementsprechend vermutlich mit dem Rücken vorangehend bzw. stehend) in einem großen Bogen auf die wenig befahrene Nebenstraße ausgewichen. Bildkompositorisch bleibt die Mitte des Fotos leer, bzw. bilden die beiden leicht dezentral positionierten Figuren des Vordergrundes, einem Vorhang gleich, eine Lücke, die den Blick auf die Tiefe des Raumes (teilweise) freigibt: Im Hintergrund verfolgen zwei Zuschauende neugierig das Geschehen.30 Weitere Fotos im gleichen Format aus der ikonisch gewordenen Serie von Hoffenreich sowie eine Reihe kurzer 8mm-Filmsequenzen von Rudolf Schwarzkogler und Otto Mühl und nachträgliche schriftliche Darstellungen ergänzen das Gesamtbild der Brus’schen Aktion im städtischen Raum: aus den unterschiedlichen Fragmenten entsteht das Narrativ einer Kunst-Aktion, in deren Verlauf Brus mit seiner auffälligen Körperbemalung am Wiener Heldenplatz aus einem Citroën CV steigt, an verschiedenen historischen Orten, Denkmälern und Skulpturen, 30 | Günter Brus formuliert rückblickend: »Die Vorbereitung dieser Aktion war freilich von einer mehr oder minder großen Nervosität begleitet. Otto Mühl half mir beim Einfärben meiner Gestalt. Ludwig Hoffenreich sagte zwischendurch seufzend: ,Kinder, Kinder das gibt entweder Irrenhaus oder Gefängnis‹. Ich gebe zu, daß ich von seinen Visionen nicht ganz frei war. John Sailer beförderte das lebende Bild vom Perinetkeller zum Heldenplatz, wobei ich mich bei jedem Halt vor einer Ampel niederduckte. Aufgeregt verfolgten meine Frau und einige Freunde aus einer angemessenen Entfernung das Geschehen. Hoffenreich und Ronald Fleischmann fotografierten, Mühl und Schwarzkogler filmten mit einer Schmalfilmkamera. Von einer tieferen Bedeutung dieser Aktion wollte die Presse natürlich nichts wissen. Sie betrachtete meine Auftritt [sic!] als einen lustigen Werbegag für meine Ausstellung.« Günter Brus, Beilage zur Mappe Günter Brus, Wiener Spaziergang, 1965, Galerie Curtze und Galerie Krinzinger 1989. Zit. nach Faber; Schröder und Albertina (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung S. 72.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

verfolgt von Schaulustigen und Fotografen, vorbeispaziert, bis er schließlich von einem Vertreter der Staatsmacht angehalten und zur Feststellung seiner Personalien abgeführt wird.31 Brus schafft mit dieser erneuten Selbstbemalung und performativen, in den öffentlichen Raum gehenden Aktion ein in seinen Worten »lebendiges Bild«32, welches in der scheinbaren Harmlosigkeit und Ruhe (im Gegensatz zu den deutlich drastischeren vorausgegangenen bzw. nachfolgenden Aktionen33) dennoch, oder gerade deshalb, einen gesellschaftlichen Nerv trifft. Obwohl Brus vor allem auf neugierige Blicke trifft, wird zu Protokoll gegeben, dass er mit der Aktion eine, wie es in Amtsdeutsch heißt, »Erregung öffentlichen Ärgernisses« darstelle. Bereits zwei Tage nach der Aktion folgt eine Strafverfügung gegen den Künstler. Das vielerorts zitierte Amtsschreiben34 übersieht bezeichnenderweise in seiner Beschreibung der Aktion als Ordnungswidrigkeit das zentrale Merkmal: Wird in der Verfügung zwar die weiße Körperbemalung betont, so bleibt die in voller Körperlänge aufgetragene Linie des Risses gänzlich unerwähnt. Dies ist insoweit bemerkenswert, als ja – anders als dargestellt – nicht primär das eigentliche Verhalten von Brus, sondern eben seine auffallende Körpergestaltung den Anlass des »öffentlichen Ärgernisses« darstellte. Die unerwähnte Rissfigur bildet auffällige Ausblendung einer ansonsten schwer zu übersehenden ›Tatsache‹, über die sich spekulieren lässt: Einerseits hätte eine genauere Bezeichnung der markanten 31 | Bei Oliver Jahraus finden wir die folgende Beschreibung: »Bei seiner Aktion ist Brus mit einem Anzug bekleidet, aber sein Körper ist vollständig weiß bemalt. Ein schwarzer Trennstrich über seinen Kopf, seinen Rumpf und das rechte Bein trennt den weiß bemalten Körper in zwei Hälften.« (Jahraus, Oliver: Die Aktion des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. München: Fink, 2001. S. 385.); bei Schroer heißt es: »Günter Brus trägt einen Anzug und ist von Kopf bis Fuß mit weißer Farbe bedeckt, durchbrochen von einem schwarzen Strich, der vom Kopf mittig über die Brust zum Unterkörper gezogen, am rechten Bein zu den Füßen hinausläuft.« (Schröer, Linda: »Hautsache Aktion: Günter Brus«, in: Kultur & Geschlecht Nr. 7, 2011. Zugriff unter: https://kulturundgeschlecht.blogs. ruhr-uni-bochum.de/wp-content/uploads/2015/08/Schroeer_Hautsache.pdf am 11. November 2017. S. 5.) 32 | Ebd. 33 | Vgl. u.a. die Aktionen Ana, (1964); Silber (1964); Selbstbemalung, (1965); Selbstverstümmelung Teil I und II (1965) und der späteren Zerreißprobe (1970). 34 | »Sie haben am 5.7.65 in der Zeit von 11.30 Uhr in Wien 1., Stallburgg. – Bräunerstr. indem Sie mit weißer Farbe bemalt waren, ein Verhalten gesetzt, welches geeignet war, Ärgernis zu erregen und bei den Passanten auch tatsächlich erregt hat, wodurch die Ordnung an einem öffentl. Orte gestört war und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach (Art.) VIII (1) a EGVG begangen.« Zit. nach. Faber; Schröder und Albertina (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung, S. 73.

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Linie, zumindest im Ansatz, eine Auseinandersetzung mit der Frage erfordert, was Brus mit seiner Darstellung verbildlicht bzw. verkörpert. Die Bezeichnung stellt insofern ein sprachliches Problem dar, das so ›umgangen‹ wurde. Weiterführend muss gefragt werden, warum und wie Brus mit seiner vermeintlich harmlosen Aktion einen wunden Punkt in der österreichischen Gesellschaft im Jahre 1964 berührt? Welchen Anteil könnte gerade die auffällig ruhige, non-chalante Art und Weise des Spazierens in Kombination mit der aufgetragenen Riss-Figur am provokativen Potential der Aktion haben? Der Autor Gerald Schröder kontextualisiert die Aktion wie folgt: Es waren gerade die historischen Gebäude Wiens, die Brus als Folie für seine Aktion ausgewählt hatte. So begann die Aktion nicht von ungefähr am Heldenplatz, führte durch das Burgtor der ehemaligen Residenz vorbei an der Spanischen Hofreitschule in Richtung Graben und Stephansdom. […] Die historischen Gebäude der Stadt dienten als Orte der Erinnerung gleichsam als Verräumlichung eines kollektiven Gedächtnisses, in dem sich Brus als störender Fremdkörper bewegte.35

Im Gegensatz zu den Denkmälern die er passiert, sieht Schröder Brus als eine »auf unheimliche Art und Weise lebendig gewordene Statue des Antihelden«36, der bewusst seinen – insbesondere durch die Rissfigur – fragil wirkenden Körper »als traumatische Wunde, als psychisch Abgespaltenes, das wie ein unheimliches Gespenst wiederkehrt« inszeniere.37 Auf den weiteren Fotos ist Brus so häufig wie zufällig in gebückter Haltung zu sehen, etwa beim Aussteigen aus der ›Ente‹. Häufig ist sein Kopf auf den Bildern geneigt, in der Amtsstube zeigt ihn eines der Fotos sogar in tiefer Verbeugung am Schalter des Vollzugsbeamten. Liegt die Provokation möglicherweise ausgerechnet in der demütigen Haltung Brus als einer subtilen Kritik an dem nach wie vor vorherrschenden Heldendenken und der andauernden Verklärung des Nationalsozialismus? Zur bewussten Provokation durch seine weiße Bemalung des Körpers38 gibt Brus an anderer Stelle Hinweise, die deutlich machen, dass es ihm durchaus

35 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 323f. 36 | Ebd. S. 324. 37 | Ebd. 38 | Die auffällige Nähe zur weißen Körperbemalung im Butoh ist durchaus keine ganz zufällige, die sich auf ähnliche referentielle Rahmen von Butoh und Wiener Aktionismus zurückführen lassen: »the aesthetic and thematic parallels between these two performance-based art forms – characterised by violence, sacrifice and bodily mutilation – reflect the shared experience of war defeat and manifest an abject masculinity that follows in the tradition of Western avant-garde theatre.« Weir, Lucy: »Abject Modernism: The Male Body in the Work of Tatsumi Hijikata, Günter Brus

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

(auch) um eine fundamentale Kritik an eben einer normierenden, ›hygienischen‹ und für gemeinhin unsichtbaren Weißheit39 geht: Ich liege weiss in weiss in einem weissen Schlafzimmer. Ich liege weiss in weiss in einem weissen Klosett. Ich sitze weiss in weiss in einer weissen Polizeistube unter weissen Polizisten. Ich halte weiss in weiss im weissen Sitzungssaal im Parlament unter weissen Abgeordneten eine weisse Rede. Ich predige in einer weissen Kirche weiss in weiss.40

Somit zeigt sich, dass die Aktion eine ›Überzeichnung‹ einer ideologischen Weisheit darstellt: zum einen wird Brus’ weißer, männlicher Körper flächendeckend mit weißer Farbe übertüncht und so als solcher ›überzeichnet‹ und sichtbar gemacht, zum anderen erfährt dieser doppelt-weiße Körper eine Überzeichnung (und Kontrastierung) im wörtlichen Sinne durch die risshafte Linie, welche die Längsachse des Körpers betont und damit dessen normative Vertikalität – und diese durch ihren gezackten Verlauf zugleich symbolisch destabilisiert. Die risshafte Linie weist somit zugleich in Richtung einer körperlichen Defiguration und künstlerischen Dekonstruktion weißer Männlichkeit und dominanter Vertikalität bzw. vertikaler Dominanz: Ähnlich wie Georg Baselitz zur gleichen Zeit in der Malerei, demontiert auch Brus in gewisser Weise den klassischen Typus des männlichen Helden, der hier ganz buchstäblich vom Sockel gestoßen wird und nicht mehr als positive Identifikationsfigur dient, sondern als abstoßendes Wundmal wiederkehrt.41

and Rudolf Schwarzkogler«, in: Tate Papers 23, Spring 2015. Zugriff unter: http:// www.tate.org.uk/research/publications/tate-papers/23/abject-modernism-the-malebody-in-the-work-of-tatsumi-hijikata-gunter-brus-and-rudolf-schwarzkogler am 14. November 2017. Ohne Seitenangabe [Absatz 1]. 39 | In gewisser Weise greift Brus hier schon den Fragen der viel später aufkommenden Critical-Whiteness-Studies voraus. Vgl. Röggla, Katharina: Critical Whiteness Studies und ihre politischen Handlungsmöglichkeiten für Weiße AntirassistInnen: Intro; eine Einführung. Wien: Mandelbaum, 2012. , sowie Tißberger, Martina: Weiß, Weißsein, Whiteness: kritische Studien zu Gender und Rassismus; critical studies on gender and racism. Frankfurt am Main u.a.: Lang, 2006. Die Verwendung und Implikationen der weißen Farbe bei Brus wäre ein interessanter Gegenstand einer eigenen Untersuchung. 40 | Zit. nach Klocker, Hubert: »Günter Brus. Biografie«, in: Badura-Triska, Eva; Klocker, Hubert und Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig (Hg.): Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, Köln: König, 2012c. S. 370-375. Hier: S. 372. 41 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 324.

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Die Provokation von Brus Aktion scheint somit trotz ihrer oberflächlichen Auftragung ›tief‹ in die Sphäre des Körperlichen hineinzugehen und durch den defigurativen, körperlich-unkörperlichen, bildhaft-symbolischen Riss auf etwas Subkutanes, ›tief eingefleischtes‹ zu verweisen: Ein Körper, der durch die Stadt spaziert, so wissen wir seit de Certau, ist immer schon auch ein Teil der Stadt, der Anteil an ihren Bewegungen nimmt, der die urbanen Bewegungen be-, um- und zugleich entschreibt.42 Der Körper der spazierenden Bürger*in ist auch Teil der diese Urbanität regulierenden Institutionen und ihrer ›Organe‹. Der spazierende Körper ist durch seinen Schritt an die Öffentlichkeit somit nur noch teilweise privat – zugleich Teil gehört er auch zu den Organen des Staates: der spazierende, bürgerliche Körper ist selbst eingegliedert in die Strukturen des staatlichen Machtapparates (Brus titelt später provokant: »Der Staat greift auch nach Deinem Glied«).43 Genau diese Doppelstellung, diese mehrfache Appropriation und symbolische Spaltung des Körpers wird bei Brus durch seine eigenwillige Körpergestaltung zur subversiven ›Machtergreifung‹ als Selbstermächtigung: durch den aufgezeichneten Riss auf dem Körper, öffnet dieser symbolisch sein Inneres nach außen, invaginiert- und exponiert sich – bedingt durch seine kontinuierliche Bewegung im Stadtraum insbesondere an symbolträchtigen, historischen Orten und Denkmälern. Brus’ Aktion deutet so nicht nur auf eine oberflächliche, sondern zugleich auf eine ›subkutan‹ wirksame Grenze hin, die den Körper betrifft, es handelt sich um die Sichtbarmachung einer Spaltung und Gespaltenheit, die im Alltag normalerweise verborgen bleibt: eine Spaltung zwischen politischem- und biologischem Körper, privater und öffentlicher Person, aber auch zwischen Bürger*in und Kunstschaffenden. Der Staatsbeamte in voller Montur und der Künstler, reduziert auf seine weiße Oberfläche, die den Riss voll zur Geltung bringt, bilden so symbolisch zwei Pole einer Konstellation an deren Enden sich »Souverän« und »nacktes Leben« gegenüberstehen, wie es bei Agamben heißt.44 Zugleich deutet sich in der doppelten Bewegung der Linie der Risses, seine unruhige inhärente Bewegung und ihre Bewegung durch den Stadtraum, eine künstlerische Wiederaneignung des ›eigenen‹ Körpers an, der sich der staatlichen Inanspruchnahme widersetzt und ein Recht auf Mitsprache erhebt. Brus’ künstlerische Aktion führt einen solchen Widerstreit der Beanspruchung des Körpers sowie das gewöhnliche Ausblenden, ein alltägliches ›Entgehen‹, dieser 42 | Zum Aspekt des körperlichen »Ent-schreibens« vgl. Nancy und Hodyas: Corpus. S. 15. Sowie den Abschnitt »Die Un/Lesbare Stadt« im vorliegenden Band, S. 228ff. 43 | Faber; Schröder und Albertina (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung, S. 125. 44 | Vgl. Agamben, Giorgio: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002. S.a. Lammer, Christina; Brus, Günter und Pichler, Cathrin (Hg.): Günter Brus. Kleine Narbenlehre. Eine Leibgeschichte in drei Akten. Wien: Löcker, 2007. S. 12ff.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

tief internalisierten Grenzen vor Augen. Es zeigt sich zugleich, dass die aufgetragene Figur des Risses in ihren Implikationen, in ihrer Andeutung eines sich öffnenden Körpers intuitiv als ein Affront, als ein (symbolischer) Angriff auf die Integrität des Körpers, der körperlichen Unversehrtheit und damit als körperlicher Teil gesellschaftlicher-staatlicher Konstruktionen les- und begreifbar wird. Zugleich offenbart die ›amtliche‹ Ausblendung dieser Figur in der Beschreibung erneut die Latenz der Rissfigur, einer inhärenten Spaltung zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, zwischen Präsenz und Absenz. Diese Spaltung tritt in Brus’ Aktion sichtbar zu Tage: mit dem Heraustragen dieser Figur aus dem (semi-) privaten Raum der Galerie, hinein in das öffentliche Alltagsgeschehen trifft sie die Passant*innen ebenso unerwartet, überraschend wie entwaffnend. Ganz im Sinne der doppelten Struktur einer Maske, exponiert sich Brus und hüllt sich zugleich in einen Schutzmantel der künstlerischen Aktion. Die Figur des Risses entblößt und verhüllt den Privatmenschen Brus, hüllt ihn in das Gewand des Aktionisten, oder wie wir rückblickend sagen würden: eines Performers. Unweigerlich bezieht sich der Brus’sche Spaziergang durch Wien nebenbei auch auf die Figur Flanierender und re-konfiguriert bzw. aktualisiert diese durch ihre explizite Kombination mit der leiblich gewordenen, risshaften Linie auf dem Körper. Es handelt sich dabei gerade nicht, wie man möglicherweise verkürzend argumentieren könnte, um eine Parodie der Benjaminschen bzw. Baudelairschen Figur des Flaneurs. Vielmehr wird die bereits erwähnte, selbst ›risshafte‹ Doppelstellung bzw. inhärente Spaltung der Figur verschärft, nämlich einerseits Teil der sie umgebenden Gruppe der Passant*innen zu sein und zugleich in gewissem Sinne von ihr getrennt. Die Brus’sche Zuspitzung dieser gespaltenen Haltung (und geteilten Wahrnehmung), wird insbesondere durch den betont nonchalanten Modus des Spazierens-, und andererseits durch die kontrastierende inhärente Unruhe der Figur des Risses bedingt, die Brus aus der Passantenmenge heraushebt. Auf Kosten seines unauffälligen ›privaten‹ Erscheinungsbildes wird Brus zu einem Träger, einem Medium der wandelnden Rissfigur transformiert. Mit seiner Körpergestaltung erscheint Brus unvermeidlich als ein auffälliges Spektakel.45 Aus Perspektive eines Zusammenhanges von Rissen und Bewegung ließe sich so über die Tatsache hinaus, dass Brus mit seiner Aktion den öffentlichen Raum betritt vielmehr fragen, wie er ihn beschreitet und durch die Figur des Risses, mit de Certeau und Nancy gesprochen, um-, be- bzw. »entschreibt«.46 45 | Bereits im Auto auf dem Weg in die Innenstadt befürchtet er nach eigener Aussage, im Vorfeld der Aktion zu großes Aufsehen zu erregen und duckt sich deshalb an den Ampeln um nicht ›verfrüht‹ gesehen zu werden Vgl. Klocker: »Erweiterung der Malerei«. S. 372. 46 | Vgl. Nancy und Hodyas: Corpus. S. 15. Sowie den Abschnitt »Die Un/Lesbare Stadt« im vorliegenden Band, S. 228ff.

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Mit der Figur des Risses steht dabei zugleich etwas Unartikuliertes, Unaussprechliches, Unlesbares zur Disposition, welches mit Derrida gesprochen auf einen grundsätzlichen metaphorischen »Entzug« hinweist, der via der Figur des Risses auf eine anhaltende Sprachlosigkeit der Gesellschaft in Anbetracht der menschlichen Katastrophen des Zweiten Weltkrieges verweist. Diese Sprachlosigkeit findet ihren Ausdruck sowohl in der durch die Stadt spazieren-geführten Figur des Risses als auch in der unterschiedlichen Reaktionsweisen irritierter Passant*innen, dem Staunen und stummen Schauen, im Versuch des Taxierens, eines vergeblichen Einordnens des Geschehens aber auch im weiträumigen Umgehen der Szenerie. Es sind unvorbereitete, unfreiwillige (und dennoch auch neugierige) Zuschauende, die Teil einer Situation werden, deren Konfiguration sich als widersprüchlich darstellt und deren Fortgang ungewiss ist, da sie sich gänzlich gewohnter Interpretations-Muster zu entziehen scheint. Gerald Schröder sieht so in Brus’ Aktion quasi eine Umkehrung der Baudelairschen/Benjaminschen Flaneur-Figur eines »traumatophilen Typ[s]«, der gerade nicht mehr auf den Schock der Moderne reagiert, sondern von dem selbst eine schockierende Wirkung ausgeht: Gerade weil die Aktion von Günter Brus wahrscheinlich weder von der Polizei – als Exekutivorgan des Staates – noch von den Passanten als Kunst betrachtet worden war, provozierte die optische Erscheinung des Künstlers als Fremdkörper im Stadtbild umso mehr. Unvorbereitet und plötzlich durchbrach seine merkwürdige Gestalt wie ein Riss das gewohnte Stadtbild.47

Die Passant*innen und Tourist*innen werden dabei Teil und ironischerweise ›Kollaborierende ‹ der künstlerischen Aktion. Begreifen wir jene unterbrochene, latente Bewegung des Risses als eine Signatur, die Passant*innen, Polizist und künstlerischen Akteur als Teile der grundlegenden Struktur ihres möglichen weiteren Bahnens kennzeichnet, so wird die Möglichkeit der Einflussnahme – und die Unmöglichkeit einer Nicht-Einflussnahme – auf den Richtungsverlauf dieses Risses innerhalb des gesellschaftlich-urbanen Gewebes deutlich. Selbst ein vermeintliches Ignorieren der Aktion erweist sich im Anblick der aufsehenerregenden Erscheinung Brus’ als bewußt entschiedene Haltung. Brus’ Verhalten, das wie beschrieben deutliche Züge vom gelassenen Gestus des Flaneurs aufweist, steht in Kontrast zum zickzackhaften Verlauf der aufgetragenen Linie auf seinem Körper. Die Unruhe der risshaften Linie, kontrastiert und verstärkt durch die Klarheit und Ruhe von Brus Bewegungen, überträgt/ übersetzt sich als Unruhe bei den Vorbeilaufenden. Als eine Art Deleuze’scher

47 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 326f.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

»Knacks«48 in den multiplen, aufeinander abgestimmten Taktungen und Abläufen des städtischen Gewebes, bringt diese Linie etwas zur Erscheinung, das sich den regulären Rastern der Zeit gewöhnlicherweise entzieht. Es ist eine ›Erregung‹ primär im Sinne eines unklaren Zwischen-, Schwebe- oder Vibrationszustandes, eine Figuration von Liminalität, welche sich selbst exponiert und damit als höchst angreifbar ausstellt und sowohl in ihrer signalhaften Plakativität und gleichzeitigen Ambivalenz schwer zu ertragen zu sein scheint. Brus’ ganzkörperlicher wie maskenhaft getragener Riss greift dabei dem Zugriff des Staates auf den Körper des Bürgers und Künstlers (eine weitere Spaltung) voraus. Die auf den Körper aufgetragene Linie nimmt den Eingriff der Staatsmacht vorweg, indem sie ihn provozierend in Kauf nimmt – der Riss ist so gesehen von vornherein performativ wirksam und stellt diese performative Wirksamkeit zugleich symbolhaft-figürlich aus. Während des Verlaufes der Aktion wird das Eingreifen der Staatsmacht selbst zum Teil des performativen Spektakels. Das Einschreiten des staatlichen Apparates in Gestalt des Wiener Polizisten, die Ausübung seiner Definitionsmacht über die Form eines angemessenen Erscheinungsbildes im öffentlichen Raum, wird von Brus duldsam, ja fast provozierend wohlwollend (so suggerieren es die Fotos) hingenommen. In auffällig theatraler Weise, ja beinahe clownesk, verkörpert er eine latent devote Rolle in diesem Spiel, tritt als Person hinter die Figur des Risses zurück, lässt diese piktografisch für sich selbst ›sprechen‹ und ihre Wirkung entfalten. Brus verneigt so, in scheinbar bewusst ironischer Weise, sein Haupt vor den Institutionen (und zwar sinnbildbildlich und wortwörtlich, wie das Bild auf dem Polizeipräsidium verdeutlicht), die ihrerseits ihre Rolle wie erwartet ausfüllen und ausführen – in nicht minder theatraler bzw. performativer Weise, in welcher der Vollzug von Handlungen mit dem Gesetzesvollzug zur Deckung gebracht wird: Daß die Ordnungsmacht am öffentlichen Ort eingreift, um das »öffentliche Ärgernis« zu beseitigen, ist zwar Symptom einer repressiven Gesellschaft, tatsächlich wird aber erst durch ihr Eingreifen die Funktionalisierung des öffentlichen Raumes vervollständigt. […] Die Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes würde weitgehend leerlaufen, wenn nicht die Ordnungsmacht die Aktualisierung des daraus resultierenden Provokationspotentials durch ihre Sanktionen und Re-Aktionen bestätigen würde.49

48 | »Es ist wahr«, schreibt Deleuze bezogen auf einen Text Fitzgeralds, »daß der Riß, der Knacks nichts ist, wenn er nicht den Körper aufs Spiel setzt, er hört andererseits jedoch nicht auf, zu sein und zu gelten, wenn er seine Linie mit der anderen Linie im Innern des Körpers vermengt«. Deleuze: Logik des Sinns. S. 201. 49 | Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. S. 387.

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Es geht bei diesem doppelten (künstlerisch und gesetzesmäßigen) Vollzug somit um ein Exponieren jener Doppelbedeutung des Körperlichen, auf der einen Seite die definitorische Aneignung einer körperlichen Begrifflichkeit durch den Staat, mit der sich eine tiefgreifende Idee von Staat-als-Körper verbindet, seiner Idee der Organe, des Staats-›Hauptes‹, der einzelnen Glieder staatlicher Organisation50 und zugleich die damit verknüpften Ansprüche des Staates auf den ›privaten‹ Körper und die einhergehende Festlegung eines normgerechten Verhaltens und der angemessenen Erscheinungsweise in der Öffentlichkeit. Dieses Einbringen und Exponieren des ›eigenen‹ Körpers (über den der Künstler, wie sich zeigt, nur teilweise verfügt, bzw. seine Verfügungsgewalt bewusst aufs Spiel setzt) und dessen konsequente künstlerische Befragung seiner gespaltenen Funktion durch die Figur des Risses, rückt in den Brus’schen Arbeiten und Aktionen zunächst symbolisch und dann zunehmend direkt, unmittelbar, konkret physisch – performativ – ins Zentrum. Dabei wird mehr und mehr auch der (implizite) Imperativ körperlicher Unversehrtheit in Frage gestellt. Aus gutem Grund wird Brus’ Wiener Spaziergang häufig mit zentralen Ideen Benjamins, Foucaults und Agambens in Verbindung gebracht, wie u.a. Cathrin Pichler bemerkt: Das Exponieren des Körpers und die Dramaturgie der Erprobung und Stigmatisierung lassen Brus von dem sprechen, was das bloße Leben (Walter Benjamin) genannt wurde. Seine künstlerische Arbeit kann als Demonstration des modern gewordenen Menschen, der mit seinem Körper in die Sphäre des Politischen eingetreten ist, gelesen werden. […]Das Verhältnis des Menschen zu Macht, Souveränität und zum Recht als ordnende Gewalt hat im letzten Jahrhundert, folgt man der Studie von Giorgio Agamben, in sukzessiver Folge für das biologische Wesen Mensch eine politische Identität entstehen lassen und die Figur des homo sacer geprägt.51

Die auf seinen Leib aufgetragene Figur des Risses, die Brus in der Wiener Innenstadt ›spazieren führt‹, deutet auf einen zunächst künstlerisch-körperlichen Aufbruch und damit verbundene Gesellschaftskritik, welche die Rolle(n) des Körpers diesseits und jenseits normgerechter Verhaltens- und Erscheinungsweisen fundamental in Frage stellt. Nahtstelle und Verbindungslinie dieser körperlichgesellschaftlichen Demarkationslinie bildet die Figur des Risses, welche den Körper 50 | Eine Vorstellung, die sich über Michel Foucault, Jeremy Bentham bis zu Thomas Hobbes (insbes. Hobbes’ Leviathan) zurückverfolgen lässt. Vgl. Skinner, Quentin und Wördemann, Karin: Die drei Körper des Staates. Göttingen: Wallstein-Verl., 2012. 51 | Pichler, Cathrin: »Vorwort. Narbenlehre«, in: Lammer, Christina; Brus, Günter und Pichler, Cathrin (Hg.): Günter Brus. Kleine Narbenlehre. Eine Leibgeschichte in drei Akten, Wien: Löcker, 2007. S. 296 S. Hier: S. 12.

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fundamental betrifft und seine gesellschaftliche Position und Rolle insbesondere im Zuge der Nachkriegszeit neu auslotet. Parallel zu diesem Hervortreten ›bio-politischer‹ Aspekte, dieser verstärkten körperlichen Sichtbarkeit, wird in einigen Quellen diskutiert, inwieweit es sich bei der Aktion Brus’ um eine Zurücknahme seiner eigenen Position, sogar seiner eigenen Körperlichkeit handelt: ob der Spaziergang durch die Weißung des Körpers als symbolische Auslöschung zu betrachten sei und inwieweit hier ein körperlicher ›Entzug‹ ins Spiel gebracht wird, der jenen Grund bildet, auf der die Bewegung der Riss-Figur sich im Stadtraum zu entfalten beginnt. Diese Fragestellung unterschiedet sich insofern von dem Ansatz Oliver Jahraus’, der bei den Wiener Aktionisten von einer grundlegenden »Präsenzqualität« ausgeht: Daß Antworten auf die Frage, was vom Wiener Aktionismus geblieben sei, ihn nachträglich verfehlen, liegt an einer besonderen Qualität, die in den Beschreibungen verloren geht: der Präsenzqualität, die nur so lange besteht, wie die Aktion andauert, und nur dann vorhanden ist, wenn die Aktion auf das Bewußtsein des Anwesenden einwirkt.52

Demgegenüber setzt Mechthild Widrich in ihrer Lesart der Brus’schen Aktion einem solchen Präsenzdenken zunächst den psychoanalytisch-dekonstruktiven Ansatz von Amelia Jones entgegen und argumentiert dann mit einem erweiterten Publikumsbegriff, der eine Verbindung zwischen dem unmittelbar anwesenden Publikum, welches sie als »Informative Public« bezeichnet und einem späteren, Dokumente und Fotografien rezipierenden »Leser*innenschaft« herstellt.53 Das teilnehmende Publikum, welches auch in den Dokumentationen der Aktion erscheint, begreift Widrich so in the sense that they are made to convey a context (historical, social, aesthetic) – of which they are hardly aware – to these future viewers. In that, I would claim that the intended audience of the Actionists extended into the future and indeed principally occurred there.54 52 | Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. S. 20. 53 | Widrichs Ansatz besteht darin, die Differenz zwischen gegenwärtigem und späterem Publikum analog zur Differenz von gelesenem und gehörtem Text zu begreifen: »imagine the distance between event and audience as that of a written text to an oral one«, woraus sie bezüglich Brus folgende Frage ableitet: »How are audiences addressed, and how do supposedly presence-driven artists like Brus orient their work towards later, ›reading‹ audiences?«. Widrich, Mechtild: »The Informative Public of Performance: A Study of Viennese Actionism, 1965-1970«, in: TDR: The Drama Review, Nr. 1, Heft 57, 2013. S. 137-151. Hier: S. 145. 54 | Ebd. S. 144.

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Dieser Ansatz einer ›Extension‹ der historisch gegenwärtigen auf spätere Publika erinnert latent an Jalal Toufics Konzept einer »untimely collaboration«55, in der künstlerische Werke sich mit zeitlicher Verschiebung an agierende Ko-Produzent*innen und ›Mitarbeitende‹ richten, die bei der Entstehung noch nichts von dieser späteren Zusammenarbeit wissen. Nichts Anderes beschreibt der hier vorliegende Ansatz, von einer der Latenz, d.h. der verzögerten Wirkung von Rissfiguren auszugehen. Diese Argumentation, die Fragen von Publikum und Dokumentation, bzw. performativen und medialen Konfigurationen einbegreift, ließe sich mit Blick auf Figuren von Rissen fortschreiben, neu konturieren und somit erweitern: Die gegen ein ausschließliches Präsenzdenken gerichteten Argumente aufgreifend, verstärkend und verkomplizierend, wäre so bei den Aktionen von Günter Brus mit Blick auf Rissfiguren von vornherein eine gleichzeitige Absenzqualität zu berücksichtigen, deren komplexes Zusammenspiel mit der oben genannten Präsenzqualität zu einer von Latenz geprägten Grundkonstellation führt, deren umfassendes Wirkungs- und Bedeutungspotential sich erst mit der Zeit, d.h. nach und nach zu entfalten beginnt. Anders formuliert ginge es weniger darum, sich in Bezug auf Performances konkret gegen ein (ausschließliches) Präsenzdenken zu wenden, als dieses vielmehr in einem komplexen Spannungsverhältnis mit Aspekten des Absenten (und dessen Vergegenwärtigung) einzufassen, welche wiederum in ein Wechselspiel von Aspekten der Differenz und Wiederholung, Planbarkeit und unvorhersehbarer Eventualität eingebettet sind. Mit der weißen Übertünchung erfährt der Körper Brus’ widersprüchlicher Weise zugleich eine Betonung und eine Auslöschung, Maskierung und De-Maskierung (zugleich: Markierung und De-Markierung) einhergehend mit einem Herausstellen der Figur Risses – seiner Überzeichnung oder körperlichen ›Überschreibung‹: Brus nimmt gewissermaßen eine Neutralisierung der ›eigenen‹, ›individuellen‹ (und darin gesellschaftlich normierten) Erscheinungsweise vor und unterwirft sich absichtsvoll einer ›Zeichnung des Risses‹, einer symbolhaften Markierung und vorausgehenden Figur des sich vor ihm (und durch ihn) ausbreitenden, weitgehend unvorhersehbaren Verlauf des Geschehens, dessen ›Gang der Dinge‹ er sich quasi aussetzt und unterwirft. Rückblickend scheint die demütige Haltung Brus’ somit der Kontingenz und Performativität des Geschehens zu gelten, als dass er sich primär gegenüber der Staatsmacht opportun verhielte. Aus einer korporealen Perspektive lässt sich die Aktion im Gegenteil als eine tiefgreifende und doppelte Umkehrung betrachten: Während dabei der Riss auf dem Körper von Brus gezeichnet ist, wirkt andersherum auch Brus wie gezeichnet vom Riss. ›Ein Riss geht durch die Bevölkerung‹, dieser gewöhnlicher Weise 55 | Toufic greift dieses Konzept häufiger in verschiedenen seiner Publikationen auf. Vgl. insbesondere Toufic, Jalal: Distracted. 2nd Edition. Berkeley, CA: Tuumba Press, 2003 (1991). Zugriff unter: http://www.jalaltoufic.com/downloads/Jalal_Toufic_Distracted_2nd_edition.pdf am 14.Okt. 2017. S. 38ff.

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metaphorisch gebrauchte Satz einer gesellschaftlichen Spaltung, wird hier (quasi) wortwörtlich verstanden und verkörpernd in die ›Tat‹ umgesetzt, indem er gegen das (ungeschriebene, implizite) Gesetz verstößt, sich normgerecht zu verhalten und im urbanen Gemeinschaftsraum kein Aufsehen zu erregen. Brus wird so quasi zu einer Art Medium, einem Transporteur des Risses, der es ihm unmöglich macht, unauffälliger Teil der anonymen Passantenmenge werden zu können – der Riss zeigt sich als auffälliges materielles Schauspiel. Brus Körper wird dabei selbst zu jener Klammer, die beide Seiten des Risses zusammenhält und diese nicht vollständig auseinanderreißen lässt, während dessen latenter inhärente Spannungszustand, sein inneres Vibrieren, in eine Bewegung durch den urbanen Raum ›übersetzt‹ wird. Nicht zuletzt stammt das Spazieren vom Lateinischen Spatium ab, dem Zwischenraum56 – Spazieren wäre so gesehen das Setzen und Markieren von Zwischenräumen, oder eher: ein Zwischenraum-in-Bewegung-Setzen, oder auch das Erzeugen eines Zwischenraumes im Modus der Bewegung. Brus bahnt so gesehen mit seinem Körper dem Riss einen Weg durch die Stadt. Als ihr ›Übersetzer‹ wird der Künstler Brus/ Körper Brus’ durch die Figur des Risses quasi (ent-)»metaphorisiert«:57 Brus’ Körper erfährt eine (symbolische) Reduktion auf die Linie des Risses und bleibt zugleich gegenwärtig, ähnlich der Figur von gleichzeitiger Un-/Sichtbarkeit des von Benjamin beschriebenen Baudelairschen Flaneurs – der Teil und zugleich kein Bestandteil des ›Korpus‹ der Öffentlichkeit ist.58 In solcher Weise ist Brus vom Riss ge(kenn)zeichnet, von ihm bewegt und geleitet, dringt dieser zugleich, von Brus bewegt und getragen, in das System staatlicher Organe ein und wird dort schließlich als Tatsache ›erfasst‹ (wie sich gezeigt hat, bleibt er in der Sprache dieser staatlichen Erfassung absent, stumm). Dennoch schreibt sich die Spur der Bewegung vom Heldenplatz bis zur Polizeiwache fort und quasi in die ›Annalen der Stadt‹ ein. Im übertragenen, figurativen Sinne infiziert und befällt der Riss somit die staatlichen Organe, benutzt sie als Ort seiner eigenen Verbreitung, seiner Archivierung, seiner latenten Fest- und

56 | »spatium, iī, n. (zu Wz. *spe(i) –, sich ausdehnen; vgl. altind. sphāyati […] 1) die Weite, u. zwar: a) die Weite = der Zwischenraum«, Georges, Karl Ernst: Lateinisch-Deutsch, Deutsch-Lateinisch: ausführliches Handwörterbuch (CD-Rom). Berlin: Directmedia Publ., 2004. S. 2745. Spatium weist insofern signifikante Überschneidungen zum Riss auf – zugleich wird »Spatium« später der Schrift verbunden: in der Druckersprache nennt man so die gesetzte Leerstelle zwischen den Buchstaben. 57 | Vgl. Derrida: »Der Entzug der Metapher«. S. 199. Derrida begreift hier zugleich die Metapher wortwörtlich als eine Figur immanenter Bewegung. 58 | Vgl. den Abschnitt: »Flaneur*in«, im vorliegenden Band S. 218ff.

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Fortschreibung.59 Der Übergriff, die ›Eingliederung‹ ist daher eine reziproke: so wie Brus Gegenstand und Bestandteil des staatlichen Zugriffes wird, wird der Polizist Teil der Kunstaktion und Bewegung der Rissfigur. Die Beweisaufnahme der Faktenlage wäre als eine doppelte zu betrachten: sie beginnt so gesehen nicht erst mit der Aufnahme der Personalien durch den Polizisten, sondern dieser führt zugleich eine künstlerische, soziologisch-geschichtliche ›Bestandsaufnahme‹ Brus’ fort. Brus stellt durch den Modus des non-challanten Spazierens, mit diesem harmlosen, geradezu auffällig angepassten Verhalten unter Beweis, dass in der Figur des Risses selbst eine Provokation gesehen wird, dass diese Figur trotz und in ihrer latenten, diffusen und ambivalenten Andeutung, in ihrer inhärenten Spannung, in ihrer Unlesbarkeit intelligibel ist.

Zerreißprobe (1970) Mit der Aktion Zerreißprobe findet Günter Brus’ aktionistische Phase im Juni 1970 in München ihren gewaltvollen Höhepunkt und zugleich ihr abruptes Ende. Diese letzte Aktion wurde, wie seine erste öffentliche Aktion, der Wiener Spaziergang, ebenfalls ausführlich filmisch60 und fotografisch dokumentiert, mittlerweile vielfach beschrieben und bereits aus vielfältigen Blickwinkeln61 theoretisch beleuchtet. An den verschiedenen theoretischen Annäherungen zeigt sich jedoch, dass das Verhältnis von (Dis-)Kontinuitäten, Zuspitzungen und Umbrüchen in Bezug auf die vorangegangenen Aktionen und dem malerischen Schaffen Brus’ derart verwickelt sind, dass hier noch weitreichende Fragen offengeblieben sind. Insbesondere die sich aus den vorrausgegangenen Ausführungen 59 | Zur metaphorischen Überschneidung und ›Kontamination‹ von Staat und/ als Körper vgl. Harris, Jonathan Gil: Foreign bodies and the body politic discourses of social pathology in early modern England. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 1998. 60 | Die Aufnahme ist veröffentlicht in Brus, Günter; Weibel, Peter und Altenberg, Theo: Bodyanalysis: Actions 1964-1970. Berlin: Edition Kröthenhayn, 2010. Medienkombination (DVD und Heft). 61 | Beispielsweise rückt Rosemaire Brucher einen Vergleich mit christlicher Selbstopferung in den Vordergrund, vgl. Brucher, Rosemarie: »Günter Brus’ ›Zerreißprobe‹ und die Tradition christlicher Selbstopfer«, in: Studia Austriaca XXI 2013. Zugriff unter: http://dx.doi.org/10.13130/1593-2508/3027 am 20. Sept. 2014. Oliver Jahraus diskutiert im weiteren Kontext des Wiener Aktionismus die »Entkoppelung von Kommunikation und Bewußtsein«, sowie die Rolle des »Körpers als Medium«, vgl. Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. S. 95ff., während Linda Schöer die Rolle der Haut als Membran und Passage in den Aktionen untersucht, vgl. Schröer: »Hautsache Aktion: Günter Brus«.

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Abb. 29 | Ankündigungsplakat Zerreissprobe.

aufdrängende Verbindung von Figuren von Reißen, Zerreißen mit Fragen der Körperlichkeit und weiteren Aspekte der Aktion als Szene der ›Probe‹ sind bisher aus theaterwissenschaftlicher bzw. performancetheoretischer Sicht noch nicht hinreichend diskutiert worden. Im Kontext der vorliegenden Arbeit scheint die Aktion Zerreißprobe zunächst besonders deshalb bemerkenswert, da – anders als der Titel vermuten lässt – die bisher in seinem malerischen wie auch aktionistischen Schaffen prominent auftauchende risshafte Linie ebenso wie die prägnante Weißung und die maskenhaftskulpturale Überformung seines Körpers verschwunden sind. Es scheint, als habe sich die Figur des Risses hier erneut transformiert: sie wird im Titel zwar explizit aufgerufen (mittlerweile bereits fast als ein Markenzeichen oder Signatur Brus’) aber in der Aktion selbst ist sie zugleich zu einem quasi unsichtbaren, internalisierten Topos transfiguriert, so dass der agierende, malträtierte Körper Brus’ noch weiter ins Zentrum rückt. Die Figur des Risses erscheint eher als

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eine Geste der Zerreißens, und, wie sich zeigen wird, als eine Figur der An- bzw. Abkündigung, die das Ende von Brus’ performativer Phase markiert. Vor diesem Hintergrund soll die Frage untersucht werden, inwieweit eine Figur des Risses als Strukturelement auf unterschiedlichen Ebenen unterschwellig Pate für die Dramaturgie der Aktion gestanden hat. Welche Verschiebungen haben im Vergleich zu Brus’ früheren Aktionen stattgefunden und welches transformatorische Potential der Rissfigur zeigt sich in den Handlungen? Inwieweit bezieht sich die Verwendung von Riss-Figuren hier auf Fragen der Körper-Technik? In welcher Weise ist in der Aktion ein Moment des Risses/Reißens impliziert und wie beeinflusst, wie erweitert dieser das Interpretationsspektrum, die ›Lesbarkeit‹ der Aktion und ihre physische Wirkung auf das Publikum? Wie werden kinästhetische und empathische Dimensionen hiervon berührt? Welche (physischen) Grenzen werden durch Risse zur Sichtbarkeit gebracht, überschritten oder aufgelöst? Welche Beziehungen und Differenzen bestehen dabei zwischen Akten symbolischer und physischer Gewalt einerseits und wie prägen diese die theatralen und performativen Dimensionen der Aktion? In diesem Zusammenhang spielt der im Titel neben der Figur des Reißens angesprochene Aspekt der »Probe« in seinem vielfältigen Bedeutungsspektrum im Hinblick auf die Theatralität und Performativität der Aktion eine wichtige und zugleich verkomplizierende Rolle. Innerhalb und zwischen verschiedenen Dimensionen des Probens, in der Spannbreite zwischen Erprobung als theatralem und analytischem Verfahren, werden Fragen von Wiederholung, Wiederholbarkeit aber auch der Unwiederholbarkeit, des Ausnahmezustandes, der Krise und der Transgression aufgeworfen. Obgleich der eher avantgardistisch anmutende Rahmen der Aktion Brus’ zunächst gegen eine Annäherung vermittels theatraler Kategorien zu sprechen scheint, wird so über den thematischen Aspekt der Probe unausweichlich doch (latent) ein Fragenhorizont theatraler Diskurse aufgerufen. Mit anderen Worten: Obgleich die Präsentationsform und thematische Ausrichtung von Brus’ Zerreißprobe der Assoziation etablierter oder gar bürgerlicher Formen des Theaters diametral entgegengesetzt scheint, stehen doch (oder gerade deshalb) grundsätzliche Fragen der Repräsentation, Darstellung und Zeugenschaft, wie auch deren Grenzen, deren Überschreitung sowie ihre unbestimmten Grau- und Tabuzonen zur Debatte.

Stichwort: Probe Zum Stichwort der ›Probe‹ schreibt Annemarie Matzke: Die Formulierung »auf Probe« beinhaltet immer eine gewisse Vorläufigkeit, beschreibt einen Prozess, der mit der endgültigen Entscheidung […] abgeschlossen ist. Proben bezeichnet damit einen Zeitraum, in dem die einzelne Handlung eingeschränkte Konsequenzen hat […] Damit gehört zur Probe auch immer ein

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus) Moment der Freiheit, sich doch anders entscheiden zu können, einen Aspekt zu finden, den man nicht vermutet hat. Sie ist immer auch Möglichkeitsraum.62

Aus den vorangegangenen Betrachtungen der Brus’schen Arbeiten und Aktionen ist ein solches Suchen nach Möglichkeitsräumen, ein ständiges Ausprobieren und Erweitern von künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, nicht zuletzt via verschiedener Figuren des Risses, in den Arbeiten evident geworden. Seine verschiedenen Aktionen standen dabei primär im Kontext eines Probenbegriffs, der sich auf Formen der Erkenntnisgewinnung bezieht, wie Matzke weiter ausführt: »Als Prozess der Wissensgenerierung trifft sich im Begriff des Probens das Theater mit der Wissenschaft.«63 Auch Günter Brus hatte bereits mit seinen Aktionen Körperanalysen I (1969) und II (1970) explizit auf einen derartigen thematischen Überschneidungsbereich – als Schnittfeld und Suchformel – rekurriert. Mit der Zerreißprobe wird die Fragestellung nun vertieft und auf die Spitze getrieben. Man könnte sagen, hier stellt Brus schließlich die Probe selbst auf die Probe. Es zeigt sich dabei, dass Brus bewusst auf Formen eines darstellenden, d.h. theatralen Agierens anspielt und sich zugleich davon abgrenzt. In ähnlicher Weise steht auch die Idee der (Theater-)Probe selbst stets unter einem gewissen Vorbehalt: Die Probe unterscheidet sich prinzipiell vom Modus der Aufführung des Theaters und dennoch verhandelt sie ein wesentlich theatrales Moment, oder anders gesagt, indem die Probe sich von der Aufführung abgrenzt, sich ihr voranstellt, können durch sie neue spielerische Formen erarbeitet werden, die Probe wird zum theatralen Inkubationsraum: [D]as Proben [eröffnet] die Möglichkeit, Theaterformen auszuprobieren, ohne an diese Konsequenzen denken zu müssen. Die Probebühne ist damit immer auch ein Schutzraum. Die Probe ist das Theater vor dem eigentlichen Theater: der Aufführung.64

Gerade durch die zeitliche und räumliche Abgrenzung von Probe und Aufführung, so ließe sich formulieren, faltet sich in der Probe ein wesentlich theatrales Moment in einer raum-zeitlichen Verstrickung in sich selbst ein. Die Probe ist in diesem quasi-theatralen ›Als-Ob‹ somit Theater und ist doch (noch) keins: sie schafft einen Rahmen, welcher die Möglichkeit von Theater zu bedingen scheint, indem es ihm vorausgeht, diesen vorbereitet, simuliert, testet. Die Probe, in der sich die Gruppe der Zuschauenden häufig aus den Reihen der Beteiligten rekrutiert, bildet so ein Szenario theatraler Latenz, ein ›Als-Ob‹ des ›Als-Ob‹.

62 | Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: transcript, 2012. S. 87. 63 | Ebd. S. 19. 64 | Ebd. S. 88.

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Sie verdoppelt das theatrale Moment des Uneigentlichen. Theater probiert und befragt sich hier selbst als Ort der Darstellung, als ›vorgeschobener‹ Ort der Aufführung, und sucht so ungehemmt nach seinen Grenzen und den Möglichkeiten ihrer Erweiterung. Mit dieser ›Vor-Stellung‹ (im Sinne einer raum-zeitlichen Abgrenzung einer Voran-Stellung zur Vorstellung) der Probe als abgegrenzter, gesonderter Schutzraum wird zugleich ein bestimmtes Konzept von theatralen Vorgängen verknüpft, diese ›Vorstellungen‹ sind einem bestimmten Verständnis von Theatralität verschrieben, wie Matthias Warstat argumentiert: Hinter der Idee, Theater zu einer geschützten Sphäre des Ausprobierens, Reflektierens und Einübens zu machen, steht ein prominenter Theaterbegriff, der schon immer mit Vorsicht zu genießen war. Gemeint ist die Auffassung, wonach für Theater ein »konsequenz-vermindertes« Handeln konstitutiv sei, das nicht dieselben Folgen für den oder die Handelnde nach sich ziehe wie andere, im Alltag vorherrschende Handlungsweisen. Diese Idee hat ihren Ursprung in Reflexionen über das Wesen des Schauspiels: Schauspielerisches Handeln, so die Annahme, bleibe letztlich ohne Konsequenz.65

Dieser Theaterbegriff wird, wie Warstat weiter darlegt, insbesondere durch die unterschiedlichen Positionen aufkommender avantgardistischer Bewegungen in Frage gestellt: Die Rede vom Theater als Schutzraum steht allerdings in einem seltsamen Gegensatz zur Denkfigur der Transgression, deren Bedeutung für die programmatischen Diskurse der Avantgarden kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Transgressive Praktiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Grenzen von Räumen mehr oder minder gewaltsam überschreiten – und gerade dadurch ein hohes Maß an Unsicherheit hervorbringen.66

Günter Brus’ Aktion Zerreißprobe scheint so gesehen einerseits – latent – eine solche Vorstellung von »Probe als Schutzraum« zu eröffnen und zugleich zu negieren: unter dem Vorzeichen der ›Probe‹ deutet sich ein ironisches Spiel mit Zweideutigkeit, ja möglicherweise ein Spielraum der Unentscheidbarkeit an. Etwas, oder jemanden, auf die Probe zu stellen, bedeutet ja zum einen ein experimentelles Herantasten an die Grenzen der Belastbarkeit. Die Zerreißprobe, im Sinne einer sprichwörtlichen ›Probe aufs Exempel‹ bedeutet jedoch noch mehr – sie geht mutwillig das Risiko ein, die Struktur, das Material, die vorliegenden Beziehungen und Bindungen, im Verfahren des Testens überzustrapazieren, 65 | Warstat, Matthias: »Theater als Praxis der Verunsicherung. Die riskante Seite der Avantgarde und ihre Programmatik«, in: Paragrana, Nr. 1, Heft 24, 2015. S. 189-200. Hier: S. 194. 66 | Ebd. S. 189.

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mit der Belastung über den strukturellen ›Knackpunkt‹ hinauszugehen und zugrundeliegenden Struktur einen unwiderruflichen, irreversiblen Schaden – quasi einen permanenten Riss – hinzuzufügen. Darin besteht das Paradox der Zerreißprobe, denn, so scheint es, kann es eigentlich gerade kein Zerreißen auf Probe geben: wenn ein Material reißt, so ist der Vorgang irreversibel. Mit dem Riss des Zerreißens setzt sich die Probe, unter Zeugen, in einem performativen Akt, selbst aufs Spiel. Die angedrohte Irreversibilität des Risses erscheint besonders deshalb umso dramatischer, da bei Brus’ Aktionen vor allem seine eigene Körperlichkeit als Material aufs Spiel gesetzt werden, womit der Künstler an die ›Stoßrichtung‹ seiner Körperanalysen anschließt und diese weiter zuspitzt.

Der Kontraktcharakter theatralen Handelns im Stresstest Betrachten wir die Aktion nun etwas näher: »Leitmotiv der Aktion« Zerreißprobe sei, so Gerald Schröder, eine »irritierende Verschränkung von künstlerischer Selbstreflexion und selbstzerstörerischer, sadomasochistisch anmutender Gewalt«.67 Der kahlgeschorene, anfangs in Unterhose, Strümpfen und Strumpfhaltern gekleidete Brus evoziere durch »die ruhige, meditative Haltung und die vor ihm ausgebreiteten Schneidewerkzeuge das Szenario eine rituellen Selbstmordes«.68 Hierbei verkörpere Brus nach Schröder eine zutiefst widersprüchliche Verschränkung einer Täter- und Opferrolle. Verschiedene Autor*innen stellen Brus Aktion so in den Kontext »christlicher Leidenstradition« – die Zerreißprobe sei so von einer »Ambivalenz zwischen ›blasphemischer‹ Kritik bei gleichzeitiger Fortschreibung christlicher Elemente gekennzeichnet, wobei auch diese Fortschreibung häufig wiederum Kritik impliziert«.69 Gerald Schröder formuliert demgegenüber, dass in der Aktion zwar Assoziationen hervorgerufen [werden], die sich auch an das kulturelle Bildergedächtnis heften können wie beispielsweise an die Ikonographie der Passion Christi, Märtyrerszenen, Höllenqualen oder die Schindung des Marsyas. Doch werden diese Bilder immer wieder zerstört, indem der Betrachter durch das Schockerlebnis mit seiner eigenen leiblichen Realität konfrontiert wird.70

In dieser Hinsicht kann es als Ironie der Titelgebung gesehen werden, dass Brus das üblicherweise metaphorisch gebrauchte Stichwort der Zerreißprobe auf dem Höhepunkt der Aktion quasi wörtlich zu begreifen scheint, indem er 67 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 307. 68 | Ebd. 69 | Brucher: »Zerreißprobe«. S. 159. 70 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 313f.

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dieses unmittelbar, direkt auf seinen Körper bezieht und ›anwendet‹: mit dem Bauch auf dem Boden liegend, beginnt der der nackte, kahlgeschorene Künstler Brus, die an seinen Beinen festgebundenen Schnüre, mittels Umlenkung auseinanderzuziehen. Die Szene wirkt, sogar noch in der medialen Distanz der Foto- oder Filmaufnahme, zutiefst verstörend. Rosemarie Brucher interpretiert die Szene wie folgt: Höhepunkt und zugleich Sinnbild der Zerreißprobe scheint jedoch der Versuch einer Selbstzerreißung zu sein […] Dabei gemahnen sein nackter, von Zeichen der Beanspruchung versehrter Körper und die Pose der zur Seite gespannten Arme an Darstellungen des Gekreuzigten.71

Die rituellen Handlungen schwanken zwischen religiöser Symbolik und konkreter Schmerzzufügung, Brus’ Körper scheint sich dabei an den Grenzen seiner Belastbarkeit zu bewegen. Der durch Seile und Umlenkrollen ›mechanisierte‹ Gewaltakt evoziert unwillkürlich die Vorstellung abgetrennter Gliedmaßen oder eines zerrissenen Torso. Zugleich erweist sich der Körper als durchaus Widerstandsfähig gegenüber dieser selbstverursachten Gewalteinwirkung und die Vermutung drängt sich auf, dass die Brus’sche Konstruktion nicht wirklich dazu geeignet sei, den Körper tatsächlich in zwei Teile zu zerreißen. Zumindest entsteht jedoch beim Betrachten die Befürchtung, dass sich die Schnüre in die Haut und ins Fleisch der Beine schneiden könnten (wie bereits zuvor mit einer Rasierklinge geschehen). In jedem Fall mutet Günter Brus sich wie dem anwesenden Publikum viel zu, es handele sich um eine »nervliche Belastungsprobe«72, wie er im ausführlichen Ankündigungstext formuliert. Insofern trifft es die Zuschauenden nicht völlig unvorbereitet, insbesondere da der Rahmen der Galerie andere Vorbedingungen mit sich bringt, als der öffentliche, städtische Raum wie beim Wiener Spaziergang. Brus trifft in der Galerie primär auf eingeladene, freiwillige Zuschauer*innen und ein vermutlich eher aufgeschlossenes, kunstinteressiertes (möglicherweise auch sensationslüsternes) Publikum. Dennoch bleibt fraglich, inwiefern bei der Aktion von einem »Kontraktcharakter theatralen Handelns« gesprochen werden kann, wie Matthias Warstat die implizite Verabredung bezeichnet, welche die Beziehung zwischen Beteiligten theatraler Prozesse regele: Diese Verabredungen setzen entsprechende Handlungen, so rabiat und real sie auch wirken mögen, gleichsam in Anführungszeichen. Beide Seiten, Akteure wie Zuschauer, gehen davon aus, dass die ausgeführte Handlung nicht buchstäblich

71 | Brucher: »Zerreißprobe«. S. 164. 72 | Zit. nach Klocker: »Erweiterung der Malerei«. S. 375.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus) zu nehmen ist, sondern durch ihren theatralen Rahmen einen metaphorischen Sinn und eine modifizierte Funktion erhält.73

Einen solchen Kontrakt scheint Günter Brus in der Aktion Zerreißprobe jedoch nun gerade aufs Korn zu nehmen und dessen implizite Voraussetzungen zu hinterfragen. Mit dem Titel Zerreißprobe und der daran anschließenden Aktion zielt Brus sowohl auf ein transgressives Moment als auch auf ein Spiel mit theatralen Markern ab. Als semi-öffentlicher Raum ist die Galerie zwar ›geschlossener‹ als jener des Stadtraumes in der Aktion Wiener Spaziergang aber dennoch gelten hier keineswegs die Gesetze und ›Rahmenvereinbarungen‹ der Theaterbühne. Die ›angemessene‹ Verhaltensweise des Publikums ist hier keineswegs klar geregelt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass diese Art von Aktionen bzw. ›Performances‹74 1970 ein noch relativ neues, nicht konventionalisiertes Format darstellten. In diesem sozial latent unbestimmten Raum der Galerie setzt sich Brus nun mit einer schonungslosen Ungeschützheit in einer äußerst prekären, infamen Situation den Blicken der Zuschauenden aus, so dass es den Anschein haben könnte, als ob der Raum ein geschützter Raum des Theaters oder sogar der Probe wäre. In der Intimität dieser schonungslosen Verwundbarkeit generiert die Aktion etwas Gemeinschaft-stiftendes: Durch die reale Verletzung des Künstlers gerät die Aktion zur Grenzerfahrung für Akteur und Publikum, indem nicht nur die Grenze von Schein und Sein durchlässig wird, sondern auch das Tabu der willentlichen Selbstverletzung letztlich in Übereinkunft mit dem Publikum eine Brechung erfährt.75

Aufgrund dieser geteilten/doppelten Zumutung betrifft der latente Riss der Zerreißprobe somit nicht nur die Materialität des Körpers Brus’ sondern auch die ›materielle‹ Struktur der Beziehung zwischen Akteur und Zuschauenden in seiner latent trennend-verbindenden Dynamik. Dabei spielt Brus von vornherein mit der Unklarheit, ob und inwiefern seine eigene körperliche Unversehrtheit hier eigentlich aufs Spiel gesetzt wird – oder eben nicht. Der im Titel implizierte Riss steht dabei in einem weiter Sinne als Strukturelement Pate, markiert vor allem durch abrupte dramaturgische RichtungsWechsel, als »jähe Änderung der Handlungsrichtung, der abrupte Abbruch einer im Gang befindlichen Handlung«, von denen Brus in seinem ausgehändigten

73 | Warstat: »Praxis der Verunsicherung«. S. 197. 74 | Vgl. zum Stichwort ›Performance‹ auch Fußnote 55 im Kapitel »Vom Durchlauf(en) der (Nach-)Bilder (Murakami Saburō)«, S. 263. 75 | Brucher: »Zerreißprobe«. S. 167.

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Informationsblatt spricht.76 Die dort genannte »nervliche Zerreißprobe«77 der Zuschauenden, besteht demnach nicht nur in der bloßen Wahrnehmung von Gewaltakten gegen seinen Körper, es sind also nicht unbedingt nur jene Stellen, an denen sich Brus mit der Rasierklinge in die Haut am Oberschenkel oder am Kopf schneidet, sondern vielmehr die unvorhersehbaren, abrupten Wechsel zwischen exzessiven Szenen und ruhigen Momenten, die eine bedrohliche Atmosphäre der Latenz schaffen – in der jederzeit noch drastischere Gewaltakte jederzeit möglich zu sein scheinen. In diesem Kontext wirken insbesondere die ruhig formulierten Bitten Brus’ (z.B. das Fenster zu öffnen, ein Glas Wasser zu reichen etc.), aufgrund ihres appellativen und zugleich schlichten, menschlichen Gestus, besonders verstörend. Hat sich das Publikum möglicherweise nach einer Weile daran gewöhnt, die gewaltvollen Handlungen und Autoagression Brus’ als künstlerische, rituelle Akte hinzunehmen ohne dem Impuls nachzukommen, selbst einzuschreiten, so wird dieses Gewöhnungsmoment, diese tendenzielle ›Sedierung‹ der eigenen Empathie von Brus’ menschlich wirkenden Bitten konterkariert. Deutet sich in diesen Aufforderung ansatzweise eine mögliche kurzzeitige De-Eskalation der Situation (eine »Verschnaufpause«, wie Brus formuliert78) durch potentiell humanitäre Gesten an, versagt Brus sich und dem Publikum umgehend diese temporäre Entspannung. Die Rückkehr zu drastischen Gesten und gewaltvollen Handlungen erfolgen wiederum so abrupt, dass in Frage gestellt wird, ob Brus die zuvor getätigten verbalen Aufforderungen ›ernst‹ gemeint hat oder nicht. Die Wechsel der Ereignisse, so scheint es zumindest bei der Betrachtung der Filmaufnahme der Aktion79, erwecken zunehmend den Eindruck, dass diese im Rahmen einer dramaturgisch geschlossenen, choreographierten und durchinszenierten ›Aufführung‹ zu betrachten seien. Brus unterbricht also keineswegs den dramaturgischen Ablauf, wie es im Rahmen einer öffentlichen ›Probe‹ möglich gewesen wäre, in der solche praktische Bitten durchaus erwartbar gewesen wäre, sondern die Unterbrechungen sind geplanter, zentraler Bestandteil der Dramaturgie und Inszenierung.80 Die appelativen Äußerungen entziehen sich so von vornherein den Kategorien des Ge- bzw. des Misslingens (im Austinschen

76 | Günter Brus, Informationsblatt zur Zerreißprobe, zit. in: Klocker: »Erweiterung der Malerei«. S. 375. 77 | Ebd. 78 | Ebd. 79  | Aufnahme in Brus; Weibel und Altenberg: Bodyanalysis: Actions 1964-1970, 2010. 80 | Dies wird in Brus vorbereitendem Skript inkl. detailierter Skizzen deutlich. Vgl. Faber; Schröder und Albertina (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung, S. 83f.

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Sinne81) und können daher als bewusste und strategische Destabilisierung des Zuschauenden-Performenden-Kontraktes gelten: Es gibt vier sprachliche Äußerungen in der 25 minütigen Aktion, die in den Ablauf der Aktion integriert und für eine Verunsicherungsstrategie funktionalisiert sind. Sie werden mit ruhiger Stimme geäußert, um so den größtmöglichen Kontrast zu den Selbstverletzungen und den Bewegungsabläufen der Aktion zu erzeugen. Dadurch sind sie weder als Teil noch als Unterbrechung der Aktion identifizierbar.82

Zugleich können solch abrupte Wechsel innerhalb performativer Aktionen, Matthias Warstat zufolge, auf einer übergeordneten Ebene erneut als Zeichen oder Marker angesehen werden, die »anzeigen, dass die betreffende Handlung als theatral wahrgenommen werden soll«, womit allen Beteiligten schon klar [ist], welche spezifischen Interpretationsschlüssel in dem konkreten Fall gelten. Man weiß dann etwa, dass gewaltsame Aktionen möglich sind, ohne dass das übliche Repertoire moralischer Entrüstung oder ethischer Handlungsanforderungen greift.83

So gesehen ist die Grundlage des impliziten ›Kontraktes‹ zwischen dem Akteur Brus und dem anwesenden Publikum ausgesprochen komplex und wird durch die abrupten dramaturgischen Wechsel und den zweideutigen Charakter von Brus sprachlichen Einwürfen weiter verkompliziert bzw. in Frage gestellt. Die inszenierten, sehr genau geplanten dramaturgischen Richtungswechsel können

81 | In seiner Theorie der Sprechakte weißt Austin dem Sprechen auf der Bühne zunächst eine Ausnahmesituation zu: »In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen hohl oder nichtig, wenn sie von einem Schauspieler auf der Bühne gesprochen werden oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt« (zit. nach. Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 38) , – solche ›Ausnahmen‹ des Uneigentlichen bestimmt Derrida quasi als Rahmenbedingung des Sprechens: »Denn ist nicht schließlich das, was von Austin als Anomalie, Ausnahme, ›unernst‹ ausgeschlossen wird, nämlich das Zitat (auf der Bühne, in einem Gedicht oder im Selbstgespräch) die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit – vielmehr einer allgemeinen Iterabilität – ohne die es nicht einmal einen ›gelungenen‹ Performativ gäbe?« und weiter: »Die Iteration, die sie a priori strukturiert, bringt eine wesentliche Dehiszenz und einen wesentlichen Bruch in sie hinein. Das ›Unernste‹ und die oratio obliqua können von der ›gewöhnlichen‹ Sprache [langage] nicht mehr ausgeschlossen werden, wie es Austin wünschte«. Derrida: Ebd. S. 38f. 82 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 95. 83 | Warstat: »Praxis der Verunsicherung«. S. 198.

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Abb. 30 | Günter Brus, Zerreißprobe (1970).

somit genauso wie die Momente der Selbstverletzung als bestimmendes Strukturelement der Aktion gelten. Rückblickend lässt sich zwar durch die vorbereitenden Zeichnungen erkennen, dass jene Elemente, die wie spontane Äußerungen Brus’ wirken könnten, bereits weitgehend in seinen vorbereitenden, konzeptuellen Skizzen vorhanden sind, die abrupten Wechsel bleiben jedoch auch noch bis heute beim Betrachten der filmischen Dokumentation irritierend bis verstörend. Die Form der Darstellung springt so regelrecht zwischen verschiedenen theatralen Modi hin- und her und spielt bewusst mit ihren radikalen Durchbrechungen. In den abrupten dramaturgischen Wechseln als Veränderungen im Gestus’ der Handlungen, lässt sich tendenziell die verinnerlichte, verkörperte und zugleich symbolisch repräsentierte kontingente Bewegung eines Risses wiedererkennen: es wäre jenes Verhältnis zwischen Ruhe und plötzlichen Sprüngen zur Bewegung in unvorhergesehene Richtungen, das Einsetzen eines antizipierten und dennoch unvorhersehbaren Weiterreißens entlang der Riss-beherbergenden Materialstruktur. Was hier – risshaft – strapaziert und auf die Probe gestellt wird, wäre demnach mit der- und durch die körperliche Materialität des Akteurs ebenso die strukturelle Beziehung zwischen Publikum und dem Agierenden, der »theatrale Kontrakt« steht grundsätzlich zur Disposition.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

Die Zerreißprobe als theatrale Bezeugungssituationen Zum Spektrum der assoziativen Felder mit denen die Aktion spielt, fällt auf, dass von verschiedenen Autor*innen zum einen, naheliegender Weise, relativ häufig christliche Konnotationen genannt werden. Jedoch können auch die grausamen Bilder und Berichte über Menschenversuche in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ebenfalls zum assoziativen Spektrum gezählt werden, was in der Aktion Brus aufgrund der erwähnten »verstörenden Verquickung von Opferstatus und Täterschaft«84 unter komplizierten Voraussetzungen geschieht. Insbesondere der kahlgeschorene Kopf, wie seine ausgemergelte, nackte Körpergestalt, evozieren, wenn Brus erschlafft von der körperlichen Tortur an der Heizung des kahlen Galerieraumes heruntergleitet vielfache Bilder geschundener, gequälter und herabgewürdigter Körper: Brus [konfrontiert] den Betrachter nicht nur schockartig mit verdrängten Inhalten seiner ontogenetischen Entwicklung, sondern auch mit der gesellschaftlich und politisch verdrängten nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrem latenten Fortleben in der eigenen Zeit. Denn noch stärker als in der Bundesrepublik Deutschland, wo seit den 1960er Jahren eine politische und auch gesellschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus begann, formierte sich das neue österreichische Nationalbewusstsein über eine Verdrängungsleistung der eigenen Vergangenheit, die dadurch traumatische Qualität gewann.85

In der Zerreißprobe werden, mehr noch als bei Wiener Spaziergang, so unterschiedliche Szenen und Szenarien des »bloßen Lebens« aufgerufen, wie verschiedene Autoren erneut mit Blick auf Ausführungen Walter Benjamins und Giorgio Agambens betonen.86 So gesehen werden unterschiedliche thematische Stränge wie die Stahlseile mit denen Brus operiert, umgelenkt, in komplexer Weise überkreuzt und in der Figur des geschundenen Körpers miteinander verschränkt. Brus selbst macht diese Verschränkung getrennter und zugleich verbundener assoziativer Räume – als Topoi – an anderer Stelle explizit: »Das Zimmer in der Anstalt ist weiß gestrichen – […] Die Gaskammer ist weiß gestrichen«.87 Die weiß gestrichene Münchner Galerie in welcher die Aktion Zerreißprobe stattfindet, reiht sich so nahtlos in die Aufzählung weiß übertünchter Räume ein und wirft die Frage nach den unsichtbaren Kontinuitäten und dem Fortbestehen faschistischer Muster und Gepflogenheiten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf. Mit diesen sich überlagernden Gewalt- und Leidensgeschichten wird so (implizit) auf 84 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 307. 85 | Ebd. S. 379. 86 | Vgl. Lammer; Brus und Pichler (Hg.): Narbenlehre. S. 12ff. 87 | Schröder: Schmerzensmänner. S. 354.

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eine Geschichte einer Auslöschung von Erinnerung im Holocaust verwiesen: Wie Georges Didi-Huberman ausführlich dargestellt hat, sollte mit der Ermordung der KZ-Insassen zugleich systematisch alle Zeugenschaft ausgelöscht werden und mittels eines umfassenden Bild- und Dokumentationsverbots sämtliche Möglichkeiten des Erinnerns negiert werden.88 In der Aktion Zerreißprobe überlagern sich so gesehen unterschiedliche Verweise und Referenzen, die einerseits an Szenen und Bilder des Holocaust gemahnen, andererseits ikonographisch an die biblische Darstellung der Kreuzigung Christi erinnern. Die Sterbeszene Christi (und zwar in ihren unterschiedlichen Fassungen dreier Apostel), wie gezeigt bereits wurde,89 springt ihrerseits zwischen zwei disparaten Szenen hin- und her und markiert dabei ebenfalls eine komplexe Szene von Zeugenschaft bzw. ein Szenario des abgelenkten Blickes. So wie die biblische Szene zwischen der Sterbensszene auf dem Berg Golgatha und der sich parallel ereignenden Riss-Szene im Vorhang des Tempels (genauer gesagt: im unbestimmten Raum zwischen zwei verschiedenen Vorhängen) hin und her bewegt, springen auch die von Brus’ Aktion evozierten Assoziationen zwischen verschiedenen Szenen der Gewalt hin- und her. Vor diesem thematischen Kontext wird nun ein weiteres Konzept von Theatralität relevant, welches diese als »relationale Kategorie« und unter dem Merkmal der »Bezeugungssituation« subsumiert.90 Gabriele Brandstetter bestimmt Theatralität in diesem Sinne als »eine Beziehung, ein Verhältnis (zum Beispiel Szene-Betrachter), das eine Bezeugungssituation und eventuell auch Bezeugungsmuster über Narrative oder Bilder hervorruft«. Ein solches Theatralitätsmodell fokussiere, wie Sandra Umathum unterstreicht, primär auf »auf Prozesse der zwischenmenschlichen Beziehungsherstellung«.91 Relationalität als theatrale Grundkategorie greife laut Brandstetter weiterhin und zwar auch dann, wenn eine solche Beziehung und die aus ihr geregelten Bezeugungsformen geleugnet werden. […] Und schließlich bewegt sich diese Beziehungssituation selbst entlang einer Grenze von Ein- und Ausschließung und über diese Grenze hinweg.92

Gerade durch das Unsichtbar-Bleiben des Risses in der Aktion Zerreißprobe, durch die Internalisierung der Figur des Risses, und die Transponierung ihrer 88 | Vgl. Didi-Huberman: Bilder trotz allem. 89 | Vgl. den Abschnitt »Der Tod Jesu / Riss des Tempelvorhangs« im vorliegenden Band S. 128ff. 90 | Brandstetter: »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«. S. 36. 91 | Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. S. 69. 92 | Brandstetter: »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«. S. 36.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

wechselhaften Bewegung in den Bereich der Dramaturgie, als Sprünge zwischen (evozierten) Gesten des Menschlichem und Inhumanem, erinnert Brus an ein Moment des Unbezeugbaren, des erzwungenen Vergessen und dem daran gebundenen Akt des Verdrängens. Indem der Transgressionsakt die Figur des Reißens in den Bereich der Imagination verlegt, entsteht ein kollektiver Akt des Bezeugens, der zugleich einen Zwischenraum, eine Leerstelle des Erinnerns als individuelle und kollektive Akte der Verdrängung markiert: Die Zeugenschaft bezeugt den Versuch eines unmöglichen Erinnerns. Die unsichtbare, internalisierte Figur des Risses wird, wie in der biblischen Szene, zu einer Stellvertreterfigur, die in einer paradoxalen Geste einen Akt des unbezeugten Sterbens bezeugt. Zusammenfassend ließe sich die Aktion Brus’, in ihrer programmatischen Konjunktion der divergierend ambivalenten Figuren Riss und Probe, im Sinne einer »Arbeit gegen die Vergänglichkeit« auffassen, wie Annemarie Matzke diese in Rückgriff auf das Denken Hannah Arendts für »offene Aufführungssituationen« beschreibt: Diese Arbeit gegen die Vergänglichkeit ist, nach Hannah Arendt, jeder Form der Arbeit eingeschrieben, spitzt sich aber im Theater zu. In diesem Sinne ist jedes Arbeiten am Theater auch immer ein »Durcharbeiten« in der Wiederholung, wie es Freud beschrieben hat als ein Benennen und Durcharbeiten von Widerständen, um diese dadurch zu überwinden.93

Der unsichtbare, internalisierte und dennoch spürbare, erlebbare Riss in Brus’ letzter Aktion kann dabei als Symbol und Metapher einer angestrebten TraumaBewältigung angesehen werden, die im Zwischenraum kollektiver und individueller Trauerarbeit operiert und grundsätzlich von einem besonderen Verhältnis zum Akt des Probens gekennzeichnet ist, wie Matzke ausführt: Während in der Trennung von (versteckter) Probenarbeit und Aufführung der Schauspieler allein die Trauerarbeit vollzieht und sie vor dem Zuschauer verbergen muss, verschiebt sich das (Therapie-)Szenario in den oben beschriebenen Formen, die mit einer offenen Aufführungssituation spielen: Das Trauma der Probe, das, was eben noch erarbeitet wurde, nicht mehr wiederholen zu können, und das Trauma der vergessenen Proben, nämlich unvorbereitet auf die Bühne zu müssen, überlagern sich hier.94

Die Zerreißprobe macht mit ihrem Titel einen Riss explizit und führt diesen zugleich in seinem augenscheinlichen Ausbleiben als internalisierte Verkörperungsprozesse vor Augen. Gefragt wird hier somit auch danach, wie derartige Extreme, die hier in abstrahierter, andeutender Form zwischen christlichen Leidensszenen, 93 | Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. S. 285. 94 | Ebd.

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Szenen der Selbstkasteiung, aber auch Szenarien der systematischen Folter und Menschenversuche des 1965 noch weitgehend unverarbeiteten Holocaust aufrufen und in den Zusammenhang mit individueller Verantwortung und dem (verweigerten) Impuls zum Eingreifen als Akt humanitären Handels gebracht. Zu der von Matzke erwähnten Bewältigungsarbeit am doppelten Trauma, nicht wiederholen zu können und zugleich unvorbereitet zu sein (diesem tritt Brus ja mit seinen minutiös vorbereitenden Zeichnungen und Skizzen deutlich entgegen) gesellt sich potentiell nun noch ein dritter Aspekt, ein drittes Trauma hinzu: nämlich der Widerspruch, wiederholen zu müssen bzw. einer Wiederholung nicht zu entkommen. Während Annemarie Matzke zufolge die (Theater-)Probe »als der Aufführung vorgängiger Prozess […] eine Wiederholung zum Ziel [hat]: Das, was in ihr erarbeitet wird, soll in der Aufführung wiederholt werden«95, zielt demgegenüber die Zerreißprobe gerade nicht auf die Herstellung von Wiederholbarkeit ab, sie testet vielmehr in einer Art performativen, strukturanalytischen Verfahren die Voraussetzungen von Wiederholungsmustern und fragt im übertragenen Sinne nach den Zwängen der Wiederholung und testet bewusst die Grenzen des Wiederholbaren. Brus thematisiert somit auch eine Frage gesellschaftlicher Wiederholungszwänge und fragt auf gewaltvolle, schmerzhafte Weise nach Möglichkeiten des Ausweges. Ein latentes Trauma des Wiederholungszwanges steht in der Zerreißprobe so paradoxerweise zugleich als Trauma des Traumas und als dessen mögliche Bewältigungs-Strategie durch ein gezieltes Sich-Aussetzen, hinter dem eine Möglichkeit der grundlegenden Aussetzung, des Ausstiegs aufscheint. Mit der Zerreißprobe steht somit ein Akt der Transformation als performativer Vollzug einer doppelten Einfaltung/Differenz auf dem Programm: So gesehen können wir die Zerreißprobe als eine doppelte Bewegung begreifen, nämlich: eine Probe, d.h. das konkrete Probieren des Zerreißens, aber auch – symbolisch, übertragen gesprochen: ein Durch- oder Abriss als Ende des Probehaften. Der Akt des Reißens wird so gesehen probeweise, ansatzweise durchgeführt; kurz bevor sich ein Riss zu zeigen beginnt, ein auf Endgültigkeit hinweisendes Zerreißen, endet der Akt der Probe jedoch harsch, die Probe setzt sich (im Reißen) selbst außer Kraft. Im Gegensatz zur öffentlichen Theaterprobe als einer »offenen Aufführungssituation«, einer sich als die Probe selbst ausstellenden Theateraufführung, wird in der Aktion von Brus etwas (radikal) anderes mitmarkiert: es geht zentral/am Rande um etwas, das dem Theater diametral entgegengesetzt ist (und dennoch latent in ihm enthalten): in der Konfrontation mit dem Riss des Zerreißens geht es gerade nicht darum, eine Wiederholbarkeit herzustellen, sondern sich zugleich dem Widerspruch auszusetzen, nach den (Un-)Möglichkeiten und Paradoxien dessen zu fragen, was sich wiederholen könnte und nicht wiederholen darf. Mit der sich steigernden Radikalität der Aktionen in Brus’ performativer Phase scheint 95 | Ebd. S. 20.

13. Vom Wiener Spaziergang zur Zerreißprobe (Günter Brus)

es am Schluss mit der Zerreißprobe nochmal zentral um eine Frage nach den Grenzen von theatraler und nicht-theatraler, d.h. bezeugter und nicht-bezeugter Un-/Wiederholbarkeit zu gehen. Denn mit der Probe, die sich im Kontext von performativen Darstellungen, unter der Zeugenschaft eines Publikums nie völlig vom Aspekt des Theatralen lösen kann, steht auch etwas Anderes auf dem Spiel, nämlich der Beginn von Wiederholungsmustern im Sinne einer theatralen Aufführbarkeit. Somit stünde mit der Verinnerlichung des Risses, seiner Verkörperung in der Zerreißprobe auch umgekehrt auch eine latente Theatralisierung der Figur des Risses zur Debatte. Mit und durch die Verkörperung der Riss-Figur wirft Brus somit das Problemfeld der Zeugenschaft, der Bezeugbarkeit und einer ethischen Verantwortung einer Zeugenschaft auf und zwar ausdrücklich, im direkten Sinne auch gegenüber Vorgängen, die noch nicht oder nicht mehr sichtbar – aber in ihrer Latenz deutlich spürbar sind.

Vom Schließen des Risses – Ende der performativen Phase Nach Beendigung der Aktion Zerreißprobe wird Brus die Entscheidung fassen, den im Laufe der Zeit immer drastischer, physischer und gewaltvoller gewordenen Aktionen aus Sorge um die ›Irreversibilität‹ der körperlichen Konsequenzen keine weitere Aktion mehr folgen zu lassen. Nach eigener Aussage war hierbei u.a. die klare Forderung seiner Frau Anni Brus ausschlaggebend. Konkret stand im Anschluss an die Zerreißprobe die Befürchtung im Raum, dass Brus mit seiner Tendenz, die Intensität der körperlichen Aktionen von Mal zu Mal zu steigern, an einem Punkt gekommen war, wo sein realer Suizid nicht mehr ausgeschlossen werden konnte.96 Mit der durch Wien spazieren getragenen Figur des Risses eröffnete sich – risshaft – für Günter Brus eine performative Phase, die trotz oder wegen ihrer sorgfältigen Planung und minutiösen Vorbereitung in Zeichnungen und Skizzen97 aus übergeordneter Perspektive einen Bogen der Entwicklung beschrieben hat, als unkontrollierbar bezeichnet werden muss. 96 | »›Nach der  Zerreißprobe  sagte ich ihm, er müsse Schluss machen mit den Performances‹, erzählt seine Frau Anni, die bei zahlreichen Aufführungen seine künstlerische Partnerin war. ›Ich konnte da nicht mehr mit. Und ich wollte auch keinen verstümmelten Mann zu Hause haben‹«. Mießgang, Thomas: »Günter Brus: Was der Körper so alles hergibt«, in: Die Zeit Nr. 6, 2018. Zugriff unter: https:// www.zeit.de/2018/06/guenter-brus-kuenstler-80-jahre am 26.07.2018. Vgl. Interview mit Günter und Anni Brus innerhalb der filmischen Dokumentation »Schrecklich verletzlich« von Anita Natmeßnig in Brus; Weibel und Altenberg: Bodyanalysis: Actions 1964-1970, 2010. 97 | Vgl. Skizzen in Faber; Schröder und Albertina (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung S. 84.

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So zeichnet sich rückblickend zugleich ein widersprüchliches Moment des vorsätzlich Unkontrollierbaren, des Unvorhersehbaren ab, das ein wichtiges Muster der Brus’schen Aktionen bildet. Die performative Phase Brus endet mit der Zerreißprobe entsprechend: wie ein sich schließender Riss, der nicht abreißt.

14. Der Riss als Form des stummen Insistierens: Shibboleth (Doris Salcedo)

Ein Beginn mit Verspätung: Als ich die Londoner Tate-Galery im September 2012 betrete, ist die Ausstellung Shibboleth der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo längst beendet. Dennoch ist ihr Ausstellungs-›Objekt‹ nicht ganz verschwunden: Ein etwa 167 Meter langer Riss im Betonboden der Halle wurde zwar inzwischen mit Putz aufgefüllt, verfugt und geglättet – aber seine Überreste, seine Spuren, sein Verlauf bleiben weiterhin im Fundament der repräsentativen Turbine Hall deutlich erkennbar.

Abb. 31 | Eingangsbereich der Turbine Hall (Tate Galery London) mit verfugtem Riss von Doris Salcedo.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten

Während die Riss-Installation Salcedos sich zur Betrachtung im Kontext dieser Arbeit förmlich aufdrängt, stellt der verspätete Besuch wie auch der prekäre Status des ›Objektes‹ während- und nach Ende der Ausstellung eine methodische Herausforderung dar: Mit welchen Ansätzen können wir uns rückblickend dem offen ragenden und später verfugten Riss in seinem komplexen Verfasstheit zwischen Präsenz und Absenz methodisch annähern und wie lässt sich dessen je spezifische Ephemeralität und Spurhaftigkeit thematisch greifen? Nicht zuletzt: Wie lassen sich diese Qualitäten in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Formen der Interaktion der Besuchenden (rückblickend) adäquat beschreiben? »[A]uch Kunstwerke in Museen und Galerien [ermöglichen] zunehmend Erfahrungen in Aufführungssituationen«1, resümiert die Theaterwissenschaftlerin Sandra Umathum. Zusammen mit einem neuerlichen Schub von performativen und insbesondere choreographischen Arbeiten in Museen2 im Laufe der letzten Jahre war auch im theaterwissenschaftlichen Diskurs ein methodischer Shift zu beobachten, der sich in seiner Theoriebildung musealen Kontexten zuwendet – so weitet Umathum den Begriff der Aufführung auf »intersubjektive Begegnungen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst« aus.3 Voraussetzung für eine Aufführungsanalyse im musealen Kontext bleibe Umathum zufolge jedoch notwendigerweise die eigene phänomenologische Wahrnehmung: »Für die Analysierenden heißt dies, dass sie allein von ihrer eigenen Wahrnehmung und Erfahrung ausgehen und zudem nur von den Aufführungen sprechen können, die sie selbst besucht haben.«4 Dies entspricht der Grundannahme von Christel 1 | Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. S. 18. 2 | Der Austausch zwischen bildenden und performativen Künsten, die wechselseitige Beziehung von Body- und Performance Art und Museen sowie verschiedene Aspekte der Partizipation von Besuchenden und die vielfältige Ausstellung von Performance-Objekten haben jeweils eine lange Geschichte, die hier nicht umfassend dargestellt werden kann. Beispielsweise sei an frühe Arbeiten Yoko Onos, Vito Acconcis oder Marina Abramović’ erinnert. Sandra Umathum analysiert in ihrer Studie exemplarisch die jüngeren Arbeiten von Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal. Zudem war in den letzten Jahren eine Reihe Arbeiten von Choreographen zu beobachten die musealen Kontexten zuwenden, wie u.a. Sasha Waltz, Boris Charmatz, William Forsythe, Xavier Le Roy oder auch Faustin Linyekula. 3 | Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. S. 22. Umathum beschränkt sich ausdrücklich auf bestimmte Fälle, denn häufig »konzipieren Künstlerinnen und Künstler ihre Werke durchaus so, dass sich Bezüglichkeiten zwischen Personen ergeben können, die zumindest nicht notwendigerweise als aufführungshaft erfahren werden müssen«. Ebd. 4 | Ebd. S. 22.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

Weiler und Jens Roselt in ihrer Einführung in die Aufführungsanalyse. Sie argumentieren, dass die eigene Anwesenheit am Ort des Geschehens im Verhältnis zur Gegenwart anderer zentrale Voraussetzung für dieses Verfahren darstellt: Es geht um das, was im Zusammentreffen dessen, was gezeigt, getan und zu Gehör gebracht wird, mit uns Zuschauern entstehen kann, also um ein relationales Ereignis. In der Aufführungsanalyse wird ein »Zwischengeschehen« verhandelt, mit anderen Worten: es geht um Inter-Subjektivität.5

Obwohl die methodische Erweiterung einer Analyse der Inszenierung durch aufführungsanalytische Methoden, d.h. um Fragen der Ko-Präsenz von Darstellenden und Zuschauenden, im Sinne des performative turn zeitgemäß und plausibel war, erscheint der erweiterte Ansatz jedoch als wenig pragmatisch, wenn er die Anwesenheit des Interpretierenden zur notwendigen Bedingung voraussetzt: Es bietet somit keine Lösung für das Problem ›verpasster‹ Ausstellungen bzw. Aufführungen, deren Berücksichtigung aber für die Bearbeitung eines bestimmten Themas unumgänglich scheinen. Daher wird sich das vorliegende Kapitel keines aufführungsanalytischen Zugriffs, sondern, wie die vorangegangenen Kapitel, eher den Mitteln eines dokumentbasierten, theaterhistorischen Arbeitens bedienen. Zu diesem Zweck macht sich das vorliegende zwei besondere Umstände der Ausstellung Salcedos zunutze: Zum einen ist im Internet neben den offiziellen Fotos und Videos eine Vielzahl von privaten Aufnahmen von Besucher*innen der Ausstellung über diverse Plattformen verfügbar.6 Anderes, als im verdunkelten Zuschauerraum des Theaters, ist das Filmen mit dem eigenen Smartphone bei ›interaktiven‹ Installationen wie dieser erlaubt und überaus verbreitet. Da sich die Besuchenden während des Filmens zudem meist durch die Ausstellung bewegen, werden nicht nur multiple Perspektiven auf das Kunstwerk selbst verfügbar, sondern es lassen sich zugleich vielfältige Rückschlüsse auf das Verhalten der Filmenden und der anderen Besuchenden ziehen: verschiedene Videos zeigen ihre ›Herangehensweisen‹ an das Werk sowie ihr Verhalten untereinander, ihre vielfältigen Begegnungen mit anderen Besuchenden, die ebenfalls immer wieder ins Bild geraten. Auch wenn solche Medienbetrachtungen selbstverständlich ganz andere Wahrnehmungen und Wirkungen erzeugen, als der persönliche Besuch einer Aufführung oder Installation, erlauben diese Aufnahmen doch zahlreiche wertvolle Rückschlüsse auf die näheren Umstände. Anhand ausgewählter Beispiele dieser Assemblage von Zeugnissen sollen so begründete Vermutungen über 5 | Weiler, Christel und Roselt, Jens: Aufführungsanalyse eine Einführung. Tübingen: A. Francke Verlag, 2017. S. 16. 6 | Vgl. u.a. zahlreiche Beispiele unter www.youtube.com, www.flickr.com, www. vimeo.com, www.pinterest.com.

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Abb. 32 | Doris Salcedo, Shibboleth (2007). Überblicksansicht mit Blick auf das Eingangsportal, Tate Modern Gallery London.

die choreographischen und theatralen Strategien der Installation abgeleitet werden. Weiterhin werden auch existierende Katalogtexte und Zeitungsberichte in das vorliegende Kapitel einfließen, wie auch die vielfältigen Kommentare im Internet, von denen einige von Besucher*innen der Ausstellung stammen und somit fragmentarische Dokumente ihre Wahrnehmung darstellen. Auf diesem methodischen ›Umweg‹ soll zugleich kritisch nach der Aussagekraft und damit den Auswertungsmöglichkeiten der medialen wie materiellen Spuren der Ausstellung gefragt werden. Zudem gilt es im vorliegenden Fall der Besonderheit Rechnung zu tragen, dass das ›Objekt‹ in gewisser Hinsicht auch nach dem offiziellen Ende der Ausstellung, weiterhin sicht- und begehbar ist – zumindest teilweise. Mit dem verspäteten Besuch des verfugten Risses bleiben, anders als bei vielen Aufführungen, mit seinen verbliebenen Spuren bestimmte Aspekte der Ausstellung weiterhin erfahrbar, wie beispielsweise dessen raumgreifende Monumentalität sowie dessen diagonaler Zickzack-förmiger Verlauf durch die Halle, welcher einen deutlichen Kontrapunkt zur rechtwinkligen, funktionalen Architektur der Turbine Hall als ehemaliger Industriehalle darstellt. Auch eine gewisse Latenz des Risses, sein uneindeutiges Schwanken zwischen An- und Abwesenheit bleibt – obgleich in gewandelter Form – weiterhin virulent. Andere Merkmale sind hingegen mit der

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

Verfugung des Risses verschwunden, wie beispielsweise die erfahrbare Tiefendimension und die daraus resultierende, körperliche Bedrohlichkeit des Risses im Boden. Vor diesem Hintergrund ergeben sich diverse, für die theater- und tanzwissenschaftliche Forschung grundlegende Fragestellungen – insbesondere nach der (doppelten) Ephemeralität7 von Rissfiguren als ›Gegenstand‹, Dimensionen ihrer Inszenierbarkeit, das fortbestehende Nachwirken ihrer Spuren und ›Überreste‹ ebenso wie jene Lücken und Widersprüche, die sich aus und zwischen den dokumentarischen Fragmenten ergeben.

Ausstellung ohne Objekt Bei dem monumentalen Riss, der thematischer Gegenstand dieses Kapitels sein soll, handelt es sich um eine Auftragsarbeit, welche die aus Kolumbien stammende bildende Künstlerin Doris Salcedo für die Londoner Tate Modern Gallery im Rahmen der Unilever-Series entworfen und im Jahr 2007 in der repräsentativen Haupthalle, der Turbine Hall, installiert hat.8 Der annähernd 167 Meter lange, nach englischem Maß stellenweise über einen ›Fuß‹ (ca. 30 cm) breite und teilweise knie- bis hüfttiefe Riss im Boden der Halle löste bereits kurz nach der Eröffnung eine umfassende Kontroverse in der Presse aus. Zeitungen wie die Londoner Times berichteten von insgesamt fünfzehn leichten bis schwereren Verletzungen von Besuchenden, die über den Riss gestolpert oder mit dem Fuß hineingeraten waren.9 In den zugehörigen Online-Foren entzündete sich neben Fragen der Haftbarkeit des Museums und der Eigenverantwortung der Besuchenden auch eine lebhafte Diskussion darüber, wie der Riss hergestellt wurde, ob die enormen Kosten gerechtfertigt seien sowie darüber, was er repräsentiere und um was für eine Art von Kunst-Objekt es sich hierbei eigentlich handele.10 7 | Vgl. Kapitel »Fragehorizonte: Zur Performativität von Rissfiguren«, S. 26. 8 | Vgl. Salcedo, Doris: »Proposal for a Project for the Turbine Hall«, in: Salcedo, Doris und Bal, Mieke (Hg.): Doris Salcedo: Shibboleth, London: Tate Publishing, 2007. S. 65. 9 | Vgl. Quinn, Ben: »Crowds are Suffering for Their Art at the Tate Modern«, in: The Times London 2007. Zugriff unter: https://www.thetimes.co.uk/article/crowdsare-suffering-for-their-art-at-the-tate-modern-w6mvsnlclcx am 20. Januar 2018. 10 | In der Kommentar-Spalte zum oben genannten Artikel von Ben Quinn, schreibt Nutzerin »Misha« aus Montreal, Kanada: »Surely the fact that there is a man stood [sic!] at the door handing out leaflets reminding visitors to ›watch their step‹, along with the fact that these people have turned up specifically to see the crack, is enough of a safety measure«, ebd. »Wing« aus Poole, UK, fügt die eigene schmerzhafte Erfahrung mit der Installation hinzu: »I consider myself to be wary most of the time but I still fell in this last weekend. And I still have the bruses [sic!] to prove it... If you haven’t seen it, do not make to smart comments«, ebd.

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Es ist von vornherein strittig, ob bei dem Riss Salcedos überhaupt von einem ›Objekt‹ im engeren Sinne die Rede sein kann, so spricht beispielsweise die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal dem Kunstwerk diesen Status von vornherein ab: No object is placed in the space, ›yet the work‹, the inscription, the negative sculpture traverses it in its entirety. It is not just a sign or representation of something. It signifies nothing, and at the same time, because of that negativity, everything.11

Anstatt eines Objektes, begreift Bal den Riss als eine ›negative Skulptur‹, eine raumdurchziehende ›Inskription‹. Ihr Fazit, dass der Riss kein eindeutiges Zeichen für- bzw. eine Repräsentation von etwas sei, sondern in seiner skulpturalen Negativität zugleich nichts und gerade deshalb alles repräsentiere, soll im Folgenden als ›Grundannahme‹ aufgegriffen und kritisch hinterfragt werden. Statt also nach einer fixierbaren ›Bedeutung‹ des Risses zu fragen, sollen im vorliegenden Kapitel eher die inszenatorischen Prinzipien und ästhetischen Wirkungsweisen im Sinne pluraler Signifikationsprozesse ins Visier genommen werden. Zu einer vorläufigen, kursorischen Positionierung der Arbeiten Salcedos im Allgemeinen erscheinen fünf Stichworte hilfreich, die Bal als wiederkehrende ästhetische Merkmale benennt: Ortsspezifizität, Anthropomorphismus, Übersetzung, Dauer, Installation.12 Obgleich sich Bal bei dieser Kategorisierung primär auf andere Arbeiten Salcedos bezieht, gelten sie weitgehend auch für Shibboleth – zudem wäre neben der Dauer hier bei noch eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Monumentalität zu ergänzen, die sich auch in anderen Arbeiten Salcedos wiederfinden lässt.13 Auch Salcedos Riss hat aufgrund seiner ausladenden Dimensionen bei vordergründiger Betrachtung etwas Monumentales, wenn der Riss in imposanter, spektakulärer Weise die gesamte Turbine Hall diagonal durchzieht. Bei genauerer Betrachtung stellt Shibboleth in verschiedener Hinsicht jedoch eine komplexe, tiefgreifende und kritische Auseinandersetzung mit Aspekten der Monumentalen dar, welche diese Kategorie zugleich thematisiert und verkompliziert:

11 | Bal, Mieke: »Earth Aches: The Aesthetics of the Cut«, in: Salcedo, Doris und Bal, Mieke (Hg.): Doris Salcedo: Shibboleth, London: Tate Publishing, 2007. S. 40-63. Hier: S. 43. 12 | Ebd. S. 46ff. 13 | Diesen Aspekt führt auch Mieke Bal an einer anderen Stelle ins Feld. Vgl. Bal, Mieke: Of what one cannot speak Doris Salcedo’s political art. Chicago, London: The University of Chicago Press, 2010. S. 249.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo) Her Shibboleth is monumental, modest, and negative. It is monumental in scale, that is, formally as well as in content; modest, since she allowed it to be buried after seven months; and negative, carving into the depth of the space instead of erecting something up high.14

Wie im Folgenden gezeigt werden soll, stellt Shibboleth in seiner spezifischen konfigurativen Anordnung eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Raum der Tate Modern dar, welche deren aufragende, gradlinige Monumentalität destabilisiert und dadurch dekonstruiert. Obwohl die Künstlerin bezüglich des genauen Herstellungsverfahrens im Fall von Shibboleth detaillierte Auskünfte verweigert, ist bekannt, dass die Installation als Auftragsarbeit speziell für die Londoner Turbine-Hall entworfen und produziert wurde. Die Form der Einbettung des Risses, tief im Boden der Halle, legt die Vermutung nahe, dass dieser nach Ablauf der Ausstellung kaum jemals an einen anderen Ort hätte gebracht werden können.15 Durch seine sichtbare Verfugung nach Ablauf der sieben-monatigen Ausstellung ist die ›negative Skulptur‹ unmittelbar wie dauerhaft mit der Gebäudestruktur des Museums verwoben. Zur Kategorisierung Shibbloeths im Rahmen kunstspezifischer Gattungen erscheint der Begriff »ortsspezifische Installation« zutreffend, obwohl die Kategorie ursprünglich in Abgrenzung zum Konzept der ›klassischen‹ musealen Ausstellung etabliert worden ist und eher im Kontext von Land-Art angesiedelt war.16 Juliane Rebentisch spezifiziert die Beschreibungskategorie wie folgt: Ortsspezifische Installationskunst zielt auf die thematische Verschränkung des buchstäblichen und des gesellschaftlichen Ortes. Sie reflektiert ihre institutionellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und/oder historischen Rahmenbedingungen, indem sie formal in architektonische und landschaftliche Gegebenheiten interveniert.17

Indem Doris Salcedo ihre Riss-Installation im Kontext des Museums situiert, richtet sie damit also das kritische Fragepotential auf die museale Architektur sowie die institutionellen Konventionen und Rahmenbedingungen des renommierten Ausstellungsortes.

14 | Ebd. 15 | Vgl. Salcedo: »Proposal for a Project for the Turbine Hall«. S. 65. 16 | Vgl. Suderburg, Erika: »Introduction: On Installation and Site Specificity«, Space, site, intervention situating installation art, Minneapolis, Minn. [u.a.]: Univ. of Minnesota Press, 2000. S. 1-22. 17 | Rebentisch: Ästhetik der Installation. S. 233.

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Randgänge entlang des Risses Ein wackliges Videobild18 zeigt eine weitläufige mehrgeschossige Halle mit einem großen Oberlicht, parallel verlaufenden Galerien und bodentiefen Fenstern an den Seiten. Es befinden sich, grob geschätzt, etwa hundert Besucher*innen in der Halle, relativ verstreut, teils in kleinen Grüppchen, die auf den Boden blicken, andere bewegen sich über den leicht abschüssigen Boden nach unten oder in gegenläufiger Richtung nach oben in Richtung Ausgang. Viele Menschen unterhalten sich angeregt, so dass der Raum von einem lauten, hallenden Raunen erfüllt ist. Man hört auch Kinderstimmen, ein Mädchen gibt gleich zu Beginn der Aufnahme einen fröhlich quietschenden Laut von sich. Die Kamera schwenkt nach rechts unten auf den Boden, zurück in Richtung der modernen Glasschiebetüren, wo sie schließlich zwischen einem Paar Beine in Jeans und Lederschuhen die Linie eines Haarrisses im Betonboden entdeckt. Der dunklen Linie des Risses folgend, schwenkt der Kamera-Ausschnitt langsam zurück in Richtung Halle, trifft dabei den Blick einer anderen Besucherin, die, ein Faltblatt in Händen haltend, über ihre Schulter zurückschaut, bis sie, von dem auf sie gerichteten Fokus augenscheinlich leicht enerviert, den Kopf weiter zur Seite dreht und so dem Kamerablick ausweicht. Erneuter Schwenk nach unten: Der Riss breitet sich bereits auf den ersten Metern seines Verlaufs auf einen Spalt von wenigen Zentimeter Breite aus und verzweigt sich, einige Schritte später, hinter einer anderen Besucherin in einen Seitenarm. Die filmende Person folgt der Haupt-Linie des Risses zwischen den Herumstehenden hindurch. Im ›Off‹ hört man einen kurzen Wortwechsel auf polnisch, zwischen der männlichen Stimme des Filmenden und einer weiblichen Stimme (vermutlich seiner Begleiterin), woraufhin beide langsam den abschüssigen Boden der Halle hinuntergehen. Ein etwa 10-jähriges Mädchen kommt der Kamera entgegen: mit hängenden Armen läuft sie breitbeinig über den Spalt im Boden, einen Fuß auf der einen, einen Fuß auf der anderen Seite. An den Stellen, wo der Riss plötzliche Versatzsprünge nach rechts und links macht, markiert sie diese durch Rotationen ihrer Körperachse, indem sie, erst ihre Schulter, dann den Torso wendet und auf Ferse und Hacken rotierend den Richtungswechsel in ihrem Gang aufnimmt. Kurz vor dem Zusammentreffen mit dem Filmenden blickt sie zuerst kurz auf die Begleiterin und dann in die Kamera, der Filmende geht, ihr platzmachend, links an ihr vorüber. Ein weiterer Mann kommt dem Filmenden entgegen, er blickt kurz ernst in die Kamera und setzt ausweichend seinen Weg abseits des Risses fort. Es folgt ein Paar mit Mänteln und Taschen: der Mann geht auf der rechten Riss-Seite, die 18 | Das Video eines polnischen Besuchers mit dem Titel »Trzęsienie ziemi w Anglii« (»Erdebeben in England«) ist unter https://www.youtube.com/watch?v=uHWLyhTil0w verfügbar – veröffentlicht am 26.02.2008, zuletzt besucht am 3. Januar 2017.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

Abb. 33 | Doris Salcedo, Shibboleth (2007) als feiner Haarriss im Eingangsbereich.

Frau links. Beide blicken nach unten, sie gestikuliert erklärend mit ihren Händen, öffnet beide Handflächen zuerst nach oben und markiert dann mit parallelen Händen einen bestimmten Abstand, der in etwa mit der Breite des Risses an dieser Stelle zu korrespondieren scheint. Es entsteht ein deutliches Kamerawackeln bei der Begegnung des Filmenden mit dem Paar, unkoordiniert geraten weitere Beine und Turnschuhe ins Blickfeld, wir sehen kurz Hände, die lässig in Hosentaschen stecken. Als sich die Bildachse wieder stabilisiert, zeigt das Video einen jungen Mann mit grauen Chucks, der über den nun schon annähernd fußbreiten Spalt im Boden schlendert. Er setzt seine Füße spielerisch, beinahe tänzerisch versetzt über Kreuz, den rechten Fuß auf die linke Rissseite, den linken Fuß die rechte usw. Weitere Menschen, die dem Filmenden entgegenschlendern, darunter einige Kinder, halten bereits einen merklich größeren Abstand zum Riss. Wir sehen, wie mehrere Beine nun in orthogonaler Richtung über den inzwischen deutlich ausgeweiteten Riss schreiten, dabei an seiner Kante kurz innehalten, dann mit auffällig großem Schritt darüber hinwegtreten. Die Kamera filmt neugierig in die Tiefe des nun etwa 15 Zentimeter weiten Risses. Es lässt sich erahnen, dass der Spalt inzwischen mehr als knietief in den Boden ragt. An den Rändern lassen sich Spuren von Maschen entdecken, die denen eines Drahtzauns ähneln.

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An einer weiteren Verzweigung stehen Menschen rechts und links von den Kanten, teilweise mit dem Fuß vorfühlend oder spielerisch am Rand tastend. Weiter hinten legt sich ein junger Mann breitbeinig posierend auf den Riss, mit dem Gesäß unmittelbar auf dem hier vielleicht gute zwanzig Zentimeter breiten Spalt, seine Ellenbogen auf die Seiten gestützt; ein Kamera-Blitz erhellt den Raum, daraufhin steht er wieder auf, seine Hose zurechtrückend. Langsam wird der Riss im Folgenden nun wieder schmaler, zwei Kleinkinder hüpfen unbekümmert nacheinander darüber, die Mutter mit Kinderwagen bleibt auf der anderen Seite stehen. Ein weiterer Seitenarm des Risses endet mitten im Raum, am weiterführenden Arm steht eine Gruppe Spalier; wir hören die bemüht deutlich artikulierten Worte eines britischen Museums-Guides als Sprach-Fragmente im Raume hallen, der Filmende geht um die Gruppe herum. Die gefilmte RissBegehung endet schließlich nach 3 Minuten 53 Sekunden, als der Riss schließlich unter einer Glaswand auf der anderen Seite der Halle gegenüber dem Eingang verschwindet. Der Blick der Kamera wendet sich abschließend, nun leicht nach oben schauend, nochmal zurück und zeigt die Halle in der Totale. Ein kleiner Junge rennt, entlang der Riss-Kante, zurück in den höher gelegenen Teil der Halle zu seiner Gruppe. Cut. Wie das beschriebene Video exemplarisch zeigt,19 lassen sich die unterschiedlichsten ›Herangehensweisen‹ von Besuchenden an den Riss beobachten. Dabei wird deutlich, wie sich sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, eine große Neugier als spielerischer Umgang mit dem Riss entfaltet. Wer findet neue Perspektiven, wer traut sich einen kleinen Hüpfer, wer schlendert gelassen am Rand entlang? Wird das Verletzungsrisiko ganz cool ignoriert oder nähert man sich lieber mit Vorsicht? Stolpert vielleicht jemand? Zugleich ist der Riss ein attraktives Motiv für zahllose Fotos und ›Selfies‹: Ob mit dem Smartphone oder professionellem Kamera-Equipment wird versucht, dem Riss eine ungewöhnliche Perspektive zu entlocken und sich selbst in origineller Weise in Szene zu setzten (sogar im Liegen posierend, wie das Video zeigt). Dabei entfaltet der Riss für die eintretenden Besucher*innen eine feinsinnige Dramaturgie: Stimuliert ein feiner Haarriss eingangs zunächst zu seiner detaillierten Inspektion aus nächster Nähe, so ist von dieser Warte aus der gesamte Riss mit seiner raumgreifenden Dimension in einer Länge von 167 Metern kaum überschaubar. Folgen Neugierige seinem Verlauf, wird der Riss mit seiner graduellen Ausweitung stetig – Schritt für Schritt – zu einer immer konkreteren physischen Bedrohung, da er langsam erst einen Fuß, bald aber schon ein ganzes

19 | Vgl. beispielsweise auch ein weiteres, interaktives Video der Ausstellung unter http://www2.tate.org.uk/unileverseries/salcedo.html, zuletzt besucht am 21. Mai 2018. Im Video lassen sich verschiedene Kameraperspektiven anwählen.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

Abb. 34 | Besuchende der Ausstellung Shibboleth interagieren und posieren mit dem Riss.

Bein fassen und in sich aufnehmen könnte.20 Obwohl er an seiner breitesten Stelle (zumindest von Erwachsenen ohne Bewegungseinschränkungen) immer noch leicht überschritten werden kann, ist hier Vorsicht geboten – was zugleich wieder den Reiz verstärkt, mit dem Risiko zu spielen und die schrittweise ›wachsende‹ (negative) Körperähnlichkeit immer wieder auszutesten. Bei den unterschiedlichen Formen der Interaktion mit dem Riss, den diversen Randgängen und den vielfältigen Formen des posing für die Kamera entstehen zwischen den Besuchenden unweigerlich vielfältige Begegnungen und kleine intersubjektive Konflikte, z. B. wenn zwei Personen den Rändern des Risses folgend aufeinander zugehen und meistens non-verbal miteinander aushandeln, wer von beiden ausweicht. Oder wenn eine andere Person sich entschließt, den Riss zu ignorieren, die Halle geradlinig zu durchschreiten und dabei auf Besuchende trifft, die dem diagonalen Verlauf des Risses neugierig folgen. Auch gerät

20 | Die Museumsleitung hat sich aufgrund der diversen Unfälle dazu entschlossen, einen Warnhinweis am Eingang auszuhändigen: »Warning. Please watch your step in the Turbine Hall. Please keep children under supervision.« Alberge, Dalya: »Welcome to Tate Modern’s floor show – it’s 167m long and is called Shibboleth«, in: The Times vom 9. October, 2007.

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möglicherweise der Wunsch nach einer kontemplativen Betrachtung mit dem spielerischen Gestus anderer in Konflikt, möglicherweise auch als widersprüchliche Tendenzen innerhalb einer Person. So wie die die diagonale Traversion des Risses im Raum die Besucher*innen zwingt, sich früher oder später für die eine oder andere Seite zu entscheiden, so zwingt er sie ebenso, eine gewisse Haltung einzunehmen – wobei auch der Entschluss zum Ignorieren des Risses, als eine bewusste Entscheidung deutlich sichtbar wird. Als beliebtes Spiel lässt sich jedoch auch das breitbeinige Laufen genau über dem Spalt beobachten, welches einen kleinen Akt des Widerstands gegen den Zwang zum Entweder-Oder einer ›Seitenwahl‹ darstellt. Insgesamt werden bei all diesen Annäherungen an- und Umgangsweisen mit dem Riss die (vermeintlich) klaren Verhaltensregeln des Museums destabilisiert: Der ästhetische Raum wird dabei zu einem performativen Handlungs- und sozialen Verhandlungsraum.21

Theatrale Dimension und Momente des Unheimlichen Salcedos Riss bildet einen interessanten Resonanzraum einer seit über fünfzig Jahren existierenden Kunst- und Theatralitätsdebatte: In seinem viel diskutierten Essay Art and Objecthood 22 hatte Michael Fried 1967 die unterschiedlichen Erfahrungen der Betrachtenden von Minimal Art der Wahrnehmung einer Kunst der Moderne, vor allem in Gestalt von Malerei und Skulpturen gegenübergestellt. Zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal werden für Fried dabei Aspekte des Theatralen: »The crucial distinction that I am proposing so far is between work that is fundamentally theatrical and work that is not.«23 Das langanhaltende kritische Echo auf Frieds Betrachtungen zeigt, dass Fried mit dem Befund des Theatralen einerseits einen stichhaltigen Aspekt bildender Kunst herausgearbeitet hatte, andererseits gab es Widerspruch hinsichtlich der Eignung des Theatralen als kategorienbildendes Differenzierungskriterium. Zudem gab es auch vehemente Kritik an Frieds explizit antitheatraler Haltung, die teilweise einen recht martialischen Tonfall annimmt: »[T]here is a war going on between theatre and modernist painting, between the theatrical and the pictorial.«24

21 | Vgl. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. S. 9. 22 | Fried, Michael: Art and objecthood. Chicago: University of Chicago Press, 1998. 23 | Ebd. S. 130. 24 | Ebd. S. 141.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

»Art«, fügt Fried abschließend hinzu – und bezieht sich damit ausschließlich auf bildende Kunst – »degenerates as it approaches theatre«.25 Bezogen auf Frieds kategorische Unterscheidung zwischen theatraler und nicht-theatraler Kunst hält Juliane Rebentisch dem entgegen, »daß Theatralität nicht eine zu kritisierende oder zu affirmierende Eigenschaft einer bestimmten ›postmodernen‹ Kunst ist, sondern ein Strukturmerkmal aller Kunst«.26 Rebentisch weist auf die Doppelpräsenz der Kunstobjekte als Ding und Zeichen hin und argumentiert, dass ein »unentschiedenes Oszillieren zwischen Buchstäblichkeit und Bedeutung« als grundsätzliches Strukturmerkmal in Prozessen ästhetischer Wahrnehmung gelten könne.27 Frieds kategorische Kritik an der ›litaralistischen Kunst‹ besteht im Kern darin, dass diese von einer Objekthaftigkeit geprägt sei, deren ›Wörtlichkeit‹ (›literalist‹ bedeutet eigentlich etwas wie ›schriftgläubig‹, ›buchstabenverliebt‹) und deren Selbstreferenzialität sich dem Betrachtenden ›buchstäblich‹ aufdränge und seine situative Wahrnehmung ins Zentrum rücke: »Literalist sensibility is theatrical because, to begin with, it is concerned with the actual circumstances in which the beholder encounters literalist work.«28 Kunsthistoriker Michael Lüthy verortet die Kritik Frieds nocheinmal im zeithistorischen Kontext und fasst zusammen, auf welche Aspekte sich Frieds Kriterium des Theatralen bezieht: Im Kern zielt der Vorwurf der »Theatralität« auf den phänomenologischen Zugang zur Kunst, der unter Künstlern und Kritikern dieser Zeit weit verbreitet war. In einem wörtlicheren Sinne theatral werden Werke der Minimal Art jedoch durch ein weiteres von Fried kritisiertes Merkmal, das er Bühnenpräsenz nennt. Die geometrischen Objekte Morris’, Donald Judds und vor allem Tony Smiths wiesen einen latenten Anthropomorphismus auf, der dazu führe, dass man von ihnen »bedrängt« werde wie von der »stummen Gegenwart einer anderen Person«.29

Der von Fried kritisch beäugte Aspekt des Anthropomorphen spielt, wie oben dargestellt, auch bei dieser Installation Shibboleth eine zentrale Rolle: Es ist jenes im Entlanglaufen des Betrachtenden, allmähliche Erreichen menschlicher Körper25 | Ebd. Es lässt sich lediglich mutmaßen, ob die Wortwahl »art degenarates« einfach unbedacht gewählt ist, oder mit Absicht auf die von den Nationalsozialisten geprägte diffamierende Kategorie der »Entarteten Kunst« anspielt (»Degenrate Art« auf Englisch). 26 | Rebentisch: Ästhetik der Installation. S. 22. 27 | Ebd. S. 55. 28 | Fried: Art and objecthood. S. 125. 29 | Lüthy, Michael: »Theatricality/Michael Fried«, in: Franzen, Brigitte (Hg.): Skulptur projekte münster 07, Köln: Walther König, 2007. S. 465-466. Hier: S. 465.

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Abb. 35 | Zwischen detaillierter Tiefeninspektion und azephalischer Geste, der Kopf einer anonymen Besucherin verschwindet im ausgestellten Riss.

proportionen in der Weite des Risses, welches im Vorbeigehen der Besuchende ab einem gewissen Punkt schließlich stumm einen Umschlagsmoment markiert. Die sich langsam entwickelnde (negative) Körperähnlichkeit transformiert den Riss peu à peu zur (potentiellen) Kippfigur – im doppelten Sinne des Wortes: Als ›negative Skulptur‹ kann der Riss nach seiner anfänglichen Haaresbreite ab einem bestimmten Umschlagsmoment ein Bein, einen Arm, sogar einen Kopf in sich aufnehmen, was von den Besuchenden in vielfältiger Form ausgiebig getestet wird. Diese (teilweise) Körperähnlichkeit, die schleichende ›Fußbreite‹ und ›Knietiefe‹, wird kontrastiert von den verhältnismäßig gigantischen Gesamtproportionen die dem Riss zu eigen sind. Als harmloser Haarriss im Grund, der zu Randgängen einlädt, entwickelt sich der Riss zunehmend zu einer potentiellen Stolperfalle, die trotz ihrer lauernden Bedrohlichkeit immer wieder latent aus dem Blick gerät und so die Besuchenden so in einem unaufmerksamen Moment tatsächlich ins Stolpern zu bringen vermag. Der Riss als ›symbolischer‹ Abgrund ›kippt‹ um ins Konkrete (›literal art‹) und wird quasi trotz seiner Symbolik aufgrund seiner Verletzungsgefahr in potentiell schmerzhafter Weise körperlich erfahrbar. Im Prozess der Begehung der Installation Salcedos lässt sich so ein reziprok ›animierendes‹ Prinzip entdecken: Während einerseits der Riss die Besuchenden zur ›Inspektion‹ einlädt und zur Bewegung entlang seiner Kanten, ›animiert‹, ›beleben‹ diese andererseits den Riss durch ihre Bewegung: Auch wenn der Spalt

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

im Boden sich aufgrund seiner technischen Verfasstheit, seines Herstellungsverfahrens aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weiter ausbreiten kann, und daher erstarrt, stillgestellt ist, gerät er im Verhältnis zu Besuchenden, die sich fast unweigerlich an ihm entlang bewegen, aus deren subjektiver Perspektive doch quasi wieder in Bewegung. Die Bewegung des Risses ist nicht einfach gegeben, sie stellt sich erst durch die Bewegungsbereitschaft der Besuchenden her – erneut ist hier ein Prozess gegenseitiger Hervorbringung gegeben: die Besuchenden geben dem Riss seine (latente) Bewegung zurück, während dieser sie als Rezipient*innen hervorbringt, in Bewegung versetzt und – potentiell/partiell – in sich aufnimmt. Der Riss, als negatives (Quasi-)Objekt der Ausstellung, west so an Schwellen des Bewegten, der Körperlichen und des Materiell-Konkreten und kann als latent körperliche Bedrohung wie ein ironischer Kommentar zu Frieds Diktum gelesen werden: ›Unheimlich‹ lauert dieser Riss im Boden, sich in seiner Breite partiell menschlichen Proportionen annährend, partiell anthropomorph, jedoch aufgrund seiner Länge zugleich übermenschlich in seinen Dimensionen, regelrecht gigantisch, monströs. Wir erinnern uns an dieser Stelle, dass Siegmund Freud das Unheimliche nicht nur als das Ineinanderfallen mit seinem Gegensatz, dem Heimlichen – und damit auch der kollabierenden Gegensätze von Vertrautem und Fremdem (als dem ehemals Vertrauten, das fremd geworden ist) – versteht, sondern auch mit Blick auf gewisse animistische Tendenzen, als die Beseelung einer unbelebten Materie.30 Als weiteres Beispiel des Unheimlichen führt Freud unter anderem die Bedrohung durch das Abtrennen von Gliedmaßen auf: »Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand […] haben etwas ungemein Unheimliches an sich […] Wir wissen schon, daß diese Unheimlichkeit von der Annäherung an den Katrationskomplex herrührt.«31 Der Riss verkörpert so gesehen eine im Boden lauernde, eine monströse, abgründige Figur, in der ein defiguratives Moment enthalten ist, dessen negative ›Ungestalt‹ droht, die Gliedmaßen der Besuchenden zu verschlingen, und/oder sie ins Straucheln oder zumindest aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aus dieser Perspektive ließe sich Salcedos Installation durchaus auch als ein feministischer Kommentar auf die zeitgenössische Kunstszene lesen: Salcedos begehbarer, überdimensionaler Spalt wäre als horizontaler, invaginierter AntiPhallus zu begreifen und damit auch als Kritik an einer tief in die Institutionen hineinreichenden strukturellen männlichen Dominanz. Die Beschränkung auf diese psychoanalytisch-feministische Interpretation würde jedoch deutlich zu

30 | Vgl. den Abschnitt »Unheimliches Spüren – Risse im Haus, Risse im Körper« im vorliegenden Band, S. 15ff. Sowie Freud: »Das Unheimliche«. 31 | Ebd. S. 257.

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kurz greifen, obwohl der Riss durchaus an wichtige historische feministische Positionen der Performance Art anknüpft.32 Salcedos Riss in der Tate-Galery stellt sich als zutiefst ambivalente Figur dar: unabgeschlossen, abgründig mit ungeraden, diffusen Rändern – ganz bewusst einen klar abgrenzbaren ›Rahmen‹ der Einordnung negierend. Der Riss verlangt nach dem körperlichen Einsatz der Besuchenden und bedroht zugleich deren körperliche Unversehrtheit. Die Figur des Risses entzieht sich so von vornherein einer distanzierten, kognitiven, ›unkörperlichen‹ Interpretation, sie verlangt ebenso vehement die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, der sie sich, bedingt durch ihre inhärente Latenz, jedoch auch immer wieder zu entziehen droht. Die Rissfigur im Betonboden des Museums changiert dabei zwischen Objekthaftigkeit und Nicht-Objekt, einem feinadrigen, feingliedrigen und zugleich überdimensioniertmonströsen ›Un-Ding‹. Schwankend zwischen minimalistischem Kunstwerk, aufwendiger Installation und ›banalem‹ Spielplatz; zwischen Oberflächlichkeit und Tiefe, zwischen Unaufdringlichkeit und nachdrücklicher Eindringlichkeit insistiert der Riss somit auf seiner eigenen tiefgründigen Ambivalenz. Das ebenfalls daraus resultierende ›Schwanken‹ der Riss-Figur zwischen »Buchstäblichkeit und Bedeutung« affiziert die Besucher*innen und bringt sie ihrerseits ins Wanken – und zwar, ganz im performativen Sinne, doppelt – sowohl buchstäblich, d.h. physisch, körperlich als auch im übertragenen Sinne einer »intellektuellen Unsicherheit«.33 Betrachten wir den installativen Charakter des Risses nun nocheinmal genauer: Obwohl die genaue Herstellungsweise des Risses im Unklaren bleibt, dürfte den meisten Museumsbesuchenden von vornherein deutlich sein, dass der Riss nicht aufgrund wirkender Naturgewalten, sondern unter Zuhilfenahme hoch spezialisierter Techniken konstruiert und in einem aufwendigen technischen Prozess installiert worden ist und zwar – so ist zu vermuten – in einer Art und Weise, die nicht grundlegend mit der Statik des Museums-Gebäudes in Konflikt gerät. Der Riss ist so gesehen in seiner latenten Bewegung (Beweglichkeit), seiner weiteren Ausbreitung von vornherein begrenzt, eingeschränkt, beschnitten – er ist quasi 32 | Zu nennen wäre hier beispielsweise die Performance Annie Sprinkles Post Porn Modernist Show (1992), bei sie die Teilnehmenden ebenfalls zu einer ›Inspektion‹ aus nächster Nähe eingeladen hatte, nämlich zur detaillierten Betrachtung ihrer Vagina; oder auch die Arbeiten VALIE EXPORTs, beispielsweise ihre Aktion Tappund Tastkino (1968), bei dem sie ihre zumeist männlichen Gegenüber aufforderte, an ihre Brüste zu fassen, wozu diese ihr einerseits in die Augen schauen und andererseits ihre Hände in einen Kasten stecken mussten, ohne sehen zu können, was dort passiert – ein Spiel mit dem Regime des Blickes und zugleich Motiven des Katrationsgedankens. 33 | Damit schließt sich der referentielle Kreis mit einem Verweis zurück auf das Umheimliche bei Freud: Vgl. Freud: »Das Unheimliche«. S. 231.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

stillgestellt. So gesehen ist davon auszugehen, dass es sich bei der Installation um eine ästhetisch wie statisch genau kalkulierte Inszenierung handelt, der in gewisser Hinsicht ein Prinzip des ›Als-Ob‹ zugrunde liegt:34 Salcedos Riss ›verkörpert‹ so gesehen – also im Unterschied also zu den minimalistischen Objekten – eine inszenierte, invertiert skulpturale, quasi ›illusionistische‹ Repräsentation eines beweglichen, d.h. potentiell weiterreißenden Risses – jedoch in (latent) unbeweglicher Form. Es ist so gesehen weniger sein Hergestellt-Sein, als vielmehr der Aspekt der stillgestellten potentiellen Weiterbewegung, die den Riss Salcedos als Repräsentation eines Risses erscheinen lässt, dem dadurch eine gespaltene selbstreferentielle Struktur zu eigen ist. Mieke Bal insistiert demgegenüber, im Gegenteil, emphatisch auf dem ontologischen Status von Salcedos Riss ›als solchem‹: [T]he fissure is a fissure, not a representation of one. As such it is, […] in and of the world, in addition to being »on« (as in about) that world. It is part of the reality in which we all live—some under better circumstances than others, as Shibboleth intimates.35

Bal verweist mit anderen Worten auf die performative, selbstreferentielle wie auch wirklichkeitskonstituierende Seite der Installation: der Riss stelle eine spezifisch situative Konfiguration her, welche auf die differenten Rand- und Rahmenbedingungen des Daseins (in) der Welt verweisen. Der Riss wäre ihr zufolge ›wirklich‹ aufgrund seiner konkreten Abwesenheit. Durch seine spezifische Konfiguration als Lücke, Leerstelle und Abwesendes verweist der Riss im Sinne des Theatralitätsverständnis Gerald Siegmunds auf den übergeordneten, hier auch strukturellen (und institutionellen) Rahmen, der dieses Schwanken zwischen Präsenz und Absenz hervorbringt.36 Mit seiner fundamentalen Absenz, seiner Verweigerung 34 | Juliane Rebentisch schränkt den Aspekt des ›Hergestellt-Seins‹ von Installationen mit Blick auf die Theorie Heideggers (und zugleich gegen ihn) wie folgt ein: »[D] er Umstand, daß der Begriff der Installation nicht nur eine Kunstform bezeichnet, sondern zugleich auch die Weise ihrer Herstellung benennt, [ist] oftmals Anlaß, ihm einen technisch-instrumentellen Sinn beizugeben, der ihn an den technischen Akt der Herstellung durch den (in diesem diskursiven Zusammenhang übrigens nach wie vor meist männlichen) Künstler/Schöpfer bindet. Demgegenüber muß der ästhetische Begriff der Installation in seiner Doppeldeutigkeit vom [Heidegger’schen] ›Ge-stell‹ der ›auf- und herstellenden‹ Prozesse der ästhetischen Erfahrung her gedacht werden. Das sagt zunächst nichts anderes als […] daß die autonome Logik des Ästhetischen nur mit Bezug auf die Struktur der ästhetischen Erfahrung verstanden werden kann.« Rebentisch: Ästhetik der Installation. S. 250. 35 | Bal: Of what one cannot speak. S. 236. 36 | »Nicht die Frage nach der Präsenz macht die Theatralität von Kunstwerken aus, sondern das, was diese Präsenz erzeugt und was sie als ihr Anderes ausblenden

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sich dem Besuchenden als ein Objekt zu präsentieren, eröffnet auch die RissInstallation Salcedos auf stumme Weise einen selbstreflexiven Fragehorizont mit Blick darauf, welche impliziten Erwartungen wir als Besuchende in der Regel an ein Museum stellen, aber auch ein Verweis darauf, welche Prinzipien der Ausblendung und Ausgrenzung innerhalb dieser institutionellen Strukturen und der sie umgebenden Diskurse wirksam sind (und zwar insbesondere in einem westeuropäischen Museum, welches als Tate Modern den Anspruch der Moderne im Titel trägt). Auf welche spezielle Weise eröffnet der Riss diese genannten Fragestellungen, wie ist er – ganz im performativen Sinne – wirksam, wie wird er vor diesem diskursiven Hintergrund lesbar?

Der Riss als choreographische ›Guideline‹ Wie dargestellt, veranlasst der Riss aufgrund seines spezifischen Aufforderungscharakters zu vielfältigen Bewegungen im Raum und offenbart darin ein choreographisches Moment: Als choreographische ›Guideline‹ appelliert der Riss stumm an die Neugier und Bewegungsbereitschaft der Besuchenden und animiert diese spielerisch zu vielfältigen Randgängen. Dem Begriff des Choreographischen, im weiteren Sinne als »Regelsystem für die Organisation von (Körper-)Bewegung in Zeit und Raum«, kommt, Gabriele Brandstetter zufolge, stets eine Doppelfunktion zu: Je nach den historisch sich verändernden Vorstellung von Körper (Körperlichkeit), Zeit und Raum und der repräsentativen oder theatralen Funktion von Tanz und Bewegung erhält der schriftzentrierte oder der performativ-prozessorientierte Aspekt von Choreographie mehr Gewicht.37

Obwohl es sich bei dem Riss um keine Schriftzeichen im geläufigen Sinne des Wortes handelt, geht es beim Riss Salcedos zugleich auch – latent – um etwas Schrifthaftes, wie Mieke Bals eingangs erwähnte Charakterisierung des Risses

muss.« Siegmund: Abwesenheit. S. 10. Vgl. hierzu nochmal die Ausführungen im Abschnitt »Risse im Kontext von Theatralität und Performativität « im vorliegenden Band, S. 54ff. 37 | Brandstetter, Gabriele: »Choreographie«, in: Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris und Warstat, Matthias (Hg.): Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart u.a.: Metzler, 2005b. S. 52-55. Hier: S. 52. S.a. Brandstetter, Gabriele: »Choreographie und Memoria. Konzepte des Gedächtnisses von Bewegung in der Renaissance und im 20. Jahrhundert«, in: Öhlschläger, Claudia und Wiens, Birgit (Hg.): Körper, Gedächtnis, Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin: Schmidt, 1997. S. 196-218.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

als »räumliche Inskription« andeutet.38 In ihrer Untersuchung zur politischen Dimension der Arbeiten Salcedos präzisiert Bal bezogen auf Shibboleth: Instead of making a fitting sculptural work inside it [the Turbine Hall, H.H.], taking on the height, she has made an inscription in the floor. This word is to be taken literally: both in-, as in insertion, invasion, incorporation, and -scription, as in writing. For her acts of engraving, she used the equivalent of an ancient stylo, a cutting instrument that leaves indelible traces, negatively defined, hollow. The result of her intervention was a negative space, an emptiness not remedied but exacerbated, cut into two halves that are each other’s negatives.

Der Riss als gedoppelter, zweiseitiger, sich negativ ergänzender Raum erscheint in seiner Gespaltenheit nach Bal als Schrift – die, ähnlich wie Derridas différance, einen konstitutiven Moment des Unlesbaren (im Sinne des Stummen, Unaussprechlichen)39 in sich trägt aber zugleich eine Wirksamkeit entfaltet, indem er die Menschen zu körperlichen Bewegungen animiert bzw. diese zugleich bedroht und beschränkt. Indem der tiefe Riss Salcedos zu Raum-Bewegungen animiert überkreuzen sich in ihm Konzepte von Schritt und Schrift: In seinem wechselhaften, zickzackförmigen Verlauf erscheint der Riss als eine bewegt-bewegende räumliche Vor–Schrift, eine Vorzeichnung im Raum, die sich zugleich als intuitiv begreifund begehbar erweist. Der Riss im Boden stellt dabei, wie ich argumentieren möchte, so eine choreographische Doppelbewegung dar, deren spaltende Linien im übertragenen/übertragenden Sinne Fragen der Prozessualität, Performativität und Schrifthaftigkeit berühren. Als Inskription betrachtet konfiguriert der Riss zugleich eine Form der ›Guideline‹, deren Anordnungscharakter jedoch vielfältige interpretatorische Spielräume lässt. Stumm im Boden ruhend, ist der Riss zugleich von einer ›schreienden‹ Uneindeutigkeit bzw. Vieldeutigkeit geprägt (»It signifies nothing, and at the same time, because of that negativity, everything«, wie Mieke Bal erwähnt40). Solche Lücken zwischen Vorschrift und einer sich materialisierenden Bewegung stellen Gabriele Brandstetter zufolge ein wesentliches Merkmal von Tanz- und Bewe-

38 | Zur Nachbarschaft von Rissfiguren und dem Phänomen der Signatur vgl. den Abschnitt »Anonymer Plakatabriss/Lacéré Anonyme« im vorliegenden Band, S. 214ff. 39 | »Das a der différance ist also nicht vernehmbar, es bleibt stumm, verschwiegen und diskret, wie ein Grabmal«, schreibt Derrida und ergänzt etwas später: »[D] as Spiel der Differenz als Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens eines jeden Zeichens, woran Saussure nur zu erinnern brauchte, dieses Spiel ist selbst stumm«. Derrida: »Die différance«. S. 30f. 40 | Bal, Mieke: »Earth Aches: The Aesthetics of the Cut«. S. 43.

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gungsnotationen dar: »Wissenschaftliche Arbeiten über Tanznotationen […] zeigen, dass jede Tanzschrift mit der Lücke zwischen der Notation und der Performance, mit dem Nicht-Geschriebenen zwischen Aufzeichnung und Aufführung zu tun hat.«41 Der Riss überträgt quasi die (Bedeutungs-)Lücke, die er selbst darstellt, auf die ihn umgebenden Körper – die Bewegungen der Körper entsprechen und entspringen so dem in seiner Latenz stillgestellten lückenhaften, zickzackförmigen Verlauf des Risses. Sowohl Riss als auch Schrift42 konfigurieren, je auf eigene Art und Weise, grundsätzlich eine Szene fundamentaler Abwesenheit, die sich in ihrer Emphase affektiv auf die wahrnehmenden Körper und deren potentielle Bewegungen im Sinne des Choreographischen bezieht: Choreographie ist, so gesehen, ein Schreiben an der Grenze von Anwesenheit und Nicht-mehr-da-Sein: eine Schrift der Erinnerung an jenen bewegten Körper, der nicht präsent zu halten ist. […] Daß die Arbeit mit Bewegung – das Setzen von Schritten und ihr Vorbeigehen (Passieren) im Setzen – ein Betreten solcher Zwischenräume einschließt, daß Choreographie das Setzen und Löschen von Erinnerungsspuren betreibt, hat sich dem Bewusstsein der Moderne tief eingeprägt.43

Aufgrund der Weigerung der Künstlerin, trotz der wiederholten ›Fälle‹ von Stolpern und Umknicken, den Riss durch mögliche Sicherungsmaßnahmen zu ›entschärfen‹,44 müssen wir davon ausgehen, dass die Stolpergefahr keine unbedachte Randerscheinung ist, sondern ein konstitutiver Bestandteil der Installation. 41 | Brandstetter, Gabriele: »Schriftbilder des Tanzes. Zwischen Notation, Diagramm und Ornament«, in: Krämer, Sybille; Cancik-Kirschbaum, Eva Christiane und Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operarativität von Notationen, Berlin: Akademie Verlag, 2012. S. 61-77. Hier: S. 71. Brandstetter stellt ausführlich dar, dass es sich historisch betrachtet, bei vielen Tanzschriften, häufig um konkrete Schritt-Anweiseisungen handelte. 42 | »Da jedes Zeichen [signe], sowohl in der ›Sprache der Gebärden‹ [›langage d’action‹] als auch in der artikulierten Sprache [langage] (sogar vor dem Auftreten der Schrift im klassischen Sinn), eine gewisse (zu bestimmende) Abwesenheit voraussetzt, muß die Abwesenheit, will man dem geschriebenen Zeichen [signe] eine wie auch immer geartete Spezifität zusprechen, zur Eigentümlichkeit des Bereiches der Schrift gehören.« Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. S. 23. 43 | Gabriele Brandstetter: »Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung«, in: Brandstetter (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung. S. 102-134. Hier: S. 103f. 44 | Der oben angeführte Times Artikel zitiert Dennis Ahern, als »head of safety and security« mit einer Aussage zum ›offensichtlich erheblichen Verletzungsrisiko‹: »With Shibboleth this hazard differs from equitable ones in that physical protection measures which would normally be applied to a gap of this nature are not deemed

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Abb. 36 | Besuchende der Ausstellung Shibboleth mit unterschiedlichen Laufrichtungen.

Was verrät uns dieser Befund nun über das spezifische Verhältnis von Rissen, Gehen und Stolpern innerhalb dieser Installation über das Choreographische (und darüber hinaus)? Der Riss Salcedos stellt zwei idealtypische Prinzipien des alltäglichen Gehens in Frage, die sich bei genauerer Betrachtung als Phantasma erweisen: den aufrechten Gang und die Gradlinigkeit des Gehens. Von beiden idealisierten Linien, gibt es aufgrund von vielfältigen menschlichen- und nicht-menschlichen Bewegungen, Interaktionen und Einflüssen permanent Abweichungen und Anpassungen. Dennoch existieren die Vorstellungen eine gradlinigen, aufrechten Ganges – dessen quasi-mechanische Bewegungen beispielsweise in Formen des Marschierens verkörpert werden.45 Auch im Zuge einer Urbanisierung in Zeiten

appropriate due to its artistic nature.« Quinn: »Crowds are Suffering for Their Art at the Tate Modern«. 45 | Vgl. die Bewegungsexperimente von Marey und Muybridge, die durchaus auch eine Bewegungseffizienz zu Ziele hatten. Vgl. Mayer: »Autographien des Ganges«, ebenso wie den Abschnitt: »Vor-Bilder II: Chronophotographie (Eadward Muybridge, Étienne-Jules Marey)«, S. 282ff.

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der Industrialisierung vollzieht sich ein Wandel in Richtung Gradlinigkeit, wie Tim Ingold ausführt: [M]ost metropolitan societies have transformed their urban spaces into something approximating the parade ground, by paving the streets. In so doing, they have literally paved the way for the boot-clad pedestrian to exercise his feet as a stepping machine. No longer did he have to pick his way, with care and dexterity, along potholed, cobbled or rutted thoroughfares.46

Im Gegensatz zur Bewegung auf zerfurchten, Schlagloch-übersäten Durchgangswegen, ist die rechtwinklige, klar strukturierte, übersichtliche, auf Funktionalität ausgerichtete vormals industrielle Turbine Hall der Tate Modern mit ihrem hyper-planen (obgleich leicht abgeschrägten) Betonboden von einem solchen ungehinderten, gradlinigen Bewegungsideal geprägt. Die diagonale Zickzacklinie des Risses hingegen, der sich viele Besuchende entschließen zu folgen, stellt mit ihrem unregelmäßigen Verlauf, den unvorhergesehenen Seitensprüngen, toten Seitenarmen, Sackgassen des Verlaufs, der uneindeutigen, wachsenden Tiefe des Risses, seinen ausgefransten Rändern, grundsätzlich andere Ordnungs- und Bewegungsprinzipien dar.47 Die Gefahr des Stolperns, die in der Bewegung entlang des Risses entsteht, ruft ein anderes, ›grundlegenderes‹ Prinzip des Gehens in Erinnerung: Gehen an sich ist, wie Gabriele Brandstetter darlegt, grundsätzlich ein beständiges Fallen (und Sich-wieder-Auffangen).48 So gesehen bewegen sich die Besuchenden am

46 | Ingold, Tim: Being alive: essays on movement, knowledge and description. London [u.a.]: Routledge, 2011. S. 41. 47 | Ein verwandtes architektonisches Konzept wäre im Entwurf des Jüdischen Museums Berlin nach den Plänen von Daniel Libeskind zu sehen: An Stelle von Gradlinigkeit und Übersichtlich tritt hier eine Betonung der gebrochenen Linien, der Sackgassen, der Unübersichtlichkeit als räumliche Metaphern des Leidens und der Traumata des Holocausts. Vgl. Schneider, Bernhard und Libeskind, Daniel: Daniel Libeskind: Jüdisches Museum Berlin: zwischen den Linien. Prestel, 1999. Zu möglichen Wechselwirkungen zwischen Architektur und Choreographie wäre z.B. der Einfluss von Daniel Liebeskind auf den Choreographen William Forsythe zu nennen, vgl. Brandstetter, Gabriele: »Defiguration und Displacement. Körperkonzepte in Performance und Bewegungstheater des 20. Jahrhunderts«, in: Grossegesse, Orlando/Koller, Erwin (Hg.): Literaturtheorie am Ende? 50 Jahre Wolfgang ›Kaysers Sprachliches Kunstwerk‹, Tübingen: Francke, 2001. S. 53-75. Hier: S. 70. 48 | Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Über Gehen und Fallen. Fehltritte im Tanz, Lücken in der Choreographie«, in: Ingold, Felix Phillip und Sánchez, Yvette (Hg.): Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität, Göttingen: Wallstein, 2008b. S. 170-185. Hier: S. 175.

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Rande des Risses potentiell entlang einer »defigurativen Choreographie«49, die einen Moment des Stolperns nicht nur nicht ausschließt, sondern als Grundprinzip und Möglichkeit von Bewegung bewusst ins Zentrum rückt. In dieser Konfrontation und Durchkreuzung unterschiedlicher Konzepte von Raum und Bewegung, der geordneten Gradlinigkeit der Halle gegenüber dem chaotisch verlaufenden Riss, spiegelt sich zugleich die Unvorhersehbarkeit des Treffens mit anderen, mehr noch: mit der/dem Anderen. An die Stelle klar geregelter Konvention innerhalb des Museums tritt das Ungeregelte, das Diffuse, treten unklare Verhaltensweisen, unvorhersehbare Momente, komplexe Dynamiken von Aktions- und Reaktionsketten. In den vielfältigen Schritten des Aufeinander-zu und Voneinander-weg entlang des Risses entstehen fragile, kurzfristige Mikro-Begegnungen. Der Riss öffnet so einen fragilen situativen, relationalen und potentiellen (Begegnungs-)Raum, in ihm und durch ihn entstehen Möglichkeiten und Notwendigkeiten anderer Bewegungen, anderer Begegnungen, Begegnungen mit den anderen und der/dem Anderen.

Die Kluft des Titels: Riss/Shibboleth Auch wenn die Frage, ob es sich bei der Installation Shibboleth um eine Metapher im gewöhnlichen, oder sogar im eigentlichen Sinne handelt, mit Derrida als obsolet, bzw. unbeantwortbar gelten muss,50 weil die Metapher ›als solche‹ sich ihrer Thematisierung fundamental entzieht, so lässt sich gerade in dieser Bewegung des Entzuges eine vielfältige Verstrickung der Installation Shibboleth mit dem Feld und den Prozessen des Metaphorischen entdecken. Das allmähliche Erreichen menschlicher Ausmaße des Risses, bedingt durch die Bewegung der Besuchenden, dieses langsame Kippen der Rissfigur vom Symbolischen ins Konkrete der physischen Bedrohung korrespondiert, so möchte ich argumentieren, mit eben jener defigurativen Bewegung des Entzuges, die Derrida in Bezug auf das Metaphorische beschreibt. Wie bereits dargelegt, versteht Derrida dieses gerade nicht als simple Übertragung vom Bereich des Sinnlichen auf das Intelligible, sondern als komplexen performativen Prozess, 49 | »Jeder Schritt ist ein Fallen, die Choreographie schreibt, nicht in einem offensichtlichen ›Stürzen‹ der Tänzer wie etwa im Bewegungstheater der kanadischen Gruppe Lalala Human Steps, sondern in einem ihrer Grundstruktur implementären Muster, den Sturz mit: in der Erkundung der Grenzzone von Stabilität und Labilität, Zentriertheit und Exzentrität«. Brandstetter: »Defiguration und Displacement. Körperkonzepte in Performance und Bewegungstheater des 20. Jahrhunderts«. ­S . ­73. Vgl. auch Brandstetter, Gabriele: »Defigurative Choreography: From Marcel Duchamp to William Forsythe«, in: The Drama Review Nr. 4, 42 1998. S. 37-55. Zugriff unter: https://www.jstor.org/stable/1146717 am 19. September 2017. 50 | Vgl. Derrida: »Der Entzug der Metapher«.

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der eine latent bedrohliche Seite mit einer durch aus physischen Komponente beinhaltet, da die Metapher drohe, ihren Benutzer – in ›dramatischer‹ Weise, wie Derrida anmerkt – »zu metaphorisieren«.51 Derrida stellt so im Rahmen seiner komplexen Metaphrologie ein konstitutives Driften, ein unüberwindliches permanentes Kippen innerhalb der Sprache fest, das ihn, wie oben gezeigt, zugleich auf die Spur einer allmählichen Hinwendung zur Figur des Risses (bei Heidegger und darüber hinaus) führt.52 Umgekehrt finden wir diese Wendung, diese Volte, die Kippbewegung als Hinwendung vom materiellen Riss zur Sprache, zum Feld des Sprachlichen (und dessen Lücken, Spalten und Leerstellen) auch bei Doris Salcedos Installation. Der ›dramatischen‹ Entwicklung des Risses vom harmlosen Haarriss zur bedrohlichen Kluft legt Salcedo ein anderes ›dramatisches‹ Geschehen zugrunde, welches sie durch den Titel mit ihrer Installation in Beziehung setzt: Mit Shibboleth ruft Salcedo die Geschichte eines gewalthaften Konfliktes zwischen der Gruppe der Gileaditen und der Ephraimiten auf, wie sie im Alten Testament im Buch der Richter (12, 5-6) beschrieben ist.53 Das hebräische Wort »Schibboleth« wurde der Legende nach als Losungswort verwendet, um vertriebene Ephraimiter*innen zu identifizieren, welche über den Jordan in ihre Heimat zurückkehren wollten. An der Grenze, am Ufer des Flusses wurden sie von ihren Gegner*innen aufgefordert, das Wort »Schibboleth« auszusprechen, welches diese aufgrund ihres Dialektes als »Sibboleth« artikulierten, ohne dass sie selbst diese lautliche Differenz bemerkt hätten: Sie verrieten ihren Unterschied, indem sie sich dem diakritischen Unterschied Schi und Si gegenüber indifferent verhielten; und sie machten sich dadurch be-merkbar, daß sie ein solcherart kodiertes Merkmal nicht (wieder)bemerken (re-marquer) konnten.54

51 | »Das Drama – denn dies ist ein Drama – besteht darin, daß es mir selbst wenn wollte, nicht gelingen würde, unmetaphorisch von der Metapher zu sprechen; sie würde fortfahren, sich meiner zu entledigen, um – wie ein Bauchredner – mich zum Sprechen zu bringen, mich zu metaphorisieren.« Ebd. S. 199. Vgl. den Abschnitt »Vorhang der Sprache und gespaltener ›Geist‹. Eine Szene der Sprachlosigkeit« im vorliegenden Band, S. 185ff. 52 | Vgl. den Abschnitt »Ökonomie und/der Metapher: Risse im ›Haus des Seins‹ (Derridas »Entzug der Metapher«)« im vorliegenden Band, S. 95ff. 53 | Vgl. Derrida: Schibboleth: für Paul Celan. 54 | Ebd. S. 51.

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Mit dem Titel Shibboleth (bzw. auf Deutsch: »Schibboleth«55) wird für diese Untersuchung ein gleichnamiger Aufsatz von Jacques Derrida relevant, in welchem dieser anhand einer Lektüre der Gedichte Paul Celans nicht den Riss, sondern den Zusammenhang von Schnitt, Beschneidung und einem Nachdenken über das Prinzip des Datums (als Einschnitt) untersucht. Wie Derrida betont, steht in der biblischen Erzählung zum Schibboleth ein performativer Aspekt von Sprache im Vordergrund: es geht nicht um die Kenntnis oder Unkenntnis eines bestimmten Losungswortes, sondern um das Sprechen der Sprache, den Akt der Aussprache und damit die körperlich-materielle Seite des Sprechens. Zudem, und dies erscheint im Kontext von Rissfiguren nicht unwesentlich, geht es um die Ambivalenz eines verbindenden und zugleich gewaltsamen Teilens: Im Wort hat der Unterschied zwischen schi und si keinerlei Bedeutung. Jedoch ist es das verschlüsselte Zeichen, das man mit dem Anderen teilen können muß, und dieses Unterscheidungsvermögen (pouvoir différentiel) muß in sich selbst eingeschrieben sein, will sagen: in seinen Körper ebenso wie in den Körper der eigenen Sprache, eines nach Maßgabe des anderen.56

Der Dialekt, die unbewusste Verbundenheit mit der Muttersprache dient in der Erzählung zur Unterscheidung zwischen Volkszugehörigkeit bzw. deren Ausschluss und wird so zu einem Differenzkriterium, das zwischen Leben und Tod entscheidet: die biblische Erzählung endet im Genozid. Die Performativität des Sprechens stellt sich in diesem Kontext als doppelte, abgründige, fatale Figur der Teilung dar: Sie bezieht sich nicht auf das was des Sagens, sondern auf die Ausführung des Sprechens (dem wie der Sprache), d.h. einer an die Körperlichkeit gebundenen Artikulation und der durch sie hörbar gemachten kulturellen Zugehörigkeits-Zuschreibung. Zugleich produziert diese Differenz in der Sprache eine kulturelle Kluft, in dem sie von der einen Gruppe nicht re-produzierbar ist und mehr noch: diese Differenz als solche nicht bemerken. Auch zwischen dem Titel Shibboleth und der räumlichen Installation Salcedos scheint eine gewisse ›Kluft‹ oder Teilung zu herrschen. Der Titel Shibboleth scheint zunächst – wie jeglicher Name – tendenziell arbiträr, es scheint nicht offensichtlich, dass es mit dem Riss im Fundament des Gebäudes auch etwas Sprachliches auf dem Spiel steht. Dennoch (bzw. dadurch) entfaltet der Titel mit

55 | Auf die Differenz dieses einen Buchstabens »c« sei hier hingewiesen: die Übertragung des Hebräischen Wortes lautet im Deutschen »Schibboleth« und im Englischen »Shibboleth«. Bezeichneneder Weise unterscheidet sich die Aussprache zwischen »Sch« und »Sh« im Deutschen und Englischen kaum, während das Englische »th« am Ende für viele Deutsche wiederum ein ›Schibboleth/Shibboleth‹ darstellt. 56 | Derrida: Schibboleth: für Paul Celan. S. 59.

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seiner Setzung bereits eine Wirkung: es entsteht, im performativen Sinne, eine komplexe Wechselwirkung mit der begehbaren Installation. Der Titel bezieht sich auf eine Legende (eine alt-testamentarische) und er bildet selbst eine ›Legende‹ – eine Lese-Anleitung, eine Art ›Guideline‹, wie die Installation selbst: Mit einem Sprung, unvorhergesehen, versetzt der Titel, Shibboleth, den Riss im Boden samt der ihn betrachtenden, begehenden und inspizierenden Besucher*innen in das Feld der Sprache, mehr noch: Er überträgt den Riss quasi-metaphorisch in den Bereich der Aussprache, der Performativität des Sprechens. Der Titel Shibboleth bringt auf einem metaphorischen Umweg die Sprache ins Spiel und verursacht eine Bedeutungsverschiebung, einen hermeneutischen Drift. In seinem Verweis auf die Performativität von Sprache ist der Titel selbst performativ wirksam, d.h. wirklichkeitsverändernd, wirklichkeitskonstituierend. Ein solch performatives Sprachverständnis muss nun einerseits in einem direkten Bezug zum spezifischen Erleben der Ausstellung gedacht werden, jener Verführung zum spielerischen Einlassen, zum sinnlichen Erfahren der Installation. Titel wie Installation verlangen, je auf ihre Weise, die Bereitschaft zu übertragen, zu transferieren und damit eine ›Übertretung‹ vorzunehmen. Gemeinsam/getrennt fordern Titel wie der Riss im Boden eine unvermeidlich ›geteilte‹ Aufmerksamkeit. Man kann über beide schwerlich einfach ›hinweggehen‹, sie ignorieren – nicht ohne die Gefahr des Stolperns. Salcedo markiert so ein spezifisches diskursives Feld, erweitert das Deutungsspektrum ihrer Installation und verstärkt die inhärente Ambivalenz des emphatisch-abwesenden Objektes. Die Künstlerin lenkt den Blick dabei nicht nur auf die alttestamentarische Beschreibung von Ausgrenzung und Exilerfahrung und damit auf Geschichten der Migration und Vertreibung, sondern auch auf unser Verhältnis zur Sprache und das ihr inhärente Gewaltpotential: das Unvermögen, etwas korrekt zu prononcieren. Sie markiert so die Leerstellen, das Unaussprechliche in der Sprache und zwischen verschiedenen Sprachen. Damit wird der Riss zum Symbol einer im doppelten Sinne geteilten und teilenden Sprache, die nicht nur oder gerade kein Mittel zur reibungslosen Verständigung ist, sondern als Medium der radikalen, gewaltvollen, ethnischen Separation dient. Mit dem spezifischen Titel Shibboleth verbindet sich eine Einladung, uns den durch Sprache entstehenden Grenzen und Ausgrenzungen aus der körperlich-konkreten Perspektive des Sprechens zuzuwenden – und damit auch jenen (un-)bemerkten Lücken und Aussetzern in der Struktur und Übertragung von Sprache. Die Worte Derridas bezüglich des Prinzips Schibboleth lassen sich ohne Weiteres auf die (fast) gleichnamige Installation (mit der Differenz eines Buchstaben) übertragen: Schibboleth ist ein Merkmal für die Vielfalt in der Sprache, der bedeutungslose Unterschied als Bedingung für die Bedeutung. Aber lassen Sie mich bei der Gelegenheit gleich sagen, daß die Sprache in ihrer Bedeutungslosigkeit, der Aussagelosigkeit ihres sprachlichen Körpers, nur von einem Ort her eine

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo) Bedeutung erlangen kann. Unter Ort verstehe ich ebensogut den Bezug zu einer Grenze, ein Land, ein Haus, eine Schwelle, wie auch jedwede Landschaft, jede Situation, von welcher her sich praktisch und pragmatisch die Bündnisse knüpfen, die Kontakte, die Codes und die Konventionen sich etablieren, welche dem Bedeutungs-losen Bedeutung geben, die Losungswörter instituieren, die Sprache zu dem hinformen, was über sie hinausgeht, die aus ihr einen Gestus, eine Gebärde des Schreitens machen, sie auf eine sekundäre Ebene heben oder sie von sich stoßen, um sie wiederzufinden.57

Mit einem Blick auf Sprache als »Gebärde des Schreitens«, wie es bei Derrida heißt, weist auch Salcedo ihrem Riss einen spezifischen Ort zu: Ihr Riss verweist auf dem Umweg der Sprache und des Sprachlichen paradoxerweise zugleich auf die non-verbale, und zugleich die unartikulierte Seite von Sprache. Die stummen Vermittlungen der Besuchenden untereinander, ihre Gesten, ihre Gebärden, das Aushandeln der Körper in der Bewegung – mit den situativen Momenten rücken auch die sozialen Beziehungen in den Vordergrund. Parallel zu dieser Form einer doppelsinnigen Still-Stellung (sowohl bezogen auf die Statik des Risses als auch auf die stumme Seite des Sprachlichen, das Unausgesprochene, Non-Verbale) wird die Konfiguration von Körpern, Raum und Sprache in Bewegung versetzt, dynamisiert. Zugleich erhält die (vermeintlich) ›erstarrte Metapher‹ des Risses durch den sprechenden Namen Shibboleth eine neue Dynamik. Mit dem übertragenen, metaphorischen Drift des Titels, nämlich als Grenze und Unterbrechung des Intelligiblen, des Nicht-Übertragbaren und einer damit impliziten Erstarrung innerhalb des metaphorischen ›Feldes‹, geht es schließlich um sprachliche Beziehungen, auch dort wo die Sprache stumm bleibt, die Metaphern erstarren. Der Name Shibboleth spricht quasi für sich, indem er die stumme Seite der Sprache und des Sprechens anspricht. Insofern handelt es sich bei dem in der Tate-Gallery installierten Riss um eine künstlerische und zugleich körperlichsituative Verortung von Sprache und der aus ihr resultierenden sozialen Gefüge – und zugleich, auf Grund der emphatischen Absenz eines Objektes, um eine Markierung jener Bereiche, die der Sprache (dem Sprachlichen) vorenthalten bleiben, bzw. um jene Formen von Ausschluss und Ausgrenzung, die durch die Sprache geschehen können.

Risse im Fundament – Öffnung des Raumes für postkoloniale Diskurse Durch den Titel Shibboleth weist der Riss zugleich auch auf eine unausgesprochene, fundamentale, möglicherweise sogar konstitutive Abwesenheit im Kern des 57 | Ebd.

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Ausstellungsgebäudes hin und darüber hinaus: Er spielt auf die institutionellen Ein- und Ausschlussprinzipien an und auf die Frage, welche Künstler oder Besuchende im nationalen Museum (ursprünglich entstanden als National Gallery of British Art) eigentlich ausgeschlossen waren und immer noch werden. In diesem Sinne bringt der Riss implizit das Konzept einer pluralen Idee von Moderne ins Spiel. Mit dem Stichwort einer »Vielfalt der Moderne« (– im Englischen sinnvoller Weise im Plural: »multiple modernities«) hatte Shmuel Eisenstadt auf die lange Zeit stumm gebliebenen Anteile nicht-westlicher Kulturen am ideologischen Programm der sog. Moderne hingewiesen.58 Mit dem Riss und dem Titel Shibboleth wird so das Thema der Ausgrenzung aufgeworfen, das die Installation im Feld postkolonialer Diskurse verortet,59 wie Doris Salcedo im Katalog der Ausstellung explizit darlegt: »Shibboleth is an attempt to address the section of humankind that has been left out of the history of modernity, and kept at the margin of high Western culture.«60 Salcedos Riss greift so mit dem architektonischen- auch das ›ideologische‹ Fundament des Kunstbetriebes an und eröffnet dadurch einen Raum für die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Europas und insbesondere Großbritanniens, dessen imperialistische Expansionsbestrebungen bis heute spürbare Auswirkungen haben – insbesondere aus Perspektive der ›kolonialisierten‹ Bevölkerungsgruppen und deren, in verschiedenen Diasporas lebenden Nachfahren. An den Dialekten dieser Gruppen zeigt sich das widersprüchliche Verhältnis von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, besonders in europäischen Ländern, in denen die akzentfreie Hochsprache fetischisiert wird und ein Dialekt oder unüberhörbarer Akzent zu Kriterien verhinderter sozialer Aufstiegsmöglichkeiten werden. Es sind dies die unausgesprochenen gesellschaftlichen Regeln und verkörperten sprachlichen Codes, die bestimmte Gruppen bis heute von der sozialen Teilhabe ausgrenzen: 58 | »One of the most important implications of the term ›multiple modernities‹ is that modernity and Westernization are not identical. Western patterns of modernity are not the only ›authentic‹ modernities, though they enjoy historical precedence and continue to be a basic reference point for others« Eisenstadt, S. N.: »Multiple Modernities«, in: Daedalus, Nr. 1, Heft 129, 2000. S. 1-29. Hier: S. 2f. Vgl. auch die deutsche Fassung seiner Theorie in: Eisenstadt, Shmuel Noah und Schluchter, Brigitte: Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist: Velbrück Wiss., 2000. 59 | Zur Einführung s. u.a. Ashcroft, Bill; Griffiths, Gareth und Tiffin, Helen: The Post-Colonial Studies Reader. London; New York: Routledge, 2006; für eine kritische Einführung in die zentralen Thorien von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha im deutschsprachigen Kontext s. z.B. Castro Varela, María do Mar und Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie: eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript, 2005. 60 | Salcedo: »Proposal for a Project for the Turbine Hall«. S. 65.

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Abb. 37 | Ränder des Risses mit Spuren drahtzaunartiger Strukturen. Diese Einschreibung des Unterschieds in den Körper (zum Beispiel die phonatorische Fähigkeit dies oder jenes auszusprechen) ist jedoch nicht natürlich, sie hat nichts von einer angeborenen, organischen Fähigkeit. Ihr Ursprung selbst setzt die Zugehörigkeit zu einer kulturellen und sprachlichen Gemeinschaft, zu einem Milieu, in welchem sie erlernt werden, kurz eine Verbündung, voraus.61

Schibboleth bleibt so, wie der Riss, die widersprüchliche Figur einer inhärenten Grenze innerhalb von Gemeinschaften, einer verbindenden Trennung, der Derrida eine »schreckliche Doppeldeutigkeit« zuschreibt, als »jenes Zeichen der Zugehörigkeit und der Bedrohung durch Diskriminierung«.62 Mit dieser ›Lesart‹, welche ein Themenfeld von Diskriminierung und Ausgrenzung in den Blick rückt, korrespondiert ein weiteres Detail der Installation: bei der genauen Betrachtung der Innenseiten der Ränder des Risses werden Spuren eines Maschendrahtzaunes erkennbar, dessen Funktion sich nicht auf den ersten Blick erschließt: ist dieser produktionsbedingt? – sichert und stabilisiert er die Ränder, damit sie nicht vorzeitig, vor Beendigung der Ausstellung zerfallen? Die Drahtreste in den Wänden des Risses scheinen somit einerseits auf dessen Hergestellt-Sein zu verweisen, sie erinnern an den Produktionsprozess. Zugleich 61 | Derrida: Schibboleth: für Paul Celan. S. 59. 62 | Ebd. S. 103.

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Abb. 38 | Spuren des verspachtelten Risses mit darauf stattfindender Performance These Associations (2012) von Tino Sehgal.

evozieren die Drahtspuren im Fundament aber auch das Bild einer im Grund verlaufenden, hervorbrechenden Grenze. Der Riss, so scheint es, verläuft entlang dieser doppelten Linie, die schon vorher existiert zu haben scheint. Die Spuren des Zaunes im Riss eröffnen so einen imaginativen, spekulativen Raum: es scheint, als bewege man sich entlang einer archäologischen Fundstätte, an dem frühere menschliche Spuren zu sehen sind; als enthülle der Riss etwas im Fundament des Museums, eine alte, eine innere Grenze, auf der das Museum fußt. Indem der Riss stumm und uneindeutig auf Spuren des Grenzhaften, der Ausgrenzung und Diskriminierung tief in seinem Inneren insistiert, suggeriert dieser, dass die ›grundlegende‹ Ausgrenzung – im übertragenen Sinne – ein tiefes, verborgenes Prinzip dieses nationalen Museums einer Kunst der Moderne sei, welches auf einer verborgenen, für gewöhnlich unsichtbaren Gewaltgeschichte beruht. Die erlebbar werdende ›Zwiespältigkeit‹ des Risses stellt somit das Fundament seiner Behausung in Frage: die Tate Modern als Gebäude und Institution, die sein auf Abwesenheit basierendes In-Erscheinung-Treten erst ermöglicht hat. Die unsichtbaren ökonomischen Strukturen, die mit der Institution verbundenen Geld, Macht- und auch Genderverhältnisse, die in dem repräsentativen Gebäude manifest werden, greift Salcedos anwesend-abwesender Riss – quasi auf dem metaphorischen Umweg seines Namens – an, stellt sie aus, indem er sich stumm insistierend in diese Verhältnisse einfügt, sich diese zu Nutze macht

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und quasi dekonstruiert. Die Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Position bleibt dabei unauflöslich: Als Künstlerin kritisiert Salcedo implizit die Strukturen eines institutionellen Kunstbetriebes und dessen ökonomische Gesetze, gerade indem sie daran teilhat und daran partizipiert. Ihr Riss, der kein Objekt ist, welches man als solches käuflich erwerben und besitzen kann, entzieht sich zugleich jedoch den ökonomischen Strukturen des Museums. Es wird niemals als Wanderausstellung durch die Metropolen der Welt touren, sondern bleibt unverrückbar an seinem Ort als eine Art unveräußerbarer Teil der Immobilie, weniger Eigen-tum des Museums als vielmehr dessen – durch den Riss festgestellte – Eigen-heit, eine Narbe, die sichtbar bleibt.

Nach-Gänge: Der Riss als Spur, Narbe, Mahn-Mal (Breitscheidplatz, Berlin) In seinem Essay Schibboleth. Für Paul Celan verbindet Derrida die Frage nach dem Dialekt als (un-)hörbaren sprachlichen Differenzbildung zur Gemeinschaftsbildung und Ausgrenzung, wie erwähnt, mit der Figur des Schnittes: im Sinne der jüdischen Beschneidung, aber auch im Sinne einer Beschneidung des Wortes und – was zunächst überrascht – der Frage danach, was ein Datum sei. So begreift Derrida das Datum als einmaligen und zugleich wiederkehrenden zeitlichen Einschnitt, zwischen Einmaligkeit, Differenz und Wiederholung schwankend (so gesehen verwandt mit der Signatur).63 Wurde im ersten Teil des vorliegenden Bandes die Figur des Risses noch von der Figur des Schnittes definitorisch abgegrenzt, welche im Unterschied zum Riss eher Merkmale des Instrumentellen, Unorganisch-Gradlinigen trägt und strukturell weitgehend unabhängig von der Textur ihres Trägermaterials erscheint, zeigte sich jedoch im Verlauf der Untersuchung, dass eine gewisse Affinität zwischen beiden Figuren, Riss und Schnitt auf dem Umweg einer ›Schrift‹ der Choreographie – latent – bestehen blieb. Die in diesem Kapitel untersuchte Arbeit Shibboleth von Doris Salcedo dehnt Derridas Verbindung von Shibboleth und Schnitt auf die Figur des Risses aus, indem sie diese als Raumfigur erlebbar macht. Die in Derridas Text aufgeworfene Frage des Datums spielt in der künstlerischen Arbeit Salcedos zunächst keine Rolle. Die Verbindung von Riss und Datum als kalendarischem Einschnitt und Erinnerungsfigur hat jedoch in jüngerer Zeit in Berlin eine unvorhergesehene Aktualisierung erfahren. Im Nachgang des terroristischen Anschlages auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 wurde, in Abstimmung mit den Angehörigen der Opfer, nach einem Entwurf für ein Denkmal gesucht. Mit großer Zustimmung der Hinterbliebenen wurde die 63 | Vgl. Derrida: Schibboleth: für Paul Celan. Sowie Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«.

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Idee des Architektenbüros Merz & Merz ausgewählt, welche darin bestand, auf dem Platz einen verfugten, goldfarbenen Riss zu installieren und daneben die Namen der Opfer zu vermerken. Pablo von Frankenberg, einer der Ideengeber des Mahnmals beschreibt den Grundgedanken wie folgt: Das Mahnmal soll kein abgeschlossener Ort des Gedenkens werden, sondern etwas, das für die Menschen da ist. Der zweite Gedanke war: Wir wollten das Weiterleben im Alltag ebenso möglich machen. An diesem Ort ist ständig was los, es ist ein Verbindungsort, über den viele Menschen laufen. Wir wollten nichts hinstellen, das blockiert. So kam es zu der Idee, einen symbolischen Riss im Straßenpflaster zu schaffen.64

Bei der Ortsbesichtigung dieses »symbolischen Risses«, zeigt sich, dass die etwa 17 Meter lange Markierung im Boden, trotz ihrer gold/bronzefarbenen Ausführung als Mahnmal bemerkenswert unauffällig, um nicht zu sagen geradezu unbeachtet bleibt, wodurch sich eine gewisse Latenz der Rissfigur auch an dieser Stelle fortzuschreiben scheint. Der Riss als Mahn-Mal des Anschlages zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit Salcedos Installation, auch wenn diese als von vornherein Verfugtes konzipiert wurde und somit die Dimension eines Stolperns im wörtlichen Sinne nicht beabsichtigt ist. Dennoch liegt die Assoziation eines Stolperns im übertragenen Sinne auch hier Nahe: Die in der Tageszeitung taz in diesem Zusammenhang konstatierte gestalterische Nähe zu den bronzenen »Stolpersteinen«, welche eher unauffällig im Pflaster an die ehemaligen Wohnorte von deportierten und ermordeten Opfern der Nationalsozialisten in Deutschland erinnern, erscheint durchaus nachvollziehbar.65 Anders als das Holocaust-Mahnmal, dass in seiner großformatigen Dimension eher an ein anonymes Massen- oder Kriegsgrab erinnert, stehen bei den Stolpersteinen eher die individuellen Schicksale im Vordergrund. Auch im Falle des verfugten Risses gilt ähnliches, sind doch hier die Namen der Getöteten am Rande des Risses vermerkt. Anhand der Berichterstattung über die Installation wird deutlich, dass ein Nachdenken über die Implikationen der gewählten Riss-Form im öffentlichen Diskurs wie selbstverständlich Assoziationen einer symbolischen Wunde, eine Idee der gesellschaftlichen Spaltung mit Fragen des

64 | Keseling, Uta: »Der ›Riss‹ am Breitscheidplatz: Wie das Mahnmal entstand«, in: Berliner Morgenpost 19. Dezember 2017. Zugriff unter: https://www.morgenpost.de/ berlin/article212885273/Der-Riss-am-Breitscheidplatz-Wie-das-Mahnmal-entstand. html am 20. Dezember 2017. 65 | Vgl. Scheder, Beate: »Das Leben auf dem Riss«, in: die taz 19. Dezember 2017. Zugriff unter: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5470446&s=Leben+auf+dem+R iss/ am 20. Dezember 2017.

14. Der Riss als stummes Insistieren: Shibboleth (Doris Salcedo)

Abb. 39 | Verfugter Riss am Breitscheidplatz.

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Zusammenhalts und der Heilung verbunden werden. So schreibt ein Autor in der Zeitung Die Welt: Es ist ein würdiger Entwurf. Er setzt ein stilles ästhetisches Zeichen. Denn tatsächlich hat dieser schwerste islamistische Terroranschlag in Deutschland einen Riss in unsere Wahrnehmung geschlagen. Wir fühlen uns verwundbar. Überall. Jederzeit. Im Angesicht des Terrors öffnet sich der Boden unter unseren Füßen.66

Der Autor in der Zeitung taz bewertet die Symbolik Figur in ähnlicher Weise als treffend: Der Riss, die Verletzung, die zu einer Narbe verheilt, die dennoch deutlich sichtbar bleibt, ist ein treffendes Bild für das, was geschehen ist. Es steht für die Spaltung in der Gesellschaft, die es zu überwinden gilt, für die Verwundbarkeit der Welt, in der wir leben und mit der wir leben müssen. […] Der Riss giert nicht nach größtmöglichem Effekt, sondern sendet vielmehr eine Botschaft der Versöhnlichkeit aus.67

Diesem Prinzip der Traumabewältigung und einer Idee der individuellen bzw. kollektiven Verarbeitung von Schmerz und Trauer mit und durch Figuren des Risses wird im folgenden Kapitel sprichwörtlich wie wortwörtlich weiter ›nachgegangen‹.

66 | Ebd. 67 | Woeller, Marcus: »Das Schlimmste, was Mahnmalen widerfahren kann«, in: die taz 14. September 2017. Zugriff unter: https://www.welt.de/168636124 am 20. Dezember 2017.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Bei der Produktion Fissure der britischen Regisseurin Louise Ann Wilson, handelt sich um eine dreitägige performative Wanderung,1 die einmalig im Mai 2011 in den Yorkshire Dales, einer dünn besiedelten Landschaft in Nord-England stattgefunden hat.2 Das Stück stellt die Teilnehmenden vor physische Herausforderungen: Während der erste Tag noch relativ entspannt mit einem frühabendlichen Ausflug zum nahegelegenen Ribblehead-Steinbruch beginnt, steht am zweiten Tag eine anspruchsvolle 12-Meilen Wanderung (ca. 20 Kilometer) durch die Yorkshire Dales auf dem Programm, einschließlich einer Höhlenbegehung der Ingleborough Caves; der dritte Tag sieht kurz nach Tagesanbruch die Besteigung des Ingleborough Peaks vor, welche wegen eines plötzlichen Wetterumschwunges zu einer intensiven Erfahrung für alle Beteiligten werden soll. Bereits im Vorfeld der Veranstaltung wurden die Teilnehmenden schriftlich auf die anstehenden Strapazen hingewiesen:

1 | Die Veranstaltenden verwenden zur Beschreibung die folgende Formulierung: »Fissure is a three day walking cum performance event in the Yorkshire Dales from 20 to 22 May 2011. It will begin at 6pm on Friday 20 May and end at 12 noon on Sunday 22 May. The second day, Saturday 21 May, involves a 12 mile walk across hilly terrain.« Zitiert aus dem per Email an die Teilnehmenden versendeten Fragebogen der Veranstaltenden. 2 | Das Stück wurde von der Produktionsfirma Artevents in Kooperation mit der Louise Ann Wilson Company im Rahmen von Re-Enchantment produziert. ReEchantment wird von der Paul Hamlyn Stiftung zusammen mit dem Arts Council England finanziert, mit dem Ziel »to interrogate the various meanings of ›place‹ in the twenty-first century« (Vgl. http://www.artevents.info/projects/current/there-enchantment, besucht am 6. Juli 2018).

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten Strenuous level of walking: The walk is over 12 miles and there may be difficult terrain where the ground is uneven, rocky or steep. Scrambling (use of hands and feet) may be required at points. Walkers should be equipped with sturdy, waterproof boots and extra warm layers of clothing, including a waterproof/ windproof outer layer, hat and gloves.3

Das Stück Fissure lässt sich am besten als performative Wanderung beschreiben, denn das Element des gemeinsamen Laufens verbindet zugleich verschiedene dramaturgische Elemente: Während der drei Tages-Exkursionen, zu denen Teilnehmende und ›Darstellende‹ aus dem mittelenglischen Dorf Settle gemeinsam als Gruppe aufbrechen, finden über das gesamte Stück verteilt vielfältige tänzerische4, musikalische5 und lyrische6 Interventionen statt; es werden verschiedene wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Expert*innenenbeiträge7 eingeflochten, so dass die Arbeit insgesamt zwischen Tanzstück, partizipativem Theater, Lecture Performance und ›guided tour‹ changiert. Dabei können für das Stück Fissure grundsätzlich jene Merkmale geltend gemacht werden, die Khalid Amine ortsspezifischen Performances zuschreibt: Site-specific performance, […] is strongly associated with environmental art, including environmental theatre that is free from the confines of the proscenium tradition. The age-old division between stage/auditorium is disrupted through its tendency to transform non-theatrical spaces inside out to make theatre.8 3 | Zitiert aus dem per Email an die Teilnehmenden versendeten Fragebogen des Veranstalters. 4 | Die Choreographien stammen von Nigel Stewart. Als Tänzer*innen sind im Programmheft verzeichnet: Fania Grigoriou, Jennifer Essex, Julia Griffin, Luisa Lazzaro, Noora Kela, Sonja Perreten. Artevents (Hg.): Fissure by Louise Ann Wilson. Programmheft. 2011. S. Ohne Seitenangabe [S.12]. 5 | Die Komponistin der Musikstücke ist Jocelyn Pook. Als Musiker*innen beteiligt sind: Alice Grant, Martina Schwarz, Mikhail Karikis, Olivia Chaney, Sally Davies, Vivien Ellis. Sowie im Chor: Alisun Pawley, Jeff Wallcook, Cara Curran, Sarah Wallcock. Ebd. 6 | Die vorgetragenen Gedichte und Texte stammen von der Schriftstellerin Elizabeth Burns. Ebd. 7 | Als Expert*innen weist das Programmheft folgende Personen und Fachbereiche aus: Professor Michael Brada (Neuro-Onkologe), Andrew McEvoy (Hirnchirurg), Dr Chris Clark (Neuro-Physiker und Experte für bildgebende Verfahren), Dr. Mike Kelly (Geologe), Colin Newlands (Naturschutz Experte), Duncan Morrison (Höhlenexperte). Ebd. 8 | Amine, Khalid: »Site-specific art in Arabo-Islamic contexts«, in: Amine, Khalid und Roberson, George F. (Hg.): Site-Specific Performance in Arabo-Islamic Contexts, Tétouan: Faculty of Letters and Humanities, 2011. S. 21-32. Hier: S. 21.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Das Format der performativen Wanderung rückt mit vielfältigen künstlerischen Mitteln immer wieder die markante, hügelige Landschaft Mittelenglands ins Zentrum, in denen die Regisseurin Louise Ann Wilson gemeinsam mit ihrer Schwester Denise aufgewachsen ist. Der frühe Tod der Schwester, die im Alter von neunundzwanzig Jahren an einem Gehirntumor gestorben ist, stellt den thematischen Ausgangspunkt des Stückes dar: »The splitting I felt when separated from her through death led me to look for places where the land is fissured: caves, limestone pavements, scars and shattered rocks« schreibt Regisseurin Wilson im Programmheft und betont: »I began to think about making a piece which might transform my complex feelings of loss and loneliness into a work of art that resonates with others.«9 Der Titel des Stückes, Fissure, bildet in dieser Hinsicht eine thematische Brücke zwischen der persönlichen Verlusterfahrung und der Umgebung: Die Yorkshire Dales, mit den für sie typischen zerklüfteten Kalk-Sandstein-Formationen, weisen unterschiedliche Formen von geologischen Riss-Figuren auf, sogenannte ›Fissures‹, die als ästhetisches Element sowohl in die Gesamt-Dramaturgie als auch in diverse tänzerische Choreographien mit einbezogen werden. Demgegenüber deutet die Verwendung des Singulars im Titel, Fissure, verstärkt auf die persönliche, aus dem tödlichen Krankheitsverlauf resultierende Abschieds- und Verlustgeschichte. Die Regisseurin Wilson, die an der performativen Wanderung ebenfalls persönlich teilnimmt, geht so gemeinsam mit dem Publikum gewissermaßen einer fundamentalen Frage Elaine Scarys nach, nämlich ob und wie individuelle Erfahrungen des Schmerzes, wie durch Krankheit und Verlust eines geliebten Menschen verursacht, grundsätzlich teil- und mitteilbar sind und inwieweit diese eine gemeinschaftsbildende Funktion haben können.10 Die performative Wanderung wird, besonders aufgrund der Einmaligkeit ihrer Auf- bzw. Durchführung, zu einem kollektiven, verbindenden Ereignis, bei dem mit diversen dramaturgischen und künstlerischen Mitteln auch bei den Teilnehmern deren persönliche, jeweils singuläre und darin zugleich verbindende Verlusterfahrungen wachgerufen werden. Zugleich wird im Verlauf des Stückes in sehr existentieller Weise die Frage nach den Verbindungen zwischen Mensch und Landschaft gestellt: Begreifen wir uns als Wandernde (aber auch als Tanzende, Wissenschaftler*innen, Lyriker*innen und Musizierende) selbst als einen Teil der Landschaft? Wie bewegen wir uns in und mit ihr? Wie verändern wir die Landschaft und wie wirkt diese auf unsere Tätigkeiten und unser Leben zurück?

9 | Vgl. Fissure. Artevents (Hg.): Fissure Programmheft. S. Ohne Seitenangabe [S.4]. 10 | Vgl. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz: die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt am Main: Fischer, 1992.

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Auftakt: Steinbruch Der erste Tag der performativen Wanderung beginnt am späteren, etwas kühlen Sommernachmittag des 20. Mai 2011 in einem ehemaligen Steinbruch, dessen herausgeschlagene Steine um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Bau der nahegelegenen Settle-Carlisle Eisenbahnstrecke verwendet wurden. Die dabei entstandene Bahnlinie ist nach wie vor in Gebrauch und hat auch die beteiligten Künstler*innen, Organisierende und uns, das Publikum, gemeinsam bis zur Station Ribblehead ganz in die Nähe des Steinbruchs gebracht. Bereits während der Bahnfahrt eröffnen vorgetragene Lieder, begleitet von Akkordeon und Geige, das doppelte thematische Feld des Stücks: das Verhältnis der Schwestern wird zunächst als »two halves of a whole« besungen, etwas später klingt dann bereits die still einsetzende Krankheitsgeschichte an. Zugleich weisen die Texte auf die menschengemachten ›Wunden‹ in der steinigen Landschaft hin: Der damals durch den industriellen Abbau entstandene riesige Krater in der Landschaft ist als solcher weit- und weiterhin sichtbar. Inzwischen wurde dieser jedoch teilweise von der Natur wieder zurückerobert: In der Ferne hört man einen kleinen Bach plätschern, hier wächst Gras, Moos, dort Farn und ein paar Birken. Als wir Teilnehmer uns langsam von der Bahnstation dem karg bewachsenen Krater nähern, entdecken wir darin und in einiger Entfernung an dessen Rändern nach und nach einige Tänzer*innen, einzeln oder paarweise, die mit ausladenden Armbewegungen große Kreise durch die Luft ziehen. Die Tanzenden, die sich um uns herum verstreut in die Landschaft schmiegen oder sich mit ausladenden Gesten Richtung Himmel strecken, öffnen mit ihren Bewegungen den Blick für die Weiten der Fläche, aber auch, mit delikateren Bewegungen, für einzelne, konkrete Details der steinigen Umgebung, in der, immer noch etwas spärlich, vereinzelte Pflanzen und Gräser wachsen. Die Teilnehmenden wandern in der späten Abendsonne entlang der Abbruchkante des Steinbruchs und werfen lange Schatten in die riesige, menschengemachte Aushebung. Unten in der Tiefebene des Steinbruchs haben weitere Akteure ein langes rotes Seil zu einer riesigen Spirale ausgelegt, welche die große spiralförmige Raumbewegung des Publikums vor- bzw. nachzeichnet, in der wir uns zuerst um den Krater herum und dann in die tiefer gelegene Ebene des Steinbruchs hinabbegeben. Das rote Seil taucht auch an den Folgetagen als Motiv in unterschiedlichen Formen und Konfigurationen immer wieder auf und bildet so im wörtlichen wie übertragen Sinne, einen ›roter Faden‹11 des Stücks: wir finden es 11 | Der sprichwörtliche »rote Faden« ist ein Sprachbild, das auf Goethes Wahlverwandschaft zurückgeht: »Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, daß ein roter Faden durch das

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Abb. 41 | Fissure (2011). Schattenwurf der Teilnehmenden im Ribblehead Steinbruch.

Abb. 42 | Fissure (2011). Tänzer*innen breiten ein rotes Seil im tiefergelegenen T eil des Steinbruchs zu einer Spirale aus.

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beispielsweise um Bäume und Steine gebunden wieder, oder in Form einer roten ›Guideline‹ an der sich die Tänzer*innen in Höhlen entlang bewegen werden, oder auch in Felsspalten gestopft, als weithin sichtbare Markierung von Rissen im Gestein. Desweiteren greift ein vorgetragener Text von Elizabeth Burns die Figur des Fadens motivisch wieder auf: Take this thread This thread will lead you through the darkness to a place where there is only rock and water no grass – no sky no trees – no stars no moon – no sun only rock and water This thread will disappear inside the earth the way a river disappears in limestone This thread will travel where you cannot follow only rock and water no grass – no sky no trees – no stars no moon – no sun only rock and water.12

Entlang der Figur des ›Fadens als Leitlinie‹ beschreibt das Gedicht eine steinige Landschaft: Es kommentiert so die einerseits die karge Umgebung des Steinbruchs, wirft andererseits bereits einen Blick voraus auf die kommende Höhlenbegehung und eröffnet zugleich die Metapher einer einsamen ›Seelen-Landschaft‹, welche die Verlusterfahrung Trauernder widerspiegelt. Der rote Faden wird so, wie die Figur des Risses auch, zu einem Leitmotiv, das immer wieder in unterschiedlichen

Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, daß sie der Krone gehören.« Goethe, Johann Wolfgang von: »Die Wahlverwandschaften«, in: Bertram, Mathias und Schmidt, Thomas (Hg.): Johann Wolfgang Goethe – Werke (Digitale Bibliothek 4), Zugriff unter: http://ts-medien.ub.fu-berlin.de am 16. Juni 2017. Hier: S. 6945. 12 | Das Gedicht von Elizabeth Burns findet sich auf der Webseite der Kompagnie unter https://louiseannwilson.com/projects/fissure. Zuletzt besucht am 19. September 2018.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Abb. 40 | Fissure (2011). Tänzerin in der Umgebung des Steinbruchs.

Gestalten auftaucht und verschiedene Stationen, Motive und Ebenen des Stückes durchzieht und miteinander verbindet.

»How the line became straight« (Tim Ingold) Bereits hier am Anfang, im Steinbruch, wird deutlich, dass diverse Formen von Linien und ›Leitfäden‹ sowie deren unterschiedlichen Verläufe eine zentrale Rolle in Fissure spielen. So bildet beispielsweise die sanft gebogene Form des im Steinbruch spiralförmig ausgelegten roten Seils einen deutlichen wahrnehmbaren Kontrast zur markanten Gradlinigkeit der Eisenbahnstrecke, wie sie insbesondere vom nahegelegenen Ribblehead-Viadukt eindrucksvoll ›verkörpert‹ wird, welches imposant auf dem Weg von der Bahnstation zum Steinbruch in der Ferne zu sehen war: Diese auffällige Erscheinung von Gradlinigkeit als ein markanter ›Einschnitt‹ in der Landschaft erinnert, wie auch der Steinbruch selbst, an die Zeit ihrer Entstehung, der Industrialisierung, und erscheint als weithin sichtbares Symbol einer an technischen Fortschrittsglauben geknüpften Epoche. Die demonstrative Gradlinigkeit des Viadukts steht im signifikanten Kontrast zu diversen anderen Linienverläufen, die uns im Stück begegnen: beispielsweise den organischen DryStone-Walls, Mauern aus aufeinandergelegten Steinen, die völlig ohne Mörtel oft über Jahrzehnte und Jahrhunderte stehenbleiben, aber auch zum unregelmäßigen, zickzack-förmigen Verlauf der titelgebenden Fissures, sowie zur bevorstehenden

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Abb. 43 | Ribblehead Viadukt gesehen von der Low Sleights Road. Blick in

Richtung Nord-Nordwest. Wanderung selbst, deren gewundene Pfade sich organisch den landschaftlichen Gegebenheiten ›anschmiegen‹. Die Wanderung stellt so zugleich ein zentrales dramaturgisches Mittel des Stückes dar, welches, teilweise mit großem theatralen Effekt, immer wieder neue, unvorhersehbare Ansichten enthüllt. Angereichert mit vielfältigen persönlichen und medizinischen Informationen und künstlerischen Fragmenten, wird diese zugleich zum Sinnbild einer Biographie als Lebens- und Leidensgeschichte, die von Unvorhersehbarkeiten wie einer Gehirntumor-Diagnose aus der sprichwörtlichen ›geraden Bahn‹ geraten ist. Die konzeptuelle Unterscheidung zwischen graden, krummen oder gezackten Linienverläufen steht auch im Fokus einer Untersuchung des britischen Anthropologen Tim Ingold, die für dieses Kapitel eine wichtige theoretische Grundlage bildet. Für Ingold, der unterschiedliche Formen von Linienbildungen aus verschiedenen Kulturpraktiken ableitet, lautet die historisch fokussierte Leitfrage: »When did the line become straight?« Seine Theorie unterschiedlicher Linienverläufe erweist sich dabei als umfassende Kritik einer Kultur der Gradlinigkeit, fast schon als ideologisches Programm – insbesondere im Kontext eines ›westlichen‹ Konzepts der Moderne, welches weiterhin unkritisch Ziele der Aufklärung zur Prämisse macht. Ingold führt aus: In Western societies, straight lines are ubiquitous. We see them everywhere, even when they do not really exist. lndeed the straight line has emerged as a

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson) virtual icon of modernity, an index of the triumph of rational purposeful design over the vicissitudes of the natural world.13

Die gerade Linie als vermeintliche Errungenschaft der aufgeklärten, westlichen Moderne, steht für Ingold dabei in direkter Verbindung mit kolonialistischen Hegemoniebestrebungen,14 wie dies auch in der Sprachverwandtschaft der englischen Worte »rule« und »ruler« deutlich wird, d.h. dem etymologischen Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und dem Instrument des Lineals: »A ruler is a sovereign who controls and governs a territory. It is also an instrument for drawing straight lines«.15 Die von Ingold problematisierte Maxime einer Gradlinigkeit, die sowohl zum moralischen Impetus der Aufklärung gehört, als auch in Verbindung zur heteronormativen Setzungen steht (›straight‹ versus ›queer‹), kaschiert sich als Erscheinung dabei in der Regel selbst – und weist damit, wie hinzuzufügen wäre, signifikante Parallelen zum Prinzip des Schnittes auf.16 Die Gradlinigkeit macht sich als Struktur und ideologisches Programm selbst quasi unsichtbar: lt seems as though the quality of straightness has become fundamental to the recognition of lines as lines, not just in the specialized field of mathematics but much more widely.17

13 | Ingold, Tim: Lines: a brief history. London [u.a.]: Routledge, 2008. S. 167. 14 | Als historisches Beispiel für diesen Zusammenhang kann die sog. Berliner »Kongokonferenz« oder »Westafrika-Konferenz« von 1884 gelten, deren Beschlüsse eine Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten zufolge hatte. Die Grenzen dieser kontinentalen Einteilungen, weisen eine markante Gradlinigkeit auf, die wirken, als wären sie ›mit Lineal gezogen‹. Die Auswirkungen dieser Grenzziehungen, erweisen sich bis heute als gravierend. Andreas Eckert schreibt: »Das vielfach in der Literatur bemühte Bild, Afrika sei auf dieser Konferenz wie ein Geburtstagskuchen verteilt worden, trifft nicht zu«, fügt dann aber hinzu: »Die von den europäischen Kolonialherren vorgenommenen Grenzziehungen nahmen vielerorts keine Rücksicht auf historische gewachsene Gegebenheiten. […] Diese Form der willkürlich gezogenen Grenzen wird bis heute nicht selten als eines der Grundübel in Afrika angesehen. […] Die neuen Grenzen verteilten Großfamilien auf unterschiedliche europäische Verwaltungs- und Sprachgebiete, unterbrachen aber auch Handelsrouten, die Bevölkerungszentren verbunden und den Austausch etwa von Nahrungsmitteln in benachbarten ökologischen Zonen ermöglicht hatte.« Eckert, Andreas: Kolonialismus. Frankfurt am Main: Fischer, 2015. S. 64ff. 15 | Ingold: Lines: a brief history. S. 160. 16 | Vgl. den Abschnitt »Abgrenzungen vom Schnitt« im vorliegenden Band, S. 43ff. 17 | Ingold: Lines: a brief history. S. 152.

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Dass die Bildung von generischen Kategorien als solchen ebenfalls eng mit dem Programm einer gradlinigen, ›sauberen‹ Differenzierung geknüpft ist, verdeutlicht Ingold im Kontrast zu verschiedenen Körperpraktiken, wie jenen des Malens, Singens, Sprechens und nicht zuletzt des Gehens sowie ihren jeweils eigenen Epistemologien: [T]hinking straight‹ comes to be regarded as characteristic of literate science as against oral tradition. Moreover, since the straight line can be specified by numerical values, it becomes an index of quantitative rather than qualitative knowledge.18

Gegenüber dieser normativen Bevorzugung von quantifizierbaren Schriftformen strebt Ingold an, (Körper-)Praktiken, die ihm zufolge eher in Verbindung mit organischen, krummen, gebogenen Linien stehen, in ihrer epistemischen Bedeutung hervorzuheben und als alternative Formen der Erkenntnisgewinnung aufzuwerten. Wiederkehrendes Leitmotiv ist für ihn dabei eine organische Bewegungsform, die er »wayfaring« nennt, welches sich als eine spezifische Form des Wanderns übersetzen lässt. Das Konzept von wayfaring, welches sich fundamental von zielgerichteten Punkt-zu-Punkt-Bewegungen19 unterscheidet, verknüpft Bewegung eng mit körperlicher Erfahrung als Form des bewussten TätigSeins. »Wayfaring« wird nach Ingold dabei zum Ausgangspunkt einer dezidierten Bewegungsontologie: »The wayfarer is continually on the move. More strictly, he is his movement.«20 Ingold zufolge unterscheidet diese Form des Wayfaring bzw. Pfadfolgens wesentlich vom kartenbasierten, aus dem militärischen Ursprung hervorgegangenen »Navigieren«: This distinction between trail-following or wayfaring and pre-planned navigation is of critical significance. In brief, the navigator has before him a complete representation of the territory, in the form of a cartographic map, upon which 18 | Ebd. S. 153. 19 | Die Affinität dieses Bewegungsverständnis zur Theorie Henri Bergsons, auf die sich Ingold wiederholt bezieht, ist augenscheinig. Henri Bergson kritisiert insbesondere eine Vorstellung von Bewegung als räumliche Punkt-zu-PunktBewegung, die fernab von den organischen Linien gelebter Vitalität gedacht wird »Handelt es sich um Bewegung, so behält die Intelligenz davon nur eine Reihe von Positionen zurück: einen zuerst erreichten Punkt, einen weiteren und dann noch einen weiteren. Wenn man dem Verstand entgegenhält, daß zwischen diesen Punkten etwas vor sich geht, so schiebt er schnell neue Positionen dazwischen und immer so weiter, bis ins Unendliche. Von dem eigentlichen Übergang von Punkt zu Punkt wendet er seinen Blick ab.« Bergson, Henri: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: 1948. S. 25. 20 | Ingold: Lines: a brief history. S. 75.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson) he can plot a course even before setting out. The journey is then no more than an explication of the plot.21

Wie hieraus deutlich wird, steht gegenüber dem kartenbasierten Navigieren beim Wayfaring sowohl eine gemeinschaftliche, wie erfahrungsbasierte Praxis des Gehens im Vordergrund: »In wayfaring, by contrast, one follows a path that one has previously travelled in the company of others, or in their footsteps, reconstructing the itinerary as one goes along.«22 Das Wandern auf existierenden Pfaden, insbesondere sogenannten ›Trampelpfaden‹, ist somit gekennzeichnet von einem organischen, an die Landschaft angepassten Verlauf, welches zugleich auf den über lange Zeiträume erworbenen Erfahrungen zumeist unbekannter Vorgänger*innen aufbaut. Auch im Stück Fissure, wird, wie bereits deutlich wurde, eine vergleichbare Form der organischen Fortbewegung zum zentralen Modus, ein Eingebettet-Sein in die Landschaft in und durch Bewegung, welches zudem Bewegungen des Wanderns und Bewegungen des Tanzens in und mit der Umgebung in einen intensiven Dialog bringt. Die Mountain-Guides und Höhlenexperten ermöglichen eine erfahrungsgeleitete Bewegung durch das Gelände, indem sie die anderen Teilnehmenden an ihren vielfältigen Kenntnissen der Umgebung teilhaben lassen, was z.B. Bodeneigenschaften, Gesteinsformationen, aber auch Wind- und Wolkenbewegungen als Indikatoren von Veränderungen der WetterBedingungen usw. betrifft. Eine solche Form der Weitergabe von- und Teilhabe an Wissen von- und in Bewegung, stellt einen grundsätzlich anderen Zugang dar, als die abstrahierende Navigation mit Umgebungskarten oder technischen Hilfsmitteln wie GPS. In den Vordergrund tritt hier eine erfahrungsgeleitete Praxis des Gehens und Wanderns als Form eines angeeigneten und angewandten Körper- bzw. Landschaftswissens sowie dessen Weitergabe und Akte der Teilhabe. Im Kontrast zu einem Ideal zielgerichteter Punkt-zu-Punkt Bewegung, welche die Landschaft gradlinig ›zerschneidet‹ und primär in Gestalt abstrakter Linien (z.B. auf Karten) existiert, spiegelt eine an die Landschaft angepasste, von vielen, teilweise situationsbedingten Richtungswechseln geprägte, teilweise zickzackförmige Bewegung dabei auch die typische Verlaufsform von Rissen in und zwischen den Steinschichten wider, welche den Strukturen des durchlaufenen Materials organisch folgen.23 Die Performancetheoretikerin Roberta Mock unterscheidet in 21 | Ebd. S. 15f. 22 | Ebd. 23 | Bergson weist auf die Differenz zwischen starrer Linie und grundverschiedener Temporalität der Bewegung hin: »[D]ie Linie, die man mißt, ist unbeweglich, die Zeit dagegen ist Bewegung; die Linie ist etwas endgültig Fertiges die Zeit dagegen ist ist ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden.« Bergson, Henri; Kottje, Friedrich und Kottje, Leonore: Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: Westkulturverlag, 1948. S. 22.

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ähnlicher Weise (mit Blick auf de Certeau), zwei Typen ›performativen‹ Wissens: »[R]adical performance research should take account of ›local contexts‹ and transnational narratives, while travelling between two types of knowledge: official abstract ›maps‹ and personal embodied ›stories‹«.24 Körperbewegungen wie jene des Gehens werden so auf dem ›Umweg‹ der gemeinschaftlichen performativen Wanderung und der sie begleitenden Diskurse ›schrittweise‹ als Formen eines (mit-)geteilten Körper-Wissens hervorgebracht und sukzessive theoretisch bzw. ästhetisch aufgewertet.25 Während auf abstrahierende Karten eher eine Form des kognitiven Zugriffs erfolgt, speisen sich Formen des Körper- und Bewegungswissens zudem aus verkörperten ›Geschichten‹ und werden als solche geteilt und weitergegeben.

Fragen der Verwandlung: Eine konterkarierte Abendmahlszene Kehren wir zurück zum Ribblehead–Steinbruch: Am Ende der Spiralbewegung, welche uns Teilnehmende am ersten Abend des Stückes langsam in den Krater führt, finden wir einen gedeckten Tisch mit einem weißen Tischtuch vor, welches von dem bereits erwähnten roten Seil an Ort und Stelle gehalten wird und dieses vor dem Wegwehen schützt. Die aufgestellte lange weiße Tafel wirkt wie ein Fremdkörper im kargen Steinbruch, ein exteriorisiertes Interieur, das in seiner scheinbaren Fehlplatzierung den Gegensatz von Innen- und Außenraum aufruft und in Frage stellt. Zugleich ruft die spezifische Anordnung des Tisches mit weißem Tuch und Brot eine vage Erinnerung an die Szene des letzten Abendmahls Christi wach, insbesondere in ihrer ikonischen Darstellung durch Leonardo da Vinci – hier jedoch auf eine bemerkenswert verlassene, einsame Art und Weise. Bei genauerer Betrachtung entdecken die Teilnehmenden auf dem weißen Tischtuch Gegenstände und Fundstücke, die das Bild der Abendmahlszene teils bestätigen und teils konterkarieren: Neben dem Brot, findet sich dort ein Schneide­ messer, ein Schafsschädel, ein Hammer, desweiteren, jeweils mit einem Stein beschwert, ein Maßband, Federn und ein loses Stück roter Faden. Auf das darunterliegende Tischtuch sind, mit einem weiteren roten Faden, gekrümmte, zickzack verlaufende Linien gestickt, die u.a., ob zufällig oder intendiert, im direkten Vergleich eine gewisse Ähnlichkeit mit den durch Alterungsprozesse aufgeplatzten Farbrisse in Leonardo da Vincis Gemälde aufweisen. Die Funktion und Bedeutung der rissförmigen, roten Linien bleibt ungewiss: Die gestickten Linien auf dem Tischtuch erinnern vage an topographische 24 | Mock, Roberta: »It’s (not really) all about me, me, me«, in: Heddon, Deirdre; Lavery, Carl; Smith, Phil und Mock, Roberta (Hg.): Walking, writing and performance: autobiographical texts, Bristol: Intellect Books, 2009. S. 7-24. Hier: S. 15. 25 | Zu den Epistemologien des Gehens vgl. auch Fischer, Ralph: Walking artists: über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten. Bielefeld: transcript, 2011.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Abb. 44 | Fissure (2011). Tisch mit besticktem Tischtuch und Objekten im S teinbruch.

Abb. 45 | Das letzte Abendmahl, Detail (Leonardo da Vinci, 1495-1498).

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Linien einer Landkarte; es könnten Wege in der Umgebung sein, Flußverläufe, Höhenlinien, aber genausogut könnte es sich um unterschiedliche Regionen des Gehirns handeln26 – die klare Unterscheidung ist aufgrund der fehlenden Beschriftungen nicht möglich. In Ermangelung entsprechender Nomenklaturen, wäre eine solche ›Karte‹ für die ortsfremden Besucher der Performance mit ihren diffusen Linien zur Orientierung relativ unbrauchbar. Im Kontext der erwähnten Krankheits-, Vergessens- und Verlustgeschichte, könnten die gestickten Linien auf dem Tischtuch eher eine diffuse ›Erinnerungslandschaft‹ abbilden – Spuren all jener Orte und Namen, die bedingt durch den Gehirntumor, dem Gedächtnis nach und nach entfallen sind. Bei den Objekten auf dem Tisch scheint es sich neben den ›Werkzeugen‹ wie Hammer, Brotmesser und Maßband, um diverse Fundstücke zu handeln, welche auf ihre nicht-menschliche Herkunft verweisen: Ein Tierschädel (möglicherweise von einem Schaf stammend), Federn und Steine deuten auf ihre organische, teils animalische Ursprünge sowie die unterschiedlichen Formen ihrer Vergänglichkeit. Zugleich wirken die Objekte wie rituelle Erinnerungsstücke, welche die Geschichten ihres Fundes, möglicherweise bei vergangenen Wanderungen in sich tragen. Das Brot auf dem Tisch hingegen weist zurück auf die Szene des (biblischen) Abendmahls – es evoziert damit abermals Topoi des Teilens und der Bildung von Gemeinschaften, in diesem Fall auch die vielfältigen Bilder der Leidensgeschichte Christi und die mythischen Anfänge des Christentums. Vor dem Hintergrund der spezifischen Krankheitsgeschichte erhält das mit dem Brot aufgerufene assoziative Feld noch eine weitere Facette, denn aufgrund seiner äußeren Form erinnert das Brot in diesem Kontext optisch unweigerlich erneut an ein Gehirn  – das Messer wird in diesem Zusammenhang quasi zum chirurgischen Instrument, welche auf den operativen Eingriff hinweist. Wie die Teilnehmenden darüber hinaus erfahren, ist dieser konkrete Laib Brot durch und durch von Schimmel durchsetzt – ein Prozess substantieller Veränderung der Struktur des Brotes, der strukturell zu jenen Vorgängen eine gewisse Ähnlichkeit aufweist, die bei Gehirntumoren auftreten. Mit dieser Nähe der – im Deutschen sogar homophonen – Begriffe Laib/Leib, schließt sich gewissermaßen ein referentieller Kreis: die substantielle Verwandlung des Brotes weist auf ›Umwegen‹ auf das christliche Abendmahl und den Streit um das Dogma der ›Transsubstantiation‹27 (lat.: »Wesensverwandlung«) – einer 26 | Eine solche Karte des Gehirns wurde den Teilnehmenden im weiteren Verlauf als Handout ausghändigt. Vgl. Abb. 49: Gehirnabbildung mit verzeichneten Brodmann Arealen. 27 | Vgl. Böhme, Hartmut: »Transsubstantiation und symbolisches Mahl. Die Mysterien des Essens und die Naturphilosophie«, in: Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongreßdokumentation zum Projekt »Natur im Kopf« 1994. Zugriff unter: https:// www.hartmutboehme.de/media/Transsubstantiation.pdf am 19. Juli 2018. Vgl.

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fundamentalen christlichen ›Glaubensfrage‹ um das Wesen dieser Verwandlung: wird das Brot während der Abendmahlfeier symbolisch zum Leib Christi oder verwandelt es sich ›wirklich‹, wird zur ›Realpräsenz Christi‹, wie die katholische Kirche insistiert? Mit dem verschimmelnden und damit ungenießbaren Brot auf dem Tisch im Steinbruch konterkariert das Stück so die Szene des Abendmahls und kommentiert so den Streit um die wörtliche oder übertragene Auslegung der biblischen Schrift – auf eine konkrete, materielle Weise: Der Schimmel verwandelt das Brot, wie (und im symbolischen Sinne – in) ein von Tumoren befallenes Gehirn, macht es gleichzeitig ungenießbar und damit paradoxer Weise für das Teilen während eines Abendmahls unbrauchbar. Fissure verknüpft so Motive der Leidensgeschichte Christi mit Fragen einer persönlichen Krankheitsgeschichte und Verlusterfahrung und stellt der christlichen Gemeinschaft eine andere Form der Gemeinschaft entgegen, die in der Bewegung der performativen Wanderung im Entstehen begriffen ist.28

Zweiter Tag der Wanderung: Gegenseitige Hervorbringung von Landschaft und Choreographie Nach der Exkursion zum Ribblehead-Steinbruch am ersten Abend der performativen Wanderung und einer erholsamen Nacht in einem Bed-and-Breakfast im Mittelenglischen Dorf Settle, brechen wir, die Teilnehmenden, kurz nach dem Morgengrauen des nächsten Tages gemeinsam mit vielen der Beteiligten, u.a. mit der Regisseurin Louise Ann Wilson und dem Choreographen Nigel Kennedy, zu der angekündigten ganztägigen 12-Meilen Wanderung auf. Wie am Vortag, wird auch dieser anstrengende Marsch immer wieder von künstlerischen Aktionen begleitet oder unterbrochen: Musik, Gedichte, Kurzvorträge und tänzerische Interventionen schaffen Momente der erhöhten Aufmerksamkeit, der ästhetischen ›Verdichtung‹ und lenken die Wahrnehmung auf den Körper und dessen vielfältige Beziehungen zur Landschaft. ebenso: Johann Anselm, Steiger: »Transsubstantiation«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 2017. Zugriff unter: Brill Online http://referenceworks.brillonline. com/entries/religion-in-geschichte-und-gegenwart/transsubstantiation-SIM_125159 am 19. August 2018. 28 | Mit dem Verweis auf das christliche Abendmahl am ersten Tag, der strapaziösen Wanderung samt Höhlenbegehung am zweiten Tag (nebst abschließendem Kirchenbesuch) sowie der Bergbesteigung am dritten Tag, eröffnet Fissure einen dramaturgischen Boden, der andeutungsweise die Leidensgeschichte Christi, so wie sie im christlichen Glaubensbekenntnis erwähnt wird (insbesondere die Zeilen »gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel...«) als Struktur aufgreift.

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Ein Ausdruck der ästhetisch dichten Atmosphäre zeigt sich an stummen Übereinkunft der Teilnehmenden: Während am ersten Tag nach Gesangseinlagen oder Musikstücken noch ›gemeinschaftlich‹ geklatscht wurde, verständigen sich die Teilnehmenden am zweiten Tag ohne jegliche Worte darauf, nach künstlerischen Interventionen, wie Musik- und Tanzdarbietungen, nicht mehr zu applaudieren. Stattdessen lässt sich häufiger beobachten, wie die Teilnehmenden im Anschluss noch eine Weile dem Wind und den Klängen der Umgebung lauschen, bevor sie sich teils einzeln schweigend, teils ihre unterbrochenen Unterhaltungen wiederaufnehmend, auf den weiteren Weg Ihrer Wanderung machen. Die unausgesprochene Vereinbarung zwischen den Teilnehmenden ist dabei keineswegs Ausdruck einer geringen Wertschätzung der künstlerischen Beiträge, vielmehr fühlt es sich an, als werde die intensive Atmosphäre der Darbietungen, nun in die jeweils nächsten Abschnitte der Wanderung ›hineingetragen‹ – und vice versa. Die Lieder und Choreographien, die in unterschiedlicher Weise den Abschied vom geliebten Menschen thematisieren, klingen so beim Gehen noch still nach, die Schwellen zwischen Musik, Tanz und der Bewegung des Wanderns beginnen sich so sanft zu verschieben. Die mit Titel des Stückes angesprochenen »Fissures«, die Risse im Kalksandsein, spielen am zweiten Tag dramaturgisch eine immer größere Rolle. An einer Stelle, an der ein kleiner Bach aus einer risshaften Formation im Kalksandstein hervortritt, kommen nach und nach Tänzerinnen aus der Tiefe der Erde empor. Zuerst hören wir nur ihre Stimmen aus dem Untergrund, dann entsteigen sie in schwarzen Neoprenanzügen dem kalten Wasser. Diese ›eindringliche‹ Bewegung, sich mit dem Körper selbst tief in die Risse der Gesteinsformationen hinein zu begeben und wieder aus ihnen hervorzutreten, die Suche nach Bewegungsmöglichkeiten auf und in dem ungleichförmigen Untergrund und seinen aufklaffenden Öffnungen, werden zu bestimmenden Motiven der Choreographie. Der Einfluss des ungleichförmigen Untergrundes, aber zunehmend auch des Wetters, von Regen und Wind, sowie das in kleinen Bächen fließende Wasser verstärkt die Intensität der eigenen körperlichen Wahrnehmungen: In einem ›geteilten‹ Duett tanzt beispielsweise eine tropfnasse Tänzerin, die soeben dem Wasser eines aus einer unterirdischen Höhle hervorquellenden Baches entstiegen ist, neben einer Tänzerin in trockener Kleidung. Blicke und Aufmerksamkeit der Zuschauenden springen zwischen den beiden Tanzenden hin- und her. Trotz der Verwendung des gleichen choreographischen Materials ist die Wirkung von einer sicht- und spürbaren Differenz geprägt: Nicht nur beeinflusst die schwere, tropfnasse Kleidung einerseits deutlich die ansonsten synchronen Bewegungen, vor allem die Vorstellung, selbst nasse Kleidung an diesem kühlen, windigen Maitag zu tragen, verändert die Wahrnehmung der jeweiligen Choreographie signifikant. Vor dem thematischen Hintergrund des Stückes wirft die spür- und wahrnehmbare Differenz innerhalb des vermeintlich gleichen choreographischen

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Materials stumm das unterschiedliche Betroffen-Sein der zwei Schwestern von der Tumordiagnose auf. Die fast-synchrone und zugleich entscheidend differente Choreographie spiegelt die tiefe Widersprüchlichkeit des Themenkomplexes der Sterbebegleitung wider: als fundamentale Differenz zwischen Sterbenden und Begleitenden, als gemeinsame Bewegung hin auf ein bevorstehendes Lebensende, das beide einander annähert, aufgrund der Diagnose jedoch temporär trennt – und letztlich als Sterbliche doch prinzipiell wieder verbindet. Solche verbindend-trennenden Bewegungen, finden sich auf einer symbolischen Ebene auch zwischen den Darstellenden und Teilnehmenden, zwischen den Wandernden und Tanzenden wieder; sie prägen die gesamte dramaturgische Struktur der performativen Wanderung dieser drei Tage, entlang diverser Höhen und Tiefen. Betrachten wir eine solche ›Tiefen-Bewegung‹ noch etwas genauer: Gegen Ende der strapaziösen Wanderung des zweiten Tages findet eine Höhlenbegehung statt, bei der nicht nur die Tänzer*innen, sondern auch die übrigen Teilnehmenden, geleitet von einem Höhlenexperten, tief unter die Erde geführt werden. Die Ingleborough Caves sind ein weitläufiges System verbundener Höhlen mit riesigen, horizontal verlaufenden Rissen und durch Ausspülung entstandener Kluften innerhalb des Gesteins. An jenen Stellen, an die man sich nur mit gründlicher Vorbereitung und genauen speläologischen Kenntnissen begeben kann, führen die Tanzenden die Bewegungen des Publikums quasi noch weiter fort. Die Zuschauenden werden Zeug*innen, wie sie mit ihren Körpern tief in das Innere der Höhle vordringen, die Tanzenden agieren als Kletterer, Taucher und ›Höhlen-Forschende‹, die sich weiter in die Risse und Spalten vorwagen, bis sie schließlich tief im Erdinneren verschwinden; daraufhin kommen sie wieder hervor, teilweise einzeln oder sie finden sich zu annähernd-synchronen Formationen zusammen. Livemusik, wie das Geigenspiel einer Mitwirkenden öffnet an diesen ›ungastlichen‹ Orten, weitere akustische Dimensionen und verstärkt die Wirkung der spezifischen Räumlichkeit der Höhlen und der darin stattfindenden tänzerischen Bewegungen. Der ungleichförmige, von Rissen, Spalten und scharfen Kanten durchzogene Untergrund ist dabei immer wieder Mit- und Gegenspieler der Tanzenden, er bedingt die besondere Qualität ihrer vielfältigen Bewegungen, eröffnet und beschränkt deren Spielräume, so verhindert beispielsweise die Höhlendecke das Aufrichten der Tanzenden. Während sich die Risse im Gestein so den Bewegungen der der Choreographie einschreiben, verweisen andersherum die beschränkten Bewegungen auf die spezifischen Bedingungen der Umgebung: Der Tanz bringt die Umgebung hervor und diese bedingt die spezifische Form des Tanzes. Die Landschaft beeinflusst die tänzerische und nicht-tänzerische Bewegung, sie strukturiert die Dramaturgie von beidem, Tanz und Wanderung. Auch die Choreographie der Wandernden folgt den Fissures im Boden – ihre Bewegung folgt den Rändern der Risse, geht um die Gesteinsformationen herum

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Abb. 46 | Fissure (2011). Geigenspielerin und Tänzerin in den Tiefen der Ingleborough Caves.

oder folgt ihnen, wie im Falle der Caves, bis tief in den Untergrund. Sowohl in den Bewegungen des Tanzens als auch in der Choreographie des Wanderns wird deutlich, dass hier mit Formen von Bewegungen gearbeitet wird, die keineswegs ›oberflächlich‹ bleiben, sondern sich im Sinne des »wayfaring« selbst als elementaren Bestandteil der Landschaft betrachten: wir bewegen uns in und mit der Landschaft, durch diese hindurch, entlang ihrer vielfältigen organischen Linien, wie Tim Ingold unterstreicht: […W]hatever surfaces one encounters, whether of the ground, water, vegetation or buildings, are in the world, not of it. And woven into their very texture are the lines of growth and movement of its inhabitants. Every such line, in short, is a way through rather than across. And it is as their lines of movement, not as mobile, self-propelled entities, that beings are instantiated in the world.29

29 | Ingold: Being alive: essays on movement, knowledge and description. S. 71.

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Abb. 47 | Fissure (2011). Tänzerin bewegt sich gebückt in einer niedrigen Felsspalte der Ingleborough Caves.

Die Bewegungen des Tanzens und des Wanderns führen zu einem spezifischen In-der-Landschaft-Sein, sie machen die Körper und die Umgebung miteinander vertraut, sie bringen ein feingliederiges Wahrnehmungs-Gewebe hervor. Untergrund und Risse schreiben sich so gesehen in die Bewegungen der Körper des Publikums und der Tanzenden ein und vice versa – sie bringen sich gegenseitig in einer gemeinsamen Choreographie hervor. So entsteht aus den verschiedenen Bewegungen der Wanderung, des Tanzes, der spezifischen Wahrnehmung der Landschaft, den künstlerischen Interventionen, aber auch der persönlichen Krankheitsgeschichte, den christlichen Narrativen, den medizinischen und geologischen Diskursen nach und nach ein immer weiter überlappendes, sich engmaschig überschneidendes, vielschichtig verwobenes Gesamtgefüge. Die Elemente ergeben dabei keine homogene Melange, sondern bleiben ein nicht sauber trennbares »meshwork« (Ingold).30 Geprägt vom aktiven 30 | Ebd. S. 63ff. Monica Janowski formuliert diesbezüglich an anderer Stelle: »The implication of an approach to life which sees living entities not as inserted into the world, but rather as continually coming into being within it, is that the boundaries between entities are in some sense illusory; life is a continuous ›meshwork‹, in which materials are woven together.« Janowski, Monica: »Imagining the Forces of Life and the Cosmos in the Kelabit Highlands«, in: Janowski, Monica und Ingold, Tim (Hg.): Imagining landscapes past, present and future, Farnham, Surrey: Ashgate, 2012. S. 143-163. Hier: S. 157.

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Erleben der Umgebung einerseits und einer sich allmählich verschiebenden Vorstellung des (menschlichen) Körpers andererseits, werden in deren Verschränkung grundlegende, existentielle Fragen aufgeworfen: Wie bestimmen wir eigentlich die Differenz zwischen Körper und Landschaft? Was verbindet/unterscheidet Körper und Landschaft als solche?

Geteiltes Wissen in Bewegung Ausgehend von verwandten Terminologien und Praktiken verschränkt Wilson in ihrem gesamten Stück zunehmend unterschiedliche ›Fäden‹ medizinischer, biologischer und geologischer Diskurse und Betrachtungsweisen. So erfahren wir einerseits im Vortrag des Neuro-Onkologen Michael Brada, aber auch von dem Radiologen Chris Clark, einem Spezialisten für bildgebende Verfahren, immer weitere Details über das Wachstum von Gehirntumoren, über die medizinischen Darstellungsmöglichkeiten, aber auch über die charakterlichen Veränderungen von Betroffenen, ihr langsames Vergessen, die Frustration über die anfangs selbst wahrgenommenen Veränderungen am eigenen Körper und des eigenen Bewußtseins, die Funktionsweisen der verschiedenen Bestrahlungstherapien und ihre Auswirkungen auf das menschliche Immunsystem. Diesen medizinischen Betrachtungen werden im Verlauf ökologische Themen anheimgestellt, wie im Vortrag des Geologen Mike Kelley, welcher die Dynamiken landschaftlicher Veränderungsprozesse darlegt, insbesondere die Entstehung des umgebenden Kalksandsteins durch Sedimentierungsprozesse, aber auch jene der Höhlen und Rissformation als Langzeit-Spuren von ablaufendem Wasser. Nach und nach werden im Verlauf der Wanderung so Diskurse des Körpers und der Landschaft immer enger miteinander überkreuzt: den medizinischen Eingriffen in den menschlichen Organismus treten die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in Natur und Landschaft gegenüber. Es sind solche Fragen sich überschneidender Diskurse und Analogien zwischen Wissensformen, die im Vorfeld des Stückes auch Louise Ann Wilson bewegt haben, wie die Regisseurin betont: I discovered, in my conversations with the neurologists and neuro-scientists concerned with my sister’s care, striking analogies between geography and neurology […] just as the cartographer provides a caver or walker with maps and surveys of the land, so a neuro-imager provides a surgeon with cytoarchitectonic maps.31

31 | Artevents (Hg.): Fissure Programmheft. S. Ohne Seitenangabe [S.4].

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Auch in der Figur des Risses, des »Fissure« berühren sich anatomisch-medizinische und geologische Welten schließlich unmittelbar, wie im Programmheft ausgeführt wird: FISSURE The process of splitting or separating: division A separation into subgroups or faction: a schism Anatomy: A normal groove or furrow, as in the brain, that divides an organ into lobes or part A long, narrow crack or opening in the face of rock Longitudinal fissure: the long deep groove separating the two cerebral hemispheres of the brain. Also known as the interhemispheric fissure, or principle sulcus. 32

»Fissure« bezeichnet, wie wir hieraus erfahren, nicht nur die Risse in den KalkSandstein-Formationen, sondern auch die unterteilende Linie zwischen linker und rechter Gehirnhälfte, welche, in der Theorie der Lateralität des Gehirns, unterschiedliche Funktionen erfüllen.33 »Fissure«, eine Furche, ein Riss, bildet so nicht nur die Grenze zwischen den Gehirnhälften, die ihrerseits zwei verschiedene Zugriffe auf die uns umgebende(n) Welt(en) nehmen,34 es handelt sich zugleich um eine in sich spaltend-gespaltene Linie, geteilte/gedoppelte Figur, an der sich, auf der Metaebene, die wissenschaftlichen Diskurse vom Menschen und seiner Umwelt überschneiden und zugleich unterscheiden. Risse/fissures verlaufen 32 | Ebd. S. Ohne Seitenangabe [S.2]. 33 | Während die Vorstellung einer vollständigen funktionalen Trennung mittlerweile als überholt gilt, geht man davon aus, dass es unterschiedliche Herangehensweise der beiden Gehirnhälften sind, wie es Iain McGilchrist beschreibt. Vgl. McGilchrist, Iain: »Paying attention to the bipartite brain«, in: The Lancet, Nr. 9771, Heft 377, 2011. S. 1068-1069. Hier: S. 1068. S.a. McGilchrist, Iain: The master and his emissary: the divided brain and the making of the Western world. New Haven; London: Yale University Press, 2009. 34 | McGilchrist spricht bezogen auf die unterteilten Hirnfunktionen von unterschiedlichen »Welten«: »This means that the two hemispheres produce nothing less than two kinds of world. In the one, the world is present: we experience – the live, complex, embodied, world of individual, unique beings, forever in flux, a net of interdependencies, forming and reforming wholes, a world with which we are deeply connected. In the other the world is ›re-presented‹: we ›experience‹ our experience in a special way, rather like reading a map.« McGilchrist: »Bipartite brain«. S. 1068. Bemerkenswerterweise ist diese Beschreibung fast Deckungsgleich mit Ingolds Beschreibung der zwei grundsätzliche verschiedenen Fortbewegungsmethoden, der kartengeleiteten Punkt-zu-Punkt Bewegung einerseits und dem Wayfaring andererseits. Vgl. Fußnote 20 in diesem Kapitel.

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so gesehen konträr zu den gängigen diskursiven Trennlinien, bzw. betonen sie den unvorhersehbaren Verlauf ihren möglichen Unterscheidungen und verbindenden Bezüge unterschiedlicher Epistemologien. Rissfiguren durchbrechen in dieser Hinsicht die strikten Trennungen zwischen Epistemologien und teilen Wissensformierungen entlang anderer Linien neu ein. Die Verflechtungen und Kontaminationen zwischen den Topoi des Körpers und der Landschaft gelangen während der Wanderung an einer Stelle plötzlich zu einem überraschenden Kulminationspunkt: Schritt für Schritt trete ich auf die erhobenen Teile des Steins, mit aller Vorsicht, um mit dem Fuß nicht in die teilweise tiefen Scharten zu geraten. Kein Tanz, keine Musik, kein Vortrag wird an dieser Stelle dargeboten, es ist die besondere Steinformation selbst, mit ihren markanten Scharten, ihren Fissures, ihren Rissen, die hier meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die verschiedenen, gezeigten und evozierten Bilder des Gehirns klingen noch in meinem Kopf nach und verdichten sich plötzlich zu der unheimlichen und sich zugleich mit Vehemenz aufdrängenden Vorstellung, an Stelle von zerklüfteten Kalksandstein über ein riesiges Gehirn mit seinen charakteristischen Linien zu Schreiten. Die Landschaft vor mir, so scheint es, verwandelt sich in meinem Darüberschreiten zur organischen, grauen Masse eines Gehirns. Habe nur ich diesen Eindruck? Die verstreut wandernden Teilnehmer ziehen ruhig weiter durch die Landschaft. Ich zögere, spreche aber niemanden direkt auf diese eigenartige Wahrnehmung an. Zu meiner Notiz in den Fieldnotes, mache ich ein Foto – die anderen sind schon weitergegangen, ich will den Anschluss nicht verlieren. Es handelt sich um einen zutiefst irritierenden Moment einer irrationalen, körperlich erfahrbaren ›topologischen‹ Vertauschung: Körper und Landschaft scheinen für einen Moment ihre Orte und ihre Eigenschaften zu vertauschen. Das Gehirn, das unter der Schädeldecke verborgene, dem menschlichen Zugriff für gewöhnlich entzogene Organ,35 wird in dieser wahrgenommenen Vertauschung, so scheint es für einen Moment, plötzlich zugänglich, begehbar. An dieser Stelle wird ansatzweise deutlich, dass Risse, die Fissures im Kalksandstein durchaus jenen Furchen ähneln, wie sie auf dem Bild des Gehirns mit eingezeichneten der Brodmann Arealen zu sehen sind,36 das während der Wanderung den Teil35 | Vgl. Leder, Drew: The absent body. Chicago: University of Chicago Press, 1990. Siehe insbesondere das Kapitel zu »Brain and Depth Disappearance«, S. 112ff. Leder bezieht die Aspekte der Unantastbarkeit und Gefühllosigkeit des Gehirns als Organ im Wesentlichen aus einer Studie Warren Gormanns, vgl. Gorman, Warren: Body image and the image of the brain. St. Louis: Green, 1969. 36 | Diese Einteilung der Großhirnrinde in verschiedene Areale geht auf den den deutschen Neorologen Korbinian Brodmann zurück, vgl. Eintrag zu »Brodmann Arealen« in Reuter, Peter: Springer-Lexikon Medizin: die DVD. Berlin, Heidelberg,

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Abb. 48 | Risse im Kalksandstein der Yorkshire Dales.

Abb. 49 | Fissure (2011). Ausgehändigte Gehirnabbildung mit verzeichneten Brodmann Arealen.

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nehmenden ausgehändigt wurde und das selbst auffällige Ähnlichkeit mit einer Landkarte aufweist. Der Moment dieser irritierenden Vertauschung geht über eine visuelle, oberflächliche Ähnlichkeit hinaus, prägt sich tief ins Körpergedächtnis ein und wirkt lange intensiv nach. An diesem Punkt hat Wilsons Stück ihren vielleicht ›theatralsten‹ Moment ohne, dass hier im direkten Sinne Darstellende involviert wären. Der Moment der Ko-Präsenz betrifft mich und den Grund unter meinen Füßen, mit dem in ihm enthaltenen Rissen. Der Boden selbst verwandelt sich, aufgrund der spezifischen Rahmung, der vorherigen Geschichten und Expert*innenberichte, der gesamten Dramaturgie des bisher erlebten, der Untergrund transformiert sich scheinbar zu etwas Anderem, nimmt eine andere, körperlich-organhafte Gestalt an. Die Risse im Boden werden hier selbst zu einer Verwandlungs- und Schwellenfigur, sie verwandeln den Boden zu einer Bühne des anwesend-abwesenden Körpers. Wenn die Erde und die in ihr enthaltenen Risse vor den eigenen Füßen im Stück Fissure plötzlich als derart organhaft erscheinen, so nähert sich die Inszenierung Wilsons auf den Pfaden und Umwegen des Wanderns schrittweise den Deleuze’schen Theoremen: Die Frage ob der Riß seine Verkörperung, seine Verwirklichung im Körper in dieser oder anderer Form umgehen kann, ist offensichtlich nach allgemeinen Regeln nicht zu entscheiden. Der Riß bleibt ein Wort, solange nicht auch der Körper inbegriffen ist und solange die Leber und das Hirn, die Organe nicht jene Linien aufweisen, anhand deren man das Künftige weissagt und sie sich selbst prophezeien.37

Durch die mannigfaltigen Bewegungen, die tänzerischen und nicht-tänzerischen Bewegungen sowie durch die sich überschneidenden Vorträge und Interventionen, finden entlang der Figuren von Rissen sukzessive Verschiebungen des Grenzverlaufs zwischen den ›Topoi‹ Körper und Landschaft statt, die sich konventionellen, rationalen, Modellen einer ›sauberen‹ Kategoriebildung entziehen. Im Medium der Wanderung erwächst in der spezifischen Umgebung der Yorkshire Dales im Mai 2011, aus den sich vor den Füßen eröffnenden Rissen im Stein, im Übersie-Hinwegsteigen und in ihrer wörtlichen ›Überschreitung‹ so zunehmend das Gefühl, etwas Entscheidendes über unser Verhältnis zum Körper, zu unserer Umwelt und ihren tiefgreifenden Veränderungsprozessen zu erfahren, das reinmedizinischen, rein-geologischen Diskursen in ihrem Getrennt-Sein kategorisch entgeht. Um was für eine Art von Wissen könnte es sich hierbei handeln? New York: Springer, 2005. Ohne Seitenangabe. Sowie: Brodmann, Korbinian: Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde: in ihren Prinzipien dargestellt auf Grund des Zellenbaues. Leipzig: Barth, 1925. 37 | Deleuze: Logik des Sinns. S. 201.

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Diese irritierende Vertauschung, wie die sich aufdrängende Vorstellung, sich auf der Oberfläche eines Gehirns zu bewegen, weist somit eine auffällige Parallele zum Konzept des »organlosen Körpers« von Deleuze und Guattari auf, wie sie dies in Tausend Plateaus entfalten. Die Lektüre des Buches gleicht selbst einer Wanderung in einem schwer zugänglich, vielfältigen theoretischen Terrain von »Plateaus«, von »Mannigfaltigkeiten« und »Intensitäten«, die bis dahin in den ›Kartierungen‹ konventioneller Epistemologien nicht verortbar waren. Das Konzept des organlosen Körpers taucht an verschiedenen Stellen des Buches auf, hier soll kurz jene Passage zitiert werden, an welcher der ›organlose Körper‹ der literarischen Kunstfigur Professor Challenger des Autors Conan Doyle zugeschrieben wird. Professor Challenger hatte, wie Deleuze und Guattari in Erinnerung rufen, in einem der Romane Doyles die »Erde mit seiner Schmerzmaschine zum Schreien« gebracht.38 In einem Vortrag, der »verschiedene geologische und biologische Fachbücher miteinander vermengt« erklärt Professor Challenger, wie Deleuze und Guattari anmerken, daß die Erde – die Deterritorialisierte, die Eiszeitliche, das Riesenmolekül – ein organloser Körper ist. Dieser organlose Körper wird von unbeständigen und ungeformten Materien durchquert, von Strömungen in alle Richtungen, von freien Intensitäten oder nomadisierenden Singularitäten, von verrückten oder transitorischen Partikeln.39

Die Theorie, welche Doyles Kunstfigur Professor Challenger hier entwirft und die Deleuze und Guattari als weitere Ebene ihrer Milles Plateaus aufgreifen, nimmt mit der Vorstellung einer ›Schmerzmaschine‹ in bemerkenswerter die Ansätze vorweg, die derzeit unter dem ›Stichwort‹ des »Anthropozäns« geführt werden40: Die zugehörige Diskussion findet inzwischen seit nunmehr über zwei Jahrzehnten statt (angestoßen von dem Chemiker Paul Crutzen), und schlägt die

38 | Vgl. Doyle, Arthur Conan: When the world screamed, and other stories. London: Pan Books, 1979. 39 | Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve, 1992. S. 60. 40 | Vgl. hierzu Crutzen, Paul J.: »Geology of mankind«, in: Nature, Heft 415, 2002. S. 23. Hier: S. 23. Die Publikationen zum Anthropozän sind inzwischen schier unüberaschaubar. Beispielhaft sei auf die folgenden Publikationen hingewiesen: Angus, Ian: Facing the Anthropocene: Fossil Capitalism and the Crisis of the Earth System. s.l.: Monthly Review Press, 2016. Latour, Bruno: »Agency at the time of the Anthropocene«, in: New Literary History Heft 45, 2014. S. 1-18. Sowie weiterführend zum Anthropozän im Kontext von literarischen und kulturellen Überlegungen vgl.: Wilke, Sabine: Readings in the Anthropocene: The Environmental Humanities, German Studies, and Beyond. New York: Bloomsbury Academic & Professional, 2017.

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Einführung einer neuen Epochenbezeichnung vor, die dadurch gerechtfertigt ist, dass der Mensch die Natur global irreversibel verändert hat – insbesondere mit Blick auf den durch ihn verursachten Klimawandel. Die Menschheit ist demnach mittlerweile selbst zu einer unkontrolliert agierenden Urgewalt geworden. Mit Challenger gesprochen hieße das, dass die Menschheit den komplexen Organismus Erde nicht nur hat spüren lassen, dass sie auf ihrer Oberfläche existiert, sondern mit ihren Techniken und Apparaten bereits soweit in die Tiefe ihrer komplex verflochtenen Vorgänge eingedrungen ist, dass die Auswirkungen den Grad der Reversibilität überschritten haben. In dieser Hinsicht wirft Fissure durch die Verwebung der verschiedenen Diskurse die Frage auf, ob die Menschen und ihr Grenzen-überschreitendes, ungebremstes Wachstum inzwischen selbst quasi zu einem ›Tumor‹ auf der Oberfläche, der ›Haut‹ der Erde geworden sind? Es stellt sich weiterhin die Frage, welche Rückwirkungen sich aus den exponentiellen Wachstums-Dynamiken für die Ökosysteme, welche Konsequenzen für den Menschen selbst ergeben? Anstatt die im Rahmen des »Anthropozäns« geführten Diskussion um die Periodisierungen und Nomenklaturen von weltgeschichtlichen Epochen z.B. in Form von weiteren Vorträgen diskursiv aufzugreifen, macht Fissure die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur, die Interdependenz zweier komplexer Organismen als Form einer Kontamination zwischen den sonst getrennt gehaltenen Bereichen affektiv spürbar. Dabei wird die Frage von Sprache, ihrer Diskurse und ihren jeweiligen Terminologien mit den Figuren des Risses ins Leibliche gewendet, wie Gilles Deleuze es bereits antizipiert: Die performative Wanderung Fissure erhält in ihren vielfältigen Vernetzungen und Bewegungen selbst Qualitäten eines Theaters als ›Schmerzmaschine‹, welche die mannigfaltigen Beziehungen, Differenzen und Kontaminationen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Instanzen hervorbringt – wie dies auch der ›rote Faden‹ des Stückes immer wieder sichtbar macht. Fissure betont Aspekte des ›Teilens‹ im Sinne einer doppelten risshaften Bewegung, einerseits als trennendes, separierendes Spalten, sowohl innerhalb des Gesteins als auch bezogen auf eine Trennung durch den plötzlichen Tod und andererseits als gemeinschaft-stiftende Aspekte innerhalb einer Gruppe der Teilenden als einer Form des Mit-Teilens, und Teil-Habens.41 41 | Christoph Tholen versteht Jean-Luc Nancys Begriffe des Mit-Teilens und MitSeins als Gegenkonzepte zum absoluten Gemeinschaftsverständnis – stattdessen werde bei Nancy ein Gedanke des ›gemeinsamen Dazwischen‹ zentral: »[D]as gemeinsame Dazwischen geschieht vielmehr als Teilen und Mit-Teilen und entzieht sich jedweder Vorherbestimmtheit.« Tholen, Georg Christoph: »Mit-Teilbarkeit. Zur Philosophie des Ästhetischen und Politischen bei Jean-Luc Nancy«, 2016. Zugriff unter: http://gctholen.info/wp-content/uploads/2014/11/Tho_Nancy_Vortrag_Kiel_VS_2.pdf am 1. Juni 2018. S. 2. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Luce Irigaray, die Welt-Entwerfen im Sinne eines Welt-Teilens versteht und damit einen starken

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Risse, als Figuren verbindender Trennung, als teilende und in-sich geteilte Bewegungen werden somit weniger im Kontext von ökonomischen Fragen (des Hauses, des Eigentums, etc.) sondern zunehmend im Kontext ökologischer und kollektiver Zusammenhänge verortet. Im Rahmen einer solchen Sozio-Ökologie der Risse geht es somit um Veränderungen innerhalb der Wechsel-Beziehungen von Menschen sowohl untereinander als auch in ihrem Bezug auf die sie umgebende Landschaft und ihrer vielfältigen Elemente, Kräfte und Bewegungen.42 Damit werden kategorische Differenzbildungen entlang anderer, immer noch vergleichsweise unkonventioneller Linienführungen verortet, d.h. insbesondere entlang von (stets unvorhersehbaren) Rissen als Linien und Figuren trennender Verbindungen, als Figuren des Teilens und Mit-Teilens. In diesem Sinne stehen somit auch affektive Bezüge und Wechselwirkungen als Intraaktivität zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren43 zur Debatte. Solche Formen der Interaktion können einerseits im menschlichen Einfluss auf Geologie, Topographie, Klima gesehen werden, aber auch andersherum, in deren Auswirkungen auf menschliches Leben, dessen Entwicklung und Bewegungen, exemplifiziert durch wandernde und tanzende Körper. Durch die Berücksichtigung solcher Wechselwirkungen und Austauschprozesse, werden vermeintlich ›eindeutige‹ Trennlinien zwischen Kategorien des Körpers und der Landschaft und dualistische Gegensätzen wie die von Natur und Kultur kritisch in Frage gestellt und nach dem epistemologischen Potential einer sukzessiven Differenzverschiebung gefragt. Betrachten wir eine weitere kurze Szene: Eine Tänzerin bewegt sich auf einem riesigen Felsbrocken. Sie kundschaftet mit ihren Beinen, Armen, dem gesamten Unterleib eine im Stein enthaltene Spalte aus, sie bewegt sich am Rand und im Riss des Gesteins. Während sich die Tänzerin mit ihren Bewegungen so nach und nach in den Riss einfügt, fällt Akzent auf Alterität und (Geschlechter-)Differenz setzt: »In dem Moment, wo ich die Alterität des anderen als eine anerkenne, die nicht auf die meine und das, was mir eigen ist, zu reduzieren ist, wird Welt nicht auf eine einzige zu reduzieren sein: Es gibt immer zumindest zwei Welten.« Irigaray: Welt teilen. S. 8. 42 | Dieses erweiterte Verständnis des Sozialen folgt dem Verständnis Bruno Latours, demzufolge ein »anderer Begriff des Sozialen entwickelt werden [muß...]. Dieser Begriff muß sehr viel umfassender sein als das gewöhnlich unter dieser Bezeichnung Verstandene, doch gleichzeitig sollte er streng begrenzt bleiben auf das Verfolgen neuer Assoziationen und das Aufzeichnen ihrer Gefüge, ihrer Assemblagen«. Latour, Bruno und Roßler, Gustav: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. S. 19. 43 | Vgl. »Die Dynamik der Intraaktivität impliziert die Materie als einen aktiven ›Akteur‹ in ihrer fortlaufenden Materialisierung«. Barad: Agentieller Realismus: über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. S. 47f.

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der Blick Zuschauenden immer wieder auf Fetzen roter Wolle, die hier und da in andere schmale Spalten gestopft wurden. Auch die Wolle akzentuiert, wie die Bewegungen der Tänzerin, die Zwischenräume im Stein, macht diese weithin sichtbar, bildet eine organisch-anorganische Verbindung mit ihnen, untersucht ihre Spielräume. Zugleich weist sie mit ihren Körperbewegungen auch auf die unendlich langsamen Bewegungen der Risse im Stein selbst hin, die in ihren geologischen Dimensionen für den Menschen eigentlich ›unsichtbar‹ bleiben. Die Bewegungen der gemeinsamen Choreographie (zu denen hier die Bewegungen des Tanzes, des Wanderns und des Wetters zählen) öffnen die Wahrnehmung in Richtung dieser zeitlich extrem gedehnten Veränderungen und Bewegungen des Gesteins, der Erde, auch jenen geologischen Verwerfungen oder Faultlines44, die aufgrund ihres riesigen Dimensionen zugleich Schwellen der menschlichen Wahrnehmung bilden. Die Risse im Gestein weisen auf größere, übergeordnete geologische Raum- und Zeitdimensionen, auf das langsame Wirken von Wettereinflüssen und Klimaveränderungen (oder auch auf Verschiebungen der Kontinentalplatten). Die Dramaturgie der Wanderung sowie die Choreographie des Tanzes führen die Beteiligten behutsam in diese geologischen Zeit-Dimensionen ein, in die longue dureé (Fernand Braudel)45 dieser gemeinsamen und zugleich unterschiedlichen Formen und Formationen von Bewegungen: die Tänzer*innen begeben sich durch die Risse tief in das Innere der steinigen Landschaft hinein und lassen das Publikum daran spürbar Anteil haben. Risse als Figurationen im Gestein zeigen sich im und durch die performative Wanderung und den Tanz als materielle Öffnungen einer anderen, erdgeschichtlichen Dimension von Temporalität. Sie weisen dabei auf die vielfältigen Elemente der Konfiguration eines schwankenden, aktuell hochgradig gefährdeten Equilibriums von Spannungen und Gegenspannungen in den Schichtungen der Erde, die hier auch die Bewegungen des Tanzes bestimmen und bedingen. Dabei erzeugen die Rissfiguren in Kombination mit den tänzerischen Bewegungen, den künstlerischen Interventionen und den aufgeworfenen wissenschaftlichen Diskursen einen Shift in der Wahrnehmung, sie verschieben die kategoriale Unterscheidung zwischen Mensch und Landschaft, sie öffnen darin einen Spielraum für und durch Bewegung. Die wandernden, tanzenden Körper nähern sich der Landschaft an und paradoxerweise nähert sich 44 | Zur kulturellen Metapher der Faultlines vgl. Sas, Miryam: Fault lines. Cultural memory and Japanese surrealism. Stanford, Calif.: Stanford Univ. Press, 1999. 45 | Vgl. Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Zur Beziehung von Geschichte der Landschaft, Historisierung der Landschaft, sowie ihre Bezüge zur Literatur s. auch die interessante Arbeit von Király, Edit: Die Donau ist die Form. Strom-Diskurse in Texten und Bildern des 19. Jahrhunderts. Böhlau, 2017. Zugriff unter: http://www.doabooks.org/doab?func=fulltext&rid=22019 am 16. Februar 2018.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Abb. 50 | Fissure (2011). Eine Tänzerin erkundet mit Ihrem Körper den Bewegungsspielraum einer Felsspalte.

Abb. 51 | Fissure (2011). In Risse gestopfte rote Wolle.

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die Landschaft umgekehrt, wie beschrieben, zugleich dem Körper an. So gesehen stellen die Risse bei Fissure ebenfalls ambivalente Schwellenfiguren dar, die jedoch die Unterschiede und Differenzen zwischen Tanzenden und Wandernden betonen, gleichzeitig aber auch nivellieren, ohne diese zu egalisieren. Durch tänzerische und wandernde Explorationen wird gemeinsam die Möglichkeit einer körperlichen Verletzbarkeit in die Risse der steinigen Landschaft eingetragen. Dabei findet durch die Choreographie ein intensiver, teilweise beunruhigender Austausch statt: Im Sinne von Deleuze »organlosem Körper« erhält die umgebende Landschaft im Verlauf der gemeinsamen Choreographie organhafte Züge, zugleich wirkt ihre Organlosigkeit auf die Tanzenden und Wandernden zurück. Hier artikuliert sich eine Form von verbindend-trennender Risshaftigkeit auf einer übergeordneten Ebene: im Organhaft-Unorganischen, in der körperlichen Unkörperlichkeit der Landschaft, so wie sie durch die performative Wanderung hergestellt wird, deutet sich Figur des Posthumanen an, als potentielles Verschwinden des Menschen von dieser Erdoberfläche, d.h. Absenz sowohl menschlicher Individuen als auch der Menschheit in ihrer Gesamtheit. Die konkreten, greifbaren Rissfiguren im Gestein, die Fissures sind Öffnungen, die als trennende Verbindung zwischen Körper und Erde fungieren, als Figuren des organischen Wachstums und wachsenden Aufklaffens, welche vielfältige Fragen nach den Möglichkeiten des Austauschs, der Verletzung und möglicherweise der Selbst-Heilung komplexer Ökosysteme artikulieren, deren Bestandteil auch (noch) der Mensch ist. Durch die Risse im Gestein wird in Kombination mit der performativen Wanderung die (potentielle) menschliche Abwesenheit von der Erdoberfläche erahnbar.

Exkurs IV: Riss als Schmerz und Fuge: Ein einsames Abendmahl (Heideggers »Die Sprache«) Begeben wir uns an dieser Stelle auf einen letzten Exkurs, der das Motiv des Wanderns berührt und zugleich nocheinmal auf die eingangs beschriebene, einsame »Abendmahlszene« im Steinbruch zurückführt – und, ein letztes Mal, zurück zu Martin Heidegger und zu einem späten Wiederauftreten der Riss-Figur in seinem Werk. In dem Aufsatz »Die Sprache« (1950) interpretiert Heidegger das Gedicht »Ein Winterabend« von Georg Trakl, um daran zentrale Punkte seiner eigenen Sprachphilosophie festzumachen und die Sprache ›als solche‹, als »[r]ein Gesprochenes«46, wie es hier heißt, zu ergründen. Das kurze, drei-strophige Gedicht von Trakl47 beschreibt eine winterliche Abendszenerie, in der ein einsamer Wanderer, von 46 | Heidegger: »Die Sprache«. S. 14. 47 | Zu den zwei exisiterenden Fassungen vgl. die hist.-krit. Ausgabe: Trakl, Georg; Killy, Walther und Szklenar, Hans: Dichtungen und Briefe [historisch-kritische Ausgabe]. Band 1. Salzburg: Müller, 1987. S. 102. Sowie ebd. S. 383.

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dunklen Pfaden kommend, ein gastliches Haus betritt und einen mit Brot und Wein gedeckten Tisch vorfindet.48 Auffällig ist an dem Gedicht dessen deutliche Durchtränkung mit christlicher Symbolik, wie z.B. in Gestalt einer läutenden Abendglocke, eines leuchtenden Baumes der Gnaden aber vor allem des mit Brot und Wein gedeckten Tisches, welcher relativ unmissverständlich die Szene des christlichen Abendmahls in Erinnerung ruft. Heidegger interpretiert diese poetische Wendung ins Christliche entsprechend: »Aus den Häusern der Vielen und aus den Tischen ihrer alltäglichen Mahlzeiten ist das Gotteshaus und der Altartisch geworden.«49 Betrachtet man das Traklsche Gedichtet zunächst auf seiner diegetischen, wörtlichen Ebene, so fällt hier die Einsamkeit und Schweigsamkeit der Szene auf, die dem Gedicht einen beinahe unheimlichen Beigeschmack verleihen. Während der Tisch »für Viele« gedeckt sei, betritt der Wanderer einsam und schweigend das ihm fremde, leere Haus. Während Heidegger das Gedicht, durchaus nachvollziehbar, als eine Allegorie auf das Sterben versteht, oder wie er es formuliert, als eine »Wanderschaft zum Tode«50, scheinen ihn die näheren Umstände, das individuelle Schicksal der Vielen, die im Hause erwartet werden, in seiner Gedicht-Interpretation dennoch nur marginal zu interessieren. Die Szene des Winterabends soll vor allem der Erörterung seiner These dienen, dass es die Sprache ›an sich‹ sei, die spreche: »Die Sprache spricht. Dies heißt zugleich und zuvor: Die Sprache spricht. Die Sprache? Und nicht der Mensch?«51, fragt Heidegger am Anfang seines Textes rhetorisch und gelangt zu dem Fazit: »Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht.«52 Für Heidegger, dem es mit seiner Gedicht-Interpretation darum geht, eine Sprachphilosophie zu entfalten, die von ihrer Bindung an den Menschen abgekoppelt ist, bleibt so die Frage von gelebter (christlicher) Gemeinschaft, die bei Trakl von einer geradezu auffälligen Abwesenheit gekennzeichnet ist, nebensächlich. Der Wanderer in Trakls Gedicht, der im gastlichen Haus einkehrt und einsam verweilt, scheint sich in dieses sprachphilosophische Programm gehorsam schweigend und ohne Protest einzufügen. In dem Moment als der Wanderer das Haus betritt, ereignet sich jedoch ein eigenartiger Moment: das Gedicht führt eine bemerkenswerte sprachliche Wen48 | Zu einer umfassenden literaturwissenschaftlichen Analyse vgl. Gerber, Laura: »Das Gedicht als unvollkommene Sühne: Ein Winterabend von Georg Trakl«, in: Zillessen, Dietrich (Hg.): Religion, Politik, Kultur: Diskussionen im religionspädagogischen Kontext, Münster: LIT, 2001. S. 126-132. . 49 | Heidegger: »Die Sprache«. S. 16. 50 | Ebd. S. 20. 51 | Ebd. S. 17. 52 | Ebd. S. 30.

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dung ein, wenn es in der letzten Strophe poetisch heißt: »Schmerz versteinerte die Schwelle«.53 Eigenartig erscheint diese Stelle vor allem deshalb, weil es die Schwelle des Hauses ist, an welcher der Schmerz eine Wirksamkeit entfaltet und nicht, wie eher zu erwarten gewesen wäre, beim Wanderer, beispielweise weil sich dieser seiner Situation und Einsamkeit, möglicherweise auch seiner eigenen Sterblichkeit gewahr wird. Der so beschriebene Schmerz der Schwelle scheint, in ähnlicher Weise wie Heidegger es für die Sprache vorschwebt, quasi ›grundlegend‹ und latent von der Hemisphäre menschlicher Emotionalität abgekoppelt zu sein. Wie Heidegger zunächst bemerkt, ist dies die einzige Stelle des Gedichts, welche die Vergangenheitsform benutzt. Er folgert daraus, dass etwas temporal Abwesendes durch das Gedicht in »Wesendes« übergeht: »Im Gewese des Versteinerns west allererst die Schwelle.«54 Noch bemerkenswerter ist allerdings Heideggers weitere Auslegung der Passage. Wie selbstverständlich führt er in diesem Zusammenhang nämlich die Figur des Risses wieder ein. Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, weil im Gedicht Trakls selbst vom Riss keine Rede ist. Heidegger schreibt jedoch wie selbstverständlich: »Doch was ist Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß.«55 Es ist eine widersprüchliche Szene des Wohnens und gleichzeitig auffälliger Unbewohntheit, sowie eine Szene des Einkehrens und Eindringens, der Gastlichkeit und der hereinbrechenden Einsamkeit, in welcher Heidegger überraschend die Figur des Risses wiederentdeckt. Obgleich der Riss selbst ursprünglich nicht im Gedicht Trakls vorkommt, impliziert Heidegger, dass dieser darin doch bereits an dessen Schwelle ›west‹ – d.h. latent enthalten ist: im Dazwischen der Schwelle verweilt der Riss in einem Latenzzustand bzw. in einem Liminalitätsszenario – nicht ganz drinnen, nicht ganz draußen.56 Plötzlich und überraschend kehrt so das Motiv des Risses in diesem 1950 verfassten Aufsatz Heideggers, also vierzehn Jahre nach seiner ersten Erwähnung im »Ursprung«-Aufsatz wieder. Dazwischen liegen der zweite Weltkrieg und verheerende Holocaust, sein Rektorat an der Freiburger Universität, seine umstrittene Antrittsrede mit seinem Bekenntnis zum Nationalsozialismus,57 sein Rücktritt sowie sein eigenes Lehrverbot, welches bis zur Emeritierung 1951 andauerte – um hier nur ansatzweise den historischen bzw. biographischen Kontext wieder in Erinnerung zu rufen. Wenn Heidegger nun nach diesen Zeiten von 53 | Zit. nach ebd. S. 15. 54 | Ebd. S. 24. 55 | Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Stuttgart: Klett-Cotta, 2012. S. 24. 56 | In ähnlicher Weise stülpt Heidegger Trakls Gedicht das erweiterte Vokabular seines ontologischen Programms (Welt, Erde, Ding, Geviert, Unter-Schied, etc.) mit einer solchen Selbstverständlichkeit über, als wäre es darin bereits beheimatet. 57 | Vgl. Heidegger: »Selbstbehauptung«.

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Krieg, systematischer Verfolgung und millionenfacher Massen-Vernichtung nun über das Phänomen des Schmerzes schreibt: »Nur dürfen wir uns den Schmerz nicht anthropologisch als Empfindung vorstellen, die wehleidig macht«58 – klingt dies gelinde gesagt zynisch: Heideggers Aussage über den Schmerz (der für ihn ontologisch gesprochen ein Riss ist59) liest sich wie eine Art von strenger Selbst-Vorschrift oder einer Selbstimmunisierung gegenüber jeglicher Form von Empathie und Menschlichkeit. Heidegger verfehlt so in seinen Überlegungen zur Traklschen Figur des Wanderers und dem vorgefundenen Abendmahl die Gelegenheit, etwas Einfühlsames, Empathisches, Mit-Menschliches in dieser Szene zu entdecken. Dabei hätte Trakls Gedicht Heidegger durchaus Gelegenheit geboten, sich in die befremdliche Einsamkeit dieser auffallend menschenleeren Szenerie hineinzuversetzen – Heidegger hätte sich beispielsweise fragen können, was mit den »Vielen«, den ursprünglichen Bewohner*innen, den anderen Menschen, dem Rest der Gemeinschaft eigentlich passiert ist? Wohin und warum sind sie verschwunden? Teilen sie mit dem Wanderer ein gemeinsames Schicksal? Diese überaus ›menschlichen‹ Fragen ignorierend, wendet sich Heidegger jedoch explizit einem nicht-menschlichen, abstrakten Begriff von Schmerz zu. Zu Recht weist Martin Jörg Schäfer mit Blick auf Heideggers Trakl-Lektüre (unter Berücksichtigung Elisabeth Webers Arbeit Verfolgung und Trauma) darauf hin, dass sich trotz der Fokussierung auf den Topos des Schmerzes das Thema Leiblichkeit bei Heidegger hier weiterhin zwischen in einem Status zwischen Abwesenheit und Vergessen bewegt.60 Schäfer, der Heidegger mit Celan im Zeichen von Auschwitz liest (eine Lektüre mit und gegen Heidegger, wie er Habermas zitiert61), leitet zentrale Thesen des Heidegger’schen »Schmerzes zum Mitsein« von Celans Büchnerpreis-Rede ab:

58 | Heidegger: Unterwegs zur Sprache. S. 27. 59 | Ebd. S. 24. 60 | »Diese Ausschließung scheint zunächst die gängige Kritik an Heidegger als einem Denker zu bestätigen, für den – mit den Worten [Elisabeth] Webers – ›der Leib und damit die Begegnung mit Fleisch und Blut nicht zu exstieren scheint‹« (Weber, Elisabeth: Verfolgung und Trauma: zu Emmanuel Lévinas’ »Autrement qu’être ou au-delà de l’essence«. Wien: Passagen, 1990. S. 223. Zit. nach Schäfer: Schmerz zum Mitsein: zur Relektüre Celans und Heideggers durch Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy. S. 331). Schäfer bemerkt hierzu weiterführend: »Das Verhältnis von Sprache und Leib entspricht dem von Heidegger andernorts ausgearbeiteten Verhältnis zwischen Welt und Erde oder zwischen techné und physis«. Ebd. S. 332. 61 | Schäfer: Schmerz zum Mitsein: zur Relektüre Celans und Heideggers durch Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy. S. 25, Fußnote 68.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten Das Versagen der tradierten europäischen Symbolsysteme vor Auschwitz setze einen Schmerzaffekt frei, der – als Art ethischer Imperativ – eine bisher in den europäischen Kulturen unbekannte und uneingeholte Kommunikationsweise erfordere. Demnach verweist die schmerzhafte Vereinzelung des bindungslosen Daseins auf ein mögliches Mitsein mit Anderen, indem es den eigenen Schmerz gegenüber deren Vereinzelungsschmerz exponiert hat und so ein auf Mitsein ausgerichteter Schmerz geworden ist.62

In Heideggers Trakls Lektüre sei jedoch ebensowenig wie die sich aufdrängenden Fragen der Leiblichkeit nach Schäfer hier etwas von der naheliegenden Frage eines »Mit-Seins« zu spüren. Wenn wir ferner annehmen, dass Heidegger auch an dieser Stelle die Vorstellung von der Sprache als »Haus des Seins« aufrecht erhält, als Ort, in dem das ontologische Denken beheimatet ist, so ›verkörpert‹ sich im Bild von Trakls gastlichem Haus im »Winterabend« zugleich eine ›sprechend-stumme‹ Metapher für die un-menschliche Seite Heideggers Philosophie. Die versteinerte Schwelle, welche dem einsamen Wanderer unter Schmerzen Einlass gewährt, fügt sich dabei scheinbar nahtlos in Heideggers ontologisches Denken, ist doch die Figur des (einsamen) Wanderers ein weiteres wiederkehrendes Motiv im Vokabular von Heideggers Selbststilisierungen.63 Die Sprache Heideggers erscheint so gesehen vordergründig als vereinsamtes Haus, das durch seine versteinerte Schwelle frei von Formen der Empathie gegenüber anderen Menschen und damit frei von Mit-Sein und Mit-Gefühl gehalten wird. Die Figur des Risses ent-spricht und ent-springt64 jedoch abermals in gewisser Weise dieser sprachlichen Logik und erscheint darin als widersprüchliche Figur, die sich teilweise der empathischen Selbstimmunisierung (innerhalb von und durch Sprache) zu widersetzen scheint – die Figur des Risses bleibt eine widerständliche, unkontrollierbare, offene (und ›lebendige‹) Metapher, so sehr Heidegger auch versucht, diese, vermittels seines spezifischen Schmerzverständnisses zu ›verfugen‹: 62 | Ebd. S. 17. 63 | »Bleiben wir auch in den kommenden Tagen auf dem Weg als Wanderer in die Nachbarschaft des Seins. Die Frage, die Sie stellen, hilft, den Weg zu verdeutlichen.« Heidegger: »Frage nach der Technik«. S. 344. Vgl. auch das Vorwort zu Heideggers Holzwege: »Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege.
Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.« Heidegger und Herrmann: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 5. Holzwege. Ohne Seitenangabe 64 | Vgl. den Abschnitt »Entspringen des Risses aus der Latenz aus / in der Wiederholung« im vorliegenden Band, S. 143ff.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson) Der Schmerz reißt zwar auseinander, er scheidet, jedoch so, daß er zugleich alles auf sich zieht, in sich versammelt. Sein Reißen ist als das versammelnde Scheiden zugleich jenes Ziehen, das wie der Vorriß und Aufriß das im Schied Auseinandergehaltene zeichnet und fügt. Der Schmerz ist das Fügende im scheidendsammelnden Reißen. Der Schmerz ist die Fuge des Risses.65

Als Fuge des Risses kommt dem Schmerz so eine doppelte Funktion zu. Zum einen spielt Heidegger damit auf das Sich-Verbergende, das Unzugängliche an, welches Riss und Schmerz teilen; zum anderen kommt hier durch die Figur der Fuge auch das Motiv des Wiederkehrens ins Spiel. Schmerz und Riss, konfiguriert als Fuge, führen Heidegger so – innerhalb dieses transformatorischen Liminalitätsszenrios der Schwelle – zu einem erneuten Zugang zu einem Kerngedanken, der ontologischen Differenz, die hier in Gestalt der Figur des »Unter-Schieds« zum Ausdruck kommt: Der Schmerz ist die Fuge des Risses. Sie ist die Schwelle. Sie trägt das Zwischen aus, die Mitte der zwei in sie Geschiedenen. Der Schmerz fügt den Riß des Unter-Schiedes. Der Schmerz ist der Unter-Schied selber.66

Ohne es explizit zu formulieren, beschreibt Heidegger eine Art ›differentielle Identität‹ zwischen Schmerz, Riss, Unter-Schied und Fuge, sie fügen sich quasi in ihren Differenzen ineinander. Was Heidegger hierbei als Unter-Schied beschreibt, versteht sich jedoch keineswegs als Spur einer mannigfaltigen Pluralität von Differenzen, sondern wird im Gegenteil zu einem vereinheitlichenden Unterschied, einer Selbst-Differenz, die sich aus sich selbst heraus, aus ihrer Mitte bestätigt: Das Wort Unter-Schied wird jetzt dem gewöhnlichen und gewohnten Gebrauch entzogen. Was das Wort ›der Unter-Schied‹ jetzt nennt, ist nicht ein Gattungsbegriff für vielerlei Arten von Unterschieden. Der jetzt genannte Unter-Schied ist nur als dieser Eine. Er ist einzig.67

Der vereinheitlichende, zugleich einigende wie universalisierte Unterschied, den Heidegger hier als »Unter-Schied« beschreibt, birgt in dieser Form eine Differenz-Markierung in sich. Der Unter-Schied unterscheidet sich selbst von allen anderen Arten des Unterschieds, der Unterscheidung. In seiner eigen-artigen Weise, erscheint der Unter-Schied als fundamental abgekoppelt: Heideggers kennzeichnet diesen Unter-Schied dabei explizit als einen, der jegliche Form von

65 | Heidegger: »Die Sprache«. S. 24. 66 | Ebd. 67 | Ebd. S. 22.

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Bezogenheit, jegliche Form des Mit-Seins radikal negiert: »Der Unter-Schied ist weder Distinktion noch Relation.«68 Diese »sammelnde« und zugleich vereinheitlichende, gleichmachende Funktion des Unter-Schiedes schließt nach Heidegger auch die Figur des Risses in sich ein: »Der Unter-Schied versammelt aus sich die Zwei, indem er sie in den Riß ruft, der er selber ist.«69 Man könnte meinen, Heidegger versuche hier mit dieser Gleich-Schaltung von Riss und Unter-Schied, auch den Riss in sein ontologisches Programm einzufügen und sich dabei der unkontrollierbaren sprachlichen Eigenheit der Rissfigur, die immer wieder eine Öffnung am Übergang zu seiner spezifischen Vorstellung von Sprache erzeugt, einen Riss an der Schwelle seines Sprachgebäudes, zu entledigen – oder vielmehr, diesen zu ›domestizieren‹.70 Heideggers Lektüre des Traklschen Gedichts, seine ›Einfügung‹ der Riss-figur bleibt widersprüchlich, ambivalent. Deutlich wird aber, dass die Vorstellung von Sprache, zu der Heidegger durch die Figur des Risses gelangt – in seinen Worten ein »sterbliches Sprechen«– keine ist, die eine empathische Brücke zu Anderen eröffnet oder überhaupt eine grundsätzliche kommunikative Mitteilungsfunktion in sich birgt: »Das sterbliche Sprechen muß allem zuvor auf das Geheiß gehört haben, als welches die Stille des Unter-Schiedes Welt und Dinge in den Riß seiner Einfalt ruft.«71 Heideggers Vorstellung von Sprache hat, in ihrer latenten Abkopplung von Formen des Dialogischen, somit wenig Gemeinschaft-Stiftendes oder auch nur Menschliches; sie bleibt ganz bezogen auf sein einsames, ontologisches Differenzdenken. In den Differenzierungen, Schwellen und Grenzen, die Heideggers ›sprachliches Gebäude‹ auf ihre spezifische Weise beherbergen, scheint so, mit Trakl, eine schmerzende Trennung impliziert zu sein, eine Scheidung, die in ihrem Innersten, in der Verborgenheit ihrer Krypta zu einer tiefen Vereinsamung führt – fernab von Fragen der Nachbarschaft und eines möglichen Mit-Seins. Die Ähnlichkeit der Motive (des Wanderers, dem Risses) die sich in den beiden Abendmahlszenen bei Trakl/Heidegger und im Stück Fissure widerspiegelt, bringt gerade durch ihre fundamental differenten ›Grund-Annahmen‹ die materiellen und körperlichen Differenzen zum Vorschein. Heideggers Lektüre des Traklschen Gedichtes illustriert also keineswegs die Inszenierung Wilsons noch andersherum, vielmehr machen sich in ihrer Differenz (und ihrem differentiellen

68 | Ebd. S. 23. 69 | Ebd. S. 27. 70 | Es bleibt jedoch fraglich, ob ihm dies gelingt oder ob die metaphorische Bewegung nicht vielmehr, wie Derrida verdeutlicht hatte, von einem grundlegenden Entzug gegenüber einer solchen Vereinnahmung geprägt ist. Vgl. Derrida: »Der Entzug der Metapher«. 71 | Heidegger: »Die Sprache«. S. 29.

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Riss-Verständnis) signifikante Unterschiede sichtbar: Während Heidegger die Abendmahlszene und den Riss, mit Trakl, in ein Bild von einem einsamen Haus mit versteinerter Schwelle verortet, lässt Fissure jegliche Form einer solchen Häuslichkeit (und Haushaltszugehörigkeit) hinter sich und sucht Riss-Figuren mit und in den körperlichen Praktiken gemeinsamer, gemeinschaftlicher Bewegungen: des Wanderns, des Tanzens, des Trauerns. Während dem Heidegger’schen Riss als Unter-schied eine Form des Singulären zu eigen ist, bleibt das Riss-Verständnis Wilsons, trotz und wegen ihres Titels in der Einzahl, Fissure, in Kombination mit seinen multiplen Öffnungen vielfältiger Formen des Mit-Seins, singulär-plural.72 Dieses performative, ambivalente Verständnis in seiner verbindend-trennenden, empathischen Form unterscheidet sich wesentlich vom Riss-Denkens Heideggers: Diese performativen, von einem materiellen Verständnis und körperlichen Praxis begriffenen Riss-Figuren fungieren als Unterschiede, als Unterscheidungen, die in Bezug zu ihrer eigenen Gespaltenheit stehen, stets Relation und Distinktion zu anderen bildend, in einem dynamischen, sich potentiell wandelnden Verständnis. In Bezug auf das Verhältnis zu Schmerzen und Sterblichkeit bedeutet dies, dass die Betrachtung von Riss-Figuren als verbindende Differenzen gesehen werden, die stets auch ein Verhältnis zur Leiblichkeit und zu einem vielfältigen Mit-Sein des/der Anderen wahren. Während es bei Heidegger so scheint, als ginge es in Trakls Gedicht um den Tod als Tod ›an sich‹, der eine ›reine‹ Sprache hinterlässt, die nunmehr nur noch für sich selbst spricht, ist es demgegenüber bei Wilson ein Stück des eigenen Todes als erlebter Tod der Anderen, der Schwester, welcher einen Zugang zur eigenen Sterblichkeit eröffnet. Während Heideggers Trakl-Lektüre letztlich ein Szenario bleibt, dass an einer Vorstellung einer Reinheit der Sprache, des Gedichts festhält aber darin eine radikale Abgeschiedenheit und Einsamkeit offenbart, erscheint Wilsons ästhetischer Ansatz dem diametral entgegengesetzt: die gemeinsame Wanderung erweist sich als ein Plädoyer für das Teilen des vermeintlich Unteilbaren (das Dividuelle des individuellen Schmerzes), als Glaube an die Möglichkeit von etwas zutiefst Mit-Menschlichen, nämlich eines gemeinsamen Transformationsund Heilungsprozesses. Dieses Motiv des Mit-Seins in einer gemeinsamen, lebendigen Form der Bewegung bleibt allerdings bei Wilson keineswegs auf das Menschliche beschränkt, es bleibt kein ›rein‹ Menschliches, wie sich nun im

72 | Vgl. Nancy: Singulär plural sein. Christoph Tholen bringt den Kern des Nancy’schen Ansatzes wie folgt auf den Punkt: »Das ›Mit‹ ist also das, was das Sein ausmacht, nicht ihm äußerlich hinzugefügt wird. Singulär Plural heißt also: Jede Singularität ist von ihrem Mit-Sein mit anderen Singularitäten nicht zu trennen«. Tholen: »Mit-Teilbarkeit. Zur Philosophie des Ästhetischen und Politischen bei Jean-Luc Nancy«. S. 4.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten

Folgenden, letzten Abschnitt zeigen wird. Kehren wir nach diesem Exkurs zu Heidegger nocheinmal zu Louise Ann Wilsons Stück Fissure zurück.

Letzter Tag der Wanderung Früh am Morgen des letzten Tages besteigen die Teilnehmenden den aus der Ebene der Dales aufragenden Ingleborough Peak. Auf der Anhöhe angekommen, weht der Wind derart stark, dass, es uns regelrecht den Atem verschlägt. Da allgemeine Ansagen bei dem Wind nicht möglich sind, spricht sich per Mundzu-Mund-Propaganda herum, dass die hier geplanten künstlerischen Aktionen ausfallen müssen – weder die Tänzer*innen würden sicheren Halt zum Tanzen finden, noch könnten die Sänger*innen sich hier irgendwie Gehör verschaffen. Während einige aus der Gruppe das Spektakel des Windes genießen, sich mit ausgebreiteten Armen schrägt in die Luft lehnen, kauern sich andere Beteiligte nach und nach dicht in einer kleinen Senke zusammen, schützen sich gegenseitig vor dem tosenden Wind und lassen etwas Tee aus mitgebrachten Isolierkannen zirkulieren. Als Regen aufzukommen droht, erfolgt der etwas hektische Abstieg: Mitwandernde, die gerade dabei sind, noch ein Foto oder ein kurzes Video zu machen, müssen sich sputen, um den Anschluss an die Gruppe nicht zu verlieren. An dieser Stelle wird deutlich, wie weit die performative Wanderung Fissure sich über die kontrollierten Möglichkeiten der Proszenium-Bühne hinausbewegt. Während die Wanderung am Vortag noch behutsam und en passant eine organische Dramaturgie der Landschaft in Szene setzte, die immer wieder neue Ansichten enthüllte, während der leichte Sonnen-Wolken-Mix unterschiedliche Licht- und Wanderbedingungen schuf, zeigen sich die meteorologischen Umstände am letzten Tag als eine eigenständige, unkontrollierbare Instanz, welche den sicheren Ablauf der Inszenierung beinahe zu sprengen vermögen. Außerhalb des geschützten Theaterraums gehen alle Beteiligten, Musizierende, Tanzende wie Publikum in einer gemeinsamen Choreographie in Fissure das Wagnis des Ausgeliefert-Seins ein, dahingehend, dass sich die Aufführung unter den Einflüssen der Witterung oder anderer Unvorhersehbarkeiten gänzlich anders entwickeln kann als geplant. Das Wetter, die Elemente Wind und Regen, der feuchte Untergrund, die glitschig gewordenen Steine, werden so elementarer Bestandteil der gemeinsamen Choreographie – sie bedingen die Bewegungen der Wanderung ebenso wie die Bewegungen des Tanzes, ähnlich wie es Gerko Egert beschreibt, eine »Choreographie vielfältiger menschlicher und nicht-menschlicher Bewegungen« im Sinne einer »Meteorologie der Bewegungen«.73 Auch im Stück Fissure entfalten sich solch wesentliche Fragen nach den gegenseitigen Wechselwirkungen von 73 | Egert, Gerko u.a.: »Bühnen des Nicht-Menschlichen«, in: Cairo, Milena; Hannemann, Moritz; Haß, Ulrike und Schäfer, Judith (Hg.): Episteme des Theaters:

15. Risse auf Wanderschaft: Fissure (Louise Ann Wilson)

Abb. 52 | Fissure (2011). Teilnehmende auf dem windigen Ingleborough-Peak.

menschlicher Tätigkeit, vielfältigen Bewegungen und den meteorologischen Kräften aus der Perspektive von Theater und Choreographie, welche auf diesem Wege Wetterextreme als mögliche Folgen der Klimaveränderungen in Zeiten des Anthropozäns nochmal in einer anderen Weise zur Spürbarkeit bringen. Aus den Bewegungen des Tanzens und des Wanderns, des Wayfarings, d.h. mit Ingold des Selbst-(in-)Bewegung-Seins, erwächst das Gefühl, sich als elementaren Teil der Landschaft zu erfahren, durch die wir uns begeben. Dieses Gefühl entsteht in Fissure aus den diversen Dynamiken, in denen sich tänzerische und nicht-tänzerische Bewegungen, die Bewegungen des Wanderns, die Bewegungen des Regens, des Wassers und des Windes, ebenso sich wie die scheinbar unendlich langsamen Bewegungen der Risse im Gestein einander annähern, auseinanderdriften und zugleich in ihrer Vielfalt voneinander unterscheiden. All diese mannigfaltigen Formen von Bewegungen sind gleichermaßen Teil einer gemeinsamen, somit vielfach ›geteilten‹ Choreographie und Dramaturgie. Menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen treten in dieser performativen Wanderung und ortsspezifischen Aufführung als gleichwertige Teil-Nehmende auf, die auf spezifische Weise die diversen Dynamiken der gemeinsamen Dramaturgie beeinflussen. In diesem Sinne tragen Risse zu einem Natur-Verständnis bei, das in einer engen Bindung an ein Prinzip des Performativen besteht:

Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. Bielefeld: transcript, 2016. S. 194-197, hier: S. 195.

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Risse als materielles Schauspiel zwischen bildenden und performativen Künsten [N]ature is always performed and can only be appropriated by means of performance. Whether we see nature as only in and through culture, feel it as the ›real‹ or hear it between the human and other-than-human, nature needs to be physically encountered in order to be perceived. The ontology of nature, then, lies only in the performance of nature – in nature’s capacity to appear as action, or in our capacity to act within it.74

Auch Rissfiguren selbst können in diesem Geflecht als Akteure innerhalb der darin wirksamen dynamischen und intra-aktiven Wechselwirkungen begriffen werden. Sie werden zugleich zu materiellen wie symbolischen Figuren zunehmend unscharfer Trennungen und sprunghaft verlaufender Differenzziehungen. Die performative Wanderung Fissure macht solche epistemischen Überschneidungen/Differenzen als Teilend-Geteiltes im Spannungsfeld einer doppelten Choreographie, einer des Tanzes und der performativen Wanderung, körperlichaffektiv erfahrbar. Die performative Wanderung, die ganz selbstverständlich wissenschaftliche, medizinische, geologische Theorien, ebenso wie alternative, primär auf körperwissen beruhende Wissensformen unhierarchisch mit einbezieht, führt uns auch die körperlichen und klimatischen Grundbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisse als elementare Einflüsse vor Augen, abseits von laborativen Idealbedingungen, abseits von den kontrollierten Bedingungen eine Proszeniumsbühne. Als Resultat werden so poetische, unreine Wissensformierungen zur Debatte gestellt, die Erkenntnisse aus Geistes- und Naturwissenschaften gleichermaßen in Anspruch nehmen und dabei andere, wechselseitige Einflüsse, als gegenseitige Kontaminationen, nicht nur in Kauf nehmen, sondern zu ihren elementaren Grundbedingungen machen.

74 | Giannachi, Gabriella und Stewart, Nigel: Performing nature: explorations in ecology and the arts. Oxford [u.a.]: Lang, 2005. S. 20.

Schlussbetrachtungen

16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis

Die vorangegangenen Kapitel haben Risse als materielles Schauspiel sowohl in theoretisch-sprachlichen als auch in künstlerisch-kulturellen Kontexten untersucht und eingehend nach ihren theatralen, dynamischen sowie korpo-realen Bezügen gefragt. Der Forschungsansatz, Risse als performative Figuren zu betrachten, hat sich dabei in beiden untersuchten Feldern als überaus produktiv erwiesen: der Zugriff ermöglicht es einerseits, die Philosophien Heideggers und Derridas anhand ausgewählter Passagen gezielt einer kritischen Revision zu unterziehen. Zugleich erlaubt der Ansatz, deren komplexe philosophische Theorien eng mit theater- und tanzwissenschaftlichen Fragestellungen zu verbinden. Die primär theoretisch-sprachlichen Betrachtungen im ersten Teil dieser Arbeit werden dabei durch eingeschobene Rekurse mit literarischen, künstlerischen und körperbezogenen Riss-Szenarien konfrontiert und bilden so die Grundlage für die eingehende, transkulturelle, teils syn-, teils diachrone Untersuchungen anhand von fünf Fallbeispielen im zweiten Teil dieses Bandes. Die ausgewählten künstlerischen Beispiele operieren jeweils an unterschiedlich konturierten Schwellen zwischen bildenden und darstellenden Künsten. Erneut stellen hier unterschiedliche Rissfiguren Ausgangspunkte der Betrachtungen innerhalb eines komplexen Fragerasters dar, das gestattet, Ergebnisse aus dem ersten Teil wieder aufzugreifen, die daraus resultierenden Fragen in künstlerischen Kontexten zu re-situieren und somit neu zu beleuchten.

Performativ-sprachliche Dimensionen von Rissfiguren Ausgangpunkt des ersten Teils dieser Arbeit ist die Frage nach den sprachlichtheoretischen Dimensionen von Figuren und Figurationen des Risses. Angegangen wird diese Fragestellung mit einer Verortung von Rissfiguren innerhalb von

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Schlussbetrachtungen

Heideggers ontologisch-ästhetischer Theorie sowie ihrer späteren Dekonstruktion durch Derrida. Eine erste wichtige Referenz des ersten Teils der Untersuchung von Rissen als materiellem Schauspiel bildet der Text Der Ursprung des Kunstwerkes, in welchem Heidegger die Figur des Risses erstmals in seinem philosophischen Werk einführt und zunächst in den Kontext seiner ontologisch-ästhetischen Überlegungen stellt. Wie dargelegt, entfaltet Heidegger die Rissfigur, ausgehend von der Formulierung »kein Riss als...«, in einem latenten Bezug zu (bzw. in gewisser Abgrenzung von) einer komplexen, wie paradoxalen Bühnen- und Theatermetaphorik, die sich bei eingehender Untersuchung als auffällig ›Darstellungs-‹ und. ›Betrachtungslos‹ herauskristallisiert. Die spezifische Art und Weise der Einführung der Rissfigur, die ursprüngliche Negation und postwendende, retrospektive Positivierung, erweist sich als wiederkehrende rhetorische Strategie Heideggers: die Rissfigur ›ent-springt‹, ähnlich wie seine Bühnenmetapher und auch das von ihm verwendete Bild eines ›Streits‹ zwischen Welt und Erde, in einem doppelten, ambivalenten Sinne ihrer negativen Setzung: Der ›Riss‹ wird ex negativo eingeführt und bewegt sich zugleich mit einem Sprung von dieser Bestimmung fort: er wird dabei zur eigenständigen, selbst-bestimmten, positiven (und dennoch widersprüchlichen) Figur. Die Rissfigur wird so, aus ihrer Negation heraus, ins Spiel des ästhetischen Prozesses gebracht, mehr noch: sie tritt paradigmatisch an dessen Stelle und erfährt in ihrer mehrfachen Wiederholung (in weiteren stummen ›Sprüngen‹) dabei eine Positivierung, einen ›wesentlichen‹ Wandel im Sinne einer positiven ›Bestimmung‹ im übertragenen, tief widersprüchlichen Sinne: Sie bleibt trotz ihrer Positivierung weiterhin an ihre ursprüngliche Negation gebunden. In dieser Form der performativen ›Bestimmung‹ durch Sprache, und zwar ex negativo, aus sich selbst heraus, zeigt sich die Rissfigur implizit an ein performatives, (latent theatrales) transformatorisches (Differenz-)Geschehen gebunden: sie wird dabei durch ein modales »als« am Rande mitbestimmt. Diese Mit-Bestimmung des spezifizierenden ›als‹ am Rande, verbindet und trennt die Bewegung der Riss-Figur mit und von einem ›theatralen‹ Differenz-Geschehen, welches sich bei Heidegger von vornherein als paradoxal und a-phänomenal erweist: es bleibt wesentlich unbestimmt und wird zugleich von seiner Ontologie ausgeklammert. Dennoch zeigt sich diese metaphorisch-theatrale Grundierung der Rissfigur als latenter, unterschwelliger Bezug: aus ihm erwächst schließlich der umfassende ›Streit‹ zwischen den in sich gespaltenen Dimensionen Welt und Erde als differentielles Geschehen des Zeigens- und Verbergens. Aus diesem spaltenden Streitgeschehen eröffnet sich, wie dargelegt, ein umfassendes, widersprüchliches ›theatrum mundi‹ in dessen Kontext schließlich die Rissfigur ihre ausufernde, zwiespältige Wirkungskraft und eine latent gewaltvolle Seite innerhalb der Heidegger’schen Texte entfaltet.

16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis

Ganz in Sinne eines materiellen Schauspiels bewegt sich die Figur des Risses bei Heidegger in ›wesentlicher‹ Nähe zu seinem ästhetischen wie auch ontischontologischen Ursprungs- und Differenzdenken. Als ästhetisches wie ontologisches Differenz-Geschehen erweisen sich Risse in der Heidegger’schen Darstellung als eigendynamisch, auto-poetisch, performativ jedoch – problematischer Weise – weit entfernt von jeglichen Dimensionen einer menschlichen Leib- und Körperlichkeit, mehr noch: diese fundamental negierend. Die Rissfigur scheint einen differentiellen Abstand, eine wesentliche Differenz zum Menschen und seiner Leiblichkeit zu versinnbildlichen: Rissfiguren, so wie wir sie bei Heidegger vorfinden, ›verkörpern‹ paradoxerweise diese Leiblichkeit-negierende Differenz in ihrem Geschehen – mit einem inhärenten, latenten Abstand, einer entscheidenden Differenz. In ihrem Kern stellen Rissfiguren als materielles Schauspiel das von Heidegger entworfene ontisch-ontologische Differenzgeschehen zwischen Sein und Seiendem dar, sie ›verkörpern‹ diesen körperlosen Ursprung als sprachlichperformative Bewegung. Somit weist die ontisch-ontologische Differenz ähnliche Spuren eines, im performativ-transformatorischen Sinne theatralen, jedoch zugleich darstellungs- wie betrachtungslosen (Differenz-)Geschehens auf, bzw. wirkt dieses implizit durch die Figur des Risses nach und latent auf diese zurück. Die Rissfigur verhält sich so zur ontisch-ontologischen Differenz annähernd wie die, Heidegger zufolge, im Streit befindlichen Parteien Welt und Erde – sie zeigen sich in gewisser Hinsicht als aufeinander bezogen, eng verwoben und dennoch zugleich in einem differentiellen Abstand. Sie werfen in ihrem Unterschied (ihrem geschehenden, ereignishaften Unterscheiden) sowie ihrer Unterschiedlichkeit in ihrer inhärenten (›weltlichen‹ und erdhaft-materiellen) ›Logik‹ selbst weitere Formen wesentlicher Differenzen auf – diese erwachsen quasi aus ihnen heraus. Die naheliegende Übertragung dieser Erkenntnisse auf die Sphären von Materialität und Referentialität sowie Körper und Leib (im Sinne Plessners Körper-Haben und Leib-Sein), bei denen es sich ebenfalls um keine dualistischen Prinzipien, sondern um komplexe verwobene Differenzgeschehen handelt, wird von Heidegger jedoch kategorisch vernachlässigt. Wie die Abgrenzung bzw. Differenzbildung durch die Rissfigur von/zu ihrer ursprünglich negativen Setzung, ihr doppeldeutiges Entspringen aus einem ursprünglichen Ausschluss (vom ontologischen Streitgeschehen) und dessen schrittweiser Verschiebung im performativen Vollzug des sprachlichen Wiederholens versinnbildlicht, erweist sich dieses Verfahren als wiederkehrende argumentative Strategie Heideggers, durch die es ihm gelingt, ästhetische Prozesse in ihren komplexen Dynamiken zu betrachten, dabei jedoch jegliche Dimensionen von Leib- und Körperlichkeit aus der ontologischen Beschreibung auszuklammern und diese fundamentale Leerstelle zugleich wieder sprachlich zu kaschieren. Eine weitere wichtige Bezugsquelle der Untersuchung von Rissen als performative Figuren in den Texten Heideggers stellt dessen späterer Aufsatz »Der

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Weg zur Sprache« von 1954 dar, in welchem die Figur erneut aufgegriffen und weiterführend, nun verstärkt von ihrer sprachlichen Seite bestimmt wird. Zwischen der Einführung der Rissfigur im Ursprungsaufsatz und ihrem erneuten Auftreten, spannen die Entstehungszeiträume der Texte dabei zugleich den Übergang von den frühen Jahren des Nationalsozialismus zu den frühen Nachkriegsjahren zwischen 1933 und 1954 auf. Die politischen Dimensionen und Implikationen dieser Entstehungszeiträume bleiben jedoch in den Heidegger’schen Texten ebenfalls implizit, stumm – eine Form der Ausblendung, welche jedoch in Heideggers beiläufiger Abwertung der Figur des ›Risses in der Wand‹ einen unterschwelligen Anklang findet, der – vermutlich entgegen Heideggers Intention – wie dargelegt durchaus als ein Hinweis auf die vielfältigen Kriegsfolgen und daraus notwendigerweise folgenden Schuld- und Verantwortungsfragen hervortritt. In der rhetorischen Überführung der Rissfigur ins Metaphorische und damit – aus Heideggers Sicht in das vermeintlich ›freie Feld‹ der Sprache, nimmt sich dieser die Freiheit zu weiteren kategorischen Ausblendungen im thematischen Umfeld eines Denkens von Figuren des Risses. Ihre etymologische Rückbindung an die Herkunft von risz als »Ritze/Ritzen« bringt die Figur, als Spur und Bild des Furchenziehens auf dem Acker, zwar einerseits in die Nähe von Schrift und zugleich heimatlicher Erdhaftigkeit, blendet dabei aber die gewaltvoll-trennenden Aspekte des plötzlichen, gewaltvollen Entreißens und Enteignens (des Entzugs im Sinne Derridas) vollständig aus – und vollzieht diese ausgeblendeten Züge stattdessen erneut selbst: performativ, stumm. Mit dieser Form der widersprüchlichen Rückbindung und (un-)vollständigen Übertragung der Rissfigur in das (keineswegs freie sondern vielmehr begrenzte, traktierte) Feld der Sprache, findet so gesehen eine komplexe metaphorische Verschiebung, eine performative Aussetzung durch Metaphorisierung statt – die sich bei Heidegger als eine angestrebte Positivierung einer Figur des Schweigens zeigt. Die Performativität der Rissfigur spaltet dieses Schweigen jedoch abermals – quasi in ein verschwiegenes und ein sprechendes Schweigen: Die Rissfigur verweist in dieser kritischen Lektüre unwillkürlich auch auf die (sprechend-)stummen Unterbrechungen und Aussetzungen innerhalb des Heidegger’schen (Ver-)Schweigens. Durch die Untersuchung von Figuren des Risses als materiellem Schauspiel im Werk Heideggers konnte so der beiläufige, wie ›schreiende‹ Fauxpas, i.e. dem unangemessenen Vergleich der Technik von Gaskammern und des motorisierten Ackerbaus, dem gezielten Tabubruch am Rande der angestrebten Aufwertung der Geste des Schweigens, aus Perspektive von Rissfiguren neu beleuchtet werden. Während Heidegger sich zur damals erst jüngst vergangenen NS-Zeit und seiner eigenen Verstrickung darin weitestgehend ausgeschwiegen hat, wiegt der deplatzierte Verweis auf den Holocaust durch die dargelegten Implikationen umso schwerer. Insbesondere im Kontext von Heideggers metaphorischer Behauptung einer jüdischen ›Bodenlosigkeit‹, einer fehlenden Verbindung zur Erdhaftigkeit

16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis

des Bodens, geht es hierbei – metaphorisch, auf dem Umweg einer Figur des Risses – wie z.B. mit Verweis auf die jüdische Tradition der Kria oder mit der ›stummen‹ Einführung des hebräischen Begriffes der Kluft gezeigt wurde–, implizit auch um eine Ausgrenzung jüdischer-hebräischer Spuren aus dem ›Sprachraum‹ des Deutschen. Somit erweit sich der vermeintlich beiläufige Fauxpas, durch die Untersuchung von Rissfiguren und deren nachgewiesene Anbindung an zentrale Argumentationslinien und wiederkehrende Argumentationsstrukturen innerhalb seiner Theorie als Heideggers bewusste Setzung – und damit selbst als eine erschütternde ›Bodenlosigkeit‹. Anhand von zwei Texten Jacques Derridas, nämlich sein Aufsatz »Der Entzug der Metapher« sowie dessen Monographie Vom Geist. Heidegger und die Frage wird nachvollziehbar, wie der französische Philosoph durch Aufgreifen der Riss-Figuren Heideggers Argumentation dekonstruiert. In beiden Texten greift Derrida spät, jeweils erst gegen Ende, dafür umso prägnanter und eindringlicher die latenten, unterschwelligen Eigenschaften und Implikationen von Rissfiguren auf und macht an ihnen zutiefst problematische, bis dahin unterbelichtete Bezüge innerhalb Heideggers Philosophie und Sprache fest. Derridas dekonstruktive Herangehensweise stellt dabei eine schwankende Gratwanderung dar – wir könnten auch sagen: eine risshafte Bewegung, zwischen einer weitgehend impliziten, jedoch fundamentalen Kritik an Heideggers politischethischer Haltung einerseits und andererseits der Frage nach der anhaltenden Wirksamkeit von Heideggers philosophischen Ansätzen, insbesondere auch innerhalb von Derridas eigenem Denken. Dieser entwickelt so – quasi aus einer textlichen Binnenperspektive – Möglichkeiten der schrittweisen Transformation von Heideggers Positionen. Der Figur des Risses kommt bei dieser Dekonstruktion eine wichtige, performative Funktion am/als gespaltener, text-immanenter Rand, zwiespältiger Abgrund und potentielle Öffnung innerhalb der Sprache und des Denkens Heideggers zu. Wie Derrida an Heideggers Aphorismus »Die Sprache ist das Haus des Seins« aufzeigt, dürfen Heideggers ›ökonomische‹, d.h. sowohl vom häuslichen als auch vom Prinzip des Eigenen her zu denkende Sprachbilder und Bezugsetzungen weder als konventionelle noch als beliebige oder gar unbelastete Metaphern missverstanden und leichtfertig übergangen werden: sie verkomplizieren die unterschwelligen Austauschprozesse und Vertauschungen zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem innerhalb Heideggers Philosophie fundamental und haben weitreichende Wirksamkeiten zur Folge – innerhalb von Heideggers Texten und über diese hinaus. Insbesondere die graduellen, minimalen, ›stillen‹ und dennoch entscheidenden sprachlichen Verschiebungen dürfen dabei nicht übersehen werden, wie Derridas minutiöse Analyse des Wandels von Heideggers zunächst in Anführungszeichen gesetzten Begriff »Geist« und dessen ›Wende‹, d.h. der uneingeschränkten Verwendung des Begriffes Geist (ausdrücklich ohne Anführungszeichen) zeigt. Derrida macht

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an diesem Beispiel das sprachliche Gewaltpotential und einen unterschwelligen Faschismus innerhalb von Heideggers Sprache sichtbar, der tiefgreifender und nachhaltiger wirksam ist, als Heideggers offen ausgestellte gedankliche Nähe zum Nationalsozialismus, wie diese in der ›Rektoratsrede‹ von 1933 zu Tage tritt. An diese Offenlegung tieferer Schichten des Heidegger’schen Denkens anhand der Transformation des Geist-Begriffes anknüpfend, wird mit der vorliegenden Arbeit Ähnliches auch für die Figur des Risses und das daran gekoppelte ›Bild‹ des Schauspiels nachgewiesen: auch ihnen kommen in den schrittweisen Verschiebungen und Sprüngen innerhalb von- und zwischen Heideggers Texten, und zwar gerade in ihren Sprüngen, Auslassungen und Ausblendungen, quasi ›en passant‹ wichtige eher unterschwellige Funktionen und Wechselwirkungen in mehrfacher Weise zu: indem wie Heidegger diese in einer bestimmten Weise einführt und wiederholend verwendet, zugleich am Rande belässt und an dennoch an entscheidenden Stellen in den Texten positioniert, werden schrittweise gezielte Verschiebungen, Implikationen, Ausblendungen und stumme Negationen durch diese Figuren und Figurationen vorgenommen und unterschwellig, sprachlichperformativ vorangetrieben. Sie bedienen sich quasi implizit der unvermeidlichen, inhärenten Performativität eines Teils dieser Sprachfiguren. Insbesondere die einhergehenden Ausblendungen körperlicher, menschlicher, affektiver und empathischer Dimension werden bei Heidegger so systematisch nachgewiesen. Derrida greift Heideggers Prinzip stummer, systematischer Ausblendungen auf und führt diese fort, ›ent-führt‹ sie und ›überführt‹ dieses Denken in einer seinerseits aneignenden Art und Weise: indem Derrida sein ›eigenes‹ Denken (und auch: das Denken des Eigenen) als solches problematisiert und auf diesem (un-ökonomischen!) Umweg den Positionen Heideggers immer weiter annähert/ entgegensetzt, werden in dieser verschobenen Form der Wiederholung insistierende Fragen nach Nähe, Distanz und Nachbarschaft eingeflochten. Derrida betreibt so eine schrittweise Aussetzung der zugrundeliegenden Strukturen, indem er diese in einem verschobenen Sinne fortführt und wiederholend weitere Differenzierungen damit/daran vornimmt. Derrida greift auf diesem Weg die in Heideggers Philosophie enthaltenen Ansätze zur Dekonstruktion auf bzw. in diese ein und führt diese aus/fort, entführt sie quasi. In Derridas Worten: Eröffnet wird der Zugang zu dem Ursprung nach/gegenüber Ungleichartigen [hétérogène à l’origine]. Was Sie als bloße ontologische oder transzendentale Verdoppelung vorstellen, ist ganz anders. Deshalb folge ich dem Weg einer Wiederholung, der den Anderen kreuzt, ohne mich dem entgegenzusetzen, was ich in seiner frühesten Möglichkeit zu denken versuche, ja ohne andere Wörter und Begriffe als die der Überlieferung zu gebrauchen. Das ganz Andere

16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis kündigt sich in der strengsten Wiederholung an. Diese Wiederholung ist schwindelerregender und abgründiger als alle übrigen.1

Mit Derridas bewusster Wiederholung und Fortführung einer sprachlichen Mehrfach- und Neu-Bestimmung der Figur des Risses als ›Zug‹ verändert sich der Fokus selbst mehrmals latent/wesentlich, bleibt aber erneut/weiterhin an ihre ursprüngliche Einführung, ihren ›Ursprung‹ aus der Negation heraus, dessen ursprüngliche Negativität, gebunden. Eine tiefe Ambivalenz aber auch hochgradige Reflexivität dieses Ansatzes wird dabei evident. Wie dargelegt, vermeidet und verschweigt Heidegger mit seinem späteren Rückgriff, seinem Zurückkommen auf die Figur des Risses in der Nach-Kriegszeit um 1954, dezidiert bestimmte materielle, leibliche wie transformatorische Aspekte, die zuvor ›am Rande‹ von Rissfiguren aufgeworfen worden waren, wie jenen der konkret materiellen Kriegsfolgen für das philosophische Denken. Durch die strukturelle Nähe ihrer erneuten, wiederholten Einführung (und der daraus resultierenden latenten Bezüge) bleibt ihr Bezug und ihre Affinität zur ›darstellungs- und betrachtungslosen‹ Theatermetaphorik werkimmanent weiterhin wirksam, wobei als wesentlich abwesendes Merkmal insbesondere die Körperlichkeit Darstellender und Betrachtender, womit zugleich eine durch sie implizierte Instanz von Täter- und Zeugenschaft als Leerstelle ins Auge fällt. Etwas Ähnliches gilt, aus Perspektive Derridas, in ähnlicher/differenter Weise für die quasi-körperlose Figur, den ohne Anführungszeichen verwendeten Begriff des ›Geistes‹ in den Texten Heideggers. Genauer gesagt betrachtet Derrida die Differenz zwischen Heideggers Begriffen »Geist«/Geist, einmal im eigentlichen, einmal im uneigentlichen, eingeschränkten, übertragenen Sinn – Derrida stellt diese, wie ausführlich untersucht, als theatrale Verwandlungsszene dar und ›übersetzt‹ dieses materielle Schauspiel zugleich als paradoxalen Akt einer geisterhaften Verkörperung von Körperlosigkeit. Diese (im doppelten Sinne) performative Rück-Übersetzung, diese Form der Rück-Übertragung und Sichtbar-Machung der Spaltung durch Rissfiguren als zentrale Leerstelle des Heidegger’schen ›Sprachgebäudes‹ findet ihre kritische Reflexion und Brechung in Derridas dysfunktionaler Theater-Metapher: dem paradoxen ›Bild‹ einer verstummten, geisterhaften Sprach-Szene, deren latenter Bezug zur Rissfigur sich nachträglich, rückwirkend durch die Annäherung an Heideggers »Geist«/Geist-Begriff explizit in diese – von einem Vorhang verhängte und trotzdem nicht verschlossene – Szene einschreiben wird. Die Figur des Risses, die Heideggers un-körperliches Denken re-konfiguriert und (auf ihre sprachliche Materialität insistierend) ›verkörpert‹, wird als solche durch Derridas Dekonstruktion diskursiv verhandelbar gemacht und zugleich transformiert.

1 | Derrida: Vom Geist. S. 132.

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Schlussbetrachtungen

Während die Rissfigur, wie dargelegt, zunächst im Bereich von Heideggers ästhetischen Überlegungen eingeführt wird, zeigt sich rückblickend insbesondere aufgrund ihrer strategisch ausgeblendeten Körperlichkeit aus ästhetischer Sicht als immanent politisch: Derrida verweist durch die emphatische Körperlosigkeit dieser Geister-Szene auf die wesentliche Absenz von Fragen der Leiblichkeit, der Wahrnehmung und Zeugenschaft in Heideggers ontologischen/ästhetischen Texten: seinem »Geist«/Geist-Denken bleibt so ein spaltender Riss zugleich als wesentliche Leerstelle eingeschrieben. So, wie die verschobene Zeichensetzung der Derrida’schen différance im Sprechen stumm bleibt, zeigt sich die Differenz zwischen Geist und ›Geist‹ in der stummen Bildlichkeit des Textes – in der Sprache der Verkörperung durch die Schrift wird die stumme Differenz zwischen »Geist«/Geist (ebenso wie jene ›différence‹ der »différance«) in der ›Szene der Sprache‹ leise zum Sprechen gebracht. Diese impliziten Voraussetzungen der Texte Heideggers, ihre widersprüchliche, paradoxale ›Materialität‹ der Körperlosigkeit, ihre stummen, latent theatralen Bezüge, und die explizite Aufwertung von Heideggers eigenem Schweigen, ihr tief eingefalteter, selbst-aufgewerteter Gestus des Verschweigens, werden somit durch Derrida doppelt markiert, fortgeschrieben und erfahren zugleich weitere fundamentale Verschiebungen und Übersetzungen – sie werden in anderer Weise (im wörtlichen und übertragenen Sinne) in einer anderen Sprache ›sprachbildlich‹ zur Sichtbarkeit und damit zum ›Sprechen‹ gebracht. In diesem Sinne lässt sich die Figur des Risses als stumme, insistierende Differenzmarkierung zwischen den unterschiedlichen Implikationen der Begriffe »Geist« und ›Geist‹ begreifen. Als eine inhärent dynamische Marke wirft die Figur des Risses im Vollzug ihrer späteren Verwendung, ihres späten Auftretens und »zur-Sprache-Bringens«, in ihrer Rückbezüglichkeit (implizit) weitere vielfältige Implikationen von Temporalität auf. In dieser ausdrücklich späten Auseinandersetzung stellt die Figur des Risses die von Heidegger implizierte Unschuldigkeit der (laut Heidegger) ›Spätgeborenen‹ in Frage und weist auf die unangemessene Selbstgerechtigkeit seines Rückblickens und seiner Bezugnahmen hin. Ein naheliegender, wie vielschichtiger ›Vorläufer‹, ein Bezug zu einer vorgelagerten Rissfigur bleibt sowohl bei Heidegger als auch Derrida – aus jeweils unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise – unerwähnt, stumm: nämlich der auf mehreren Ebenen ambivalente Riss des Tempel-Vorhangs, wie er in der biblischen ›Ur-Szene‹, einem materiellen Schauspiel par excellence, am Ende der Passion Christi und damit am mythischen ›Ursprung‹ des Christentums geschildert wird. Wie dargelegt, eröffnet der biblische Vorhang-Riss einen vieldeutigen Unbestimmbarkeits-Raum zwischen christlichem Mythos und historischer Faktizität. Die wechselseitige Bezogenheit der Figuren Riss/Leib Christi zeigt sich in der

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biblischen Erzählung anhand widersprüchlicher Blickkonstellationen: als Spektakel und theatrale Bezeugungssituationen destabilisieren und bestätigen sich Todesmoment und Vorhang-Riss gegenseitig, die doppelten diegetischen Betrachtenden werden dabei abermals durch die exegetischen Bibel-Rezipierenden dupliziert und zugleich mehrfach ›geteilt‹. Die in sich widersprüchliche Rissfigur ist dabei in ein ebenso ambivalentes (Un-)Sichtbarkeits-Szenario – als eine andere Form des materiellen Schauspiels – eingebettet, innerhalb dessen sich verschiedene Ebenen und Schichten von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit komplex überlagern und durchkreuzen. Einerseits lassen sich die leicht divergierenden Einführungen der Rissfigur durch die Apostel Markus, Matthäus und Lukas wie dargelegt einerseits als Hinweis auf den Einfluss des hellenistischen Theaters lesen, zugleich lässt sich die Verwendung des Riss-Motives als Wiederaufgreifen eines alten Motives der jüdischen Mythologie verstehen. Das Narrativ des ›Risses im Tempelvorhang‹ bildet die Grundlage verschiedener antisemitisch geprägter Interpretationen der Szene, welche den Riss als Bestrafung Gottes gegen das Judentum auffassen – die Figur des Risses verbindet und entzweit so unterschiedliche diegetische wie exegetische Lesarten. Die biblische Rissfigur im Tempelvorhang nimmt in ihrer geschickt ›inszenierten‹ Ablenkung des Blicks, vom sterbenden Christi auf den spektakulären Vorhang-Riss bereits gewisse Um- bzw. Abwege sowie Ausblendungen des Heidegger’schen Denkens vorweg und betont die notwendige Berücksichtigung von Widersprüchlichkeit und (unmöglicher) Zeugenschaft. Vor diesem Hintergrund wird am Rande der Figur des Risses (z.B. über die bevorzugte Verwendung der Rissfigur im Sinne einer Furche) ein latenter, zunächst weitgehend impliziter, antisemitischer Bezug Heideggers evident: im Denken der Materialität und Erdhaftigkeit, im Heidegger’schen Vorwurf von jüdischer Welt- und Seinsvergessenheit, wie auch Bodenlosigkeit als einer antisemitischen Wendung kehrt die Figur des Risses-als-Furche – und eben gerade nicht im Sinne einer ›bloßen‹, ursprünglich aus dem hebräischen abgeleiteten ›Kluft‹ – wieder in Heideggers Sprache zurück. Mit der Ausblendung der biblischen Konnotationen und der ihr vorausgehenden jüdisch-mythologischen Ursprünge verschiedener Rissfiguren verpasst und vermeidet Heidegger die Gelegenheit, mit ›seiner‹ Figur des Risses in Bezug auf das von ihm bezeichnete »schwierigste Problem«2, nämlich Fragen von Leib und Körper einzugehen. Durch die Hinzunahme und Juxtaposition einer weiteren Riss-Figur aus Ovids Metamorphosen-Binnenerzählung Pyramus und Thisbe kehrt die von Heidegger beiseite geschobene Figur des ›Risses in der Wand‹ zurück. Die 2 | Heidegger, Martin: »Heraklit XII«, in: Heidegger, Martin und (Hg.), Curd Ochwadt (Hg.): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 15. Seminare, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1986. S. 222-242. Hier: S. 236.

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Schlussbetrachtungen

Rissfigur als trennendes wie verbindendes ›Medium‹ der Häuser, Familien und Liebenden, zeigt sich als literarisches Motiv mit vielfältigen späteren künstlerischen Re-Konfigurationen von prärafaelitisch-malerischen Varianten bis hin zu barock-dramatisierten Fassungen. Während Heidegger versucht, sein ›Bild‹ der Sprache als ›Haus des Seins‹, disparat von Rissfiguren zu halten, eröffnen sich mit der Erzählung von Pyramus und Thisbe in dieser Hinsicht neue leibliche Perspektiven und Kontexte. Sowohl die Sphäre des Häuslichen als auch die Szene der Sprache wird – ganz im Derrida’schen Sinne – von Fragen der Nachbarbarschaft und damit im übertragenen Sinne auch von der Existenz und Differenz anderer (Fremd-)Sprachen – im positiven Sinne kontaminiert. Das Heidegger’sche Riss-Denken und Sprach-Verständnis werden so aus ihren unhinterfragten Universalitäts-Ansprüchen und latentem Solipsismus zunehmend von Aspekten des Relationalen und der Alterität durchkreuzt. Durch das Ovidsche Narrativ wird die Frage eines Wandels von Beziehungen, konkreter: die unvorhersehbare Entstehung einer intimen Liebesbeziehung aus einem Verhältnis der Nachbarschaft heraus aufgeworfen. Hierdurch stellt sich die Frage nach der Rolle von Sprache nunmehr aus einer unvermeidlich leiblich-intimen Perspektive, in der zunehmend die Materialität der Sprache als Stimmlichkeit eine Rolle spielt, ebenso wie das Potential der Sprache als Quelle von Missverständnissen. Insbesondere die barocken Re-Figurationen der Szene durch Shakespeare und Gryphius entdecken die Figur des Risses als Inspiration für selbstreferentielle, darstellerische Parodien, gespickt mit Anzüglichkeiten, Peinlichkeiten, Infamitäten und geradezu überbordender Leiblichkeit. Vor diesem verstärkt leiblichen und dramatisch-theatralen Hintergrund zeichnet sich erneut deutlich ab, dass in Heideggers ästhetisch-ontologischen Überlegungen ›Theater‹ im Sinne einer leiblichen Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauenden ausdrücklich keine Rolle spielt. Dennoch spielt das Theater als stummer Referent, im Sinne eines unsichtbaren Bezuges, einer bewusst gesetzten Leerstelle des Leiblichen, in Form einer sehr spezifischen Theater-Metapher (oder mit Derrida: als eine Art ›Quasi-Metapher‹) eine wichtige, komplexe Rolle im Heidegger’schen Denken. Es entsteht so eine Form der latenten Beziehung zwischen einer text-immanenten Theatralität und Metaphorizität Heideggers, die ausdrücklich über eine einfache Übertragung oder Übersetzung hinausgeht. Ähnliches gilt für den Bezug von Riss und Theatralität: Obwohl diese spezifische von leiblicher Absenz durchdrungene Theatermetapher und die Figur des Risses bei Heidegger nicht direkt, unmittelbar aufeinander bezogen sind, bedingen sie sich doch, wie dargestellt, in gewisser Weise wechselseitig. Anhand der Untersuchung von Rissfiguren und der von ihr aufgeworfenen Ränder und Fragen, zeigt sich in den Texten Heideggers eine sprachliche Form der theatralen Inszeniertheit, eine widersprüchliche Theatralität, die mit und gegen Heidegger von der Sprache aus zu denken ist, insbesondere aus Perspektive ihrer

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Ausblendungen und Ausstreichungen. Die stumme, (un-)auffällige Abwesenheit von Darstellenden und Zuschauenden innerhalb der von Heidegger verwendeten und zugleich ›durchgekreuzten‹ Theatermetaphorik spiegelt Heideggers auffällige Negation des Körperlichen im Denken. Wie Derrida mit dem dysfunktionalen Bild des stummen und entblößten Geistes auf der Bühne zeigt, desavouiert sich dieses unkörperliche Denken selbst. Heideggers unkörperliche Vorstellung von Sprache scheitert in gewisser Weise aus sich selbst heraus – und entfaltet dennoch/dadurch ihre Wirksamkeit. Risse durchziehen als performative Figuren und (im-)materielles Schauspiel die untersuchten Texte Heideggers und Derridas und erweisen sich als trennende wie verbindende Elemente zwischen beiden Autoren. Sie entziehen sich dabei ›als solche‹, soll heißen: als performative Figuren, einer eindeutigen, statischen Festschreibung. Sie eröffnen – teilweise entgegen der Intention des Autors – weitere unterschwellige Kontexte und bringen trotz und wegen ihrer eigenen unkörperlichen Verfasstheit sowie ihrer latenten Bewegung immer wieder einen unterschwelligen Bezug zum Körper zurück ins Spiel. Die sprachlich verfasste Performativität der Rissfiguren zeigt hier die Gewalthaftigkeit bewusster Ausblendungen und Ausgrenzungen im Feld einer Sprache, das als ontologisches Denken, als Denken des Seins (trotz und wegen seiner inhärenten Gespaltenheit) einen uneinlösbaren Absolutheitsanspruch erhebt. Gegenüber diesem primär sprach-theoretisch fokussierten Blick auf Figuren des Risses innerhalb eines sprachlich-performativen Feldes und zugleich am Rande des Metaphorischen im ersten Teil, schlagen die Betrachtungen im zweiten Teil der Untersuchung einen anderen Weg ein. Den sichtbar gewordenen, gewalthaften Dimensionen sprachlicher Negationen und Ausblendungen, werden hier verstärkt die Perspektive von Körpern in Bewegung entgegengesetzt, um die politisch-ethischen Dimensionen des Themas ›Risse‹ als ambilvalente Figuren zu erfassen und ihre Potentiale immanent körperlicher Widerständigkeit aufzuzeigen. Am Rande dieser materiellen, physisch-performativen Betrachtungen werden nun vielmehr Fragen der Relationalität und Beziehungen (sozialer Art, d.h. zwischen Menschen und Körpern in ihren diversen Formen von Materialität und Stofflichkeit), deren vielfältige agencies und aufgeworfene Fragen stummer Zeugenschaft von einer anderen, körperlich-dynamischen Seite akzentuiert.

Materiell-körperliche Dimensionen von Riss-Figuren Die fünf künstlerischen Beispiele, die im zweiten Teil dieses Bandes untersucht werden, beschäftigten sich zentral mit Figuren des Risses, wobei sie sich diesen primär von visuellen, wie materiell-körperlichen und dynamischen Seiten annähern. Gemeinsam ist allen Beispielen dabei, dass sie an Übergangsbereichen zwischen bildender und darstellender Kunst bzw. Performance verortet sind, bzw. gerade ausdrücklich an einer Verschiebung dieser Grenzlinie arbeiten. Im Gegensatz

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zu den sprachlich-philosophischen Betrachtungen, wo die Beziehung von Rissen und Leiblichkeit vor allem durch eine Form der Latenz/Absenz gekennzeichnet ist, steht bei den künstlerischen Beispielen deren umgebende Materialität sowie ihre multiplen Beziehungen zur Sphäre des Körperlichen, insbesondere auch zu Körpern-in-Bewegung, deutlich im Vordergrund. Auch in diesem Kontext bleibt die von Rissfiguren betroffene sprachliche Dimension überaus prekär bzw. zeigt sich ›Sprachlichkeit‹ in den untersuchten Beispielen in unterschiedlichen Weisen und Gestalten als in Auflösung begriffen. Zunehmend gilt dies daher auch für verschiedene Dimensionen von Bild- und Schriftlichkeit, die von Rissfiguren betroffen sind und durch diese tiefgreifend in Frage gestellt wird. Zusätzlich zu ihren unterschiedlichen kulturellen Kontexten, sind die Beispiele im Wesentlichen in zwei historische Zeiträume gegliedert: zum einen primär der Zeit der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts als einer erweiterten ›Nachkriegszeit‹3 und zum anderen in der jüngeren Gegenwart des neuen Millenniums, wo ein erneutes Auftauchen der Figur in einem veränderten ästhetischen Kontext festgestellt werden muss. Bei den drei zuerst untersuchten Künstlern, dem Franzosen Jacques Villeglé, dem Japaner Murakami Saburō und dem (Exil-)Österreicher Günther Brus, ließ sich der Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Figuren von Rissen der weitgefassten Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges zuordnen. Rissfiguren standen vor dem Hintergrund dieser gewaltvollen historischen Zäsur vor allem im Kontext widersprüchlicher Fragen von Erneuerung und Kontinuität – sowohl im politisch-gesellschaftlichen als auch im ästhetischen Sinne. Neben Ihrer Suche nach neuen künstlerischen Formen thematisierten die betrachteten Arbeiten in unterschiedlicher Weise so unterschwellige Auseinandersetzungen mit unausgesprochenen und unbewältigten Aspekten der Kriegserfahrungen im Sinne einer Trauma- und Schmerzbewältigung, d.h. der Verarbeitung einer noch nicht abgeschlossenen Kriegsvergangenheit. Die Beispiele verwenden Figuren von Rissen in unterschiedlichen Weisen und untersuchen diese mit Blick auf ihr performatives Potential: durch intensive materielle wie körperliche Auseinandersetzungen beginnen sich dabei Fragen von historischen und politischen Zäsuren sowie vernachlässigter, unsichtbarer Kontinuitäten abzuzeichnen. Zwar stellen sich die jeweiligen historischen, politischen und kulturellen Kontexte, in Frankreich, Österreich, Deutschland und Japan – naheliegender Weise – jeweils sehr unterschiedlich dar, dennoch lassen sich durch die jeweils spezifische Verwendung von Rissfiguren gewisse Parallelen in der Suche nach Bewältigungsstrategien mit kollektiven Gewalterfahrungen aufzeigen. In allen drei Beispielen werden dabei durch und mit Rissfiguren die Grenzen von Sprache, die des Bildlichen 3 | Nicht nur aus der französischen Perspektive stellte sich der Terminus als durchaus problematisch heraus, vgl. das Kapitel »Decollage im Kontext einer Ära der Dekolonisierung« im vorliegenden Band S. 232ff.

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sowie von Darstellung und Darstellbarkeit intensiv be- und hinterfragt und in Verbindung mit einer intensiven Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucks-, Darstellungs- und Rezeptionsformen gebracht, die jeweils neue Rollenverständnisse, sowohl auf Künstler*innen-, als auch auf Rezipient*innenseite erforderlich machen. Rissfiguren zeigen sich dabei als Verbindungs- oder Übergangsfiguren sowohl in temporaler Hinsicht (im Sinne der Latenz) als auch zwischen bildenden und performativen Künsten, wobei jeweils Fragen nach Körperbewegungen und deren Spuren, bzw. Formen ihrer Abbildung und (Un-)Darstellbarkeit in unterschiedlichen Weisen thematisiert werden. Zugleich werden dabei auch Fragen von Bewegung, Bildlichkeit und der Rolle des Körpers verhandelt, die ein neues Licht auf Dimensionen des persönlichen Betroffen-Seins, von individueller bzw. kollektiver Verantwortung und Zeugenschaften werfen. In Jacques Villeglés Plakatabrissen sind es zunächst die Spuren anonymer menschlicher- und nicht-menschlicher Bewegungen (z.B. Wind und Regen) – die als sich materialisierende Risse innerhalb von Plakat-Palimpsesten die unterschiedlichen ›anonymen‹ Kräfte und Spannungen innerhalb urbaner Strukturen dokumentieren. Risse stellen sich hier sowohl als Spuren intendierter, politischer wie auch intentionsloser, kontingenter Bewegungen sowie diverser Spielformen eines unentscheidbaren Dazwischen dar. Die daraus hervorgegangenen, im Wortsinne ›plakativen‹ Schicht-Objekte, stellen in ihrer risshaften, defigurierten Visualität fundamental die Funktionen und Funktionalität von Bild, Schrift und Sprache in Frage. Texte und Zeichen zeigen sich als in Auflösung begriffene, sprachliche Fragmente, abgekoppelt von ihrem tagesaktuellen Informationswert bis hin zum weitgehenden Verlust jeglicher Intelligibilität. Plakate als Kommunikationsformen werden aus ihrer ursprünglichen Funktionalität herausgehoben, in ihrer Sprach- und Bildlichkeit unterbrochen und durch die enthaltenen Figuren von Rissen als neue Arrangements re-konfiguriert. Ihre rissbedingten, zufälligen Juxtapositionen erscheinen als Kristallisationen diverser und divergenter politischer, kultureller und ökonomischer Bewegungen im urbanen Raum. Erst durch die aufkommenden Rissfiguren werden die Plakatschichtungen dabei als Palimpseste und damit zugleich als politisch-ästhetische Sedimentierungen zeitbedingter Themen und visueller Trends und Moden erkennbar. Als Suchraster geben Rissfiguren innerhalb der künstlerischen Arbeitsweise Villeglés Anlass für weitere Abriss- und Transferbewegungen des Künstlers im Stadtraum. Risse bilden so als Bewegungsspuren eine vielschichtige Grundlage verschiedener Choreo-Graphien im Sinne urbaner Be- und Entschreibungen. Der Transfer der abmontierten Schicht-Plakate und der darin manifesten Rissfiguren versetzt diese durch die Re-Kontextualisierung und Musealisierung in neue temporale Rhythmen, die in ihrer verschobenen Zeitlichkeit die ursprüngliche Kurzlebigkeit des Plakat-Mediums konterkarieren. Das ästhetische Novum der Arbeiten Villeglés liegt insbesondere in einem neuen Verständnis von Autorschaft, das

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Schlussbetrachtungen

den Künstler tendenziell auf eine Ebene mit anonymen Passant*innen stellt und zum ›Kollaborateur‹ mit arbiträren Einflüssen und weiteren einwirkenden Kräften und Bewegungen macht. In dieser Absage an die Intentionshaftigkeit und Deutungsmacht des Autors liegt zugleich die eminent politische Dimension der Arbeiten. Im Gegensatz zu Villeglés sammlerischen, in Ansätzen dokumentarischen und (im Sinne von Autorschaft) ›anti-autoritären‹ künstlerischen Gestus, der bewusst eine respektvolle Distanz zu den Rissfiguren wahrt, rückt in den nachfolgenden Kapiteln zu den Arbeiten Murakami Saburōs und zu Günter Brus’ verstärkt die Körperlichkeit und Verletzbarkeit des Künstlers selbst ins Zentrum. Zugleich behalten die Arbeiten auch hier, bedingt durch den Einsatz unterschiedlicher Medien und Aufzeichnungsformen, eine gewisse dokumentarische, selbstreferentielle und medienkritische Qualität. Auf sehr unterschiedliche Weisen bleibt in allen drei Fällen die Frage nach der Bewegung des Körpers, deren Beschränkung und Möglichkeit ihrer Verbildlichung zentral. Wie bei Villeglé stehen Rissfiguren auch bei Murakami im Kontext einer Durchdringung von Materialschichtungen, die bei dem Japaner jedoch weniger ›verdichtet‹, sondern durch seine gestellhafte Konstruktion bewusst auf Abstand zueinander gehalten werden. Durch die so ›inkorporierten‹ Zwischenräume werden verstärkt Fragen von Sequenzialität, Rhythmus und Wiederholung – ergo: von Zeitabständen und Zeitlichkeit – aufgeworfen. Risse treten hier, wie bei Villeglé, ebenfalls als Spuren von Körperbewegungen auf, die jedoch weniger durch die Unterbrechung und Juxtaposition von Bild- und Sprachlichkeit in Erscheinung treten, sondern verstärkt die grundlegende Materialität ihres Trägermaterials in Frage stellen: hier ist es mehr die Leinwand als solche, die unmittelbar angriffen, mit dem Körper durchstoßen und dadurch thematisch manifest wird. Die aus den ›eindringlichen‹ Körperbewegungen resultierenden Risse schwanken dabei zwischen unterbrochener, ausgesetzter Bildlichkeit und, bedingt durch ihre Multiplikation und Schichtung, dreidimensionaler wie ›negativer‹ Skulpturalität. In ihrer anordnungsbedingten Sequenzialität und Differenz knüpfen die Risse als Spuren des bewegten Körpers thematisch an mediale ›Vorläufer‹ der frühen Filmund Fotografiegeschichte und die aus ihnen hervorgegangenen medienbedingten Veränderungen kollektiver Bewegungs- und Zeitwahrnehmung an. Im direkten Vergleich zu den Bildserien Muybridges und Mareys zeigt sich die ›Apparatur‹ der Aufzeichnung bei Murakami als ein widerständiges, widerspenstiges Medium: ein ›Gestell‹, das in seiner materiellen Widerständlichkeit sichtbar bleibt. Die Arbeit Murakamis knüpft durch die Figur des Risses motivisch unmittelbar an frühe filmische Experimente an, die sich bereits ihrerseits intensiv mit einer Befragung und Verschiebung der Grenzen zwischen Film performativen Künsten beschäftigen, wie in René Clairs Film Entr’acte (1924). Rissfiguren stehen dort als Symbol einer nicht sauber trennbaren Differenz, eines auflösenden Abstan-

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des bzw. einer trennenden Verbindung zwischen unterschiedlichen Medien, Genres und künstlerischen Gattungen – und werfen nachdrücklich Fragen von ›Übersprüngen‹ und Wechselwirkungen zwischen ihnen auf. Über diese visuellen Referenzen wird Murakamis Arbeit zugleich für die medienkritischen Betrachtungen Walter Benjamins und den bewegungstheoretischen Überlegungen Henri Bergsons anschlussfähig. Die Frage, ob sich Körperbewegungen bei Murakami als bildlich segmentierte, ›kinematographisch‹ gedachte Bewegung dargestellen, wie die sequentiellen Schnitte der Leinwände suggerieren oder aber durch die enthaltenen Riss-linien gerade als organische Durchbrechungen einer sequentialisierten Bewegung betrachtet werden müssen, bleibt in produktiver Weise offen. Es zeigt sich so, dass Risse in der Arbeit Murakamis grundsätzlich eine ambivalente Uneindeutigkeit und mehrdeutige Resonanzen innerhalb der ›Bilder‹, sowie diverser historischer ›Vor- und Nachbilder‹ erzeugen und dabei fundamentale Fragen von Bildlichkeit berühren, wie die komplexe Frage nach der Darstellbarkeit von (Körper-)Bewegung im Bild. Neben den damit aufgerufenen mediengeschichtlichen Diskursen klingen so auch spezifische, einschneidende historische Ereignisse der jüngeren japanischen Geschichte an: durch die negative Skulpturalität der Risse rückt hier eine Form der körperlichen Abwesenheit ins Zentrum, die besonders vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und einem danach grundlegend veränderten Verständnis von Visualität in der Japanischen Gesellschaft gesehen werden müssen. Auch bei dem aus Österreich stammenden Künstler Günter Brus zeigen sich Risse als sich langsam entwickelnde, dann zunehmend eskalierende GewaltFiguren. Ähnlich wie bei Murakami, stellen die erneut aus einer zweidimensionalen Bildlichkeit heraustretenden performativen Figuren zunehmend die Materialität malerischer Grundlagen in Frage. Rissfiguren, als mäandernde Bewegungen zwischen den Genres Malerei und der neu aufkommenden Gattung der ›Aktionskunst‹, erweisen sich bei Brus zugleich als künstlerisch-kritische Reflexionsfiguren: sie dienen Brus der skizzenhaften Vorbereitung und malerischen Komposition sowie der anschließenden Nachbereitung und künstlerischen Auswertung von politisch-ästhetischen Aktionen und Interventionen. Risse zeigen sich hier am Rande bzw. selbst als materielle Ränder einer regelrechten »Performanzexplosion«: kritische, körperbezogene, ambivalente und zunehmend politische Figuren, an denen sich in besonderer Weise eine Prekarität und Verletzbarkeit des Körpers innerhalb von latent gewaltvollen Macht- und Ordnungsstrukturen offenbart. Rissfiguren dienen Brus quasi als materielle Gegenspieler, als künstlerische ›Mitstreiter‹ und als ästhetische Konterfiguren, die zunächst seine Bilder und Zeichnungen umspielen und durchziehen, bis sie beginnen, zunehmend auch den Körper des Künstlers zu tangieren und in ›Mitleidenschaft‹ zu ziehen. Mit und durch Rissfiguren stellt Brus so zunehmend die Unversehrtheit des Künstler-Körpers

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zur Disposition, der sich selbst historische Schuldfragen aufbürdet, indem er sich in einer ambivalenten, uneindeutigen Position zwischen Täter und Opferstatus inszeniert. Brus nimmt dabei immer wieder Rekurs auf christlich-märtyrerhaften Bild-Traditionen, die er zugleich kritisch in Frage stellt. Während der Riss in der Aktion Wiener Spaziergang noch als eine malerische auf den Körper aufgetragene Figur, ähnlich einer Maske erscheint, wird die performativ spaltende Kraft der Rissfiguren im Verlauf weiterer Aktionen zunehmend ›physisch‹ und betrifft den Körper immer rigoroser. Auf dem Wege dieser gegen den Körper gerichteten risshaften Gewalt wird die Rolle der Zuschauenden zunehmend in Richtung potentieller Zeugenschaft verlagert: die Betrachtenden werden gezwungen, gewollt oder ungewollt, das Gesehene mit zu (er-)tragen und damit auch Verantwortung für das Ges(ch)ehene zu übernehmen, d.h. als Publikum für die Aktion und die von ihr aufgeworfenen historischen Fragen mitverantwortlich zu sein. Rückblickend ist auffällig, dass für alle drei der betrachteten Beispiele, Rissfiguren in der künstlerischen Auseinandersetzung quasi zu dauerhaften Lebensthemen werden, welche die Künstler über Jahre und Jahrzehnte immer wieder aufgreifen und eingehend weiterbearbeiten. In Ergänzung, bzw. im Kontrast zu diesen Künstlern als selbstinszenierte »Schmerzensmänner« (Gerald Schröder) innerhalb einer als unabgeschlossen betrachteten Nachkriegszeit, spielen in den Positionen der beiden zeitgenössischen Künstlerinnen Fragen des Schmerzes zwar ebenfalls eine zentrale Rolle, hier jedoch weniger aus einer individuellen, selbstbezüglichen Sicht, sondern verstärkt aus einer kollektiven, gemeinschaftlichen Perspektive. Zwar deutet sich dieser künstlerische Ansatz, durch das Thema der Zeugenschaft, zuletzt auch bereits bei Günter Brus an, jedoch erscheint dieser in den zeitgenössischen Arbeiten Salcedos und Wilsons nun verstärkt ›integrierend‹ und weniger konfrontativ. Im Gegensatz zu den Aktionen der fünfziger und sechziger Jahre, erfordern die zeitgenössischen Arbeiten andere Formen der Partizipation des Publikums, die verstärkt eine Form der Bewegung und Eigenverantwortung auf Seiten der Museumsbesucher bzw. Teilnehmenden zur Voraussetzung machen. Wie in den drei zuvor untersuchten Beispielen werden sowohl bei Salcedo als auch bei Wilson Rissfiguren eng an unterschiedliche Formen von Körperbewegungen im choreographischen Sinn geknüpft: Bei Salcedo steht das Gehen und Laufen als (inter-)aktive Tätigkeit der Museumsbesuchenden im Vordergrund. Bei Wilson tritt dieses Element noch verstärkt als Form der performativen Wanderung hervor, gestützt durch die Kombination und Kontrastierung mit vielfältigen tänzerischen Bewegungen. Bei Salcedo wurden die Bewegungen der Besuchenden im überschaubaren und stärker kontrollierten Raum des Museums durch die Figur des Risses ›im Grunde‹ initiiert und in gewissem Sinne durch diesen choreographisch vorstrukturiert. Rissfiguren bilden hier als ›Guideline‹ die Grundlage einer besonderen Form der Choreo-Graphie: eine risshafte Vorschrift

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im musealen Raum, die Bewegungen in gewisser Weise vorzeichnet, beschränkt und dabei zugleich relativ viele Freiräume für individuelle Herangehensweisen der Betrachtenden eröffnet. Unter dem titelgebenden Stichwort »Shibboleth« richtet sich der Blick auf ein erweitertes Verständnis von Bewegungen und ihrer Begrenzung im Kontext einer Geschichte von Krieg, Flucht und Vertreibung, wobei Fragen der Gewalt, der Ein- und Ausgrenzung insbesondere von und durch Sprache aufgerufen werden. Mit der Begehbarkeit der Risses im Boden und dem Stichwort »Shibboleth« wird so das Thema des Aussetzens einer Intelligibilität von Sprache in ein Verhältnis zur Bewegung im Raum des Museums gesetzt und den Formen non-verbaler Kommunikation der Besucher untereinander. Während das Aussetzen von Sprache in den vorigen Beispielen noch eher latent verhandelt worden war (bzw. im Falle Villeglés war die Unterbrechung bzw. Fragmentierung des Sprachlichen eher auf Schriftlichkeit bezogen), wird die Frage eines Zusammenhanges von Sprache und ihres gewalthaften Potentials im Sinne einer Grenze oder Barriere hier als museale Installation körperlich begeh- und damit sinnlich erfahrbar. Ist es bei Murakami und Brus primär der Körper des Künstlers der in den Aktionen latent oder konkret gefährdet wird, sind es bei Salcedo und auch bei Wilson nun eher die Besuchenden bzw. Teilnehmenden, deren Unversehrtheit (teils spielerisch, teils ernsthaft) latent aufs Spiel gesetzt werden. In beiden Fällen wird dabei in unterschiedlicher Weise nocheinmal Rekurs auf biblische Szenen genommen: Während Salcedo mit dem Begriff »Schibboleth« auf eine spezifische alttestamentarische Szene verweist, ist es bei Wilson deutlich erkennbar die neutestamentarische Szene des Abendmahls. Mit den dadurch aufgerufenen christlichen Narrativen geht es so einerseits um Fragen der Gemeinschaftsbildung sowie andererseits um Differenzen und Spaltungen innerhalb von und zwischen sozialen, ethnischen sowie religiösen Gruppen und Möglichkeiten, diese Differenzen zu überwinden, auszuhandeln, zu überschreiten bzw. neue Wege zu suchen, diese als solche zu reflektieren. Auf unterschiedliche Weise stellen beide Künstlerinnen dabei ökonomische Grundannahmen im doppelten Sinne Derridas (Ökonomie als Sphäre des Hauses und des Eigentums) in Frage: Während bei Salcedo durch den Riss spielerischsymbolisch die Statik des Museums-Gebäudes, sowie im übertragenen Sinne die institutionellen Ein- und Ausschlussmechanismen angegriffen werden, ›umgeht‹ Wilson in ihrer ortsspezifischen Inszenierung von vornherein kategorisch jegliche Form von geschlossener Räumlichkeit oder Häuslichkeit und setzt die Teilnehmenden zusammen mit den Tanzenden den ›Elementen‹ der offenen Landschaft aus. In der sorgsamen künstlerischen Verschränkung von unterschiedlichen Topoi überlappen und kontaminieren sich im Laufe der performativen Wanderung schließlich insbesondere medizinische und geologische Diskurse. Rissfiguren bilden dabei sich verschiebende Grenzlinien zwischen den

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Sphären des Körpers und der Landschaft: die Teilnehmenden können sich selbst in einer grundsätzlich anderen Art und Weise als Teil der Landschaft erfahren und dadurch ein fundamental verändertes Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung entdecken. Abschließend wird dieses Riss-verständnis nochmals, in Rekurs auf den ersten, sprachlich-philosophischen Teil der vorliegenden Arbeit, der Heidegger’schen Sichtweise auf die Figur eines Wanderers im Gedicht Trakls gegenübergestellt: überraschend kehrt in diesen Betrachtungen Heideggers Rissfigur abermals zurück, als Schwellen- und Schmerzfigur, die ein vereinsamtes Abendmahl-Szenario rahmt. Diese sprachphilosophische, wie auffällig empathielose Interpretation Heideggers verdeutlicht im Kontrast zu ihr den gemeinschaftlich-verbindenden Ansatz Wilsons in der Auseinandersetzung mit persönlichen Schmerz- und Verlusterfahrungen. Risse erscheinen so als verbindend-trennende, singulärplurale Figuren. Zwischen den drei erstgenannten und den beiden letztgenannten Beispielen der Untersuchung fällt auf, dass es sich in allen Fällen der Auseinandersetzung mit Rissfiguren in unterschiedlicher Art und Weise um fundamentale ›Lebensthemen‹ handelt: während die Risse im Falle der in der erweiterten Nachkriegszeit beginnenden künstlerischen Auseinandersetzung sowohl Villeglé, Brus als auch Murakami quasi ihr Leben lang begleiten und so werktechnisch gesprochen ›Dauer-Themen‹ für sie bleiben, handelte es sich bei den beiden zeitgenössischen Positionen der beiden weiblichen Künstlerinnen um ›Lebensthemen‹ in einem übertragenen, thematischen Sinne – bei denen Fragen von Leben, Tod, und Krankheit ins Zentrum gerückt und verstärkt mit Blick auf Möglichkeiten der Verarbeitung und kollektiven seelischen Heilung in Verbindung gebracht werden. Bezogen auf die zunächst zufällig vorgefundene Periodisierung der Beispiele ist im syn- bzw. diachronen Vergleich auffällig, dass die Auseinandersetzung mit Rissfiguren in verschiedenen Zeiträumen in gewissen Ballungen aufzutreten scheint. Es mag wenig überraschen, dass Rissfiguren als latente Bewegungen, vor allem in sog. »Latenzzeiten« (Haverkamp, Gumbrecht) wie nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt in das Blickfeld geraten, gerade in der sog. Nachkriegszeit bieten diese die Möglichkeit, unauflösliche Widersprüche, Gewalterfahrungen und die Grenzen des Sagbaren zu thematisieren und Verhältnisse gesellschaftlicher Zäsuren und Kontinuitäten neu auszutarieren. Die Entstehungszeiten der untersuchten Beispiele im Bereich künstlerischer Praxis scheinen nahezulegen, dass Rissfiguren in den 70er-90er Jahren in den Hintergrund treten, in eine unterschwellige Latenzphase, während sie im neuen Jahrtausend wieder verstärkt in Erscheinung treten. Dies kann jedoch allenfalls als ein Befund von begrenzter Aussagekraft gelten, da trotz umfassender Recherche die Suche nach Rissfiguren im Bereich von Theater und bildender Kunst nicht als systematisch abgeschlossen gewertet werden kann.

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Übertragungen/Resonanzen Die vorliegende Arbeit hat durch die Untersuchung von Rissen als materiellem Schauspiel und als performative Figuren dezidiert Resonanzen zwischen Philosophie und künstlerischer Praxis in verschiedenen Formen aus der Sicht spezifischer, dynamischer, materieller Leerstellen verfolgt: Die Betrachtungen von Rissfiguren im Kontext einer betrachtungslosen Theatermetaphorik bei Heidegger, die damit verbundene Ausblendung körperlich-phänomenologischer Dimensionen und ihre sukzessive Dekonstruktion durch Derrida, wird im ersten Teil des vorliegenden Bandes bereits mit der Hinzunahme von literarischen Rissfigurationen kontrastiert, um die festgestellten theoretischen Defizite deutlich sichtbar zu machen. Diese Strategie des Kontrastierens wird im zweiten Teil mit der dezidierten Untersuchung künstlerischer Beispiele von Rissfiguren erweitert und vertieft. Nachdem der erste Teil zunächst primär nach der Performativität von Rissfiguren innerhalb von Philosophien und literarischen Texten fragt, werden in Teil zwei Rissfiguren innerhalb von Arbeiten zwischen bildenden und performativen Künsten adressiert. Entsprechend müssen in beiden Teilen differente und zugleich interdependente Ausprägungen einer Performativität der Rissfiguren konstatiert werden: im ersten Teil geht es darum, in welcher Weise Rissfiguren (Eigen-)Dynamiken und Wirkungen innerhalb von Texten entfalten, inwieweit sie politische Sichtweisen zum Ausdruck bringen, bzw. verschleiern und auf diese zurückwirken, während es bei den untersuchten Fallbeispielen eher um ein kritisches Potential und die Wirksamkeit von materiellen Rissfiguren auf die an sie geknüpften (Eigen-)Dynamiken innerhalb künstlerischer Szenarien geht. Zwischen diesen latent differenten Ansätzen der Betrachtung werden durch die Betrachtung von Rissfiguren unterschiedliche Performativitätsansätze aufgeworfen, zwischen denen erneut vielfältige, latente Bezügen, geteilt-teilenden, trennenden Verbindungen konstatiert werden müssen – in beiden Bereichen spielen, obgleich in unterschiedlicher Weise – die sprachlichen Setzungen sowie ihre temporären Aussetzungen, Leerstellen und Fragmentierungen innerhalb von Schrift und Sprache eine zentrale Rolle. So gesehen stellt der zweite Teil der Arbeit weniger eine Form der ›Anwendung‹ der theoretischen Erkenntnisse des ersten Teils da, vielmehr wird von einer Gleichwertigkeit der beiden unterschiedlichen Ansätze ausgegangen. Beide Teile werfen in ihrer Durchführung vielfältige Wechselwirkungen sowie weitere Querverweise und Kontraste auf; Spuren des Risses springen bereits innerhalb der Teile quasi immer wieder zwischen Theorie und künstlerischer Praxis über. Die dieser Arbeit zugrundeliegende These, dass Rissfiguren aufgrund ihrer Eigendynamik und Selbstreferenzialität als immanent performativ zu betrachten seien, muss so gesehen in doppelter Weise als bestätigt gelten: sie müssen als

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dynamische Phänomene, d.h. Spuren und Figuren eines sich verändernden materiellen und permanent neu materialisierenden Umfeldes betrachtet werden. Rissfiguren bilden unabgeschlossene Schwellenfiguren zwischen sprachlichen und materiell-stofflichen Strukturen und ihren vielfältigen dynamischen Verflechtungen. Sie bilden dabei zugleich spektakuläre Spiel- und Schau-Räume innerhalb sich auflösender Szenarien von Bild- und Sprachlichkeit, in denen sie sich selbst als Gegenstand (latent) immer wieder entziehen. Innerhalb dieser dynamischen, sprachlich und künstlerisch, diskursiv wie ästhetisch komplex verflochtenen Bezüge, bleiben Rissfiguren aufgrund ihrer uneindeutigen performativen Wirksamkeit in doppelter Weise zutiefst ambivalent: In vielgestaltigen performativen Figurationen zeigen sie sich zugleich als Ausdruck von (latenten) Bewegungen sowie als Figuren dynamischer Unterbrechungen, d.h. der Aussetzung von Bewegung; sie stehen in ihrer latenten Latenz zugleich für Zäsur und (potentielle) Kontinuität. Risse erweisen sich als materiell-stoffliche Bewegungen, die weitere, häufig körperlich-leibliche Bewegungen implizieren, suggerieren und initiieren, zugleich können sie diese begrenzen und teilweise bzw. vorübergehend aussetzen und beschränken. Aus diesen antizipierten und zugleich vorher unbestimmbaren Dynamiken heraus erklärt sich, zumindest teilweise, das affektive Potential von Rissfiguren, ihre Faszination und phänomenologische Anziehungskraft. Risse zeigen sich in ihrer Latenz als amivalente, autopoetische, selbstreferentielle Figuren, welche die Tendenz haben, sich aufgrund ihrer temporalen sowie aisthetischen Latenz der eigenen Thematisierung immer wieder zu entziehen. Sowohl bei ihrer Untersuchung als Sprachfiguren, als auch als materiell-stoffliche Phänomene in performativen, künstlerischen Kontexten werfen Risse in insistierender Weise vielfältige grundlegende Fragen an die von ihnen durchlaufenen, sie beherbergenden Strukturen und Materialitäten auf. Die vorliegende Untersuchung zeigt detailliert, wie philosophisch und künstlerisch das auto-poetische sowie kritische Potential ihrer Eigendynamik aufgegriffen und versucht wird, sich die daraus resultierenden Dynamiken in argumentativer, bzw. ästhetischer Weise zunutze zu machen. Dabei zeigen sich Risse immer wieder als schwierig zu lenkende und kaum kontrollierbare materielle Ereignisse, die sich am Rande von Unvorhersehbarkeit und kaum prognostizierbaren Entwicklungen bewegen. Teilweise dienen Rissfiguren aus künstlerischer Sicht dazu, die Regulationsbestrebungen dominanter Macht- und Ordnungsstrukturen zu konterkarieren. Jedoch subvertieren Risse als performative Figuren zugleich auch solch zielgerichtete künstlerische wie theoretische Instrumentalisierungen. Aufgrund ihrer spezifischen, latenten Bewegungen und potentiellen Eigen–Dynamiken öffnen Rissfiguren die Wahrnehmung für übergeordnete Rhythmen und Raster, die über alltägliche bzw. menschlich wahrnehmbare Zeitdimension hinausweisen, wie u.a. an Villeglés durchbrochenen zeitlichen Sedimentschichten deutlich wurde, aber auch an Murakamis risshaften Bezügen zu diversen medialen

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und künstlerischen Vor- und Nachbildern sowie – vielleicht am deutlichsten – bei Wilson, als die durch ihre Arbeit aufgerufene ›longue dureé‹ (Braudel), als einer bewussten Fokusverschiebung in Richtung übergeordneter, geologischer Zeitdimensionen. Am Rande dieser vielgestaltigen performativen Rissfiguren in künstlerischen wie in theoretischen Feldern bzw. aus ihnen heraus, zeigen sich umfassende Dynamiken, die weitreichende Implikationen für unsere Wahrnehmung von materiellen Strukturen nach sich ziehen. Durch Rissfiguren wird so die gewöhnlicherweise konstatierte (wie zugleich konstruierte) Stabilität und Starrheit einer materiell-stofflichen Welt, wie auch ihre glatte, eindeutige, wie lediglich oberflächliche kategoriale Erfassung und thematisch-disziplinäre Eingrenzung fundamental in Frage gestellt. Ebenso wird der häufig konstatierte Hiatus zwischen Theorie und künstlerischer Praxis aufgrund der trennend-verbindenden Eigenschaft von Rissen neu ausgelotet und grundlegend dynamisiert. Rissfiguren als materielles Schauspiel in künstlerischen wie theoretischen Kontexten zeigen sich als Spuren und Marker eines umfassenden, andauernden, ungleichmäßig wie sprunghaft verlaufenden materiellen Wandels und Aufbrechens an den Schwellen des (menschlich) Wahrnehmbaren.

Methodische Implikation In Anbetracht eines völlig neuen Gegenstandes der theaterwissenschaftlichen Analyse stellen Risse als performative Figuren und materielles Schaupsiel das methodische Vorgehen vor Herausforderungen: Ein Modell der Auseinandersetzung lag bisher nicht vor. Während diese Arbeit somit einerseits auf bestehende Verfahren, wie u.a. Diskurs- und Aufführungsanalyse, hermeneutische wie phänomenologische Ansätze, eingehende Textanalyse im Sinne eines ›close reading‹ aber auch kunstwissenschaftliche Ansätze wie Bild- und Fotointerpretation zurückgreift, zeigt die Arbeit, dass sich an der Vorgehensweise und Methodenkombination selbst ›risshafte‹ Züge feststellen lassen. Nimmt man diesen Befund ernst, so stellt sich die Frage, was sich daraus Verallgemeinerbares für die theater- bzw. geisteswissenschaftliche Forschung und das Lebendig-Halten ihrer Forschungsmethoden ableiten lässt. Der Verweis auf neu aufgeworfene Leerstellen, der Fund und Befund von Lücken in der Forschung ist hier so obligatorisch wie doppeldeutig: Zum einen sind Risse von vornherein selbst konkrete, materiell-stoffliche Leerstellen bzw. Lücken und als solche ja gerade Gegenstand der Untersuchung, die ihre spezifische Verfasstheit zu beschreiben anstrebt. Zum anderen entstehen im Verlauf der Untersuchung zahllose neue ›Leerstellen‹ im übertragenen Sinn, denn im Kontext der Recherche größtenteils zufällig entdeckte Rissfiguren in Theorie, Film, Literatur, Theater, Tanz, bildender Kunst, mussten an den Rand geschoben werden oder unerwähnt bleiben, um der ausufernden Untersuchung dennoch einen ›stabilen‹ und klar ›umrissenen‹ Rahmen zu geben.

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Schlussbetrachtungen

Somit stellt sich grundsätzlich die Frage, was innerhalb dieser Studie eigentlich eine ›systematische‹ Suche nach Rissfiguren heißen kann, denn eine solche Recherche muss aufgrund fehlender kategorialer und disziplinärer Einordnungen von vornherein latent unsystematisch vorgehen. Mehr noch, die Untersuchung von Rissfiguren stellt in gewisser Weise grundsätzlich das Systematische geisteswissenschaftlicher Recherchen in Frage und betont vielmehr das Akzidentelle, die Wichtigkeit des vielfältigen Austausches mit Kolleginnen und Kollegen sowie Freunden und Bekannten, der oftmals überraschende Hinweise und weitere Beispiele zu Tage fördert und mit neuen Einsichten einhergeht. In eigenartiger Weise hat die Beschäftigung mit Rissfiguren im Feld von Theorie und künstlerischer Praxis so zu einem methodischen Vorgehen geführt, das sich in seiner starken Bindung an informelle Gespräche und vielfältige Dialoge insofern selbst als risshaft darstellt, in dem Sinne, dass es Latenzzeiten aufweist, dann wieder plötzliche Sprünge macht, d.h. eigendynamisch verläuft und unvorhergesehene Richtungsänderungen beinhaltet. Das Untersuchungsfeld stellt sich als ein scheinbar organisch wachsendes und vielfältiges Gewebe heraus, dessen Analyse eine Eigendynamik entfaltet, die sich im Prozess des Schreibens keineswegs vollständig kontrollieren lässt – aber dennoch in gewisse Richtungen lenken, teilweise verschieben – und schnitthaft eingrenzen. Beschreibt dieser Befund nicht in Ansätzen die Dynamiken jeglichen geisteswissenschaftlichen Arbeitens? Die anfängliche Suche nach passenden Beispielen, ist sie nicht in gewisser Weise immer ein Stück weit kontingent, von Zufällen abhängig, die gedanklichen Bewegungen, stets an den Grenzen von Sprache und dem Befund ihres Aussetzens, die Nicht-Linearität des Forschens und Denkens, den Seitwärtsbewegungen, dem metaphorischen »Abdriften« (Derrida), d.h. auch dem Abdriften ins Metaphorische? All diese unsichtbaren Selbstverständlichkeiten werden durch das Nachdenken über Risse als performative, selbst-referentielle Figuren verstärkt evident und evozieren weiterführende methodische Überlegungen. ›Risshaftes Forschen‹, so wie es in dieser Arbeit aufgefasst und praktiziert wird, orientiert sich an der Materialstruktur ihres Gegenstandes und ist ergo ein Gegenstand-geleitetes Forschen, welches kritisch konventionelle Kategorisierungen, Kanonisierungen aus Perspektive von Leerstellen und Auslassungen hinterfragt. Als methodisches Vorgehen berücksichtigt risshaftes Forschen die bestehenden und entstehenden Leerstellen des vorliegenden Materials und des eigenen Arbeitens und versucht, diese explizit zu machen bzw. im Prozess zu produktivieren. Unvorhersehbare Richtungswechsel, Kontingenzen und Latenzzeiten im Prozess des Forschens und Recherchierens erhalten dabei einen entscheidenden Stellenwert. Ein an Risshaftigkeit orientierter Arbeitsansatz wertet systematisch ›unsystematische‹ Vorgehensweisen auf: Gespräche, Hinweise, Zufälle des Recherchierens

16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis

gelten als zentral, wobei sich der Ansatz als offen gegenüber dem Arbiträren, Akzidentellen des eigenen Arbeitens ausweist. Entsprechend der spezifischen Form von Rissfiguren ergibt sich hieraus eine Forschungsbewegung, die einerseits die Oberflächen der untersuchten Felder in den Fokus rückt und an den durchlässigen, porösen Stellen, in die Tiefe des Materials einzudringen sucht. In diesem Sinne erweist sich risshaftes Vorgehen als ist ein insistierendes Arbeiten, welches Widersprüche eher anzuzeigen als zu kaschieren sucht. Das risshafte Vorgehen versteht sich selbst in enger Wechselbeziehung mit dem untersuchten Material, die Wirkungsrichtung des Forschens ist reziprok: Gegenstand und Untersuchung bilden ›differentielle Einheiten‹. Entsprechend der festgestellten performativen Selbstreferenzialität von Rissfiguren knüpft risshaftes Forschen an dekonstruktive Verfahrensweisen an: Kritik bedeutet in diesem Sinne auch stets und zuerst selbstkritische Reflektion der eigenen Grundannahmen. Als letzter Punkt sei hier noch der zentrale Aspekt der Latenz von Rissfiguren angemerkt. Die risshafte Forschung versucht gewisse Latenzzeiten des Arbeitens als wichtige Voraussetzungen zu akzeptieren – diese werden keineswegs als ›unproduktive‹ Phasen gesehen, in denen nichts Wesentliches geschieht. Vielmehr handelt es sich um häufig spannungsreiche Phasen in denen gedanklich durchaus viel in Bewegung ist bzw. unvorhergesehen in Beweung gerät, auch wenn sich dies an den Oberflächen (insbesondere jenes des Schreibens) erst mit Verzögerung zu materialisieren beginnt. Risshaftes Arbeiten versucht dementsprechend anzuerkennen, dass sowohl die thematischen Gegenstände als auch die Forschenden gewissen Eigenzeiten unterliegen, die zwar beeinflusst, jedoch nicht vollständig kontrolliert werden können.

Ausblick Durch den doppelten Ansatz, die Performativität und die (latent) theatralen Bezüge, ergo: den Schaupspielcharakter von Rissfiguren innerhalb von (sprach-)philosophischen Feldern und innerhalb stofflicher Materialitäten an den Schwellen von bildendenden und performativen Künsten zu verorten, werden neue Beziehungen und Forschungsperspektiven zwischen Theorie und künstlerischer Praxis eröffnet. Die Betrachtung von unterschiedlichen Rissfiguren und Kontexten stellt in der vorliegenden Arbeit somit ein heuristisches Verfahren dar, um die dynamischen Beziehungen und Resonanzen zwischen sprachlich-theoretischen und künstlerischkulturellen Diskursfeldern zu untersuchen. Der spezifische thematische Fokus auf den materiellen Schauspielcharakter von Rissen oder anders gesagt: der Fokus auf Risse als performative Figuren, erlaubt dabei eine klare Eingrenzung der Auswahl von Beispielen und Texten aus einer über zweitausendjährigen Zeitspanne, innerhalb derer sich vielfältige Parallelen und widerkehrende Motive

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Schlussbetrachtungen

herauskristallisieren, aus denen sich neue Perspektiven auf die thematischen Bereiche Materialität, Bewegung, Performativität, Theatralität, sowie Körperlichkeit und Bildlichkeit ableiten. Die Stichworte Latenz und Ambivalenz bilden neben dem Schauspielcharakter innerhalb der Untersuchung zwei weitere zentrale, wiederkehrende Beschreibungskategorien vielfältiger Risskonfigurationen. Rissfiguren zeigen sich sowohl in theoretischen wie künstlerischen-kulturellen Kontexten als selbst-referentiell, eigen-dynamisch, aufgrund ihrer Latenz in ein komplexes Geflecht aus Zeigen und Verbergen verwoben, uneindeutig zwischen Materialität und Metaphorizität schwankend – tief ambivalent. Die Arbeit eröffnet durch die Betrachtungen von Rissfiguren neue Perspektiven auf Möglichkeiten und Grenzen von, sowie Verschiebungen zwischen Materialität und SprachBildlichkeit im Kontext eines dynamischen Beziehungsgeflechtes mit Formen von Theatralität und Performativität. Durch die Untersuchungen werden Fragen von Bewegung und Körperlichkeit in einem komplexen Wechselspiel von Absenz und Präsenz (bzw. des Präsent-Machens) in vielfältiger Weise für materiell-stoffliche Dynamiken und ihre verbundenen Diskurse anschlussfähig. Risse greifen als performative Figuren die in- und externen Grenzen von Bild-, Sprach- und Körperlichkeit an und weisen zugleich auf die unsauberen Ränder dieser Kategorien. Bezogen auf die untersuchten Beispiele lässt sich eine latente Bewegung weg von Fragen der Bildlichkeit und Repräsentation hin zu einer Auseinandersetzung mit Fragen von Leib- und Körperlichkeit, Bewegung sowie deren Beziehung zu Stofflichkeit, Materialität und Dynamiken der Materialisierung feststellen. Innerhalb von Prozessen der Wissensbildung hinterfragen Rissfiguren als dynamische Neuverortungen gleichzeitig die Gegenstände und Kategorisierungen der Disziplinen: Fragen der Ko-Präsenz von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Sinne eines veränderten, materialistischkritischen Denkens treten in den geistes-, theater- und tanzwissenschaftlichen Diskursen in den Vordergrund, ebenso wie komplexe Konfigurationen von Präsenz und Absenz. Risse als performative Figuren spiegeln so die noch weiter zu ergründenden Leerstellen und Potenziale der sich verändernden Performativitäts-, Theatralitäts- und Bewegungsforschung wider. Für die zukünftige theater- bzw. tanzwissenschaftliche Forschung ergeben sich aus dieser Perspektive folgende weiterführende Desiderata: Zum einen ergibt sich aus der vorliegenden Untersuchung von Rissfiguren als performative Phänomene ein Plädoyer für die weiterführende Verschränkung von Kultur- und Geisteswissenschaften unter Einbeziehung von theater-, tanz- und bewegungswissenschaftlichen Forschungen, welche zunehmend die Dynamiken nicht-menschlicher Instanzen in den Fokus rücken. Die Ergebnisse dieser Arbeit weisen somit auf eine seit nunmehr einigen Jahren in Bewegung geratene Entwicklung des theater- und tanzwissenschaftlichen Feldes im Sinne einer Öffnung für Diskurse einer Materialität des Stofflichen hin. Die Suche nach neuen Verbindungs- bzw.

16. Risse als Figuren trennender Verbindung zwischen Theorie und Praxis

Trennlinien zwischen Theaterwissenschaft und anderen Disziplinen, insbesondere Tanz-, Bewegungswissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Bild- und Sprachwissenschaft erweist sich dabei als Reaktion auf die Notwendigkeit, dass die Grenze des Menschlich-Nicht-Menschlichen im Sinne einer nicht-statisch gedachten Stofflichkeit – und daraus resultierenden Formen der Beziehung – neu in Betracht gezogen werden muss. Die Untersuchung von Rissen als Schauspiel und als performative Figuren zwischen Sprache, Bild und Körperlichkeit liefert hierfür einen weiteren Ansatz und ein methodisches Instrumentarium. Es sei hier jedoch abschließend betont, dass die theater- bzw. geisteswissenschaftliche Forschung zu Rissfiguren mit dieser Arbeit keineswegs als abgeschlossen gelten kann; zahlreiche Beispiele sowohl im Bereich von Performance, bildendenden Künsten, als auch in Literatur und weiteren kulturellen Bereichen, mussten in dieser Arbeit aus Platzgründen unberücksichtigt bleiben. Lediglich in Ansätzen konnte in dieser Untersuchung die mit Rissen verbundenen Fragestellungen bzgl. Gender-Aspekten berücksichtigt werden. Die weiterführende Untersuchung, inwieweit Rissfiguren zur Dekonstruktion bzw. zur Destabilisierung von Gender-Rollen beitragen (können), steht somit noch aus. Auch die ›de-finierende‹ Abgrenzung von ›Trennungsmetaphern‹ kann (per se) nicht als abgeschlossen gelten: wie lassen sich Risse und Schnitte, Risse und Brüche weiter voneinander differenzieren, welche Überschneidungsbereiche bestehen? Diese Untersuchung würde insbesondere in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Medien- und Materialwissenschaftenwissenschaften von besonderem Interesse sein. Ebenso wäre eine weiterführende Untersuchung von Rissfiguren in transkulturellen Kontexten höchst wünschenswert – da Risse bereits lange vor Menschengedenken existierten, auf allen Kontinenten, in allen Regionen und Epochen vorkommen, sind vielfältigste Verbindungen mit kulturellen Betrachtungsformen selbstevident. Unter der Berücksichtigung der Latenz von Rissfiguren und ihrer Eigenschaft, sich ihren Thematisierung zu entziehen, offenbart sich hier ein weitreichendes Untersuchungsfeld – hierzu wären einerseits die entsprechenden fremdsprachlichen Begrifflichkeiten und Nomenklaturen für Rissfiguren zu klären und andererseits die Kontexte ihrer Betrachtung, Darstellung bzw. Verwendung ggf. in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Sprach- und Regionalwissenschaften in den Blick zu nehmen. Insbesondere die religiösen und spirituellen Dimensionen der Figur des Risses sind in dieser Arbeit nur ansatzweise berührt worden und könnten in vielfältiger Hinsicht vertieft werden: in welchen spirituellen und rituellen Praktiken kommen Risse vor, seit wann existieren diese Traditionen und wie haben sich diese Praktiken verändert? Die vorliegende Arbeit liefert erste theoretische Ansätze und soll Anreiz geben, für eine zukünftige weiterführende Beschäftigung mit Figuren von Rissen als faszinierendes, teilweise atemberaubendes und gelegentlich beänstigendes

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Schlussbetrachtungen

­ aterielles Schauspiel, das uns als Betrachtende tief berühren kann und gleichm zeitig aufgrund seiner Latenz und Ambivalenz immer wieder aus dem Blick gerät. Rissfiguren bleiben – als materielles Schauspiel – innerhalb der Theaterwissenschaft und darüber hinaus, ein zutiefst widersprüchlicher ›Gegenstand‹, der sich als körperlich-unkörperliches Phänomen immer wieder entzieht und deshalb als solches – möglicherweise – stets etwas Unabgeschlosses in sich tragen wird.

Danksagung

Wie Rissfiguren selbst ist auch die Auseinandersetzung mit Ihnen geprägt von Sprüngen und Latenzzeiten. Was mich in der weit über zehnjährigen Beschäftigung mit Rissen immer wieder bekräftigt und mir neue Energie gegeben hat, waren die zahlreichen Dialoge mit Kolleg*innen und Freund*innen, nach Präsentationen, während Konferenzen aber auch in privaten Gesprächen, in denen immer wieder neue und überraschende Aspekte, Wendungen und weitere Beispiele zum Vorschein kamen. Bedingt durch diese vielfältigen Formen des Austauschs ist eine Dissertation immer auch ein kollaboratives Projekt, voller unvorhersehbarer Sprünge und Wendungen. Unterstützt wurde ich dabei durch den Zuspruch und das Vertrauen von Vielen, denen mein tiefer Dank und meine Verbundenheit gilt: angefangen bei meiner Erstgutachterin Gabriele Brandstetter, deren wissenschaftliche Neugier, ›tänzerische‹ Leichtigkeit und Präzision im Umgang mit Sprache sowie philosophische Tiefgründigkeit mir immer ein großes Vorbild sein werden. Mein Dank gilt ebenso Erika Fischer-Lichte, deren Weitsichtigkeit und Offenheit, u.a. mit dem Thema »Verflechtungen von Theaterkulturen« eine große Inspiration war und die mir, wie vielen anderen, damit zugleich einen institutionellen Rahmen zur Verfügung gestellt hat, der nicht nur einen wertvollen Austausch mit hochgeschätzten internationalen Fellows und Kolleg*innen sondern auch die langjährige Arbeit an dem Forschungsprojekt als solches ermöglicht hat. Der Großzügigkeit, Offenheit und vielfältigen Unterstützung aller Direktor*innen des Kollegs, neben den bereits Genannten insbesondere auch Christel Weiler und Matthias Warstat, gebührt mein tiefster Dank. Desweiteren Danke ich meinen Kolleg*innen Gerko Egert, Sandra Umathum, Susanne Foellmer, Andrej Micev, Stephen Barber und Adam Czirak für Ihre Lektüren und ihre Bereitschaft zur Mitwirkung in der Prüfungskommission. Sowohl allen Teilnehmenden im Forschungskolloquium von Gabriele Brandstetter als auch im Kolloquium unter Leitung von Klaus-Peter Köpping (†), herzlichen

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Risse als materielles Schauspiel

Dank für all die Anregungen während zahlreicher Präsentation. Vielen Dank auch an Vito Pinto für seinen Rat und seine Unterstützung beim Satz des Textes. Meinen Eltern Gerda und Hartmut Hartung und meiner Schwester Iris Folkers danke ich für Ihr Mitfiebern und Anteilnehmen am Schreib- und Forschungsprozess; die Gespräche mit Euch haben mich immer wieder bestärkt – und die Promotion meines Vaters Hartmut zu Fragen der Problemgenese warf interessante Parallelen und Einsichten im Nachdenken über Risse und zum wissenschaftlichen Arbeiten im Allgemeinen auf. Meiner liebsten Grit –, vor allem Dir gilt, von tiefstem Herzen, mein Dank für Deine Geduld, Nachsicht und Unterstützung durch all die Jahre, mit all den Wendungen und Wandlungen des Lebens. Ich bin froh und glücklich, dass wir diesen Weg gemeinsam beschreiten. Unserem in dieser Zeit geborenen Sohn Julian Tim ist dieses Buch gewidmet. Woher die Inspiration zu dem Thema kam, war und ist mir selbst ein Rätsel, was davon, dadurch und danach bleiben oder sich fortsetzen, übertragen oder entzogen haben wird, sind möglicherweise wiederum Risse, metaphorisch und/ oder materieller Natur sowie deren Spuren, Verästelungen, Verwandlungen und – im besten Falle – weitere offene Fragen...

Literatur

Achten, Wim J.M. und Hagel, Ute: »Theatervorhang«, in: Brauneck, Manfred (Hg.): Theaterlexikon: Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992. S. 1022-1024. Adorno, Theodor W.: »Jargon der Eigentlichkeit«, in: Tiedemann, Rolf; unter Mitw. von Gretel Adorno (Hg.): Gesammelte Schriften. Digitale Ausgabe (basiert auf der zwanzigbändigen Buchausgabe der »Gesammelten Schriften«, von 1970 bis 1986 im Suhrkamp-Verlag erschienen = Digitale Bibliothek 97), Berlin: Directmedia, 2003. S. 413-531. Adorno, Theodor W.: Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. München: Dt. Taschenbuch-Verl., 1963. Agamben, Giorgio: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002. Aho, Kevin: Heidegger’s neglect of the body. Albany, N.Y.: SUNY Press, 2009. Al-Saji, Alia: »Life as Vision: Bergson and the Future of Seeing Differently«, in: Kelly, Michael R. (Hg.): Bergson and phenomenology, Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan, 2010. S. 148-173. Alberge, Dalya: »Welcome to Tate Modern’s floor show – it’s 167m long and is called Shibboleth«, in: The Times vom October 9 2007. Alloa, Emmanuel: »Restitutionen«, in: Espinet, David und Keiling, Tobias (Hg.): Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«: ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main: Klostermann, 2011. S. 251-265. Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina: »Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik. Interdisziplinäre Perspektiven«, in: Alsen, Katharina Kim und Heinsohn, Nina (Hg.): Bruch – Schnitt – Riss: Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten, Berlin, Münster, u.a.: LIT, 2014. S. 1-38.

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Bildnachweise

Abb. 1 | Hornbach Kampagne »Keiner spürt es so wie Du«, Werbeagentur Heimat Berlin, 2012, (Videostill). Zugriff unter: http://www.heimat-berlin.com/arbeiten/ kampagnen/Hornbach-Keiner%20spürt%20es%20so%20wie%20Du./256b5f 9fe6739a4ad683f8187ef296de am 21. Aug. 2016. Abb. 2 | John William Waterhouse: Thisbe or the Listener/Thisbe oder die Lauscherin (1909). Zugriff unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Thisbe_-_

John_William_Waterhouse.jpg  am 21. Aug. 2016.  Abb. 3 | Jacques Villeglé und Raimond Hains: Ach Alma Manetro (1949). Abgedruckt

in: Schlicht, Esther; Wetzel, Roland; Hollein, Max und Museum Tinguely (Hg.): Poesie der Grossstadt. Die Affichisten (Anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum Tinguely, Basel, 22. Oktober 2014 - 11. Januar 2015). Köln: Snoeck, 2014. S. 12/13. Abb. 4 | Museumshinweis vor dem Bild Ach Alma Manetro (1949). Foto: Holger Hartung. Aufgenommen am 10. Januar 2015 in der Ausstellung »Poesie der Grossstadt. Die Affichisten. François Dufrêne, Raymond Hains, Mimmo Rotella, Jacques Villeglé, Wolf Vostell«. 22. Oktober 2014 – 11. Januar 2015. Museum Tinguely, Basel. Abb. 5 | Jacques Villeglé und Raimond Hains: Ach Alma Manetro hinter Glas (1949, Detail). Foto: Holger Hartung. Abb. 6 | Gründungsmanifest der Nouveaux Réalistes (1960). Abgedruckt in: Bourriaud, Nicolas; Bon, François und Cabañas, Kaira Marie (Hg.): Jacques Villeglé. (Flammarion Contemporary). Paris: Flammarion, 2007. S. 151. Abb. 7 | Murakami Saburō, Passage (Tsūka, 1956). Abb. 8 und Abb. 9 | Gegenüberstellung zweier »Exits«: Murakami Saburō, Passage (Tsūka, 1956)  Abgedruckt in: Kee: »Situating a Singular Kind of ›Action‹: Early Gutai Painting, 1954-1957«. S. 139.

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Risse als materielles Schauspiel Abb. 10 | Die nummerierte Kleinbildserie zeigt Murakami Saburō beim Durch-

laufen des Leinwandgestells. Fotografien von Otsuji Kiyoji  Mit freundlicher Unterstützung der Musashino Art University Museum & Library. Abb. 11 | Murakami Saburō innerhalb seines Leinwandgestells, zusammen mit Yamazaki Tsuruko. Abgedruckt in: Tiampo: Gutai: decentering modernism. Abb. 12 | Schlusssequenz aus Entr’acte, Screenshots (1924, Regie: René Clair). Abb. 13 | Leinwand-Gestell Murakamis, welches von ihm im Rahmen der Retrospektive seiner Arbeiten im Pariser Centre Pompidou am 8. November 1994 durchlaufen wurde  Abgedruckt in: Centre Pompidou (Hg.): Le mouvement des Images. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Centre Pompidou, Paris vom 9. April 2006-29. Januar 2007). Paris: Edition Centre Pompidou, 2007. S. 47. Abb. 14 | Lucio Fontana Concetto spaziale, Attese (1964). Quelle: https://www. christies.com/img/LotImages/2017/CKS/2017_CKS_14441_0114_000 (lucio_fontana_concetto_spaziale_attese).jpg. Abb. 15 | Eadward Muybridge: The Human Figure in Motion. Athlete. Running (1887, Bild-Ausschnitt). Abgedruckt in: Muybridge, Eadweard: The Human figure in motion... An electro photographic Enbestigation of consecutide phases in Muscular Actions. London: Chapman and Hall, 1907. S. 35. Abb. 16 | Murakami Saburō beim Durchlaufen seines Leinwand-Gestells. Foto: Otsuji Kiyoji  Abgedruckt in: Otsuji: Kiyoji Otsuji. Photography Archive. The Traces of the Photographer and the Art of his Era 1940-1980. S. 46. Abb. 17 | Étienne-Jules Marey: Mouvements d’un cheval blanc, chronophotographie sur plaque fixe (1886). Abgedruckt in: Manning, Erin: Relationscapes: Movement, Art, Philosophy. Cambridge, London: MIT, 2009. S. 94. Abb. 18 | Günter Brus, Ohne Titel (1960). Schraffuren mit eingerissenem Papier  Abgedruckt in: Schmitz, Britta: Günter Brus Störungszonen. Köln: Walther König, 2016. S. 29. Abb. 19 | Günter Brus, Ohne Titel (1962). Abgedruckt in: Faber, Monika; Schröder, Klaus Albrecht und Albertina, Graphische Sammlung (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung. Köln: König, 2003. S. 41. Abb. 20 | Günter Brus, Ohne Titel (1963), aus: Malerei in einem labyrinthischen Raum. Abgedruckt in: Brus, Günter; Klocker, Hubert; Graphische Sammlung Albertina und Museum Ludwig: Wiener Aktionismus: Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler. Klagenfurt: Ritter, 1989. S. 60/61. Abb. 21 | Günter Brus, Ana (1964), Fotos: Siegfried Klein (»Kasaq«). Abgedruckt in: Klocker, Hubert; Faber, Monika und Brus, Günter (Hg.): Günter Brus Aktionen 1964/65. Milano: Mazzotta, 2005. S. 48. Abb. 22 | Günter Brus, Ana (1964), Fotos: Siegfried Klein (»Kasaq«). Abgedruckt in: Klocker, Hubert; Faber, Monika und Brus, Günter (Hg.): Günter Brus Aktionen 1964/65. Milano: Mazzotta, 2005. S. 60.

Bildnachweise Abb. 23 | Günter Brus, Selbstbemalung 1 (Handbemalung – Kopfbemalung –

Kopfzumalung), Dezember 1964. Abgedruckt in: Brus; Klocker; Graphische Sammlung Albertina und Museum Ludwig: Wiener Aktionismus: Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler. S. 288. Abb. 24 | Günter Brus, Selbstverstümmelung, 1965, Foto Khasaq. Abgedruckt in: Klocker; Faber und Brus (Hg.): Günter Brus Aktionen 1964/65. S. 89. Abb. 25 | Selbstbemalung (1964). Foto: Ludwig Hoffenreich. Abgedruckt in: Brus, Günter; Steinle, Christa; Weibel, Peter und Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum.: Bruseum. Ein Museum für Günter Brus. Ostfildern: Hatje Cantz, 2011. S. 147. Abb. 26 | Figur des chinesischen buddhistischen Mönchs Baozhi und beigefügter Kommentar Roland Barthes’ (»Das Zeichen ist ein Riß...«). Abgedruckt in Barthes: Das Reich der Zeichen. S. 76. Abb. 27 | Selbstbemalung (1964): Foto: Ludwig Hoffenreich. Abgedruckt in: Brus, Günter; Steinle, Christa; Weibel, Peter und Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum.: Bruseum. Ein Museum für Günter Brus. Ostfildern: Hatje Cantz, 2011. S. 145. Abb. 28 | Günter Brus: Wiener Spaziergang (1965). Foto: Ludwig Hoffenreich. Abgedruckt in: Brus, Günter; Steinle, Christa; Weibel, Peter und Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum.: Bruseum. Ein Museum für Günter Brus. Ostfildern: Hatje Cantz, 2011. S. 187. Abb. 29 | Ankündigungsplakat Zerreissprobe. Abgedruckt in Faber; Schröder und Albertina (Hg.): Günter Brus. Werkumkreisung. S. 83. Abb. 30 | Günter Brus, Zerreißprobe (1970). Foto: Klaus Eschen. Abgedruckt in: Brus; Steinle; Weibel und Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum.: Bruseum. Ein Museum für Günter Brus. S. 261. Abb. 31 | Eingangsbereich der Turbine Hall (Tate Galery London) mit verfugtem Riss von Doris Salcedo. Foto: Holger Hartung  (2. September 2012). Abb. 32 | Doris Salcedo, Shibboleth (2007), Überblicksansicht mit Blick auf das Eingangsportal, Tate Modern Gallery London. Foto: ramson, Quelle: https://flic. kr/p/4buia9, zuletzt besucht am 25.09.2022 (lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/). Abb. 33 | Doris Salcedo, Shibboleth (2007) als feiner Haarriss im Eingangsbereich. Foto: ramson, Quelle: https://flic.kr/p/4budXW zuletzt besucht am 25.09.2022. (Lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https://creativecommons. org/licenses/by-nc-sa/2.0/). Abb. 34 | Doris Salcedo, Shibboleth (2007), Besuchende der Ausstellung Shibboleth interagieren und posieren mit dem Riss. Foto: Loz Pycock. Quelle: https:// flic.kr/p/3nm1qh, zuletzt besucht am 25.September 2022 (lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/).

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Risse als materielles Schauspiel Abb. 35 | Doris Salcedo, Shibboleth (2007) »Loosing head in Tate«. Foto: Andrej

Chudy (truu), Quelle https://flic.kr/p/44geie, zuletzt besucht am 25.09.2022 (lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/ by-nc-sa/2.0/). Abb. 36 | Besuchende der Ausstellung Shibboleth und ihre unterschiedlichen Laufrichtungen. Foto: Loz Pycock, Quelle: https://flic.kr/p/3nkQLY. Zuletzt besucht am: 31. Juli 2018.  (Lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https:// creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/). Abb. 37 | Ränder des Risses mit Spuren drahtzaunartiger Strukturen. Foto: Loz Pycock, Quelle: https://flic.kr/p/3ngun4, zuletzt besucht am: 25.September 2022 (lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https://creativecommons.org/ licenses/by-nc-sa/2.0/). Abb. 38 | Spuren des verspachtelten Risses mit darauf stattfindender Performance »These Associations« von Tino Sehgal (2012). Foto: Holger Hartung. Abb. 39 | Verfugter Riss am Breitscheidplatz. Foto: Holger Hartung. Abb. 40 | Fissure (2011). Tänzerin in der Umgebung des Steinbruchs. Foto: Holger Hartung. Abb. 41 | Fissure (2011). Schattenwurf der Teilnehmenden im Ribblehead Steinbruch. Foto: Holger Hartung. Abb. 42 | Fissure (2011). Tänzerinnen breiten ein rotes Seil im tiefergelegenen Teil des Steinbruchs zu einer Spirale aus. Foto: Holger Hartung. Abb. 43 | View of Ribblehead Viaduct from the layby on Low Sleights Road #3. Looking north-northwest. Foto: Robert Lamb. Quelle: https://www.geograph. org.uk/photo/5911908, zuletzt besucht am 30.09.2022 (Lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/). Abb. 44 | Fissure (2011). Tisch mit besticktem Tischtuch und Objekten im Steinbruch. Foto: Bethany Clarke, Quelle: https://www.louiseannwilson.com/work/fissure, zuletzt besucht am  30.09.2022. Abb. 45 | Das letzte Abendmahl (Leonardo da Vinci, 1495-1498, Detail). Quelle:  https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Last_Supper_by_Leonardo_da_Vinci. jpg#/media/Datei:Last_Supper_by_Leonardo_da_Vinci.jpg, zuletzt besucht am  30.09.2022. Abb. 46 | Fissure (2011). Geigenspielerin und Tänzerin in den Tiefen der Ingleborough Caves, Zuschauende beobachten das Geschehen von den abgesicherten Rändern. Foto: Holger Hartung. Abb. 47 | Fissure (2011). Tänzerin bewegt sich gebückt in einer niedrigen Felsspalte der Ingleborough Caves. Foto: Holger Hartung. Abb. 48 | Risse im Kalksandstein der Yorkshire Dales. Foto: Holger Hartung. Abb. 49 | Fissure (2011). Ausgehändigte Gehirnabbildung mit verzeichneten Brodmann Arealen. Abgedruckt in: Artevents (Hg.): Fissure Programmheft.

Bildnachweise Abb. 50 | Fissure (2011). Eine Tänzerin erkundet mit Ihrem Körper den Bewe-

gungsspielraum einer Felsspalte. Foto: Holger Hartung. Abb. 51 | Fissure (2011). In Risse gestopfte rote Wolle. Foto: Holger Hartung. Abb. 52 | Fissure (2011). Teilnehmende auf dem windigen Ingleborough-Peak.

Foto: Holger Hartung.

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein

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Gabriele Klein

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Benjamin Wihstutz, Benjamin Hoesch (Hg.)

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