Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht: Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs [1 ed.] 9783428546367, 9783428146369

»Employment Law as Case Law – An Empirical Study«The authors examine fundamental questions of legal theory using German

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Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht: Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs [1 ed.]
 9783428546367, 9783428146369

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Schriften zur Rechtstheorie Band 278

Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs

Von Friedemann Vogel, Stephan Pötters und Ralph Christensen

Duncker & Humblot · Berlin

VOGEL/PÖTTERS/CHRISTENSEN

Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht

Schriften zur Rechtstheorie

Band 278

Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs

Von Friedemann Vogel, Stephan Pötters und Ralph Christensen

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany

ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14636-9 (Print) ISBN 978-3-428-54636-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84636-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

5

Inhaltsverzeichnis Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik ...............................

11 

A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive: Ein Begriff mit Zukunft? 17  Funktion des Arbeitnehmerbegriffs: Der Arbeitnehmer als Gatekeeper ......

17 

II. Umschreibungsversuche ..............................................................................

18 

I.

1. Ansatzpunkte in Gesetzen........................................................................

18 

2. Der Arbeitnehmerbegriff des Bundesarbeitsgerichts und die Kritik bei Wank .......................................................................................................

19 

a) Das Merkmal der „persönlichen Abhängigkeit“ als Anknüpfungspunkt einer typologischen Begriffsbestimmung beim Bundesarbeitsgericht .................................................................................................

20 

aa) Geläufige typologische Kriterien ..................................................

21 

bb) Klassische Antitypen: Selbständige und Beamte ..........................

21 

(1) Beamte ...................................................................................

22 

(2) (Schein-)Selbständige.............................................................

23

(3) Arbeitnehmerähnliche Personen .............................................

23

b) Die alternative Konzeption bei Wank .................................................

24 

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht .....................................

25 

1. Der Arbeitnehmer im Unionsrecht ..........................................................

25 

a) Arbeitnehmerbegriffe beim EuGH......................................................

26

b) Perspektiven........................................................................................

28

2. Verzahnung des nationalen Rechts mit unionsrechtlichen Vorgaben: Grenzen der Konformauslegung ..............................................................

30

a) (Konform-)Auslegung und Rechtsfortbildung ....................................

31

b) Die Wortlautgrenze im Unionsrecht ...................................................

33

c) Bewertung der Entscheidungen Quelle und Schultz-Hoff ...................

36

3. Ein Dialog verlangt Respekt vor Grenzen ...............................................

37 

IV. Aktuelle Herausforderungen für Rechtspraxis und Politik ...........................

38 

1. Erosion und Europäisierung des Arbeitnehmerbegriffs ...........................

39 

a) Bedeutungsverlust des Arbeitnehmerbegriffs? ...................................

40

6

Inhaltsverzeichnis b) Fortschreitende Europäisierung ..........................................................

41

2. Die Agenda-Politik und ihre Folgen: Neue Abgrenzungsprobleme im Fokus des Arbeitsrechts ...............................................................................

42

a) Flucht in die Arbeitnehmerüberlassung ..............................................

42

b) Flucht aus der Arbeitnehmerüberlassung ............................................

44

3. Arbeitsrecht und Bewältigung neuer Techniken ......................................

46

4. Neue Machtverhältnisse in der Arbeitswelt? ...........................................

49

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung.........................................

52

1. Normative Unterbestimmtheit der Gesetzesbegriffe ................................

52

a) Die Unbestimmtheit von Begriffen .....................................................

53

b) Was dem Begriff fehlt.........................................................................

55

2. Typus und Ganzheitsdenken ....................................................................

56

a) Vom Gesetz zum Recht als Wert ........................................................

57

b) Vom Recht als Wert zum Recht in Fallketten .....................................

59

3. Die logisch-semantische Kritik am Typus ...............................................

61

a) Von der Fallkette zur Definitionslehre ................................................

62

b) Das Bereichsmodell soll die Fallreihe ersetzen...................................

64

4. Die Fallreihe als rationaler Kern der Typenlehre .....................................

67

a) Was ist die Empirie von Sprache? ......................................................

68

b) Bedeutung existiert in Fallreihen oder Kontexten ...............................

70

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler ..........

72 

Korpuslinguistik: Kurze Geschichte einer jungen Teildisziplin ...................

72 

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik .......................

79 

III. Korpuslinguistische Zugänge zur Rechtssprache: Juristische Sprachmuster als Indices für Sedimente juristischer Dogmatik ..........................................

88 

C. Die fallbezogene Begriffsentwicklung beim BAG – Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive ..............................................................

93 

I.

I.

Zum Untersuchungsdesign ...........................................................................

93 

1. Die Datengrundlage der Untersuchung ....................................................

93 

2. Methodisches Vorgehen im Einzelnen ....................................................

97 

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik .......... 100  1. Komposita mit arbeitnehm ...................................................................... 100  2. Explizite Prädikationen zu arbeitnehm .................................................... 105  3. Cluster bzw. Mehrworteinheiten mit arbeitnehm .................................... 109  4. Kookkurrenzpartner mit arbeitnehm........................................................ 111 

Inhaltsverzeichnis

7

III. Semantisches Schema und diskursive Funktion des ›Arbeitnehmers‹ – 6H dimente der „herrschenden Meinung“ ...................................................... 126  IV. Nachweis diachroner Tendenzen in der EntwicklungGHV¾$UEHLWQHKPHU½ Begriffs ........................................................................ 129  1. Zunehmende Europäisierung des Arbeitnehmer-Begriffs? ...................... 131  2. Diachronie dogmatischer Abgrenzungsversuche ..................................... 133  V. Die Bedeutung von „Arbeitnehmer“ und „Arbeiter“ in Medientexten ......... 135  D. Der Widerspruch zwischen Theorie und PraxisGHU*HVHW]HVELQGXQJLP  Arbeitsrecht ................................................................. 138 I.

Was die Gerichte sagen ................................................................................ 138  1. Die methodische Programmatik der Gerichte .......................................... 138  2. Die gerichtliche Auslegungslehre ............................................................ 139  3. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit................................................................. 141 

II. Was die Gerichte tun .................................................................................... 146  1. Die Arbeit mit der Sprache ...................................................................... 146  2. Die Arbeit mit der Wissenschaft.............................................................. 147  3. Die Arbeit mit Präjudizien ....................................................................... 149  E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht ............................................ 152  I.

Ab durch die Lücke ...................................................................................... 152  1. Die Bestimmtheitslücke ........................................................................... 153  2. Die Veränderungslücke ........................................................................... 157 3. Die Kollisionslücke ................................................................................. 159 4. Die Gesetzeslücke ................................................................................... 160 5. Die Rechtslücke ....................................................................................... 163 6. Was bleibt von der Lücke? ...................................................................... 166

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht ............................................... 167  1. Begriff des Richterrechts ......................................................................... 168 a) Richterrecht als Überschreitung der wörtlichen Bedeutung ................ 168 b) Gesetzesergänzendes und gesetzesverdrängendes Richterrecht .......... 169 c) Wie ist Richterrecht zu bewerten? ...................................................... 170 2. Richtermachtrecht durch Unterstellung ................................................... 171 a) Rechtsunterstellung ............................................................................. 172 b) Wie ist der Normtext vorgegeben? ..................................................... 178 c) Die Rechtsquelle als normativer Kreislauf.......................................... 179 d) Notwendiges und überschießendes Richterrecht ................................. 182

 

8

Inhaltsverzeichnis 3. Richtermachtrecht durch Verbiegung ...................................................... 183 a) Rechtsverbiegung ............................................................................... 184 b) Die Reduktion des Gesetzes auf den Autor ......................................... 185 c) Die Reduktion des Gesetzes auf Werte ............................................... 188 d) Gibt es eine Hierarchie von Kontexten? ............................................. 190 4. Richtergesetzesrecht als Gesetzesbindung in Fallketten .......................... 193 a) Semantik als Fallrechtsystem .............................................................. 193 b) Fallrecht als Risiko für das Gesetz ...................................................... 196 c) Fallrecht als Chance für das Gesetz .................................................... 202 d) Präjudiz als Argument ........................................................................ 208 III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung .................................................. 211  1. Sind Sprachregeln der Rechtsanwendung vorgeordnet? .......................... 213 2. Bedeutungsfestsetzung oder die Sprache als Beute ................................. 216 3. Bedeutungsfestlegung oder die Sprache als Überprüfungsinstanz ........... 221

F. Schlussbetrachtung .......................................................................................... 227  I.

Möglichkeiten und Grenzen korpusgestützter Zugänge]XMXULVWLVFKHU'RJ matik .............................................................................. 227 

II. Was verrät die Korpuslinguistik dem Arbeitsrechtler? ................................ 229  1. Korpuslinguistische Software als Subsumtionsautomat? ......................... 232 2. Korpuslinguistik als Analysetool für Rechtspolitik ................................. 233 III. Im Wesentlichen frei? Begriffsbildung im Arbeitsrecht .............................. 234  Über die Autoren .................................................................................................... 236 

9

Abkürzungsverzeichnis Abs.

Absatz

AEntG

Arbeitnehmer-Entsendegesetz

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union

AFG

Arbeitsförderungsgesetz

ArbG

Arbeitsgericht

ArbGG

Arbeitsgerichtsgesetz

ArbN

Arbeitnehmer

ArbSchG

Arbeitsschutzgesetz

ArbZG

Arbeitszeitgesetz

Art.

Artikel

AÜG

Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

BAG

Bundesarbeitsgericht

BAGE

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BBG

Bundesbeamtengesetz

BDSG

Bundesdatenschutzgesetz

BeamtStG

Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern

BetrVG

Betriebsverfassungsgesetz

BFH

Bundesfinanzhof

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

Bundesgerichtshof

BPersVG

Bundespersonalvertretungsgesetz

BSG

Bundessozialgericht

BSGE

Entscheidungen des Bundessozialgerichts

BUrlG

Bundesurlaubsgesetz

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGG

Bundesverfassungsgerichtsgesetz

CGZP

Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen

DrittelbG

Drittelbeteiligungsgesetz

10 EuGH

Abkürzungsverzeichnis Europäischer Gerichtshof

EuGRC

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

EUV

Vertrag über die Europäische Union

GA

Generalanwalt/anwältin

GG

Grundgesetz

HGB

Handelsgesetzbuch

i.S.d.

im Sinne der/s

i.V.m.

in Verbindung mit

KSchG

Kündigungsschutzgesetz

LAG / LArbG

Landesarbeitsgericht

Rs.

Rechtssache

S.

Satz

SGB

Sozialgesetzbuch

SozR

Sozialrecht

SprecherausschussG

Gesetz über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten

StGB

Strafgesetzbuch

TVG

Tarifvertragsgesetz

TzBfG

Teilzeit- und Befristungsgesetz

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik Das Arbeitsrecht ist eines der dynamischsten Rechtsgebiete überhaupt. Das liegt daran, dass es das Verhalten der Rechtsunterworfenen nicht einfach reguliert, sondern die selbständigen Regelungen der Betroffenen einhegt und kultiviert. Schon die Regelungstechnik ist also komplexer als das bloße Aussprechen von Geboten oder Verboten. Des Weiteren verfügen die Gerichte für die Aufgabe der Kultivierung gesellschaftlicher Konflikte oft über keine oder lediglich sehr allgemeine gesetzliche Maßstäbe. Auf einer fruchtbaren Konferenz „Arbeitsrecht und Methodik“ haben sich große Namen der arbeitsrechtlichen Literatur zusammen mit jungen Wissenschaftlern mit diesem Problem beschäftigt. Das Arbeitsrecht sei in besonderer Weise durch um Anerkennung ringende Interessen und ein Lagerdenken gekennzeichnet. Dies werde mit Jherings Diktum vom „Kampf ums Recht“ noch nicht einmal zureichend gekennzeichnet: „Das Arbeitsrecht regelt eine Materie, die Millionen von Menschen existentiell betrifft. Seine Wirkungen werden von allen Beteiligten und Betroffenen selten ‚sine ira et studio‘ gesehen und behandelt. Sozialisation und Lebenserfahrung beeinflussen das jeweilige persönliche und sichtspezifische Gerechtigkeits- und Sozialideal.“1

Im Arbeitsrecht stellen sich rechtstheoretische, verfassungsrechtliche und methodische Probleme praktisch. Aus Glasperlenspiel wird soziale Praxis. Die Stichworte dieser Diskussion sind Unbestimmtheit und Wertbezug von Gesetzesbegriffen, Gesetzeslücken, Richterrecht, europäisches Mehrebenensystem und Wirklichkeitsbezug des Rechts. Grundlegend ist dabei die Frage, wie die Gewaltenteilung zwischen demokratisch legitimiertem Gesetzgeber und Richter überhaupt aussehen kann. Die Begriffsbildung im Arbeitsrecht ist dadurch erschwert, dass die gesetzlichen Grundlagen einen Flickenteppich und damit kein einheitliches Wertsystem bilden. „Aufgrund in viele Einzelgesetze zersplitterten Regelungen ist es kaum möglich, ein einheitliches Wertungssystem zu schaffen. Hinzu kommt, dass der parlamentarische Gesetzgeber in Fragen des kollektiven Arbeitsrechts regelungsscheu, viel-

___________ 1

Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101, 104.

12

Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik leicht sogar partiell regelungsunfähig ist. Die Gerichte werden zu Ersatzgebern auf bedeutenden Einzelgebieten des Arbeitsrechts.“2

Ohne vom Gesetz vorgegebene Wertordnung glauben die Richter diesen Wertbezug selbst herstellen zu müssen und geraten damit in eine problematische Rolle. Sie werden zu Ersatzgebern auf bedeutenden Einzelgebieten des Arbeitsrechts.3 Das gilt nicht nur für das Arbeitskampfrecht, sondern auch für diejenigen Bereiche, die gesetzlich zumindest in Grundzügen geregelt sind, wie etwa das Tarifrecht oder das Kündigungsschutzrecht.4 Einerseits gilt: „Nach den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltentrennung (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) haben die demokratisch legitimierten Organe der Gesetzgebung den Normsetzungsvorrang. Die Gerichte sind an deren Wertentscheidungen gebunden.“5

Andererseits gilt: „Erhebliche Teile des geltenden deutschen Arbeitsrechts sind aus einem epochenbedingten Aufstand der Arbeitsgerichte gegen das fehlende oder als ‚unbillig‘ angesehene Gesetzesrecht entstanden.“6

Aus den Schwierigkeiten juristischer Begriffsbildung im Arbeitsrecht ergibt sich auch das Problem der Lücke: „Angesichts der zögernden oder völlig untätigen Gesetzgebung und der vielfältigen Wertungswidersprüche, Verwerfungen und Lücken in den Arbeitsgesetzen hat sich bei nicht wenigen Richtern der Arbeitsgerichtsbarkeit in den letzten Jahrzehnten seit 1954 ein spezielles Rollenverständnis für die Notwendigkeit und Legitimität ihrer richterlichen Normsetzungen (Ersatzgesetzgebung) herausgebildet.“7

Lücken kann man eigentlich nur annehmen, wenn eine höherstufige Rechtsquelle wie Verfassung oder Europarecht an einer bestimmten Stelle im einfachen Gesetz eine Regelung fordert, die fehlt. Im Arbeitsrecht werden Lücken aber häufig schon dann postuliert, wenn das Gesetz dem Anwender keine konsistente oder homogene Wertordnung liefert. Das führt auch direkt zu der Frage nach der Legitimität von Richterrecht: „Weil also die Politik im Arbeitsrecht partiell handlungsunfähig ist, hat das BAG, mit tatkräftiger Unterstützung der Arbeitsrechtwissenschaft, die Vorreiterrolle für die Fortentwicklung des Arbeitsrechts eingenommen. Das Arbeitsrecht besteht zu weiten Teilen aus Richterrecht. Das gilt nicht nur für das Arbeitskampfrecht, sondern auch für diejenigen Bereiche, die gesetzlich zumindest in Grundzügen geregelt sind. So befindet sich etwa das Tarifrecht in jüngerer Zeit in einem besonders dy-

___________ 2 3 4 5 6 7

Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97. Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97. Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 98. Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101, 102. Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101. Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101.

Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik

13

namischen Entwicklungsprozess. Andere Gebiete wie das Kündigungsschutzrecht bestehen weitgehend aus Generalklauseln, die erst durch die Rechtsprechung handhabbar werden.“8

Damit kommt man zu den grundlegenden Problemen. Aus der aufgedrängten Rolle des Ersatzgesetzgebers wird den Arbeitsgerichten aber dann ein „Hang zur Ergänzung und Korrektur geschriebenen Rechts“ unterstellt, der weit über das methodisch Erlaubte hinausginge: „Diese Fragen haben auch eine verfassungsrechtliche Dimension. Sie betreffen unmittelbar die grundlegende Verfassungsstrukturentscheidung des gewaltenteilenden und demokratischen Rechtsstaates gem. Art. 20 III, 97 I GG. Wer sich anschickt, Insuffizienzen eines überforderten Gesetzgebers zu begradigen, begegnet diesem mit weit weniger Zurückhaltung, als das Grundgesetz vorsieht. An die Stelle der Ermittlung und Verwirklichung gesetzgeberischer Wertungen tritt die eigene rechtspolitische Gestaltung durch den Rechtsanwender. Nicht einmal (vermeintlich) eindeutige gesetzliche Regelungen können gegen den Rechtsfortbildungsdrang der Arbeitsgerichte bestehen [...].“9

Im Arbeitsrecht stellen sich also Methodenfragen, die immer auch Verfassungsfragen sind.10 Allerdings muss man die zugrunde gelegten Maßstäbe präzisieren. Die Gesetzesbindung ist nach Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG der entscheidende Maßstab für die Beurteilung der Arbeit von Gerichten.11 „Die aufgeworfenen methodischen Fragen haben zugleich eine verfassungs- und staatsrechtliche Dimension. Methodenfragen sind Verfassungsfragen. Sie betreffen die reale Normsetzungsmacht im Staat.“12

Es ist die vorrangige Aufgabe der Wissenschaft als Teilelement der Gesetzesbindung, die Arbeit der Gerichte zu beobachten, zu systematisieren und gegebenenfalls zu kritisieren. Diese Aufgabe hat die Kölner Konferenz auch vorbildlich wahrgenommen. Trotzdem gibt es in dieser Kritik ein durchgängiges Problem, welches dazu führt, dass sie manchmal über das Ziel hinausschießt. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Gesetzesbindung zwar mit dem nötigen Pathos angerufen wird, aber ihre praktische Wirkung nicht dargetan werden kann. Wann korrigiert ein Richter das Gesetz, wann judiziert er contra legem? Dazu müsste man wissen, worin seine Bindung liegt. Die Konzeptionen dafür sind unzureichend. Das Gesetz wird gleichgesetzt mit dem Willen des Gesetzgebers und seiner wörtlichen Bedeutung. Die Generalklauseln des Kündigungsschutzrechts werden kritisiert, weil einerseits deren Zwecke immer weiter angereichert werden und andererseits eine wörtliche Bedeutung nicht mehr greifbar ist: ___________ 8

Höpfner, NZA-Beilage 2011, S. 97 ff., 98. Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 98. Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 98. 11 Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 98. 12 Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 98 9

10

14

Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik „So wird kein Arbeitnehmer, der sich gegen eine Kündigung wehren will, allein durch Lektüre von § 1 KSchG die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen können. Und von Planungssicherheit für den Arbeitgeber kann ebenfalls keine Rede sein.“13

Die methodischen Probleme des Arbeitsrechts liegen also bei der Begriffsbildung und der Frage nach der Steuerungskraft von Sprache und Gesetzgebung. Dies sind tatsächlich auch zentrale verfassungsrechtliche Fragen. Das Arbeitsrecht wirkt hier als Brennglas. Der vorliegende Ansatz will versuchen, diese Probleme dadurch zu präzisieren, dass er die Hilfe der Sprachwissenschaft in Anspruch nimmt. Thema einer Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Sprachwissenschaft ist also die sprachliche Reichweite der Gesetzesbindung bei der Begriffsbildung im Arbeitsrecht. Die Hypothese lautet: Gesetzesbindung liegt nicht darin, dass sich gerichtliche Urteile aus dem Text ableiten lassen (das Gesetz ist kein Behälter), sondern darin, dass sie ihm zugerechnet werden. Lesarten des Gesetzes können dann nicht nur an der grammatischen Auslegung, sondern an allen sprachbezogenen Auslegungselementen scheitern. Eine umfassende sprachliche Analyse kann die pluralistischen Wertungen der Sprecher in die Diskussion einführen, sichtbar und verhandelbar machen. Außerdem müssen Urteile sich einfügen in eine Kette von Präjudizien, die ihrerseits den Anforderungen genügen muss, die man früher als geglückte Rechtsfortbildung bezeichnet hat. Auch Gesetzesrecht ist notwendig Fallrecht und lässt sich deswegen nicht allein durch Auslegungsregeln überprüfen. Zudem bedarf es tatsächlich für die Anwendung des Gesetzes einer normativen Wertung. Aber diese ist nicht aus einer (arbeitsmarkt-)politischen Haltung oder einer Weltanschauung zu beziehen. Die Gesetzesbindung entfaltet sich in der Arbeit der Dogmatik. Neue Entscheidungen der Gerichte werden mit bisherigen verglichen. Daraus ergeben sich Entwicklungen oder Abweichungen. So vollzieht sich allmählich in der Fallpraxis eine vorsichtige Begriffsbildung und Begriffskritik. Es entstehen allgemeine Zusammenhänge, die dann immer wieder revidiert werden (können). Die Relevanz und die Struktur der dogmatischen Arbeit werden allerdings unterschätzt. Die Ursache dafür liegt in einer unterkomplexen Vorstellung von dem, was Juristen tun: Man glaubt, die juristische Tätigkeit erschöpfe sich darin, die im Gesetz vorgegebenen Begriffe zu definieren und den Fall zu subsumieren. Aus dem Zusammenspiel von Definition und Subsumtion ergebe sich ___________ 13 Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 98: „So wird kein Arbeitnehmer, der sich gegen eine Kündigung wehren will, allein durch Lektüre von § 1 KSchG die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen können. Und von Planungssicherheit für den Arbeitgeber kann ebenfalls keine Rede sein.“

Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik

15

dann die Entscheidung. Natürlich funktioniert das nie. Die erschöpfende Definition eines Begriffes ist nur in einer Kunstsprache möglich. Und auch dort nur, solange man die Verknüpfung dieser Kunstsprache mit der Alltagssprache außer Acht lässt. Häufig wird aus dieser Unmöglichkeit der Definition als extreme Gegenposition gefolgert, die Sprache könne die Rechtsanwendung nicht binden und man müsse die nötige Objektivität des Rechts über richterliche Wertungen herstellen. Man ersetzt damit die wirkliche Objektivität der sprachlichen Diskussion durch die scheinbare Objektivität der Wertungen. Das gefährdet aber nicht nur die Gesetzesbindung, sondern wird auch der Komplexität der praktischen dogmatischen Arbeit nicht gerecht. Die Theorie bleibt also hinter der Praxis zurück. Wir wollen beide Bereiche wieder annähern, indem wir einen „ethnologischen“ Blick von außen in Anschlag bringen. Es handelt sich dabei um die Sicht der empirischen Rechtslinguistik. Früher war man bei der Analyse der Sprache auf Introspektion angewiesen und es gab als Grundlage für die Sprachbeschreibung nur wenige Gebrauchsbeispiele. Heute wird über den Computer eine große Zahl von Gebrauchsbeispielen erfasst. Damit sieht man viel deutlicher, was tatsächlich in der Sprache der eigenen Institution geschieht. Auch in der Sprache des Rechts. Juristen beschreiben Begriffe, indem sie die Worte betrachten, die in ihrer Umgebung auftreten. Diese Beschreibungen werden aufgenommen und eventuell fallbezogen weiterentwickelt. Allerdings sind Juristen bei diesen Beschreibungen häufig zu stark von Einzelfällen beeindruckt und vergessen den Zusammenhang. Das ist die Gefahr des Impressionismus. Die Korpuslinguistik kann durch methodisch geleitete Suchanfragen diesen Impressionismus korrigieren. Damit wird der tatsächliche Zusammenhang juristischer Debatten ohne voreilige Parteinahme sichtbar. Die eigentliche Stellungnahme, ob diese Weiterentwicklung wünschenswert ist oder nicht, wird damit nicht vorentschieden. Aber niemand kann dann noch behaupten, er sei die herrschende Meinung bzw. es kann niemand den Gerichten eine Meinung unterstellen, die sie gar nicht vertreten. Die leicht zugänglichen Instrumente der Korpusanalyse verschaffen der juristischen Diskussion also eine sicherere Grundlage. Die scheinbare Objektivität von Wertungen aus Gerechtigkeit, Rechtsidee usw. werden ersetzt durch die Objektivität, die sich in der juristischen Diskussion herausbildet. Auch die Korpuslinguistik kann natürlich die Begriffe des Rechts nicht definieren. Aber sie kann zu einer besseren Grundlage für vorläufige Umschreibungen der gesetzlichen Begriffe führen, die dann natürlich am Fall zu diskutieren sind. Die Methoden der Korpuslinguistik explizieren dabei in systematischer Weise zunächst nur, was Juristen schon immer getan haben, verschaffen aber der Einschätzung juristischen Handelns auch eine empirische Grundlage in der Sprache. Korpuslinguistik wird in einigen Jahren, wie heute schon in den USA (vgl. das erste Urteil eines Supreme Courts (State of Utah) 2011 UT 38, 266 P.3d 702), Teil der Entscheidungsarbeit von Gerichten sein. Diese Entwicklung

16

Einführung: Arbeitsrecht, Methodik und Korpuslinguistik

führt nicht dazu, dass wir den Gesetzespositivismus durch einen Richterpositivismus ersetzen. Das Recht ist weder im Gesetz, noch in der Wissenschaft oder bei den Gerichten vorgegeben. Es muss immer diskutiert werden. Aber diese Diskussion hat Anschlusszwänge, in dem, was wir bisher schon für Recht gehalten haben. Diese Anschlusszwänge macht die Korpuslinguistik sichtbar. Vorliegend soll die Verwendung des Begriffs „Arbeitnehmer“ überprüft werden. Dabei steht die Sprache im Vordergrund. Nicht weil wir glauben, sie könne alle Probleme lösen oder den Gerichten Wertungen vorgeben, sondern wegen der Unterschätzung der Sprache im Recht. Auch Wertungen müssen sprachlich vollzogen werden. Die Sprache ist mitunter ein blinder Fleck der Jurisprudenz. Man fordert von der Sprache zu viel und macht damit zu wenig. Gefordert werden objektiv vorgegebene Begriff, so dass man die Worte des Gesetzes zunächst definieren kann und anschließend den Fall subsumieren. Man will eine Sprachregel, welche die gestellte Frage nach der Bedeutung mit Ja oder Nein beantworten kann. So etwas gibt es natürlich nicht. Wörter haben keine Heimat in der Sprache, auf die man sie zurückführen könnte, wenn sich ein Sprecher verlaufen hat. Das Wort „Arbeitnehmer“ wird nicht immer von denselben Worten in seiner Umgebung begleitet. Deswegen kann die Sprache uns nicht einfach eine Definition liefern. Aber die Sprache und computergestützte Methoden der Korpuslinguistik können uns zeigen, von welchen Worten der Arbeitnehmer häufig begleitet wird. Die Wanderung eines Wortes durch Kontexte lässt sich also beschreiben. Das ist nützlich, wenn man über die Anwendbarkeit des Begriffs „Arbeitnehmer“ diskutiert. Eine Definition würde diesen Streit durch Machtentscheidung beenden. Die Sprache kann uns Material liefern, um diese Diskussion mit Argumenten fortzusetzen. Dies ist Ausgangspunkt und Ziel der vorliegenden interdisziplinären Studie. Es geht uns also um eine Verbindung von Dogmatik, Methodik und Sprachwissenschaft mit dem Ziel einer praktischen Einlösung der Vorgaben des demokratischen Rechtsstaats. Hierfür werden wir im ersten Teil den Arbeitnehmer-Begriff zunächst aus dogmatischer Perspektive zusammenfassen (A.). Nach einer kurzen Einführung in Ansatz und Methodik der Korpuslinguistik (B.) wird der literaturbezogenen Dogmatik zum Arbeitnehmer-Begriff eine induktive, empirische Untersuchungsperspektive zur Seite gestellt (C.). Beide Perspektiven bilden die Grundlage zur Diskussion des widersprüchlichen Verhältnisses von Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht (D.) sowie zur Synthese der Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht (E.). Die Schlussbetrachtungen (F.) führen die Ergebnisse zusammen und formulieren ein Resümee zu Möglichkeiten und Grenzen einer empirischen, korpuslinguistisch fundierten Rechtsmethodik für das Arbeitsrecht und darüber hinaus.

17

A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive: Ein Begriff mit Zukunft? I. Funktion des Arbeitnehmerbegriffs: Der Arbeitnehmer als Gatekeeper Arbeitsrecht ist Arbeitnehmerschutzrecht.14 Dies belegen besonders deutlich die ersten arbeitsrechtlichen Regelungen: das Preußische Fabrikregulativ gegen Kinderarbeit (1839), die Preußische Gewerbeordnung in der Fassung von 1891 mit Regeln zum Mutterschutz, Jugendarbeitsschutz und der Arbeitsordnung, die Einführung des 8-Stunden-Tages (1918/19)15 – um nur einige zu nennen. Das Bild des Arbeitnehmers, das dem damaligen Gesetzgeber meist vor Augen stand, war das des einfachen Lohnarbeiters, der im Zuge des Wandels von der Agrarwirtschaft des Feudalismus hin zur Industriegesellschaft des liberalen Kapitalismus dem Arbeitgeber intellektuell und wirtschaftlich unterlegen und so seinem bestimmenden Einfluss ausgesetzt war. Dieses Ungleichgewicht wird als Ursache für die miserablen Arbeitsbedingungen des 19. Jahrhunderts gesehen.16 Zugespitzt lässt sich damit festhalten: Das Arbeitsrecht stellt ein rechtliches Ungleichgewicht zugunsten des Arbeitnehmers her, um so ein tatsächliches Ungleichgewicht zugunsten des Arbeitgebers zu kompensieren. Auf diese Weise können auch Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer grundsätzlich eine Richtigkeitsgewähr beanspruchen.17 Zahlreiche arbeitsrechtliche Gesetze gewährleisten heute unterschiedlichste Schutzmechanismen: ArbSchG, AEntG, AÜG, ArbZG, BetrVG, BUrlG, KSchG, TVG, TzBfG – um nur einige der wichtigsten zu nennen. Die Funktion des Arbeitnehmerbegriffs ist es dabei, den personellen Anwendungsbereich des Arbeitsrechts abzugrenzen (s. etwa §§ 5 ArbGG, 5 BetrVG, 1, 23 KSchG).18 Im Sozialversicherungsrecht ist es der weitestgehend deckungsgleiche Begriff des „Beschäftigten“, durch den der Zugang zu den staatlichen Sozialversicherungs___________ 14

Siehe schon Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., S. 25. Ausführlich zur Entwicklung der Arbeitsrechtspolitik: Löwisch, Regulierung statt Deregulierung – Die Crux deutscher Arbeitsrechtspolitik, in: Berthold/Gundel, Theorie der sozialen Ordnungspolitik, S. 253. 16 Vgl. hierzu Zöllner, AcP 176 (1976), S. 221, 229 m.w.N. 17 Zu den Grenzen der Richtigkeitsgewähr Thüsing, RdA 2005, 257. 18 Siehe nur Richardi, in: MünchHandb ArbR, 3. Aufl. 2009, § 16 Rn. 2: „Im Arbeitnehmerbegriff spiegeln sich deshalb Begriff und Anwendungsbereich des Arbeitsrechts wider.“ 15

18

A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

systemen (gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung, etc.) ermöglicht wird (vgl. §§ 3, 7 Abs. 1 SGB IV). Wer Arbeitnehmer bzw. Beschäftigter ist, bestimmt sich somit nach den tatsächlichen Gegebenheiten. Eine Flucht aus dem Arbeitsrecht durch Scheinselbständigkeit ist nicht zulässig. Wenn jemand eine Tätigkeit ausübt, die den Merkmalen des Arbeitnehmerbegriffs entspricht, so ist er Arbeitnehmer; eine anderslautende Vertragsbezeichnung ändert hieran nichts.19 Dem Arbeitnehmerbegriff kommt somit seit Beginn des Arbeitsrechts die Schlüsselrolle bei der Bestimmung des personalen Anwendungsbereichs arbeitsrechtlicher Schutzgesetze zu. Es verwundert daher nicht, dass der Arbeitnehmerbegriff seit jeher eines der zentralen Probleme des Arbeitsrechts darstellt – entsprechend umfangreich ist die Literatur.20

II. Umschreibungsversuche Trotz der enormen Bedeutung des Arbeitnehmer- bzw. Beschäftigtenbegriffs sucht man eine einheitliche gesetzliche Definition vergeblich. 1. Ansatzpunkte in Gesetzen Einen ersten Anhaltspunkt, um sich negativ einer Begriffsumschreibung zu nähern, liefert die Definition des Handelsvertreters in § 84 Abs. 1 S. 2 HGB. Danach ist selbständig, „wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.“21 Andere Gesetze wiederum setzen implizit bestimmte Merkmale eines Arbeitnehmerbegriffs voraus, wenn sich der Gesetzgeber dazu genötigt sieht, bestimmte Personengruppen entweder negativ aus dem Anwendungsbereich eines arbeitsrechtlichen Schutzgesetzes auszu___________ 19 Siehe nur BAG, NZA 1995, 161; vgl. aktuell zur Problematik der Scheinwerkverträge BAG, NZA-RR 2012, 455; vgl. ferner zum französischen Recht die illustrative Entscheidung des CCass Soc., Arrêt n° 1159,3 juin 2009, wonach die Teilnahmebedingungen für eine Fernsehshow Arbeitsverträge sein können: „[…] l’existence d’une relation de travail ne dépend ni de la volonté exprimée par les parties ni de la dénomination qu’elles ont donnée à leur convention mais des conditions de fait dans lesquelles est exercée l’activité des travailleurs […].“ 20 Siehe etwa ausführlich Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, München 1988; Maschmann, Arbeitsverträge und Verträge mit Selbständigen, 2001; Thüsing (Hrsg.), Scheinselbständigkeit im internationalen Vergleich, Frankfurt/Main 2011; Mohr, Der Arbeitnehmerbegriff im Arbeits- und Steuerrecht, 1994; ferner Forst, RdA 2014, 157; Bauschke, RdA 1994, 209; Lieb, RdA 1977, 210; zum Überblick: Richardi, in: MünchHandb ArbR, 3. Aufl. 2009, §§ 16-20 m.w.N. 21 Vgl. dazu unten (Abschnitt C.) den Gebrauch und die Konkretisierungsversuche dieser Formel im arbeitsrechtlichen Textkorpus.

II. Umschreibungsversuche

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nehmen oder aber positiv durch eine Fiktion anzuordnen, dass andere Personengruppen dem Arbeitnehmer gleichgestellt werden. Vor allem der betriebsverfassungsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zeigt dies sehr deutlich (§ 5 BetrVG): Dieser beruht grundsätzlich auf dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff.22 Bei Beamten, die in Betrieben privatrechtlich organisierter Unternehmen tätig sind, sowie bei Heimarbeitern, Telearbeitern und Außendienstarbeitern kann die Arbeitnehmereigenschaft bei Anwendung der allgemeinen Kriterien im Einzelfall zweifelhaft sein; § 5 Abs. 1 BetrVG ordnet daher bei diesen Personengruppen die Geltung des BetrVG explizit an. In den Absätzen 2 und 3 werden hingegen manche Gruppen wie Vertreter juristischer Personen und leitende Angestellte, auf die das Betriebsverfassungsrecht keine Anwendung finden soll, ausgenommen. Hintergrund ist, dass sie entweder nach anderen Regimen geschützt sind (Personalvertretungsrecht, SprecherausschussG) oder gerade Adressat betriebsverfassungsrechtlicher Regeln sind. In zahlreichen Fällen begnügt sich der Gesetzgeber damit, bestimmte Gruppen von Beschäftigten aus dem Anwendungsbereich arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften auszunehmen. § 3 DrittelbG übernimmt etwa grundsätzlich den betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff; leitende Angestellte werden jedoch explizit aus dem Anwendungsbereich des DrittelbG ausgeklammert.23 Das ArbGG schließt in § 5 Abs. 1 S. 3 die Anwendbarkeit auf gesetzliche Vertreter von juristischen Person oder der Personengesamtheiten wie etwa Geschäftsführer oder Vorstände aus, außerdem sind gem. § 5 Abs. 2 ArbGG „Beamte als solche“ keine Arbeitnehmer. 2. Der Arbeitnehmerbegriff des Bundesarbeitsgerichts und die Kritik bei Wank Eine einheitliche Umschreibung des Arbeitnehmerbegriffs ist den Gesetzen indes nicht zu entnehmen. Sie wären damit auch überfordert. Definitionen finden sich nur in Kunstsprachen (z.B. in der mathematischen Fachsprache) und diese sind regelmäßig nur so lange schlüssig, als man die Verankerung der Kunstsprache in der Alltagssprache nicht beachtet. Was Juristen Definition nennen, sind erste Umschreibungen eines Begriffs, welche dazu dienen, den Startpunkt für Fallketten und Diskussionen zu bilden. Als Ausgangspunkt einer allgemeinen Umschreibung kann die Hueck’sche Begriffsbestimmung herangezogen werden, wonach als Arbeitnehmer anzusehen sei, „wer auf Grund eines ___________ 22

BAG, AP BetrVG 1972 § 5 Nr 52; BAG, AP BetrVG § 5 Nr 71. MüKOAktG/Gach, 3. Aufl. 2008, § 3 DrittelbG Rn. 3; vgl. Rolfs/Giesen/ Kreikebohm/Udsching/Besgen, BeckOK ArbR, Stand: 01.09.2012, § 5 BetrVG Rn. 2. 23

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

privatrechtlichen Vertrags zur Arbeit im Dienste eines anderen verpflichtet ist.“24 Hierauf aufbauend und in Abgrenzung zum Begriff des Selbständigen (§ 84 Abs. 1 S. 2 HGB) umschreibt das BAG den Arbeitnehmer wie folgt: „Arbeitnehmer ist, wer weisungsgebunden vertraglich geschuldete Leistung im Rahmen einer von seinem Vertragspartner bestimmten Arbeitsorganisation erbringt. Der hinreichende Grad persönlicher Abhängigkeit zeigt sich nicht nur daran, daß der Beschäftigte einem Direktionsrecht seines Vertragspartners unterliegt, welches Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer, Ort oder sonstige Modalitäten der zu erbringenden Tätigkeit betreffen kann, sondern kann sich auch aus einer sehr detaillierten und den Freiraum für die Erbringung der geschuldeten Leistung stark einschränkenden rechtlichen Vertragsgestaltung oder tatsächlichen Vertragsdurchführung ergeben.“25

a) Das Merkmal der „persönlichen Abhängigkeit“ als Anknüpfungspunkt einer typologischen Begriffsbestimmung beim Bundesarbeitsgericht Das entscheidende Merkmal zur Abgrenzung des Arbeitnehmers vom Selbständigen ist mithin die persönliche Abhängigkeit, die sich insbesondere in der Weisungsgebundenheit ausdrückt. Auch das Kriterium der persönlichen Abhängigkeit ist freilich wenig trennscharf. Eine nähere Umschreibung dieses Merkmals wird vom BAG typologisch vorgenommen: „Für die Abgrenzung […] gibt es kein Einzelmerkmal, das aus der Vielzahl möglicher Merkmale unverzichtbar vorliegen muß, damit man von persönlicher Abhängigkeit sprechen kann. Es ist deshalb aus Gründen der Praktikabilität und der Rechtssicherheit unvermeidlich, die unselbständige Arbeit typologisch abzugrenzen.“26

Diese Methode hat auch das BSG für die Bestimmung des Beschäftigtenbegriffs im Sozialrecht übernommen: „Die jeweilige Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung bzw. selbständigen Tätigkeit setzt dabei voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit

___________ 24 Hueck/Nipperdey, Bd. I, § 9 II; vgl. BAG AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr 26; BAG, NZA 2008, 878, 879. Zur Verbreitung dieser Formel siehe die Ergebnisse unten (Abschnitt C.) zur Korpusempirie. 25 Exemplarisch BAGE 87, 129 = NZA 1998, 364, 365 m.w.N. zur stRspr.; ferner BAG, NZA 2004, 39; BAG, NZA 2002, 787. 26 BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 34; vgl. zuvor bereits BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 26; kritisch Nogler, ZESAR 2009, 461.

II. Umschreibungsversuche

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diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, d.h. den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei, gegeneinander abgewogen werden.“27

aa) Geläufige typologische Kriterien Wichtig zur Bestimmung der persönlichen Abhängigkeit sei vor allem ein Weisungsrecht im Hinblick auf Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer, Ort oder sonstige Modalitäten der zu erbringenden Tätigkeit. Kennzeichen der abhängigen oder unselbständigen Arbeit sei es ferner, dass der in die Arbeitsorganisation eines anderen eingegliederte Mitarbeiter seine Arbeitskraft nicht nach selbstgesetzten Zielen und den Bedürfnissen des Marktes in eigener Verantwortung verwerte.28 Auch komme der sozialen Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Mitarbeitertyps entscheidende Bedeutung zu. Es müsse aber auch „die Eigenart der jeweiligen Tätigkeit berücksichtigt werden“; so könne etwa selbst bei Fehlen sachlicher und zeitlicher Weisungsgebundenheit u.U. die Arbeitnehmereigenschaft gegeben sein29, denn die persönliche Abhängigkeit könne sich auch aus einer anderen sehr detaillierten und den Freiraum für die Erbringung der geschuldeten Leistung stark einschränkenden rechtlichen Vertragsgestaltung oder tatsächlichen Vertragsdurchführung ergeben.30 Das Merkmal der persönlichen Abhängigkeit ist zu unterscheiden von wirtschaftlicher Abhängigkeit. Letztere ist nach ständiger Rechtsprechung31, die auch von der Literatur wohl überwiegend geteilt wird32 , gerade kein entscheidendes Kriterium. Allein bei der Frage, ob eine arbeitnehmerähnliche Person i.S.v. § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG vorliegt, kommt es auf die wirtschaftliche Abhängigkeit an.33 bb) Klassische Antitypen: Selbständige und Beamte Was einen typischen Arbeitnehmer ausmacht, wird neben dem Merkmal der persönlichen Abhängigkeit auch durch klassische Antitypen bestimmt. ___________ 27

BSG v. 30.10.2013 – B 12 KR 17/11 R, n.v., Rn. 23 m.w.N. zur stRspr. BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 34. BA, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 26; BAG v. 23.04.1980 – 5 AZR 426/79, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 34. 30 BAG, BAGE 87, 129 = NZA 1998, 364, 365. 31 Vgl. schon früh BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 1; ferner BAG, NZA 1994, 1132 = AP Nr. 68 zu § 611 BGB Abhängigkeit. BAG, NZA 1995, 622; BAG, NZA 1996, 477. 32 Hromadka, NZA 1997, 569; Griebeling, RdA 1998, 208, 210; Richardi, in: MünchHandbArbR, 3. Aufl. 2009, § 16 Rn. 49 m.w.N.; a.A. Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 125 f. 33 BGHZ 140, 11; BAGE 66, 113; BAGE 80, 256, 264; BAG NJW 1996, 3293; BAG, NJW 1997, 2404; BAG, NJW 1998, 701. 28 29

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

(1) Beamte Eigentlich müsste der Beamte bei einer tätigkeitsbezogenen Sicht dem Arbeitnehmer gleichstehen, denn auch er ist zeitlich, örtlich und inhaltlich weisungsgebunden und in eine fremdbestimmte Arbeitsorganisation eingegliedert. Dennoch gilt er als ein klassischer Antityp zum Arbeitnehmer. Er ist nach deutschem Recht schon deshalb nicht Arbeitnehmer, da seine Rechtstellung nicht auf einem Vertrag, sondern auf einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis beruht. Der Beamte wird durch (mitwirkungsbedürftigen) Verwaltungsakt ernannt, er unterschreibt keinen (Arbeits-) Vertrag. Zuständig für beamtenrechtliche Streitigkeiten sind daher auch nicht die Arbeitsgerichte (vgl. § 5 Abs. 2 ArbGG), sondern die Verwaltungsgerichte (s. § 126 Abs. 1 BBG und § 54 BeamtStG als aufdrängende Sonderzuweisung). Der Beamte kann zwar neben seinem Beamtenverhältnis zu einem Dritten in einem Arbeitsverhältnis stehen, er ist dann aber nur insoweit Arbeitnehmer.34 Allein im Personalvertretungsrecht sind Beamte und Arbeitnehmer gleichermaßen geschützt, Beamte und Arbeitnehmer bilden hier je eine Gruppe, siehe etwa § 5 S. 1 BPersVG. Beamte profitieren daher regelmäßig nur dann von arbeitsrechtlichen Schutznormen, wenn sie im Wege einer Fiktion den Arbeitnehmern gleichgestellt werden. Letztlich wird das tätigkeitsbezogene Konzept dabei durch eine funktionsbezogene Betrachtung ersetzt. Wichtige Beispiele hierfür sind auch Richter und Soldaten, für die meist nochmals gesonderte Vorschriften gegenüber anderen Beamten gelten. Grundlage dieser Eingruppierung als Nicht-Arbeitnehmer ist die historische Entwicklung der Berufsgruppen und ihre Funktionen im Staat. Ihnen ist gemeinsam, dass sie stets als ein besonderer Status angesehen wurden, der gegenüber den anderen arbeitenden Personen besondere Rechte, aber auch besondere Pflichten mit sich bringt. Beschäftigungsbezogen zeigen sich oft keine Unterschiede zum Arbeitnehmer – viele Beamte haben eine vergleichbare Tätigkeit wie Angestellte im öffentlichen Dienst. Die diesem Verhältnis zugrunde liegenden Wertungen sind aber verschieden – Beamte, und ganz besonders Richter und Soldaten stehen in einer spezifischen Nähebeziehung zum Staat35, sie sind zugleich Teil des Staates, während der Angestellte im öffentlichen Dienst diese Nähe nicht in gleichem Maße aufweist. Im Europarecht gibt es eine solche Zweiteilung der Schutzregime nicht in vergleichbarem Maß. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass dies zu Problemen führen kann, wenn die Vorgaben des Europäischen Rechts im Rahmen der nationalen Dogmatik integriert werden müssen (s. hierzu im Folgenden Abschnitt A. III. und IV.1.). ___________ 34 Vgl. BAG, AP BetrVG § 4 Nr. 3; Germelmann/Müller-Glöge, in: Germelmann, ArbGG, 7. Aufl. 2009, § 5 Rn. 53. 35 Vgl. etwa §§ 60 ff. BBG, 33 f. BeamtStG sowie allgemein die sog. hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gem. Art 33 Abs. 5 GG.

II. Umschreibungsversuche

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(2) (Schein-)Selbständige Der klassische Gegenpart zum Arbeitnehmer ist der Selbständige.36 Da mit der Qualifizierung als Arbeitnehmer (einseitig zwingende) Schutzvorschriften einhergehen, werden in der Praxis die unterschiedlichsten Formen der Umgehung des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts in Form von Scheinselbständigkeit ausgetestet.37 Vor allem der in Deutschland stark ausgeprägte Kündigungsschutz soll so vermieden werden, aber auch eine Flucht aus der Tarifbindung kann das Ziel einer Scheinselbständigkeitskonstruktion sein. Ein solches „Herausstehlen“ aus dem Arbeitsrecht mag in der Praxis zwar fast so verbreitet sein wie Schwarzfahren, es ist aber ebenso rechtswidrig. Der Arbeitnehmerbegriff ist nicht disponibel. Wenn jemand eine Tätigkeit ausübt, die den Merkmalen des Arbeitnehmerbegriffs entspricht, so ist er Arbeitnehmer, eine anderslautende Vertragsbezeichnung ist hierfür irrelevant.38 Gleiches gilt selbstverständlich für die Gewährung von Ansprüchen, die an den Status des Arbeitnehmers anknüpfen. Bekommt ein Arbeitnehmer etwa keinen Urlaub oder führt der „Arbeitgeber“ keine Sozialversicherungsbeiträge ab, so bedeutet dies nicht automatisch, dass der Arbeitnehmerstatus ausscheidet. Allenfalls mag dies ein Indiz darstellen; statusbegründend oder -ausschließend ist es aber nicht. Problematisch sind diejenigen Fälle, in denen die Tätigkeit des vermeintlich Selbständigen der eines Arbeitnehmers gleicht, weil er beispielsweise die Arbeitsleistung persönlich zu erbringen hat, keine eigenen Arbeitnehmer beschäftigt, die Tätigkeit ausschließlich für einen Auftraggeber ausführt und kein nennenswertes Eigenkapital aufweist. Gerade hier bedarf es einer einzelfallorientierten Abgrenzung. (3) Arbeitnehmerähnliche Personen Eine Zwischenkategorie stellen die sog. arbeitnehmerähnlichen Personen dar. Sie von echter Selbständigkeit abzugrenzen, ist im Hinblick auf die Rechtswegzuständigkeit wichtig: Gem. § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG gelten arbeit___________ 36

Richardi, in: MünchHandbArbR, 3. Aufl. 2009, § 16 Rn. 47. Vgl. zur Scheinselbständigkeit BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 26; BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 34; BAGE 87, 129; Hromadka, NZA 1997, 569; Griebeling, RdA 1998, 208; ausführlich Schmidt/Schwerdtner, Scheinselbständigkeit, 2. Aufl., München 2000, passim.; illustrativ ferner BGHZ 140, 11 (Eismann als arbeitnehmerähnlicher Franchisenehmer); ein instruktives Beispiel aus Frankreich ist die Entscheidung der CCass Soc., Arrêt n° 1159,3 juin 2009; ausführlich zur internationalen Dimension von Scheinselbständigkeit Thüsing (Hrsg.), Scheinselbständigkeit im internationalen Vergleich, Frankfurt/Main 2011, passim. 38 Siehe nur BAG, NZA 1995, 161. 37

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

nehmerähnliche Personen auch als Arbeitnehmer im Sinne des Prozessrechts. Arbeitnehmerähnliche Personen sind wegen ihrer fehlenden Eingliederung in eine betriebliche Organisation und im Wesentlichen freier Zeitbestimmung nicht im gleichen Maß persönlich abhängig wie Arbeitnehmer; an die Stelle der persönlichen Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit tritt das Merkmal der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Ferner muss der wirtschaftlich Abhängige auch seiner gesamten sozialen Stellung nach einem Arbeitnehmer vergleichbar sozial schutzbedürftig sein.39 b) Die alternative Konzeption bei Wank Die typologische Begriffsumschreibung des BAG weist bei genauer Betrachtung erhebliche Unsicherheit auf. Das Vorliegen eines privatrechtlichen Vertrags mag dabei noch unproblematisch feststellbar sein. Das Kriterium der persönlichen Abhängigkeit ist aber unbestimmt und falloffen. Ist es dann überhaupt als Ausgangspunkt für eine Konkretisierung in Fallgruppen geeignet? Ein abweichendes Konzept zum Ansatz des BAG, welches viel Gehör gefunden hat, wurde von Wank entwickelt. Das Kriterium der persönlichen Abhängigkeit sei nicht entscheidend, vielmehr komme es auf das Merkmal der freiwilligen Übernahme des Unternehmerrisikos an.40 Arbeitnehmer sei, wer „sich nach der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses nicht unternehmerisch betätigen kann; sei es, dass ihm schon die organisatorischen Voraussetzungen fehlen, sei es, dass er nicht am Markt auftritt, sondern – insbesondere in Vollzeittätigkeit – nur für einen Auftraggeber arbeitet oder schließlich, weil er trotz einer bescheidenen eigenen Organisation und der rechtlichen Möglichkeit, auch für andere tätig zu werden, nach dem Vertrag und dessen Durchführung keinen unternehmerischen Spielraum hat.“41

Auch Wank will damit den Arbeitnehmerbegriff zumindest partiell typologisch bestimmen.42

___________ 39 140, 11; BAGE 66, 113; BAGE 80, 256, 264; BAG NJW 1996, 3293; BAG, NJW 1997, 2404; BAG, NJW 1998, 701. 40 Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 391. 41 Wank, Empirische Befunde zur „Scheinselbständigkeit“ – Juristischer Teil, 1997, S. 75 f.; vgl. kritisch Hromadka, NZA 1997, 569 ff.; ferner Griebeling, RdA 1998, 208, 214 ff.; Rieble, ZfA 1998, 327, 340 f.; Buchner, NZA 1998, 1144, 1147 ff.; Boemke, ZfA 1998, 285, 321 f.; Richardi, in: MünchHandbArbR, 3. Aufl. 2009, § 16 Rn. 33. 42 Jedoch nur in Bezug auf weitere Unterbegriffe, die das Kernmerkmal der freiwilligen Übernahme des Unternehmerrisikos kennzeichnen, Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 126, 391.

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

25

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht Die gerichtliche Arbeit bei der typologischen Herausbildung des Arbeitnehmerbegriffs wird durch einen wachsenden unionsrechtlichen Einfluss komplexer. Das deutsche Arbeitsrecht wird heute in vielen Bereichen wesentlich durch Vorgaben auf EU-Ebene geformt. Hier kann es dann keine rein nationale Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs mehr geben, stattdessen ist ggf. eine unionsrechtskonforme Auslegung vorzunehmen.43 Für die fallgruppenbezogene Herausarbeitung der Semantik des Arbeitnehmerbegriffs bedeutet dies, dass ein weiterer, sich partiell unterschiedlich entwickelnder Bedeutungskontext neben die nationalen Parameter tritt. 1. Der Arbeitnehmer im Unionsrecht Bedeutsam ist zunächst ein primärrechtlicher Arbeitnehmerbegriff, der in der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) entwickelt wurde.44 Dieser ist unionsrechtsautonom und muss somit von allen Mitgliedstaaten gleich angewendet werden. Bei den sekundärrechtlichen Richtlinien zeigt sich hingegen teilweise ein anderes Bild. Hier wird an vielen Stellen auf den nationalen jeweiligen Arbeitnehmerbegriff der Mitgliedstaaten verwiesen45. Nicht alle Richtlinien beschreiten aber diesen Weg46. Im Ergebnis bestehen also im Unionsrecht verschiedene Kategorien von Arbeitnehmerbegriffen: Derjenige des Primärrechts, unterschiedliche sekundärrechtliche Begriffe sowie ein nationaler, der von den Richtlinien zugelassen wird.

___________ 43

Zum Gebot der Konformauslegung siehe EuGH, Slg. 2004, I-8835 – Pfeiffer; EuG, Slg 2006, I-6057 – Adeneler; ausführlich Pötters/Christensen, JZ 2011, 387. 44 Grundlegend EuGH, Slg 1986, 2155 – Lawrie-Blum; ferner EuGH, Slg. 1988, 3205 – Brown; EuGH, Slg. 1992, I-1027 – Raulin; EuGH, Slg. 2004, I-7573 – Trojani; vgl. ausführlich Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 2013, Art. 45 AEUV Rn. 68 ff. 45 Z. B. Art. 2 Abs. 1 lit. d RL 2001/23/EG – Betriebsübergang; Art. 2 Abs. 1 RL 94/33/EG – Jugendarbeitsschutz; Art. 2d RL 2002/14/EG – Betriebsrat; Art. 3 Abs. 1 lit. a RL 2008/104/EG; Art 2 Abs. 2 RL 96/71/EG – Arbeitnehmerentsendung oder auch Erwägungsgrund 87 zu RL 2006/13/EG – Dienstleistung. 46 Vgl. etwa RL 2003/88/EG – Arbeitszeit.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

a) Arbeitnehmerbegriffe beim EuGH Nachfolgend sollen kurz einige wichtige Urteile dargestellt werden, in denen sich der EuGH mit den unterschiedlichen Arbeitnehmerbegriffen47 zu befassen hatte. 

EU-Primärrecht (Arbeitnehmerfreizügigkeit): Wesentliche Vorschrift im europäischen Primärrecht ist die Regelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV). Arbeitnehmer i.S.d. Norm ist nach dem EuGH jede Person, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (sog. Lawrie-Blum-Formel)48. Damit wird auch hier die entscheidende Grenze durch die Erforderlichkeit der Subordination in Gestalt der Weisungsunterworfenheit begründet. Die Gemeinsamkeiten mit den nationalen Arbeitnehmerbegriffen liegen damit auf der Hand. Eine wichtige nationale Differenzierung wird aber vom EuGH nicht geteilt. So sollen auch Beamte, Richter und Soldaten diesem Arbeitnehmerbegriff unterfallen49. Jedenfalls nach deutschem Recht dürfte dies nicht gelten, denn hier fehlt der privatrechtliche Vertrag, aufgrund dessen die Tätigkeit erfolgt50. Der Arbeitnehmerbegriff des Art. 45 AEUV ist also grundsätzlich zwingend, nationale Abweichungen sind unzulässig.51 Überließe man hier die Definition den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen, hätten es die Mitgliedstaaten in der Hand, beliebigen Personengruppen den Schutz der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu entziehen. Die Freizügigkeit als eine der Grundfreiheiten, wird als so bedeutsam angesehen, dass die praktische Wirksamkeit und Einheitlichkeit zwingend gewährleistet werden muss. Entsprechende Maßstäbe wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit dürften auch beim Arbeitnehmerbegriff der Grundrechtecharta (Art. 27, 28, 30 und 31 EUGRC) gelten, denn die Grundrechte sind strukturell mit den Grundfreiheiten vergleichbar.52



Befristungsrecht: Die sog. Befristungs-Richtlinie 1999/70/EG überlässt die Definition des Arbeitnehmerbegriffs hingegen den Mitgliedstaaten.53

___________ 47 Einen guten Überblick bietet Sagan, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2014, § 1 Rn. 108 f 48 EuGH, Slg 1986, 2155 – Lawrie-Blum; ferner EuGH, Slg. 1988, 3205 – Brown; EuGH, Slg. 1992, I-1027 – Raulin; EuGH, Slg. 2004, I-7573 – Trojani. 49 EuGH, Slg 1974, 153 – Sotgiu. 50 ErfK/Preis, § 611 BGB, Rn. 128. 51 StRspr. seit EuGH, Slg 10, 379 – Unger. 52 Pötters, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2014, § 2 Rn. 73. 53 Vgl. § 2 Nr. 1 Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGBUNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge: „Diese Vereinba-

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

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In einer Kette von Entscheidungen zu dieser Richtlinie stellte der EuGH aber klar, dass ein Arbeitnehmer i.S.d. Richtlinie auch im öffentlichen Sektor oder bei Behörden beschäftigt sein kann.54 Die Frage nach einer Erstreckung des Anwendungsbereichs der Richtlinie auf Beamten wurde zwar offen gelassen, gerade die aktuelle Entscheidung in der Rechtssache Gavieiro Gavieiro kann aber so gelesen werden, dass auch diese vom EUBefristungsrecht geschützt werden. Der EuGH scheint davon auszugehen, dass auch ein Beamter faktisch als Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst anzusehen ist. Trotz der klaren Vorgabe in der Richtlinie scheint der EuGH somit eine rein nationale Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs bzw. der Begrifflichkeit des Arbeitsverhältnisses abzulehnen. Stattdessen scheint er eine Art Mittelweg zu beschreiten: Ein grundsätzlicher Rahmen für den Arbeitnehmerbegriff ist im Befristungsrecht unionsrechtlich determiniert, lediglich die nähere Ausgestaltung dieses Begriffs bleibt dann noch den Mitgliedstaaten selbst überlassen. 

Betriebsübergänge: In der Rechtssache Albron-Catering55 legte der EuGH dar, dass zumindest im Rahmen der Betriebsübergangsrichtlinie ein Verzicht auf das Merkmal der vertraglichen Bindung möglich ist, ohne dass automatisch die Stellung als Arbeitnehmer entfällt. Dies hat zur Folge, dass für die Zuordnung Arbeitnehmer / Arbeitgeber andere Maßstäbe als im nationalen Recht anzustellen sind.



Urlaubsrecht: Die Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Neidel dahingehend auszulegen, dass sie auch für Beamten gilt (im Fall: Feuerwehrmann).56 Im nationalen Urlaubsrecht existieren aber weiterhin zwei parallele Schutzregime (BurlG für Arbeitnehmer einerseits, Vorschriften des Landes- bzw. Bundesbeamtenrechts andererseits), die nun beide im Lichte der unionsrechtlichen Vorgaben und des EuGH-case law ausgelegt werden müssen.



Diskriminierungsrecht: In der Rechtssache Danosa57 hat der EuGH festgestellt, dass auch ein Mitglied der Unternehmensleitung in einer Kapital-

___________ rung gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag oder -verhältnis gemäß der gesetzlich, tarifvertraglich oder nach den Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat geltenden Definition.“ 54 Grundlegend EuGH, Slg 2006, I-6057 – Adeneler, dort insbesondere Rn. 54 ff.; EuGH, Slg. 2006, I-7213 - Marrosu und Sardino; EuGH, Slg 2006, I-7251 – Vasallo; EuGH, Slg. 2007, I-7109 – Del Cerro Alonso; jüngst EuGH v. 22.12.2010 – C-444/09 und C-456/09, BeckEuRS 2010, 560282 – Gavieiro Gavieiro. 55 EuGH, NJW 2011, 439 – Albron Catering. 56 EuGH, NVwZ 2012, 688 – Neidel. 57 EuGH, NJW 2011, 2343 – Danosa; zur (fehlenden) Übertragbarkeit der DanosaRechtsprechung auf die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG siehe Hohenstatt/Naber, NZA 2014, 637.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

gesellschaft vom Anwendungsbereich der Mutterschutz- und Antidiskriminierungsrichtlinien58 erfasst sein kann. Allgemein gilt heute, dass (partiell59) auch Organmitglieder vom Diskriminierungsrecht geschützt werden.60 Die Antidiskriminierungsrichtlinien, die jedoch in ihren „arbeitsrechtlichen Teilen“ nicht am Arbeitnehmerbegriff anknüpfen, schützen außerdem auch Beamte.61 b) Perspektiven Die Unterschiedlichkeit des Arbeitnehmerbegriffs im Unionsrecht und im nationalen Recht wird in jedem konkreten Fall künftig für weitere dogmatische Friktionen sorgen. Dass der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff in vielen Bereichen bereits gilt, ist unbestritten. Aber selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, zeigt sich die Tendenz, dass der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff den nationalen überwölbt (vgl. dazu auch unsere empirischen Ergebnisse: C IV.1). Dabei führt er vor allem zu einer Erweiterung. Arbeitnehmer ist in der EU – verkürzt gesagt – derjenige, der für andere weisungsgebunden arbeitet, unabhängig davon, welchen Status er dabei innehat. Will man bei einem sehr schablonenhaften Vergleich zwischen dem bzw. den Arbeitnehmerbegriffen des nationalen und des europäischen Rechts allgemeine Unterscheide beschrieben, so könnte man konstatieren, dass der EUGesetzgeber weniger an der klassischen Begrifflichkeit des Arbeitnehmers haftet. Auch der herkömmliche Ansatz spezieller Schutzregime für leitende Angestellte und Organmitglieder oder Beamte wird im Unionsrecht nicht mit gleicher Stringenz durchgehalten. Die deutsche Abgrenzung zum Beamten erscheint dem Unionsrecht sogar ganz überwiegend fremd; zumindest befasst es

___________ 58 Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz sowie Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen in der durch die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 geänderten Fassung. 59 Nach Art. 3 Richtlinie 2000/78/EG gilt der Diskriminierungsschutz für Selbstständige und Organmitglieder nur, soweit es die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie den beruflichen Aufstieg betrifft. 60 BGH, NJW 2012, 2346; vgl. instruktiv Lutter, BB 2007, 725; Bauer/Arnold, NZG 2012, 921. 61 EuGH v. 19.06.2014 – C-501/12, BeckRS 2014, 81016 – Specht; vgl. zum nationalen Recht BVerwG, ArbuR 2014, 292, wonach Beamte „Beschäftigte“ i.S.v. § 84 Abs. 2 SGB IX (betriebliches Eingliederungsmanagement) sind.

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

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sich nicht in gleichem Maße mit den Besonderheiten des Berufsbeamtentums.62 Zum Schutz der Beschäftigten scheint sich das Unionsrecht damit einer rein funktions- bzw. tätigkeitsbezogenen Definition des Arbeitnehmers hinzuwenden. Vom Regelungsansatz des Gesetzgebers her betrachtet wird der personale Schutzbereich von einem Sachproblem ausgehend definiert. So leuchtet es intuitiv ein, dass Diskriminierungsschutz auf Führungsebenen genauso dringend benötigt wird wie beim „einfachen“ Arbeitnehmer. Ebenso ist Datenschutz im Arbeitsleben ein Anliegen, das Beamte in ähnlicher Weise betrifft wie Arbeitnehmer. Der EuGH argumentiert daher zu Recht bei der Bestimmung des personalen Schutzbereichs „arbeitsrechtlicher“ Regelungen meist vom Telos her. Dies illustriert die Entscheidung in der Rechtssache Neidel, wonach Beamte auch Arbeitnehmer i.S.d. EU-Urlaubsrechts sind.63 Der EuGH führt hierzu aus, dass die einschlägigen Richtlinien für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche gelten, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit zu verbessern und bestimmte Aspekte der Gestaltung ihrer Arbeitszeit zu regeln. Daher habe auch ein Beamter Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der Beamte ist also Arbeitnehmer i.S.d. Richtlinie 2003/88/EG. Der EuGH weist außerdem darauf hin, dass Beamte ohnehin alle wesentlichen Merkmale des europäischen Arbeitnehmerbegriffs erfüllen würden.64 Er bereitet damit den Weg für eine weitere Ausdehnung „arbeitsrechtlicher“ Vorschriften auf den gesamten öffentlichen Dienst. Der Vorrang des Unionsrechts drängt deutsche Begriffsbildungen zum Teil zurück. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass sich die deutsche Rechtsprechung in absehbarer Zeit von der eigenständigen Umschreibung verabschieden wird. Dennoch könnte der Einfluss des Unionsrechts – wie gezeigt auch in den Bereichen, in denen vermeintlich die nationale Umschreibung greift – dazu führen, dass sukzessive eine Verschiebung in der Begriffsbildung stattfindet. Aktuell jedoch muss der Arbeitnehmerbegriff im Einzelfall mithilfe eines vielschichtigen Regelungskomplexes und nationaler wie europäischer Entscheidungsketten herausgebildet werden.

___________ 62

Siehe hierzu nur zuletzt das Urteil des EuGH in der Rs. Neidel (EuGH, NVwZ 2012, 688), eine Auseinandersetzung mit den beamtenrechtlichen Besonderheiten wäre auch hier möglich gewesen, vgl. Thüsing/Stiebert, ZESAR 2011, 24, 25f. 63 EuGH, NVwZ 2012, 688, 689, Rn. 19 ff. – Neidel. 64 EuGH, NVwZ 2012, 688, 689, Rn. 23 – Neidel unter Verweis auf die sog. LawrieBlum-Formel (EuGH, Slg 1986, 2155, Rn. 16 f. – Lawrie-Blum). Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

2. Verzahnung des nationalen Rechts mit unionsrechtlichen Vorgaben: Grenzen der Konformauslegung65 Die aufgezeigte semantische Vielschichtigkeit des Arbeitnehmerbegriffs zwischen nationalem Arbeitsrecht und Europarecht ist ein Spannungsfeld, das methodisch bewältigt werden will. Das Ziel ist dabei gerade nicht, ein homogenes Wertsystem zu schaffen, vielmehr die Unterschiedlichkeit in einem Wertsystem methodisch auszubalancieren. Das wird besonders dort deutlich, wo es für die nationalen Gerichte gilt, über Anwendungsvorrang des Unionsrechts oder unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts beide Rechtsordnungen miteinander kompatibel zu machen. Hier muss eine Nivellierung vermieden werden. Die von BGH und BAG entwickelte Figur der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung macht dieses Risiko deutlich. Erstmals tauchte sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der viel beachteten Quelle-Entscheidung des BGH66 auf. In der Entscheidung Schultz-Hoff67 haben sich später auch die Erfurter Kollegen vom BAG dieses neuen Instruments bedient. Insbesondere der BGH suggeriert dabei, dass das neue Rechtsinstitut der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung in methodischer Hinsicht großzügigeren Grenzen unterworfen sei als eine schlichte richtlinienkonforme Auslegung.68 Das BAG wiederum lässt offen, ob es sein Ergebnis auch mit einer Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes rechtfertigen könnte.69 Denn die richtlinienkonforme Auslegung verpflichte auch zur Rechtsfortbildung jenseits der Wortlautgrenze; der EuGH habe für die Konformauslegung nur eine funktionelle Grenze gesetzt.70 Eine Auslegung oder Rechtsfortbildung contra legem liege daher nur dann vor, wenn der Richter eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen ändern will.71 Dieses Vorgehen wirft die Frage nach der Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung auf sowie die Frage nach der Wortlautgrenze im nationalen Recht und im Unionsrecht. Dem BAG ist in diesem Zusammenhang im Ergebnis ausdrücklich beizupflichten, wenn es eine funktionelle Grenze (orien___________ 65

387.

66

Dieser Abschnitt beruht teilweise auf dem Beitrag Pötters/Christensen, JZ 2011,

BGH, NJW 2009, 427. BAG, NZA 2009, 538. 68 Der BGH hatte noch in seiner Vorlage an den EuGH darauf beharrt, dass eine Konformauslegung des BGB an dem eindeutigen Wortlaut scheitern müsse (BGH, NJW 2006, 3200, Rn. 12c-15), sodann aber im Anschluss an den EuGH doch das unionsrechtskonforme Ergebnis hergestellt (BGH, NJW 2009, 427) 69 BAG, NZA 2009, 538, 544, Rn. 64. 70 Ebd., Rn. 65. 71 Ebd. 67

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

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tiert am Gewaltenteilungsprinzip) für die Auslegung bzw. Fortbildung des Rechts zieht. a) (Konform-)Auslegung und Rechtsfortbildung Das BAG geht aber übereinstimmend mit dem BGH zunächst davon aus, dass die Auslegung sich innerhalb der Wortlautgrenze – verstanden als wörtliche Bedeutung – vollziehe72, während die Rechtsfortbildung über die Wortlautgrenze hinausgehe. Wenn die Rechtsprechung diese Möglichkeit einer wörtlichen Auslegung annimmt, gelangt man damit gerade nicht zu einer strengen Gesetzesbindung. Vielmehr liefert man durch einen zu engen Textbegriff eine bequeme Rechtfertigung für richterlichen Dezisionismus. Die Beschränkung des Textbegriffs liegt in der Reduktion der Semantik auf Bedeutungserkenntnis qua grammatischer Auslegung. Die Konsequenz dieses sehr engen Textbegriffs ist eine entsprechend große Selbstverständlichkeit bei der Rechtsfortbildung. Die Vorstellung einer wörtlichen Bedeutung ist in den Textwissenschaften schon lange verabschiedet. Das Ganze der Rechtsordnung bildet keine Totalität im Sinne des deutschen Idealismus, wo man von einem Sinnzentrum aus alle Details beherrschen könnte. Es ist vielmehr nur ein Horizontbegriff, der für einzelne Rechtsanwender nicht verfügbar ist. Damit ist klar, dass Abbildung nicht etwas ist, was wir tun könnten. Die pragmatische Kohärenz der Rechtsordnung wird durch jede neue Entscheidung leicht verschoben. Das ist unvermeidbar. Abbildung ist also nur denkbar als Grenzbegriff für eine permanente Fortbildung, welche verhindert, dass wir bei der Verschiebung die Widerständigkeit der pragmatischen Zusammenhänge unterschätzen. Zwar hat niemand die versionslose Beschreibung der Rechtsordnung als Ganzes, aber trotzdem wird von jedem Juristen erwartet, dass er sich mit allen relevanten Anschlusszwängen für seine Begründung auseinandersetzt. Eine wörtliche Auslegung kann man nicht verlangen, weil sie einfach nicht möglich ist. Im Gegensatz zur nationalen Rechtsprechung hat der EuGH in seinen Entscheidungen zum Staatshaftungsanspruch immer wieder betont, dass man mit einer schematischen Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht zurechtkommt: „Seine [des nationalen Gerichts] Position ist umso strategischer, als es das Zusammenspiel seines innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zu beurteilen

___________ 72

Vgl. hierzu ebenfalls kritisch Höpfner, EuZW 2009, 159.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive und daraus die gebotenen Konsequenzen zu ziehen hat. Somit ist es nicht mehr unbedingt, wie Montesquieu es einst ausgedrückt hat, das Sprachrohr des Gesetzes.“73

Der EuGH geht also zu Recht davon aus, dass das Gesetz seine Bedeutung erst in der Anwendung gewinnt. Das Gericht sieht deutlich, dass man Rechtsprechung und Rechtsetzung nicht schematisch trennen kann. Sobald das Recht geschrieben ist74, entsteht eine Komplexität, die mit linearer Rückkopplung nicht bewältigt werden kann. Mit der Schriftlichkeit wird der Unterschied von Zeichenkette und Sinn, von Text und Interpretation erzeugt.75 Deswegen kann der Richter kein Subsumtionsautomat sein. Aber er kann die Einheit des Rechts auch nicht durch „Werte“schau herstellen, weil dem Recht ein Sinnzentrum fehlt, von dem aus es beherrscht werden könnte. Denkbar ist nur, dass in der Anwendung des Gesetzes eine pragmatische Kohärenz entsteht. Eine pragmatische Größe ist als Gewissheitsinstanz nur nachträglich und nicht ex ante zugänglich. Das ist der Gedanke der in der analytischen Philosophie entwickelten horizontalen Fassung des Holismus.76 In der jeweiligen Anwendungssituation ist das Gesetz nur als offene und inhomogene Kette seiner Anwendungen zu beobachten. Deswegen kann man die Anwendung von der Erzeugung des Rechts nie vollkommen klar trennen. Zwar will sich jeder Richter in die Kette der Vorentscheidungen einschreiben und mit seiner Entscheidung selbst zum Autor eines Präjudizes werden. Aber er überblickt diese Kette nicht vollständig. Deswegen wird die hergebrachte mechanische Sicht der Gewaltenteilung neu justiert: Der Richter hat bei seiner Arbeit vom einschlägigen Gesetz als Text auszugehen. Er darf seine Entscheidungsprämisse also nicht frei wählen. Das ist die funktionelle Abgrenzung vom Gesetzgeber. Zudem vollzieht er die Entscheidung im Rahmen einer vom Fachpublikum und von anderen Gerichten kontrollierten inferenziellen Seman___________ 73 GA Léger, Schlussanträge v. 8.4.2003 – C-224/01, Rn. 59 – Köbler. Sehr ähnlich formuliert auch das BVerfG, NJW 1988, 1459, 1462: „Auch gegen die Methode richterlicher Rechtsfortbildung, deren sich der Gerichtshof bedient hat, ist weder unter dem Maßstab des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag noch dem des Art. 24 GG Abs. 1 GG etwas zu bewenden. Zwar ist dem Gerichtshof keine Befugnis übertragen worden, auf diesem Wege Gemeinschaftskompetenzen beliebig zu erweitern; ebensowenig aber können Zweifel daran bestehen, daß die Mitgliedsstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich ,la bouche qui prononce les paroles de la loiʻ. […] Das BVerfG ist auch bislang schon ohne Aufhebens davon ausgegangen, daß der Gerichtshof subjektive Rechte des privaten Einzelnen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickeln darf.“ 74 Vgl. dazu Fögen, Römische Rechtsgeschichten: Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Frankfurt/M. 2002, S. 82. 75 Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 289. 76 Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, Berlin 2008, S. 52 ff.

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

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tik. Es gibt zwar keine Determination durch den Gesetzgeber, aber auch keine dezisionistische Willkür, solange man das Problem der Wortlautgrenze nicht verwirft. b) Die Wortlautgrenze im Unionsrecht Der EuGH unterscheidet richtigerweise den Wortlaut als Beginn der Auslegung (im Sinne der grammatischen Auslegung) vom Wortlaut als Grenze der Auslegung. Grammatische Auslegungen sind einfach die Gebrauchsbeispiele, welche uns ohne besondere Anstrengungen einfallen. Darin liegt nur die Grenze unserer eigenen Kompetenz. Diese überschreiten wir, indem wir die Suchstrategien von Systematik, Zweck und Geschichte anwenden. Aber auch dann können wir nicht sicher sein, alles sprachliche Wissen eingeholt zu haben. Dazu müssen wir uns dem kritischen Urteil anderer in der Argumentation des Verfahrens aussetzen. Damit ist die grammatische Auslegung für den EuGH ein wichtiges Instrument, aber kein Universalschlüssel für alle Auslegungsprobleme: „Wie der Gerichtshof jedoch in seiner Rechtsprechung betont hat, ist bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.“77

Bedeutet dies, dass der EuGH über die Semantik des Textes hinausgehen will? Tatsächlich wird dies in der methodischen Literatur zum Teil so interpretiert: „Eine vom semantischen Sinngehalt abweichende Auslegung rechtlicher Anordnungen ist dennoch geboten, wenn andere Auslegungsmethoden einen damit nicht in Einklang zu bringenden Willen eines Rechtsetzers überzeugender dokumentieren.“78

Diese Einschätzung beruht aber auf der verkürzten Sprachtheorie der herkömmlichen Methodik. Wie dargelegt, kann die grammatische Auslegung nicht mit der Semantik eines Normtextes gleichgesetzt werden. Die Bedeutung eines Normtextes ergibt sich erst nach umfassender Heranziehung aller Konkretisierungselemente und nicht schon bei der isolierten Anwendung des grammati___________ 77

EuGH, Slg. 1983, 3781, 3792 – Merck. Als weitere Entscheidung könnte man hier nennen EuGH, Slg. 1979, 1449, 1459 – Kommission/Vereinigtes Königreich: „Wenn auch der Wortlaut des Art. 60 Absatz 2 – für sich allein betrachtet – die Auslegung der Regierung des Vereinigten Königreichs vielleicht rechtfertigt, so ist diese Auslegung doch mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der Beitrittsakte sowie deren Zusammenhang mit den Bestimmungen des EWG-Vertrages nicht haltbar. Außerdem würde sie zu unannehmbaren Folgen bezüglich der Gleichheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf bestimmte grundlegende Regeln für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes führen.“ 78 Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, Baden-Baden 1994, S. 69.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

schen. Deswegen geht es hier nicht darum, die Semantik des Textes zu überschreiten, sondern darum, die Semantik des Textes überhaupt erst sinnvoll zu diskutieren. Die eklatante Fehleinschätzung der grammatischen Auslegung im Rahmen der herkömmlichen Methodik erklärt sich aus ihrer Sprachtheorie: „Bei – vorhandenen – Divergenzen des Wortlauts ist zunächst zu versuchen, die richtige Bedeutung im Sinne einer wörtlichen, sprachvergleichenden Interpretation durch einen Vergleich der Sprachfassungen zu eruieren [...]. Ist diese semantische Interpretation nicht zielführend, so ist der Auslegung Ziel und Zweck des Vertrags zugrunde zu legen, wobei vom Prinzip ‚in dubio pro communitate‘ auszugehen ist.“79

Die grammatische Auslegung soll zur „richtigen“ Bedeutung führen. Aber den sprachlichen Anforderungen ist Genüge getan, wenn die fragliche Äußerung verständlich ist. Ob eine Bedeutung „richtig“ ist, kann erst eine normative Bewertung beurteilen. Diese kann nicht das Wortlautargument liefern, sondern sie kann nur im Wege einer detaillierten sprachlichen Analyse aus den Anschlusszwängen eines bestimmten Sprachspiels begründet werden. Diese gegebenenfalls schwierigen Begründungslasten tauchen aber erst gar nicht auf, wenn man die Frage nach der richtigen Bedeutung als Problem der grammatischen Auslegung behandelt. Damit zeigt sich in der sprachtheoretischen Prämisse, bei der grammatischen Auslegung gehe es um die wörtliche Bedeutung, der zentrale Zug der klassischen Lehre. An die Stelle einer sprachlichen Analyse tritt die Sprache als Legitimationsinstanz. Hier wird der Wortlaut ausgeschaltet, in dem man zu viel von ihm verlangt. Die semantische Interpretation soll zu einer Bedeutung führen und diese Bedeutung soll nicht nur verständlich, sondern auch noch richtig sein. Der Wortlaut kann diese Forderung natürlich nicht erfüllen. Er liefert verständliche Bedeutung als Lesart des Normtextes, aber nicht die einzige richtige Bedeutung, sondern eine Vielzahl konfligierender Bedeutungen. Daraus kann man aber nicht folgern, dass er als bloßer Einstieg irrelevant ist. Wenn man den Wortlaut vor die Alternative „richtige Bedeutung oder Leben“ stellt, dann verliert er im Ernstfall der Argumentation immer sein Leben. Tatsächlich ist er aber als Lieferant von Lesarten und vor allem als Ziel juristischer Argumentation unverzichtbar. Das BAG geht wieder übereinstimmend mit dem BGH davon aus, dass der EuGH vom nationalen Richter nicht die Einhaltung der Wortlautgrenze verlange, sondern nur die Einhaltung der funktionell-rechtlichen Grenze zwischen ___________ 79

Röttinger, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 1994, Art. 248 Rn. 3: „Bei – vorhandenen – Divergenzen des Wortlauts ist zunächst zu versuchen, die richtige Bedeutung im Sinne einer wörtlichen, sprachvergleichenden Interpretation durch einen Vergleich der Sprachfassungen zu eruieren [...]. Ist diese semantische Interpretation nicht zielführend, so ist der Auslegung Ziel und Zweck des Vertrags zugrunde zu legen, wobei vom Prinzip ‚in dubio pro communitate‘ auszugehen ist.[…].“

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

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Richter und Gesetzgeber.80 Tatsächlich spricht der EuGH von einer funktionellen Arbeitsteilung zwischen Richter und Gesetzgeber. Der Richter darf sich mit seiner Auslegung nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen. Zulässig ist aber, dass das Gericht im Rahmen des methodisch Möglichen seine Interpretation ändert. Dadurch wird die Gewaltenteilung nicht verletzt. Im Urteil in der Rechtssache Strafverfahren gegen Arcaro81 lässt sich beobachten, dass der Gerichtshof es nicht einfach dem mitgliedstaatlichen Gericht überlässt, zu entscheiden, wie weit es mit der Auslegung nationalen Rechts im Lichte der Richtlinie gehen möchte. Hier zeigt sich eine Auslegungsgrenze. Es handelt sich aber nicht um ein Gleichsetzen der Wortlautgrenze mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung. In seinem Schlussantrag zur Arcaro-Entscheidung führt GA Elmer aus, dass die fragliche Auslegungsmethode nicht in einer Art und Weise angewendet werden könne, durch die es zu einer eigentlichen Neuschreibung der nationalen Vorschrift kommen würde. Die richtlinienkonforme Auslegung wird also durch die nationalen Auslegungsregeln begrenzt.82 Die Entscheidung darüber, was diese Regeln zulassen, liegt allein in der Kompetenz der nationalen Gerichte bzw. Rechtsanwender. Diese Begrenzung ist deshalb erforderlich, weil andernfalls die der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien gesetzten Grenzen fast beliebig unterlaufen werden könnten, lässt sich doch mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation eine ähnliche Wirkung wie mit der Figur der unmittelbaren Wirkung erzielen. Eine Grenze findet die richtlinienkonforme Auslegung daher – und ebenso auch, sofern man denn diese Unterscheidung treffen will, die Rechtsfortbildung – im umfassend ausgelegten Wortlaut des innerstaatlichen Gesetzes.83 Diese ___________ 80

BAG, NZA 2009, 538, 544, Rn. 65. EuGH, Slg. 1996, I-4705, Rn. 41, 42 – Strafverfahren gegen Arcaro. 82 Jarass, EuR 1997, 211, 217. 83 Vgl. hierzu EuGH, NJW 1994, 921, 922, Rn. 20 ff. – Wagner Miret: „Wie der Gerichtshof (Slg. I 1990, 4135, Rn. 8 – Marleasing) entschieden hat, muss das nationale Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 249 Abs. 3 EG nachzukommen. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gilt für ein nationales Gericht besonders dann, wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall der Ansicht war, dass die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügen. Dem Vorlagebeschluss scheint sich entnehmen zu lassen, dass die nationalen Vorschriften nicht in einem der Richtlinie 80/987/EWG [...] konformen Sinn ausgelegt werden und daher nicht sicherstellen können, dass den leitenden Angestellten die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien zugute kommen. Für diesen Fall ergibt sich aus dem Urteil Francovich […], dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, leitenden Angestellten Schäden zu ersetzen, die ihnen dadurch entstanden sind, dass die Richtlinie 80/987/EWG in Bezug auf sie nicht durchgeführt worden ist.“ 81

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

„Wortlautgrenze“ ist aber – wie gezeigt – gerade nicht gleichbedeutend mit der grammatikalischen Auslegung, sondern lässt sich erst im Zusammenspiel aller Canones bestimmen. c) Bewertung der Entscheidungen Quelle und Schultz-Hoff Gemessen an den soeben dargestellten Anforderungen an eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung sind die Entscheidungen des BGH und des BAG in den Rechtssachen Quelle respektive Schultz-Hoff methodisch fehlerhaft. Was die BGH-Entscheidung84 betrifft, so ist verwunderlich, dass die Karlsruher Richter in der Vorlage an den EuGH noch davon ausgingen, dass der Wortlaut des BGB derart eindeutig sei, dass eine Anpassung an die Ziele der Richtlinie im Wege der Konformauslegung nicht möglich sei85, später dann aber die bisherige Rechtsprechung über eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung – gegen den Wortlaut? – korrigiert wurde. Wie dargelegt, muss jedoch auch eine Rechtsfortbildung die Wortlautgrenze achten, auch sie ist nicht contra legem möglich. Dabei ist allerdings – wie auch bereits bei der Auslegung – die Wortlautgrenze nicht gleichzusetzen mit dem Ergebnis der grammatikalischen Auslegung; nur der umfassend ausgelegte Wortlaut, eingebettet in die übrigen Auslegungscanones, ist äußerste Grenze von Auslegung und Rechtsfortbildung. Das Urteil des BAG in der Rechtssache Schultz-Hoff ist in der Literatur bislang sogar noch deutlicher kritisiert worden als die Quelle-Entscheidung.86 Thüsing etwa spricht anschaulich davon, dass „das BAG den BGH in seinem eigenen methodischen Windschatten überholt“ habe.87 Das BAG habe Rechtsbeugung und nicht Rechtsfortbildung betrieben. Kritisieren lässt sich an der BAG-Entscheidung, dass es den Erfurter Richtern im Gegensatz zum BGH nicht gelungen sei, einen gesetzgeberischen Willen zu einem richtlinienkonformen Handeln überzeugend herauszuarbeiten. Es ist jedoch der gesetzgeberische Wille, auf dessen Fundament das Gebäude der Rechtsfortbildung ruht. Während der BGH mithilfe der Materialien darlegen konnte, dass der Gesetzgeber mit dem neuen Schuldrecht eine richtlinienkonforme Regelung schaffen wollte, sodass sich die fraglichen Vorschriften im Nachhinein als lückenhaft erwiesen88, begnügt sich das BAG mit einem Hinweis auf den „regelmäßig anzunehmenden Willen des nationalen Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien“89 und mit der Feststellung, dass aus der Gesetzesge___________ 84

Kritisch hierzu auch Lorenz, LMK 2009, 273611; Höpfner, EuZW 2009, 159, 160. BGH, NJW 2006, 3200, Rn. 12c-15. 86 Siehe etwa Bauer/Arnold, AP BUrlG § 7 Nr. 39; Bayreuther, NZA 2010, 262, 264; Thüsing, RdA 2010, 187, 189; a.A. Abele, EuZW 2009, 472; ders., RdA 2009, 312. 87 RdA 2010, 187, 189. 88 BGH, NJW 2009, 427. 89 BAG, NZA 2009, 538, 544, Rn. 59. 85

III. Arbeitsrechtliche Begriffsbildung und Europarecht

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schichte des BUrlG kein Anhaltspunkt für eine den Richtlinienzielen widersprechende Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers hervorgehe.90 Anders als § 439 BGB im Quelle-Fall ist jedoch § 7 BUrlG gerade nicht in Umsetzung einer Richtlinie geschaffen worden. Daher ist es doch sehr zweifelhaft, ob man hier dem Gesetzgeber sozusagen vorauseilenden Gehorsam unterstellen kann, indem man von einem Willen zur Schaffung einer richtlinienkonformen Regelung ausgeht, selbst wenn noch gar keine Richtlinie am Brüsseler Horizont ersichtlich war. Geht man dann noch gleichzeitig sehr großzügig mit der Wortlautgrenze um, so besteht die Gefahr, dass über das Rechtsinstitut der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung als neue Wunderwaffe mittelbar eine horizontale Direktwirkung der Richtlinie erzielt wird. Richtlinien wirken nach der überwiegenden Literatur91 und der ständigen Rechtsprechung des EuGH92 richtigerweise nur im vertikalen Verhältnis zwischen Staat und Bürger unmittelbar. Gegen eine unmittelbare horizontale Wirkung spricht schon der eindeutige Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV, wonach die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlässt. Würde man eine horizontale Drittwirkung einer Richtlinie anerkennen, wäre der Unterschied zu Verordnungen verwischt. Dies darf nun nicht über die Hintertür der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung umgangen werden.93 So würde die vom EuGH errichtete funktionelle Grenze für eine richtlinienkonforme Auslegung überschritten. 3. Ein Dialog verlangt Respekt vor Grenzen Der Dialog der europäischen Gerichte, in welchen die deutsche Tradition schon viel eingebracht hat, würde sicher dadurch verbessert, dass die deutschen Obergerichte die sachlich obsolete Grenze zwischen wörtlicher Auslegung und Rechtsfortbildung aufgeben würden. Erst dann kann die Grenzfunktion des Wortlauts (verstanden als umfassend ausgelegter Wortlaut) auch tatsächlich zum Tragen kommen. Es ist den Gerichten also zu empfehlen, sich auch methodisch auf die Höhe ihrer Praxis zu begeben. Denn in der funktionell-rechtlichen Grenze steckt nichts anderes als die ___________ 90

BAG, NZA 2009, 538, 545, Rn. 67. Siehe nur Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2. Aufl. 2003, § 33 Rn. 34 m.w.N. 92 Siehe nur EuGH, NJW 1986, 2178, Rn. 48 – Marshall; EuGH, Slg. 2004, I-8835, Rn. 108 - Pfeiffer; an dieser Linie der EuGH hat – bei richtigem Verständnis – auch die Entscheidung in der Rs. Unilever (EuGH, EuZW 2001, 153) nichts geändert, siehe hierzu zutreffend Gundel, EuZW 2001, 143. 93 Vgl. auch Thüsing, RdA 2010, 187, 189. 91

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

realistisch eingeschätzte Wortlautgrenze. Die vom EuGH abgelehnte contralegem-Entscheidung ist tatsächlich auch funktionell94 zu verstehen. Eine Auslegung darf nie dazu führen, dass die nationalen Richter sich an die Stelle ihres Gesetzgebers setzen. Aber ohne die Wortlautgrenze läuft dieses Kriterium leer. Deswegen kann es keine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Wortlautgrenze geben. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ist keine neue Wunderwaffe. Wird eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung von den Gerichten zu großzügig gehandhabt, besteht die Gefahr, dass der Grundsatz des Art. 288 Abs. 3 AEUV, wonach Richtlinien gerade keine unmittelbare horizontale Wirkung haben, ausgehöhlt wird. Im Fall Schultz-Hoff hätte sich als Alternative etwa eine Lösung über das primärrechtliche Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31 Abs. 2 EUGRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV) angeboten, welches in jedem Fall zur Unwirksamkeit entgegenstehender nationaler Normen führt. Ist auch eine solche Lösung versperrt, so ist es den Gerichten verwehrt, das nationale Recht zu beugen, um eine richtlinienkonforme Regelung herzustellen. Für solche Fälle greift der Staatshaftungsanspruch nach der FrancovichRechtsprechung95 des EuGH. Der Bürger ist also auch dann nicht schutzlos gestellt. Den Gerichten ist daher für die Zukunft zu raten, mit dem (vermeintlich) neuen Rechtsinstitut der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vorsichtig umzugehen. Eindeutige Regelungen lassen sich hierdurch ebenso wenig wie bei einer „klassischen“ Auslegung korrigieren. Beide Vorgehensweisen finden Ihre Grenze am umfassend ausgelegten Wortlaut.

IV. Aktuelle Herausforderungen für Rechtspraxis und Politik96 Der Arbeitnehmerbegriff ist auch heute noch von zentraler Bedeutung: Die Menschen in Deutschland arbeiten weiterhin ganz überwiegend als Beschäftigte i.S.d. SGB und damit regelmäßig als „klassische“ Arbeitnehmer.97 Abhängige Beschäftigung ist also alles andere als ein Auslaufmodell; sie ist jedoch ___________ 94

Vgl. BAG, NZA 2009, 538, 544, Rn. 65 EuGH, Slg. 1991, I-5357. 96 Dieser Abschnitt beruht teilweise auf dem Beitrag Pötters, NZA 2014, 704. 97 So gibt es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im April 2014 knapp 30 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und noch einmal etwa 7,4 Mio. geringfügig entlohnte Beschäftigte (Statistik abrufbar unter http://statistik.arbeitsagentur.de/ Navigation/Statistik/Statistik-nach-Themen/Beschaeftigung/Beschaeftigung-Nav.html, Stand: 1.6.2014). Der Beschäftigtenbegriff (§§ 3, 7 Abs. 1 SGB IV) deckt sich dabei weitestgehend mit der Arbeitnehmereigenschaft. 95

IV. Aktuelle Herausforderungen für Rechtspraxis und Politik

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vielgestaltiger. Judikative und Legislative haben darauf bereits reagiert. Dies zeigt ein kurzer Überblick zur aktuelleren Gesetzgebung und Rechtsprechung, insbesondere im Unionsrecht. 1. Erosion und Europäisierung des Arbeitnehmerbegriffs Die Funktion des Arbeitnehmerbegriffs als Abgrenzungsmerkmal für das Arbeitsrecht wird durch neuere Gesetze aufgeweicht: Während in klassischen arbeitsrechtlichen Bereichen wie dem Kündigungsschutz oder dem Betriebsverfassungsrecht der Arbeitnehmerbegriff von zentraler Bedeutung bleibt, gibt es zahlreiche neue Schutzgesetze, die sich von der herkömmlichen Begrifflichkeit lösen. So werden im Datenschutzrecht alle „Beschäftigten“ durch spezifische Regeln geschützt; hierunter fallen u.a. Beamte, Richter sowie „arbeitnehmerähnliche Personen“ (§ 3 Abs. 11 BDSG)98. Mit den Beamten und Richtern werden typologisch betrachtet sogar klassische Antitypen zum Arbeitnehmer vom Anwendungsbereich des Beschäftigtendatenschutzrechts erfasst. Dies gilt überwiegend auch für das Gendiagnostikgesetz.99 Beamte können sich nach der Rechtsprechung des EuGH ferner auf das (unionsrechtlich determinierte) Urlaubsrecht berufen.100 Selbst das Streikrecht, das bislang eine Prärogative der Arbeitnehmer war, könnte künftig aufgrund europarechtlicher Vorgaben auch Beamten zustehen.101 Das immer wichtiger werdende Diskriminierungsrecht erfasst schließlich nicht nur Beamte, sondern – in den Grenzen des § 6 Abs. 3 AGG102 – auch Selbständige und Organmitglieder.103

___________ 98

Zum Beschäftigtenbegriff siehe Forst, RdA 2014, 157, 163 f. Für Beamte gelten gem. § 22 GenDG die Vorschriften für Beschäftigte z.T. entsprechend. 100 Hierzu EuGH, NVwZ 2012, 688 – Neidel. 101 Vgl. hierzu EGMR, NZA 2010, 1425 – Demir und Baykara; EGMR v. 15.9.2009 – 30946/04, n.v. – Kaya und Seyhan; siehe aber jüngst BVerwG, NZA 2014, 616; dazu von Steinau-Steinrück/Sura, NZA 2014, 580; ausführlich Polakiewicz/Kessler, NVwZ 2012, 841. 102 Hiernach gilt der Diskriminierungsschutz für Selbständige und Organmitglieder nur „soweit es die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie den beruflichen Aufstieg betrifft.“ Diese Regelung entspricht Art. 3 Richtlinie 2000/78/EG. Es gibt jedoch auch Mitgliedstaaten, die im Hinblick auf den personellen Anwendungsbereich des Diskriminierungsschutzes hinausgehen. So erfasst das Diskriminierungsrecht im Vereinigten Königreich gem. Section 44(2)(b) Equality Act 2010 jedwede Form der Diskriminierung („any other benefit facility or service“) durch Partnerschaftsgesellschaften. So sind etwa auch Ruhestandsregelungen in Kanzleien am Verbot der Altersdiskriminierung zu messen, vgl. hierzu Seldon versus Clarkson Wright and Jakes (A Partnership) [2012] UKSC 16 (25 April 2012). 103 Siehe nur BGH, NJW 2012, 2346. 99

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

a) Bedeutungsverlust des Arbeitnehmerbegriffs? Diese Beispiele illustrieren, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung zunehmend davon auszugehen scheinen, dass es nicht mehr den pauschal schutzwürdigen Arbeitnehmer im Vergleich zu den Beamten, den Selbständigen, den leitend tätigen Angestellten etc. gibt. Wendet man den Blick in die Zukunft, so zeigt sich klar, dass sich dieser Trend der Verwischung der Konturen des personalen Anwendungsbereichs des Arbeitsrechts fortsetzen wird. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition enthält zahlreiche Vorhaben, die für das Arbeitsrecht allgemein und auch für den Arbeitnehmerbegriff von Bedeutung sein werden.104 Die Koalition hat sich zunächst vorgenommen, den grassierenden Missbrauch von Werkverträgen einzudämmen. Zur Bekämpfung von Scheinwerkvertragskonstruktionen will man „zur Erleichterung der Prüftätigkeit von Behörden […] die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich [niederlegen].“105

Dies geht einher mit einer noch weitergehenden Einschränkung der Arbeitnehmerüberlassung, insbesondere durch eine Einschränkung der Überlassungshöchstdauer auf maximal 18 Monate.106 Außerdem soll der aktuelle Rechtsprechungswandel des BAG, wonach Leiharbeitnehmer bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten grundsätzlich zu berücksichtigen sind, festgeschrieben werden.107 Bei diesen Maßnahmen darf man im Hinblick auf eine Weiterentwicklung des Arbeitnehmerbegriffs besonders darauf gespannt sein, wie die typologische Begriffsbildung des BAG gesetzlich umgesetzt werden soll. Vorgeschlagen wurde bislang seitens der SPD die Festlegung eines Kriterienkatalogs.108 Diese Regelungstechnik würde die typologische Betrachtung der Rechtsprechung jedoch nur unvollständig abbilden, denn eine solche Vorschrift würde lediglich einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl aller relevanten Aspekte abdecken. Dadurch könnten Auslegungsprobleme hinsichtlich der Gewichtung der Kriterien entstehen. Eine solche Regelung könnte etwa nahelegen, dass die gesetzlich festgeschriebenen Merkmale wichtiger sind als nicht erfasste. Sehr fragwürdig ist an diesem Entwurf vor allem, dass eine simple ___________ 104

Deutschlands Zukunft gestalten – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, dort insbesondere S. 48 ff., abrufbar unter http://www.cdu.de/koalitionsvertrag (Stand: 1.6.2014); erste Bewertungen aus arbeitsrechtlicher Sicht: von SteinauSteinrück, ZRP 2014, 50; Zürn/Maron, BB 2014, 629; zur verdeckten Arbeitnehmerüberlassung Köhler, GWR 2014, 28. 105 Koalitionsvertrag, a.a.O., S. 49. 106 Ebd., S. 49 f. 107 Ebd., S. 50. 108 BT-Drucks. 17/12378 (noch während der schwarz-gelben Regierungszeit).

IV. Aktuelle Herausforderungen für Rechtspraxis und Politik

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Daumenregel („drei aus sieben“) für das Vorliegen von Scheinselbständigkeit oder illegaler Arbeitnehmerüberlassung vorgeschlagen wird. Dies ist zunächst deshalb problematisch, weil dadurch für jeden Fall eine identische Gewichtigkeit der unterschiedlichen Kriterien suggeriert wird. Außerdem ist es nicht sachgerecht, in einem simplen Plus/Minus-Schema danach zu unterscheiden, ob ein Merkmal erfüllt oder nicht erfüllt ist. Schreiben die Arbeitnehmer des Werkunternehmers gelegentlich mit Bleistiften des Bestellers, ist dies etwas anderes als die Nutzung der gesamten betrieblichen Infrastruktur – in beiden Fällen wird aber Material des Einsatzbetriebes verwendet. Jeder Versuch, das case law zu kodifizieren, birgt zudem das Risiko, dass die Rechtsprechung, die bislang flexibel auf neue Probleme reagieren konnte, versteinert würde. Veränderungen in der Arbeitswelt können dazu führen, dass Kriterien an Gewicht verlieren oder gewinnen. So war die örtliche Gebundenheit an eine Betriebsstätte früher eine typische Arbeitnehmereigenschaft, die heute aufgrund der technischen Möglichkeiten („home office“) weniger Bedeutung haben dürfte. Weitere Vorhaben der Großen Koalition zeigen, dass der Arbeitnehmerbegriff bei der Regulierung der Arbeitswelt keine Rolle mehr spielt. Beim Mindestlohn dürfte noch auf den Arbeitnehmer abgestellt werden, bei den beabsichtigten Maßnahmen gegen Geschlechtsdiskriminierungen hingegen ist auch die Einführung einer Frauenquote für Führungspositionen (insbesondere Aufsichtsräte) vorgesehen.109 Im Datenschutzrecht folgt man dem bisherigen Trend und strebt eine Regelung für alle Beschäftigten (also auch Beamte, Auszubildende etc.) an110, Gleiches gilt für geplante Regelungen im Arbeitsschutzrecht.111 b) Fortschreitende Europäisierung Die genannten Beispiele belegen außerdem einen weiteren Trend: Fast all diese gesetzlichen Neuerungen und Änderungen in der Rechtsprechung wurden durch das Europarecht angestoßen. Der Arbeitnehmerbegriff bzw. der ihn teilweise ersetzende Beschäftigtenbegriff werden also auch europäischer. Der EUGesetzgeber ist weniger der klassischen Begrifflichkeit des Arbeitnehmers verhaftet, auch der herkömmliche Ansatz spezieller Schutzregime für leitende Angestellte und Organmitglieder oder Beamte wird im Unionsrecht nicht mit gleicher Stringenz durchgehalten. Wie oben bereits dargelegt wurde [Abschnitt A.III.1.a)], dürfte künftig eine weitere Ausdehnung „arbeitsrechtlicher“ Vorschriften auf den gesamten öffentlichen Dienst erfolgen. ___________ 109

Koalitionsvertrag, a.a.O., S. 72. Ebd., S. 50. 111 Ebd. 110

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2. Die Agenda-Politik und ihre Folgen: Neue Abgrenzungsprobleme im Fokus des Arbeitsrechts Auf nationaler Ebene wurde das Arbeits- und Sozialrecht in den letzten Jahren vor allem durch die Agenda 2010 verändert. Atypische Beschäftigungsformen sind durch die Reformen der rot-grünen Regierung deutlich attraktiver geworden.112 Starke Zuwächse konnten dabei vor allem bei der Arbeitnehmerüberlassung verzeichnet werden.113 Gesetzgebung und Rechtsprechung haben jedoch zwischenzeitlich an vielen Stellen die Agenda-Reformen wieder korrigiert und Schlupflöcher aus dem Arbeitsrecht gestopft. Dies führt heute zu neuen Abgrenzungsproblemen hinsichtlich des personalen Schutzbereichs des Arbeitsrechts: Während früher die Scheinselbständigkeit im Zwei-PersonenVerhältnis das klassische Mittel zur Umgehung des Arbeitsrechts darstellte, stehen heute vor allem Scheinwerkvertragskonstruktionen im Drei-PersonenVerhältnis im Fokus. a) Flucht in die Arbeitnehmerüberlassung Die illegale Flucht aus dem Arbeitsverhältnis mithilfe von Scheinselbständigkeit (vgl. oben, Abschnitt A.II.) wurde durch die Reformen der sog. Agenda 2010 teilweise obsolet, denn mit dem Ausbau von befristeter Arbeit und Zeitarbeit wurden legale Alternativen geschaffen. Bei der Leiharbeit ist das Entleiherunternehmen nicht Arbeitgeber, denn ein Arbeitsvertrag besteht allein zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer. Das Weisungsrecht aus diesem Arbeitsvertrag wird an den Entleiher delegiert, das heißt, der Entleiher kann dem Leiharbeitnehmer wie jedem anderen Arbeitnehmer Weisungen erteilen. Während bei einem normalen Arbeitsvertrag nur zwei Personen involviert sind und das Weisungsrecht direkt aus der vertraglichen Beziehung resultiert, liegt bei der Arbeitnehmerüberlassung somit ein Drei-Personen-Verhältnis vor. Aus dieser Konstruktion folgt, dass der Entleiher nicht an arbeitsrechtliche Schutzvorschriften wie insbesondere das KSchG gebunden ist. Er kann den Überlassungsvertrag wie jedes andere Dauerschuldver___________ 112 Laut Statistischem Bundesamt standen 1991 noch 79 % der Erwerbstätigen in einem Normalarbeitsverhältnis, 2012 waren es nur noch 67 %. Der Anteil atypischer Beschäftigungsformen stieg im gleichen Zeitraum von 13 % auf 22 % (siehe Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2013, Kap. 13.0, S. 339). 113 So stieg die Zahl der Leiharbeitnehmer in Deutschland von unter 300.000 im Jahr 2003 auf über 800.000 im Jahr 2013; siehe hierzu Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung: Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Zeitarbeit – Aktuelle Entwicklungen, Nürnberg Februar 2014, S. 6, abrufbar unter http://statistik.arbeitsagentur. de/cae/servlet/contentblob/244170/publicationFile/119019/Arbeitsmarkt-DeutschlandZeitarbeit-Aktuelle-Entwicklung-1HJ2010.pdf (Stand: 1.6.2014).

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hältnis ohne Vorliegen eines Grundes ordentlich kündigen. Der Leiharbeiter ist dadurch nicht schutzlos gestellt, denn er kann sich gegenüber dem Verleiher auf den Schutz des KSchG berufen. Neben dieser – vom Gesetzgeber zur Flexibilisierung des Arbeitsrechts auch intendierten – „Umgehung“ des Kündigungsschutzes wurde die Leiharbeit jedoch auch missbraucht, um die Tarifbindung zu umgehen und Lohndumping zu ermöglichen. Zwar gilt gem. § 9 Nr. 2 AÜG und § 10 Abs. 4 AÜG der equalpay-Grundsatz, dieser ist jedoch tarifdispositiv. Besonders augenscheinlich wurde die Leiharbeit in Fällen der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung missbraucht. So machte etwa die mittlerweile insolvente Supermarktkette Schlecker Schlagzeilen, weil sie Arbeitnehmer entließ, um diese dann bei einer konzerninternen Personalführungsgesellschaft zu schlechteren Bedingungen erneut zu beschäftigen und dann an andere Unternehmen des Konzerns zu überlassen (sog. Drehtür-Konstruktion). Zur Korrektur dieser unbilligen Folgen der Reformpolitik hat der Gesetzgeber sukzessive zahlreiche Schutzlücken geschlossen. So wurde die DrehtürMethode im Jahr 2011 durch ein Änderungsgesetz zum AÜG114 reguliert (vgl. nun § 9 Nr. 2, 4. HS AÜG). Eine weitere wichtige gesetzgeberische Initiative zur Vermeidung von Lohndumping in der Leiharbeitsbranche war die Schaffung des neuen § 3a AÜG. Diese Norm ist der bereits länger existierenden Vorschrift des § 7 AEntG nachempfunden115 und ermöglicht die Schaffung von Mindestlöhnen, indem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Vorschlag der Sozialpartner tarifliche Mindeststundenentgelte als allgemeine Lohnuntergrenze in einer Rechtsverordnung verbindlich festsetzt.116 Von dieser Möglichkeit wurde bereits Gebrauch gemacht, sodass aktuell117 für die etwa 900.000 Beschäftigten in der Zeitarbeitsbranche ein Mindestlohn von 8,19 € (bzw. 7,50 € in den neuen Ländern) gilt.118 Zeitgleich wurde schließlich der neue § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG eingefügt. Dieser begrenzt die Arbeitnehmerüberlassung auf einen „vorübergehenden“ Zeitraum.119 Neben diesem gesetzgeberischen Nachjustieren hat auch die Rechtsprechung des BAG wesentlich dazu beigetragen, negative Auswüchse in der Zeitarbeits-

___________ 114

BT-Drucksache 17/4804. So die Gesetzesbegründung: BT-Drucks. 17/5328, S. 14. 116 Vgl. ausführlich zu den unterschiedlichen Instrumenten zur Schaffung von Mindestlöhnen per Rechtsverordnung Stiebert/Pötters, RdA 2013, 101. 117 Stand: Juni 2014. 118 Vgl. die Mitteilung der Bundesregierung vom 20.12.2011, abrufbar unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2011/12/2011-12-20-zeitarbeitdaFK decker-mindestlohn-kabinett.html. 119 Hierzu Thüsing/Stiebert, DB 2012, 632; BAG, NZA 2013, 1296. 115

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branche einzudämmen. So hat der CGZP-Beschluss des BAG120 der Aushöhlung des equal-pay-Grundsatzes durch Dumpingtarifverträge einen Riegel vorgeschoben. Eine Umgehung des Kündigungsschutzrechts, die über die mit der Leiharbeit zwingend einhergehenden Folgen hinausgeht, wird durch ein aktuelles Urteil121 vermieden: Danach zählen Leiharbeitnehmer bei Berechnung der für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzes maßgeblichen Schwelle des § 23 KSchG auch im Betrieb des Entleihers mit. Der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern steht nach der – aus teleologischer Sicht überzeugend begründeten – Entscheidung des BAG nicht entgegen, dass sie kein Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber begründet haben. Die Herausnahme der Kleinbetriebe aus dem Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes solle der dort häufig engen persönlichen Zusammenarbeit, ihrer zumeist geringen Finanzausstattung und dem Umstand Rechnung tragen, dass der Verwaltungsaufwand, den ein Kündigungsschutzprozess mit sich bringt, die Inhaber kleinerer Betriebe typischerweise stärker belaste. Dies rechtfertige aber keine Unterscheidung danach, ob die den Betrieb kennzeichnende regelmäßige Personalstärke auf dem Einsatz eigener oder dem entliehener Arbeitnehmer beruhe. Zu dieser neuen Rechtsprechungslinie passt eine weitere aktuelle Entscheidung, nach der auch im Betriebsverfassungsrecht die Leiharbeitnehmer als Arbeitnehmer mitzählen.122 b) Flucht aus der Arbeitnehmerüberlassung All diese Nachbesserungen bei der Leiharbeit haben dazu geführt, dass diese für Lohndumping und andere Fälle des Unterschreitens des arbeitsrechtlichen Schutzniveaus deutlich weniger attraktiv geworden ist. In der arbeitsrechtlichen Literatur123 und in der Politik wird heute vor allem über Fluchtversuche aus der Leiharbeit, insb. durch Scheinwerkvertragskonstruktionen diskutiert. Hier liegt in Wirklichkeit eine Arbeitnehmerüberlassung vor, die bei einer fehlenden Erlaubnis gem. § 1 Abs. 1 S. 1 AÜG illegal ist.124 ___________ 120 BAG NZA 2011, 289; zu den weitreichenden Konsequenzen des CGZPBeschlusses siehe Schlegel, NZA 2011, 380; Neef, NZA 2011, 615; Zeppenfeld/Faust, NJW 2011, 1643. 121 BAG, NZA 2013, 726. 122 BAG, NZA 2012, 221: Bei der Ermittlung der maßgeblichen Unternehmensgröße in § 111 S. 1 BetrVG sind Leiharbeitnehmer, die länger als drei Monate im Unternehmen eingesetzt sind, mitzuzählen. Früher galt: „nur wählen (§ 7 S. 2 BetrVG), nicht zählen“. 123 Etwa Greiner, NZA 2013, 697; Francken, NZA 2013, 985; Schüren, NZA 2013, 176; Lembke, NZA 2013, 1312. 124 Ausführlich Reiserer/Christ in: Moll, Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2012, § 66 Rn. 98 ff.

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Dabei besteht allerdings keine Schutzlücke, sondern vor allem ein Vollzugsproblem. Auch im Drei-Personen-Verhältnis, wenn also der vermeintliche Werkunternehmer seinerseits Erfüllungsgehilfen einsetzt, lässt sich die Umgehungskonstruktion mithilfe des bewährten dogmatischen Instrumentariums aufdecken. Die üblichen Abgrenzungskriterien, die von der Rechtsprechung über die Jahre entwickelt wurden, können auch im Falle von Scheinwerkverträgen – mit leichten Akzentverschiebungen – herangezogen werden.125 Neben dem relativ neuen Phänomen der Scheinwerkverträge, die keine rechtlich zulässige Alternative zur Leiharbeit bieten, können Frachtverträge im Falle von Logistikdienstleistungen eine Arbeitnehmerüberlassung auf legale Weise ersetzen. Durch einen Frachtvertrag wird der Frachtführer verpflichtet, das Frachtgut zum Bestimmungsort zu befördern und dort an den Empfänger abzuliefern (§ 407 Abs. 1 HGB). Der Frachtführer unterliegt dabei in mehrfacher Hinsicht Weisungen. Er ist insbesondere in zeitlicher und örtlicher Hinsicht weisungsgebunden (vgl. §§ 407, 418, 423 HGB). Er unterliegt zunächst den Weisungen des Absenders (§ 418 Abs. 1 HGB) und mit Ablieferung des Frachtguts den Weisungen des Empfängers (§ 418 Abs. 2 HGB). Wendet man die klassische Arbeitnehmerdefinition an, dann müsste ein Frachtführer also eigentlich Arbeitnehmer sein. Der Gesetzgeber hat den Frachtführer aber als selbständigen Gewerbetreibenden und damit nicht als Arbeitnehmer eingeordnet, obwohl der Frachtführer schon von Gesetzes wegen weitreichenden Weisungsrechten unterliegt.126 Es ist also zulässig, Logistikdienstleistungen an ein Frachtführerunternehmen auszugliedern und den Erfüllungsgehilfen des Frachtführers Weisungen zu erteilen, ohne dass diese zwangsläufig (Leih-) Arbeitnehmer des Vertragspartners werden. Aber auch hier bestehen Grenzen: Wenn die Weisungsbefugnisse über das gesetzliche Leitbild beim Frachtvertrag hinausgehen, kann (illegale) Arbeitnehmerüberlassung vorliegen.127 Nach dem BAG darf der Frachtführer zeitlich nicht so stark eingeschränkt werden, dass er keine Möglichkeit hat, auf Rechnung für andere Unternehmen zu arbeiten.128 Keine zwingenden Indizien für das Vorliegen einer Arbeitnehmereigenschaft sind hingegen ein Firmenlogo des Absenders oder Empfängers auf dem Fahrzeug des Frachtführers129, vom ___________ 125 BAG, NZA-RR 2012, 455; maßgeblich auf die Risiko- und Verantwortungsstruktur abstellend Brors/Schüren, Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit verhindern. Vorschläge für eine gesetzliche Regelung zur Eindämmung von Missbräuchen beim Fremdpersonaleinsatz und zur Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie, 2014; dies., NZA 2014, 569, 571 f.; vgl. auch Greiner, NZA 2013, 697. 126 BAGE 90, 36, Rn. 124 ff. 127 Ebd.; BSG, SGb 2009, 283; vgl. auch BGH, NJW 1999, 648; instruktiv auch LAG Rheinland-Pfalz v. 05.03.2010 - 10 Ta 10/10, Rn. 17 ff. 128 BAGE 87, 129; BAGE 90, 36 = NZA 1999, 374. 129 BAGE 87, 129.

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Absender oder Empfänger gestellte Arbeitskleidung mit Firmenlogo130 oder Vertragsstrafen131. Im Ergebnis grenzt die Rechtsprechung also auch den Frachtführer typologisch vom Arbeitnehmer ab, sie muss dabei aber das ein oder andere Kriterium nuancieren, da eben auch beim Frachtvertrag ein Weisungsrecht vorliegt und dieses mithin nicht als das entscheidende Abgrenzungskriterium angesehen werden kann. 3. Arbeitsrecht und Bewältigung neuer Techniken Mit der Verfügbarkeit neuer Techniken ändern sich auch die Bedingungen für den Schutz von Arbeitnehmern. Die arbeitsrechtliche Begriffsbildung wird durch dynamische Änderungen im geregelten Sachbereich erschwert. Die Fabrikhalle der 50er Jahre findet man heute nur noch in Schwellenländern. In den entwickelten Ländern findet man stattdessen eine hochtechnisierte Arbeitsumgebung. Die daraus resultierenden Probleme bedürfen neuer Antworten. Es verändert sich hier die Tragweite von Schutzrechten und sogar Grundrechten dadurch, dass in ihrem Schutzbereich neue Techniken auftauchen. Juristen sind von Berufs wegen Experten in Sachen autoritativ sanktionsbewehrter Ordnungen und für Entscheidungen über deren Einhaltung. Experten in Sachen Wirklichkeit sind sie indes nicht. Da sie dennoch über die tatsächlichen Verhältnisse zu entscheiden haben, sind sie dafür auf die entsprechenden Experten – bzw. in den Worten des Prozessrechts: die Sachverständigen – angewiesen. Das Referenzproblem wird damit zur Schnittstelle zu den thematisch angesprochenen Wissenschaften, mit denen sich der Jurist für seine Festlegung des Bezugs zu verlinken hat. Zwar hat er die so zu gewinnenden Erkenntnisse dem Zweck seiner Arbeit zu unterwerfen und sie für sich zu gewichten. Ihm kommt aber dabei gerade nicht die Rolle eines Richters über die Wahrheiten der Welt zu. Vielmehr „erfordert Normbereichsanalyse […] eine Zusammenarbeit, welche die nichtjuristischen Beteiligten nicht an ihnen fremde normative Fragestellungen ketten, sondern vielmehr die methodische und politische Verantwortung für das Ganze der rechtlichen Entscheidungsvorgänge bei den normkonkretisierenden Juristen belassen soll.“132

In der Verarbeitung der Leistung anderer Systeme für das Recht entsprechend seiner Eigenlogik steckt das, was Luhmann strukturelle Kopplung nennt.133 ___________ 130

BAGE 90, 36 = NZA 1999, 374, Rn. 129. BSG, SGb 2009, 283, Rn. 22. Müller/Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl., Berlin 2013, Rn. 482. 133 Vgl. zu diesem Begriff Luhmann, Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1993, S. 266 f., 286 f. Vgl. als Beispiele für strukturelle Kopplung Luhmann, Die Ge131 132

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Zusammengenommen ergibt sich für das Verhältnis des Rechts zur Welt ein komplexes Wechselspiel. Weder besagt der Normtext allein schon alles, was in dem zu entscheidenden Sachverhalt juristisch von Belang ist. Noch hat es der Jurist mit den schlichten Gegebenheiten des Falls zu tun. Vielmehr sind Welt und Recht durch ein komplexes Band miteinander verbunden, das der Jurist im Einzelfall immer wieder erst zu knüpfen hat. Für die juristische Entscheidungstätigkeit sind „Recht“ und „Wirklichkeit“ keine selbständig gegebenen Größen, die in einem lediglich äußeren Verhältnis zueinander stehen und erst nachträglich zueinander in Beziehung zu setzen wären. „Vielmehr bilden die Anordnung, das Normprogramm, und das dadurch Geordnete wirksame Momente der Normkonkretisierung von nur relativer Selbständigkeit.“134 „Sache“ und „Norm“ der Entscheidung sind in Hinblick auf das Ergebnis der Arbeit daran gleichermaßen als Konstituens rechtlicher Normativität zu betrachten. Auf den Punkt gebracht lässt sich Recht daher als ein „sachbestimmtes Ordnungsmodell“ charakterisieren, „als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung für die Rechtsgemeinschaft“.135 Wie Veränderungen in der Wirklichkeit durch die Arbeitsgerichte verarbeitet werden, lässt sich anhand der Rechtsprechung zur Videoüberwachung illustrieren: Beginnend mit einem Leiturteil aus dem Jahr 2003 entwickelte das BAG in einer Kette von Entscheidungen Leitlinien für die Zulässigkeit von Videoüberwachung am Arbeitsplatz.136 Danach ist die verdeckte Überwachung der Arbeitnehmer nur zur Aufklärung des konkreten Verdachts einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers, wenn weniger einschneidende Mittel ausgeschöpft sind und die Videoüberwachung das praktisch einzig verbliebene Mittel ist. Dogmatische Grundlage für diese richterrechtliche Entwicklung ist die Drittwirkung der Grundrechte. Das BAG bestimmt die Zulässigkeit einer Überwachungsmaßnahme durch eine einzelfallspezifische Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) und den Interessen des Arbeitgebers (insbesondere Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG).137 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze den Arbeitnehmer vor einer lückenlosen technischen Überwachung am Arbeitsplatz, ___________ sellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1998, S. 779. Vgl. auch Becker/ReinhardtBecker, Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2001, S. 65-67. 134 Passavant, Norm/Normativismus, in: Achternberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Darmstadt/Neuwied 1986. 135 Ebd. 136 Grundlegend BAGE 105, 356 = NZA 2003, 1193, 1194 f.; ferner BAGE 111, 173 = NZA 2004, 1278; BAG, AP Nr. 42 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung; BAGE 127, 276 = NZA 2008, 1187; BAG, NZA 2011, 571, 573. 137 Ausführlich Pötters, Grundrechte und Beschäftigtendatenschutz, 2013, S. 141 ff.

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unabhängig von der eingesetzten Technik. Das BAG macht deutlich, dass durch die neuen technischen Mittel intensivere Eingriffe als früher drohen. Durch eine Videokamera werde nicht lediglich eine Aufsichtsperson ersetzt. Vielmehr werde der Arbeitnehmer einem ständigen Überwachungsdruck ausgesetzt, dem er sich während seiner Tätigkeit nicht entziehen könne.138 Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften“ im Jahr 2009 kodifiziert. Zentrale Norm ist nun der neu geschaffene § 32 BDSG. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Norm „eine allgemeine Regelung zum Schutz personenbezogener Daten von Beschäftigten [schaffen], die die von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze des Datenschutzes im Beschäftigungsverhältnis nicht ändern, sondern lediglich zusammenfassen.“139

Dies ist ihm zwar nur bedingt gelungen, das BAG nimmt aber die Gesetzesbegründung beim Wort und setzt seine bisherige Rechtsprechung ohne Brüche fort.140 Die zunehmende Videoüberwachung mag Anlass für die richterrechtlich entwickelten Leitlinien zum Beschäftigtendatenschutz sein, der Anwendungsbereich des § 32 BDSG geht aber weit hierüber hinaus und erfasst jede Verarbeitung personenbezogener Daten eines Beschäftigten (§ 32 Abs. 2 BDSG, § 3 Abs. 9 BDSG). Zudem sind die Generalsklauseln des BDSG (sowie der unionsrechtlichen Vorgaben) technikneutral formuliert, der Gesetzgeber lässt also Spielräume für flexible Lösungen im Einzelfall. Das Datenschutzrecht ist damit für künftige technische Entwicklungen offen. Entscheidend ist die Abwägung der kollidierenden Grundrechte und Interessen. Die jeweils eingesetzte Technik kann dabei eine Rolle spielen, insbesondere bei der Bestimmung der Eingriffsintensität einer Überwachungsmaßnahme, zu Recht macht sich der Gesetzgeber aber nicht vom aktuellen technischen Stand abhängig, sondern überantwortet die Bewältigung neuer technischer Überwachungsmethoden der Rechtsprechung. Die Technikneutralität des BDSG wird durch einen flexiblen Grundrechtsschutz flankiert: Die Schutzbereiche der für den Persönlichkeitsschutz maßgebenden Grundrechte werden von den Gerichten seit jeher „dynamisch“ interpretiert, mit anderen Worten: der grundrechtliche Schutz ist offen für technische Entwick-

___________ 138

BAGE 105, 356 = NZA 2003, 1193, 1194. BT-Drucks. 16/13657, S. 35. 140 Vgl. aktuell BAG, NZA 2014, 243; BAG, NZA 2014, 143. 139

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lungen.141 Die Auslegung des einfachen Rechts ist entsprechend im Lichte der Grundrechte anzupassen. Nicht nur der sachliche Anwendungsbereich des Datenschutzrechts ist sehr weit, auch in personaler Hinsicht geht das BDSG über die BAGRechtsprechung hinaus, indem der Gesetzgeber die vom BAG richterrechtlich geschaffenen Vorgaben auch auf Nicht-Arbeitnehmer erstreckt hat. Das BDSG knüpft an den Begriff des „Beschäftigten“ an. Wer Beschäftigter ist, wird durch § 3 Abs. 9 BDSG legaldefiniert. Danach sind nicht nur Arbeitnehmer (Nr. 1) vom Schutzbereich des Beschäftigtendatenschutzes erfasst, sondern etwa auch arbeitnehmerähnliche Personen (Nr. 6) und Beamte (Nr. 8); nach Nr. 7 sind auch Bewerber und ehemalige Beschäftigte geschützt. Mit dem Beamten wird damit sogar ein klassischer Antityp zum Arbeitnehmer vom Anwendungsbereich eines „arbeitsrechtlichen“ Schutzgesetzes erfasst. Die Konturen zwischen Arbeitsrecht, Zivilrecht und öffentlichem Recht verschwimmen hier. Das neue Datenschutzrecht verdeutlicht also: Aktuelle Herausforderungen der Gesetzgebung bei der Regulierung der Arbeitswelt sind andere als die zu Beginn des Arbeitsrechts und sie betreffen Arbeitnehmer ebenso wie andere „Anbieter“ von Arbeit. Ob dies der Beginn eines länger währenden gesetzgeberischen Trends ist, bleibt abzuwarten. 4. Neue Machtverhältnisse in der Arbeitswelt? Ist der Arbeitnehmerbegriff also ein Auslaufmodell und werden die Grenzlinien des Arbeitsrechts immer mehr verschwimmen? Zur Beantwortung dieser Frage geht der Blick zurück an den Anfang: Innerste Rechtfertigung des Arbeitsrechts als einseitig zwingendes Regelwerk ist seit jeher die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers aufgrund eines Machtgefälles zum Arbeitgeber (vgl. Abschnitt A.I.). Es ist also zu fragen, ob dieses Axiom des Arbeitsrechts noch seine Berechtigung hat. Zunächst haben viele Arbeitnehmer an Verhandlungsmacht hinzugewonnen. Beliebte Beispiele sind der Profifußballer oder der Associate in der Großkanzlei, aber auch jeder Arbeitnehmer, der als Wissensträger eine wichtige Rolle für den Erfolg eines Unternehmens spielt, besitzt eine starke Marktmacht. Zwar herrscht am Arbeitsmarkt insgesamt weiterhin ein Überangebot an Arbeitskraft, ___________ 141 Siehe etwa BVerfGE 124, 43, 54; ferner BVerfGE 115, 166, 182: „Das Grundrecht ist entwicklungsoffen und umfasst nicht nur die bei Entstehung des Gesetzes bekannten Arten der Nachrichtenübertragung, sondern auch neuartige Übertragungstechniken. [...] Auf die konkrete Übermittlungsart (Kabel oder Funk, analoge oder digitale Vermittlung) und Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) kommt es nicht an.“ Vgl. instruktiv auch Durner, in: Maunz/Dürig, Art. 10 GG, 63. EGL 2011, Rn. 47.

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jedoch gibt es in Wahrheit nicht den Arbeitsmarkt, sondern eine Vielzahl von Märkten für bestimmte Tätigkeiten und in sehr vielen Märkten für qualifizierte Arbeit herrscht ein Nachfrageüberschuss (Stichwort: Fachkräftemangel). Anders als in den Anfangszeiten des Arbeitsrechts können sich heute daher viele qualifizierte Arbeitnehmer ihren Arbeitgeber aussuchen. Den einen typischen Arbeitnehmer gibt es also (schon lange) nicht mehr.142 Gibt es gleichwohl noch ein gemeinsames Kennzeichen aller Arbeitnehmer? Dies ist weiterhin vom Grundgedanken her eine beherrschende Stellung des Arbeitgebers, die zur Folge hat, dass sich eine personelle Abhängigkeit des Arbeitnehmers zeigt. Diese darf heute aber nicht zu eng verstanden werden. Fachkräfte haben nicht nur eine starke Verhandlungsposition bei der Stellensuche, auch in der Durchführung des Arbeitsvertrages sind bei hochqualifizierten Arbeitnehmern klassische Kennzeichen wie die Weisungsgebundenheit deutlich schwächer als im „Normalfall“ ausgeprägt. Der Arbeitgeber kann dem Arbeitnehmer zwar Weisungen erteilen, welche Tätigkeit zu erfüllen ist. Bereits bei der Frage wie diese zu erfüllen ist, zeigt sich aber, dass Arbeitnehmer oftmals ein deutlich größeres Sachwissen aufweisen, sodass diesbezügliche Weisungen nur sehr eingeschränkt möglich sind und nicht als notwendiges Abgrenzungskriterium gefordert werden dürfen.143 Gleiches gilt für die Frage, an welchem Ort und zu welcher Zeit die Tätigkeit zu erfüllen ist. Hier ist durch die Vernetzung in der Informationsgesellschaft die Tendenz deutlich, dass viele Tätigkeiten von überall durchgeführt werden können. Auch die Zeitverteilung obliegt heute oftmals dem Arbeitnehmer, ihm wird nur noch ein Ergebnis und eine Frist vorgegeben. Dennoch wäre es verfehlt, in diesen Fällen die Arbeitnehmereigenschaft grundsätzlich auszuschließen. Die typologische Vorgehensweise der Rechtsprechung ist hier geeignet, auf sozio-ökonomische Veränderungen in der Wirklichkeit zu reagieren und eventuell die unterschiedlichen Kriterien zur Bestimmung der persönlichen Abhängigkeit neu zu akzentuieren144 oder sogar auf bewährte Kriterien zu verzichten und neue anzuerkennen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass nicht nur viele Arbeitnehmer im Vergleich zum „klassischen“ einfachen Arbeiter an Verhandlungsmacht und Flexibilität gegenüber dem Arbeitgeber gewonnen haben, sondern dass es auch neue Formen von Macht in der heutigen Arbeitswelt gibt. Unter Macht versteht man gemeinhin, dass jemand die Freiheit eines anderen einschränken kann, wie ___________ 142

Vgl. instruktiv Forst, RdA 2014, 157. Vgl. BSG, SozR 2200 § 165 Nr. 45. So erkennt auch das BSG, dass beispielsweise bei „Diensten höherer Art“ die Weisungsgebundenheit als Kriterium im Rahmen der typologischen Einordnung der Tätigkeit in den Hintergrund tritt, während die Einbindung in eine fremde Arbeitsorganisation an Bedeutung für die Bestimmung der Beschäftigteneigenschaft gewinnt, siehe BSG, SozR 2200 § 165 Nr. 45; vgl. hierzu Baier, in: Krauskopf, 2014, § 7 SGB IV Rn. 10. 143 144

IV. Aktuelle Herausforderungen für Rechtspraxis und Politik

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es für die Direktionsmacht des Arbeitgebers der Fall ist. Nun schwinden aber – wie dargelegt – in modernen Arbeitsverhältnissen gerade die typischen Direktionsrechte, die sich aus der Einordnung in eine Hierarchie ergeben. Dies zeigt sich in der Rechtsprechung: Plakatanschläger,145 Versicherungsvermittler146, Mitarbeiter einer Rundfunkanstalt147, Volkshochschuldozenten148, Co-Piloten eines Verkehrsflugzeuges149, Herausgeber einer Buchreihe150 – all dies sind Tätigkeiten, bei denen das hierarchische Machtmodell, wonach von oben nach unten durchregiert wird, nicht oder nur bedingt passt. Das für ein Arbeitsverhältnis erforderliche Machtgefälle kann sich heute in subtilerer Form zeigen als in der frühen Industriegesellschaft. Macht ist ein Gegenbegriff zur Freiheit, darf aber nicht mit Zwang oder Gewalt verwechselt werden. Die Freiheit der Befolgung unterscheidet die Macht vom bloßen Zwang. Schon Luhmann hat Macht als ein Kommunikationsmedium begriffen, welches die Wahrscheinlichkeit für die Annahme der eigenen Entscheidung beim anderen steigert. „Die negative Sanktion ist nur eine bereitgehaltene Alternative – eine Alternative, die im Normalfall, auf den die Macht aufbaut, beide Seiten lieber vermeiden als aktualisieren möchten. Die Macht ergibt sich dann daraus, dass der Machthaber die Ausführung der negativen Sanktionen eher in Kauf nehmen könnte, als der Machtunterworfene.“151

Im Paradigmenwechsel von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft kann auf Sanktionsdrohungen verzichtet werden. „Denn ab einem bestimmten Produktivitätsniveau wirkt die Negativität des Verbots blockierend und verhindert eine weitere Steigerung. Die Positivität des Könnens ist viel effizienter als die Negativität des Sollens. […] Das Leistungssubjekt ist schneller und produktiver als das Gehorsamssubjekt. Das Können macht das Sollen jedoch nicht rückgängig, das Leistungssubjekt bleibt diszipliniert.“152

Auch in der Leistungsgesellschaft, in der Arbeitnehmer im Wesentlichen Zielvorgaben zu erfüllen haben, aber bei der Wahl der Mittel, des Orts und der verwendeten Zeit zur Erreichung der Ziele viel freier sind als früher, gibt es also immer noch ein Machtgefälle zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die persönliche Abhängigkeit äußert sich aber eben heute auf unterschiedlichste Weise. Die schablonenhaften und weitestgehend voneinander strikt getrennten Schutzregime für Arbeitnehmer, Beamte etc. passen nur noch bedingt auf die vielgestaltige Wirklichkeit. Es ist daher zu begrüßen, dass Rechtsprechung und ___________ 145

BAG, NJW 2008, 2872. ArbG Nürnberg, NZA 1997, 37. BAG, NZA 1994, 169. 148 BSG, SozR 2200 § 165 Nr. 45. 149 BAG, NZA 1994, 1132. 150 BAG, NZA 1991, 933. 151 Luhmann, Soziologische Aufklärung 4, 3. Aufl. 2005, S. 119. 152 Han, Müdigkeitsgesellschaft, 2012, S. 19. 146 147

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

Gesetzgebung an neuen Lösungen arbeiten, auch wenn es das Arbeitsrecht als ein klar konturiertes Rechtsgebiet dann vielleicht bald nicht mehr geben wird. V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung Diese Veränderungen in der Arbeitswelt wird auch das BAG bewältigen müssen. Die typologische Begriffsbildung beim Arbeitnehmerbegriff bietet dabei die Möglichkeit, durch neue Akzentuierungen auf Veränderungen zu reagieren. Auch aus methodischer Sicht soll hier die typologische Begriffsbildung trotz geläufiger Kritik in der Literatur153 verteidigt werden. Bei der begrifflichen Arbeit geht es um die Frage, ob die juristische Begriffsbildung noch rational sein kann, wenn sie über eine „natürliche“ Grundlage in der Sprache als wörtliche Bedeutung nicht mehr verfügen kann. Die Entwicklung des Arbeitnehmerbegriffs über Begriffsjurisprudenz, Typenlehre und deren logischsemantische Kritik zeigt deutlich, dass die Rationalität der Jurisprudenz durch den Wegfall des Scheinarguments wörtlicher Bedeutung nicht zerstört, sondern im Gegenteil gerade gestärkt wird. 1. Normative Unterbestimmtheit der Gesetzesbegriffe Die Typenlehre war zunächst eine Kritik an der Begriffstheorie des Gesetzespositivismus. Der juristische Begriff sollte im Positivismus durch eine Aufzählung von Merkmalen die Bedeutung eines Wortes bestimmen. Dann konnte man den Begriff mit der Wirklichkeit vergleichen und am Ende subsumieren. Man verlangte also von Gesetzen, dass sie ihre Begriffe definieren und dass diese Definition alle Fälle von Vornherein erfasst. Heute würde man angesichts der Entwicklung von Logik, Mathematik und Wissenschaftstheorie nicht mehr ernsthaft solche Wünsche entwickeln können. Ob damals diese einfache Vorstellung wirklich vertreten wurde, ist durchaus streitig. Als „Prügelknabe“154 dient der juristische Positivismus oder die Begriffsjurisprudenz. Diesen Theorien wird unterstellt, sie wollten mit Begriffen rechnen und damit alle juristischen Probleme lösen: „Die Endentscheidung ist das Resultat einer Rechnung, ___________ 153 Allgemein zur Kritik an der Methode typologischer Begriffsbildung Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken. Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 1978, passim.; Frassek, Karl Larenz (1903-1993) – Privatrechtler im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland, in: JuS 1998, 296, 298; vgl. aus spezifisch arbeitsrechtlicher Perspektive Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., München 2011, Rn. 947. 154 Vgl. zu diesem Begriff Bydlinski, Juristische Methode und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien 1991, S. 109; Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die ‚Begriffsjurisprudenz’, Frankfurt/Main 2004, S. 5; Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, Tübingen 2004, S. 102.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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bei welcher die Rechtsbegriffe die Faktoren sind.“155 Es handelt sich bei dieser Äußerung Windscheids allerdings nicht um eine Selbstbeschreibung, sondern um eine Pointierung.156 Aber das Risiko einer Pointe liegt darin, dass sie im Gedächtnis bleibt und anderes verdrängt. Jedenfalls steht heute, wenn auch historisch nicht zu Recht,157 die Begriffsjurisprudenz für die Überschätzung des Begrifflichen im Recht. a) Die Unbestimmtheit von Begriffen Die Überschätzung zeigt sich, sobald man einen vermeintlich eindeutigen Begriff zu bestimmen versucht. Sofort löst er sich in Unbestimmtheit auf. Man stößt bei der praktischen Handhabung von Rechtsbegriffen rasch auf Probleme, welche die Herrschaft über die Welt des Rechts etwa mit der Frage erschweren, wie dunkel es sein muss, damit man von Nachtzeit sprechen kann, oder wie viele Bäume vorhanden sein müssen, damit man von Rechts wegen einen Wald annehmen kann. Die sprachliche Bedeutung scheint also den juristischen Vorstellungen vom subsumtionsbereiten Rechtsbegriff gewisse Schwierigkeiten zu bereiten.158 Die juristische Lehre vom Begriff und seinen Unterarten versucht diese im praktischen Rechtsprechen zu klassifizieren und dadurch überschaubar zu machen159. Zu diesem Zweck wird der Regel-Ausnahme-Mechanismus in An___________ 155 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 9. Aufl., Frankfurt/Main 1906, S. 111; vgl. dazu auch von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1840, S. 29: „Darum eben hat ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit, wie sie sich sonst außer der Mathematik nicht findet und man kann ohne Übertreibung sagen, dass sie mit ihren Begriffen rechnen.“ Zur Deutung dieser Aussage vgl. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 374 f.; neuere Studien zur Begriffsjurisprudenz zeigen, dass das Bild des Prügelknaben nicht zutreffend ist: Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2008; Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, Erkundungen auf den Feldern der so genannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt/Main 1989. 156 Vgl. dazu Rückert, Methode und Zivilrecht bei Bernhard Windscheid (1817– 1892), in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts – Von Savigny bis Teubner, 2. Aufl., Baden-Baden 2012, S. 97 ff., 98 f., 117. 157 Vgl. dazu Rückert, Die Schlachtrufe im Methodenkampf – Ein historischer Überblick, in: ders./Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts – Von Savigny bis Teubner, 2. Aufl., Baden-Baden 2012, S. 501 ff., 502-510. 158 Vgl. dazu neben der Literatur zur Logik und Wissenschaftstheorie etwa Gruschke, Vagheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 60 ff. 159 Verschiedene Aspekte zur Einteilung der Rechtsbegriffe benennt Wank, Die juristische Begriffsbildung, München 1985, S. 6 ff. (z.B. Grundbegriffe versus konkrete Begriffe, Legalbegriffe versus dogmatische Begriffe usw.). Am wichtigsten ist aber der Aspekt, den Wank als den Grad bezeichnet, wonach die Inhalte feststehen (ebd., S. 7). Dabei wird zumeist der eindeutige Begriff vorausgesetzt, und es werden nur noch die

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

schlag gebracht. Als Regelfall gilt der in seiner Bedeutung klare und in seinem Umfang bestimmte Begriff, der ohne die Notwendigkeit einer eigenständigen Wertung durch den Richter für die Subsumtion bereitsteht. Die Art und Weise, mit der ein jeweils fraglicher Begriff von dieser Regel abweicht, bestimmt seine Einordnung in der juristischen Begriffslehre. Als eine solche Ausnahme ist zunächst der „unbestimmte Rechtsbegriff“160 zu nennen, der meist dadurch definiert wird, dass Zweifel über seine Anwendung bestehen. Der „normative Begriff“161 bedarf einer Wertung, bevor er im Einzelfall angewendet werden kann. Der „Ermessensbegriff“162 geht über Unbestimmtheit und Wertbezogenheit noch dadurch hinaus, dass er eine persönliche Einstellung des Rechtsanwenders ins Spiel bringt und gerade erst dadurch eine der Einzelfallgerechtigkeit entsprechende Anwendung ermöglicht. Im Vergleich zu diesen Ausnahmen wird noch einmal deutlich, was hier als Regelfall des sprachlichen Funktionierens von Recht vorausgesetzt wird: Das Recht ist in den Begriffen des Gesetzes eindeutig vorgegeben, ohne die Notwendigkeit von Wertungen kann es der Richter anwenden, wobei er die unpersönliche Einstellung eines Subsumtionsautomaten aufweist. An diesen „begriffsjuristischen“ Vorstellungen von der Rechtsanwendung als weitgehend mechanischer Deduktion aus einer vorausgesetzten Begriffspyramide hat die typologische Begriffsbildung eine grundlegende Kritik entwickelt. Sie nimmt dabei die von der Interessenjurisprudenz etablierte Unterscheidung von „Begriffskern“ und „Begriffshof“ auf. Dadurch wird die Unbestimmtheit zumindest als Teilmerkmal von potentiell jedem Rechtsbegriff anerkannt163. Obwohl diese Konsequenz noch nicht mit hinreichender Deutlichkeit in der juristischen Begriffslehre gezogen wird, ist damit aber offensichtlich gemacht, dass die von der popularisierten Begriffsjurisprudenz als Regelfall vorausgesetzte eindeutige Bestimmtheit gerade die Ausnahme zu der umgekehrten Regel darstellt. Nur bei Zahlbegriffen und Terminen besteht jedenfalls ohne besondere Anstrengung der Parteien kein Zweifel über die Anwendbarkeit der Begriffe164. Ansonsten ist jeder Begriff nur so lange bestimmt, bis einer der ___________ Ausnahmen untersucht. Vgl. hierzu als ein Beispiel aus einer beliebig zu verlängernden Liste: Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt/Main 1980, S. 243 ff., 285 ff. 160 Vgl. neben den schon angeführten Autoren die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl., Stuttgart u.a. 1977, Fn. 118b, 118c, 119, sowie Cattepoel, Rechtstheorie 1979, 231. 161 Vgl. die Nachweise bei Engisch, ebd., S. 259, Fn. 120. 162 Vgl. Engisch, ebd., S. 260 ff. 163 Vgl. hierzu die Nachweise zur Entstehung und juristischer Rezeption der Unterscheidung von Kern und Hof: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S. 36, Fn. 52; Kritische Diskussion bei Cattepoel, Der unbestimmte Rechtsbegriff als Problem der Rechtssprache, in: Rechtstheorie 1979, 231, 234 ff. 164 Vgl. aber für mögliche Zweifel auch bei Zahlbegriffen: Cattepoel, ebd., 237 ff.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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Prozessbeteiligten das erste zweifelnde Argument vorbringt. Die Konsequenz dieser Kritik läuft also darauf hinaus, das Regel-Ausnahme-Verhältnis so umzukehren, dass die zweifelsfreie Anwendung eines Begriffs als Ausnahme erscheint. b) Was dem Begriff fehlt Die Lehre vom Typus165 greift die von der Begriffsjurisprudenz vorausgesetzte Wertfreiheit der Rechtsbegriffe an. Die insbesondere von Larenz entwickelte Position wendet sich gegen die Auffassung der Rechtsanwendung als mechanische Subsumtion unter die artbildenden Merkmale klassifikatorischer Begriffe166. Die klassifikatorischen Begriffe, hier abstrakt allgemeine Gattungsbegriffe genannt, beziehen sich danach nur auf das äußere System der Rechtsordnung und können deren innere wertungsmäßige Einheit nicht sichtbar machen. Dazu bedarf es der Ergänzung durch andere Denkformen, wie das konkretisierungsbedürftige Prinzip und den funktionsbestimmten Begriff (Beispiel: Begriff des Rechtsgeschäfts als Mittel der Privatautonomie). Letzterem kommt die Aufgabe zu, zwischen den Prinzipien und dem äußeren System zu vermitteln. Aufgefächert wird der funktionsbestimmte Begriff nicht durch klassenbildende Merkmale, sondern im Wege einer Typenbildung. Die Gegenüberstellung von Begriff und Typus wird unter anderem damit begründet, dass der Begriff keine Abstufung seiner Merkmale zulasse. Die schroffe Trennung von Begriff und Typus macht die Schwierigkeiten dieser Position deutlich: Zwar gelingt es ihr, die Schwäche der traditionellen Logik und der ihr entsprechenden Begriffslehre aufzudecken. Aber die Ausarbeitung ihrer Alternative legt die logischen und definitionstheoretischen Prämissen der herkömmlichen Lehre immer noch unbefragt zugrunde: „Typen“ sind unscharfe Klassenbegriffe und damit eine Abweichung von den allein korrekten klassifikatorischen Begriffen. Deswegen kann die Lehre vom Typus nicht berücksichtigen, dass die moderne Logik und Wissenschaftslehre in den komparativen Begriffen eine Abstufung von Eigenschaften zulässt167, womit die Gegenüberstellung von Begriff und Typus auf dieser Ebene der Begriffslehre nicht schlüssig ist. ___________ 165

Vgl. dazu die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl., Stuttgart u.a. 1977, S. 255 ff., Fn. 118a. Vgl. weiterhin Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 124 ff. Kritisch zur Typenlehre: Kindhäuser, Rechtstheorie 1984, 226; Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, Berlin 1979, S. 76 ff. 166 Vgl. dazu und zum Folgenden Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., Berlin 1983, Kap. 7, S. 420 ff. 167 Vgl. dazu Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977; Kindhäuser, Rechtstheorie 1984, 226.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

Trotzdem kann die Lehre vom Typus aber deutlich machen, dass die Rechtsanwendung nicht die mechanische Wiedergabe einer im Text vorgegebenen Bedeutung ohne jeden Wertbezug darstellt. Weder die Sprache des Alltags noch die des Gesetzes ist als neutrales Instrument im technischen Sinn einfach anwendbar. Vielmehr handelt es sich beim Sprechen und auch beim Rechtsprechen um ein Handeln, das Bedeutung erst konstituiert und deswegen nicht in quasi-naturhafter Fixierung von Normen, Wertungen und konfligierenden Bestimmungsversuchen abgetrennt werden kann. Zudem führt die typologische Begriffsbildung mit ihrer Gegenüberstellung von Extremwerten168 und fallweisen Profilierung der fraglichen Bedeutung über einen platonistischen Begriff der Sprachregel hinaus. Sie rückt damit die Verkettung von Fällen in den Vordergrund, wie wir sie hier auch empirisch im Hinblick auf den Arbeitnehmerbegriff nachzeichnen können (vgl. C.II.3.). Schon die typologische Begriffsbildung macht damit zwei wichtige Probleme des Versuchs deutlich, die Gesetzesbindung als Bindung an die im Text vorgegebenen Rechtsbegriffe zu verstehen: Zunächst ist das von der herkömmlichen Lehre vorausgesetzte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bestimmtem und unbestimmtem Begriff nicht haltbar. Ebensowenig kann die Begriffsbildung und Rechtsanwendung insgesamt von einem schon durch die Sprache vermittelten Wertbezug abgelöst werden. Damit wird aber deutlich, dass die von der klassischen Lehre vorausgesetzte Eindeutigkeit der Rechtsbegriffe nicht als Beschreibung gelten kann, sondern ein bloßes Postulat darstellt. Vernachlässigt wird die praktische Begriffsarbeit in Fallreihen. 2. Typus und Ganzheitsdenken Der Typusbegriff ist – wie bereits oben deutlich wurde – ein zentrales Instrument der Arbeitsgerichte. Allerdings wird diese Strategie der Begriffsbildung von der Literatur scharf kritisiert: Mit dem Typusbegriff befreie sich das BAG und die ihr folgenden Untergerichte aus der Gesetzesbindung: „Eine [...] zentrale Aussage der Typuslehre, die auch vom BAG vertreten wird, lautet: Mit Hilfe des Typus kann nicht definiert, sondern nur beschrieben werden. Auch dieses Argument wird häufig dazu benutzt, die Begründungspflicht des Urteils zu umgehen.“169

___________ 168

Vgl. dazu Zippelius, Der Typenvergleich als Instrument der Gesetzesauslegung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2, 1972, S. 482 ff. 169 Nogler, ZESAR 2009, 461, 464.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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a) Vom Gesetz zum Recht als Wert Die Kritik an der Typenlehre verweist häufig auf deren Herkunft: „Die so genannte typologische Methode wurde von Larenz im Anschluss an die Hegel’sche Lehre vom ‚konkret-allgemeinen Begriff‘ zunächst für die ‚völkische Rechtserneuerung‘ nach 1933, später für seine ‚Methodenlehre der Rechtswissenschaft‘ entwickelt.“170

Tatsächlich sind Larenz Schrift über „Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens“ und seine 1960 in erster Auflage erschienene „Methodenlehre“ die beiden Eckpunkte seines Werkes.171 Gibt es also zwischen der völkischen Rechtserneuerung und dem „Später“ der Methodenlehre eine Kontinuität oder einen Bruch? Realistischerweise wird man beides annehmen müssen. Die Positivismuskritik war für Larenz in seiner Frühphase das trojanische Pferd für die Einführung des Holismus in die juristische Methodik. Man muss also bei der Typenlehre differenzieren: Es gibt einerseits eine Kritik am klassischen Gesetzespositivismus, die immer noch unerledigt ist, und andererseits eine ganzheitlich strukturierte Rechtsfindungslehre. Rüthers bezieht sich auf Letztere, wenn er schreibt: „Die vom BAG häufig verwendete so genannte ‚typologische Rechtsfindung‘ ist ein Instrument verdeckter interpretativer Rechtsetzung. Angewendet wird sie dort, wo ein unbestimmter Rechtsbegriff nicht gesetzlich definiert ist und auf vielfältig verschiedene Sachverhalte und Fallgruppen hin konkretisiert werden muss. Die Bildung dieser Fallgruppen und ihre Subsumtion unter den unscharfen unbestimmten Rechtsbegriff ist kein kognitiver, sondern ein wertender Akt richterlicher Normsetzung, der als solcher offengelegt und begründet werden muss. Es ist daher irreführend, von – wie auch bei Larenz und BAG üblich – typologischer ‚Rechtsfindung‘ zu reden, weil es in Wahrheit um interpretative Rechtsetzung geht.“172

Betrachten wir zunächst das holistische Rechtfertigungsmodell. Es geht der Typenlehre darum, dass der Positivismus den normativen Aspekt der juristischen Begriffsbildung vernachlässigt. Dieser normative Aspekt soll aber nicht an die Sprache und den Gesetzgeber zurückgebunden werden, sondern im Rahmen einer geistigen Totalität als Erkenntnis aufgefangen werden. Die of___________ 170

Rüthers, NZA-Beilage 2011, 100, 105. Vgl. dazu Frassek, Methode und Zivilrecht bei Karl Larenz, in: Rückert/Seinicke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts – Von Savigny bis Teubner, Baden-Baden 2012, S. 213 ff., 214 f.; ders., Jus 1998, 296; ders., Von der „völkischen Lebensordnung“ zum Recht – Die Umsetzung weltanschaulicher Programmatik in den schuldrechtlichen Schriften von Karl Larenz (1903 – 1933), Baden-Baden 1996; Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 1978; zur späteren Modifikation der Theorie von Larenz durch sein Aufgreifen der Gadamer’schen Hermeneutik vgl. Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, Ebelsbach 1981; Kokert, Der Begriff des Typus bei Larenz, Berlin 1995; zu unerledigten Aporien vgl. Seinicke, JZ 2010, 279. 172 Rüthers, NZA-Beilage 2011, 100, 105. 171

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

fengelegte Wertung wird also wieder verdeckt. Betrachten wir diese Bewegung bei Larenz: „‚Auslegung‘ ist, wenn wir an die Wortbedeutung anknüpfen, ‚Auseinanderlegung‘, Ausbreitung und Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber gleichsam verhüllten Sinnes.“173 Wenn man die Rechtslage aus dem Text des Gesetzes ablesen will, stößt man aber auf eine Schwierigkeit: die vorgeblich objektive Bedeutung ist nicht festzustellen. Das Gesetz existiert nur in einer Vielzahl von Lesarten, und ohne Verfahren und die dort vorgetragenen Argumente weiß man nicht, welche Lesart die beste ist. Man will im Gesetz eine Regel finden und sie in der Entscheidung abbilden. Aber niemand hat eine versionslose Beschreibung. Es fehlt die Regel für die Anwendung der Regel. Die herkömmliche Lehre reagiert auf diese Schwierigkeit mit einer Erweiterung der Anzahl der Rechtsquellen. Die Rechtsprinzipien springen als Gegenstand der Erkenntnis dort in die Bresche, wo die Bedeutung des Normtextes sich einer umstandslosen Erkenntnis von Recht versagt. Am Grundverhältnis einer Erkenntnis ändert sich für die herkömmliche Ansicht dadurch nichts. Sie verlagert lediglich ihren Gegenstandsbezug. Hinter dem Gefüge gesetzlicher Anordnungen soll ein weiteres System liegen, zu dem man sich über den bloßen Text hinaus durcharbeiten müsse. Man kann die Prinzipien174 allerdings nicht einfach anwenden; vielmehr bedarf es dazu einer darüber hinausgehenden Wertung.175 Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Konflikt zwischen verschiedenen Prinzipien:176 „Prinzipien sind normative Aussagen so hoher Generalitätsstufen, dass sie in der Regel nicht ohne Hinzunahme weiterer normativer Prämissen angewendet werden können und meistens durch andere Prinzipien Einschränkungen erfahren.“177

Diese weitere Wertung entnehmen wir dann aus dem Innersten des inneren Systems, der Rechtsidee, sei diese nun naturrechtlich, neuhegelianisch, wer___________ 173

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl., Berlin 1979, S. 299. Zum Problem im Engeren auch Larenz, NJW 1965, 1. Wie fest dieser Begriff immer noch etabliert ist zeigt etwa Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 29. 174 Vgl. grundlegend zu diesem Begriff: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl., Tübingen 1990, mit Klassifikation der Prinzipien S. 87 ff.; sowie Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/Main 1984, S. 56 ff.; Alexy, in: Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 59 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt/Main 1994, S. 254 ff.; Koch/Rüssmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 97. 175 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt/Main 1996, S. 390; Kramer, Juristische Methodenlehre, Bern 1998, S. 188. 176 Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Blätter 1996, 684; Alexy, Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 143 ff. 177 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1996, S. 390.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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tungsbezogen178 oder diskurstheoretisch179 bestimmt. Mit dem Abschluss dieser Bewegung nach innen landet man wieder beim Hegel’schen Begriff der Totalität und damit einem vertikalen Holismus: „Geht man ‚von unten‘, d. h. von den positiven Einzelregeln auf die ihnen zugrunde liegenden Leitgedanken zurück, ‚von oben‘, also von der Rechtsidee zu deren historischen Konkretisierungen in der gegebenen Rechtsgemeinschaft herunter, und lässt sich übereinstimmend aufgrund beider Gedankengänge ein Rechtsgedanke formu180 lieren, so handelt es sich um ein rechtsethisches Prinzip.“

Mit der Ausdehnung des Begriffs der Auslegung auf einen Fundus an Rechtsprinzipien, zusammengehalten von der Rechtsidee, hat sich die argumentative Bewegung der klassischen Lehre zur Totalität gerundet. Dabei ist diese Totalität strukturiert wie die stratifizierte Gesellschaft: über dem vom Adel der Prinzipien beherrschten Volk der Begriffe thront die Rechtsidee wie ein König. b) Vom Recht als Wert zum Recht in Fallketten Die Frage, wie zu entscheiden ist, wird von der herkömmlichen Lehre also nicht mit der Argumentation im Verfahren beantwortet, sondern ontologisch. Hinter dem Gesetz werden als weitere Instanzen die Prinzipien und die Rechtsidee behauptet. Um sie zu erreichen, hat die traditionelle Lehre den Weg vom Textäußeren zu den inneren Werten des Rechts empfohlen. Ein Gericht darf sich demnach nicht damit begnügen, auf der äußerlichen Ebene Texte zu verknüpfen, sondern muss in die Tiefe vorstoßen. Das ist ein holistischer Ansatz, der vertikal von der Sinneinheit des Systems her jede Einzelheit beherrschen will. Deswegen heißt die entsprechende Methode auch „vertikale Auslegung“181. Sie soll den Richter vom bloßen Text ins Innere des Rechts führen. Aber die Abfahrt nach innen funktioniert in der Praxis nicht. Das Recht versammelt sich nicht zu einem inneren Wesen. Dies gilt auch und vor allem im von politischen Wechseln geprägten legislativen Flickwerk des Arbeitsrechts. Man findet stattdessen nur eine Vielzahl weiterer Normtexte auf derselben oder einer anderen Regelungsebene. Keine dieser Normen stellt die zentrale Steuerungseinheit oder den Gesamtsinn dar, sondern nur eine weitere mögliche Verknüpfung. Auf der Fahrt nach innen geht es den Juristen wie dem Neurowissenschaftler, der statt des gesuchten Zentral-Ichs nur ___________ 178 Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien/New York 1991, S. 131 f., 297 ff. 179 Vgl. dazu Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. Aufl., Freiburg 1994, S. 201f. 180 Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien/New York 1991, S. 133. 181 Bleckmann, Die systematische Auslegung im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders., Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, S. 41 ff., 44.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

eine Vielzahl von homunculi findet.182 Auch die Einheit des Rechts löst sich in eine Vielzahl von Beobachtungsperspektiven auf, so dass man ohne letzten Halt wieder im Äußeren landet. Die von der positivistischen Rechtsnormtheorie übernommene Auffassung, dass die sprachliche Bedeutung als Grenze der Auslegung schon im Text vorgegeben sei, wird nicht dadurch überwunden, dass man die Definition durch den Zweck ersetzt. Anstelle des Merkmals tritt beim Typus die Funktion, welche darin liegt, das grundlegende Systemziel der Gerechtigkeit zu erreichen. Wenn nun aber das grundlegende Systemziel des Rechts in Frage gestellt wird, dann wird der Zweck oder die Funktion selbst zur auszulegenden Größe, statt zur Grundlage der Auslegung. Damit gerät der Zweck wieder in den Sog der sprachlichen Auseinandersetzung, statt sie von außen zu beherrschen. Weder Definition noch Zweck können die wörtliche Bedeutung vorgeben. Insoweit ist der Literatur Recht zu geben. Diese Methode sei „das terminologisch verdeckte Einverständnis des Gerichts, dass es klare Abgrenzungsmerkmale (noch?) nicht gefunden hat und deshalb ohne jede Vorhersehbarkeit für den Rechtsverkehr von Fall zu Fall zu entscheiden gedenkt. […] Es erscheint jedoch fraglich, ob diese so genannte unbegrenzte Auslegungsmacht des BAG dem demokratischen Standard entspricht.“183

Wegen des Fehlens einer überprüfbaren Methode sei es deshalb „unmöglich, eine Prognose über den Ausgang der Rechtsstreitigkeit zu geben.“184 Richardi kritisiert an dem Ansatz einer typologischen Betrachtung, dass hierdurch kein dogmatischer Gewinn erzielt werde.185 Letztlich bestätige das Verständnis des Arbeitnehmerbegriffs als Typusbegriff nur, dass der Arbeitnehmerbegriff für die Rechtsanwendung nicht überall identisch sei. „Eine Klarstellung lässt sich nur erzielen, wenn man bei umstrittenen Fallgruppen, wie auch sonst, den Bedeutungsinhalt eines Begriffs teleologisch bestimmt, ihn also durch den Sinnzusammenhang zwischen Tatbestand und Rechtsfolge erschließt. Eine typologische Rechtsfindung leistet dazu keinen Beitrag [...]. Deshalb ist es verwegen, wenn das BAG meint, es sei ‚aus Gründen der Praktikabilität und der Rechtssicherheit unvermeidlich, die unselbständige Arbeit typologisch abzugrenzen.‘ Das Gegenteil ist richtig. Für die Rechtsfindung ist ein ‚Typusbegriff‘, der durch eine Reihe von Merkmalen bestimmt wird, die jedoch nicht jeweils sämtlich vorzuliegen brauchen, ein Muster ohne Wert, solange offen bleibt, nach welchen normativen Gesichtspunkten sich richtet, welche Merkmale fehlen können.“186

___________ 182 Vgl. zu dieser Bewegung der Ersetzung einer Zentralinstanz durch viele Einzelinstanzen Dennett, Wo bin ich? in: Hofstatter/Dennett (Hrsg.), Einsicht ins Ich, 5. Aufl. 2002, S. 209 ff. Siehe auch Sanford, Wo war ich?, ebd., S. 224 ff. 183 Nogler, ZESAR 2009, 461, 464. 184 Ebd. 185 Richardi, in: Münchner Handbuch des Arbeitsrechts, 3. Aufl. 2009, § 16, Rn. 45. 186 Ebd.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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Der Weg „in die Tiefe“ des Rechts mündet also ins Nirgendwo. Deswegen bleibt den Gerichten gar nichts anderes übrig, als die Rechtssätze horizontal zu vernetzen. Der Kontext einer Bedeutung muss immer neu beschrieben werden. Die Einheit des Rechts ist kein fester Punkt, den man erreichen könnte. Sie liegt vielmehr auf der Fluchtlinie ständig neuer Beschreibungen. Diese Fluchtlinie ist auch nicht Gegenstand einfacher Beobachtung. Sie wird nur dann sichtbar, wenn man die Beobachter beobachtet. Das Heranziehen des Kontextes führt damit nicht zur Sinnmitte des Rechts, sondern in eine Beobachtung zweiter Ordnung. Genau diese Konsequenz zeigt sich mit voller Deutlichkeit in der Praxis der Gerichte (vgl. unten C.). Die von der Typenlehre beschriebene Fallgruppenbildung entspricht insoweit der Praxis. Die typologische Begriffsbildung weist also tatsächlich Unklarheiten auf. Aber gleichzeitig entdeckt sie das Problem, dass Gesetzesrecht nicht ohne Fallrecht entschieden werden kann. Die Objektivität von Fallketten lässt sich aber nicht einfach durch ein einziges Kriterium stabilisieren, sondern verlangt einen komplexen Bewertungsmechanismus. Dieser liegt in der Argumentation im jeweiligen Verfahren und wird von der typologischen Begriffsbildung verschwiegen. Die Typenlehre führt zum Problem des Fallrechts, kann es aber semantisch noch nicht fassen. 3. Die logisch-semantische Kritik am Typus In den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beginnt in der Jurisprudenz eine Rezeption der ganz frühen Positionen der analytischen Philosophie. Um auf eine damals gängige Qualifikation zu verweisen, bezieht man sich auf die Philosophie der idealen Sprache und nicht die Philosophie der normalen Sprache.187 Das heißt, der logische Empirismus Carnaps prägte diese Position stärker als die an Wittgenstein anknüpfende Position, welche dann im Folgenden zur pragmatischen Wende führen sollte. Man muss deshalb in der juristischen Rezeption von einer großen Ungleichzeitigkeit im Verhältnis zum damals schon erreichten Diskussionsstand in der analytischen Philosophie ausgehen. Die juristische Rezeption wendet sozusagen Carnaps Kritik am zeitgenössischen Neuhegelianismus der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts vierzig Jahre später auf die hegelianischen Restbestände bei Larenz an. Die Metaphysik soll ersetzt werden durch die Logik der Sprache.

___________ 187 Vgl. dazu den damals sehr stark rezipierten Text von Eike von Savigny, Analytische Philosophie, Freiburg/München 1970, S. 25 ff. (Philosophie der formalen Sprache), S. 61 ff. (Philosophie der normalen Sprache) und schließlich in einem weiteren Kapitel die beiden Arbeitsweisen an gemeinsamen Problemen illustriert (S. 103 ff.).

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

a) Von der Fallkette zur Definitionslehre Larenz wollte mit der Lehre vom Typusbegriff zeigen, dass es Begriffe gibt, die einem semantischen Aushandlungsprozess unterliegen und deswegen nicht einfach in den Subsumtionsmechanismus eingefüttert werden können: „Das Subsumtionsschema setzt voraus, dass der Oberbegriff, dem der Tatbestand des Rechtsatzes entspricht, durch die Angabe aller der Merkmale definiert werden kann, deren Vorliegen sowohl erforderlich ist, wie hinreichend ist, um unter ihnen zu subsumieren. Die Unterordnung eines bestimmten Sachverhalts S unter dem Tatbestand T im Wege eines Subsumtionsschlusses ist daher nur dann möglich, wenn T durch die Angabe hinreichend bestimmter Merkmale vollständig definiert werden kann, mit anderen Worten, wenn es sich bei der Kennzeichnung von T durch die Merkmale M1 bis Mx um die Definition eines Begriffs handelt. Das ist aber, wie wir früher gesehen haben, keineswegs immer der Fall. Typen und ausfüllungsbedürftige Wertungsmaßstäbe entziehen sich einer solchen Definition, auch wenn sie durch die Angabe leitender Gesichtspunkte, charakteristischer Züge und durch Beispiele umschrieben und deutlich gemacht werden können.“188

Die Typuslehre will dartun, dass ein Begriff nicht immer semantisch verfügbar ist, sondern dass in vielen Rechtstreitigkeiten gerade der Begriff erst geformt werden muss. Wenn sich die Frage stellt, ob die für Benetton zu Hause nähende Person Arbeitnehmer ist oder der Pharmareferent bzw. Fahrradfahrer des Pony-Express ein selbständiger Unternehmer ist, dann geht es nicht nur um die Subsumtion, es geht auch um den Begriff des Arbeitnehmers: Vom PonyExpress werden die verwendeten Personen weder verpflichtet, „jeden Tag zur Arbeit zu erscheinen, noch die einzelnen Auslieferungen, die von der Zentrale per Funk durchgegeben werden, durchzuführen. Demnach müsste man [...] schließen, dass ein selbständiges Arbeitsverhältnis vorliegt; nach der allgemeinen Auffassung erfordert nämlich das Vorliegen einer organisatorischen Gewalt und vielmehr noch einer direktiven Gewalt die ‚Sicherheit des Gläubigers auf eine gewisse Dauerbindung der Leistungserbringung, sei diese nun periodisch oder kontinuierlich, je nach dem eingangs vereinbarten Programm.“189

Der Begriff kann nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern muss vielmehr erst semantisch ausgearbeitet werden, indem man ihn ausfüllt durch Vergleiche mit vielen Fällen, in denen er schon verwendet wurde. Erst wenn die Semantik stabilisiert ist, kann die Logik der Subsumtion greifen. Es handelt sich also bei der Typuslehre um eine realistische Einschätzung dessen, was die Logik für praktische Rechtsarbeit leisten kann. Die Kritik will aber an die Stelle von Larenz’ Fallbezug den sprachlichen Regelbezug setzen. Regeln lassen sich aber ohne Fälle nicht finden. Deswegen nimmt die Kritik einen Umweg. Sie begibt sich auf einen ganz anderen Schau___________ 188 189

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1971, S. 259. Nogler, ZESAR 2009, 461, 466.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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platz, den der Definitionslehre.190 Diese könne auf abstufbare Begriffe Rücksicht nehmen: „Larenz’ Standpunkt lässt sich knapp in drei Behauptungen zusammenfassen: 1. Eine Definition kann nur in Form einer Äquivalenz gegeben werden, wobei das Definiens aus einem Merkmal oder einer Konjunktion von Merkmalen bestehen muss. 2. Es ist erforderlich, den Gebrauch einer Anzahl sprachlicher Ausdrücke so zu normieren, dass nicht von einer Definition gesprochen werden kann (Beispiel: ,Tierhalterʻ). Eine deduktive Entscheidungsbegründung ist nur möglich, wenn die semantische Interpretationsprämisse eine Definition darstellt.“191

Diese Zusammenfassung ist nicht nur tendenziös, sie verfehlt vielmehr das Wesentliche an dem, was Larenz an Problembeschreibung gibt. Es geht ihm nicht um die Definitionslehre. Es geht ihm darum, dass die Semantik von Begriffen nicht einfach vorhanden ist, sondern lokal ausgearbeitet werden muss durch Bezug auf andere Fälle. Dieses Kernproblem kommt in der „Reformulierung“ nicht vor. Deswegen geht der Einwand gegen Larenz auch ins Leere: „Die definitionstheoretische Prämisse (1.) gibt einen seit langem überholten Stand der Definitionslehre wieder. Das gilt sowohl für die logische Struktur des Definiens wie für die Forderung nach Äquivalenzverknüpfung von Definiendum und Definiens. Das Definiens kann eine sehr komplexe Struktur haben und unter anderem 192 auch aus Disjunktionsgliedern bestehen.“

Larenz wollte nicht die moderne Definitionslehre angreifen. Das hat ihn gar nicht interessiert. Interessiert hat ihn dagegen die Frage, wie man im Recht mit dem Problem umstrittener Begriffe umgehen kann. An diesem Problem gehen die Typuskritiker vorbei. Trotzdem müssen sogar sie zugeben, dass Begriffe nicht einfach subsumtionsbereit sind. Das Problem liegt darin, dass in Argumentationen normalerweise die Semantik von Begriffen lokal ausgearbeitet werden muss.193 Auf dieses Problem könnte man nun reagieren, indem man eine „Zeitlogik“ ausarbeitet, was aber nicht aussichtsreich ist.194 Stattdessen muss man die Bestimmung des Verhältnisses von Logik und Argumentation neu justieren. Argumentieren kann man nicht länger als bloßes Anwenden der Logik begreifen. Vielmehr bereitet die Logik die Bühne, auf der semantische Verschiebungen erst sichtbar werden. Auf dieser Bühne vollzieht sich der Vorgang der Argumentation.195 Man ___________ 190

Koch, ARSP Beiheft Nr. 14, 1978, 74. Ebd. 192 Ebd. 193 Vgl. dazu Deppermann, Semantische Verschiebungen in Argumentationsprozessen: Zur wechselseitigen Elaboration von Semantik, Quaestiones und Positionen der Argumentierenden, in: Lüken (Hrsg.), Formen der Argumentation, Leipzig 2000, S. 141 ff. m.w.N. 194 Vgl. dazu Wohlrapp, Jenseits von Logizismus und Zweckrelativismus: Zur Rolle der Logik im Argumentieren, in: Dialektik 1999/1, S. 25 ff., S. 34. 195 Ebd., S. 33 ff. 191

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

braucht die Logik sozusagen in drei verschiedenen zeitlichen Zusammenhängen. Zunächst um überhaupt Verschiebungen zu erkennen und dann um die Argumentation über diese Verschiebungen zu strukturieren und schließlich wenn dies abgeschlossen ist für die Folgerungen. Die Logik ist also als Bühne vollkommen unverzichtbar. Aber die Bühnentechnik ist nicht das Stück. Sein Fortgang kann nicht als Anwendung der Logik rekonstruiert werden. Genau das ist aber das Anliegen der Typuskritiker. Sie wollen aus dem Bühnentechniker den Regisseur machen. Deswegen übergehen sie das semantische Problem, dass Begriffe, wenn sie umstritten sind, eben nicht einfach „angewendet“ werden können. b) Das Bereichsmodell soll die Fallreihe ersetzen Begriffe bedürfen vielmehr einer Auslegung, und über diese Auslegung gibt es Streit. Jetzt müsste also das Problem lokaler semantischer Aushandlungsprozesse auftauchen. Aber der Bühnentechniker will unbedingt Regisseur werden. Deswegen sagt er, dass deduktive Entscheidungsbegründungen auch für den Bereich unbestimmter oder vager gesetzlicher Begriffe möglich sei, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen: „Wenn sich Vagheit so beschreiben lässt, dass die Bedeutung eines Prädikat durch je hinreichende Bedingungen des Zusprechens bzw. des Absprechens festgelegt ist, dann ist eine Einschränkung, ja sogar Beseitigung des Bereichs der Unbestimmtheit durch disjunktive Hinzufügung weiterer Zu- bzw. Absprechensregeln ohne Weiteres möglich.“196

Aber eben nur, wenn sich ein semantischer Streit als Vagheit oder Unbestimmtheit von Begriffen beschreiben lässt. Das ist schon deswegen unplausibel, weil wir dann gar keinen Streit hätten, sondern lediglich ein Erkenntnisproblem.197 Dies wäre dann nicht durch Argumentation, sondern durch Didaktik zu lösen. Die Schwächen dieser „logisch-semantischen“ Kritik zeigen sich vor allem da, wo sie versucht, eine Gegenposition systematisch zu entfalten. Als Kriterium für diese Neubegründung und auch als Maßstab für die Einteilung der Begriffe wird ein an logischen Idealsprachen orientiertes Präzisionspostulat eingeführt198. Danach sind vage Begriffe zu unterscheiden199 (gekennzeichnet durch neutrale Kandidaten, die weder positiv noch negativ der Extension des Begriffs ___________ 196

Koch, ARSP Beiheft Nr. 14, 1978, 76. Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 54. 198 Vgl. zur Kritik an der Position Kochs grundsätzlich: Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. 199 Vgl. zur Klassifikation: Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 188 ff. 197

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zugeordnet werden können), mehrdeutige Begriffe (mit je nach Kontext verschiedenen Verwendungsregeln), inkonsistente Begriffe (die von verschiedenen Sprechern innerhalb einer Sprachgemeinschaft nach unterschiedlichen Regeln verwendet werden). Diese Einteilung beansprucht eine semantische zu sein200, wobei sie allerdings nicht beschreibt, was die Bedeutung von Ausdrücken ist, sondern postuliert, wie die Bedeutung sein solle, nämlich fest, beständig und nach wahr-/falsch-Kriterien anwendbar201. Es handelt sich also nicht um eine Sprachsemantik, sondern um eine Wunschsemantik. Auf dieser Grundlage soll es dann möglich werden, die von der Interessenjurisprudenz vorgeschlagene Unterscheidung von Begriffskern und Begriffshof mit Hilfe genauer semantischer Kriterien zu präzisieren.202 Die der logischen Semantik entnommene Unterscheidung von positiven, negativen und neutralen Kandidaten könne in der praktischen Rechtsarbeit einen Bereich der Bedeutungsermittlung von einem Bereich der Bedeutungsfestsetzung abgrenzen. Während die Bedeutungsfestsetzung etwa im Einklang mit gesetzgeberischen Zwecken zu vollziehen sei, soll die Bedeutungsermittlung so erfolgen, dass die Begriffsmerkmale (Intension) über die Eigenschaften des erfassten Gegenstands (Extension) festgestellt werden. Obwohl also die Vorstellung „vom Richter als einem rein passiven Gesetzesanwender, der im Zuge seiner Auslegungstätigkeit lediglich den im Gesetz immer schon verborgenen semantischen 203 Gehalt desselben hervorholt“

gerade verlassen werden soll, wird doch für den Bereich des Begriffskerns an der positivistischen Theorie von einer im Normtext vorgegebenen objektiven Bedeutung festgehalten. Die grammatische Auslegung besteht für diese Position in der Fixierung von Begriffsmerkmalen und der Bestimmung ihres Inhalts dadurch, dass der Richter über eine Analyse des Wortgebrauchs die dem Referenzgegenstand des juristischen Begriffs zukommenden Eigenschaften feststellt und dann vergleicht, ob der Sachverhalt diese Eigenschaften enthält. Dabei handelt es sich um eine leicht verfremdete Beschreibung des gesetzespositivistischen Subsumtionsmodells204. Verschwiegen wird aber, dass in die Eigenschaftsbestimmung intuitive Vorentscheidungen über die Bedeutung der Worte ___________ 200

Ebd., S. 188: „Ermittlung des semantischen Gehalts“. Vgl. zur Kritik auch Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, Königstein/Taunus 1982, S. 107 ff., 110 ff. 202 Vgl. zur Kritik an dem Ansatz von Koch: Gruschke, Wahrheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 17 f. 203 Koch/Trapp, Richterliche Innovation – Begriff und Begründbarkeit, in: Harenburg/Podlech/Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, Darmstadt 1980, S. 83 ff., 107. 204 Vgl. zur Aufnahme des herkömmlichen Justizsyllogismus bei Koch auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 258 ff., 262, 287. 201

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

eingehen, welche nachher als entdeckte Eigenschaften nur verkleidet werden205. Ebenso zirkulär wie der Gesetzespositivismus, der im geschlossenen Zusammenhang der Rechtsordnung die angeblich vorgegebene Entscheidung des Falles entdeckt, wird hier im Wege der Ermittlung der Intension über die Extension des Begriffs nur das eigene Vorurteil entdeckt206. Gerade bei diesem Ansatz wird die Schwierigkeit eines Versuchs deutlich, das begriffsjuristische Subsumtionsideal durch eine bloße Änderung der Terminologie zu überwinden. Die im Rahmen einer idealen Kunstsprache entwickelten Standards werden auf die Probleme praktischer Rechtsarbeit übertragen, ohne die Voraussetzungen einer solchen Übertragung noch zu überprüfen. Um die Zweckmäßigkeit eines solchen Postulats fester, beständiger usw. Bedeutung zu beurteilen, muss man berücksichtigen, dass die Rechtssprache keine vollständig terminologisierte Wissenschaftssprache207 ist. Nur im Rahmen einer Ideal- oder Kunstsprache lässt sich jedoch kommunikative Sinnkonstitution auf die Erklärung abstrakter Zeichenbedeutungen reduzieren. Im Rahmen einer solchen Wort- oder Begriffssemantik sind dann tatsächlich alle Ausdrücke der natürlichen Sprache vage, inkonsistent oder mehrdeutig, und es lässt sich auch nicht der Zusammenhang von empirischem Wissen und Bedeutungswissen thematisieren208. Trotz des Versuchs, Abstand zu den Prämissen der Begriffsjurisprudenz zu gewinnen, bleibt der an der logischen Semantik orientierte Ansatz seinem Widerpart immer noch verhaftet. Das Gemeinsame zwischen der Vorstellung juristischer Begriffsbildung als formallogischer Deduktion und der „semantischen“ Position besteht darin, dass ein Bereich angenommen wird, worin die Rechtsbegriffe eindeutig bestimmte und undiskutierbare Daten liefern. Selbst die Konstruktion „semantischer“ Ausnahmen schränkt den Geltungsbereich dieses Modells lediglich durch eine Hilfshypothese ein. Das herkömmliche Paradigma wird dadurch aber noch nicht verlassen. Durch bloße Differenzierungen auf der Ebene der Begriffe ist die implizite Sprachtheorie der Begriffsjurisprudenz noch nicht überwunden. Auch die an der logischen Semantik orientierten neuen Ansätze reflektieren diese Sprachtheorie nicht, sondern explizieren sie nur als Bedeutungstheorie. ___________ 205

Vgl. Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 93 ff.; Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, S. 287 ff. Grundsätzliche Auseinandersetzung mit der von Koch bei Carnap aufgenommenen intensionalen Semantik bei Bickes, Theorie der kognitiven Semantik und Pragmatik, 1984, etwa S. 60, 82 und öfter. 206 Vgl. dazu Busse, ebd. 207 Vgl. dazu auch Kramm, Rechtsnorm und semantische Eindeutigkeit, Dissertation, Erlangen/Nürnberg 1970, S. 84 ff. 208 Vgl. dazu Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, S. 289 f.

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Damit kommt der an der Semantik orientierte Ansatz dem juristischen Traum von der vorgegebenen Sprachregel entgegen. Und die Anziehungskraft seiner Semantik wird da noch besonders verstärkt, wo der um die Wortlautgrenze zentrierte „wissenschaftliche“ Kern der Jurisprudenz gerettet werden soll: „Damit der Wortlaut zur begrenzenden und falsifizierenden Größe taugt, muss er unabhängig von den Findungsmomenten und Konkretisierungselementen, die er begrenzen soll, und unabhängig von den gefundenen und konkretisierten allgemeinen Aussagen, die zur Falsifikation gestellt werden sollen, ermittelt werden. Für diese Ermittlung wichtiges Instrumentarium hat Koch [...] aus der analytischen Sprachphilosophie in die juristische Methodologie eingebracht.“209

Koch wird das Verdienst zugeschrieben, den Bedeutungsbegriff geklärt zu haben, indem er auf die Regeln des Sprachgebrauchs hinwies: „Diese semantischen Regeln bestimmen die Bedeutung eines Worts, indem sie die Bedingungen angeben, bei deren Vorliegen das Wort anwendbar und bei deren Nichtvorliegen es unanwendbar ist. Sind diese empirisch zu ermittelnden Regeln klar, dann stehen auch die Bedeutung und damit die begrenzende oder falsifizierende Leistung des Wortlauts fest. Sind sie dagegen unklar, dann scheint es, als könne der Wortlaut eine begrenzende und falsifizierende Funktion nicht erfüllen. Diesen Schein zerstört Koch, indem er die verschiedenen Arten der Unklarheiten näher untersucht [...].“210

Die Regeln der Sprache werden hier als Rechtsregeln behandelt. Sie bestimmen als platonische Entitäten die Bedeutung eines Wortes, und wer ihre Grenzen überschreitet, handelt rechtswidrig. Es gibt also ein Sprachgesetzbuch, und sein Inhalt ist empirisch zu gewinnen. Mit dem Begriff „empirische Ermittlung“ fangen allerdings die Probleme an, welche die scheinbar so feste Basis ins Wanken bringen. 4. Die Fallreihe als rationaler Kern der Typenlehre Man kann nicht bei der von Rüthers zu Recht erhobenen Forderung stehen bleiben, die Wertungen des Richters seien offenzulegen. Die erforderlichen Wertungen des Richters müssen an den verfassungsrechtlichen Vorgaben einer pluralistischen Verfassung überprüft werden. Dazu bedarf es des Übergangs von der eine wörtliche Bedeutung definierenden Sprachregel zu einer normativ geordneten Semantik der Fallgruppen. Die von der logischen Semantik erhobene Forderung nach Empirie ist vollkommen berechtigt. Aber die Empirie führt nicht zu einer Regel, sondern zu einer Vielzahl von Kontexten eines Wortes, welche mit normativen Wertungen der Sprecher verbunden sind. ___________ 209

Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion und der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 100. 210 Ebd., S. 100 f.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

a) Was ist die Empirie von Sprache? Kann man also die Bedeutung von Worten empirisch ermitteln? Im Prinzip schon. Es fragt sich nur wie. Jedenfalls nicht, indem man die Sprecher fragt und nach einer Mehrheit sucht211 oder sich auf die eigene Sprachkompetenz beruft. Die logische Semantik greift also zu kurz, wenn sie als Instrumente der empirischen Ermittlung einmal die Besinnung auf die eigene Sprachkompetenz und zum anderen das Nachschlagen im Wörterbuch anführt. Die eigene Sprachkompetenz wird damit überschätzt. Als Heilmittel gibt es in der Sprachwissenschaft dazu die Regel „Never trust a native speaker“.212 Menschen können viel mehr, als sie bewusst wissen, und es bedarf der reflexiven Anstrengung der Wissenschaft, diesen Abstand zu bearbeiten. Deswegen ist der natürliche Sprecher kein Maßstab für die Wissenschaft, sondern nur die Grundlage für deren Arbeit. Halbwegs geben die juristischen Vertreter dieser Theorie dies auch zu, wenn sie die Methode des Besinnens auf die eigene Sprachkompetenz nicht ganz ohne Ironie als „Lehnstuhlmethode“ bezeichnen. Die Befragung von Sprechern ist also sinnvoll, wenn sie einer reflexiven Bearbeitung unterzogen wird. Ansonsten liefert sie nur Vorurteile über eine Grammatik, die es nicht gibt. Sinnvoller ist die Erfassung gelungener Gebrauchsbeispiele, die unabhängig von einer Befragung entstanden sind. Auch deren Systematisierung bleibt natürlich dann Aufgabe der Wissenschaft. Eine sogenannte Kookkurenzanalyse [hierzu ausführlich B. II.] könnte das implizite Wissen der Sprecher explizieren. Eine Befragung kaum. Genauso verfehlt ist die Berufung auf das Wörterbuch. Juristen erwarten, im Lexikon eine Abbildung des Sprachgebrauchs der Gegenwart zu finden. Diese Erwartung wird von der Prägnanz, Kürze und der von der Lexikografie bewusst angestrebten Objektivität unterstützt. Schon die in Lexika vorhandenen vielen Abkürzungen erinnern an den Palandt, der ja unter Juristen als Buch der Bücher gilt. Aber die Objektivität von Lexikografie ist eben nicht mit der Abbildung der Gegenwartssprache gleichzusetzen. Wenn man schon an Wörterbücher glauben will, sollte man auch an die Definition des „Wörterbuchs“ im Wörterbuch glauben. Die Erklärung im DUDEN lautet: „Nachschlagewerk, in dem die Wörter einer Sprache nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt, angeordnet und erklärt sind.“213 Ein Wörterbuch ist also nach bestimmten Gesichtspunkten gestaltet. Es ist keine Schublade, worin schon vorher feststehende In___________ 211 Vgl. dazu grundsätzlich Jacobi, Methodenlehre der Normwirkung, Baden-Baden 2008, S. 78 ff. 212 Vgl. dazu Stein, in: Krüper/Merten/Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, Tübingen 2010, S. 139 f., 140 ff. 213 DUDEN 1999.

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formationen einfach eingeräumt werden. Dies wird in der Lexikologie genauso eingeschätzt: „Lexikografie ist nicht nur die vermeintlich objektive Präsentation von sprachlichen Fakten, nicht nur interesseloses Zusammenstellen von Daten, sondern auch interessenverhaftetes Schreiben von Texten, damit geistige Verarbeitung von Daten zu neuen Informationen und damit Selektion; dies führt zu einem gezielten Angebot 214 potentieller Information.“

Schon die Sprache selbst ist nicht nur passiver Speicher, sondern auch aktive Konstruktion von Wirklichkeit. Dies muss natürlich auch für das Wörterbuch gelten, worin Sprache Objekt- und Metasprache gleichzeitig ist. Der Umstand, dass jedes Wörterbuch mit Sachinformationen und Sprachinformationen arbeiten muss, die nur theoretisch getrennt werden können, macht die Notwendigkeit zu Entscheidungen bei der Artikelkonzeption deutlich. Fassbar werden die notwendige Auswahl und die sie tragenden Gesichtspunkte vor allem bei der Betrachtung von Wörterbuchtypen. Es gibt diachron-entwicklungsbezogene, synchron-zustandsbezogene, gesamtsprachbezogene oder varietätenbezogene, einsprachige oder mehrsprachige, um nur die wichtigsten Funktionen von Wörterbüchern zu nennen215. Wörterbücher haben aber nicht nur Einschränkungen aus ihrer Funktion. Entscheidungen beginnen bereits mit der Auswahl der Stichwörter und der Belege, sowie der Ausführlichkeit ihrer Darbietung. Vor allem aber bei der Konstruktion der Bedeutungsebene zeigt sich die Notwendigkeit von Vorgaben. Früher, als man diese Arbeit noch „händisch“ vorgenommen hat, war dies erkennbar an der Bildung von Belegstapeln und „Zettelkästen“, die sich öfters mal während der Bearbeitung grundlegend veränderten. Zwar geht es häufig nur um Feinheiten, aber natürlich ist sowohl die Auswahl der Belege, als auch ihre anschließende Ordnung von der gesellschaftlichen und individuellen Prägung des Lexikografen und seiner professionellen Kompetenz abhängig. Hierzu kommen noch die wirtschaftlichen Interessen des Verlages, die über Seitenvorgabe und Preis zu vielfältigen Einschränkungen führen. Ein Wörterbuch ist also nicht einfach eine Abbildung sprachlicher Praxis, sondern viel eher eine Fortbildung. In seine Darstellung gehen viele Entscheidungen ein, die nicht nur Ausdruck der jeweiligen Kultur sind, sondern auch selbst kulturbildend wirken.

___________ 214 Wiegand, Wörterbuchforschung. Untersuchungen zur Wörterbuchbenutzung, zur Theorie, Geschichte, Kritik und Automatisierung der Lexikographie, 1. Teilband, Berlin/New York 1998, S. 60 ff. 215 Reichmann, Lexikographie und Kulturgeschichte, in: Lärchner u.a. (Hrsg.), Kleine Enzyklopädie deutscher Sprache, Leipzig 2003, S. 51 ff.; Kühn, Typologie der Wörterbücher nach Benutzungsmöglichkeiten, in: Wörterbücher Bd. 1, Berlin/New York 1989, S. 111 ff.

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A. Der Arbeitnehmer aus dogmatischer Perspektive

b) Bedeutung existiert in Fallreihen oder Kontexten Kein Lexikograf würde beanspruchen, eine Wortlaut„grenze“ zu ziehen. Nur Juristen glauben dies. Wenn sie aber das Wörterbuch einer juristischen Begriffsbildung entgegenhalten wollen, finden sie genau in diesem Wörterbuch die Beispiele des juristischen Gebrauchs. So hat man etwa den weiten Gewaltbegriff des BGH im Rahmen der Nötigung unter Hinweis auf den ‚natürlichen Sprachgebrauch‘ der Wörterbücher kritisieren wollen. Aber die Wörterbücher hatten diesen weiten Gewaltbegriff aus der Rechtsprechung längst in ihre Belegsammlung aufgenommen, ein Zirkelschluss. In modernen Wörterbüchern ist die Heterogenität der Begriffsverwendung und ihr umstrittener Charakter aber dokumentiert. So findet man etwa bei „Gewalt“ auch Hinweise auf die Kritik an dieser weiten Fassung. Gerade darin besteht der Versuch einer Objektivität des Wörterbuchs. Erst der Hinweis auf die Vielfalt sprachlicher Varianten mit entsprechenden Belegen erlaubt es dann den Juristen zu entscheiden, welche Variante sinnvollerweise in den Zusammenhang des Rechts passt. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht den weiten Gewaltbegriff nicht mit dem Hinweis auf den natürlichen Sprachgebrauch zu Fall gebracht, sondern unter Hinweis auf die Systematik. In der juristischen Sichtweise, welche die Semantik des Gesetzes mit der grammatischen Auslegung und diese mit dem Lexikon gleichsetzen will, wird die Objektivität der Lexikografie gerade verkürzt, statt sie zu nutzen. Man kann also die juristische Arbeit an Fallreihen nicht durch die Berufung auf die eigene Sprachkompetenz oder das Wörterbuch ersetzen. Bisher konnten Juristen bequem ihre eigene Auffassung einer Wortbedeutung an die Stelle des Gesetzes rücken. So hat man Art. 14 GG als Maßstab der Steuergesetzgebung herangezogen. Aus der Wendung „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ hat man dann eine Belastungsgrenze abgeleitet. Diese müsse irgendwo in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen Bürger und öffentlicher Hand verbleiben.216 Natürlich ist „hälftige Teilung“ eine sinnvolle Gebrauchsweise von „zugleich“. Aber es ist sicher nicht die einzige. Hier wird die juristische Argumentation also nicht enden, sondern beginnen. Wenn man die sprachlichen Regelmäßigkeiten im Wege einer Kontext- oder Kookurrenzanalyse empirisch untersucht, stößt man tatsächlich auf Fallgruppen sprachlicher Umgebungen [C. II.]. Wörter erscheinen immer in einer Umgebung anderer Wörter. Diese Umgebung ist von Wertungen bestimmt. Nicht von der Wertung des Richters oder einer von der Philosophie her vorgegebenen objektiven Wertung. Es sind die Wertungen der ___________ 216 Vgl. dazu Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, in: AöR 2003, S. 1 ff., 19 f.; Ablehnend BFH BStbl II 1999, S. 771; Eschenbach, DStZ 1997, 413, 414; Tipke, MDR 1995, 1177, 1179. Grundsätzlich Beyer, Die Freiheitsrechte, insbesondere die Eigentumsfreiheit, als Kontrollmaßstab für die Einkommensbesteuerung, Berlin 2004, S. 147 ff.

V. Die Tragfähigkeit typologischer Begriffsbildung

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beteiligten Sprecher. Diese sind nicht homogen, sondern wie die Kontexte pluralistisch. Mit diesen Wertungen muss der Richter arbeiten und sich in seiner Urteilsbegründung auseinandersetzen. Das ist mehr als die von Rüthers geforderte Offenlegung. Die Wertung des Richters wird vielmehr an anderen Wertungen überprüft, die in den sprachlichen Kontexten aufgefunden werden können. Sprache wird nicht über abstrakte Regeln gesteuert, Regeln ergeben sich flexibel aus der prinzipiell kontingenten sprachlich-kulturellen Praxis. Sprache ist die Verknüpfung gelungener Kommunikationserfahrungen unter mitlaufender normativer Wertung der Sprecher. Die Kontexte, in denen diese Wertungen stecken, lassen sich über neue Methoden der Korpuslinguistik untersuchen. Das Recht muss sie nutzen. Als Zwischenergebnis kann somit festgehalten werden: Die Typenlehre hat gegenüber dem Gesetzespositivismus Recht – mit gesetzlichen Definitionen kann man keine Urteile machen. Man braucht dazu Wertungen. Sie hat Unrecht, wenn sie diese Wertungen aus einem holistischen Erkenntnismodell ableiten will. Deswegen bedarf es einer sprachlichen Kritik, die allerdings nicht einfach zur feststehenden sprachlichen Regel zurückkehren kann. Natürlich muss am Ende des Falles subsumiert werden. Ohne Subsumtion keine Gesetzesbindung. Und natürlich muss, bevor man den logischen Mechanismus anwirft, die Semantik des Textes feststehen. Denn Logik ist Rechnen und Rechnen lässt sich eben nur mit festen Größen. Aber das schließt eine begriffliche Arbeit nicht aus. Man darf zunächst nicht die Begriffsbildung der Subsumtion gegenüberstellen. Vielmehr ist die Begriffsbildung daran zu messen, ob sie der Logik ein ausreichendes argumentatives Material bereitstellt. Das Problem liegt also auf der Ebene der Argumentation und nicht der Subsumtion. Wenn man die Begriffe als etwas Vorgegebenes betrachtet, wird die entscheidende Ebene der Argumentation ausgeblendet. Logik bedarf der Beschaffung von Prämissen durch Argumentation. Dies wird von der logisch-semantischen Kritik verfehlt. Die typologische Begriffsbildung deckt damit das Problem einer fallgruppenbezogenen Semantik auf, ohne es allerdings zu lösen. Genau diese Problemstellung wird von der rechtstheoretischen Kritik an der typologischen Begriffsbildung wieder zugedeckt. Deswegen muss die typologische Begriffsbildung sowohl verteidigt, als auch weiterentwickelt werden.

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B. Korpuslinguistik: Einführung für Rechtswissenschaftler

B. Korpuslinguistik − eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler217 Im Folgenden werden wir kurz in die Entwicklungsgeschichte (I.) und Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik (II.) einführen sowie anschließend einen korpuslinguistischen Blick auf die Musterhaftigkeit juristischer Sprach- und Textarbeit wagen (III.).

I. Korpuslinguistik: Kurze Geschichte einer jungen Teildisziplin Als neue Teildisziplin bzw. Methode im Fundus der Linguistik hat sich zunächst in den angelsächsischen, in den letzten 15-20 Jahren auch in deutschsprachigen Ländern die Korpuslinguistik einen Namen gemacht und eine Fülle neuer methodischer Ansätze zur Untersuchung sprachlicher Phänomene entwickelt. Als Korpuslinguistik bezeichnet man lehrbuchmäßig „die Beschreibung von Äußerungen natürlicher Sprachen, ihrer Elemente und Strukturen, und die darauf aufbauende Theoriebildung auf der Grundlage von Analysen authentischer Texte, die in Korpora zusammengefasst sind. [...].“218

Gemeinsam ist diesen Ansätzen insbesondere eine Kritik an der Sprachintuition der generativen Grammatik als Quelle linguistischer Erkenntnis sowie der Fokus auf die Beschreibung authentischer219 Sprachdaten, d.h. sprachlicher Performanz in großen Textkorpora. Die Anfänge der Korpuslinguistik220 gehen – je nach Anschauung – zurück bis in die mittelalterliche Zeit221, als erste Bibel-Konkordanzen auch für ___________ 217

Die nachfolgenden Ausführungen dieses Kapitels beruhen teilweise auf früheren, bereits erschienenen Arbeiten, die jedoch aktualisiert und um weitere Illustrationen sowie rechtslinguistische Forschungsergebnisse erheblich erweitert wurden: Vogel, Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Felder/Müller/Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012, S. 314–353; Vogel, Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (1), 2012, 129–165. 218 Lemnitzer/Zinsmeister, Korpuslinguistik. Eine Einführung, 2., durchges. und aktualisierte Aufl., Tübingen 2010, S. 9. Vgl. auch Kallmeyer/Zifonun, (Hrsg.), Sprachkorpora – Datenmengen Und Erkenntnisfortschritt, Berlin/New York 2007. 219 Das heißt: keine Funktionssprachen (wie Programmiersprachen) oder anderweitig manipulierter Daten. 220 Vgl. auch Teubert/Cermakova, Corpus linguistics. A short introduction, London 2007.

I. Korpuslinguistik: Kurze Geschichte einer jungen Teildisziplin

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sprachwissenschaftliche Fragestellungen geschrieben wurden. Diese BibelKonkordanzen lagen seit dem 15. Jh. in unterschiedlichen Sprachen vor; zu den bekanntesten gehören die akribischen Aufzeichnungen von Cruden im 18. Jahrhundert. „For instance, he has separate entries for anoint, anointed, and anointing as well as his anointed, Lord’s anointed, and mine anointed. For each entry, he lists where in the Bible the entry can be found along with several words preceding and following the entry.“222

Damit kommen Art und Zweck dieser historischen, nicht-elektronischen Konkordanzen als Textsammlungen bereits sehr nahe an heutige computergestützte Konkordanzen (vgl. nachfolgendes Kapitel). Frühe Formen der Korpuslinguistik finden sich auch bei englischen Grammatik-Schreibern sowie in der frühen Lexikographie, bei der Zitate zunächst willkürlich, dann immer systematischer gesammelt und ausgewertet wurden. Sie bildeten im Grunde die Vorläufer nachfolgender Zettelkästen, nämlich als Sammlungen von Exzerpten mit Angaben zu Datum, Autor/Sprecher, Medium usw. 1897 nutzte der Germanist Kaeding ein für damalige Zeiten kaum vorstellbares Korpus aus etwa 11 Mio. Wörtern zur Analyse von GraphemKonstruktionen (Elemente des Schriftsystems) und darauf aufbauend für die Entwicklung eines Häufigkeitswörterbuchs bzw. eines Stenographiesystems für das Deutsche. 223 Im englischsprachigen Bereich werden insbesondere die Namen Boas, Harris, Fries, Bloomfield und andere mit frühen Formen der Korpuslinguistik verbunden. Das für die spätere Forschung einflussreichste nichtelektronische Korpus wurde das „Survey of English Usage (SEU) Corpus“, das ab 1959 im Rahmen eines Gutachtens zum Sprachgebrauch des Englischen (University College London) und unter der Aufsicht von Randolph Quirk entwickelt wurde. Quirk stellte ein Großtextkorpus zu geschriebener und gesprochener (transkribierter) Sprache zusammen, das eine breite Palette unterschiedlicher kommunikativer Domänen, Gattungen und Kontexte abzubilden versuchte. Es umfasst etwa 1 Mio. Wörter. Zur Frühphase der Korpuslinguistik zählt auch insbesondere das erste computergestützte Korpus, das an der Brown University als „Standard Corpus of Present-Day American English“ (häufig nur: „Brown-Corpus“) unter der Leitung von Francis / Kucera 1961 begonnen und 1979 fertig gestellt wurde. ___________ 221

Meyer, Pre-electronic corpora. in: Lüdeling/Kytö (Hrsg.), Corpus linguistics. An international handbook, 2 Bde., Berlin/New York 2008 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 29.1), S. 1–14. 222 Ebd., S. 2. 223 Kaeding (Hrsg.), Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache. Festgestellt durch einen Arbeitsausschuß der deutschen Stenographiesysteme, Berlin, 1898.

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B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler „This Standard Corpus of Present-Day American English consists of 1,014,312 words of running text of edited English prose printed in the United States during the calendar year 1961. So far as it has been possible to determine, the writers were native speakers of American English. Although all of the material first appeared in print in the year 1961, some of it was undoubtedly written earlier. However, no material known to be a second edition or reprint of earlier text has been included.“ 224

Etwa zeitgleich begann Chomsky mit einer scharfen Kritik der Korpuslinguistik und entspann damit in den 60er und 70er Jahren einen grundlegenden Methodenstreit, der nicht nur die Frühphase von der modernen Korpuslinguistik (ab den 80er Jahren) trennte, sondern der bis heute in verschiedenen Spielarten fortdauert. Kern der Auseinandersetzung bildete die Frage nach der Rolle empirischer Daten bzw. der Relevanz konkreten Sprachgebrauchs (Performanz) für die Entwicklung sprachwissenschaftlicher Theorie. Der kognitive Linguist Fillmore hat diese Diskussion und mögliche Lösung einmal wie folgt sehr treffend zusammengefasst225: „Armchair linguistics [=‚Lehnstuhl-Linguisten‘, FV] does not have a good name in some linguistics circles. A caricature of the armchair linguist is something like this. He sits in a deep soft comfortable armchair, with his eyes closed and his hands clasped behind his head. Once in a while he opens his eyes, sits up abruptly shouting, ,Wow, what a neat fact!‘ , grabs his pencil, and writes something down. Then he paces around for a few hours in the excitement of having come still closer to knowing what language is really like. (There isn't anybody exactly like this, but there are some approximations.) [...] Corpus linguistics does not have a good name in some linguistics circles. A caricature of the corpus linguist is something like this. He has all of the primary facts that he needs, in the form of a corpus of approximately one zillion running words, and he sees his job as that of deriving secondary facts from his primary facts. At the moment he is busy determining the relative frequencies of the eleven parts of speech as the first word of a sentence versus as the second word of a sentence. (There isn't anybody exactly like this, but there are some approximations.) [...] These two don't speak to each other very often, but when they do, the corpus linguist says to the armchair linguist, ,Why should I think that what you tell me is true?‘, and the armchair linguist says to the corpus linguist, ,Why should I think that what you tell me is interesting?‘ [...] I have two main Observations to make. The first is that I don't think there can be any corpora, however large, that contain information about all of the areas of English lexicon and grammar that I want to explore; all that I have seen are inadequate. The second observation is that every corpus that I've had a chance to examine, however small, has taught me facts that I couldn 't imagine finding out about in any other way. My con-

___________ 224

http://icame.uib.no/brown/bcm.html (19.05.2013). Fillmore, ‚Corpus linguistics‘ vs. ‚Computer-aided armchair linguistics‘, in: Svartvik (Hrsg.), Directions in Corpus Linguistics. Proceedings of Nobel Symposium 82, Stockholm, 4-8 August 1991, S. 35ff. Vgl. zur Debatte auch Teubert, Language and corpus linguistics, in: Halliday (Hrsg.), Lexicology and corpus linguistics. An introduction, London 2004, S. 98ff. sowie Lehmann, Daten – Korpora – Dokumentation, in: Kallmeyer/Zifonun (Hrsg.), Sprachkorpora – Datenmengen Und Erkenntnisfortschritt, 2007, S. 9–27. 225

I. Korpuslinguistik: Kurze Geschichte einer jungen Teildisziplin

75

clusion is that the two kinds of linguists need each other. Or better, that the two kinds of linguists, wherever possible. should exist in the same body.“

Mit den 70er und 80er haben korpuslinguistische Ansätze – parallel zur Entwicklung neuer Informationstechnologien sowie computerlinguistischer Verfahren226 – einen enormen Zuwachs erfahren. Mit dem „increasing interest of language researchers in language use as opposed to language systems in abstracto“ wurde schließlich 1983 bzw. 1980 die heute leitende Bezeichnung corpus linguistics durch den Niederländer Aarts eingeführt. 227 Seitdem ist der kontrollierte Aufbau von Forschungskorpora, ihre Aufbereitung und maschinelle Auswertung wichtiger Bestandteil der korpuslinguistischen Forschung. Erstmals systematisch in der Sprachwissenschaft hat sich die korpuslinguistische Theoriebildung darum bemüht, Korpora analytisch zu erfassen und Beschreibungskategorien zu entwickeln. Korpora werden demnach konzeptualisiert als „eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen. Die Daten des Korpus sind typischerweise digitalisiert, d.h. auf Rechnern gespeichert und maschinenlesbar. Die Bestandteile des Korpus, die Texte, bestehen aus den Daten selbst sowie möglicherweise aus Metadaten, die diese Daten beschreiben, und aus linguistischen Annotationen, die diesen Daten zugeordnet sind.“228

Korpora lassen sich mit Lemnitzer/Zinsmeister229 unter anderem nach folgenden Kriterien differenzieren: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Funktionalität (Untersuchungszweck des Korpus); Sprachenauswahl (mono-, bi-, multilingual; Parallelkorpus vs. Vergleichskorpus); Medium (Korpus aus schriftsprachlichen Texten, Transkripten, Audio- und Videoaufnahmen usw.); Größe (von wenigen hundert bis mehreren Milliarden Wortformen); Annotation (Anreicherung der Primärdaten mit linguistischen Zusatzinformationen wie Wortart, Satzstruktur, semantische Kategorie usw.); Persistenz (statisches Korpus vs. diachron aktualisiertes Monitorkorpus); Sprachbezug (Referenzkorpus versus Spezialkorpus); Verfügbarkeit (öffentlich, lizensiert, nicht-zugänglich usw.).

___________ 226

Dipper, Theory-driven and corpus-driven computational linguistics, and the use of corpora, in: Lüdeling/Kytö (Hrsg.), Corpus linguistics. An international handbook, 2 Bde., Berlin/New York 2008 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 29.1), S. 68–96. 227 Johansson, Some aspects of the development of corpus linguistics in the 1970s and 1980s, in: Lüdeling/Kytö (Hrsg.), Corpus linguistics. An international handbook, 2 Bde., Berlin/New York 2008 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 29.1), S. 33f. 228 Lemnitzer/Zinsmeister, Korpuslinguistik. Eine Einführung, 2., durchges. und aktualisierte Aufl. Tübingen 2010, S. 7. 229 Ebd., S. 103ff.

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B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler

Während viele Aufgaben in der Anfangszeit auf Grund mangelnder Computerisierung der Lebenswelt mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden waren, um auch nur kleinere Textmengen digitalisiert zu sammeln, liegt im Zeitalter des Internets die heutige Herausforderung mehr an der spezifischen Filterung, Kontrolle und nachhaltigen Bereitstellung (z.B. im Umgang mit Urheberrechtsfragen) eigentlich leicht zugänglicher Massendaten. Die Liste heutiger Textsammlungen ist kaum mehr überschaubar. Hervorzuheben sind aber insbesondere die sehr großen Referenzkorpora, die für ihre jeweilige Referenzsprache den Anspruch haben, annäherungsweise alle zentralen Kontexte des öffentlichen und nicht-öffentlichen Sprachgebrauchs einer bestimmten Zeit abzubilden:    

  

British National Corpus, BNC230, umfasst etwa 100 Mio. Wortformen. The corpus of contemporary American English, COCA (Brigham Young University )231 mit 450 Mio. Wortformen. Deutsches Referenzkorpus, DeReKo232 (Institut für Deutsche Sprache in Mannheim): Größtes deutschsprachiges und stetig erweitertes Korpus mit über 5,4 Milliarden Wortformen (Stand 29.02.2012). DWDS233-Korpus (Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) mit einem Kernkorpus von 100 Mio. Wortformen im Rahmen eines kontinuierlich erweiterten Korpus mit derzeit etwa 2,5 Milliarden Wortformen. Schweizer Textkorpus, analog zum DWDS-Korpus mit 100 Mio. Wortformen. Base textuelle Frantext (cnrs/Universität von Lorraine)234 mit etwa 115 Mio. Wortformen zur französischen Sprache. u.a.

Insbesondere zur Untersuchung von Phänomenen der Gemein- bzw. Standardsprache lassen sich mittlerweile die großen Referenzkorpora heranziehen. Für Fragen zu Fachsprachen oder mündlicher Sprache235 liegen hingegen nur deutlich geringere Textmengen vor. Zur Rechtssprache wird derzeit unter der Leitung von Vogel ein „Juristisches Referenzkorpus des deutschsprachigen Rechts“ (JuReKo) entwickelt, das sowohl Texte der Rechtsprechung als auch ___________ 230

http://www.natcorp.ox.ac.uk/ (19.05.2013). http://corpus.byu.edu/coca/ (19.05.2013). http://www.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora/ (19.05.2013). 233 DWDS = „Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts“, http://www.dwds.de/ (19.05.2013). 234 http://www.frantext.fr/ (19.05.2013). 235 Vgl. dazu die Korpora des Archiv für Gesprochenes Deutsch am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (http://agd.ids-mannheim.de/index.shtml; 21.05.2013). 231 232

I. Korpuslinguistik: Kurze Geschichte einer jungen Teildisziplin

77

der rechtswissenschaftlichen Kommentar- und Aufsatzliteratur und der Gesetzgebung enthalten soll236. Für einzelne korpuslinguistische Fragen lässt sich prinzipiell auch auf das World-Wide-Web als Korpus237 und auf öffentliche Suchmaschinen („googeln“) zurückgreifen. Allerdings bleibt dabei in der Regel völlig unklar, welche Texte der Analyse zugrunde gelegt werden, welche Webseiten die Suchmaschine wie auswertet238 und aus Werbegründen hervorhebt oder andere aus welchen Gründen vernachlässigt. Die Frequenzangaben etwa bei Google sind immer nur ungefähre Schätzungen, der Gesamtbestand der Belege bleibt in der Regel (schon aus kommerziellen Gründen) verborgen. Kurz: Das Internet ist eine mögliche, schier unbegrenzte Textquelle, sollte aber „online“, also ohne lokale Aufbereitung und Kontrolle der Texte nur sehr behutsam für analytische Zwecke eingesetzt werden. Auch der Anwendungsbereich der Korpuslinguistik wurde stark erweitert: Lag der Fokus zu Beginn vor allem allgemein auf lexikographischen, grammatischen und Spracherwerbs-Fragen, finden korpuslinguistische Ansätze mittlerweile auch Anwendungen etwa auf literaturwissenschaftliche239, pragmatische240, diskurs- und imageanalytische241 oder rechtslinguistische bzw. rechtsdogmatische Problemkomplexe242. ___________ 236

http://www.jureko.de (19.05.2013). Vgl. etwa „Web as Corpus“ (http://www.webcorp.org.uk/live/; 21.05.2013). 238 Nicht alle Suchmaschinen indizieren (‚lesen und speichern‘) den kompletten Inhalt einer Webseite, sondern begnügen sich zum Beispiel nur mit Inhaltswörtern, dem Titel der Seite oder deren Metadaten. 239 Vgl. etwa Biber, Corpus linguistics and the study of literature: Back to the future?, in: Scientific Study of Literature. The Future of Scientific Studies in Literature, 2011, S. 15–23; Fischer-Starcke, Corpus linguistics in literary analysis. Jane Austen and her contemporaries, London/New York, 2011 (Corpus and discourse. Studies in corpus and discourse). 240 Im Überblick: Felder/Müller/Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012. 241 Baker, Using corpora in discourse analysis, London 2006; Bubenhofer, Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse, (Sprache und Wissen 4). 1. Aufl., Ort? 2009; Senkbeil, Ideology in American sports. Heidelberg 2011 (American studies, 212); Vogel, Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (1), 2012, 129–165; Vogel, Deutsche Sprache (4), 2010, 345–377 und andere. 242 Vgl. Vogel, Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Felder/Müller/Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012, S. 314–353; Mouritsen, Brigham Young University Law Review, 2010, 1915–1980; Mouritsen, The Columbia. Science and Technology Law Review (8), 2011, 156–205; Vogel/Pötters (2015) „im wesentlichen frei“. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive, in: Vogel (Hrsg.), Zugänge zur Rechtssemantik. Interdisziplinäre Ansätze im Zeitalter der Mediatisierung, Boston/New York. 237

78

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler

Weiterhin umstritten ist der Status der Korpuslinguistik innerhalb der Sprachwissenschaft243: handelt es sich nur um eine effektive, komplementäre Methodik244 oder um eine eigenständige Subdisziplin245. Gegen den disziplinären Charakter der Korpuslinguistik spricht etwa, dass sie keinen vergleichbar abgrenzbaren Phänomen- und Untersuchungsbereich vorweisen kann wie etwa die Grammatik (Verknüpfungen), Semantik (Bedeutungslehre) oder Soziolinguistik (Varietätendifferenzierung). Für den disziplinären Charakter spricht allerdings, dass die Korpuslinguistik nicht nur einen kontrastiven Blick auf die sprachlichen Untersuchungsgegenstände und damit auf deren Schematisierung erlaubt, sondern auch zunehmend zu einer eigenen Theoriebildung beiträgt, die neue Aspekte des Sprachgebrauchs und des damit verbundenen kognitiven Apparats hervorbringt.246 Seit einigen Jahren liegen schließlich auch verschiedene Einführungswerke und Handbücher sowohl im Print- als auch in Online-Formaten vor. Zur Orientierung (auch für Nicht-Linguisten) sei hierbei folgende Literatur ans Herz gelegt: 

Perkuhn/Keibel/Kupietz, Korpuslinguistik, Paderborn 2012 (LIBAC, 3433).  Lemnitzer/Zinsmeister, Korpuslinguistik. Eine Einführung, 2., durchges. und aktualisierte Aufl. Tübingen 2010.  Lüdeling/Kytö (Hrsg.), Corpus linguistics. An international handbook 2. Vol., Berlin/New York: 2008-2009 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 29).  Burr, Bibliographie zur Korpuslinguistik, online verfügbar unter http://www.uni-leipzig.de/~burr/CorpusLing/Bibl.htm, zuletzt aktualisiert am 20.10.2008, zuletzt geprüft am 22.08.2012.  Bubenhofer, Einführung in die Korpuslinguistik: Praktische Grundlagen und Werkzeuge, online verfügbar unter http://www.bubenhofer.com/ korpuslinguistik/, zuletzt geprüft am 20.08.2012.  Stede, Korpusgestützte Textanalyse. Grundzüge der Ebenen-orientierten Textlinguistik, Tübingen 2007 (Narr Studienbücher).  Teubert/Cermakova, Corpus linguistics. A short introduction. London [u.a.]: 2007. ___________

243 McEnery/Wilson, Corpus Linguistics. An introduction, Edinburgh 1997 (Edinburgh textbooks in empirical linguistics). 244 Berthele, Zur linguistischen Sinnsuche in- und ausserhalb von schriftsprachlichen Korpora. Eine Replik auf Wolfgang Teuberts Beitrag, in: Linguistik online, 28, 2006, hrsg. v. Hentschel. Linguistik online. Online verfügbar unter http://www.linguistikonline.de/28_06/berthele.html. 245 Tognini-Bonelli, Corpus linguistics at work, Amsterdam/Philadelphia 2001 (Studies in corpus linguistics, 6). 246 Vgl. hierzu: Perkuhn/Keibel/Kupietz, Korpuslinguistik, Paderborn 2012 (LIBAC, 3433).

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik

  

79

Scherer, Korpuslinguistik (= Kurze Einführungen in die Germanistische Linguistik 2), Heidelberg 2006. Biber/Conrad/Reppen, Corpus Linguistics: Investigating Language Structure and Use, Cambridge 1998. McEnery/Wilson, Corpus Linguistics. An introduction. Repr. Edinburgh: 1997 (Edinburgh textbooks in empirical linguistics).

Eine umfangreiche Link-Sammlung zu Bibliographien, Korpora und Software findet sich schließlich auf den Seiten der Korpuslinguistin Lüdeling unter: http://www.linguistik.hu-berlin.de/institut/professuren/korpuslinguistik/links (19.05.2013).

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik Zur Analyse von Korpora konkurrieren oder – je nach Lesart – ergänzen sich in der Korpuslinguistik zwei methodische Verfahrenskonzepte, die in der Literatur als Analyse „Corpus-based“ versus „Corpus-driven“ kontrovers diskutiert werden247. Corpus-based beschreibt ein Verfahren, das vor allem zur Prüfung bereits bestehender Hypothesen herangezogen wird. Korpora, heißt das, werden punktuell befragt, zum Beispiel ob die Lawrie-Blum-Formel des EuGH zur Bestimmung des Arbeitnehmer-Begriffs in Rechtsprechungstexten nationaler Gerichte mit der Zeit häufiger aufgegriffen, also zitiert wird oder nicht. Dem entgegnend versucht eine corpus-driven orientierte Analyse die Sprachdaten der Korpora selbst als Grundlage zur Hypothesengenerierung zu nutzen und möglichst keine oder nur wenige Vorannahmen zu treffen; die Daten sollen ‚für sich selbst sprechen‘.248 Corpus-Driven nutzt dabei originär computer- und korpuslinguistische Methoden, um die Korpusdaten für eine qualitative Analyse aposteriori vorzustrukturieren. Zu diesem Zweck lässt sich etwa automatisch berechnen, welche Wörter überzufällig häufig in einem Korpus gegenüber einem anderen Vergleichskorpus vorkommen und damit als potentiell ‚typisch‘ gelten können (vgl. zu „Keywords“ unten). – Die Stärke dieses Vorgehens liegt in dem potentiell vorurteilsfreien Zugang zu den Sprachdaten und deren Musterhaftigkeit (vgl. nächstes Kapitel). Falsch wäre jedoch zu behaupten, die induktiv errechneten Sprachmuster seien an sich das Ergebnis (von Ausnahmen abgesehen); die Relevanzeinschätzung und situative Einordnung von einzelnen Mustern bleibt in der qualitativen Auswertung immer dem denkenden Subjekt auferlegt. Andernfalls sind die ___________ 247 Vgl. Teubert, Language and corpus linguistics, in: Halliday (Hrsg.), Lexicology and corpus linguistics. An introduction, London 2004 (Open linguistics series), S. 112. 248 Tognini-Bonelli, Corpus linguistics at work, Amsterdam/Philadelphia 2001 (Studies in corpus linguistics, 6), S. 84.

80

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler

Analysen nicht mehr als ein Nebeneinanderstellen von vieldeutbaren Häufigkeiten, die für originär sprachstatistische Fragen interessant sein können, für ein qualitatives Erkenntnisinteresse in der Regel aber nicht ausreichen249. Während die Widersprüche dieser beiden Zugänge früher stärker hervorgehoben wurden, ist heute weitestgehend unstrittig, dass korpuslinguistische Analysen in einem abduktiven Prozess immer im Wechsel corpus driven (Hypothesen-Generierung) und corpus based (punktuelle Hypothesen-Prüfung und Ergebnis-Differenzierung) vorgehen müssen. In den letzten Jahrzehnten wurden parallel zur Entstehung neuer computertechnischer Möglichkeiten zahlreiche korpuslinguistische Hilfsmittel und Instrumente (Algorithmen, Software) entwickelt, die in erster Linie einem Zweck dienen: der automatischen Berechnung und Identifizierung jener sprachlichen Muster, die in einer einzeltextorientierten und intuitiv geleiteten Untersuchung gerade nicht oder nur zufällig aufgefunden werden könnten. Die besondere Leistungsfähigkeit der verschiedenen Hilfsmittel liegt dabei in der kontrastiven Visibilisierung von Ko(n)textstrukturen, also dem Aufzeigen wiederkehrender Gebrauchskontexte eines Wortes oder Satzes. – Wittgenstein250 hatte postuliert, die Bedeutung eines Wortes liege in seinem (regelhaftem) Gebrauch in der Sprache. Ein Wort zu verstehen heißt, es situativ angemessen (kontextsensitiv) zu verwenden. Kann man also umgekehrt den Kontext beschreiben, in dem ein Wort regelmäßig gebraucht wird, so gelangt man auch zu einer Paraphrasierung dessen, was mit dem untersuchten Wort gemeint sein könnte. Die reine Introspektion ist jedoch nicht in der Lage, alle oder auch nur eine Großzahl von Gebrauchskontexten eines Wortes zu erdenken. Sie muss es nunmehr auch nicht, denn korpuslinguistische Methoden erlauben genau dies: die Strukturierung und Sortierung von einer nur durch die Datenmenge und die Rechenleistung begrenzten Menge an sprachlichen Kontexten. Das methodische Set umfasst u.a.251 ausgefeilte Suchmaschinen und komplexe Suchanfragen, Konkordanz, sog. N-Gram- und Cluster-Analysen sowie Kollokationen- bzw. Kookkurrenzanalysen. 

Ein Großteil der Systeme erlaubt mit Hilfe einer speziellen Syntax (weit verbreitet z.B. sog. „reguläre Ausdrücke“) komplexe Suchanfragen, um be-

___________ 249

Vgl. dagegen neuerdings: Teubert, Von der Korpuslinguistik zur Analyse thematischer Diskurse, in: Felder/Müller/Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012, S. 231–279. 250 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, 15. Aufl., hrsg. v. Joachim Schulte. Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 501), § 40. 251 Vgl. zur Einführung: Baker, Using corpora in discourse analysis. London 2006; Belica/Steyer, Korpusanalytische Zugänge zu sprachlichem Usus, in: Marie Vachková (Hrsg.), Beiträge zur bilingualen Lexikographie. Praha 2008, S. 7–24.

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik

81

stimmte Sprachelemente aufzufinden. Die Ergebnisse werden in der Regel in Form von Konkordanzen, also zeilenweiser Darstellung des gesuchten Ausdrucks samt seines unmittelbaren Kotextes (auch „KWICs“ = „Kewords in Context“) aufbereitet und lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien sortieren. Die beiden nachfolgenden Screenshots zeigen die alphabetisch sortierte Konkordanz-Aufbereitung der Freeware AntConc)252 sowie eine grammatisch spezifizierte Suchanfrage mittels der OnlineAnalyseplattform Cosmas II des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim253:

Screenshot: Konkordanzen sortiert in AntConc

___________ 252 Anthony, AntConc (3.2.4w) [Computer Software]. Waseda University. Tokyo. Online verfügbar unter http://www.antlab.sci.waseda.ac.jp/, zuletzt geprüft am 22.05.2013. 253 http://www.ids-mannheim.de/cosmas2/ (04.07.2013).

82

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler

Screenshot: Konkordanzen sortiert in AntConc (Arbeit + Modalverb)



Die automatische Erstellung von Wortlisten dient dazu, sämtliche Wortformen eines Korpus zu gruppieren und zu zählen. Während das Zählen keine Probleme darstellt, hängt das Gruppieren von der automatischen Zerteilung eines Textes in seine Wortelemente („Tokenisieren“ bzw. als Algorithmus: „Tokenizer“) ab. So macht es einen Unterschied, ob Sonderzeichen eliminiert werden (in Internet-Chat-Texten fallen damit z.B. Emoticons bzw. Smilies :-) heraus), ob zwischen Groß- und Kleinschreibung differenziert und beides zu einer Gruppe verallgemeinert wird (im Falle von Chat-Kommunikation verschwinden damit Elemente, die durch Majuskel paraverbale BETONUNG anzeigen) oder zum Beispiel Bindestrichkomposita getrennt werden (Internet-Chat-Texte als ein Lemma oder als drei verschiedene Lemmata?) usw. Wortlisten dienen häufig für Vergleichsstudien zum Wortschatz eines Korpus. Der folgende Screenshot von AntConc zeigt nach Häufigkeit sortiert die häufigsten Ausdrücke unseres Arbeitsrechtskorpus sowie die Gesamtzahl der Wortformen in der oberen rechten Ecke des Bildes (22,43 Mio. Wortformen):

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik

83

Screenshot: AntConc-Wortliste zum Wortschatz des Arbeitsrechtskorpus (vgl. unten)



Eine Keyword-Liste dagegen enthält nur jene Wörter, die im statistischen Sinne überzufällig häufig in einem Primärkorpus als im Vergleich zu einem Referenzkorpus vorkommen. „Keywords“ sind also Wörter, die relativ zur jeweiligen Korpusgröße typisch für das eine und untypisch für das andere Korpus sind. Für diesen Zweck werden zu den beiden Korpora jeweils Wortlisten (vgl. o.) erstellt und diese mit Hilfe statistischer Signifikanztests (z.B. dem Chi-Square-Test) und relativ zur jeweiligen Korpusgröße kontrastiv miteinander verrechnet. Die nachfolgenden Schaubilder sollen dieses Prinzip und seine Reichweite illustrieren:

84

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler Wortliste – Primärkorpus Rang

1 2 3 4 5

f

50 5 3 100 45

Wortliste – Referenzkorpus

Ausdruck

Rang

a b c d e

1 2 3 4 5

Vergleich

f

5 2 3 99 30

Ausdruck

a b c d e

Keywords Rang CHI

1 2 3 4 5

8,012 6,316 1,345 1,243 0,326

Ausdruck

a e b c d

Abbildung: Schematische Darstellung einer Keyword-Analyse

Screenshot: Keywords eines Korpus mit Wahlkampfäußerungen von Atomkraft-Gegnern

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik

85

Screenshot: Keywords eines Korpus mit Wahlkampfäußerungen von Atomkraft-Befürwortern



Sogenannte N-Gram- oder Cluster-Analysen suchen, gruppieren und zählen Einheiten von mehr als einem Wort. Je nach Anzahl der Wörter unterscheidet man Bi-Gramme (Zweiworteinheiten), Tri-Gramme (Dreiworteinheiten) usw. Bei N-Gram-Analysen werden alle Korpustexte in Einheiten der Größe N zerlegt und diese Einheiten gezählt. Der vorausgehende Satz lässt sich z.B. in folgende Trigramme zerlegen: Trigramm

Frequenz

Bei N-Gram-Analysen werden

1

N-Gram-Analysen werden alle

1

alle Korpustexte in

1

Korpustexte in Einheiten

1

Im Falle von N-Cluster werden alle jene Mehrworteinheiten der Größe N gesucht und gezählt, die einen bestimmten Suchausdruck enthalten. Im letzten Absatz finden sich etwa folgende Cluster der Größe zwei mit dem Suchausdruck und:

86

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler Bigramm

Frequenz

gruppieren und

1

und zählen

1

zerlegt und

1

und diese

1

Mit der Ermittlung von Mehrworteinheiten können auch komplexere Sprachmuster zum Beispiel als Spuren von festgefügten Redewendungen oder Argumentationsroutinen (z.B. zwar X, doch Y) untersucht werden. 

Kookkurrenzanalysen254 sind ein weiteres mächtiges Werkzeug zur Analyse von sprachlichen Kontextmustern. Kookkurrenzen sind einzelne Wörter (nicht Mehrworteinheiten), die in einem bestimmten Intervall rechts und links von einem Suchausdruck statistisch überzufällig häufig vorkommen. Technisch gesehen sucht das Programm nach allen Belegen eines Suchausdrucks und gruppiert und zählt die Wörter (Kookkurrenzen), die vor und nach dem Suchausdruck stehen, und wertet die Kookkurrenzliste am Ende mit Hilfe statistischer Signifikanztests unter Berücksichtigung von Korpusgröße und Verteilungswahrscheinlichkeiten aus. Der Signifikanzwert (z.B. Chi-Square (X2) oder Log-Likelihood-Ratio (LLR)) gibt vereinfacht gesagt den ‚Kohäsions- oder Bindungsgrad‘ zwischen zwei Ausdrücken an. Der nachfolgende Screenshot illustriert die sehr ausgefeilte Kookkurrenzanalyse von Cosmas II zum Startausdruck Arbeitnehmer:

___________ 254 Steyer, Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Zum linguistischen Erklärungspotenzial der korpusbasierten Kookkurrenzanalyse, in: Stickel/Hass-Zumkehr/Kallmeyer/Zifonun (Hrsg.), Ansichten der deutschen Sprache. Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 215–236.

II. Methoden, Software und Algorithmen der Korpuslinguistik

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Screenshot: Kookkurrenzanalyse zum Startausdruck Arbeitnehmer mithilfe von Cosmas II des Instituts für deutsche Sprache (Mannheim)

Kookkurrenzanalysen lassen sich auch stufenweise schachteln, so dass von einem einzelnen Ausdruck aus beginnend schrittweise und systematisch der typische Gebrauchskontext dieses Ausdrucks erschlossen werden kann. Derartige „Kookkurrenznetze“ werden häufig auch als Netzwerk-Graphen visualisiert:

Schaubild: Visualisierung einer zweistufigen Kookkurrenzanalyse zum Ausdruck offenbar in einem Korpus zum sog. Amoklauf von Winnenden (das Modalwort offenbar war zu Beginn der Berichterstattung sehr dominant und verwies auf die anfänglich spekulative Nachrichtensituation noch während der Ereignisse)

88



B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler

Das Ergebnis von N-Gram-, Cluster- und Kookkurrenzanalysen sind (ohne Signifikanzprüfung) im Grunde nichts anderes als spezielle Häufigkeitslisten. Mit diesen Listen lässt sich ähnlich kontrastiv verfahren wie im Falle von Keywords. Am Ende stehen jedoch nicht einzelne Wörter, sondern korpustypische Key-N-Gramme, Key-Cluster oder kontrastive KeyKookkurrenzen.255 (Lemmatisierte) Key-Trigramme eines Korpus mit Wahlkampfäußerungen von Atomkraft-Gegnern

Trigramm ausbau d erneuerbaren früher vom netz d besonders unsicher atomkraftwerk noch früher und d endlagerfrage besonders unsicher atomkraftwerk d risiko d d endlagerfrage ungelöst risiko d atomkraft atomkraft sein unverantwortbar atomkraft sein unverantwortlich endlagerung von atommüll frage d endlagerung in erneuerbare energie unser kind und

Chi-Square f (Kontra) f (PRO) f (Kontra)/10.000 f (PRO)/10.000 19,214 58 0 33,536 0 16,558 50 0 28,91 0 15,894 48 0 27,754 0 15,563 47 0 27,175 0 15,563 47 0 27,175 0 15,563 47 0 27,175 0 14,988 52 1 30,066 1,75 14,899 45 0 26,019 0 14,328 50 1 28,91 1,75 8,932 27 0 15,611 0 6,946 21 0 12,142 0 2,975 9 0 5,204 0 2,644 8 0 4,626 0 2,314 7 0 4,047 0 1,983 6 0 3,469 0

III. Korpuslinguistische Zugänge zur Rechtssprache: Juristische Sprachmuster als Indices für Sedimente juristischer Dogmatik Korpuslinguistische Instrumente erlauben unseres Erachtens einen effektiven Zugang zu großen Rechtstextkorpora und damit Einsichten in den rechtssprachlichen Usus juristischer Semantik. – Diese Hypothese mag überraschen, zumal vor dem Hintergrund der etablierten juristischen Textarbeit: ___________ 255 Zur Reichweite von kontrastiven N-Gram-Analysen vgl. Bubenhofer, Diskurse berechnen? Wege zu einer korpuslinguistischen Diskursanalyse, in: Warnke/Spitzmüller (Hrsg.), Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin 2008, S. 407–434. Zu kontrastiven Kookkurrenzanalysen: Vogel, Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (1), 2012, 129–165; Felder/Vogel, Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt. Zur Idiomatisierung von Zeitgeschichte in Medientexten von 2001 bis 2010, in: Bär/Müller (Hrsg.), Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte. Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen; Oskar Reichmann zum 75. Geburtstag, Berlin 2012 (Lingua Historica Germanica, 3), S. 413–436.

III. Korpuslinguistische Zugänge zur Rechtssprache

89

„Der Fokus auf detaillierte textbasierte Abwägungs- und Konkretisierungsakte im juristischen Alltag scheint sich auf den ersten Blick nicht zu vertragen mit einer Analyseperspektive, die ihre Untersuchungsgegenstände im Ansatz gerade text- und falltranszendierend (nämlich korpusfokussiert) angeht. Der Widerspruch relativiert sich allerdings, berücksichtigt man die folgenden (methodischen) Überlegungen: Danach liegt das besondere Potential einer korpuslinguistisch inspirierten Rechtslinguistik: 1. in der korpusgeleiteten Ko(n)text-Disambiguierung juristischer Rechtsausdrücke, in der der wittgensteinsche Grundsatz, ‚die Bedeutung eines Wortes‘ – und damit auch jeglicher Normtextteile – sei ‚sein [regelhafter] Gebrauch in der Sprache‘ (Wittgenstein 2003: 40) ernst genommen und die Performanz juristischer Textarbeit in den Fokus gerückt wird; 2. im transparenten Nachvollzug von juristischen Sachverhalts- bzw. Normkonstitutionen durch eine semiautomatische Strukturierung der Daten; sowie schließlich in 3. einer Vermittlung von quantitativer (makrosystematischer) und qualitativer (mikrosystematischer) Analyse und damit Relativierung von Einzeltextbelegen mit systematisch wiederkehrenden Sprachmustern über eine größere Textmenge hinweg. Dabei bedarf es zweierlei Einschränkungen: Erstens ist es auf diese Weise nicht möglich, „Fälle“ zu lösen; gleichwohl können aber (bis zu einer noch näher zu klärenden Grenze) die diskursimmanenten Konstitutionsbedingungen von juristischen Fallentscheidungen transparent gemacht werden. Zweitens ist es gerade für juristisch nicht einschlägig ausgebildete Sprachwissenschaftler unerlässlich, korpusgeleitete Interpretationen durch weitere Kontextualisierungen (etwa durch Hinzuziehung von aus dem Korpus (!) verwiesener Kommentarliteratur) sowie direkte Zusammenarbeit mit Fachleuten der Jurisprudenz zu unterstützen.“ 256

Gesetzgeber, Richter und Anwälte interessieren sich häufig für die Bedeutung eines Gesetzesausdrucks (de lege lata oder auch de lege ferenda). Sie greifen dabei in aller Regel nicht nur auf einen Normtext und ihr Fachwissen, sondern vor allem auch auf eine ganze Reihe anderer Texte bisheriger Rechtsprechung und der Kommentarliteratur zurück. Juristen suchen also den bisherigen Gebrauchskontext des in Frage stehenden Ausdrucks zusammen, quasi Präjudizien und andere ‚vorhergehendeʻ Gebrauchsfälle, versuchen die vielfältigen Belege zu strukturieren und im Hinblick auf die von ihnen präferierte bzw. am plausibelsten erscheinende Lesart zusammenzufassen. Wir sind der Überzeugung, dass korpuslinguistische Methoden diese Arbeit erleichtern und auch transparenter machen könnten. Denn wie bereits oben gezeigt wurde, besteht die besondere Leistungsfähigkeit computergestützter Algorithmen darin, komplexe Kontext- und damit Gebrauchsfälle vorzustrukturieren und rekurrente Sprachmuster sichtbar zu machen. Unter „rekurrenten Sprachmustern“ verstehen wir ___________ 256

Vogel, Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Felder/Müller/Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, Berlin 2012, S. 322 ff.

90

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler „sprachliche Sachverhaltszuschreibungen unterschiedlicher Größe auf der Ausdrucksebene, die in bestimmten Sprachausschnitten überzufällig häufig auftreten und daher als ‚typisch‘ für diese gelten können. Typikalität in diesem Sinne lässt sich auch als rekurrente Ko(n)textualisierung von Sprachphänomenen beschreiben. Damit ist gemeint, − dass sprachliche Phänomene in (Rechts-)Diskursen iterativ in Verbindung mit anderen Sprachphänomenen auftreten, damit ‚kohäsiv‘ korrelieren (Kotexte) und dadurch kohärenzbildend stereotypisieren; − dass diese kotextuellen Muster in den spezifischen Sprach-Kontexten der Juristen (im Sinne des oben beschriebenen Fach(sprach)wissens) als ‚Kontextualisierungshinweise‘ zur Verfügung stehen (vgl. Gumperz 1982: 131 und Feilke 1989: 142) und damit − potentiell rekursiv wissenskonstitutiv sind in dem Sinne, dass sie stereotype Fachkonzepte bilden bzw. abrufen können.“257

Das heißt: Rekurrente Sprachmuster in großen Rechtstextkorpora können Hinweise auf wiederkehrende, in der Institution Recht ‚etablierte‘ Lesarten und damit Hinweise auf Sedimente juristischer Dogmatik sein. Die Rechtssprache ist, so scheint es, voll von derartigen dogmatischen Verhärtungen, die als Hintergrundfolie für neu zu entscheidende Einzelfälle bereitstehen und damit die juristische Arbeit orientieren. Man denke etwa an dogmatisch entwickelte Konkretisierungen des Verfassungsrechts, die sich in feststehenden Phrasen wie menschenwürdiges Existenzminimum (mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG), Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (beide mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 GG) niederschlagen. Zunächst nur als punktuelle, fallspezifische Paraphrasen eines Normkonzeptes nackt geboren könnten sie hilflos nachkommender Rechtspraxis unterliegen, in dem sich schlichtweg niemand um sie scherte. Die diskursive Akzeptanz gegenüber den ‚Elternʻ (Sprechern) dieser Phrasen (hier: BVerfG) innerhalb der juristischen Institution führt jedoch dazu, dass diese aufgenommen und in ein dichtes Netz von Zitierpraxen integriert wird. Die singuläre Phrase wächst quasi im Textnetz zum rekurrenten Sprachgebrauchsmuster heran, diskursiv geadelt und gegen Ausblendung immunisiert (zumindest weitestgehend und für eine gewisse Zeit). Als formelhafte Einheiten haben sie häufig faktisch gesetzesähnliche Bindungswirkung, stehen als Rechtsquelle auf gleicher Ranghöhe und werden auch entsprechend zitiert. Kurz: Sprachmuster der juristischen Textarbeit sind durch ihre Formelhaftigkeit sui generis Zeichen ihrer Stellung in der dogmatischen Auseinandersetzung – und damit im Fachwissen der juristischen Akteure. Indem korpuslinguistische Methoden Sprachmuster in juristischen Textkorpora effektiv ermitteln – und zwar nicht nur jene, die augenscheinlich sind wie die obigen Beispiele –, können damit semantische ‚Ablagerungen‘ in der Dogmatik sichtbar und einer analytischen Reformulierung zugänglich gemacht werden. Ein praktischer Ver___________ 257

Ebd., S. 319 ff.

III. Korpuslinguistische Zugänge zur Rechtssprache

91

such dessen und am Beispiel juristischer Semantik zum ›Arbeitnehmer‹-Begriff im Arbeits-, Sozial- und EU-Recht ist Teil des vorliegenden Buches. Um diesen analytischen Zusammenhang wenn nicht belegen, so zumindest plausibel zu machen, wäre allerdings nachzuweisen, dass rechtssprachliche Texte im Vergleich zu gemeinsprachlichen oder Medientexten tatsächlich muster- bzw. formelhafter sind. Diese Frage lässt sich korpuslinguistisch operationalisieren und anhand unserer resultierenden statistischen Belege bejahen. Das nachfolgende Schaubild kontrastiert die Musterhaftigkeit zweier Korpora, nämlich unseres dieser Studie zugrunde gelegten Korpus aus Texten der Arbeits- und Sozialrechtsprechung (9.085 Texte; 22, 22 Mio. Wortformen; zu den Details siehe unten) sowie ein Medientextkorpus aus 17.974 Texten (10,60 Mio. Wortformen)258. Für beide Korpora wurden zunächst alle Quint-Gramme (also Fünfworteinheiten) erhoben. Anschließend wurden diejenigen 5-Gramme, die gleich häufig vorkommen, zu 5-Gram-Types gruppiert. Das nachfolgende Schaubild zeigt, wie oft ein bestimmter 5-Gram-Type in Abhängigkeit von seiner tatsächlichen Token-Häufigkeit in den Rechts- und Medientexten belegt ist.

___________ 258 Das Textkorpus umfasst alle Print- und Online Texte, die in Frankfurter Rundschau, Spiegel, Spiegel Online, Welt, Welt Online, Welt am Sonntag, Focus Magazin, Stern, sowie tageszeitung, taz zwischen 2000-2012 (immer April-Mai sowie AugustSeptember) erschienen sind und die mindestens einmal die Zeichenkette Arbeitnehmer oder eine flektierte Form dieses Lemmas enthielten.

92

B. Korpuslinguistik – eine kurze Einführung für Rechtswissenschaftler

Von der Medien- und Gemeinsprache wissen Linguisten mittlerweile, dass sie insbesondere auf der Ebene der Zwei- und Dreiworteinheiten zahlreiche feststehende Muster, sogenannte „usuelle Wortverbindungen“259 bereithält. So können wir zum Beispiel Ohren waschen oder Ohren putzen; Zähne hingegen lassen sich im Gemeinsprachgebrauch nur putzen. Fünf- und mehrWorteinheiten als usuelle Wortverbindungen sind dagegen deutlich seltener; wir finden sie teilweise bei Sprichwörtern (Wie du mir, so ich dir / Aug um Auge, Zahn um Zahn u.ä.). Der Normalfall (etwa 75.000 Mal) sowohl für Medienals auch Rechtstexte ist also – wie auch das Schaubild zeigt –, dass eine bestimmte Fünfworteinheit genau einmal verwendet wird. An dieser Stelle kann man noch nicht von Musterbildung sprechen. Dass eine bestimmte Fünfworteinheit genau zwei Mal oder drei Mal vorkommt, ist ebenso für beide Sprachdomänen noch relativ ähnlich (jeweils 6.000-fach und etwa 1.500-fach belegt). Dass aber eine bestimmte Fünfworteinheit genau 10 Mal vorkommt und damit von einer Musterbildung auszugehen ist, ist in Rechtstexten für etwa 80 5-Gram-Typen, in Medientexten dagegen nur für 8 5-Gram-Typen der Fall, ein Unterschied mit Faktor 10. Noch gravierender ist der Unterschied, wenn man höherfrequente 5-Gram-Typen betrachtet: Dass eine bestimmte Fünfworteinheit genau 14 mal verwendet wird, ist bei Rechtstexten in etwa 15 Fällen, in Medientexten dagegen nur in etwa 0,5 Fällen260 belegt (Faktor 30). Dass eine bestimmte Fünfworteinheit genau 17 mal und mehr verwendet wird, ist in Rechtstexten schließlich immer noch in jeweils rund 10 Fällen belegt, in den Medientexten dagegen überhaupt nicht mehr. Dieser Befund legt nahe, dass die juristische Rechtssprache zumindest auf der Ebene der Fünfworteinheiten (und sehr wahrscheinlich auch darüber hinaus) deutlich stärker zur Muster- und Formelbildung neigt als die Mediensprache261. Die Musterbildung im Recht, so unsere abschließende Hypothese, ist Symptom von Geltungsansprüchen qua Ausdrucksäquivalenz: man zeigt, dass man die vorhergehende und in der Regel übergeordnete Rechtsprechung (und deren Sprachspuren) respektiert und in die eigene Argumentation integriert. Damit ist die juristische Sprachmusterbildung wohl auch ein elementarer Beitrag für die institutionelle Konstitution von Normativität im Rechtssystem.

___________ 259 Steyer, Deutsche Sprache 2/28 (2), 2001,S. 101–125; Steyer, Usuelle Wortverbindungen. Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht, 1. Aufl., Tübingen 2013 (Studien zur deutschen Sprache, 65). 260 Diese Zahlen sind relative Zahlen, nämlich in Abhängigkeit zur Korpusgröße; damit ergeben sich durch die Divisionsrechnungen auch nicht-ganze Zahlen. 261 Würde man die zahlreichen Agenturtexte aus dem Medientextkorpus entfernen, fiele der Unterschied in der Musterbildung zwischen Rechts- und Mediensprache wohl noch deutlicher aus.

V. „Arbeitnehmer“ und „Arbeiter“ in Medientexten

93

C. Die fallbezogene Begriffsentwicklung beim BAG – Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive Bereits im Teil A haben wir die Entwicklung und die Dimensionen des Arbeitnehmerbegriffs versucht darzustellen. Gleichwohl beruhen die dort getätigten Aussagen auf dem voreingenommenen Blick eines Arbeitsrechtlers und vor allem auf einer immer partiell bleibenden Beobachtung von Literatur und Rechtsprechung und nicht etwa auf empirischer Prüfung. Nachfolgend soll deshalb eine Spiegelung und Vertiefung der oben gezeigten Erkenntnisse mit den Mitteln der Korpusanalyse veranschaulicht werden. Nach einem kurzen Überblick zu unserem Untersuchungsdesign (Datengrundlage und Methodik im Einzelnen (I.) werden vor dem Hintergrund der oben skizzierten Prämissen zunächst rekurrente Sprachmuster im juristischen Fachdiskurs vorgestellt und diese mit Blick auf semantische Verdichtungen in der sog. „herrschenden Meinung“ interpretiert (II.). Die Ergebnisse werden wir anschließend in semantischer und diskurs-funktionaler Perspektive zusammenfassen (III.) und diachronen Tendenzen punktuell nachgehen (IV.). Schließlich wird der fachsprachliche Diskurs ansatzweise mit dem gemein- bzw. mediensprachlichen Gebrauch des Ausdrucks Arbeitnehmer kontrastiert (V.). Die Untersuchung zeigt im Ergebnis, dass die intuitiv gefundenen Erkenntnisse durchaus durch sprachwissenschaftliche Daten bestätigt werden und Einblicke in die juristische Text- und Verknüpfungsarbeit im Arbeitsrecht vermitteln können [zur methodologischen Reichweite vgl. Abschnitt A. V. sowie im Anschluss die Teile D., E. und F.]. Die Typologie des Arbeitnehmerbegriffs wird damit partiell von ihrer Unbestimmtheit befreit und messbaren Kriterien unterworfen. Dies stärkt die Publizität und Bestimmbarkeit einer solchen Definition.

I. Zum Untersuchungsdesign 1. Die Datengrundlage der Untersuchung Grundlage der Untersuchung bildet ein im Vorfeld zusammengestelltes und aufbereitetes Korpus aus insgesamt 9.085 Texten (mit insg. 22,22 Mio. fortlaufenden Wortformen). Es handelt sich hierbei um ober- und unterinstanzliche

94

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Gerichtsentscheidungen aus dem Zeitraum von 1954 bis 2012, die folgenden Quellen entnommen wurden: 

  

CD-ROM BAG-BSG-Rechtsprechung. Das umfassende Rechtsprechungsarchiv mit Entscheidungen des BAG und des BSG zum Arbeits- und Sozialrecht mit umfangreicher Gesetzessammlung. Kissing: Verl. Recht & Praxis (Die Rechtsprechung der Bundesgerichte). 6718 Entscheidungen von 1954-2000. Juris Online für alle Entscheidungen der Arbeitsgerichte BadenWürttembergs im Zeitintervall 2000-2012262. Alle online zugänglichen Entscheidungen der Arbeitsgerichte Berlin/Brandenburg im Zeitintervall 2010-2012263. Alle online zugänglichen Entscheidungen des LArbG Nürnberg im Zeitintervall 1997-2012264.

Zusammensetzung des Untersuchungskorpus (Gericht/absolute Anzahl/relative Anzahl)

Sämtliche Entscheidungstexte waren in zum Teil kostenpflichtigen Textsammlungen bzw. Datenbanken mit unterschiedlichen Formaten enthalten und ___________ 262 ArbG Freiburg, ArbG Heilbronn, ArbG Karlsruhe, ArbG Lörrach, ArbG Mannheim, ArbG Pforzheim, ArbG Reutlingen, ArbG Stuttgart, LArbG Ulm; http://lrbw.juris .de/cgi-bin/laender_rechtsprechung/list.py?Gericht=bw (06.01.2013). 263 LAG Berlin-Brandenburg, ArbG Berlin, ArbG Brandenburg, ArbG Cottbus; http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de (01.01.2013). 264 http://www.arbg.bayern.de/nuernberg/entscheidungen/arbeitsrecht/index.html  2013).

I. Zum Untersuchungsdesign

95

mussten mit großem Aufwand erhoben, in reines Textformat übertragen, von störenden Metadaten bereinigt265 und schließlich POS-annotiert werden. Letzteres („Part-of-Speech“-Annotation) bedeutet, dass die Texte mit Hilfe einer computerlinguistischen Software (in unserem Fall der TreeTagger266) zunächst tokenisiert267 und dann mit POS-Informationen angereichert wurden. Zu den POS-Informationen zählen zum einen die Angabe der jeweiligen Wortart sowie das Lemma (Grundform) eines jeden Ausdrucks. Das Ergebnis der Annotation sieht etwa wie folgt aus: [Token]

[POS]

[Lemma]

Die

ART

d

Parteien

NN

Partei

streiten

VVFIN

streiten

um

APPR

um

die

ART

d

Frage

NN

Frage

,

$,

,

ob

KOUS

ob

infolge

APPR

infolge

einer

ART

ein

unerlaubten

ADJA

unerlaubt

Arbeitnehmerüberlassung

NN

Arbeitnehmerüberlassung

zwischen

APPR

zwischen

den

ART

d

Parteien

NN

Partei

ein

ART

ein

Arbeitsverhältnis

NN

Arbeitsverhältnis

besteht

VVFIN

bestehen

.

$.

.

___________ 265

onen.

Z.B. HTML-Code oder andere, nicht zum Entscheidungstext zählende Informati-

266 Schmid, Probabilistic Part-of-Speech Tagging Using Decision Trees. Manchester, UK, 1994. 267 Ein sog. „Tokenizer“ zerlegt einen Text in seine einzelnen Wortbestandteile. Was sich einfach anhört, ist mit großen Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere auch mit der technischen Definition von Wortgrenzen zu tun haben.

96

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Die annotierten Daten haben zwei Vorteile: Zum einen lassen sich dann Filter- und Suchalgorithmen auf bestimmte Wortarten beschränken (z.B. die Auswertung von Autosemantika wie Substantive oder Verben), was die Arbeit teilweise erheblich erleichtert. Zum anderen verhilft die Lemmatisierung zu einer Abstrahierung von einzelnen Wortformen und erlaubt damit eine effektivere Auswertung von potentiellen semantischen Verdichtungen (Clusterbildung)268. Das folgende Schema soll dies kurz erläutern: arbeitnehmerähnliches



arbeitnehmerähnlich

arbeitnehmerähnliche



arbeitnehmerähnlich

arbeitnehmerähnlich



arbeitnehmerähnlich

= 3 Token zu je 1 unauffällig

= 1 Lemma zu 3 auffällig(er)

Um diachrone (also sich über die Zeit erstreckende) Unterschiede in der Dogmatik analysieren zu können, wurden die Texte nach Jahren, dann nach mehreren Monaten gruppiert. Dabei stellte sich heraus, dass die Datenqualität insbesondere der frühen Jahre erhebliche Lücken aufweist, insofern nicht – wie später – der komplette Entscheidungstext (mit Tenor, Sacherzählung, Begründung usw.), sondern teilweise nur Entscheidung und Tenor in den Textdateien enthalten sind. Eine zuverlässige Datengrundlage liegt im Grunde erst ab den 1990er Jahren vor. Aus diesem Grunde wurde das Gesamtkorpus in drei Subkorpora geteilt, nämlich in das Intervall (A) 1954 bis 1989, Intervall (B) 1990 bis 1999 sowie Intervall (C) 2000 bis 2012. Mit dieser Einteilung können dogmatische Wandelprozesse zuverlässig zumindest über die letzten 20 Jahre beobachtet werden; das Subkorpus (A) wurde lediglich als punktuelles Indiz-Korpus herangezogen. (A) 1954 – 1989: 1320 Texte / 1,0 Mio. Wortformen (B) 1990 – 1999: 5036 Texte / 13,4 Mio. Wortformen (C) 2000 – 2012: 2728 Texte / 7,9 Mio. Wortformen

___________ 268 Abstraktion heißt aber auch Vernachlässigung von möglicherweise semantisch relevanten Besonderheiten, mit anderen Worten: Durch Lemmatisierung können versehentlich auch Wortgebrauchsweisen zusammengefasst werden, die zu völlig unterschiedlichen Kontexten gehören. Dies gilt es bei der Bewertung der Musterergebnisse immer zu berücksichtigen.

I. Zum Untersuchungsdesign

97

Schaubild: Diachrone Zusammensetzung des Arbeitnehmer-Untersuchungskorpus

2. Methodisches Vorgehen im Einzelnen Für eine angemessene interpretative Auswertung von Korpusdaten ist es aus Effektivitätsgründen üblich und auch zur Vermeidung von Missverständnissen in der Regel notwendig, im Sinne einer Triangulation separate Sekundärquellen heranzuziehen (z.B. Nachschlagewerke, Wörterbücher, wissenschaftliche Literatur anderer Disziplinen usw.). Ziel der vorliegenden Studie war jedoch unter anderem, die Leistungsfähigkeit und Grenzen korpusgestützter und damit an der Performanz sprachlicher Zeichen fokussierter Verfahren auszutesten. Aus diesem Grunde fand im Vorfeld der Auswertung kein inhaltlicher Austausch zwischen Vogel (als in die juristische Methodik, aber nicht in das Arbeitsrecht eingearbeiteter Korpus- und Rechtslinguist) und den arbeits- bzw. öffentlichrechtlichen, fachjuristischen Koautoren dieser Studie statt. Die unten zusammengefassten Studienergebnisse sind somit zunächst das Produkt rein systematischer Textarbeit am Korpus und unter Zuhilfenahme computergestützter Software. Erst im zweiten Schritt wurden die Ergebnisse ausgetauscht und auf Basis der juristischen Vorannahmen weitere punktuelle Analysen zu deren Prüfung hinzugezogen (zur Evaluation des Verfahrens siehe das abschließende Fazit, Abschnitt F.).

98

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Die korpuslinguistische Auswertung erfolgte im Einzelnen in drei sich mehrfach wiederholenden Schritten: 1. 2. 3.

Induktive Ermittlung von ko(n)textuellen Mustern zu einem oder mehreren Ausdrücken; hermeneutische Interpretation und konzeptuelle Gruppierung der erhobenen Belege; Bildung von Hypothesen (Paraphrasen) und deduktive Prüfung.

arbeitnehm

Kern des Verfahrens ist die systematische Ko(n)textexploration zum Wortfeld des Arbeitnehmers269. Die Zeichenkette arbeitnehm bildete damit eine Minimalhypothese, das heißt, es wurde davon ausgegangen, dass diese Zeichenkette in irgendeiner Weise auch mit dem Konzept des ›Arbeitnehmers‹ zu tun hat. Von dieser Minimalhypothese ausgehend wurde Schritt für Schritt das sprachliche Umfeld dieser Zeichenkette erhoben und nach thematischen oder konzeptuellen Clustern, Wort- und Syntagmenfelder gruppiert, zum Beispiel: -schutz, -schutznorm, -ansprüche, -recht, -schutzvorschrift(en), -schutzrecht, -beteiligung, -datenschutz, -freibetrag, -versicherung, -rente u.a.

›Rechte / Ansprüche von ArbN‹

Fremdarbeitnehmer, Leiharbeitnehmer, Fremdarbeitnehmer, Arbeitnehmerverhältnis, Aushilfsarbeitnehmer, -überlassung u.a.

›Beziehung des ArbN zum Entgeltzahler‹

Analyse der Komposita

Um sukzessive das semantische Feld zu arbeitnehm induktiv und „corpus driven“ (Vgl. B.II.) zu erschließen, kamen insbesondere Clusteranalysen (Mehrworteinheiten) sowie Kookkurrenzanalysen mit Hilfe des LDA-Toolkit zum Einsatz. Das LDA-Toolkit270 ist eine von Vogel entwickelte korpuslinguistische Software, die speziell für linguistische Diskurs- und Imageanalysen konzipiert wurde. Sie erlaubt insbesondere auch Wortart-spezifische sowie kontrastive Filter- und Analysealgorithmen mit Einsatz von statistischen Signifikanztests (Chi-Square und Log-Likelihood). Damit ist es möglich, auch korpusspezifische und d.h. in unserem Falle diachrone Entwicklungen in der ›Arbeitneh___________ 269 In diesem Kapitel werden Belege – also Ausdrücke der untersuchten Objektsprache – kursiv gesetzt (z.B. Durchsuchung). Damit soll explizit auch grafisch unterschieden werden von der Formseite eines untersuchten Ausdrucks und Hypothesen zu seinen Bedeutungen. Bedeutungshypothesen werden in einfache französische Klammern gesetzt (z.B. ›Suche nach Gegenständen in einem Raum, nicht aber ‚in‘ einer Person ( Untersuchung)‹). 270 Vogel, Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (1), 2012, 129–165.

I. Zum Untersuchungsdesign

99

mer‹-Dogmatik statistisch sichtbar zu machen (vgl. oben die Ausführungen zu Keywords und Key-Cluster bzw. kontrastiven Kookkurrenzanalysen, B.II.). Darüber hinaus wurden im Sinne eines corpus based-orientierten Verfahrens gezielte Suchanfragen mit Hilfe regulärer Ausdrücke und der Software AntConc271 durchgeführt. Gegenstand dieser Abfragen waren insbesondere ausgewählte Prädikationsketten, die zur Semantisierung des Ausdrucks arbeitnehm prinzipiell beitragen könnten. Hierbei kam insbesondere rechtslinguistisches Vorwissen (d.h. auch Vorannahmen) über typische Zuschreibungsmuster in Rechtstexten zum Tragen. Abgefragt wurde zum Beispiel272:     

arbeitnehm sein [nicht] X [wobei X die offene Zuschreibungsvariable darstellte]; arbeitnehm sein, wer [nicht] X; arbeitnehm müssen/können/dürfen [nicht] X; arbeitnehm als X; u.ä.

Durch Abfrage von Negationen ließen sich insbesondere konzeptuelle Abgrenzungen und Gegenüberstellungen ermitteln, etwa: kein Arbeitnehmer ist, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Die im letzten Satz hervorgehobenen Teilphrasen sind – wie schon im Vorkapitel deutlich wurde – zentrale Konkretisierungselemente bei der Bestimmung, ob eine Person als Arbeitnehmer oder Selbständiger zu werten sei. Methodisch heißt das (auch aus Erfahrung mit anderen Analysen), dass sich etwa durch iterative Suchanfragen zu Negationen sukzessive die zentralen semantischen Kategorien nicht nur zur Ausgangsminimalhypothese, sondern auch in dessen konzeptuellen Umfeld semasiologisch erhoben und dann der weiteren Analyse zugänglich werden.

___________ 271 Anthony, AntConc (3.2.4w) [Computer Software]. Waseda University. Tokyo. Online verfügbar unter http://www.antlab.sci.waseda.ac.jp/, zuletzt geprüft am 22.05.2013. 272 Die Beispiele suggerieren, dass nur feststehende Syntagmen gesucht worden wären. Das ist natürlich nicht der Fall. So wurde etwa auch nach arbeitnehm im größeren Kotextintervall von Negationspartikeln nicht/kein gesucht, wobei zwischen diesen Ausdrücken auch andere Wörter stehen konnten. Derartige Suchanfragen lassen sich mit Hilfe regulärer Ausdrücke sehr sorgfältig spezifizieren.

100

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Das LDA-Toolkit, hier: Kookkurrenzanalyse zu arbeitnehm mit Fokus auf Adjektive und Adverbien

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik Die Sprachmuster rund um den Ausdruck arbeitnehm als Indikatoren für Sedimente arbeitsrechtlicher Dogmatik zum ›Arbeitnehmer‹-Begriff lassen sich mit Blick auf Komposita, explizite Zuschreibungen, Cluster (Mehrworteinheiten) und Kookkurrenzpartner systematisieren. Wir werden an dieser Stelle natürlich nicht alle Details der Auswertung abdrucken (das sprengte den Rahmen), sondern nur so viel vorstellen, dass der Ansatz von Auswertung und Interpretation deutlich wird. 1. Komposita mit arbeitnehm Statistisch signifikante Komposita lassen sich im Deutschen als hochverdichtete Zuschreibungsmuster interpretieren, bei denen – sehr allgemein formuliert – zwei semantische Einheiten miteinander verbunden werden. Dabei lassen sich mindestens zwei Klassen unterscheiden, nämlich Kopulativkomposita und Determinativkomposita. Kopulativkomposita sind Wortzusammensetzungen, bei denen die einzelnen Teile gleichwertig nebeneinanderstehen und als solche parallel zu einer Gesamtbedeutung beitragen (z.B. schwarzrotgold, süß-sauer). Interessanter jedoch sind Determinativkomposita, die aus einem untergeordneten Bestimmungswort (Determinans) und einem übergeordneten, konkretisier-

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

101

ten Grundwort (Determinandum) besteht, wie in Fremdarbeitnehmer (Fremdals Bestimmungswort und Zuschreibung zum Grundwort -arbeitnehmer). Im Untersuchungskorpus (Primärkorpus) finden sich insg. 73.749 Komposita (Token) mit der Zeichenkette arbeitnehm. Aus diesen lassen sich 58 verschiedene Gruppen (Types) destillieren, die arbeitnehm im Determinandum tragen. Die häufigsten 20 dieser Gruppen lauten:

Nr.

f

1

851

Leiharbeitnehmer

Kompositum (Type)

2

371

Wanderarbeitnehmer

3

125

Teilzeitarbeitnehmer

4

99

Leiharbeitnehmerin

5

66

Vollzeitarbeitnehmer

6

51

Stammarbeitnehmer

7

18

Altersteilzeitarbeitnehmer

8

16

Fremdarbeitnehmer

9

14

Saisonarbeitnehmer

10

14

Gesamtarbeitnehmer[vertretung]

11

12

Vergleichsarbeitnehmer

12

11

Altvertragsarbeitnehmer

13

9

Nichtarbeitnehmer

14

9

Bauarbeitnehmer

15

7

Nachtarbeitnehmer

16

6

Schichtarbeitnehmer

17

5

Zeitarbeitnehmer

18

5

Vergleichsarbeitnehmers

19

5

Fremdfirmenarbeitnehmer

20

4

Wechselschichtarbeitnehmer

Die Liste zeigt, dass Arbeitnehmer offenbar nach bestimmten Eigenschaften – und damit mutmaßlich auch Rechtsstatus – zusammengefasst werden. Dabei spielen offenbar temporale und lokale Attribute eine besondere Rolle. Komposita wie Vergleichsarbeitnehmer oder Nichtarbeitnehmer verweisen dagegen auf eine Metaebene, auf der die Kategorisierung von Arbeitnehmer-Gruppen selbst thematisiert wird. Sieht man sich die Verteilung der einzelnen Ausdrücke in den Subkorpora an (1990er vs. 2000er), zeigen sich außerdem diachrone Be-

102

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

sonderheiten. So nehmen Sachverhalte, in denen Leiharbeitnehmer oder Teilzeitarbeitnehmer verhandelt werden, systematisch zu; Wanderarbeitnehmer hingegen scheinen besonders in den 90er Jahren und davor thematisiert zu werden.

Leiharbeitnehmer im diachronen Vergleich:

Wanderarbeitnehmer im diachronen Vergleich:

Wertet man alle Komposita aus, die arbeitnehm enthalten, lassen sich folgende ›Akteursgruppen an Arbeitnehmern‹ nach spezifisch im Rechtsstreit hervorgehobenen Attributen differenzieren (d.h. die folgenden semantischen Felder verweisen auf typische Konkretisierungskontexte von Arbeitnehmern):     



›Soziale Konkretisierung (Alter, Geschlecht, Familienstatus)‹: Altersteilzeit-, Arbeitnehmerin, -ehegatte, -ehepaar, -familie; ›Qualifikationsgrad‹: Stamm-, -weiterbildung, -bildung; ›lokaler / Heimatlicher Herkunft‹: Wander-, Gast-, Grenz-; ›lokaler Verortung der Arbeit‹: Heim-, Tele-; ›temporale Konkretisierung‹: Teilzeit-, Vollzeit-, Altersteilzeit-, Saison-, Nacht-, Schicht-, Wechselschicht-, Zeit-, Gelegenheits-, Alt-, Stamm- (gegenüber Leiharbeitnehmer/Gleichstellung mit Leiharbeitnehmer), Altvertrags-; -stunden, -zeiten; u.a. ›Beziehung zum Entgeltzahler‹: Leih-, Leiharbeitnehmerin, Fremd- / Fremdfirmenarbeitnehmer, Werkvertrags-, -überlassung, [Eine Person mit] -verhältnis273; -kündigung, -überlassung / -überlassungsgewerbe,

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik





103

-überlassungserlaubnis, -vergütung, -beschäftigung, -entsendung, Aushilfs-; ›Kollektivität von Arbeitnehmern(verbunden mit verschiedenen Rechten)‹: Gesamtarbeitnehmervertretung, -seite, -vertretung, -vertreter, -vereinigung, -schaft, -zahl, -koalition, -organisation, -seitig, -verband, -kreis, -bank [Kontext Aufsichtsrat], -stamm, -vertretungsstrukturen, -kammer, -mitglieder, -kollektiv, -schicht u.v.a. ›Besondere Gruppen‹: -erfinder; Fachassistentin für -leistungen SGB III (LArbG Berlin/Brandenburg, 3 Sa 1506/11); Arbeitnehmende (nur in einer Entscheidung des ArbG Ulm); Bau-, Verwaltungs-, Außendienst-, Bildschirm- u.a.

Daneben finden sich zahlreiche Komposita (v.a. mit arbeitnehm im Determinans), die auf der methodischen Metaebene auf eine Typologisierung von ›Arbeitnehmer‹-Gruppen bzw. -eigenschaften verweisen. Komposita wie arbeitnehmerähnlich, Arbeitnehmerähnlichkeit, Arbeitnehmereigenschaft, Arbeitnehmerbegriff, Arbeitnehmerstatus, [fiktiver] Vergleichsarbeitnehmer, Arbeitnehmerkategorien, arbeitnehmertypisch zeigen den dogmatischen Versuch, dasjenige, was oder wer Arbeitnehmer sei, in ein fiktives Eigenschaftsraster nach Prototypikalität zu ordnen. ‚Den‘ ›Arbeitnehmer‹ scheint es daher wohl nicht zu geben, sondern nur Vergleichstypen, die je nach Kontext mehr oder weniger ›Arbeitnehmer‹ seien. Zu diesem Versuch der Typologisierung als Reaktion auf die Lebenswelt zählt auch eine Kategorie, die mit Rekurs auf § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG274 als arbeitnehmerähnliche Personen bezeichnet werden. Die Gerichte äußern hierzu häufig einleitend und explizit: die gesetzliche Abstufung geht nicht von einem dualen System, sondern von einem dreigeteilten System aus, das zwischen Arbeitnehmern, arbeitnehmerähnlichen Personen und Selbständigen differenziert (z.B. BAG, NZA 2001, 551). ___________ 273 denn wer Kraft seines Gesellschafterrechts die für das Arbeitnehmerverhältnis typische Abhängigkeit von einem Arbeitgeber zu vermeiden vermag, kann nicht Arbeitnehmer der Gesellschaft sein. 274 Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Als Arbeitnehmer gelten auch die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen Gleichgestellten (§ 1 des Heimarbeitsgesetzes vom 14. März 1951 - Bundesgesetzbl. I S. 191 -) sowie sonstige Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind. Als Arbeitnehmer gelten nicht in Betrieben einer juristischen Person oder einer Personengesamtheit Personen, die kraft Gesetzes, Satzung oder Gesellschaftsvertrags allein oder als Mitglieder des Vertretungsorgans zur Vertretung der juristischen Person oder der Personengesamtheit berufen sind.

104

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Als arbeitnehmerähnlich bezeichnete Personen sind solche Personen, die wie Arbeitnehmer ›ihre Arbeitskraft an einen Entgeltzahler veräußern und hiervon (allein oder überwiegend) ihren Lebensunterhalt bestreiten‹, ohne dabei aber temporal oder lokal in gleichem Maße wie Arbeitnehmer-bezeichnete Personen bestimmt zu sein (vgl. auch unten). arbeitnehmerähnliche Personen sind wegen ihrer fehlenden Eingliederung in eine betriebliche Organisation und im wesentlichen freie Zeitbestimmung nicht im gleich Maß persönlich abhängig wie Arbeitnehmer; an die Stelle der persönlichen Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit tritt das Merkmal der wirtschaftlichen Unselbständigkeit. [Darüber] hinaus muss die wirtschaftliche Abhängigkeit auch seiner gesamten sozialen Stellung nach einem Arbeitnehmer vergleichbar sozial schutzbedürftig sein (ständig Rechtsprechung BAGE 12, 158 = AP Nr.2 zu § 717 ZPO; BAGE 25, 248, 251 = AP Nr.2 zu § 2 BUrlG, zu 2 d Grund; BAGE 66, 113, 116 = AP Nr.9 zu § 5 ArbGG 1979, zu II 3 a d Grund; BAG Beschluß vom 15. April 1993 - 2 AZB 32/92 - AP Nr.12 zu § 5 ArbGG 1979, zu III 2 b aa d Grund) (BAG Akz. 5 AZB 9/93, Beschluß vom 06.07.1995) Ebenso über Komposita mit arbeitnehm im Determinans werden zwei unterschiedliche Handlungsperspektiven von ›Arbeitnehmern‹ deutlich, nämlich die der ›Rechte und v.a. Schutz-Ansprüche gegenüber Dritten‹ sowie die der ›Pflichten gegenüber Staat oder Entgeltzahler‹:  

›Pflichten‹: -anteil, -beitrag (vom Arbeitnehmer zu entrichtende Sozialabgaben) und -haftung (Frage nach der Haftung des Akteurs während der Arbeit); ›Rechte / Ansprüche‹: − ›Kollektiv-Anspruch gg. ‚angemessenem Lohnausgleich‘, v.a. im Kontext von Tarifverhandlungen‹: -interesse, -sicht, -forderungen, -perspektive; − ›Rechtsansprüche gegenüber Arbeitgebern und Solidargemeinschaft‹: -schutz, -schutznorm, -ansprüche, -recht, -schutzvorschrift(en), -schutzrecht, -beteiligung, -datenschutz, -freibetrag, -versicherung, -rente, -pauschbetrag, -vergütung, -einkommen, -weiterbildungsanspruch, -freizügigkeit, -weiterbildung, -erfindungen / -erfindervergütung.

Schließlich geben eine ganze Anzahl an Komposita Hinweise über besondere ›Rechtsbereiche‹ sowie ›Normtexte‹, die bei der Konkretisierung von Arbeitnehmern eine Rolle spielen:

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

105



›Rechtsbereiche‹: -erfindungsrecht, -vertretungsrecht, -datenschutzrecht, -grundrecht;



›Normtexte / Rechtstexte‹: -weiterbildungsgesetz, -überlassungsgesetz, -überlassungsvertrag, -erfindungsgesetz, Leiharbeitnehmerklausel, -schutzgesetz, -schutznorm. 2. Explizite Prädikationen zu arbeitnehm

Zur Eruierung von semantischen Sedimenten kann mittels Konkordanzsuchanfragen auch nach expliziten Zuschreibungen gesucht werden. Für die Prädikationsphrase *[Aa]rbeitnehm* sein X finden sich 2111 Belege in Entscheidungen ab 1990 (jedoch mit Verweisen, die auf eine frühere, im vorliegenden A-Subkorpus nicht erfasste Entstehung der Prädikationsmuster schließen lassen). Dabei wird sofort deutlich, dass der ›Arbeitnehmer‹-Begriff keiner allgemeinen Legaldefinition unterliegt, der Arbeitnehmerbegriff ist ein unbestimmter Rechtsbegriff275. Vielmehr zeigen sich nach einer automatischen, alphabetischen Sortierung der Belege mindestens drei dominante Muster im Schema Arbeitnehmer sein, wer X, die durch Oberinstanzgerichte (insb. BAG und BSG) entwickelt und von Nachfolgeentscheidungen wieder aufgegriffen und zitiert werden.

Screenshot der sortierten Konkordanzen zur Suchanfrage *[Aa]rbeitnehm* sein, wer

Die drei dominanten Prädikationsmuster – zwei treten nur in BAG-, eine nur in BSG-Entscheidungen auf – lauten (in der lemmatisierten Form): ___________ 275

BAG, NZA 2000, 529.

106

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

(1) BAG (mit Abstand die häufigste Variante): Arbeitnehmer sein, wer sein Dienstleistung im Rahmen ein von dritt bestimmt Arbeitsorganisation erbringen müssen. d Eingliederung in d fremd Arbeitsorganisation werden besonders deutlich, daß ein Arbeitnehmer hinsichtlich Zeit, Dauer und Ort d Ausführung d übernommen Dienst ein umfassend Weisungsrecht d Arbeitgeber unterliegen. häufig treten auch ein fachlich Weisungsgebundenheit hinzu. dies sein jedoch für Dienst hoch Art nicht immer typisch (Vgl. BAGE 41, 247, 253 f. = AP Nr. 42 zu § 611 BGB Abhängigkeit, zu B II 1 d Grund, m. w. N.; seither ständig, zuletzt in d nicht zur Veröffentlichung vorgesehen Urteil d Senat vom 7. November 1990 – 5 AZR 15/90 –, zu I 1 d Grund) (2) BAG: Arbeitnehmer sein, wer aufgrund ein privatrechtlich Vertrag im Dienst ein ander zu fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichten sein (BAG Beschluß vom 3. Juni 1975 – 1 ABR 98/74 – BAGE 27, 163 = AP Nr. 1 zu § 5 BetrVG 1972 rot Kreuz). a) kommen es nicht an, wie d Partei d Rechtsverhältnis bezeichnen. d Status d Beschäftigte richten sich nicht nach d Wunsch und Vorstellung d Beteiligte, sondern, wie d Rechtsbeziehung nach ihr Geschäftsinhalt objektiv einordnen sein. denn durch Parteivereinbarung können d Bewertung ein Rechtsbeziehung als Arbeitsverhältnis nicht abbedungen und d Geltungsbereich d Arbeitnehmerschutzrechts nicht einschränken werden. d wirklich Geschäftsinhalt sein d ausdrücklich getroffen Vereinbarung und d praktisch Durchführung d Vertrag zu entnehmen. werden d Vertrag abweichend von d ausdrücklich Vereinbarung vollziehen, sein d tatsächlich Durchführung maßgebend. denn d praktisch Handhabung lassen Schluß zu, von welch RechtµRechte und Pflicht d Partei in Wirklichkeit ausgehen sein (BAGE 41, 247, 258 f. = AP Nr. 42 zu § 611 Abhängigkeit, zu B II 3 d Grund; BAG Urteil vom 24. Juni 1992 - 5 AZR 384/91 - AP Nr. 61 zu § 611 BGB Abhängigkeit) (3) BSG: Arbeitnehmer sein, wer von ein Arbeitgeber persönlich abhängig sein. persönlich Abhängigkeit erfordern d Unterordnung unter d Weisungsrecht d Arbeitgeber in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art d Arbeitsausführung (BSGE 519 164, 167 = SozR 2400 S. 2 Nr. 16). d Weisungsrecht können allerdings erheblich einschränken sein. bei Dienst hoch Art, beispielsweise bei ein im Krankenhaus beschäftigt Chefarzt, genügen d Eingliederung d Dienstleistung in ein von ander Seite vorgegeben Ordnung d Betrieb (BSGE 38, 53, 57 = SozR 4600 § 56 Nr. 1) Die Prädikationsmuster benennen Indikatoren oder semantische Slots (semantische „Leerstellen“) dafür, wann eine Person als Arbeitnehmer zu bezeichnen wäre. Besonders hervorgehoben wird dabei die ›‚abhängige‘ Beziehung zwischen ‚Arbeitnehmer‘ und ‚Entgeltzahler‘‹ (persönliche Abhängigkeit, Weisungsrecht, Weisungsgebundenheit, Unterordnung, fremdbestimmt) im Hinblick auf temporale (Zeit und Dauer), lokale (Ort) – und im Falle der

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

107

BSGE auch modale Bestimmung. Diese Prädikationsmuster werden von den Gerichten jedoch nicht als Definition gesetzt, sondern eher als dogmatische Orientierung der semantischen Slots, als analytisches Rahmenraster verstanden, auf das hin der jeweils vorliegende Fall geprüft wird (konkrete Füllwerte der Leerstellen). Es zeigt sich häufig folgender Ablauf in den Entscheidungstexten: URTEILSBEGRÜNDUNG … Deklarativsatz und Kurzbegründung › Rasterexplikation / Etablierung des Maßstabs – Arbeitnehmer sein, wer… mit zahlreichen Verweisen auf vorhergehende höchstrichterliche Entscheidungen; › Implizite Prüfung des Sachverhalts am etablierten Maßstab; › Indikatorsatz; logischer Schluss im Sinne eines weiteren Indikators mit zahlreichen Verweisen auf vorhergehende höchstrichterliche, vergleichbare Entscheidungen. (… ggf. weitere Explikationen) … Beispiel (BAG, NZA 1992, 36): Aber auch zwischen dem Aushilfsfahrer und der Antragstellerin zu 1) (M - GmbH) kommt entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgericht kein Arbeitsverhältnis zustande, wenn Einsätze vereinbart wurden [= Deklarativsatz]. Es fehlt an der für ein Arbeitsverhältnis vorauszusetzende persönliche Abhängigkeit des Aushilfsfahrers von der Antragstellerin zu 1). [= Kurzbegründung] aa) […]. Arbeitnehmer ist, wer seine Dienstleistung im Rahmen einer von einem Dritten bestimmten Arbeitsorganisation erbringen muss. Die Eingliederung in die fremde Arbeitsorganisation wird besonders deutlich, daß der Arbeitnehmer hinsichtlich Zeit, Dauer [= hier relevanter Slot 1] und Ort der Ausführung des übernommenen Dienstes einem umfassenden Weisungsrecht [= hier relevanter Slot 2] der Arbeitgeber unterliegt. Häufig tritt auch eine fachliche Weisungsgebundenheit hinzu (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht, vgl. BAGE 41, 247, 253 = AP Nr. 42 zu §611 BGB Abhängigkeit, unter B II 1 Gründe; zuletzt BAG Urteil vom 27. Februar 1991 - 5 AZR 107/90 n.v., zu I 1 die Gründe). [= Rasterexplikation / Maßstabetablierung] Die kurze Dauer des Einsatzes [= Filler für Slot 1] und die weitestgehende Bestimmung der zu erbringenden Dienstleistung bereits im Ver-

108

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

trag selbst [= Filler für Slot 2] sprechen erheblich gegen eine persönlich Abhängigkeit vom Dienstberechtigten mit der Folge, daß kein Arbeitsverhältnis vorliegt (vgl. auch BAG Urteil vom 9. Mai 1984 - 5 AZR 195/82 – […]) [Indikatorsatz mit Verweisen – logischer Schluss und Stützung von Deklarativsatz und Kurzbegründung] An dieser Stelle ließen sich weitere Kotextanalysen anstellen, wie oft die einzelnen Slots der oben genannten konzeptuellen Rahmenraster (z.B. [Weisungsrecht, fremdbestimmt, Abhängigkeit, Eingliederung in eine Arbeitsorganisation], [Zeit, Dauer, Ort, Art], Dritte, Dienstleistung usw.) in welcher Form gefüllt werden und ob sich hierbei statistisch signifikante Typologisierungen wiederfinden. Dies sprengte hier aber den Rahmen und wäre durch zukünftige Detailauswertungen zu eruieren. Wir möchten nur so viel andeuten: Die Ausdrücke Weisungsrecht, fremdbestimmt, von Dritten bestimmt, Abhängigkeit, Eingliederung in eine Arbeitsorganisation, Bindung, vorschreiben, Direktionsrecht u.a. dienen zu ihrer gegenseitigen Paraphrasierung. Sie schaffen einen semantischen Rahmen, der vor allem durch die implizite und explizite Etablierung eines gegensätzlichen Rahmens, nämlich dem des Selbständigen, kontrastiert wird. Häufige Muster sind diesbezüglich etwa: Nichtselbständig ist die Arbeit, wenn sie in dem Sinne fremdbestimmt ist, daß die vom Arbeitnehmer hinsichtlich Ort, Zeit, Gegenstand und Art der [Arbeits-, FV] Erbringung nach der Anordnung der Arbeitgeber vorzunehmen ist (vor allem in Entscheidungen des BSG) auch eine solche Dienstleistung ist fremdbestimmt, wenn sie in der von anderer Seite vorgegebenen Ordnung des Betriebs aufgeht. Das Gegenstück besteht, daß der Beschäftigte seine Tätigkeit wesentlich frei gestalten kann Bei der weiteren Kontextualisierung suchen die Richter oft nach Indizien, die für unterschiedliche, nicht quantifizierbare Grade der ›Abhängigkeit‹ oder ›Handlungsfreiheit‹ des potentiellen Arbeitnehmers stehen. Die damit verbundene Vagheit und Unsicherheit wird oft expliziert durch abhängige Nebensatzkonstruktionen (Bedingungssätze) wie mit Subjunktoren (X ist insofern fremdbestimmt) oder Modalsätze wie es spricht dafür, dass usw. Neben dem obigen Prädikationsmuster (Arbeitnehmer sein, wer X) lassen sich schließlich auch weitere Suchanfragen mit metasprachlichem Bezug für die Analyse fruchtbar machen. Arbeitnehmer im Sinne von X etwa zeigt, dass sehr unterschiedliche Normtextbezüge zur Konkretisierung des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs hergestellt werden. Dabei dominiert vor allem der Rekurs auf das Arbeitsgerichtsgesetz, also der Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 ArbGG sowie der Arbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG (= Begriff des Arbeitnehmers). Eine fast gleichbedeutende Rolle spielt §5 Abs. 1 BetrVG (Arbeitnehmer und Beschäftigte nach dem Betriebsverfassungsgesetz) sowie mit deutlichen Abstrichen und besonders in Entscheidungen des EuGH sowie des

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

109

BSG die EWG-Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung des Systems der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und die Familie. Deutlich seltener im Korpus finden sich schließlich ›Arbeitnehmer‹-Verweisungen auf § 23 Abs. 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) sowie den gemeinschaftsrechtlichen Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 48 EWG-Vertrag (hierzu später mehr). 3. Cluster bzw. Mehrworteinheiten mit arbeitnehm Wie bereits oben (B. III.) skizziert, zeichnet die juristische Fachsprache im Vergleich zur Gemein- oder Mediensprache einen größeren Grad an Musterhaftigkeit aus. Das ‚Mehr‘ an Schematisierung lässt sich auf der Ebene der Mehrworteinheiten (nGrams oder Cluster) am stärksten belegen und als Ausdruck von Geltungsanspruch innerhalb der juristischen Institution interpretieren. An dieser Stelle können wir leider keine vollständige Analyse verschiedener Mehrworteinheiten vorführen; dies sprengte den Rahmen (an anderen Stellen werden Clusteranalysen jedoch wiederholt zur Kontextualisierung einzelner Wörter herangezogen). Wir möchten uns daher hier auf eine exemplarische Auswertung der ersten 100 hochsignifikanten 5-Wort-Cluster beschränken. Zu diesem Zweck wurden zu unserem Arbeitsrechtstextkorpus (Primärkorpus) im Vergleich zum Medientextkorpus kontrastive Key-5-Cluster (mit P ≥ 99,99 % und f ≥ 33) ermittelt und mittels Volltextdurchsicht induktiv nach gemeinsamen semantischen Merkmalen gruppiert. Ein Großteil der hier ausgewerteten Cluster mit [Aa]rbeitnehm ist Teil von ganzen Sätzen oder gar Absätzen, die formelhaft auf schematisierte Semantiken in der Rechtsprechung hinweisen. Hierzu zählen insbesondere musterhafte Formeln zur Konkretisierung des    

›Gleichbehandlungsgrundsatzes‹276 mit Bezug auf EWG-Richtlinie 77/187 (Arbeitnehmer und Selbständige), die EWG-Richtlinie 76/207 (Geschlechter) und § 2 BeschFG (Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte); ›Grundsatzes auf freie Wohn- und Arbeitswahl in der EU‹ mit Bezug auf die Verortung 1612/68 (Freizügigkeit); ›Änderungskündigungen‹ nach § 2 KSchG, konkretisiert durch das BAG; ›Betriebliche Übung‹ mit Bezug auf § 242 BGB (Treu und Glauben); konkretisiert durch das BAG.

___________ 276

Vgl. Muster wie: einzelne Arbeitnehmer gegenüber anderen Aarbeitnehmern, andere Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage, vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer unterschiedlich behandeln u.a.

110

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

5-Wort-Cluster (lemmatisiert)

f (R)

f (M)

f (R) / 10T

f (M) / 10T

X2

für d gewerblich arbeitnehmer d

143

0

3,88

0

52,65

d sozial sicherheit auf arbeitnehmer

131

0

3,56

0

48,23

arbeitnehmer im sinn d §

118

0

3,20

0

43,44

sozial sicherheit auf arbeitnehmer und

117

0

3,18

0

43,07

d anspruch d arbeitnehmer auf

110

0

2,99

0

40,49

arbeitnehmer und selbständige sowie d

98

0

2,66

0

36,08

manteltarifvertrag für d gewerblich arbeitnehmer

96

0

2,61

0

35,34

sicherheit auf arbeitnehmer und selbständige

89

0

2,42

0

32,76

auf arbeitnehmer und selbständige sowie

88

0

2,39

0

32,39

@card@ bgb haftung d arbeitnehmer

83

0

2,25

0

30,55

Daneben sind zahlreiche Cluster Teil von (nicht als solche kenntlich gemachten) Normtextverweisen277. Andere Muster stehen für häufig verhandelte Lebenssachverhalte, insbesondere mit Blick auf Mantel- oder Tarifverträge unterschiedlichster Branchen sowie auf ›Rechtsansprüche von Arbeitnehmern gegenüber ihren Entgeltzahlern oder Dritten‹ (Ansprüche der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber). Bei letzteren sind anhand von Sub-Mustern auch Fallgruppen erkenntlich, etwa Bedarfsansprüche mit Blick auf Altersteilzeit, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall usw. Schließlich evozieren einzelne Sprachmuster besondere Konzepte: 

als Arbeitnehmer im Sinne des X = Normtext: bildet einen wiederkehrenden metasprachlichen Normtextbezug, d.h. die Formel bindet die fallket-

___________ 277 Wie etwa: Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen oder zu § 2 ArbGG (Zuständigkeit des Gerichts): bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern […].

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

  



111

ten-orientierte Typologisierung des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs an Normtexte diskursiv zurück; der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes: verweist auf eine oft verhandelte ›Personengruppe‹; Ausscheiden des Arbeitnehmer aus dem X: verweist auf einen diskursiv exponierten und im Beurteilungsverfahren orientierenden ›Zeitpunkt‹; [Abgaben,] die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen: unterstellt einen ›fiktiven Durchschnitt‹; das Cluster dient damit als Topos genauso wie das Interesse der Arbeitnehmer an X, womit eine einheitliche (fiktive) Gruppenintention angenommen oder unterstellt wird; bestimmte Doppelformen, die auf eine implizite Differenzierung von ›Individuum und Kollektiv‹ (Arbeitnehmer oder Gruppe von Arbeitnehmern), ›Streitparteien‹ (die Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber) oder ›Geschlechter‹ (Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) verweisen.

Einen Ausschnitt des Arbeitnehmer-Kotextes anhand von Kookkurrenzen kann als Diskurskarte unter http://korpuspragmatik.de/images/arbeitnehmer/ (28.06.2013) abgerufen werden. 4. Kookkurrenzpartner mit arbeitnehm Während Komposita und feststehende Mehrworteinheiten den Analysefokus auf stark verdichtete Sprachmuster legen, erfassen Kookkurrenzanalysen auch Ko(n)textmuster mit größerer Streuung. Auf diese Weise lassen sich auch über größere Strecken hinweg Zusammenhänge zwischen verschiedenen Wortgruppen und damit dogmatischen Kristallisationskernen sichtbar machen. Für die vorliegende Untersuchung wurden zwei Kookkurrenzanalysen durchgeführt, nämlich zum einen mit Fokus auf Substantive und Vollverben (keine Hilfs- und Modalverben), zum anderen konzentriert auf Adjektive und Adverbien. In beiden Fällen wurden Kookkurrenzen im Intervall von 15 Wörter links und rechts [-15 / +15] vom Ausgangsausdruck ([Aa]rbeitnehm) ermittelt. Im Anschluss an eine Signifikanztestprüfung (einseitiger t-Test mit p ≥ 99,99 %) wurden die ersten hochsignifikanten fünfzig Kookkurrenzpartner mittels weiterer geschachtelter Kookkurrenzanalysen, Konkordanzen und Volltextdurchsicht aller dazugehörigen Belege ausgewertet und thematisch gruppiert. Substantive und Vollverben lassen sich in folgende Cluster zusammenfassen: Zahlreiche Kookkurrenzpartner verweisen auf für die Konkretisierung des Arbeitnehemr-Begriffs zentrale ›Normtexte‹ oder sind ›Spuren juristischer Textarbeit‹. ›Akteure‹ im Kontext des Arbeitnehmers: Neben Kläger und Beklagten – als Prozessbeteiligte – fallen insbesondere Betriebsrat, Arbeitgeber und Arbeit-

112

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

nehmerin ins Auge. Der Betriebsrat nimmt nach dem BetrVG die Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Betrieb wahr. Die Kookkurrenzpartner sowie 5-Wort-Cluster zeigen, dass dabei vor allem die ›Frage nach der Notwendigkeit bzw. des Vorliegens einer Zustimmung des Betriebsrates zu X [mit X = Personal- und Betriebsmaßnahme]‹ verhandelt wird (mit Konkretisierung von §§ 87 I und 99 IV BetrVG). Die häufigsten Verhandlungsgegenstände sind dabei Verfahren der Eingruppierung, der (außerordentlichen) Kündigung, der Umgruppierung, Versetzung, (Modalitäten der) Einstellung sowie mit Blick auf Betriebsänderungen bzw. Sozialplänen (§§ 111 ff. BetrVG). Nr.

f

1

301

d Zustimmung d Betriebsrat zur

5-Wort-Cluster mit Betriebsrat (lemmatisiert)

2

153

d Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr

3

145

d Mitbestimmungsrecht d Betriebsrat nach

4

142

Zustimmung d Betriebsrat zur Eingruppierung

5

131

Mitbestimmungsrecht d Betriebsrat nach § 87 Abs

6

117

Ersetzung d Zustimmung d Betriebsrat

7

111

d Betriebsrat zur Eingruppierung d

8

107

d Betriebsrat haben beantragen , d

9

106

d Zustimmung d Betriebsrat zu

10

101

d Mitbestimmungsrecht d Betriebsrat bei

Screenshot: Sortierte zeilenweise Darstellung der Sprach- und Prädikationsmuster zur Phrase d Zustimmung d Betriebsrat zur X

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

113

Kookkurrenzpartner zu Betriebsrat [-5 / +5] und Arbeitnehmer [-15 / +15]: Zustimmung, BetrVG, Mitbestimmungsrecht, Eeingruppierung, Einstellung, bestehen, Antrag, beantragen, Umgruppierung, Kündigung, beschäftigen, wählen, Interesse, Versetzung, Wahl, Schreiben, ersetzen, mitteilen, Mitbestimmung, Beteiligung, Beteiligungsrecht, Anhörung, begründen, Interessenausgleich, Betriebsvereinbarung, Verfahren, Arbeitszeit, verweigern, Beschwerde, widersprechen, Widerspruch, Maßnahme, Sozialplan, kündigen, unterrichten, eingruppieren, begehren, Unterrichtung, entsprechen, erklären, Einigungsstelle, Stellungnahme u.a. Dass der Betriebsrat im Umfeld des Arbeitnehmers auftaucht, ist für Arbeitsrechtler natürlich kein Erkenntnisgewinn. Dies ist hier auch nicht unser Anliegen. Die Auswertung illustriert zunächst lediglich das Verfahren, wie man sukzessive die Bedeutung und damit eben die Gebrauchskontexte eines Ausgangswortes (hier Arbeitnehmer) kontrolliert eruieren, dem Wandel durch die Kontexte folgen kann. Schon interessanter ist dabei, dass die Denkfigur des Arbeitgebers keine eigene, der Arbeitnehmer-Figur entsprechende Konkretisierung zu erfahren scheint. Der Arbeitgeber wird vielmehr ex negativo aus der jeweiligen Bestimmung des Arbeitnehmers konzeptualisiert. Das entsprechende (allerdings nur schwach belegte) Muster hierzu konstatiert: Arbeitgeber ist, wer Arbeitnehmer beschäftigt.278 Die feminine Form des Arbeitnehmers, die Arbeitnehmerin, sticht als signifikanter Kookkurrenzpartner hervor und steht in unserem Primärkorpus für zweierlei: nämlich erstens für den historischen Wechsel zu geschlechtergerechter Sprache (und damit die konsequente Einführung der Doppelform Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen) und zweitens für den besonderen (jedoch fallspezifisch umstrittenen) Schutz, der weiblichen Arbeitnehmern insbesondere im Kontext des Gemeinschaftsrechts zugesprochen wird (insb. Art. 8, 11 der Richtlinie 92/85/EWG (Mutterschutzrichtlinie) sowie Art. 2 der Richtlinie 76/207/EWG (Gleichbehandlungsgrundsatz279). Besondere ›Sachverhalte und Handlungszusammenhänge‹ im Kontext des Arbeitnehmers werden zum Beispiel durch die hochsignifikanten Ausdrücke Tätigkeit, Arbeit, Interesse, Anspruchs, Fall, Leistung, Beschäftigen / Verständigung, Arbeitsverhältnis, Arbeitsvertrag und Kündigung konzeptuell aktiviert. Das Substantiv Tätigkeit gehört zu mindestens zwei zentralen Kontexten: Zum einen bezeichnet es die (meist umstrittene) Paraphrasierung von ›Merkma___________ 278

Z.B. BAG, NZA 1992, 996 Richtlinie 76/207/EWG vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in %ezug auf die Arbeitsbedingungen. 279

114

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

len der konkret von einer Person ausgeführten Arbeitsverrichtung‹ mit Blick auf ihre tarifliche Eingruppierung (Eingruppierungsrecht). Zum anderen ist es Teil der (abgewandelten) Gesetzesformulierung im Handelsgesetzbuch (HGB) zur Differenzierung von Arbeitnehmer und Selbständigen: 

Arbeitnehmer ist namentlich der Mitarbeiter, der nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 HGB);



nach dieser Bestimmung ist selbständig, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und sein Arbeitszeit bestimmen kann.

Der Ausdruck Leistung zeigt vier dominante Gebrauchsweisen im Kontext des Arbeitnehmers: Erstens meint es die ›(monetäre) Entlohnung / Gegenleistung des Arbeitnehmers für seine Arbeitskraft‹ (verpflichtet, seinen Arbeitnehmern bestimmte Leistungen zu zahlen oder besondere Vergütung zu gewähren); zweitens Leistung im Sinne eines ›Gerechtwerdens gegenüber rechtlich begründeten Ansprüchen‹ (etwa ALG; Anspruch eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Leistung der betrieblichen Altersversorgung); drittens Leistung im Sinne von ›(vertraglich vereinbarter) Arbeitskraft‹ (Regelung, die die Bewertung des Verhaltens oder der Leistung des Arbeitnehmers objektiviert oder vereinheitlicht); viertens als Teil einer Zweiworteinheit mit Spezialgebrauch als Vermögenswirksame Leistung (›tarifgebundene Zusatzgeldanlage‹). Während signifikante Handlungsverben im Kotext von Arbeitnehmer oft Teil von usuellen Wortverbindungen des Alltagssprachgebrauchs sind (wie liegen, kommen, stellen, stehen), ist das Verb erhalten hervorzuheben. Es steht zum einen quasisynonym für das ›Aufrechterhalten oder Bestätigen eines bestimmten Anspruchs‹, zum anderen aber ist es vor allem Teil eines weiteren Konkretisierungsmusters, der sog. „Lawrie-Blum“-Formel des Europäischen Gerichtshofs (siehe hierzu unten). Beschäftigen bzw. Beschäftigung referiert besonders im Sozialrecht (Belege überwiegend nur in Entscheidungen des BSG) sowie mit normtextuellen Bezug (Legaldefinition in § 7 Abs. 1 SGB IV) auf eine ›Arbeitssituation von Personen, die nicht Selbständige sind‹ und also ex negativo in das Begriffsfeld des arbeitsrechtlichen ›Arbeitnehmer‹-Begriffs fallen (so etwa via disjunktivem Konnektor: eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit). Mit anderen Worten: Die Gruppenbezeichnungen Beschäftigte (Sozialrecht) und Arbeitnehmer (Arbeitsrecht) sind quasisynonym. Eine Bigramm-Analyse zeigt darüber hinaus in der Rechtsprechung rekurrente Attribute, die auf verschiedene Fallgruppen schließen lassen. So bedarf es offenbar am häufigsten der Konkretisierung der Bedingungen, unter denen von einem ›Arbeitgeber‹ gegenüber (s)einem ›Arbeitnehmer‹ Sozialbeiträge zu entrichten sind. Auch stehen offenbar häufiger Diskrepanzen zwischen ›vertraglich vereinbarter‹ und ›realer Tätigkeitsmerkmale‹ (tatsächliche Beschäftigung) sowie über ›sitten-

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

115

widrige Grenzen eines Tätigkeitsumfang‹ (zumutbare Beschäftigung) zur Disposition. Bigramm

f

Erläuterung

674

›Handlung‹, für die Sozialabgaben abgeführt werden müssen. Häufig verknüpft mit: oder Tätigkeit; nahezu ausschließlich BSG (daneben auch BVerfG und EuGH)

370

Mehrgliedriges Muster im Kontext des AFG: [Anspruch auf X, wer [Zeitintervall] in ein die Beitragspflicht begründende Beschäftigung [z.B. § 168 AFG ] gestanden hat; markiert temporalen Bemessungsrahmen; nahezu ausschließlich BSG

abhängige Beschäftigung

322

Gegenüberstellung zum Selbständigen via Disjunktion: ein abhängig Beschäftigung oder ein selbständig Tätigkeit; nahezu ausschließlich BSG

beitragspflichtig Beschäftigung

266

s.o.

tatsächliche Beschäftigung

207

Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung nach Vertrag; im Geltungsschatten von Art. 1 und 2 GG; diachron deutlich zunehmend

geringfügige Beschäftigung

194

Diachron deutlich abnehmend; Peak 90er

befristete Beschäftigung

167

Diachron deutlich zunehmend

anderweitige Beschäftigung

161

Tendenziell diachron zunehmend

abhängiges Beschäftigungsverhältnis

141

s.o.

BGB Beschäftigungspflicht

125

Nur § 611 BGB - ; Diachron zunehmend, Peak 2004

versicherungspflichtige Beschäftigung

begründende Beschäftigung

Der im Umfeld von Arbeitnehmer häufig auftretende Ausdruck Arbeitsverhältnis ist ein Konkurrenz- bzw. Komplementärausdruck zu Arbeitsvertrag. Ein Arbeitsverhältnis rekurriert auf eine ›faktisch asymmetrische soziale, auf Arbeit und Entlohnung bezogene Beziehung zwischen einer arbeitenden Person und einem Entgeltzahler‹, ein Arbeitsvertrag formalisiert und materialisiert ein solches Verhältnis in einem symbolischen, schriftlichen Ereignis. Die Begriffsextension eines Arbeitsverhältnisses geht also über die eines Arbeitsvertrages hinaus. So heißt es in einem typischen Beleg:

116

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Kennzeichen eines derartigen Beschäftigungsverhältnises ist die unselbständige Arbeit, wie sie insbesondere in einem Arbeitsverhältnis geleistet wird (vgl § 7 Abs 1 SGB IV). Ein Beschäftigungsverhältnis [bedingt] nicht notwendig einen abgeschlossen Arbeitsvertrag, maßgebend ist vielmehr das tatsächliche Verhältnis. Wesentlich für das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnis ist die persönliche Abhängigkeit von ein Arbeitgeber, dessen Direktionsrecht die Beschäftigten unterliegen, sei es durch vertraglich vereinbarte Weisungsgebundenheit oder durch Eingliederung des Arbeitenden in den Betrieb des Arbeitgebers (vgl BSGE 59, 284, 286 = SozR 2200 § 539 Nr 114 mwN; BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 6) (BSG Akz. B2U3/97R, Urteil vom 17.02.1998) Diese semantische Abgrenzung wird auch deutlich, wenn man die Kotextbzw. Kookkurrenzprofile der beiden Wörter statistisch miteinander kontrastiert (vgl. o. Key-Kookkurrenzpartner). Typische Kookkurrenzpartner (KKp) [-10 / +10] zu Arbeitsvertrag (die zugleich untypisch für Arbeitsverhältnis sind) lauten:

X2

f (Arbeitsvertrag) pro 10.000 Wortformen

f (Arbeitsverhältnis) pro 10.000 Wortformen

Abschluß

2251,358

0,512

0,156

befristeter

2135,069

0,361

0,042

schriftlich

950,665

0,286

0,140

befristet

935,488

0,492

0,423

abschließen

806,475

0,203

0,075

schließen

580,769

0,210

0,128

enthalten

543,684

0,190

0,112

vereinbaren

525,553

0,259

0,211

Änderung

370,229

0,130

0,077

geschlossen

354,148

0,092

0,036

abgeschlossen

309,773

0,104

0,059

Vergütungsgruppe

297,485

0,075

0,027

Bestandteil

236,433

0,056

0,018

Klausel

204,195

0,045

0,013

unterzeichnen

192,116

0,041

0,011

Verweisung

190,858

0,049

0,019

Nachtrag

189,797

0,033

0,004

Ausdruck (KKp)

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

117

X2

f (Arbeitsvertrag) pro 10.000 Wortformen

f (Arbeitsverhältnis) pro 10.000 Wortformen

verweisen

189,277

0,062

0,034

ausdrücklich

177,678

0,110

0,106

Ergänzung

173,464

0,032

0,006

Befristungskontrolle

172,911

0,044

0,016

Befristungsgrund

119,427

0,029

0,010

Angabe

117,792

0,035

0,017

Ausdruck (KKp)

Typische Kookkurrenzpartner (KKp) [-10 / +10] zu Arbeitsvertrag (die zugleich untypisch für Arbeitsverhältnis sind) lauten dagegen: f (Arbeitsvertrag) pro 10.000 Wortformen

Ausdruck (KKp)

X2

f (Arbeitsverhältnis) pro 10.000 Wortformen

Kündigung

1421,850

2,046

0,063

Beendigung

1284,804

1,760

0,042

feststellen

569,875

0,856

0,031

kündigen

490,043

0,745

0,028

bestehen

397,058

1,127

0,127

beenden

393,122

0,668

0,035

Befristung

376,692

0,543

0,412

Fortsetzung

276,483

0,366

0,007

auflösen

258,900

0,363

0,010

enden

255,851

0,574

0,050

ausscheiden

254,422

0,365

0,011

fortbestehen

219,128

0,311

0,009

außerordentlich

200,575

0,267

0,005

Fortbestand

182,463

0,241

0,004

fristlos

160,282

0,220

0,005

Die Kookkurrenzpartner zu Arbeitsverhältnis zeigen, dass es vor allem um die temporale Bestimmung von Beginn und Ende der Arbeitsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geht, zumal sich aus einem Arbeitsverhältnis (nicht allein aus einem Arbeitsvertrag) heraus verschiedene Ansprüche

118

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

des Arbeitenden bzw. Verpflichtungen / Leistungen des Arbeitgebers ergeben. Die Kookkurrenzpartner zu Ansprüche (im Kotext von Arbeitsverhältnis)280 verweisen entsprechend auf verschiedene Fallgruppen, u.a. Leistungen im Krankheitsfall (Arbeitsunfähigkeit), bei Urlaub/Erziehungsurlaub, Abfindung bei Kündigung, Arbeitnehmerweiterbildung, Übergang zur Rente, Arbeitslosigkeit u.a. Eine diachrone Auswertung deutet darauf hin, dass die lemmatisierte Mehrworteinheit Anspruch auf X in der Rechtsprechung tendenziell über die Jahre abnimmt281. Weniger überraschend ist schließlich die diachron deutliche Zunahme des Ausdrucks Kündigung und damit verbundenen Mehrworteinheiten im Umfeld des Arbeitnehmers. Es handelt sich dabei durchweg um die ›einseitige Auflösung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber282‹. Eine Kompositaund Bigrammanalyse zeigt, dass in der Dogmatik verschiedene Typen bzw. Fallgruppen der ›Kündigung‹ vor allem nach Anlass und im weiteren nach Umfang und Fristen der Verfahren unterschieden werden; die häufigsten sind: betriebsbedingte, personenbedingte und verhaltensbedingte Kündigungen, ferner krankheitsbedingte Kündigung, Änderungskündigung, Verdachtskündigung, Arbeitgeberkündigung, Tatkündigung, Probezeitkündigung u.a.

Diachrone Veränderung verschiedener Kündigungstypen im Vergleich

___________ 280 Arbeitsentgelt, Höhe, Zahlung, Sonderzahlung, Vergütung, Fortzahlung, Arbeitsunfähigkeit, Entgeltfortzahlung, Urlaub, Abfindung, Urlaubsgeld, Arbeitsvertrag, Freistellung, Gehalt, Erziehungsurlaub, Arbeitnehmerweiterbildung, Vorruhestandsleistungen, Erholungsurlaub, Rente, Altersversorgung, Verletzung, Krankheit, Versicherungsleistung, Arbeitslosengeld, Familienleistung, Monatseinkommen, Zulage usw. 281 Negationen (kein / nicht Anspruch auf) wurden dabei herausgerechnet. 282 Eine Arbeitnehmerkündigung findet sich etwa gut 14 Mal im Gesamtkorpus.

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

119

Sämtliche geprüften Kündigungstypen nehmen diachron teilweise stark zu. Die Prädikationen in Komposita (insb. im Determinans), in Bigrammen (Attributen) und signifikanten Kookkurrenzpartnern illustrieren häufige Streitgegenstände vor Gericht sowie dort konkretisierte semantische Slots: Die Gültigkeit (Wirksamkeit / Unwirksamkeit) einer ›Kündigungsäußerung‹ scheint dabei an besondere ›temporale Intervalle und Ereignisse‹ (Zeitpunkt [verschiedene], fristlos, fristgemäß, fristgerecht, Kündigungsfrist, Zugang [Zeitpunkt der Kündigungszustellung]), die ›materielle Form der Kündigung‹ (schriftlich, ausgesprochen, erklärt, Ausspruch, begründen, rechtfertigen) sowie ›Umfang und Art der Einbindung des Betroffenen sowie seiner Interessenvertretung (Betriebsrat)‹ (musterhaft: Zustimmung283, Anhörungsverfahren insb. bei Verdachtskündigungen284) gebunden zu sein. Die Kookkurrenzpartner geben auch Aufschluss über den jeweiligen Normtextbezug, insb. im Kündigungsschutzgesetz (KSchG), dem BGB (v.a. § 612a BGB [Maßregelungsverbot], § 613a BGB [Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang; Inhaberwechsel], § 626 BGB [fristlose Kündigung] und § 242 BGB [Leistung nach Treu und Glauben]) und verschiedenen Rechtssätzen zum Mitbestimmungsverfahren im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Entsprechend zur Zunahme von Kündigungen nehmen schließlich auch Fälle zu, in denen Kriterien der Sozialauswahl, die Voraussetzung einer betriebsbedingten Kündigung ist (§ 1 Abs. 3 KSchG), verhandelt werden. Unter den hier im Detail ausgewerteten signifikanten Kookkurrenzpartnern finden sich nur zwei besondere ›Orte‹ im Kontext des ›Arbeitnehmers‹: Der Betrieb spielt historisch gesehen offenbar eine wichtige Rolle bei der Konkretisierung des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs, denn er führte die ›Weisungsgebundenheit des Arbeitskraft-Entäußernden‹ an seine ›Eingliederung in einen auch lokal abgesonderten und einem unternehmerischen Zweck dienenden Raum‹ zurück. Ein zentrales dogmatisches Konkretisierungsmuster lautet etwa: Betrieb ist die organisatorische Einheit, innerhalb der der Arbeitgeber mit seinem Arbeitnehmer durch Einsatz technischer und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortsetzend verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen. Durch die arbeitstechnische Zweckbestimmung der organisatorischen Einheit unterscheidet sich der Be___________ 283 4 Muster: Zustimmung des Arbeitnehmers im Falle eines Aufhebungsvertrages, Zustimmung des Betriebsrats bei außerordentlicher (= fristloser) Kündigung nach § 103 BetrVG; Zustimmung der Hauptfürsorgestelle sowie Zustimmung des Integrationsamtes bei Kündigung von Schwerstbehinderten. 284 [...] nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAGE 49 , 39 , 54 f. = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972, zu C III 3 d Grund) ist die Anhörung des Arbeitnehmers Wirksamkeitsvoraussetzung für eine ihm gegenüber ausgesprochene Verdachtskündigung [...] (BAG, NZA 1990, 477).

120

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

trieb von dem weitergefaßten Begriff des Unternehmens (BAG Akz 2 AZR 623/85, Urteil vom 05.03.1987). Diachron scheint der Ausdruck und die damit verbundene Semantik zur ›Arbeitnehmer‹-Konkretisierung aber an Bedeutung zu verlieren. So nehmen die Cluster d Arbeitnehmer d Betrieb oder d Arbeitnehmer im Betrieb oder im Betrieb beschäftigt Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer in d Betrieb oder in d Betrieb eingliedern diachron ab. Hintergrund könnte eine veränderte Lebenswelt in der Bundesrepublik Deutschland sein. Denn für die Erledigung der Arbeit in einer Dienstleistungsgesellschaft spielt eine lokale Verankerung eine geringere Rolle als etwa zu Zeiten großer Werkstätten einer Industriegesellschaft. Der Ausdruck Arbeitsplatz hat im Rechtsdiskurs einen teilweise verwandten Gebrauch wie in der Gemeinsprache und spielt für die Konkretisierung dessen, was ein ›Arbeitnehmer‹ ist oder sein solle, nur eine marginale Rolle. Er wird aber dann wichtig, wenn es um die ›räumliche und modale Einrichtung einer (bereits anerkannten) Arbeitnehmer-Stelle‹ (Arbeitsbedingungen) und die damit verbundenen Mitspracherechte der Betroffenen sowie der Interessenvertretung (insb. bei Betriebsänderungen, Umsetzung, Kündigung u.ä.). Als ›temporal‹ assoziierender Kookkurrenzpartner spielt schließlich der Ausdruck Arbeitszeit erwartungsgemäß eine große Rolle. An Gebrauchsko(n)texten dieses Ausdrucks lassen sich zumindest drei Bereiche differenzieren: (1) Er ist Teil des (abgrenzenden) Definitionsversuchs des BAG zwischen als Arbeitnehmer und als Selbständige bezeichneten Personen im Sinne einer ›unfreien‹ versus einer ›freien Zeitverfügung‹ im Rahmen der ›Handlungs- und Gestaltungsfreiheit‹; (2) Arbeitszeit ist Teil von Bemessungsgrundlagen zur Berechnung von Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall und dient (3) zur Konkretisierung anderer temporaler Intervalle (Pausen, Schichtarbeit, arbeitsfreie Tage u.a.), teilweise unter Hinzuziehung vielfältiger Attributketten (wöchentliche, regelmäßige, geltende, tarifliche, betriebsübliche Arbeitzeit usw.). Eine Auswertung der Mehrworteinheiten zeigt, dass zur Konkretisierung dessen, was als Arbeitszeit bezeichnet wird, bereits zahlreiche grundlegende Entscheidungen ergangen sind, deren Leitsätze (ohne entsprechende Markierung) in Nachfolgeentscheidungen aufgegriffen und schematisch zugrunde gelegt werden. Die nachfolgenden Belege illustrieren die Sedimentierung der ›temporalen‹ Schemata rund um den ›Arbeitnehmer‹:

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik Sprachmusterauszug (MWE) wesentlich frei sein Tätigkeit gestalten und sein Arbeitszeit bestimmen können.

d Arbeitnehmer bei d für er maßgebend regelmäßig Arbeitszeit zustehend Arbeitsentgelt „. bestehend tarifl

aufgrund d regelmäßig tariflich wöchentlich Arbeitszeit zu arbeiten haben

Differenz zwischen Betriebsnutzungszeit und d Arbeitszeit für d einzeln Arbeitnehmer können d Zeitausgleich Arbeitnehmer/Auszubildend e in regelmäßig Arbeitszeit zu arbeiten hat/in regelmäßig Ausbildung

f

50

Diachrone Orientierung

Beispiel

90er und 00er; leichte Tendenz zur Zunahme

Arbeitnehmer sein diejenige Mitarbeiter, d nicht im Wesentliche frei sein Tätigkeit gestalten und sein Arbeitszeit bestimmen können. selbständig sein, wer im Wesentliche frei sein Tätigkeit gestalten und sein Arbeitszeit bestimmen können, § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB

Konzentriert Ende der 90er

durch d arbeitsrechtlich Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I, S. 1476) werden d Höhe d Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabsetzen. Sie betragen nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG „80 vom Hundert d d Arbeitnehmer bei d für er maßgebend regelmäßig Arbeitszeit zustehend Arbeitsentgelt“. bestehend tariflich Regelung sein durch d Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufheben werden

V.a. 2 Entscheidungen des BAG 1997

für Arbeitnehmer, d regelmäßig in 5TageWoche mit ein arbeitsfrei Werktag, insbesondere mit arbeitsfreiem Samstag, beschäftigen sein, zählen als Arbeitstag d Tag, an d d Arbeitnehmer aufgrund d regelmäßig tariflich wöchentlich Arbeitszeit zu arbeiten haben

90er

bei ein Differenz zwischen Betriebsnutzungszeit und d Arbeitszeit für d einzeln Arbeitnehmer können d Zeitausgleich auch in Form von frei Tag erfolgen

V.a. um 1994

Arbeitstage/Ausbildungstage sein alle Kalendertag, an d d Arbeitnehmer/Auszubildende in regelmäßig Arbeitszeit zu arbeiten hat/in regelmäßig Ausbildung stehen. auch wenn d regelmäßig Arbeitszeit/Ausbildungszeit auf mehr oder weniger als fünf Tag in d Woche - ggf. auch im Durchschnitt mehrere Woche - verteilen sein, gelten fünf Tag je Woche als Arbeitstage/Ausbildungstage

23

7

7

6

121

122

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Sprachmusterauszug (MWE) Arbeitnehmer, d regelmäßig Arbeitszeit auf mehr oder weniger als 5 Werktag in d Woche ein Fünftel d individuell regelmäßig wöchentlich Arbeitszeit d Arbeitnehmer nach d Durchschnitt

f

Diachrone Orientierung 90er Jahre

Arbeitnehmer, d regelmäßig Arbeitszeit auf mehr oder weniger als 5 Werktag in d Woche verteilen sein, sein ein zeitlich gleichwertig Urlaub zu gewährleisten

Nur 90er

hinsichtlich d Anzahl d Arbeitsstunde je Tag, d zu vergüten sein, d Bruchteil, d er|es|sie aus d Verteilung d individuell regelmäßig wöchentlich Arbeitszeit auf d einzeln Wochentag nach d Durchschnitt d letzt drei abgerechnet Monat ergeben, bei Urlaub 1/5 d individuell regelmäßig wöchentlich Arbeitszeit d Arbeitnehmer nach d Durchschnitt d letzt drei abgerechnet Monat

90er und 00er

nach sein allgemein arbeitsrechtlich Bedeutung sein für d Begriff d Schichtarbeit wesentlich, daß ein bestimmt Arbeitsaufgabe über ein erheblich lang Zeitraum als d wirklich Arbeitszeit ein Arbeitnehmer hinaus anfallen und von mehrere Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppe in ein geregelt zeitlich Reihenfolge, teilweise auch außerhalb d allgemein üblich Arbeitszeit, erbringen werden (BAG Urteil vom 18. Januar 1983 - 3 AZR 447/80 - AP Nr. 1 zu § 24 BMT-G II)

Nur 90er

Konkretisierung zu: § 69 AFG: „Arbeitszeit im Sinne der Vorschriften über das Kurzarbeitergeld ist […]“

90er

§ 4 Verteilung d regelmäßig Arbeitszeit... 1. d Arbeitszeit im Betrieb werden im Rahmen d Volumen, d er|es|sie aus d für d Betrieb nach § 3 Nr. 1 Abs. 1 festgelegt Arbeitszeit ergeben, durch Betriebsvereinbarung nah regeln. können für Teil d Betrieb, für

6

6

erheblich lang Zeitraum als d wirklich Arbeitszeit ein Arbeitnehmer 6

für d von d zugewiesen Arbeitnehmer innerhalb d Arbeitszeit d § 69 AFG geleistet Arbeitsstunde von Arbeitnehmer unterschiedlich wöchentlich Arbeitszeit zwischen 37 und

5

4

Beispiel

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik Sprachmusterauszug (MWE)

f

Diachrone Orientierung

123

Beispiel einzeln Arbeitnehmer oder für Gruppe von Arbeitnehmer unterschiedlich wöchentlich Arbeitszeit zwischen 37 und 39 1/2 Stunde|Stunden, ab 1. April 1989 zwischen 36 1/2 und 39 Stunde|Stunden festlegen werden

diejenigen Arbeitnehmer ausnehmen, d regelmäßig Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunde|Stunden oder monatlich

1989

d europäisch Gerichtshof haben mit Urteil vom 13. Juli 1989 (- R 171/88 AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) entscheiden, Art. 119 EWG-Vertrag sein auslegen, daß er ein national Regelung entgegenstehen, d es d Arbeitgeber gestatten|statten, von d Lohnfortzahlung im Krankheitsfall diejenigen Arbeitnehmer ausnehmen, d regelmäßig Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunde|Stunden oder monatlich 45 Stunde|Stunden nicht übersteigen, wenn dies Maßnahme wesentlich mehr Frau als Mann treffen, es sein denn, d Mitgliedstaat liegen dar, daß d betreffend Regelung durch objektiv Faktor, d nichts mit ein Diskriminierung aufgrund d Geschlecht zu tun haben, rechtfertigen sein

00er

gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG sein ein teilzeitbeschäftigt Arbeitnehmer Arbeitsentgelt oder ein ander teilbar geldwerte Leistung mindestens in d Umfang zu gewähren, d d Anteil sein Arbeitszeit an d Arbeitszeit ein vergleichbar vollbeschäftigt Arbeitnehmer entsprechen

EuGH 1988 mit Verweis auf BAG 1972 und BVerwG 1967; dann BAG 1992

haben d Landesarbeitsgericht d weder gesetzlich noch tariflich festgelegt Begriff d „Pause“ zutreffend unter Rückgriff auf d natürlich Sprachgebrauch bestimmen. sein „ Pause „ im voraus festgelegt Unterbrechung d Arbeitszeit, in d d Arbeitnehmer weder Arbeit zu leisten noch er|es|sie bereithalten haben, sondern frei entscheiden können, wo und wie er dies Zeit verbrin-

3

u gewähren, d d Anteil sein Arbeitszeit an d Arbeitszeit ein vergleichbar vollbeschäftigt Arbeitnehmer sein im Voraus festliegend Unterbrechung d Arbeitszeit, in d d Arbeitnehmer weder Arbeit zu leisten

3

3

124

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

Sprachmusterauszug (MWE)

f

Diachrone Orientierung

Beispiel gen wollen. entscheidend Merkmal für d Pause sein mithin, daß d Arbeitnehmer von jed Dienstverpflichtung und auch von jed Verpflichtung, er|es|sie zum Dienst bereithalten, freistellen sein (BAG, a.a.O.)

Interesse d Arbeitnehmer hinsichtlich d Lage ihr Arbeitszeit können durch d Mitbestimmungsrecht d Betriebsrat

Frühe 90er

3

d Interesse d Arbeitnehmer hinsichtlich d Lage ihr Arbeitszeit können durch d Mitbestimmungsrecht d Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ausreichend zur Geltung bringen werden. nach dies Bestimmung haben d Betriebsrat mitbestimmen nicht nur, ob im Betrieb überhaupt in mehrere Schicht arbeiten werden sollen, und nicht nur, wann d einzeln Schicht beginnen und enden, sondern auch, welch Arbeitnehmer in welch Schicht arbeiten sollen

Adjektivische und Adverbiale Kookkurrenzpartner zu Arbeitnehmer bestätigen und erweitern die bereits oben aus Komposita abgeleiteten semantischen Sedimente. Für die Auswertung wurde eine Kookkurrenzanalyse mit dem Wortradius von fünf Wörtern links und rechts und die ersten 100 hochsignifikanten Kookkurrenzen (p ≥ 99,99 %) kategorisiert. Folgende statistisch auffälligen ›Akteurs- und damit zugleich rechtliche Fallgruppen‹ werden attributiv differenziert: ­

­

­

Differenzierung nach ›Alter‹: jung, alt [ältere]; alt diachron gleichbleibend; jung deutlich diachron zunehmend, insbesondere im Ko(n)text von Kündigungen und damit verbundenen Sozialplänen (ältere Arbeitnehmer werden bei Fragen des Arbeitsplatzschutzes vorrangig behandelt); Differenzierung nach ›Geschlecht‹: männlich, weiblich; verweist auf Verhandlungskontexte zur Gleichbehandlung, aber auch auf unterschiedliche Sprachkonventionen (früher weibliche Arbeitnehmer; heute Arbeitnehmerinnen); Differenzierung nach ›Arbeitszeit‹: vollzeitbeschäftigt, teilzeitbeschäftigt, vorübergehend, wöchentlich, vollbeschäftigt;

II. Der ›Arbeitnehmer‹-Begriff in den Sedimenten der Rechtsdogmatik

­ ­ ­ ­

­ ­ ­

­

125

Differenzierung nach ›Zeitpunkt und Bedingung der Beschäftigung‹: [vor/am/neu/befristet] eingestellt, abgerechnet, gleitend285, gewerbsmäßig[e Überlassung], austauschbar (Schichtarbeiter)286; Differenzierung nach ›Beendigungszeitpunkt des Beschäftigungsverhältnisses und damit verbundenen Folgen: ausgeschieden, [vorzeitig] ausscheidend, entlassen, gekündigt / ungekündigt / kündigend, entlassend; Differenzierung nach ›Kollektiv-Integration‹: organisierte vs. nicht organisierte Arbeitnehmer; Differenzierung nach ›Art der Arbeitsverrichtung‹: menschlich [Arbeitskraft]in Branchen, in denen es im wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt, kann eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die durch eine gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbunden sind, eine wirtschaftliche Einheit darstellen (Muster 1 von 2; BAG Akz. 8 AZR 306/98, Urteil vom 18.03.1999); Differenzierung nach ›Gesundheitszustand‹: arbeitsunfähig, krank, erkrankt – verweisen auf Kündigungsversuche auf Basis ‚negativer Gesundheitsprognose‘; Differenzierung nach ›nationaler Herkunft (Staatszugehörigkeit)‹: türkisch, ausländisch; Differenzierung nach ›Ost-/West-Gesellschaftsordnung‹: demokratisch: daß damals in der DDR noch kaum Arbeitnehmervertretung mit hinreichender demokratischer Legitimation bestand, die von dem Mitbestimmungsrecht des BetrVG auch tatsächlich haben Gebrauch machen und Sozialpläne haben abschließen können; u.a.

Eine große Gruppe an adjektivischen Kookkurrenzpartnern differenziert das semantische Verhältnis von ›Individuum‹ und ›Gruppe / Kollektiv‹, insbesondere auch in Verbindung mit dem ›Gleichbehandlungsgrundsatz‹ und der Kontrastierung eines ›konkreten Falles‹ mit einem ›fiktiven Durchschnitt / Regelfall / Prototypen‹: einzeln [Arbeitnehmer], persönlich, andere, individuell, sachlich, schlecht, gleich, organisiert, übrig, zusammen, konkret, benachteiligt, eingesetzt [Subgruppe], nichtorganisiert, kollektiv [Tatbestand, Interesse, Regelung ___________ 285 Gesetz zur Änderung d AFG und zur Förderung ein gleitend Übergang alt Arbeitnehmer in d Ruhestand 286 Schichtzeit im Sinne des MTV-Großhandels ist dann gegeben, wenn eine bestimmte Arbeitsaufgabe über einen erheblichen, längerenZeitraum als die wirkliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers erfüllt wird und von mehreren Arbeitnehmern oder Arbeitnehmergruppen, in einer geregelten zeitlichen Reihenfolge erbracht wird. […] ausreichend ist, wenn die übereinstimmende Arbeitsaufgabe von untereinander austauschbaren Arbeitnehmern erbracht wird. (Leitsatz; BAG, NZA 1990, 861)

126

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

u.a.]; unterschiedlich, vergleichbar, schutzbedürftig, sozial, sachfremd, durchschnittlich, regelmäßig, insgesamt, gewöhnlich u.a. Ausgewählte, häufig belegte Muster im Korpus: […] nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz ist es dem Arbeitgeber verwehrt, einzelne oder Gruppen von Arbeitnehmern ohne sachlichen Grund von allgemeinen begünstigenden Regelungen im Arbeitsverhältnis auszuschließen und schlechter zu stellen. […] kann die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer ein Indiz sein, ob ein kollektiver Tatbestand vorliegt oder nicht. Das ist von Bedeutung, weil es dem Zweck des Mitbestimmungsrechts widerspräche, wenn der Arbeitgeber es ausschließen kann, daß er mit einer Vielzahl von Arbeitnehmern jeweils „individuelle“ Vereinbarungen über eine bestimmte Vergütung trofft und sich nicht selbst binden und keine allgemeine Regelung aufstellen will […] der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet dem Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung seiner selbst gegebenen Regelungen gleichzubehandeln Einzelne Kookkurrenzen referieren auf bestimmte Ereignisse, insbesondere auf den ›vorliegenden Fall‹ (in Abgrenzung zu Präjudizien), ›Kündigungen‹ (gekündigt / ungekündigt / kündigend) und ›Arbeitsniederlegung‹ (streikend). Die beiden Ausdrücke betroffen bzw. betreffenden sind allgemeine Indikatoren für ‚negative‘ Ereignisse für ‚Arbeitskraft veräußernde‘ Personen. Schließlich zeigen zahlreiche Adjektive und Adverbien Versuche der ›fallspezifischen Differenzierung und Graduierung‹ (mindestens, weniger, mehr, länger, geringer, höher u.ä.), verweisen auf ›Lebensumstände‹ (sozial), ›kollektivrechtliche‹ (tarifliche X = Zeiten, Fristen, Regelungen usw.) sowie ›national- und europarechtliche‹ (national / europäisch X = Vorschrift, Regelung, Rechtsvorschrift u.a.) Kontexte.

III. Semantisches Schema und diskursive Funktion des ›Arbeitnehmers‹ – Sedimente der „herrschenden Meinung“ Die vorhergehenden Kapitel illustrieren unterschiedliche Sprachgebrauchsmuster, die typischer Weise das juristische Wortfeld zum Arbeitnehmer konkretisieren und mit der Definition des Arbeitnehmers im Zusammenhang stehen. An dieser Stelle sollen aus diesen empirischen Ergebnissen heraus induktiv die semantischen Sedimente des juristischen ›Arbeitnehmer‹-Begriffs paraphrasiert werden. Im Sinne eines Frame- bzw. Schema-Modells287 ist die Frage, in wel___________ 287 „A frame is a data structure for representing a stereotyped situation, like being in a certain kind of living room, or going to a child’s birthday party. Attached to each frame

III. Semantisches Schema und diskursive Funktion des ›Arbeitnehmers‹

127

che Teile und semantische Leerstellen sich der Wissensrahmen (das Konzept) um die Rechtsfigur des ›Arbeitnehmers‹ zergliedern lässt. Mit anderen Worten: Was denkt ein Arbeitsrechtler potentiell, wenn er an ›Arbeitnehmer‹ denkt? Die zentralen semantischen Leerstellen des ›Arbeitnehmers‹ seien zunächst im folgenden Schaubild illustriert und anschließend kommentiert:

EGE = Entgeltempfänger; EGZ = Entgeltzahler

Schaubild: Semantische Leerstellen des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs

Das prinzipielle semantische Begriffsfeld ›Arbeitnehmer‹ in der arbeitsrechtlichen Dogmatik besteht nach der vorliegenden exemplarischen Korpusauswertung idealtypisch aus vier bzw. fünf zentralen Leerstellen, aus deren Füllung im Einzelfall unterschiedliche Personengruppen differenziert und benannt werden: Zunächst und erstens handelt es sich allgemein um ›Personen‹, die ihre ›Arbeitskraft veräußern‹ und die zweitens dafür ›finanziell entlohnt‹ werden. Diese ›Arbeitsbeziehung‹ muss nicht notwendigerweise, aber kann drittens über einen ›Arbeitsvertrag‹ formalisiert und expliziert werden. Die Leerstelle der ›Leistung‹ oder ›Arbeitskraft-Veräußerung‹ lässt sich selbst als Rahmen für zwei weitere, miteinander zusammenhängende Konzepte zergliedern, nämlich den ›Grad der Gestaltungsfreiheit‹ sowie den ›Grad an Schutzbedürftigkeit bzw. Schutzanspruch‹. Diese beiden Konzepte verhalten sich umgekehrt proportional ___________ are several kinds of information. Some is about what can be expected to happen next.“ (Minsky, A framework for representing knowledge, in: Winston/Horn (Hrsg.), The psychology of computer vision, New York 1975, S. 212.)

128

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

zueinander, das heißt: je mehr Gestaltungsraum, desto weniger Schutzanspruch. Das Konzept des ›Schutzanspruchs‹ zergliedert sich fallweise wiederum in zahlreiche ›Formen rechtlicher Ansprüche‹, die einem ›ArbeitskraftVeräußernden‹ zugesprochen werden. Die ›Gestaltungsfreiheit‹ wird ebenso über zwei Leerstellen (Arbeitnehmer: ›temporal‹ und ›lokal‹) oder eine Leerstelle (arbeitnehmerähnliche Person: ›Haushaltsabhängigkeit des Entgeltempfängers vom Entgeltzahler‹) konkretisiert. In Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zeigen sich nun rekurrente Sprachgebrauchsmuster, die als Indices (‚Verweiser‘) für bestimmte prototypische Personengruppen mit spezifischen Füllungen der Leerstellen fungieren. Als Arbeitnehmer werden Personen etwa tendenziell dann bezeichnet, wenn sie quasi keine Gestaltungsfreiheit bei der Ausübung ihrer Leistung besitzen; wenn also der Entgeltzahler dem Entgeltempfänger sagt, wann und wo er welche Dienste zu erfüllen hat. In dieser Konstellation haben solche Entgeltempfänger vielfältigen Anspruch auf Schutz (‚Arbeitnehmerschutzrecht‘). Ein Selbständiger ist dagegen prototypisch eine Person, die quasi völlige Handlungsfreiheit ‚genießt‘, dafür aber quasi keinen Schutzanspruch gegenüber dem Entgeltzahler geltend machen kann. Die auf diese verschiedenen Prototypen verweisenden Ausdrücke sind nur in Ausnahmefällen auch direkt Gesetzesausdrücke. Häufiger handelt es sich um in der Rechtsprechung etablierte Paraphrasierungen (Arbeitnehmer ist, wer...), die aber als Konkretisierung von Normtexten auf ebendiese Bezug nehmen und ihnen damit Geltung zusprechen. Die Musterhaftigkeit dieser Phrasen ist schließlich selbst Symptom und Index für das Bestehen und eine gewisse Akzeptanz dieser Prototypen innerhalb der juristischen Institution, mit anderen Worten: die Musterhaftigkeit ist die Dogmatik. Vor diesem Hintergrund wird klar: Das Begriffsfeld um den ›Arbeitnehmer‹ hat aus diskursanalytischer Perspektive eine gewisse Gatekeeper-Funktion: nur wer nach dem entsprechenden semantischen Prototypen als Arbeitnehmer deklariert wird, hat auch Zugang zu umfänglichen Schutzrechten. Dies ist – wie eingangs dargelegt – auch aus juristischer Warte zutreffend: Die Funktion dieses ›Arbeitnehmer‹-Begriffs oder -Frames ist es, den personellen Anwendungsbereich des Arbeitsrechts abzugrenzen (s. etwa §§ 5 ArbGG, 5 BetrVG, 1, 23 KSchG, vgl. ausführlich oben, Abschnitt A.I.).288 Wer mit plausiblen, institutionell legitimierten Argumenten als Arbeitnehmer – bzw. im Sozialversicherungsrecht als Beschäftigter (vgl. §§ 3, 7 Abs. 1 SGB IV) – bezeichnet werden kann, kommt damit in den Genuss spezifisch arbeitsrechtlicher Privilegien (›sozialen Schutzansprüchen‹). ___________ 288 Siehe nur Richardi 2009: § 16 Rn. 2: „Im Arbeitnehmerbegriff spiegeln sich deshalb Begriff und Anwendungsbereich des Arbeitsrechts wider.“

IV. Diachrone Tendenzen des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs

129

Die hier auch korpuslinguistisch eruierte Vielfalt an Bezeichnungen für ›Entgeltempfänger bzw. Arbeitskraft-Veräußernde‹ ist Symptom fortwährender semantischer Kämpfe, in denen die Entgeltzahler (Arbeitgeber) entlang der obigen Schemata strategisch immer neue, dem ›Selbständigen‹ näher kommende Prototypen zu etablieren suchen. Dies hat – aus der Perspektive des Arbeitsrechtlers – einen simplen Hintergrund: Da mit der Qualifizierung von ›Entgeltempfängern‹ als Arbeitnehmer (einseitig zwingende) Schutzvorschriften einhergehen, werden in der Praxis die unterschiedlichsten Formen der Scheinselbständigkeit ausgetestet.289 Vor allem der in Deutschland stark ausgeprägte Kündigungsschutz soll so umgangen werden, aber auch eine Flucht aus der Tarifbindung kann das Ziel einer Scheinselbständigkeitskonstruktion sein (vgl. Abschnitt A.II.). Die Entgeltempfänger (oft vertreten durch Gewerkschaften o.ä.) versuchen diesen Bestrebungen der Arbeitsrecht-Umgehung jeweils zu begegnen, indem sie die ›Abhängigkeit‹ und damit die ›Schutzbedürftigkeit‹ der jeweiligen Personen in ihrer Lebenswelt hervorheben. Diese Gegenstrategie scheint jedoch immer ein bisschen zu spät zu kommen, insofern jede Einführung einer neuen Fallgruppe das semantische Feld weiter zergliedert und damit Ansätze für weitere, jeweils gegeneinander abwägbare ‚Sonderfälle‘ außerhalb des Arbeitnehmerrechts hinterlässt.

IV. Nachweis diachroner Tendenzen in der Entwicklung des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs Durch die induktive kontrastive Herangehensweise mittels zweier Teilkorpora (1990-1999 versus 2000-2012) lassen sich auch diachrone Tendenzen ermitteln. Da sich diese Vergleiche hier jedoch überwiegend an der Textoberfläche orientieren, lassen sich lediglich Indikatoren für zeitlichen semantischen Wandel zusammentragen, die jedoch im Gesamtbild durchaus plausibel erscheinen. Kurz: statistisch überzufällige Belege weisen darauf hin, welche Ausdrücke (und damit verhandelte Sachverhalte) zu welcher Zeit besonders häufig Gegenstand der Rechtsprechung waren. Die mittels LDA-Toolkit statistisch ermittelten diachronen Unterschiede auf der Wortebene lassen sich auch in Wortwolken („word clouds“)290 illustrieren: Die nachfolgenden Grafiken veranschaulichen die ersten 100 statistisch hochsignifikanten und diachron kontrastierten Substantive, Eigennamen, Verben ___________ 289 Vgl. zur Scheinselbständigkeit BAG, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 26; AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 34; BAGE 87, 129; ein instruktives Beispiel aus Frankreich ist die Entscheidung der CCass Soc., Arrêt n° 1159, 3.6.2009; ausführlich Thüsing 2011. 290 Mit Hilfe des Onlinetools „Wordle“ (www.wordle.net, 25.06.2013).

130

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

und Adjektive bzw. Adverbien (P ≥ 95 %) im Kotextintervall von [-15 / +15] Wörtern zu *[Aa]rbeitnehm*. Die Ergebnisse zeigen damit diejenigen Kookkurrenzpartner, die typisch für Teilkorpus B (1990er) und untypisch für Korpus C (2000er) und umgekehrt sind. Bei der Interpretation ist jedoch zu berücksichtigen, dass die BAG- und EuGH-Entscheidungen nicht gleichmäßig verteilt und vorwiegend im Teilkorpus B enthalten sind (vgl. o. zur Datengrundlage I.1.); Unterschiede können daher nur mit Einschränkungen diachron verortet werden. Die Größe illustriert das Signifikanzniveau und damit die Wahrscheinlichkeit über die statistische Zuverlässigkeit der jeweiligen Unterschiede: je größer ein Ausdruck, desto sicherer die statistische Aussage. Die Farbe steht hingegen für die absolute Frequenz, also wie häufig das jeweilige Sprachphänomen überhaupt auftritt: je heller, desto (absolut) häufiger ist das Auftreten im Korpus.

Hochsignifikante Substantive und Eigennamen zu [Aa]rbeitnehm im 1990er-Korpus (B) im Vergleich zum 2000er Korpus (C)

Hochsignifikante Substantive und Eigennamen zu [Aa]rbeitnehm im 2000erer-Korpus (C) im Vergleich zum 1990er Korpus (B)

Für die vier nachfolgenden Grafiken ist lediglich die Größe (Signifikanz) von Bedeutung:

IV. Diachrone Tendenzen des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs

Hochsignifikante Verben zu [Aa]rbeitnehm im 1990er-Korpus (B)

Hochsignifikante Adjektive zu [Aa]rbeitnehm im 1990er-Korpus (B)

131

Hochsignifikante Verben zu [Aa]rbeitnehm im 2000erer-Korpus (C)

Hochsignifikante Adjektive zu [Aa]rbeitnehm im 2000erer-Korpus (C)

Die Wortwolken machen die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen wie Leiharbeit und befristeter Arbeitsverhältnisse nach den grundlegenden Reformen der Agenda 2010 deutlich (vgl. Abschnitt A.IV.2.). 1. Zunehmende Europäisierung des Arbeitnehmer-Begriffs? Im Rahmen der Korpusanalyse wird deutlich, wie auf die Rolle des bisherigen ›Arbeitnehmer‹-Frames neuere Gesetze einwirken, durch die der herkömmliche Arbeitnehmerbegriff erodiert wird und seine Abgrenzungsfunktion verliert: Während in klassischen arbeitsrechtlichen Bereichen wie dem Kündigungsschutz oder dem Betriebsverfassungsrecht nach wie vor die obigen Abgrenzungen vorgenommen werden, gibt es zahlreiche neue Schutzgesetze, die sich von der klassischen Schematisierung lösen (ausführlich hierzu Abschnitt A.IV.). So werden im Datenschutzrecht alle Beschäftigten durch spezifische Regeln geschützt; hierunter fallen neben den Arbeitnehmern u.a. auch Beamte, Richter sowie arbeitnehmerähnliche Personen (§ 3 Abs. 11 BDSG). Ähnliches gilt für das Gendiagnostikgesetz.291 Das immer wichtiger werdende Diskrimi___________ 291 Für Beamte gelten gem. § 22 GenDG die Vorschriften für Beschäftigte z.T. entsprechend.

132

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

nierungsrecht erfasst sogar nicht nur Beamte, sondern auch Geschäftsführer und andere Leitungsorgane.292 Beamte können sich ferner auf das (unionsrechtlich determinierte) Urlaubsrecht berufen.293 Selbst das Streikrecht, das bislang eine Prärogative der Arbeitnehmer war, könnte nun auch Beamten zustehen.294 Fast all die genannten Neuerungen durch Gesetzgebung oder Rechtsprechungswandel wurden dabei durch das Europarecht angestoßen, der ›Arbeitnehmer‹-Begriff wird also zunehmend „europäischer“ (auch belegbar an zunehmender Musterbildung durch Aufnahme von EuGH-Formeln in nationaler Rechtsprechung). Diese Beispiele illustrieren außerdem, dass der (europäische) Gesetzgeber und die Rechtsprechung zunehmend davon auszugehen scheinen, dass es nicht mehr „den“ pauschal schutzwürdigen Arbeitnehmer im Vergleich zu den Beamten, den Selbständigen, den leitend tätigen Angestellten etc. gibt. Im Hinblick auf Einfluss europäischen Rechts bzw. europäischer Rechtsprechung auf die nationale Begriffsbestimmung des ›Arbeitnehmers‹ lassen sich zwei unterschiedliche Befunde konstatieren: Für eine Zunahme spricht die tendenzielle relative Zunahme von Zitaten oder Verweisungen auf die LawrieBlum-Formel des EuGH zur bipolaren Begriffskonkretisierung des Arbeitnehmers (siehe Schaubild). Dagegen wird der EU-rechtliche Ausdruck der Freizügigkeit bis auf Ausnahmen in BSG und BAG nahezu ausschließlich in Entscheidungen des EuGH wieder aufgegriffen; in Unterinstanzentscheidungen (ArbG) wird der Ausdruck dagegen nur zwei Mal überhaupt verwendet.

___________ 292

Siehe nur BGH, NJW 2012, 2346. Hierzu EuGH, NVwZ 2012, 688 – Neidel. EGMR, NZA 2010, 1425 – Demir und Baykara; EGMR v. 15.9.2009 – 30946/04, Kaya und Seyhan; siehe aber jüngst BVerwG, NZA 2014, 616; dazu von SteinauSteinrück/Sura, NZA 2014, 580; ausführlich Polakiewicz/Kessler, NVwZ 2012, 841. 293 294

IV. Diachrone Tendenzen des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs

133

Fundtexte / 10.000 Entscheidungen

Verbreitung der Lawrie‐Blum‐Formel 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1990‐1994

1995‐1999

Entscheidungen ges.

2000‐2004

2005‐2009

Linear (Entscheidungen ges.)

Schaubild: Diachrone Verteilung der Lawrie-Blum-Formel im Untersuchungskorpus

2. Diachronie dogmatischer Abgrenzungsversuche Die im Zuge der Agenda-Politik entstandenen Probleme rund um die Leiharbeit und ihre Bewältigung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung sind in der Korpusanalyse sichtbar: Wie oben bereits dargelegt, zeigt sich im diachronen Vergleich, dass Leiharbeitnehmer in den letzten Jahren deutlich häufiger Gegenstand der Rechtsprechung waren als zuvor. Die Korpusanalyse kann dabei natürlich keine Lösungen für neue rechtsdogmatische Probleme vorschlagen. Wer sich den Subsumtionsautomat erhofft, der muss enttäuscht werden. Wohl aber lassen sich Akzentverschiebungen nachzeichnen. Auch kann belegt werden, ob bestimmte in Medien und Politik diskutierte Probleme tatsächlich die Rechtsprechung beschäftigen und in welchem Ausmaß –; aus einem solchen Befund rechtpolitische Schlussfolgerungen abzuleiten, bleibt freilich Aufgabe des Gesetzgebers. Belege und Zahlen zeigen seit den 1990er Jahren eine deutliche diachrone Zunahme an ›Leiharbeitsverhältnissen und Arbeitnehmerüberlassungen‹, ›befristeten‹, ›Altersteilzeit-‹ und ›arbeitnehmerähnlichen Beschäftigungsverhältnissen‹ sowie damit einhergehend allen Formen der ›Kündigung‹ (insbesondere betriebsbedingte und Verdachtskündigungen) bzw. Verweise auf § 102 BetrVG (Mitbestimmung bei Kündigungen). Dabei verwundert es nicht, dass in diesem Kontext auch die ›Sozialauswahl‹ (vor allem zum Nachteil von jüngeren Ar-

134

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

beitnehmern) sowie ›Mitbestimmungstatbestände von Arbeitnehmervertretungen (Betriebsräten)‹ häufiger zum Verhandlungsgegenstand zu werden scheinen. Die Zunahme von Ausdrücken wie tatsächliche Beschäftigung weisen auf eine ›zunehmende Diskrepanz von Arbeitstätigkeit und ihrer kategoriellen Entlohnung‹ hin, mit anderen Worten: Fälle, in denen Arbeitgeber nach einer Tätigkeitsbeschreibung entlohnen, die nicht der real ausgeführten Tätigkeit entspricht, nehmen zu – genauso wie Versuche von Gruppen, als ‚Gewerkschaften‘ und damit im Gewande von Tariffähigkeit / Tarifeinheit Arbeitgeberbevorteilende Tarifvereinbarungen zu treffen. Auch scheint der von Rechts wegen zugestandene Handlungsspielraum von Arbeitnehmern sich mit der Zeit verkleinert zu haben (Zunahme der Phrase die die Arbeitnehmer billigerweise hinnehmen müssen).295 Die relative Zunahme des Ausdrucks Dienstleistung im Gesamtkorpus korrespondiert mit der relativen Abnahme von Ausdrücken wie Betrieb, Industrie oder Handwerk und lässt auf einen Wandel der verhandelten Lebenswelten dahingehend schließen. Eine historische Relevanz hatten offenbar auch Arbeitnehmererfindungen, Arbeitnehmerhaftung, Arbeitnehmerweiterbildung sowie EG-, Fremd-, Wander- und Gastarbeitnehmerverhältnisse, die in den 2000er Jahren unseres Korpus praktisch nicht mehr verhandelt werden. Vollzeitbeschäftigungen nehmen ebenso gravierend ab (Halbierung der relativen Frequenzen). Genauer noch zu klären ist die relative Abnahme von Verweisungen auf § 5 BetrVG (Arbeitnehmer), § 99 BetrVG (Mitbestimmung bei personellen Maßnahmen) sowie § 87 BetrVG (Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates). Dies gilt auch für die tendenzielle Abnahme von Nominalphrasen wie Anspruch auf im Kontext von Arbeitnehmer [-15/+15]296, die potentiell auch für eine Abnahme an Arbeitnehmerschutzrechten stehen könnte (aber nicht muss). – Die Abnahme von Ausdrücken kann prinzipiell verschiedene Gründe haben: im Rahmen von Gesetzesänderungen können alte Gesetzesausdrücke getilgt werden; die lebensweltliche Problematik kann sich aufgelöst haben oder wurde eine Zeit lang von Oberinstanzgerichten derart entschieden, dass nur noch vereinzelte ‚unbelehrbare‘ Fälle von Unterinstanzgerichten geklärt werden müssen u.ä. Die jeweiligen Gründe für diachronen Wandel wären im Einzelnen weiter zu prüfen. ___________ 295

Weitere, mit rechtlichen Neueinführungen verbundene diachrone Zunahmen zeigen sich etwa im geschlechtergerechten Sprachgebrauch (aus männliche / weibliche Arbeitnehmer wird die Doppelform Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder in der Zunahme des Ausdrucks Elternzeit. 296 Berücksichtigt bzw. herausgerechnet wurden dabei auch Negationen wie nicht / kein Anspruch auf.

V. Die Bedeutung von „Arbeitnehmer“ und „Arbeiter“ in Medientexten

135

V. Die Bedeutung von „Arbeitnehmer“ und „Arbeiter“ in Medientexten Wie in den vorausgehenden Ausführungen deutlich geworden sein sollte, handelt es sich im Recht um eine sehr komplexe, fachsprachliche und institutionalisierte Begriffsbildung zum Arbeitnehmer. Besonders deutlich hebt sich das juristische Begriffsfeld ab, wenn man es mit seinem gemeinsprachlichen Pendant kontrastiert. Zu diesem Zweck wurde abschließend mit Hilfe des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo297) sowie der Korpus-Analyseplattform Cosmas II und der Kookkurrenzdatenbank (CCDB298) des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim eine globale Gebrauchs- bzw. Kotextanalyse des Ausdrucks *Arbeitnehm* vorgenommen. Das Korpus umfasst vor allem Medientexte, Parlamentsprotokolle sowie Wikipedia-Artikel und -Diskussionsseiten, insg. 114.619 Texe im Zeitraum vom 1949-2012, wobei die absolute Mehrheit der Texte in den 90er und 2000er Jahren erschienen ist. Die Analyse zeigt: 1. 2.

3.

Der im Recht zentrale Ausdruck Arbeitnehmer spielt im Gemeinsprachgebrauch im Vergleich zum Arbeiter eine untergeordnete Rolle299. Der gemeinsprachliche Gebrauch des Ausdrucks Arbeitnehmer hat in der Regel nichts mit dem juristischen Fachsprachgebrauch bzw. der Rechtsfigur des ›Arbeitnehmer‹ oder gar typologischen Abgrenzungen gegenüber anderen Rechtsfiguren (wie den ›Selbständigen‹ oder ›Beamten‹) zu tun, sondern referiert vielmehr allgemein auf die weltlichen Lebensumstände von ›lohnabhängigen Personen(gruppen)‹. Dort, wo vereinzelt die juristische Fachsemantik durchscheint, werden meist Äußerungen von juristischen Akteuren zitiert oder von Fachjournalisten formuliert, ohne aber die jeweils institutionalisierten Begriffssemantik explizit zu machen.

Diese Hypothesen seien im Folgenden anhand kurzer Beispiele illustriert: Eine Suchanfrage zum Prädikationsmuster *Arbeitnehm* sind/ist X sowie eine Kookkurrenzanalyse zu *Arbeitnehm* [-8/+8] zeigt folgende wiederkeh-

___________ 297

http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.html (25.06.2013). Belica, Statistische Kollokationsanalyse und Clustering. Korpuslinguistische Analysemethode. © 1995 Institut für Deutsche Sprache, Mannheim (http://corpora.idsmannheim.de/ccdb/). 299 Als Komposita zur Zeichenkette arbeitnehm finden sich 3.185 Types bzw. 223.632 Belege / KWICS; zu arbeiter finden sich dagegen 44.739 Types (mehr als das zehnfache) und derart viele Belege, dass der Suchalgorithmus die Suche abbrach. 298

136

C. Der Arbeitnehmerbegriff aus korpuslinguistischer Perspektive

rende Ko(n)texte: Es handelt sich dabei um ›Personen‹ oder ›Personengruppen‹ ›mit Handicap bzw. eingeschränkter Leistungsfähigkeit in Folge von Arbeitsbelastungen‹ (häufig mit Angabe von diachronen Veränderungen): alkoholabhängig, Alkoholiker, alkoholsüchtig, akoholkrank (jeder 20./ immer mehr u.a. Quantoren); „ausgebrannt“, ausgelutscht, (häufiger / seltener) krank (sehr oft); ­ ›in häufiger oder gar ständiger Sorge um ihren Lebensunterhalt‹: besorgt, verunsichert, arm trotz Arbeit, handeln aus Angst um ihren Arbeitsplatz; ­ ›häufig als Teil von Arbeitskämpfen um Entgelt bzw. Vergütung‹: Lohn, Progression, Einkommen (auskömmlich), Gehalt, Entgelt, Mindestlohn, Dumping, netto, brutto, Bruttolohn, Reallohn, Gehalt, Arbeitsentgelt u.v.a; Tarifvertrag, Manteltarif, Tarif etc.; ­ ›die durch ein X = ‚negatives‘ Ereignis (Insolvenz, Kurzarbeit, Kündigungen usw.) negative Folgen (in der Regel Lohnverlust) erfahren‹: v.a. indiziert über die auch hochsignifikanten verbalen Kookkurrenzen betroffen, gezwungen und verpflichtet; ›Arbeitende‹ sind dabei oft Y = die Dummen, Leittragenden u.a.; ­ ›häufig als Teil von Untersuchungen‹: Nach Angaben, nach einer Studie / Umfrage / Einschätzung / Zahlen / Untersuchungen usw.; ­ ›von Staats wegen geschützt‹: gesetzlich X = versichert, rentenversichert, geschützt, krankenversichert usw.; ­ ›von Staats wegen belastet‹: Abgaben, Lohnsteuer, Einkommenssteuer usw. Die Belege zeigen, dass – anders als im Rechtsdiskurs – nicht zwischen unterschiedlichen Typen von ›Arbeitskraft-Veräußernden‹ unterschieden wird; im Gegenteil heißt es etwa, der Großteil der heimischen Arbeitnehmer sind Angestellte oder Beamte. Ein fachsprachlicher Gebrauch des Ausdrucks Arbeitnehmer findet sich lediglich in Zitaten, deren Rechtssemantik dem juristischen Laien jedoch unklar bleiben muss: ­

erläutert Rechtsanwalt Eckert. „Als Arbeitnehmer gilt, wer abhängig beschäftigt ist [...]“ laut BFH also auch dann vor, wenn der Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers die Auch andere, für den Arbeitnehmer-Begriff relevante Rechtstermini wie die Freizügigkeit spielen im gemeinsprachlichen Diskurs eine andere Rolle: Freizügigkeit erscheint dabei weniger als ›Grundrecht‹, sondern vielmehr als ›Chance (für die landeseigenen Arbeitgeber) und Problem für die landeseigenen ›Lohngeld-Abhängigen‹ mit osteuropäischer oder illegaler Arbeitnehmerkonkurrenz (Lohn-Dumping). Es geht dann vor allem um politische Entscheidungen über die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auch das Adjektiv freizügig zeigt im gemeinsprachlichen Gebrauch eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungsvarianten (von ‚offenʻ oder ‚uneingeschränktʻ, über ‚spenda-

V. Die Bedeutung von „Arbeitnehmer“ und „Arbeiter“ in Medientexten

137

bel‘ bis ‚exhibitionistisch‘, ‚nackt‘ oder einfach nur ‚übertriebenʻ300), während im (Arbeits-)Rechtsdiskurs die europarechtliche Fachbedeutung dominiert301. Schließlich steht der Ausdruck Arbeitnehmer eher selten für einzelne Personen, sondern vor allem metonymisch für ›funktionale Personen‹, also ›Personen mit Statusgruppen-Vertretungsanspruch‹ (Arbeitnehmervertretung, Gewerkschaften usw.). In Kontext von Tarifverhandlungen heißt es dann etwa, die Arbeitnehmer seien gewillt oder gesprächsbereit (gemeint sind aber die gewerkschaftlichen Vertreter). Komposita zu arbeitnehm in Medientexten Nr.

f

1

7653

Arbeitnehmer

Ausdruck & Komposita (Types)

2

1008

Arbeitnehmerinnen

3

392

Arbeitnehmervertreter

4

238

Arbeitnehmerbewegung

5

213

Arbeitnehmerseite

6

137

Arbeitnehmerschaft

7

134

Arbeitnehmervertretung

8

121

Arbeitnehmervereinigung

9

106

Arbeitnehmervertretern

10

76

Arbeitnehmerin

11

68

Arbeitnehmerorganisationen

12

64

Arbeitnehmerschutz

13

57

Arbeitnehmerrechte

14

40

Arbeitnehmerfragen

15

40

Arbeitnehmervertretungen

16

39

Arbeitnehmerverbände

17

37

Arbeitnehmerorganisation

18

34

Arbeitnehmerinteressen

19

27

Arbeitnehmerbank

20

22

Arbeitnehmerbeiträge

___________ 300

Hochsign. Kookkurrenzpartner zu einer entsprechenden Analyse in Cosmas II sind etwa: kleiden, tauschen, sexuell, einsetzen, posieren, Alkohol, sexy, Fahrzeug, erotisch, Mensch, Wohnung, Reiz, sex, dekolletieren, Hollywood, Schau, entblößen usw. 301 Im vorliegenden Arbeitsrechtskorpus (vgl. oben) findet sich gerade einmal ein Beleg für eine alltagssprachliche Verwendung des Ausdrucks freizügig im Sinne von ‚offen/unreglementiert‘ (der Inhalt und Verlauf darf freizügig gestaltet werden).

138

D. Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht Wie funktioniert Gesetzesbindung im Arbeitsrecht? In der Theorie sind die Gerichte zunächst an die wörtliche Bedeutung des Gesetzestextes gebunden und darüber hinaus an Wertungen, die sich aus dem Ganzen der Rechtsordnung ergeben sollen. In der Praxis funktioniert weder die Vorstellung einer wörtlichen Bedeutung, noch die eines Sinnganzen der Rechtsordnung als Wertelieferant. Stattdessen ermitteln die Gerichte die Bedeutung eines Normtextes, indem sie seine Ausdrücke in anderen Kontexten aufsuchen, um so zu ermitteln, was diese bedeuten. Die Praxis wird von der impliziten Annahme getragen, dass die Bedeutung von Wörtern dadurch bestimmt werden kann, dass man die Ausdrücke betrachtet, die regelmäßig in seiner Umgebung auftauchen. Korpuslinguistische Verfahren können diese Annahme empirisch prüfen und einer methodischen Kontrolle zuführen. Damit gibt es also einen Widerspruch zwischen Festredentheorie und Alltagspraxis. Dieser Widerspruch ist zunächst darzustellen. Dann ist die Frage zu stellen, was der Übergang von der Fiktion wörtlicher Bedeutung zur praktischen Bedeutungsanalyse für Konsequenzen hat ­ ­ ­

für den Begriff der Lücke, für den Begriff des Richterrechts, für die Gesetzesbindung.

I. Was die Gerichte sagen In jeder Sprache ist zwischen Können und Wissen zu unterscheiden. Wir sprechen Deutsch, aber wir wissen nur wenig darüber. Genauso ist es bei den Gerichten. Sie können mehr als sie wissen. Wir beginnen unsere Analyse mit dem, was die Gerichte über ihr eigenes Tun zu wissen glauben. 1. Die methodische Programmatik der Gerichte Das BAG orientiert sich in seiner methodischen Reflexion am Bundesverfassungsgericht. Danach soll ein Gericht „echte richterliche Entscheidungen“ treffen,

I. Was die Gerichte sagen

139

„bei denen nicht etwa erfunden wird, was im Grundgesetz nicht enthalten ist, sondern bei denen das, was als Gehalt des Willens des Gesetzgebers tatsächlich vorentschieden schon vorhanden ist, gefunden wird.“302

Das Gegenbild einer willkürlichen Rechtsanwendung wird folgendermaßen bestimmt: „Ausgeschlossen ist [...] jede Rechts-‚Anwendung‘, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht.“303 Alle obersten Bundesgerichte haben sich in ihrer Selbstbeschreibung daran orientiert. Es gelte, den Inhalt des Gesetzes zu ermitteln. Der klassische, auf Savigny zurückgehende Kanon soll das Erkenntnisproblem der Gerichte lösen. Im Näheren werden dabei als Methoden bestimmt: die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung)“.304 Dies ist auch die vom BAG übernommene methodische Orientierung.305 Sie vermag zwar die arbeitsrechtliche Rechtsprechung weder vollständig zu erklären, noch auch nur vollständig zu beschreiben, aber sie ist zunächst ein sinnvoller Einstieg. 2. Die gerichtliche Auslegungslehre Die Gerichte verlangen in ihrer methodischen Programmatik von den Canones also mehr als die kontrollierbare Erschließung von Kontexten. Sie sollen Erkenntnisinstrumente für die Ermittlung eines im Text des Gesetzes vorgegebenen normativen Gehalts sein. Technisch vollziehen die Gerichte diese Unterordnung, indem sie die Canones auf ein Auslegungsziel festlegen: Dieses Auslegungsziel besteht herkömmlicherweise entweder im Willen des Gesetzgebers oder dem vom Gesetz abgelösten objektivierten Willen des Gesetzes selbst. Das BAG hat sich zunächst an der subjektiven Theorie orientiert: „Lässt sich die […] Frage somit aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht eindeutig beantworten, so ist zu prüfen, ob sie im Wege der Willensinterpretation geklärt werden kann, d. h., ob ein bestimmter Willensinhalt [...] in dem Gesetzgebungsakt herrschend geworden ist und im Gesetz einen, wenn auch nur unvollkommenen Ausdruck gefunden hat.“306

___________ 302 Vgl. Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Prof. Richard Thoma, JöR NFG (1957), S. 194 ff. 303 BVerfGE 73, 206 ff., 235; ebenso BVerfGE 71, 108 ff., 115. 304 BVerfGE 11, 126 ff., 130; vgl. BVerfGE 47, 109 ff., 127. 305 Vgl. dazu BAGE 10, S. 7 ff., 17; 13, S. 240 ff., 247; 103, S. 180 ff., 182; 104, S. 342 ff., 347; 105, S. 366 ff., 369 f. 306 BAGE 6, 149 ff., 153 unter Verweis auf Enneccerus/Nipperdey, AT des Bürgerlichen Rechts, 14. Aufl., § 54 I, III.

140

D. Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht

In der ersten Entscheidung bezüglich des Gesetzes über Freizeitgewährung für Frauen mit eigenem Hausstand des Landes Nordrhein-Westfalen führt das BAG Folgendes aus: „Als entscheidend dafür, dass [...] der alleinstehenden, nur für sich sorgenden Frau der Anspruch auf den Hausarbeitstag nicht zusteht, ist jedoch die Entstehungsgeschichte anzusehen. Diese lässt für die Gesetzesauslegung in diesem entscheidenden Punkt Rückschlüsse auf den Willen des Gesetzgebers zu. Auf diesen so zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers muss der Senat seine Entscheidung abstellen.“307

Diesen Ausgangspunkt der subjektiven Lehre hat der Große Senat des BAG 1962 zugunsten der so genannten objektiven Auslegungstheorie aufgegeben. Auch hier ging es wieder um die Frage, ob eine alleinstehende Frau einen eigenständigen Hausstand habe: „Dennoch lassen sich noch weitere Voraussetzungen aus dem Gesetz ableiten, und zwar aus der Vorstellung des Gesetzgebers bei Erlass des Gesetzes, aus Sinn und Zweck des Gesetzes und der seit Erlass des Gesetze inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung aller Verhältnisse.“308

Im Ergebnis der Entscheidung wird dann der historische Gesetzgebungswille gegenüber den objektiven Auslegungselementen zurückgestellt. Dabei ist davon auszugehen, dass das BAG sich an den methodischen Leitentscheidungen des BVerfG orientiert: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung“ ist aus der Sicht des BVerfG „der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist.“309

Mit dieser methodischen Leitentscheidung hat das BVerfG im Streit der klassischen Auslegungslehren zugunsten der objektiven Lehre Stellung genommen.310 Nach Ansicht der Obergerichte gilt „die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelne ihrer Mitglieder ___________ 307

BAGE 9, 124 ff., 129. BAGE 13, 1 ff., 11. Vgl. grundlegend BVerfGE 1, 299 ff., 312 sowie ferner BVerfGE 8, S. 274 ff., 307; 10, S. 234 ff., 244; 11, S. 126 ff., 130 f.; 20, S. 283 ff., 293; 47, S. 109 ff., 127; 48, S. 246 ff., 256, 53, S. 135 ff., 147; 53, S. 207 ff., 212. 310 Vgl. zur Interpretation als Stellungnahme zugunsten der objektiven Theorie Müller/Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl., Berlin 2013, Rn. 442 ff.; Sachs, DVBl. 1984, S. 73 ff., 74, m.w.N. Manchmal wird die methodische Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch als Vereinigungstheorie bezeichnet (Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 178). Dies beruht allerdings auf der Annahme, dass die objektive Lehre jeden Bezug auf die Materialien ausschließe. Wie aber eine historische Darstellung der methodischen Debatte um die Materialien herausarbeitet, wäre dies ein zu enges Verständnis der objektiven Lehre. Streitig ist vielmehr nur Gewicht- und Stellenwert der Materialien (Vgl. dazu Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Berlin 1976, S. 369 ff., insbesondere 380 ff.). 308 309

I. Was die Gerichte sagen

141

über die Bedeutung der Bestimmung als „nicht entscheidend“ für die Feststellung des normativen Gehalts einer auszulegenden Vorschrift.311 Das so genannte subjektive Element bleibt mitbestimmend, aber nicht allein ausschlaggebend. Der objektive normative Gehalt der Vorschrift wird damit aus der Sicht des BVerfG und der anderen Obergerichte nicht durch den Gesetzgeber312, sondern durch den Text der Vorschrift selbst festgelegt. Damit wird die vom BVerfG entwickelte Formel in wörtlicher Wiedergabe bzw. umschreibenden Wendungen aufgenommen. Dem BGH zufolge ist für die Auslegung „der objektivierte Wille des Gesetzes maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des Gesetzes ergibt. Nur ergänzend ist auch die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschrift heranzuziehen, wenn es erforderlich ist, das Gesetz auf bestimmte Fallgestaltungen anzuwenden, für deren rechtliche Behandlung der Wortlaut und der Sinnzusammenhang des Gesetzes allein, losgelöst von der Entstehungsgeschichte, keine hinreichenden Anhaltspunkte bietet.“313

Diese auch vom BAG geteilte Einheitlichkeit des Bekenntnisses erklärt sich durch einen gewissen Konformitätsdruck und das Bestreben, die Kontinuität und Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren.314 3. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit Der Wortlaut soll aus der Sicht der objektiven Lehre die normative Substanz des Gesetzes vorgeben. Schwierigkeiten ergeben sich in diesem Modell immer dort, wo der Wortlaut dem Postulat der Eindeutigkeit offensichtlich nicht genügt. Dazu führt das BAG aus: „Die Rechtsanwendung ist, je mehr es sich um Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder Ermessensentscheidungen handelt, nicht eine erkennende, sondern eine bewertende, aktualisierende und integrierende und im konkreten Fall die Verwirklichung der Gerechtigkeit anstrebende Willensentscheidung“315.

In dieser Äußerung des Gerichts artikulieren sich zunächst die praktischen Schwierigkeiten des klassischen Auslegungsmodells. Der Richter kann nur dann die Rechtsnorm als tragenden Leitsatz der Entscheidung unmittelbar aus dem Text des Gesetzes entnehmen, wenn zwischen Wortlaut und Wortsinn, zwischen Zeichen und Bedeutung eine notwendige Verknüpfung besteht. Dies ___________ 311

Vgl. dazu BVerfGE 1, 299 ff., 312. Vgl. dazu BVerfGE 1, S. 117 ff., 127; 1, S. 283 ff., 294; 11, S. 126 ff., 129; 62, S. 1 ff., 45 u.ö. 313 Vgl. BGHZ 42, 182 ff., 183. 314 Vgl. dazu U. Köbl, Allgemeine Rechtstheorie – Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Bd. 2, Köln u.a. 1979, S. 1005 ff., 1052. 315 BAGE 2, S. 165 ff., 175. 312

142

D. Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht

wäre dann die wörtliche Bedeutung. Es ist aber nicht zu sehen, wie man die Anforderung, dass die Zeichenkette des Textes gerade und nur gegen einen einzigen Sinn eingetauscht werden kann, praktisch einlösen soll. Solange kein Streit über die Bedeutung der Worte besteht, mag diese fehlende Garantie nicht auffallen. Jede Partei kann ihre Lesart für die wörtliche Bedeutung halten. Sobald aber entschieden werden muss, wird ihr Fehlen offenkundig. Begriffe in Gesetzen, bei denen diese Schwierigkeit besonders offensichtlich ist, erscheinen aus juristischer Sicht als unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln usw. Ihre Klassifikation setzt als Regel den bestimmten Begriff mit wörtlicher Bedeutung voraus.316 Das BAG nimmt diese Sicht auf, wenn es sagt, dass in diesem Unbestimmtheitsbereich der Richter seine Entscheidung nicht dem Gesetzestext entnehmen kann, indem er, ausgehend vom Wortlaut, den Sinn des Textes erkennt.317 Trotzdem ist damit aber die vom Richter zu treffende Entscheidung nicht ohne eine objektive Grundlage. Das Gericht sieht im Gesetz vielmehr eine „die Verwirklichung der Gerechtigkeit anstrebende Willensentscheidung“318. Verwirklichen lässt sich indes nur, was bereits vorgegeben ist. Insoweit bleibt der Richter also auch in dem Bereich, der über die klassische Wortlautauslegung hinausgeht, an einen um die Gerechtigkeit zentrierten objektiven Code gebunden. Was diese Erweiterung der Grundlage richterlicher Auslegungstätigkeit für den Begriff der richterlichen Gesetzesbindung bedeutet, wird in einer programmatischen Entscheidung des BGH deutlich: „Dieser Grundsatz hat nicht nur die Bedeutung einer Bindung des Richters an das Gesetz als eine nicht mehr fortbildungsfähige Norm. Die richtige, d.h. dem Recht gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert.“319

Auffällig an diesem Text ist zunächst die Häufung gängiger juristischer Metaphern wie Fortbildung, Anwendung usw., sodann aber auch die große Anzahl von scheinbar synonymen Ausdrücken wie Gesetz, Norm, gesetztes Recht, positives Recht, Recht. Wenn man die Logik der verwendeten Metaphern betrachtet, zeigt sich eine Gegenläufigkeit, ein Konflikt, worin sich die Bilder gegenseitig dementieren. Fortbildung ruft den Gegensatz der passiven Abbildung hervor und betont einen aktiven schöpferischen Anteil, der dem handelnden Subjekt im Gegensatz zum verdoppelnden Spiegel zugesprochen werden muss. ___________ 316 Vgl. dazu Gruscke, Vagheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats, Berlin 2014, S. 53 ff. 317 BAGE 2, 165 ff., 175. 318 BAGE 2, 165 ff., 175. 319 BGHZ 3, 308 ff., 315.

I. Was die Gerichte sagen

143

Nach der Fortbildung steht die Anwendung. Diese betont im Gegensatz zum Erfinden die vorgegebene Technik, das fertige Rezept. Nach der Weiterentwicklung steht die Auslegung, welche abgelöst wird von der Fortbildung und schließlich der Findung. Steht hinter dieser Häufung von Widersprüchen Ratlosigkeit, rhetorische Strategie oder gar die höhere Ordnung einer Dialektik? Aber ein entschieden unentschiedenes Sowohl-als-auch ist noch keine Dialektik. Die Bewegung der Gegensätze müsste schon erklären, wie Bindung und Veränderung sich gegenseitig bedingen320. Diese Leistung soll offensichtlich die Substitution erbringen, welche, ausgehend vom Gesetz über die Norm und das Recht, schließlich zur Gerechtigkeit führt. Anfangsglied dieser Verkettung ist das Gesetz, von dem uns gesagt wird, es sei mehr als eine nicht mehr fortbildungsfähige Norm. Betrachtet man diese erste Substitution des Gesetzes durch die Norm genauer, so wird klar, dass sie viel voraussetzungsvoller ist, als es zunächst den Anschein hat. Das Gesetz, an das die Richter gebunden sind, ist ein vom Gesetzgeber verabschiedeter Normtext321. Kann man diesen Text mit der Norm gleichsetzen? Wenn man sich eine Entscheidungssammlung etwa des eben zitierten Gerichtshofs ansieht, dann fällt auf, dass den einzelnen Entscheidungen Leitsätze vorangestellt sind. Unter diese Leitsätze, nicht etwa unter den Normtext selbst, wird der zu entscheidende Fall subsumiert322. Zwar sind die Leitsätze ihrerseits mit dem Normtext verknüpft, aber nicht im Wege einer Subsumtionslogik, sondern über die Standards einer bestimmten Argumentationskultur. Man müsste also bei realistischer Betrachtung sagen, dass der Normtext mit einer Vielzahl von Rechtsnormen verbunden wird und nicht etwa nur eine „enthält“. Das Gericht verstellt sich den Blick auf diese Zusammenhänge aber durch eine Vorentscheidung, die sowohl rechtsnormtheoretischen als auch sprachtheoretischen Charakter hat: Normtext und Norm, Wortlaut und Wortsinn sollen sich danach verhalten wie Zeichen und wörtliche Bedeutung. Unterstellt wird dabei eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung, wonach dem jeweiligen Normtext, bestimmt durch seine Stellung im Rechtssystem, genau eine Bedeutung als Rechtsnorm zukommt. Wie die beiden Seiten einer Münze bilden Normtext und Rechtsnorm in diesem Modell eine untrennbare Einheit. Dabei wird nicht nur auf der rechtstheoretischen Ebene die Vielzahl von Leitsätzen übersehen, sondern auch auf der sprachtheoretischen Ebene wird nicht beachtet, dass man mit einer Textinterpretation nicht die reine Be___________ 320

Vgl. zum Begriff der Dialektik: Steinvorth, Eine analytische Interpretation der Marxschen Dialektik, Meisenheim am Glan 1977, insbes. S. 6 ff. und öfter. 321 Vgl. zur Gesetzgebung als Normtextsetzung: Müller, ‚Richterrecht‘, Berlin 1986, S. 88 ff. 322 Vgl. zu dieser Rolle der Leitsätze: Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, S. 269.

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D. Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht

deutung an die Stelle der Zeichen setzt, sondern eine Zeichenkette an die Stelle einer anderen323. Bedeutung ist keine Substanz, sondern einfach die Summe der Wörter, welche regelmäßig in der Umgebung des Ausdrucks erscheinen. Aus der Annahme von wörtlicher Bedeutung erwachsen dem Gericht die Probleme, welche die weiteren Substitutionen und die Verkettung der widersprüchlichen Metaphern in Gang setzen. Die Richter wollen die Norm aus dem Text entnehmen. Man überfordert aber den Normtext mit der Aufgabe, für jede anstehende Entscheidung unmittelbar subsumtionsfähige Rechtsnorm zu sein324. Das Gericht muss deswegen in der die Rechtsnorm mit dem Normtext gleichsetzenden Konstruktion eine Hintertür einbauen, um sie so im Ernstfall der Entscheidung verlassen zu können. An dieser Stelle taucht das Stichwort „Fortbildung“ auf. Wenn das Gesetz für die konkrete Entscheidung als subsumtionsfähiger Leitsatz nicht ausreicht, muss es erweitert oder fortgebildet werden. Besteht aber, wenn der Richter das Gesetz erweitert oder fortbildet, nicht die Gefahr der subjektiven Willkür, ist hier nicht eine Methode erforderlich, die die Fortbildung reguliert? Diese Konsequenz entfaltet sich im Folgesatz. Das Gericht fragt hier nach der richtigen Auslegung des positiven Rechts. Vom Ausgangspunkt einer Gleichsetzung von Norm und Text her lässt sich diese Frage beantworten: Die richtige Anwendung führt vom Wortlaut des Textes zu seiner wörtlichen Bedeutung, vom Text zur Norm. Die richtige Anwendung des positiven Rechts ist dann die dem Recht gemäße. Das klingt tautologisch und ist es auch. Denn man gibt vor, nur auszulegen, was vorher im Text schon enthalten war325. Ist es aber wirklich so einfach, vom Text zur Norm, vom positiven Gesetz zum Recht zu gelangen? Kann man denn darauf vertrauen, dass sich der Wortlaut gegen den einen, den einzigen Sinn eintauschen lässt? Auch das Gericht scheint hier Zweifel zu haben. Denn im nächsten Halbsatz sagt es, dass das Recht, welches eben noch als Maßstab für die richtige Anwendung diente, durch die Auslegung weiterentwickelt und damit verändert werde. Tatsächlich wiederholt ja auch die Auslegung nicht einfach das, was schon im Normtext steht, sondern sie formuliert neue Sätze326. Der Sinn des Textes ist eben nichts von der Auslegung Unabhängiges und kann nicht als selbständiger Objektivi___________ 323

Vgl. zur Kritik an den metaphysischen Implikationen des klassischen Zeichenbegriffs: Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, Wien 1986, S. 52 ff., insbes. 53 ff. 324 Vgl. zur Kritik an der Vorstellung, welche die Rechtsnorm als logische Falle ansieht: Müller, ‚Richterrecht‘, Berlin 1986, S. 47. 325 Vgl. zur prinzipiellen Formulierung dieses Auslegungsverständnisses: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., Berlin u.a. 1983, S. 298 ff. 326 Vgl. dazu auch Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, Ebelsbach 1982, S. 6.

I. Was die Gerichte sagen

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tätsmaßstab deren Richtigkeit garantieren. Der Begriff des Rechts, welcher in der Argumentation des Gerichts die Entfaltung des Normtextes zur Rechtsnorm als objektiven Sinn markiert, steht damit in der Gefahr, seine Stabilität zu verlieren. Wenn das Recht als objektiver Sinn des Gesetzes im Prozess der Auslegung weiterentwickelt und verändert wird, dann kann es nicht gleichzeitig als unabhängiger Maßstab die Richtigkeit der Rechtsanwendung überwachen. Die Konstruktion einer das Sprechen des Richters festlegenden objektiven Ordnung wäre damit in Frage gestellt. Das Gericht rettet sich vor dieser Gefahr durch eine semantische Verschiebung, worin das Wort Recht in Bezug zur Gerechtigkeit gesetzt wird. Recht ist nicht nur als objektiver Sinn das, was als Rechtsnorm schon im Text steht, sondern vermittels der Gerechtigkeit kann es auch bei Veränderungen des Sinns durch die Auslegung Steuerungsinstanz sein. Diese argumentative Bewegung soll sich in eine vorgegebene Ordnung einfügen. Hinter den vom Gesetzgeber verabschiedeten Normtexten und ihrer Auslegung taucht damit auf der systematischen Ebene ein zweiter umfassender Rechtscode auf: die Gerechtigkeit. Sie macht es erforderlich, dass die unvollständige Ordnung des Wortlauts verändert wird und stellt zugleich auch sicher, dass diese Weiterentwicklung nicht willkürlich ist, sondern in der Figur des „Findens“ einen objektiven Halt gewinnt327. Die argumentative Bewegung des Gerichts ist damit an ihrem Ziel angekommen. Das Gesetz als Gegenstand richterlicher Bindung entfaltet sich vom positiven Gesetz über die Auslegung zum Recht als objektiver Sinn und schließlich zur Gerechtigkeit. Was auf der Stufe des Gesetzes, dem Code erster Ordnung, zunächst wie Fortbildung oder Weiterentwicklung aussieht, ist auf der Stufe der Gerechtigkeit, dem Code zweiter Ordnung, das Finden einer vorgegebenen Entscheidung, die dem objektivierten Willen des Gesetzgebers entsprechen soll. Die Verkettung widersprüchlicher Metaphern scheint damit doch noch eine sinnvolle Ordnung zu gewinnen. Allerdings hängt diese Ordnung an einem einzigen Faden: dem der Gerechtigkeit. Wenn dieser Faden reißt, bricht der Konflikt gegenläufiger Metaphern offen aus. Doch solange er hält, bildet das zur Gerechtigkeit hin erweiterte Recht eine objektive Grundlage für richterliche Urteile. Bezeichnenderweise bleibt dieser letzte Grundbegriff in den gerichtlichen Ausführungen unbestimmt. Die Gerechtigkeit erscheint lediglich als Anforderung („erfordert“) und nicht als Inhalt. Trotz dieser Unbestimmtheit soll sie aber die Aufgabe erfüllen, das Entscheiden der Gerichte umfassend zu verwal___________ 327

Vgl. zur Bedeutung des Objektivitätsanspruchs in der juristischen Argumentation: Gast, Vom juristischen Stil, Betriebsberater 1987, S. 1 ff. Zum idealisierenden Denken in Ordnungen kritisch auch: Gröschner, JZ 1983, 944 ff., insbes. 945 und f.

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D. Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht

ten. Die Gesamtkonstruktion gerät dadurch ins Wanken. Im verschwommenen und nichtssagenden Begriff der Gerechtigkeit verliert sich die bürokratische Maschine des vorgeordneten richterlichen Entscheidens genau im Zentrum ihres Bezugspunkts und die Bestimmtheit einer Strategie. Dieses Vakuum im Zentrum des Rechts löst ungewollt die Beschreibung ein, mit der sich Philipp Heck gegen die Objektivität des rechtlichen Sinns wendete: Das Gesetz wird damit zum Freiballon, „der aufgelassen jedem Bestimmungswunsch entrückt, dem Winde folgt“328. Es löst sich aber nur eine für Festtagsreden bestimmte Theorie auf. Die Praxis funktioniert. Das zeigt gerade das Beispiel der Gerechtigkeit. Wenn Gerechtigkeit in Urteilen erscheint, dann nicht als Schlussstein, der die Argumentation zum Abschluss bringt, sondern ganz im Gegenteil als Anforderung weiterer Argumente. Hinter dem Wort Gerechtigkeit haben die Gerichte damit vor sich selbst verborgen, was sie wirklich tun: sie argumentieren in der Sprache, und das trotz der Unzulänglichkeit ihrer Theorie meistens sehr gut.

II. Was die Gerichte tun In einer Rechtsprechungsanalyse muss man unterscheiden zwischen den expliziten Reflexionen des Bundesarbeitsgerichts und seiner tatsächlichen Vorgehensweise. Beides ist nicht notwendig deckungsgleich und entsprechende Diskrepanzen können gerade die entscheidenden Probleme in der praktischen Wirksamkeit der Gesetzesbindung hervortreten lassen. Praktisch geht es den Gerichten darum, ihren Urteilen Autorität zu verleihen. Erreichen wollen sie dieses Ziel durch eine Übertragung der Autorität aus dem Gesetz auf ihr Urteil. 1. Die Arbeit mit der Sprache Die Auslegung hilft den Obergerichten bei der Frage nach dem Inhalt oder der Bedeutung des Gesetzestextes. Man untersucht Wortlaut, Geschichte, Zusammenhang und Zweck eines Wortes. Allerdings ist das Bundesarbeitsgericht in seiner Praxis gegenüber den Sprachpostulaten der herkömmlichen Methodenlehre zu Recht vorsichtig. Die Auslegungsregeln führen aus seiner Sicht nicht einfach zu der Bedeutung. Sie führen vielmehr zu Bedeutungen. Das BAG verwendet dazu in einer methodischen Leitentscheidung ein linguistisches Gutachten. Es ging um den § 1 des Gesetzes über die Freizeitgewährung für Frauen mit eigenem Hausstand des Landes Nordrhein-Westfalen. Es war der Wortsinn des Begriffs „Hausstand“ zu ermitteln. Kann also auch eine einzelne Person einen eigenen „Hausstand“ haben, so dass ihr ein bezahlter ar___________ 328

Vgl. Heck, AcP, 112, 1914, S. 1 ff., 62, Anm. 87.

II. Was die Gerichte tun

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beitsfreier Hausarbeitstag zu gewähren ist? In der Urteilsbegründung heißt es dazu: „Wie das vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf eingeholte und dem Großen Senat vorliegende Sprachwissenschaftliche Gutachten [...] ergibt, wird das Wort ‚Hausstand‘ in der Umgangssprache zwar vorzugsweise in Zusammenhang mit einer Eheschließung, also familienbezogen gebraucht. Es gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass nach allgemeinem Sprachgebrauch das Wort ‚Hausstand‘ nur im familienbezogenen Sinne zu verstehen sei, also eine Personenmehrheit voraussetze, oder dass ein ‚Hausstand‘ aufhöre, ein solcher zu sein, wenn bei ihm von mehreren Personen so viele ausscheiden, dass nur noch eine Person verbleibt. Das Wort ‚eigener Hausstand‘ umfasst vielmehr nach allgemeinem Sprachgebrauch auch den sachbezogenen Hausstand. Die dahingehenden Ausführungen Dr. Kandlers zum allgemeinen Sprachgebrauch sind überzeugend und lassen sich durch einige weitere Belege noch ergänzen. Das Werk von Wehrle-Eggers, Deutscher Wortschatz, 12. Auflage, das über eine mehr als 80-jährige Tradition verfügt, verwendet das Wort ‚Hausstand‘ für Wortfelder, die den Aufenthaltsort und Raumvorstellungen beschreiben (vgl. Wehrle-Eggers, a.a.O., Nr. 189) sowie für Wortfelder, die Eigentum und Besitz umschreiben (vgl. Wehrle-Eggers, a.a.O., Nr. 780). Dabei ist zu erkennen, dass auch eine Einzelperson einen eigenen Hausstand haben kann. Pektrun, Das deutsche Wort, 2. Auflage 1953 (S. 361) definiert das Wort ‚Hausstand‘ wie folgt: ‚Der Stand desjenigen, der ein Haus oder eigenen Herd hat.‘ Damit geht auch Pektrun (a.a.O.) von der Vorstellung aus, dass ein Einzelner einen eigenen Hausstand haben kann.“329

Das Gericht versucht also, durch ein sprachwissenschaftliches Gutachten, Wörterbücher und die Besinnung auf die eigene Sprachkompetenz die Bedeutung eines Wortes zu eruieren. Das BAG hat nicht nur im Wörterbuch nachgeschlagen, um dort „die Bedeutung“ zu finden. Es hat vielmehr Wörterbücher als Ergänzung zu einem linguistischen Gutachten verwendet. Deswegen handelt es sich nicht um die bei Juristen übliche Verdinglichung des Wörterbuchs im Sinne eines Sprachgesetzbuches330, sondern eine rationale Verwendung. Eigene Argumente des Gerichts schließen daran an. Hier ist das BAG bereits 1962 weiter als die klassische Methodenlehre. 2. Die Arbeit mit der Wissenschaft Die Suche der Gerichte nach Verwendungsbeispielen für die Bedeutung eines Wortes orientiert sich im Grundsatz an den Auslegungsregeln: Beispiele, die ihnen ohne Nachdenken einfallen, gehören in den Kontext der grammatikalischen Auslegung; um weitere Beispiele zu finden, haben sie als Suchstrategien Systematik, Entstehungsgeschichte, Vorläufernormen und Zweck. Ganz wesentliche Quelle aber ist – auch hier durchaus mit dem Sprachwissenschaft___________ 329

BAGE 13, 1 ff., 20 (Großer Senat). Lobenstein-Reichmann, Medium Wörterbuch, in: Müller (Hrsg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, Berlin 2007, S. 279 ff. 330

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D. Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht

ler vergleichbar – die Auswertung von Präjudizien und wissenschaftlichen Stellungnahmen. Die Arbeitsgerichte verwenden in ihren Entscheidungen fast durchgängig Vorarbeiten der Wissenschaft und der Rechtsprechung.331 Das ist ein auffallendes Kennzeichen und sonst in dieser Ausführlichkeit nur beim Bundesverfassungsgericht oder beim Europäischen Gerichtshof332 zu beobachten. Es stellt sich die Frage, worin eigentlich die Rolle dieser Elemente liegt. Man kann sagen, sie stellen eine semantische Autoritätsbeziehung her, mit deren Hilfe Bedeutungen konkretisiert oder systematische Zusammenhänge erschlossen werden. Für Kelsen war die Heranziehung einer semantischen Autorität noch eine unzulässige Vermischung der rechtlichen Sollensebene mit der Seinsebene der Politik333 – mit anderen Worten: ein Verstoß gegen Gewaltenteilung und Gesetzesbindung. Die heutige postanalytische oder pragmatische Sprachauffassung versteht dagegen unter Sprache die Vernetzung gelungener Kommunikationserfahrungen unter mitlaufender normativer Bewertung.334 Sprachzeichen lassen sich also ohne Auseinandersetzung mit semantischen Autoritäten gar nicht bestimmen. Deswegen ist die Verwertung der Wissenschaft durch die Arbeitsgerichte bedeutungstheoretisch sogar gefordert. Einen besonderen Stellenwert hat dabei der Kommentar, welcher eine Art von speziellem juristischem Wörterbuch darstellt. Hier werden die Meinungen von Gerichten und Wissenschaftlern zu Rechtsfragen zusammengetragen. Ihre Bedeutung für die praktische Rechtsarbeit ist jedem Juristen bekannt.335 Die Entstehung eines Kommentars ist dabei im Ansatz gar nicht so verschieden von der eines Wörterbuchs: Wie der Lexikograph sammelt auch der Kommentator vorrangig Gebrauchsbeispiele. Sie werden Worten des Gesetzestextes zugeordnet. Die Kommentare sind unentbehrliche Hilfsmittel der Gerichte. Der Richter geht von der Akte zum Gesetz und von dort zum Kommentar und zu Präjudizien, wenn er die mündliche Verhandlung vorbereitet. Diese „stark ausgeprägte Absicherung rechtstextlicher Aussagen durch den Verweis auf andere Rechtstex___________ 331

Hierzu ausführlich im Abschnitt C. Zur Häufigkeit von Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des EuGH im Vergleich zu anderen methodischen Argumenten Dederichs, Die Methodik des EuGH, Baden-Baden 2004, S. 37 ff.; zur case-law-Dimension des Unionsrechts Pötters/Christensen, Das Unionsrecht als Hybridform zwischen case law und Gesetzesrecht, in: JZ 2012, S. 289 ff. 333 Vgl. dazu Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Wien 1923 (Nachdruck 1993), S. 240, 250. Grundsätzlich Tessar, Der Stufenbau nach der rechtlichen Autorität und seine Bedeutung für die juristische Interpretation, Wien 2010, S. 150 ff. 334 Vgl. dazu m. w. N. Christensen/Lerch, Von der Bedeutung zur Normativität oder von der Normativität zur Bedeutung, in: Bung/Valerius/Ziemann (Hrsg.), Normativität und Rechtskritik, Stuttgart 2007, S. 98 ff. 335 Vgl. Morlok, Der Text hinter dem Text, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Tübingen 2004, S. 93 ff., 103 f. 332

II. Was die Gerichte tun

149

te“336 ist Folge des grundlegenden Unsicherheitsproblems in der Jurisprudenz, die gerade daraus entsteht, dass die Vielfalt des Lebens nicht durch die Sprache im Vorhinein umschrieben und mit klaren Handlungsdirektiven versehen werden kann: „Das intertextliche Geflecht stellt sozusagen ein Sicherheitsnetz dar, mit dessen Hilfe die Ungewissheit überwunden werden soll.“337 Aber die Unverträglichkeit von Meinungen und der Streit werden durch Kommentare nicht aufgehoben, sondern dargestellt. Eine sichere Heimat findet der streitige Begriff auch im Kommentar nicht. Er liefert die Grundlage für die Diskussion, aber nicht deren Entscheidung. 3. Die Arbeit mit Präjudizien In einer empirischen Studie wurde mit Hilfe der Datenbank Juris eine statistische Abhandlung über die Zitierpraxis deutscher Gerichte erstellt338, wobei u. a. die Frage aufgeworfen wurde, in wie vielen bundesdeutschen Gerichtsurteilen Entscheidungen anderer Gerichte zitiert werden. Die Untersuchung stützte sich bei ihren Vergleichen in erster Linie auf Entscheidungen aus den Jahren 1980 und 1988. Ergebnis war, dass 1446 von 3046 in Juris gespeicherten Urteilen der obersten Bundesgerichte aus dem Jahr 1980 Zitate enthielten.339 Bei Urteilen aus dem Jahr 1988 war dieser Anteil mit 3503 von 5603 Urteilen noch etwas höher.340 Daraus ergibt sich, dass in weit mehr als der Hälfte aller Begründungstexte dieser Gerichte auf mindestens ein anderes Urteil Bezug genommen wird.341 Bei den Untergerichten war der Anteil wesentlich geringer, von den 10143 in Juris gespeicherten Dokumenten aus dem Jahr 1980 wurde in weniger als einem Viertel auf andere Urteile verwiesen, 1988 stieg diese Quote immerhin auf ein knappes Drittel (rund 3800 von 13376).342 Der Befund einer wachsenden Bedeutung von Präjudizien verstärkt sich noch beim EuGH. Das Vorkommen von Argumenten in der Judikatur des Gerichtshofs wurde für den Entscheidungsjahrgang 1999 empirisch untersucht.343 ___________ 336

Morlok, ebd., S. 134. Morlok, ebd., S. 134. 338 Wagner-Döbler/Philipps, Präjudizien in der Rechtsprechung. Statistische Untersuchung anhand der Zitierpraxis deutscher Gerichte, in: Rechtstheorie 1992, S. 228 ff. 339 Ebd., S. 230. 340 Ebd. 341 Ebd. 342 Ebd. 343 Zwar haben bisher schon solide wissenschaftliche Arbeiten mit einer Analyse der Rechtsprechung im Querschnitt begonnen (vgl. etwa Albin, NVwZ 2006, 696 ff., 632 f.), aber mit der Methode der Inhaltsanalyse gewinnen diese Argumente an Gewicht, Nach337

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D. Theorie und Praxis der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht

Dabei hat sich der Bezug auf die eigene Spruchpraxis als das zahlenmäßig häufigste Argument herausgestellt. Auf Basis des hier untersuchten Korpus (vgl. B. II.) lässt sich dieser Befund auch für das Arbeitsrecht belegen: In 3033 Entscheidungen des BAG verweisen die Richter in 25.513 Fällen auf die eigene bisherige Spruchpraxis. Daneben finden sich zahlreiche Verweise auf Entscheidungen anderer Gerichte, etwa der Landesarbeitsgerichte (f=1696), des EuGH (f=625) und des Bundessozialgerichts (f=183), der Oberlandesgerichte (f=104) und – allerdings am seltensten – Landesgerichte (f=41). Schließlich ist auch schon die hochgradige Muster- und Formelhaftigkeit, die sich über viele Tausend Entscheidungen der Arbeitsgerichte sprachlich manifestiert (vgl. B.III.), ein gutes Indiz für die hervorgehobene Stellung gegenseitiger Bezugnahme der Gerichte und ihrer Entscheidungen. Wie lässt sich diese Entwicklung von der Kohärenz der Gesetze zu jener der Urteile344 beschreiben? Man liest nicht mehr direkt im Gesetz, sondern man beobachtet andere Leser des Gesetzes. Das Aufnehmen von Präjudizien ist insoweit eine Beobachtung zweiter Ordnung. Man kann nicht sagen, die Systematik erster Ordnung werde durch die der zweiten Ordnung verdrängt, denn die normale systematische Auslegung kommt weiterhin vor. Besser könnte man von einem Ergänzungsverhältnis sprechen, denn die Systematik zweiter Ordnung kann nur dort verwendet werden, wo die Gerichte schon tätig waren. Dabei ist das Wort „Ergänzung“ aber immer noch missverständlich. Denn es konnotiert Randgebiete und entlegene Provinzen des Rechts. Tatsächlich aber kommt die Systematik zweiter Ordnung gerade in den zentralen Bereichen zum Tragen, wo es die meisten Judikate gibt. Die Systematik erster Ordnung zeigt sich dagegen eher in den Randgebieten und bei speziellen Rechtsfragen. Wenn man ___________ vollziehbarkeit und Überprüfbarkeit. Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004. 344 Im Rahmen der Systemtheorie kommt das Stichwort Kohärenz nicht vor. Das vorliegende Problem wird dort unter der Überschrift Konsistenz der Entscheidungspraxis verhandelt. Vgl. dazu Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt/Main 1999, S. 374 ff., 394 ff. Dabei macht sich die Systemtheorie immer noch Illusionen über die Möglichkeit von Konsistenz und die mangelnde Beachtlichkeit von deren Fehlen. Dazu grundsätzlich Stäheli, Sinnzusammenbrüche, Weilerswist 2000. Kern des Problems ist der von Luhmann aus der Protologik von Spencer Brown übernommene Begriff der Kondensierung bzw. Konfirmation. Die Protologik sieht von der Zeit ab. Wenn man solche zeitabstrakten methodischen Annahmen auf zeitlich strukturierte Thematiken überträgt, erzeugt man dadurch idealistische Illusionen von Dauerhaftigkeit und Stabilität. Sachadäquater ist demgegenüber der eine prinzipielle Verschiebung enthaltende Begriff der Iteration. Eine Dekonstruktion dieser Annahmen der Systemtheorie muss im vorliegenden Zusammenhang unterbleiben. Vgl. dazu Stäheli, ebd., S. 280 ff.; Baecker, Zeit und Zweideutigkeit im Kalkül der Form, in: Nummer 3, 4/5, 1996, S. 11 ff.; Gasché, The Tain of the mirror, Cambridge, MA 1986, insbes. S. 192 und öfter. In der Systemtheorie können diese idealistischen Grundannahmen nur funktionieren, weil sie die Rhetorizität von Sprache unterschätzt und exiliert. Vgl. dazu Stäheli, ebd., S. 150 ff.

II. Was die Gerichte tun

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diese Entwicklung zureichend beschreiben will, muss man von einem wachsenden Überwiegen der Systematik zweiter Ordnung gegenüber derjenigen erster Ordnung ausgehen. Die grundlegende Schwierigkeit der Systematik zweiter Ordnung liegt darin, dass ein Gericht weder seine eigenen Entscheidungen noch gar die anderer Gerichte voll überblicken kann und dass schon deshalb häufig Widersprüche zwischen Präjudizien bestehen. Diese verborgenen „Nester von Widersprüchen“345 können den Bezug auf Vorentscheidungen willkürlich machen, aber auch in einem laufenden Verfahren zu guten Argumenten führen. Daran sieht man, dass die Systematik zweiter Ordnung nicht alle Probleme juristischen Entscheidens zu lösen vermag.

___________ 345

Vgl. dazu schon Balkin, Nested oppositions, in: Yale Law Journal, 99/1, S. 669 ff.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht Die Arbeitsweise der Gerichte ist also viel komplexer als ihre Theorie. Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Gerichte liegt in der Fehleinschätzung der Bedeutung: ein Text müsse genau eine wörtliche Bedeutung haben, die dem Sprecher über grammatische Auslegung sofort einfällt. Zwar fällt uns oft etwas ein, aber eben nicht immer nur eine einzige Bedeutung. Gerade wenn Bedeutungen streitig sind, helfen die ersten Einfälle der Sprecher nicht weiter. Beide Streitparteien halten ihren Kontext für den entscheidenden und damit ihre Bedeutung für die wörtliche. Die Bedeutung eines Ausdrucks ergibt sich jedoch erst durch die Wörter, die in seiner Umgebung regelmäßig auftreten. Man muss also, wenn der erste Einfall nicht hilft, eine Vielzahl von Kontexten heranziehen und dann gewichten. Dies tun die Gerichte auch, aber mit einer Theorie, die beansprucht, von der Bedeutung des Gesetzes zur Wertebene des Rechts überzugehen. An die Stelle der Werte sind die verfassungsrechtlichen Bindungen zu setzen. Die Werte sind in einer realistischen Bedeutungsanalyse überflüssig. Die Verfassungsvorgaben finden ihren methodischen Ansatzpunkt in der Gewichtung von Kontexten. So kann man die Theorie mit der Praxis kompatibel machen. Für die Einlösung der Gesetzesbindung im Arbeitsrecht stellen sich damit die Probleme von Lücke, Richterrecht und Wortlautgrenze. 346 Wenn man die realen Bedeutungsverhältnisse berücksichtigt, werden die Lücken im Gesetz sehr viel kleiner und der aktive Anteil des Richters mit der Kontextanalyse größer. Dafür kann man dann aber auch zwischen gesetzesergänzendem und gesetzesverdrängendem Richterrecht unterscheiden und eine Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung ziehen.

I. Ab durch die Lücke Die Gerichte müssen Streitfälle entscheiden. Dabei sind zwei Vorgaben von besonderer Bedeutung: Einmal das Rechtsverweigerungsverbot, wonach im Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 3 GG) der Richter die Entscheidung eines Falles nicht verweigern darf.347 Zum anderen die Gesetzesbindung: Danach muss die ergangene Entscheidung dem vom Gesetzgeber erlassenen Normtext zurechen___________ 346

Zur Wortlautgrenze schon oben, Abschnitt A. III. 2. Vgl. dazu aktuell die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Flashmob; Bundesverfassungsgericht, I BvR 3185/09 vom 26.03.2014 (Abs. 1-43), http://www.bverfg.de.entscheidungen, RK 20140326 1 bvr318509.html, Rdn. 2. 347

I. Ab durch die Lücke

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bar sein. Zwischen beiden Anforderungen vermittelt aus klassischer Sicht der Vorgang der Auslegung, welche den Richter vom bloßen Wortlaut des Gesetzes zum Wortsinn führt. Solange der Richter sich auf die Auslegung der im Gesetzestext vorgegebenen Norm beschränkt, genügt er dem Postulat der Gesetzesbindung, und nur so weit geht auch der Entscheidungszwang. Anders ist es, wenn der fehlende Inhalt eine Lücke darstellt. Dann kann der Richter auch ohne Gesetz entscheiden. Die Reine Rechtslehre wendet dagegen ein348, Regeln würden nicht aufgefunden, sondern erzeugt. Wenn der Richter eine materielle Regel für die Lösung des Falles nicht kunstgerecht erzeugen könne, müsse er die Klage abweisen. Nicht die Logik des Entscheidungszwangs führt aber zur Lücke, sondern erst seine materielle Aufladung als Zwang zur gerechten Entscheidung. Die Lücke entsteht erst, wenn man einen vom Gesetz abgelösten Gerechtigkeitsmaßstab zugrunde legt. Sie ist aus dieser Sicht ein Instrument, um einem rechtspolitisch unerwünschten Gesetz zu entkommen.349 Tatsächlich ist die Lücke Legitimationsvehikel350 und nach Rüthers damit ein Spiegel des Zeitalters der Ideologien. So konnte sie für die nationalsozialistische Rechtstheorie als Kuckucksei im Nest des Liberalismus dienen351 und vorwegnehmen, was gesetzlich noch gar nicht geregelt war. Der Richter hält sich dabei an das biblische Versprechen: „Suchet, so werdet Ihr finden.“352 Die Voraussetzungen, die zur Annahme einer Lücke führen, sind also genau zu untersuchen. 1. Die Bestimmtheitslücke Die herkömmliche Lehre begründet die Annahme einer Lücke häufig damit, dass der Gesetzgeber unbestimmte Begriffe oder Generalklauseln verwendet. Er mache dann den Anwender zum Mitgesetzgeber und ermächtige ihn zur Ausfüllung dieser Lücke. Hier stoßen wir auf einen Bereich, in welchem Juristen sich als Sprachwissenschaftler gerieren. Für die herkömmliche Lehre heißt „Bestimmtheit“, dass der Wortlaut des Gesetzes die Entscheidung des Rechtsfalls vorgibt. Dieses Postulat wird in der Theorie hochgehalten, in der Praxis spielt es jedoch keine Rolle. Das liegt daran, dass der Normtext mit dieser Lesart des Bestimmtheitsprinzips überstrapaziert wird. Die Forderung nach einer Bestimmtheit und Klarheit rechtlicher Regelung, die im Sinne einer Eigen___________ 348 Vgl. dazu Kelsen, General Theory of Law and State, Cambridge-Massachusetts 1945, S. 146 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 251 ff. 349 Ebd. 350 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., München 2011, Rn. 864. 351 Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und bürgerliches Recht, Tübingen 1933, S. 5; ders., Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, Tübingen 1934, passim. 352 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., München 2011, Rn. 875, unter Bezug auf Matthäus 7.7.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

schaft dem Gesetzestext innewohnt, ist sprachlich nicht einlösbar. Kein Text kann die mit ihm verknüpften Lesarten determinieren. Er hat keinerlei intrinsische Eigenschaften, die die Festlegung auf eine bestimmte Lesart unabhängig von der Praxis des Umgangs mit diesem Text rechtfertigen könnten.353 Die Wahl einer Lesart bleibt immer unterbestimmt und bringt eine Entscheidungskomponente ins Spiel. Bestimmtheit ist, wie die These von der Unbestimmtheit der Übersetzung in der analytischen Philosophie354 zeigt, in allen nicht blind funktionierenden Fällen nie durch Sprache erreichbar. Sie kann immer nur innerhalb von gegebenen Sprach- bzw. Überzeugungssystemen hergestellt werden.355 Dabei wird allerdings das Problem der Unbestimmtheit zwangsläufig auf die Entscheidung für ein solches System verlagert. Die zweifache Unbestimmtheit von Sprache356, nämlich die von begrifflichen Festlegungen innerhalb eines gegebenen Rahmens einerseits, sowie andererseits die der Wahl eines bestimmten Begriffsschemas357, zeigt, dass die normtheoretischen Prämissen der bisherigen juristischen Auffassung des Bestimmtheitsgebots sprachtheoretisch nicht einlösbar sind. Es kann nicht von der Bestimmtheit als einer Eigenschaft von Gesetzestexten oder auch nur als einer Vorgabe durch die gesetzliche Vorschrift als solcher ausgegangen werden. Vielmehr ist Bestimmtheit eine normative Aufgabe. Sie stellt sich als Frage der Bestimmbarkeit von Rechtsentscheidungen anhand von Normtexten. Für eine Lösung dieses praktischen Problems sind die sprachtheoretischen Voraussetzungen der herkömmlichen Lehre vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es ist davon auszugehen, dass Sprache überhaupt nur dadurch funktionieren kann, dass sie als solche unbestimmt ist und damit in ihrer Bedeutung gegen-

___________ 353

Vgl. dazu Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtsarbeit und Textarbeit, Berlin 1997, Kap. III, Abschnitt 3.1.3. 354 Dazu anhand des Gedankenexperiments der radikalen Übersetzung Quine, Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, S. 59 ff.; ders., Unterwegs zur Wahrheit. Konzise Einleitung in die theoretische Philosophie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, § 18. Zum Problem der prinzipiellen Unbestimmtheit in Bezug auf Bedeutungsgebung in der eigenen Sprache als Problem der „radikalen Interpretation“: Davidson, Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 183 ff. Zum Zusammenhang beider Positionen: Picardi, Einleitung. Zu Davidsons Philosophie der Sprache, in: dies./Schulte (Hrsg.), Wahrheit und Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/Main 1990, S. 7 ff. 355 Dazu anhand des Problems der „Unerforschlichkeit der Bezugnahme“ Davidson, Die Unerforschlichkeit der Bezugnahme, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 321 ff. 356 Vgl. dazu Quine, Ontologische Relativität, in: ders., Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 41 ff., § 43. 357 Grundsätzlich zum Problem der Begriffsschemata Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 261 ff.

I. Ab durch die Lücke

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über der Vielfalt der Zwecke für ihren Einsatz autonom.358 Nur dadurch ist sie offen für wechselnde Kontexte. Zugleich kann sie gerade aufgrund dieser Flexibilität in den verschiedenen Zusammenhängen stabil fungibel sein. Es stellt sich dann allerdings die Frage, was bei realistischer Einschätzung der sprachlichen Bedingungen Bestimmtheit von Normtexten überhaupt noch heißen kann. Die Leistung des isolierten Normtextes für die Bestimmtheit ist dabei gering. Er kann der Rechtserkenntnis keine bestimmte Lesart vorgeben. Er fungiert als Lieferant von „keywords“ für Kontextanalysen. Daraus ergibt sich, dass das Problem der Bestimmbarkeit nur gelöst werden kann, wenn man die isolierte Fixierung auf den Text aufgibt. Bedeutungsarbeit heißt strukturierte Verwendung von Kontexten. Dazu bedarf es in der Verfassung demokratischer Entscheidungen in Form von methodenbezogenen Vorschriften, die für die Arbeit des Richters verbindlich sind. Außerdem muss die Wissenschaft Standards entwickeln, die den Anwender in die Lage versetzen, die gefundenen Kontexte zu gewichten. Aber auch wenn alle nötigen Kontexte bekannt und in eine Hierarchie eingeordnet sind, besteht in jedem praktischen Fall die Möglichkeit, dass die Kontexte genauer betrachtet werden müssen. Eine Methodik oder Kultur des Lesens kann die Konkretisierung nicht zu einem vollkommen beherrschbaren und voraussehbaren Vorgang machen. Dafür sorgt die unumgehbare Unendlichkeit der Kontexte359. Die am Rechtsstreit beteiligten Parteien haben auch hier das Interesse daran, diese interne und externe Unendlichkeit zu nützen, um die Lesart des Prozessgegners zu erschüttern. Für diese Konflikte als semantischen Kampf muss eine Form bereitgestellt werden, welche die doppelte Aufgabe erfüllt, dem Konflikt Raum zu bieten und ihn gleichzeitig zu verendlichen. Ein rechtsstaatliches Verfahren, das Waffengleichheit und Subjektqualität für alle am Interpretationskonflikt beteiligten Personen garantiert, kann diese Aufgabe erfüllen. Auch Text, Interpretationskultur und rechtsstaatliches Verfahren zusammengenommen bilden keine Grundlage für eine Determination der einzelnen Fall___________ 358 Vgl. dazu Davidson, Denken und Reden, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 224 ff., 237; zur so genannte(n) „Autonomie der Bedeutung“: „Ist ein Satz erst einmal verstanden, kann eine Äußerung dieses Satzes verwendet werden, um nahezu jedem außersprachlichen Zweck zu dienen.“ Weiter ebd., S. 238, dazu, „dass die Autonomie der Bedeutung wesentlich ist für die Sprache; ja es ist hauptsächlich diese Autonomie, die erklärt, weshalb die sprachliche Bedeutung nicht auf der Grundlage außersprachlicher Intentionen und Überzeugungen definiert oder analysiert werden kann.“ Zum „Prinzip der Autonomie der Bedeutung“ im Hinblick auf sprachliches Handeln weiter D. Davidson, Kommunikation und Konvention, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 372 ff., 385 f. 359 Vgl. dazu Gamm, Flucht aus der Kategorie, Frankfurt/Main 1994, S. 151 ff., 165, 232 ff.

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entscheidung. Die Entscheidung bleibt immer und notwendig im Bannkreis des Satzes vom unzureichenden Grunde.360 Der Richter erkennt nicht die Falllösung, die er dann in seinem Sprechen vollzieht, sondern er übt die ihm von Art. 92 GG übertragene richterliche Gewalt aus, indem er eine Entscheidung trifft. Mit dieser setzt er sich über die von den Parteien vorgetragenen Lesarten hinweg, ohne dies durch den Hinweis auf eine wörtliche Bedeutung rechtfertigen zu können. Deswegen muss auch diese Dimension als Grenze in das Problem der Bestimmbarkeit des Normtextes einbezogen werden. Wenn die Aufgabe des Richters darin liegt, einen Konflikt zwischen verschiedenen Lesarten zu entscheiden, müssen Garantien für seine Neutralität bestehen und er darf nicht politischen, sondern nur im engeren Sinne rechtlichen Bindungen unterworfen sein. Erst wenn man also die Bestimmbarkeit des Normtextes im Gesamtrahmen der für die Konkretisierung wichtigen Umstände betrachtet, lässt sie sich als normative Anforderung präzisieren: Bestimmbarkeit heißt nicht, dass der Normtext die Entscheidung schon vorgibt. Denn Subjekt der Konkretisierung ist der Richter und seine Entscheidung lässt sich nie vollkommen in Gründe auflösen. Damit ist die positivistische Illusion von sprachlicher Bestimmtheit verlassen. Das heißt aber andererseits nicht, dass die Entscheidung als absolute Größe dezisionistisch verstanden werden müsste. Sie wird vielmehr innerhalb des Rechts erschwert und beeinflusst (in Luhmanns Ausdrucksweise: „irritiert“) durch die Sprache des Gesetzes, durch die methodenbezogenen Anforderungen, das Verfahren und die Bindung des Richters an das Gesetz. Erst wenn man Determination durch („irritierende“) Beeinflussung der Entscheidung ersetzt, wird Bestimmbarkeit eine sinnvolle und damit einlösbare Größe. Anders gesagt: Der Rechtsstaat kann sinnvoll nichts Illusionäres fordern, also nicht die Bestimmtheit von Rechtsbegriffen und ihren Bedeutungen. Dagegen verlangt er etwas Realisierbares: Die Bestimmbarkeit des Verfahrens und der Ergebnisse von Rechtsarbeit, also ehrliche Methodik, nachvollziehbare und in diesem Sinn transparente Arbeitsvorgänge. Wenn man also die fehlende Bestimmbarkeit des Begriffs vor der Situation seiner Anwendung für eine Lücke halten müsste, dann bestünde die ganze Rechtsordnung nur aus Lücken. Entscheidend ist nicht, ob ein Begriff vor seiner Anwendung bestimmt ist, sondern ob er mit Hilfe der Auslegungsregeln bestimmbar ist. Und selbst wenn er nicht bestimmbar wäre, liegt dem Richter eine, gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG oder dem Rechtsstaatsprinzip unwirksame Norm vor, aber keine Lücke. Der Richter muss an dieser Stelle nicht scheinbare Lücken füllen, sondern untergesetzliches ___________ 360

Vgl. dazu Waldenfels, Das Primat der Einbildungskraft. Zur Rolle des gesellschaftlichen Imaginären bei C. Castoriadis, in: Peschriggl/Reitter (Hrsg.), Die Institution des Imaginären, Wien/Berlin 1991, S. 55 ff.

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Recht aufheben bzw. die Frage der Wirksamkeit von Parlamentsgesetzen nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Verfassungsgericht vorlegen. 2. Die Veränderungslücke Eine weitere Kategorie der herkömmlichen Lehre ist die Gesetzeslücke aufgrund von Veränderungen in der Wirklichkeit. Rüthers betont diesen Aspekt für das Arbeitsrecht. Danach gibt es eine „dramatisch gestiegene Veränderungsgeschwindigkeit hochentwickelter postindustrieller Gesellschaften. Die Gesetzgebung kann nur regeln, was sie als regelungsbedürftig erkannt hat. Die gesellschaftliche Realität, die von der Regelung erfasst und geordnet werden soll, unterliegt den angedeuteten rasanten, nicht selten umwälzenden Veränderungsprozessen. Die von der Gesetzgebung angeschaute, reale Interessenlage hat sich einschneidend gewandelt. Die neue Lage war der Gesetzgebung nicht bekannt. Sie kann also nicht geregelt sein. Das führt zu einer Vielzahl sekundärer Regelungslücken.“ 361

Auch damit wird ein grundlegendes rechtstheoretisches Problem angesprochen, nämlich die Verknüpfung der Jurisprudenz mit der Wirklichkeit bzw. der jeweils zuständigen Nachbarwissenschaft. Trotz ihrer großen Wichtigkeit werden empirische Argumente im Recht oft als Schmuggelware gehandelt. Sie erscheinen als Folgenbetrachtung im Rahmen der Teleologie, als so genanntes „argumentum ad absurdum“, als „Rechtsprinzip der Praktikabilität“ und manchmal sogar noch als „Natur der Sache“. Aber auch im Recht besteht Interesse daran, dass fremde Waren offen deklariert werden. Deswegen muss die Verwertung empirischer Diskurse in der juristischen Arbeit genau untersucht werden. Für die juristische Arbeit sind „Recht“ und „Wirklichkeit“ keine selbständig gegebenen Größen, die in einem lediglich äußeren Verhältnis zueinander stehen und erst nachträglich miteinander in Beziehung zu setzen sind. „Vielmehr bilden die Anordnung, das Normprogramm und das dadurch Geordnete wirksame Momente der Normkonkretisierung von nur relativer Selbständigkeit.“362 Sache und Norm sind als Konstituens rechtlicher Normativität zu betrachten. Recht lässt sich daher als „sachbestimmtes Ordnungsmodell“363 charakterisieren, „als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung für die Rechtsgemeinschaft“.364 Das Konzept Normbereich verknüpft rechtlich explizite Regeln mit praktisch impliziten und technischen Standards. Damit ist es zur Erfassung des Vorgangs ___________ 361

Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101. Passavant, Norm, Normativismus, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts 1986. 363 Vgl. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 168. 364 Passavant, Norm, Normativismus, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts 1986. 362

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der Einbeziehung von Realdaten in die juristische Entscheidung geeignet. In Deutschland hat das BVerfG das Rundfunkverfassungsrecht unter ausdrücklichem Bezug auf den Begriff „Normbereich“ vorbildlich entwickelt. Bei Rundfunk zeigt sich besonders deutlich der Charakter grundrechtlicher Leitbegriffe als Verweisungsbegriffe auf die soziale Wirklichkeit.365 Das BVerfG betrachtet die Tarifautonomie als Übertragung eines Normsetzungsrechts und damit einen von staatlicher Regulierung freigestellten Raum.366 In der Flashmob-Entscheidung ging es auch um die Frage der Waffengleichheit der Tarifpartner. Sind das Hausrecht und die zeitweise Schließung des Betriebes als Gegenmittel für einen von der Gewerkschaft angedrohten Flashmob wirklich geeignet? Die Tarifautonomie ist darauf angelegt, „die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“367

Diese Anforderung hat eine tatsächliche Komponente, welche nicht einfach unterstellt werden kann. Die tatsächliche Wirksamkeit muss vielmehr untersucht werden. Die Analyse des Wirklichkeitsmodells von Art. 9 Abs. 3 GG wird dabei allerdings zum Teil durch globale Annahmen ersetzt. In einer komplexen Ökonomie der Ungewissheit kann das Recht nicht mehr beanspruchen, den Möglichkeitshorizont, etwa unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit, unmittelbar steuern zu können. Vielmehr geht es darum, die Selbstveränderungsfähigkeit einer pluralen Gesellschaft durch Mechanismen indirekter Steuerung zu erhalten. Hier lenkt das Recht nicht, sondern es erhält und bereichert die Relationen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen. Mit dem Konzept „Normbereich“ kann das Recht das Risiko, Wissen und Handlungspotential von marktförmiger, wissenschaftlicher und personaler Selbststeuerung integrieren. Das Recht wird damit responsiv und transformiert die vermeintliche Sicherheit hierarchischer Argumentationsmuster in das Handhaben von Ungewissheit und in ständige Revisionsbereitschaft. Gesetzeslücken ergeben sich also nicht einfach aus der Veränderung tatsächlicher Umstände. Deren Berücksichtigung ist erst einmal nichts Ungewöhnliches [vgl. oben, Abschnitt A. IV. 3.]. Vielmehr ist sie Gegenstand eigentlich jedes juristischen Arbeitens, indem „Recht“ und „Wirklichkeit“ nicht als isoliert stehende Größe verstanden werden, d.h. die in einem lediglich äußeren Verhältnis zueinander stehen würden und erst nachträglich miteinander in Beziehung zu setzen wären. Wenn sich die Wirklichkeit verändert und diese Ver___________ 365

Vgl. dazu Jeand’Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote, Berlin 1993, S. 26 ff. BVerfG 4, S. 96 ff., 108 = NJW 1954, S. 1881; BVerfG 18, S. 18 ff., 28 = NJW 1974, S. 1267; BVerfGE 34, S. 308 ff., 317. 367 BVerfGE 84, S. 212 ff., 229 = NJW 1991, S. 2549. 366

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änderung, gemessen an den sprachbezogenen Auslegungsregeln, keine Normverletzung darstellt, kann sie sogar die Bedeutung des Normtextes verändern. Die Referenz ist genauso wenig wie die Bedeutung im Text vorgegeben. Sie muss im Verfahren hergestellt werden. Aber daraus folgt keine Lücke. Wenn sich Normtext und geregelter Lebensbereich ganz auseinanderentwickeln, kann eventuell die Sachgerechtigkeit oder sogar Wirksamkeit der Regelung in Frage stehen. Aber auch dies ermächtigt den Richter nicht zu neuer Gesetzgebung. 3. Die Kollisionslücke Kollisionslücken sollen vorliegen, wenn sich zwei Vorschriften eines Gesetzes oder zwei Elemente der Auslegung widersprechen. Wenn zwei Gesetze miteinander in Konflikt liegen, haben wir tatsächlich einen der Normalfälle der systematischen Auslegung bzw. im Verfassungsrecht der praktischen Konkordanz. Hier von Lücken zu sprechen, macht wiederum nur Sinn, wenn man von der Rechtsordnung verlangt, dass sie ohne Widersprüche eine klare Entscheidung des Falles vorgeben sollte. Da dieses Verlangen praktisch nicht erfüllbar ist, sollte man auch hier nicht von einer Lücke sprechen. Unter den Konfliktfällen zwischen einzelnen Auslegungselementen ist besonders prominent der Gegensatz von Wortlaut und Zweck. Herkömmlich als Konflikt zwischen Sprache und Recht inszeniert, handelt es sich vielmehr um einen Konflikt innerhalb der Sprache zwischen zwei verschiedenen sprachbezogenen Auslegungselementen. Methodisch gibt es zwei Möglichkeiten, auf einen solchen Konflikt zu reagieren: der Umkehrschluss schützt den Wortlaut vor einer Erweiterung durch einen behaupteten Zweck, während die teleologische Reduktion vom Wortlaut gedeckte Bedeutungsmöglichkeiten vom begründeten Zweck her einschränkt. Aufgabe des Umkehrschlusses ist es, darzulegen, dass „von einer Rechtsvorschrift nur der von ihr ausdrücklich erwähnte Tatbestand erfasst ist.“368 Der Vorschlag, ausgehend von einem Zweck den Wortlaut in seiner Anwendung auszudehnen, wird mit dem Hinweis auf engere Kontexte die Systematik oder Entstehungsgeschichte abgelehnt. Der Umkehrschluss dient damit der Anmahnung einer Beschränkung auf den ausdrücklich festgelegten Schutzbereich einer Vorschrift und somit dem Vertrauensschutz. Die teleologische Reduktion dagegen produziert keinen Sinn, sie verbraucht ihn vielmehr. Mit einem durch Systematik oder Entstehungsgeschichte belegten Zweck wird der Wortlaut auf einen engen Schutzbereich reduziert. Die Reduktion dient dazu, einem allzu großen Überschwang an möglicher Bedeutungs___________ 368

Potacs, Auslegungen im öffentlichen Recht, Baden-Baden 1994, S. 157.

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produktion einen Riegel vorzuschieben. Es geht darum, gegen ein Ausschöpfen der Semantik und ein Ausreizen der Logik die Regelung zur Geltung zu bringen, auf die die entsprechende Vorschrift vor allem entsprechend ihrer Systematik beschränkt bleiben sollte. Alle Konflikte zwischen den Auslegungselementen sollte man nicht als Lücke behandeln, sondern mit Hilfe der Theorien über die Rangfolge dieser Elemente entscheiden. Dazu gibt es in der Praxis der Gerichte Ansätze, die zwar noch einer Strukturierung bedürfen, aber im Prinzip in die richtige Richtung weisen. Zu denken ist hier an die vom Bundesverfassungsgericht unter dem missverständlichen Titel „Objektive Auslegungslehre“ eingeführte Regel für die Vorzugswürdigkeit von Argumenten. Danach soll im Konfliktfall die historische und genetische Auslegung hinter der grammatischen bzw. systematischen Auslegung zurücktreten. Denn letztere stünden näher am Normtext und erlaubten auch dem Normunterworfenen eine bessere Orientierung. Wenn man an diese schon praktizierten Kriterien anknüpft, ergibt sich im Falle eines Konflikts von Auslegungselementen die Notwendigkeit einer doppelten Bewertung: Erstens sind die Argumente normstrukturell oder abstrakt zu bewerten. Zweitens müssen die Argumente konkret nach ihrer Intensität oder Schwere eingeordnet werden. Normstrukturell ist das Gewicht eines Arguments umso größer, je näher es am Normtext steht. Das heißt, textbezogene Argumente schlagen Normbereichsargumente aus dem Feld, und diese wiederum bloße rechtspolitische Bewertungen usw. Neben dieser Einordnung des Arguments in die Normstruktur als direkt textbezogen, indirekt textbezogen und normtextgelöst, muss eine konkrete Bewertung treten. Diese lässt sich aber nur schwer vom jeweiligen Fall abheben. Als Unterscheidung bieten sich Möglichkeit, Plausibilität und Evidenz an.369 Möglich ist dabei ein Argument, wenn es nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Plausibel heißt, dass das Argument überzeugend ist, aber Alternativen denkbar sind. Evident ist ein Argument, wenn im Moment gar keine Alternativen denkbar sind. Das reicht zur Lösung der Konflikte aus, ohne dass man Lücken postulieren müsste. 4. Die Gesetzeslücke Die rechtsstaatlichen Anforderungen an richterliche Konkretisierung werden in der herkömmlichen Lehre in spezifischer Weise aufgefasst370: Der Richter ist nur dann an das Gesetz gebunden, wenn dieses einen eindeutigen Wortlaut aufweist. Erfüllt das Gesetz die Eindeutigkeitsforderung nicht, dann ist nach ___________ 369

Vgl. dazu Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt/Main 1993, S. 119, 163 f., 201 f., 204 f. 370 Vgl. auch Christensen, ARSP 1987, 75, 87.

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der positivistischen Theorie von der im Wortlaut eindeutig vorgegebenen Norm eine Gesetzeslücke anzunehmen, die der Richter durch Heranziehung anderer Maßstäbe schließen muss. Wann ist aber der Wortlaut eines Gesetzes eindeutig? Offensichtlich nur dann, wenn keine Zweifel an seiner Bedeutung bestehen. Die Gesetzesbindung hängt in diesen Fällen davon ab, ob der Richter bereit ist, an der Bedeutung des Wortlauts zu zweifeln. Und da man ja bekanntlich an allem zweifeln kann, entscheidet der Richter de facto selbst, ob er an das Gesetz gebunden ist oder nicht. Die im Text scheinbar so eindeutig vorgegebene Rechtsnorm hängt damit von einer richterlichen Dezision ab, und der Positivismus schlägt an seinem vorgeblich solidesten Punkt des eindeutigen Wortlauts in unkontrollierbare Beliebigkeit um. Nur eine wörtliche Bedeutung sei als „gesetzgeberische Weisung“,371 als Direktive,372 als Steuerungsinstrument373 oder als Anweisung zur Entscheidung374 in der Lage, dem Richter für sein Tun einen Maßstab zu verschaffen.375. Eine Legitimation des Richters könne sich nur ergeben, wenn er genau die im Gesetz vorgegebenen Maßstäbe in seiner Entscheidung lediglich vollziehe. Sonst übe er eine vom legitimierenden Volk völlig losgelöste Herrschaftsgewalt aus.376 Die Entscheidungsbefugnisse des Richters folgen nicht aus seiner persönlichen Legitimation, sondern aus seiner sachlichen Legitimation durch den Maßstab des Gesetzes.377 Dieser Maßstab steht fest. Streit darum kann es nicht mehr geben. Der Streit wird nur als sein Ausgangspunkt oder Daseinsgrund anerkannt. Denn als Gesetzesvorhaben ist es in den Parlamenten zunächst vom Streit der politischen Parteien begleitet. Das lässt sich zwar nicht leugnen, aber eingrenzen. Es sind nicht nur Gründe der Appetitlichkeit, die Bismarck zu dem wohlmeinenden Ratschlag veranlassten, bei Gesetzen und bei der Wurst den Entstehungspro___________ 371 372 373

45.

374

BVerfGE 34, 269, 287. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., 1983, S. 95. Herzog in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand 1994, Art. 20, Rdnr. VI,

Ennerccerus/Nipperdey, BGB AT I /1, 15. Aufl., 1959, S. 337. Dazu auch Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, 1986,S. 11 ff., 11; sowie Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 250; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 71. 376 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland I, 8 Bde., 1987 ff., § 22, Rn. 23; Isensee, Heymanns-Festschrift, S. 582 f.; Kray JZ 1978, 467. 377 Vgl. hierzu Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 7; sowie Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland I, 8 Bde., 1987 ff., § 22, Rn. 23. 375

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zess schnell zu vergessen. Sobald der Entstehungsprozess abgeschlossen ist, gibt es einen eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Dieser ist zu befolgen. Rüthers wirft dem BAG insoweit zu Recht vor, die Normsetzungsbefugnisse des Parlaments zu usurpieren. Am Beispiel von Entscheidungen zum Begriff des Leitenden Angestellten spricht er von „illegitimer, die Gesetzesbindung abstreifender richterlicher Normsetzungsfreude durch eine verfehlte Verwendung des Begriffs ‚teleologischen Norm- und Gesetzeslücken‘.“378 Es handele sich dabei nicht um einen Einzelfall, sondern um ein Beispiel: „Wo eine Lücke nicht nur gefunden, sondern notfalls erfunden wird, erhält die richterliche Gesetzesabweichung fast beliebig freie Hand. Deshalb ist die richterliche Annahme einer Lücke ein beliebtes Argument, wenn die Gerichte mit einer vorhandenen gesetzlichen Regelung nach ihrem rechtspolitischen und weltanschaulichen Vorverständnis unzufrieden sind.“379 Doch auch die Kritik hat ihren blinden Fleck. Er liegt in der Beschränkung auf die subjektive Auslegungslehre. Es wird das Gesetz der Rechtspolitik gegenübergestellt. Gesetz sind die Zwecke des Gesetzgebers. Der Rest ist Rechtspolitik. Natürlich verfolgt der Gesetzgeber Zwecke. Aber diese müssen (insbesondere in den Materialien) nachgewiesen werden. Dann stellen sie ein Argument bei der subjektiv teleologischen Auslegen des Gesetzes dar. Aber diese Zwecke definieren nicht abschließend den Inhalt des Gesetzes. Systematik, objektive Teleologie und Berücksichtigung von Entwicklungen im Normbereich können über den „Willen des Gesetzgebers“ hinausführen. Aber sie verlassen damit noch nicht das Gesetz. Das Gesetz darf nicht auf die subjektive Auslegung reduziert werden Es reicht weiter. Was bleibt aber unter dieser Voraussetzung von der Gesetzeslücke übrig? Die Einteilung von Lückenarten ist bestimmt von den Maßstäben, die man zu ihrer Feststellung verwendet. Wenn man das Problem der Lücke methodisch reformuliert, bleiben nicht alle von der herkömmlichen Lehre vorgeschlagenen Unterscheidungen sinnvoll. Zunächst wird in der Lückendiskussion die bewusste von der unbewussten Lücke unterschieden. Diese Differenz macht nur Sinn, wenn man unterstellt, dass der Gesetzgeber selbst Fälle regeln will und absichtlich oder unabsichtlich einzelne ausgeklammert oder vergessen hat. Wenn man realistisch davon ausgeht, dass der Gesetzgeber Texte schafft, um die Einzelfallentscheidung durch den Richter zu beeinflussen, macht diese Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Lücken keinen Sinn mehr. Die Gegenüberstellung von ursprünglichen und nachträglichen Lücken bezieht sich auf den Zeitpunkt und bleibt sinnvoll, wenn der Begriff der Lücke in einem dynamischen Rechtsanwendungsmodell überhaupt noch Sinn macht. ___________ 378 379

Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., München 2011, Rn. 874. Ebd.

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Was bleibt also ohne die herkömmlichen Ableitungsinstanzen von dem Problem der Lücke noch übrig? Die Feststellung der Lücke wird häufig an einem Gesamtplan der Regelung gemessen. Das bleibt sinnvoll, wenn man als Gesamtplan den des Gesetzgebers annimmt und sich tatsächlich im Rahmen der genetischen Auslegung ein solcher nachweisen lässt, der dann nur unvollkommen realisiert wurde. Dies kann man mithilfe der Regierungsbegründung oder der Debatte in Ausschüssen oder Plenum des Parlaments begründen. Die entscheidende Engstelle ist aber der Nachweis, dass dieser Plan aus einem Fehler des Gesetzgebers heraus nur unvollständig realisiert wurde. Dieser Nachweis bedarf des Einsatzes aller Konkretisierungselemente und dürfte nur extrem selten zu führen sein. 5. Die Rechtslücke Im Unterschied zur Gesetzeslücke wird bei der Rechtslücke mit der Rechtsordnung als Ganzes argumentiert. Die Reduktion der Gesetzesbindung auf wörtliche Bedeutung führt aber in der Konsequenz auch zu einer weitreichenden Neuinterpretation des Rechtsverweigerungsverbots. Wenn die Gesetzesbindung den Richter lediglich an einen im Text vorgegebenen Befehl bindet, dann ist sie so weit eingeschränkt, dass praktisch jede Entscheidung eines Gerichts außerhalb ihrer Reichweite liegt. Konsequenterweise müsste dann der Richter alle Fälle, für welche der Normtext keine subsumtionsfähige Regel als tragenden Leitsatz der Entscheidung zur Verfügung stellt, abweisen. Damit wäre die Untauglichkeit des ganzen Modells offensichtlich. Deswegen behilft sich das Gericht mit einer Neuinterpretation des Rechtsverweigerungsverbots. Dieses soll den Richter nicht zu einer Entscheidung nach geltendem Recht einschließlich des Prozessrechts verpflichten, sondern zu einer der Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung.380 Während die Gesetzesbindung also eingeschränkt wird, wird das Rechtsverweigerungsverbot materiell aufgeladen und damit erweitert. Aus dieser Neuinterpretation von Gesetzesbindung und Rechtsverweigerungsverbot leitet sich dann der Begriff der „Lücke“ ab.381 Zwar ist, gemessen am gesellschaftlichen Regelungsbedarf, jede Rechtsordnung unvollständig, aber eben auch vollständig insoweit, als nur der rechtlich anerkannte gesellschaftliche Regelungsbedarf relevant ist und die Entscheidung immer nur eine ___________ 380

Vgl. kritisch zu dieser Interpretation des Rechtsverweigerungsverbots: Müller, Richterrecht, 1986, S. 121; ders., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 98 f., 108 ff., ebenso Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 200. 381 Vgl. zur Kritik am Konzept der Lücke und zum Folgenden: Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 112, 158, 227. Kritik am Lückenkonzept auch bei Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 246 ff.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Antwort aus dem geltenden Recht enthalten kann. Von einer „Lücke“ kann man deswegen nur sprechen, wenn ein Fall entgegen dem Gesetz als regelungsbedürftig angesehen wird. Die Regelungsbedürftigkeit lässt sich dann aber nur begründen aus einem normtranszendenten Maßstab von Gerechtigkeit, der in dieser Weise im Gesetz gerade keinen Ausdruck gefunden hat. Der Begriff der Lücke setzt deswegen einen für den Richter verfügbaren Begriff von Gerechtigkeit als überpositives Prinzip voraus und damit ein Mehr an Recht gegenüber dem positiven Gesetz. Wenn die Arbeitsgerichte aus dem Ganzen des Rechts heraus eine Lücke begründen, ist Rüthers Recht zu geben: „Der geschickt manipulierte Lückenbegriff ist der Zugang zu fast unbegrenzter richterlicher Normsetzung.“ 382 Die „Lücke“ ist damit kein Leerraum, sondern ganz im Gegenteil Quelle für ein Mehr an Recht.383 Dieser rechtliche Mehrwert wurde zwar dem Gesetz abgepresst, indem dieses in seiner Konkretisierungsleistung auf die wörtliche Bedeutung eingeschränkt wurde. Aber nun soll dieses Mehr an Recht als zweiter selbständiger Code hinter dem Normtext das Gesetz sogar korrigieren können. Seine Herkunft muss deswegen selbständig begründet werden. Die herkömmliche Lehre verwendet dazu die verfassungsmäßige Rechtsordnung als ein Sinnganzes. Aber ist die Verfassung und schon gar die gesamte Rechtsordnung wirklich ein Sinnganzes? Beweist nicht die ständige Notwendigkeit, widersprüchliche Normen im Wege der systematischen Auslegung384 zu einem Ausgleich zu bringen, in nahezu jeder Entscheidung das Gegenteil? Und selbst wenn die Rechtsordnung ein Sinnganzes wäre, wie könnte der Richter sie „ans Licht bringen“ und daraus sogar Anforderungen ableiten, die das positive Gesetz zu korrigieren vermögen? Nur weil man diese Fragen nicht stellt, kann man so tun, als sei das Ganze der Rechtsordnung für die einzelne richterliche Entscheidung verfügbar. Unfreiwillig geben die klassischen Formulierungen bei Larenz jedoch zu, dass sie mit partikulären Vorstellungen den Platz des Ganzen besetzen wollen. Denn das Ganze erhielt eine ständig wachsende Bedeutung.385 Eine Lücke, gemessen am Gesamtplan der Rechtsordnung, ist also kein sinnvoller Begriff, weil sich ein solcher Gesamtplan weder erkennen noch handhaben lässt. Eine Begründung anhand des Ganzen der Rechtsordnung oder ___________ 382

Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101, 105. Vgl. zu dieser ,,rechtsschöpferischen“ Rolle der Lücke auch die Konzeption von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 344 ff. mit Differenzierungen zwischen verschiedenen Arten von Lücken. 384 Vgl. dazu Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 190 f. 385 Vgl. dazu Frassek, Methode und Zivilrecht bei Karl Larenz (1903-1993), in: Rückert/Seinicke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts von Savigny bis Teubner, 2. Aufl., Baden-Baden 2012, S. 213 ff., m.w.N. 237 ff. 383

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der Idee der Gerechtigkeit liefert uns zu viel. Beides sind holistische Größen. Auch wenn entschlossene Juristen immer wieder abgesunkene Philosopheme wie den Neu-Hegelianismus, Neu-Kantianismus oder bestimmte Lesarten der Diskurstheorie bemühen, vermag das nichts an dem Umstand zu ändern, dass Rechtsidee oder Gerechtigkeit als formulierbare Größen nicht zentral oder als zentrale Größen nicht formulierbar sind. Damit schlägt die Scheinobjektivität eines Bezugs auf das Ganze in subjektive Willkür um: „Nicht zufällig ist der Eindruck entstanden, das BAG sehe sich selbst als den Garanten für eine selbstdefinierte ‚übergesetzliche‘ soziale Gerechtigkeit“.386 Trotzdem bleibt auch bei der Rechtslücke ein sinnvoller Kern übrig. Die Rechts- oder Gebietslücke liegt vor, wenn man von einer höherrangigen Rechtsquelle her eine Regelung erwarten müsste, die in der untergeordneten Rechtsquelle fehlt. So fordert Art. 19 Abs. 4 GG für extreme Konstellationen in der VwGO eine vorbeugende Klage, die aber tatsächlich dort nicht geregelt ist. Oder die Gewaltenteilung fordert jedenfalls bei Selbstverwaltungskörperschaften einen Innenrechtsstreit, um deren Lähmung zu vermeiden. Genauso ist es im Streikrecht nach Art. 9 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht betrachtet die Tarifautonomie als Übertragung eines Normsetzungsrechts und damit einen von staatlicher Regulierung freigestellten Raum.387 Um den Begriff der Rechtslücke präziser handhaben zu können, sind zwei Voraussetzungen zu unterscheiden: Erstens muss man, um eine solche Rechtslücke annehmen zu können, ein normativ angebundenes Regelungsziel angeben: Die Tarifautonomie ist darauf angelegt, „die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“ 388 Zweitens muss man feststellen, dass das einfache Gesetz dieses Regelungsziel nicht oder nur unzureichend erfüllt. Das vorausgesetzte Regelungsziel bedarf also einer Begründung in einer höherrangigen Norm. Ohne eine solche Begründung ist davon auszugehen, dass die normhierarchisch darunter liegende Rechtsquelle eine abschließende Regelung darstellt und das fragliche Ziel eben gerade nicht enthält. Im Strafrecht ist dies durch Art. 103 Abs. 2 GG vorgegeben (vgl. einfachgesetzlich §§ 1 StGB, 3 OWiG): nulla poena sine lege. Eine darüber hinausgehende Argumentation ist dort nicht mehr möglich. In anderen Rechtsgebieten besteht dieses Verbot ___________ 386 Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101, 105. Rüthers bezieht sich hier auf eine Formulierung von Zöllner, 50 Jahre BAG, 2004, S. 1395 ff., 1403. 387 BVerfGE 4, S. 96 ff., 108 = NJW 1954, S. 1881; BVerfG 18, S. 18 ff., 28 = NJW 1974, S. 1267; BVerfGE 34, S. 308 ff., 317. 388 BVerfGE 84, S. 212 ff., 229 = NJW 1991, S. 2549.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

nicht, so dass die regelmäßig anzunehmende Lesart, das Gesetz sei eine abschließende Regelung, mit entsprechenden Argumenten widerlegt werden kann. Als Argument gegen die vorrangige Lesart abschließender Regelungen genügt allerdings nicht jede Begründung. Die rechtspolitischen Wunschvorstellungen eines Richters, Gutachters oder Rechtsunterworfenen können dem vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber geschaffenen Text nicht entgegengehalten werden: Denn die Annahme einer Lücke ist „keine Aussage über einen Gegenstand und seine Defektheit, sondern ein Werturteil über die Regelungsbedürftigkeit und -möglichkeit [...]“389 Diese Form der Lücke setzt die Konkretisierung einer höherrangigen Rechtsquelle voraus und zusätzlich den Nachweis, dass auf der darunter liegenden Ebene das gerade gewonnene Normprogramm der höherrangigen Rechtsquelle nur unvollständig realisiert ist. Aber selbst wenn diese Argumentationsequenz gelingt, stellen sich noch weitere Probleme. Diese ergeben sich aus dem Grundsatz der funktionellen Gewaltenteilung. Denn der Richter ist nicht befugt, anstelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers die Verfassung zu Normtexten zu konkretisieren. Nur wenn das Gericht, wie der EuGH im Bereich der Staatshaftung und früher der Grundrechte, einen Rechtssetzungsauftrag von der Verfassung her hat, kann der Gesichtspunkt der funktionellen Gewaltenteilung außer Betracht bleiben. Im Bereich des Arbeitsrechts ist dabei vor allem das Streikrecht zu beachten, wo die Gerichte nur die Selbstregulation der Tarifparteien begleiten und kultivieren. 6. Was bleibt von der Lücke? Das Arbeiten mit Lücken bedarf als schwieriges methodisches Problem einer Präzisierung. Die herkömmliche Lehre unterscheidet zwei Welten: Erstens die Welt des Normtextes, die so weit reicht, wie eine Steuerung durch dessen Sprache möglich ist. Sprache wird aber reduziert auf die so genannte wörtliche Bedeutung, welche sich aus dem vom Leser jeweils privilegierten Kontext ableitet. Wo diese wörtliche Bedeutung versagt, gibt es eine zweite Welt, die unabhängig von sprachlichen Bindungen ist. Sie soll andere Vorgaben enthalten, wie etwa die Rechtsordnung als Sinnganzes, die allerdings kaum spezifiziert werden. Diese Unterscheidung ist problematisch. Bindungen können nur in der Sprache liegen. Aber Sprache ist eben komplexer, als es die herkömmliche Lehre zulassen will. Der Normtext ist mehr als ein Behälter für vorfabrizierte kleine Fallentscheidungen des Gesetzgebers. Die normative Entscheidung muss notwendig ___________ 389

Vgl. dazu Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1972, S. 177 ff., 179.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

167

und immer der Richter treffen. Denn der Gesetzgeber liefert ihm nur „geltende“ Zeichenketten, ergänzt durch die mitgebrachten Verwendungsweisen. Das aktive, das „willenhafte“ Moment richterlicher Tätigkeit ist nicht ein besonders zu erklärender Ausnahmefall in der richterlichen Tätigkeit, sondern ihr notwendiger und unvermeidlicher Regelinhalt. Es gibt stets mehr an gewolltem Handeln in einer gerichtlichen Entscheidung, als man zugeben will. Es gibt aber andererseits mit den geltenden Rechtfertigungszwängen auch wesentlich mehr Bindungen, als es die Theorie des Richterrechts wahrhaben möchte.390 Nicht nur der Umfang der schöpferischen Tätigkeit des Richters, sondern auch der Umfang seiner Bindung wird von dieser traditionellen Theorie zu gering eingeschätzt. Natürlich hat Kelsen wieder einmal Recht. Die Lücke ist ein ideologisches Konstrukt, um der Gesetzesbindung zu entkommen. Aber es bleibt ein sinnvoller Rest dieser Redeweise. Das Problem liegt in der Generalisierung über den methodischen Alltag hinaus. Auch wenn man mit Kelsen das schöpferische Moment der Rechtsfindung innerhalb der Gesetzesbindung begreift, bleibt an einigen, wenn auch zugegebenermaßen wenigen Stellen die Rede von Lücken sinnvoll. Es verschwindet keine bloße Illusion, aber immerhin kondensiert eine Wolke von Rechtsontologie zu wenigen Tröpfchen juristischer Methodik. Zwei Strategien zur Begründung einer Lücke sind danach legitim: Einmal die Ableitung der Lücke aus der Entstehungsgeschichte. Dabei wird über ein genetisches und eventuell historisches Element ein bestimmter Plan des Gesetzgebers nachgewiesen, welcher im Text nur unvollständig realisiert ist. Dann liegt eine so genannte planwidrige Lücke vor. Daneben gibt es noch die so genannte Rechtslücke. Dabei wird eine höherrangige Norm oder ein höherrangiger Normenkomplex zur Begründung der Lücke in einer Rechtsquelle von niedrigerem Rang herangezogen. Wenn die oben geschilderten Argumentationslasten bei diesen Argumenten eingehalten werden, ist die Redeweise von der Lücke in diesen speziellen Bereichen sinnvoll.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht Bei der Rechtsfindung stehen Gerichte an vorderster Front. Neue Probleme landen zuerst bei ihnen: „Die Gerichte werden mit den jeweiligen Umbrüchen und Veränderungen der Strukturen konfrontiert, bevor die Gesetzgebung und oft auch die Exekutive reagie391 ren können. Darum gilt weiterhin: Das Richterrecht bleibt unser Schicksal.“

___________ 390 Vgl. zur Theorie des Richterrechts Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, Berlin 1978, S. 239 f.; ders., Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 2013, insb. S. 102 ff. 391 Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101, 108.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Die Schicksalsergebenheit der arbeitsrechtlichen Literatur ist zum Glück begrenzt. Richterrecht wird nicht nur hingenommen, sondern auch kritisiert. So habe etwa das BAG bereits vor Erlass eines entsprechenden Gesetzes im Wege des Richterrechts die Betriebsrenten der Teuerung angepasst. Im Bereich des Kündigungsschutzes392 hätten die Arbeitsgerichte durch unbegrenzte Auslegung die Willkürkontrolle zum ultima-ratio-Prinzip fortentwickelt.393 Rüthers nennt die richterrechtliche Entwicklung des Kündigungsschutzgesetzes normzweckwidrig. Das spärlich geregelte Arbeitsrecht lebe von Analogien und richterlicher Ersatzgesetzgebung394, welche die Rolle des Gesetzgebers usurpierten.395 „Mit dem ‚Flashmob-Urteil‘ des BAG ist eine neue Dimension des üblichen Aufstandes gegen das geltende Arbeitskampfrecht, zwingendes Verfahrensrecht und das Grundgesetz erreicht.“396

1. Begriff des Richterrechts Richterrecht erscheint im Arbeitsrecht zweifach: einerseits als unvermeidbares Schicksal und andererseits als Usurpation der Rolle des Gesetzgebers. Müssen wir uns zwischen Schicksal und Anmaßung entscheiden oder können wir unvermeidliches Richterrecht von Richterrecht als Anmaßung unterscheiden? Klassisch sieht man das Richterrecht neben dem Gesetz. Gesetz ist dabei das, was als wörtliche Bedeutung für die Subsumtion bereit steht. Jenseits der wörtlichen Bedeutung beginnt das Richterrecht. Wir wollen im Folgenden Richterrecht im Gesetz begreifen und vom Richterrecht gegen das Gesetz unterscheiden. a) Richterrecht als Überschreitung der wörtlichen Bedeutung Die Usurpation der Rolle des Gesetzgebers wird den Gerichten oft erleichtert, gar nahegelegt, durch eine unzureichende methodische Selbstreflexion, die immer noch an den überkommenen Metaphern des 19. Jahrhunderts festhält. Das kommt weniger in der ständigen Entscheidungspraxis als vor allem in den ___________ 392

Vgl. dazu Schwerdtner, in: Münchner Kommentar, 2. Aufl. 1988, Vorbemerkung, § 620, Rdnr. 173 f.; ders., in: Münchner Kommentar, 3. Aufl. 1997, § 622, Anhang, Rdnr. 3 f. 393 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., München 2011, Rn. 947, Fn. 921; Schwerdtner, in: Münchner Kommentar zum BGB, Bd. III, 1. Halbband, 2. Aufl., München 1988, vor § 620 Rn. 171 ff., 173. 394 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., München 2011, Rn. 672. 395 Ebd., Rn. 874. 396 Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101, 108.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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methodologischen Leitentscheidungen zum Ausdruck. Das BVerfG etwa beschreibt Tätigkeit und Aufgabe des Richters folgendermaßen: „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und [in] den Entscheidungen zu realisieren.“397

Zu Recht wird hier gesagt, dass richterliche Tätigkeit nicht Entscheidungen des Gesetzgebers bloß erkennt und ausspricht. Die unnötige Verbeugung vor dem 19. Jahrhundert liegt jedoch in der Einschränkung „nicht nur“. Es wird so getan, als gäbe es regelmäßig eine wörtliche Bedeutung, die der Richter auf den Fall nur anzuwenden habe; erst wenn eine solche wörtliche Bedeutung nicht im Gesetzestext nachweisbar sei, beginne die aktive und willenhafte Komponente richterlicher Tätigkeit. Der Richter soll also erst sprechen dürfen, wenn der Normtext schweigt. Wenn er dann aber spricht, ist er als Richter nicht mehr an das Gesetz, sondern nur noch an luftige Rechtsprinzipien gebunden, die er dann wie ein Legislativorgan heranzieht und zu einem Normtext formuliert. Vom Gesetz wird erwartet, dass es als Obersatz für die Subsumtion bereit steht. Wenn es diesen Anforderungen nicht genügt, ist das Gesetz erschöpft und das Richterrecht beginnt. b) Gesetzesergänzendes und gesetzesverdrängendes Richterrecht Der Begriff „Richterrecht“ ist äußerst unklar und bedarf einer Präzisierung. Das Gesetz liefert dem Richter keine wörtliche Bedeutung, aus der er seine Entscheidung entnehmen kann. Aber die im Text enthaltenen Ausdrücke verweisen auf viele Kontexte, die der Richter auswerten muss, wenn er seine Entscheidung begründen will. Der Richter muss in einem Rechtfertigungstext darlegen, dass die von ihm formulierten Texte den vom Gesetzgeber erlassenen Normtexten als geltenden Zeichenketten zugerechnet werden können. Es handelt sich dann um Richtergesetzesrecht. Dieses ist unvermeidbar, weil das Gesetz selbst nicht sprechen kann, und selbst, wenn es das könnte, nicht wüsste, wie es den neuen Fall behandeln soll. Die machtgestützten richterrechtlichen Entscheidungen weichen den Erschwerungen aus, indem sie ihre Urteile nicht einem Normtext kontrolliert zurechnen. Sie wollen es vermeiden, sich in die rechtsstaatliche Textstruktur einzuschreiben. Die Rechtfertigungspflichten werden dann dadurch vereinfacht, dass die Gerichte nicht nur Anordnungstexte, ___________ 397

BVerfGE 34, 269, 292.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

sondern auch den Normtext als Zurechnungstext gleich mitproduzieren. Das erleichtert gewiss die „Subsumtion“. Aber dies ist genau der Vorgang, den das Rechtsstaatsprinzip vermeiden will, indem es dem Richter verwehrt, Obersätze einer Zurechnung zu schaffen. c) Wie ist Richterrecht zu bewerten? Eine Kritik des Richterrechts bedarf keiner philosophischen Prinzipien in Form eines Sinnganzen der Rechtsordnung, sondern einer Anbindung an die Verfassung. Sie kann sich an den verfassungsrechtlichen Postulaten des Rechtsstaatsprinzips und an anderen methodenrelevanten Normen orientieren und so den Ist-Zustand praktischer Rechtsarbeit an deren verfassungsrechtlichem Soll-Zustand messen. Hier in der Praxis muss sich zeigen, auf welche Art die rechtsstaatliche Textstruktur und die zu erarbeitende künstliche Grenze juristischer Textarbeit in der Lage sind, die richterliche Gewalt durch teilende und kontrollierende Mechanismen zu erschweren und damit einzuschränken. Wie kann man also von den Vorgaben der Verfassung her Grenzen ziehen? Entscheidend ist der Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsatz. Das Parlament ist direkt demokratisch legitimiert. Der Richter nur indirekt. Deswegen muss er die Vorgaben des Gesetzgebers respektieren. Wo aber liegt nun die Grenze, die er respektieren muss? Die herkömmliche Lehre ertastet diese Grenze durch Metaphern, die sich allerdings als präzisierungsbedürftig erweisen. Unterschieden wird Strategie und Taktik der Rechtsfindung398, wobei der Gesetzgeber die Strategie und der Richter die Taktik übernimmt: „Als die mit der strategischen Seite der Rechtspolitik betraute Gewalt hat die Legislative grundsätzliche Fragen zu entscheiden, einen Plan aufzustellen, der Judikative die allgemeine Richtung zu weisen.“ 399

Anders ist die Rolle des Richters: „Die Richter, welche ständig am Ball (d.h. am einzelnen Fall) sind, müssen die Strategie des Gesetzgebers kennen, damit sie ihre Fortbildung des Rechts in die richtige Richtung lenken können. Der Gesetzgeber hat sich wie der Trainer aus den Einzelheiten der Spielführung herauszuhalten und die Arbeit mit dem Ball dem Spieler zu überlassen.“400

Was ist aber die Strategie des Gesetzgebers und wo liegt der taktische Spielraum des Richters? Gibt es wirklich eine Parallele zwischen Ballarbeit und Fallarbeit? Es müssten sich dann Strategie und Taktik anhand eines Kriteriums unterscheiden lassen. Das ist nur möglich, wenn man der Arbeit der Gerichte ___________ 398 Vgl. dazu grundlegend Coendet, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 2014, 45 ff., 50 ff. 399 Meier-Hayoz, JZ 1981, 417 ff., 420. 400 Ebd., S. 421.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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Grenzen ziehen kann. Aber diese sich aus der Gesetzesbindung ergebende Grenze praktischer Rechtsarbeit ist eben keine von vornherein feststehende Größe; sie muss parallel zum Vorgang der Argumentation selber erst konstituiert werden. Das zu diesem Zweck nötige Zusammenspiel der Konkretisierungselemente und einige der dabei möglichen Fehler werden im Folgenden dargestellt. Dabei geht es nicht um eine von etwaigen lichten Höhen der Methodik aus erfolgende abschließende Lösung des dogmatischen Sachproblems, sondern um eine Begleitung der im Prozess wechselseitiger dogmatischer Kritik immer schon implizit stattfindenden Selbstreflexion. Auch wenn der IstZustand juristischer Dogmatik noch hinter dem von der Verfassung geforderten Soll-Zustand zurückbleibt, sind doch die Rationalitätsmaßstäbe der Dogmatik nicht von außen überzustülpen, sondern aus ihrer immanenten Zerstreuung in den praktischen Arbeitsvorgängen herauszufiltern und zu strukturieren. Wie funktioniert aber diese Bindung an den Text? Nicht so, dass wir zu den Worten des Gesetzes eine sprachliche Regel formulieren und damit zur wörtlichen Bedeutung gelangen. Sprachregeln sind komplexer und entfalten sich über eine Vielzahl von Kontexten zu Fallgruppen. Genau diese Entfaltung von Kontexten über Fallgruppen zu vorläufigen Regeln ist die Aufgabe des Richters. Die Beurteilung seines Handelns ist also eine komplexe Aufgabe. Man kann sie nicht einfach an die Rechtstheorie oder Methodik delegieren. Jede Kritik von Richterrecht muss präzise in der vorhandenen Dogmatik arbeiten. Dabei setzt sie dann die allgemeinen Bezugspunkte von Normtext, sprachlichem Wissen und methodischen Maßstäben voraus. 2. Richtermachtrecht durch Unterstellung In der bekannten Entscheidung zur Sphärentheorie in Bezug auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber formuliert das Reichsgericht: „Man darf aber, um zu einer befriedigenden Lösung des Streits zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches ausgehen, sondern 401 man muss vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen [...].“

Diese Form von Richterrecht, wonach der Richter nicht mit dem Gesetz beginnt, ist fragwürdig. Das Rechtsstaatsprinzip und die Gewaltenteilung könnten dem entgegenstehen. Die Bindung des Richters bezieht sich zunächst auf den Text selbst. Dort stehen Worte. Die grammatische Auslegung erschließt nur naheliegende Gebrauchsbeispiele, die dem Sprecher spontan einfallen. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs, denn unsere individuelle Sprachkompetenz ist höchst begrenzt. Es gibt wesentlich mehr Verwendungsbeispiele als einem Sprecher einfallen kön___________ 401

RGZ 106, S. 272 ff.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

nen. Zu den Worten des Gesetzes gibt es Kontexte von gelungenen Verwendungsbeispielen. Mit diesen muss sich der Richter auseinandersetzen. Neben der Dogmatik sind das vor allem Vorentscheidungen. Wenn dies bei einem Solidaritätsstreik die Kontexte des § 615 BGB sind, gibt es für die Richter sehr viele Anschlusszwänge. Wenn dies dagegen die Kontexte des Wortes „Sphärentheorie“ sind, die noch niemand kennt, ist der Richter um vieles freier. a) Rechtsunterstellung Richterrecht als Machtentscheidung durch Normtextunterstellung kommt in vergleichsweise unauffälliger Einkleidung vor. Richter formulieren dabei nach Manier des Gesetzgebers einen Obersatz, wie etwa die Sphärentheorie, welche dann an die Stelle des Gesetzes tritt. Heute gehen die Obergerichte im Unterschied zum Reichsgericht davon aus, dass die Gewaltenteilung ein Gericht zwingt, seine Anordnungstexte vom Gesetzgeber geschaffenen Normtexten zuzurechnen, statt selbst solche Texte zu schaffen. Sonst würde nicht nur der Gesetzgeber aus seiner Rolle verdrängt, sondern auch die der richterlichen Gewalt auferlegten Rechtfertigungspflichten würden zur Farce. Die Literatur verkennt dagegen die funktionale Rolle von Gesetzgeber und Rechtsprechung, wenn sie formuliert: „In einer vom Vorrang der Verfassung geprägten Rechtsordnung hat die Bildung gesetzesvertretenden Richterrechts regelmäßig durch Konkretisierung verfassungsrechtlicher Vorgaben zu erfolgen. Den zuständigen Trägern der Staatsgewalt ist mithin auch die Befugnis zur gestaltenden Entwicklung unmittelbar verfassungsabgeleiteter Maßstäbe zugewiesen. Der vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Gründung auf gesetzlich vorgeprägte Wertungen bedarf es insoweit nicht.“402

Die Rechtsprechung ist zur Verfassungskonkretisierung selbstverständlich befugt, wenn sie etwa im Rahmen der systematischen Auslegung Verfassungsnormen heranzieht und interpretieren muss. Von ihrer funktionalen Rolle her kann sie dagegen niemals Verfassungsnormen oder -prinzipien zu Normtexten umformulieren. Diese Rolle ist dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbehalten. Bei der Dezision durch Rechtsunterstellung verstößt der Richter also gegen die Teilung der Gewalt zwischen Gesetzgeber und Justiz, indem er statt des einen Falls viele Fälle entscheidet. Damit setzt er sich an die Stelle der Legislative. Außerdem macht er die der Gewaltenteilung entsprechende Abschwächung seiner Gewalt durch Rechtfertigungszwänge illusorisch. Auch im Arbeitsrecht gibt es immer wieder Urteile, die selbst einen Obersatz für die Subsumtion formulieren und so als Richterrecht durch Unterstellung an___________ 402

Vgl. Scherzberg, NVwZ 1992, 31, 32.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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zusehen sind. Das BAG hat in einer Entscheidung von 1980 unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Quoten festgelegt, welche Anzahl von Arbeitnehmern bei einem Streik ausgesperrt werden können.403 Damit hat es eine Vielzahl von Fällen geregelt, statt einem einzigen. Es agiert als Gesetzgeber und verstößt damit gegen die Gewaltenteilung. Anders liegt der Fall bei der so genannten Flashmob-Entscheidung.404 Die Gewerkschaft ver.di hatte zur Durchsetzung von Tarifforderungen „während des Streiks ein virtuelles Flugblatt, mit der Frage ‚Hast Du Lust, Dich an Flashmob-Aktionen zu beteiligen?‘ [veröffentlicht und] bat Interessierte um die Handy-Nummer, um diese per SMS zu informieren, wenn man gemeinsam ‚in einer bestreikten Filiale, in der Streikbrecher arbeiten, gezielt einkaufen gehen‘ wolle, z. B. so: Viele Menschen kaufen zur gleichen Zeit einen Pfennig-Artikel und blockieren damit für längere Zeit den Kassenbereich. Viele Menschen packen zur gleichen Zeit ihre Einkaufswagen voll (bitte keine Frischware!!!) und lassen sie dann stehen.‘ Die Gewerkschaft propagierte dies auch in der Presse und im Rahmen einer öffentlichen Kundgebung.“405

Flashmobs werden über Online Communities, Weblogs, Newsgroups usw. organisiert und treten dann als kurzer, scheinbar spontaner Menschenauflauf in Erscheinung. Sie gelten als genuine Ausdrucksform einer virtuellen Gesellschaft. Zu den historischen Formen des Arbeitskampfes gehörten sie bisher nicht. Das Gericht hat nun Flashmob-Aktionen nicht generell für zulässig erklärt, sondern nur unter den im Fall vorliegenden Bedingungen als nicht unverhältnismäßiges Kampfmittel angesehen. Es hat also gerade nicht anstelle des Gesetzgebers einen Katalog zulässiger Arbeitskampfmittel entwickelt oder den Flashmob für generell zulässig erklärt. Es handelt sich jedenfalls nicht um Richtermachtrecht durch Normtextunterstellung. Das Gericht ist hier kein Produzent von Obersätzen. Es könnte sich allerdings um Richtermachtrecht durch Verbiegung handeln, wenn der Relevanzhorizont der vorgeschlagenen Argumente nicht richtig abgearbeitet wurde. Diese Diskussion muss noch geführt werden. [sogleich, Abschnitt E. II. 3.]. Aber natürlich muss man im Auge behalten, welche Form von gesetzesverdrängendem Richterrecht vorliegt, sonst werden die falschen Maßstäbe herangezogen. So wird dem Urteil des BAG zum Flashmob vorgeworfen, dass es den Bestimmtheitsmaßstäben für Gesetze nicht gerecht werde. Zwar liegt das Handeln von Gerichten, wenn sie ohne gesetzliche Regelung von den Maßstäben der Verfassung ausgehen, normhierarchisch auf derselben Ebene wie ein einfaches Gesetz. Aber das bedeutet eben nicht, dass man Bestimmtheit genauso operationalisieren kann wie bei einem Gesetzestext. Die Bestimmtheit von Ge___________ 403

BAG, BAGE 33, 140 ff. BAG v. 22.9.2009 – I AZR 972/01. 405 Bundesverfassungsgericht, I BvR 3185/09 vom 26.03.2014 (Abs. 1-43), vgl. http://www.bverfg.de.entscheidungen, RK 20140326 1 bvr318509.html, Rdn. 2. 404

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setz, Vertrag, Verwaltungsakt und Urteil ist jeweils verschieden zu untersuchen. Bei Einzelfallregelungen liegt als Maßstab der vernünftige Adressat zugrunde, bei Gesetzen kann es für die Bestimmtheit genügen, dass der Bürger sich bei einem Fachmann über seine Pflichten erkundigen kann. Im Falle von Urteilen dagegen könnte sich die Bestimmtheit nicht auf eine generelle Handlungsanweisung wie beim Gesetz beziehen, sondern nur auf die Lösung eines einzelnen Falls. Es steht insoweit mit Tenor und Begründung dem Verwaltungsakt oder Vertrag näher als dem Gesetz. Das muss man berücksichtigen, wenn man die vom BAG herangezogene Verhältnismäßigkeit als nicht präzise bestimmten Maßstab kritisiert. Die Anwendung der Verhältnismäßigkeit hat allerdings tatsächlich Bestimmtheitsprobleme. Im Verfassungsrecht sieht man deutlich, dass dieses Prinzip keine große methodische Eigenständigkeit hat, weil das Ergebnis weitgehend von der Auslegung des Tatbestands der fraglichen Grundrechtsnorm abhängt: „Es wäre höchst interessant, einen gründlichen Vergleich zwischen den Strukturen der jetzigen Abwägungsdoktrin und der Subsumtionslehre des 19. Jahrhunderts zu machen. [...] Sowohl die damalige Eindringlichkeit, mit der eine Entscheidung als rein subsumtiv bezeichnet wurde, als auch die heutige Eindringlichkeit hinsichtlich der Abwägungsnatur eines Urteils, erfüllen die Aufgabe, den Hauptvorgang zu verschleiern, nämlich die Auslegung der Normen (und, in vielen Fällen, ihre Auswahl); beide Lehren teilen den Glauben daran, eine formelle oder quasi formelle Vorgehensweise gefunden zu haben, der die rechtliche Entscheidung der zufälligen, also willkürlichen Bewertung der Gerichte entzieht.“406

Die Argumentationsoffenheit der Abwägung betrifft alle ihre Voraussetzungen: Zunächst einmal muss man beim legitimen Zweck von den vielfältigen Zwecken des Gesetzgebers und den Zwecken, welchen die Norm heute dienen könnte, einen oder mehrere auswählen. Das eigentliche Schlachtfeld ist dabei die teleologische Auslegung. Hier fallen schon die verdeckten Vorentscheidungen. Auch die Geeignetheit kann nur dann funktionieren, „wenn die Entscheidung vorangestellt wurde, zwischen welchen zwei Grundrechten oder Prinzipien der zu lösende Fall zu entscheiden ist. Und diese Vorausentscheidung legt das Endergebnis der Anwendung des Geeignetheitsmerkmals fest.“407

Beim Merkmal der Erforderlichkeit hängt alles vom Ausmaß der investierten Fantasie ab, mit der man sich andere Maßnahmen vorstellen kann. Am Ende steht dann die Angemessenheit oder Proportionalität. Diese wird häufig als Abwägung verstanden. Tatsächlich lassen sich kollidierende Rechtsgüter allerdings nicht quantifizieren, so dass von einer Abwägung im Sinne einer Waage nicht die Rede sein kann. Abwägung bezeichnet hier nur ein anderes Wort für ___________ 406

García Amado, Abwägung versus normative Auslegungen?, in: Rechtstheorie 2009, S. 1 ff., 6 f. 407 Ebd. S. 1 ff., 4.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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vernünftiges Argumentieren. Tatsächlich findet man bei empirischer Analyse hier keinen Wägevorgang, sondern einen offenen Katalog von Topoi.408 Es wird etwa gefragt, auf welcher Seite der Kernbereich des Grundrechts verletzt wird und wo nur der Randbereich betroffen ist, oder auf welcher Seite der Eingriff leichter bzw. schwerer revisibel ist. Schließlich auch noch, welcher Seite der Eingriff eher zugemutet werden kann. Allerdings gibt es immerhin einen empirischen Befund von Argumentationsstrategien in den Urteilen des BVerfG. Daher wäre es überakzentuiert, wenn man sagt, dass es „der Verhältnismäßigkeit an operativer Selbständigkeit fehle“409 und diese daher „trivial und verzichtbar“410 sei. Allerdings muss man zugeben, dass in der Figur der Verhältnismäßigkeit die Einzelfallgerechtigkeit gegenüber der Berechenbarkeit zum prägenden Element wird. Das BVerfG sieht, dass man die Bestimmtheit von Gesetzen von der Bestimmtheit von Urteilen zu unterscheiden hat: „Den Gerichten sind [...] durch das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere durch die Grundsätze der Bestimmtheit und der Rechtssicherheit, Grenzen gesetzt. Angesichts seiner Weite ist bei der Ableitung konkreter Begrenzungen jedoch behutsam vorzugehen.“411

Hier steht als Argument der Verweis auf ein anderes Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Insgesamt finden sich in dem kurzen Text zwölf Verweise auf eigene Rechtsprechungen des Gerichts, so dass gerade auch dieser Text zeigt, dass die Systematik heute nicht mehr als Beobachtung des Gesetzes vollzogen wird, sondern als Beobachtung der Beobachter des Gesetzes, das heißt als Systematik zweiter Ordnung. Das Argument einer durch Urteile aufgedeckten oder geschaffenen Systematik trägt dann auch die Rechtfertigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Maßstab im Arbeitsrecht: „Danach unterliegt es von Verfassungs wegen keinen Bedenken, dass das BAG die Flashmob-Aktionen auf der Grundlage des geltenden Rechts nach Maßgabe näherer Ableitungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht als generell unzulässig beurteilt. Der hierfür vom BAG maßgeblich herangezogene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zwar inhaltlich unbestimmt, aber dogmatisch detailliert durchformt. Das BAG präzisiert so die Anforderungen an einen Flashmob, nachdem die übrigen Voraussetzungen des Schutzes von Art. 9 Abs. 3 GG bejaht worden sind. Die Verhältnismäßigkeit strukturiert die gerichtliche Überprüfung der Grenzen, die einer grundrechtlich geschützten Freiheit gesetzt sind. Dies genügt den Anforde-

___________ 408

Vogel/Christensen, Corpusgestützte Analyse der Verfassungsrechtsprechung: Eine Abwägung von Prinzipien findet nicht statt, in: Rechtstheorie 2013, S. 29 ff., 58 ff. 409 García Amado, Abwägung versus normative Auslegungen?, in: Rechtstheorie 2009, S. 1 ff., 2. 410 Ebd. 411 BVerfG, NZA 2014, 493.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht rungen, die sich aus der Verfassung für die auf das Recht bezogene Handlungsorientierung der Arbeitskampfparteien stellen.“412

Das Problem der Verhältnismäßigkeit stellt sich auch im Kündigungsschutz: „Im Wege der ‚unbegrenzten Auslegung‘ hat das BAG in den letzten 40 Jahren diese (lies: vom Gesetz gewollte) allgemeine Willkürkontrolle zum ultima-ratioPrinzip hin fortentwickelt und dabei die Notwendigkeit der Prüfung jedes Einzelfalls in den Vordergrund gestellt. Eine Kündigung kommt danach nur als äußerste Maßnahme in Betracht. Die neue Rechtsprechung erlaubt noch eine Prognose des Prozessausgangs in Kündigungsschutzsachen. Es bleibt unklar, wie etwa Wiedereinstellungschancen des Arbeitnehmers oder die Zahl seiner Unterhaltspflichten mit den betrieblichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Fortbestandes des (gestörten) Arbeitsverhältnisses gegeneinander abgewogen werden sollen. Die vielfach beschworene Interessenabwägung ist lediglich eine Beschreibung eines Zielkonfliktes, nicht jedoch dessen Auflösung. Dieser Lotteriecharakter ist umso bedrückender, als das BAG die einzelnen Abwägungsgesichtspunkte häufig beziehungslos aneinanderreiht und ohne Prioritäten festzulegen.“413

Aber auch hier ist im Ergebnis das Problem überakzentuiert: Empirische Befunde zeigen, dass es unter der Überschrift der Verhältnismäßigkeit durchaus operable Kriterien414 gibt. Die Kriterien sind zwar sehr falloffen, haben aber dennoch keinen Lotteriecharakter. Natürlich ist das Kündigungsrecht generell ein sensibler Bereich: „Das Arbeitsverhältnis ist für die Arbeitnehmer in der Regel kein Vertrag wie jeder andere. Es sichert ihnen die wirtschaftliche Existenzgrundlage für sich und für ihre Angehörigen, die sich nicht selbst unterhalten können. Es gibt ihnen die Chance der beruflichen Bewährung, des sozialen Aufstiegs und der ‚Selbstverwirklichung‘. Es schafft zugleich ein gesellschaftliches Umfeld, in dem sie vielfältige Kontakte und soziales Ansehen erwerben können, begründet also für viele Arbeitnehmer über die arbeitsrechtliche Beziehung hinaus oft den geographischen und gesellschaftlichen Lebensmittelpunkt.“415

Daraus ergibt sich ein Bestandsschutz als bedeutender Wert. Das Kündigungsschutzgesetz ist vielfach novelliert worden. „Vor allem die so genannten Generalklauseln im Gesetz geben den Arbeitsgerichten nach den Leitentscheidungen des BAG einen weiten Beurteilungsspielraum als ‚Ersatzgesetzgeber‘. Sie füllen die Leerformeln des Gesetzgebers nach ihren Verständnissen und Vorverständnissen aus. Das ist kein Vorwurf, sondern die schlichte Beschreibung ihrer verfassungsgemäßen Funktion. Es kommt alles darauf an, wie sie das tun, mit welchen Inhalten die Leerformeln gefüllt werden. Das BAG hat dazu, mit Anleihen in einem Teil des Schrifttums, zwei generelle, im Gesetz nicht enthaltene richterrechtlich ‚erlassene‘, auf alle Kündigungen angewendete ‚oberste‘

___________ 412

BVerfG, NZA 2014, 493, Rn. 40-42; kritisch hierzu Lembke, NZA 2014, 471; Bauer, ArbRAktuell 2014, 233. 413 Schwerdtner, in: Münchner Kommentar, 3. Aufl. 1997, § 622 Anh. Rdnr. 3 f. 414 Vogel/Christensen, Corpusgestützte Analyse der Verfassungsrechtsprechung: Eine Abwägung von Prinzipien findet nicht statt, in: Rechtstheorie 2013, S. 29 ff., 60. 415 Rüthers, NJW 2002, 1601, 1601.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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Grundsätze aufgestellt. Sie heißen ‚ultima-ratio‘-Prinzip und ‚Prognose-Prinzip‘. Nach dem ‚ultima-ratio‘-Prinzip soll jede (ordentliche oder außerordentliche) Kündigung nur wirksam sein, wenn sie als äußerstes Mittel eingesetzt wird, wenn also keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Beschäftigung des Arbeitnehmers, etwa auch zu geänderten und schlechteren Arbeitsbedingungen besteht. Das PrognosePrinzip geht von der Annahme aus, jede Entscheidung über die Rechtswirksamkeit einer Kündigung müsse immer auf eine (ich zitiere das BAG wörtlich) ‚Zukunftsprognose‘ beruhen.“416

Diese Kritik verkennt, dass Generalklauseln eben keine „Leerformeln“ sind, die von den Richtern mit eigenen Ideen gefüllt werden müssten. Auch diese Generalklauseln haben eine Bedeutung. Man könnte schon über die Kommentare und erst recht im Wege einer Kookkurrenzanalyse (vgl. B.II.) eine Vielzahl von Gebrauchskontexten finden, welche diese Bedeutung präzisieren. Wenn man sie aber vorschnell zu Leerformeln erklärt, dann ernennt man damit die Gerichte zu „Ersatzgesetzgebern“. Dies ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Damit lässt sich im Richterrecht nicht mehr zwischen gesetzesergänzendem und gesetzesverdrängendem Richterrecht unterscheiden. Man kann die Gerichte dann nur noch als Gesetzgeber kritisieren: „Das Arbeitsverhältnis ist im geschichtlichen Verlauf der Bundesrepublik [...] in einen so vollkommenen Rechtszustand gebracht worden, dass man es nur, wie altes Meißen, in die Vitrine stellen kann, zum praktischen Gebrauch ist es zu kostbar, zu kostspielig.“417

Damit wird, wenn auch mit ironischem Unterton, dem Kündigungsschutzrecht dogmatische Komplexität bescheinigt. Daraus folgt dann aber eine Kritik an den Richtern als Gesetzgeber: „Das geltende Kündigungsschutzrecht ist eine wesentliche Mitursache für die Erstarrung am deutschen Arbeitsmarkt.“418 An anderer Stelle heißt es dazu: „Der internationale Rechtsvergleich mit anderen europäischer Ländern ähnlicher Rechtskultur und Wirtschaftsstruktur zeigt: Deutschland praktiziert ein absolutes Höchstmaß von vermeintlichem Bestandsschutz im Arbeitsvertragsrecht mit den geschilderten, höchst zweifelhaften Folgen am Arbeitsmarkt für die Arbeitnehmer.“419

Eine solche Kritik lässt sich natürlich leicht kontern: „Vom BAG kann man nicht erwarten, dass es im Kündigungsschutzprozess die Grundsatzentscheidung trifft, die das Kündigungsschutzrecht so abgrenzen, dass keine negativen Folgen für die Beschäftigungspolitik eintreten; denn was hier der richtige Weg ist, muss der politischen Auseinandersetzung überlassen bleiben, deren Ergebnis ein Gesetz sein muss. Sein Fehlen kann nicht der Rechtsprechung angelastet werden; denn nur die Gesetzgebung beruht, wie Bernhard Windscheid es in dem bekannten, aber häufig unvollständig wiedergegebenen Zitat gesagt hat, ‚auf

___________ 416

Rüthers, NJW 2002, 1601, 1602. Adomeit, NJW 1984, 1338; ders., NJW 1998, 2951. 418 Rüthers, NJW 2002, 1601, 1608. 419 Ebd. 417

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen oder auf einer Kombination dieser Erwägungen, welche nicht Sache des Juristen als solches sind‘. Der Richter wäre dagegen überfordert, wollte man dies von ihm verlangen. Er ist deshalb auf die Erwägungen verwiesen, die ‚Sache des Juristen als solchen sind‘.“420

Man muss also die berechtigte Kritik am Richterrecht erst operabel machen. Der Richter ist eben kein Ersatzgesetzgeber und man kann ihn auch so nicht kritisieren. Die Kritik muss vielmehr an seinen Bindungen am Normtext ansetzen und dann die Frage stellen, ob er alle für die Bedeutung relevanten Kontexte verwertet und alle vorgetragenen Argumente verarbeitet hat. b) Wie ist der Normtext vorgegeben? Die auf wörtliche Bedeutung reduzierte Gesetzesbindung und das Richterrecht sind nur scheinbar Gegensätze: In Wahrheit ergänzen sie sich nach dem Muster einer klassischen Zweierbeziehung. Die Gesetzesbindung verdient nach außen hin das Geld sozialer Legitimation, während das Richterrecht in aller Stille die Entscheidungen trifft. Das Richterrecht begleitet als dunkler Schatten das Gesetz und trifft hinter der rhetorischen Fassade eines reibungslosen Legitimationsmodells alle die Entscheidungen, zu denen das Gesetz als wörtliche Bedeutung nicht in der Lage ist. In der Praxis entziehen sich die sprachlichen Bedingungen den Vorgaben der juristischen Bedeutungsspekulation. Das tatsächliche Vorgehen der Praxis ist viel komplexer als die einlinigen Konstruktionen der klassischen Lehre. Wenn man die Entscheidungssammlung eines beliebigen Gerichts betrachtet, dann fällt auf, dass den einzelnen Entscheidungen Leitsätze sei es vorangestellt, sei es in zentraler Position der Begründungstexte eingeschrieben sind. Unter diese Leitsätze, nicht etwa unter den Normtext selbst, wird der zu entscheidende Fall subsumiert. Zwar sind die Leitsätze ihrerseits mit dem Normtext verknüpft, aber nicht im Weg einer Subsumtionslogik, sondern über die Standards einer bestimmten Argumentationskultur. Man müsste also bei realistischer Betrachtung sagen, dass der Normtext mit einer Vielzahl von Lesarten verbunden wird und nicht etwa nur eine „enthält“. Wenn die herkömmliche Auffassung statt dessen eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Zeichen und wörtlicher Bedeutung, bzw. Gesetzestext und Lesart unterstellt, übersieht sie nicht nur auf der rechtstheoretischen Ebene die Vielzahl von fallentscheidenden Leitsätzen. Vielmehr beachtet sie auch auf der sprachtheoretischen Ebene nicht, dass man mit einer Textinterpretation nicht etwa die reine Bedeutung an die Stelle des Zeichens setzt, sondern nur eine Zeichenkette an die Stelle einer anderen. Die Bedeutung eines Wortes lässt sich nur beschreiben, wenn man die Bedeutung der Wörter kennt, die regelmäßig in seiner Umgebung auftauchen. Diese Um___________ 420

Richardi, NZA, 2008, 1, 3.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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gebungen sind vielfältig und von unterschiedlicher Wichtigkeit. Die Parlamentsdebatten sind wichtiger als Äußerungen in einem Boulevardblatt. Sobald man die wörtliche Bedeutung als den blinden Fleck der Dogmatik einer Befragung unterzieht, fällt der gesicherte Ursprung weg, der die Kontinuität der dogmatischen Ableitungen und die Homogenität des juristischen Diskurses gewährleisten sollte. Es wird vielmehr deutlich, dass jede Entscheidung den Normtext mit unterschiedlichen Kontexten neu liest. c) Die Rechtsquelle als normativer Kreislauf Gerichte setzen nicht Recht, sondern wenden es an.421 Es fragt sich allerdings, wie die Rechtsnorm vorgegeben ist. Zum Teil durch Verwendungsbeispiele des Gesetzgebers in Ausschuss- und Parlamentsdebatten, aber eben nur zum Teil. Dazu kommen Verwendungsbeispiele aus der Systematik und viele weitere über Kommentare, Dogmatik und Wissenschaft. Die Objektivität des Rechts ist nicht etwas, was man im isolierten Text der Rechtsquelle finden könnte, sondern sie entsteht aus dem Streit über deren Inhalt. Wenn zwei Parteien zu einem Gesetzestext eine gegenläufige Lesart entwickeln, entsteht gerade dadurch eine Bindungswirkung an diesen Text. Beliebigkeit wird gerade durch die Rolle der Quelle im Prozess ihrer Anwendung ausgeschlossen. Im Abstand zwischen Struktur und Operation vollzieht sich ein semantischer Kampf um die Bedeutung des Textes422. Aus dem Verfahren als Erprobung und Streit um Lesarten ergibt sich ein verdichteter Möglichkeitsraum. Erst der Streit schafft so parasitär die Ordnung, welche nachher den Zurechnungspunkt für Interpretationen bildet. Die Bindung an den Normtext ist eine wichtige Einschränkung. Sie wirkt über die Sprache. Die beiden Parteien müssen sich auf die streitentscheidenden Passagen des Gesetzes stützen. Die dort vom Gesetzgeber verwendeten Worte bilden dann den Ausgangspunkt, linguistisch gesprochen die „key words“ (Schlüsselwörter im Sinne Hermanns) für die Heranziehung von Kontexten. Gesetzesmaterialien, Systematik, Vorentscheidungen usw. liefern den Parteien Material für ihren Streit. Über die Aussagekraft, die Verwendbarkeit und den Rang dieser Beispiele muss dann im Verfahren gestritten werden. Nur so wird die Sprache des Gesetzes lebendig. ___________ 421

Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101, 101. Venzke, How Interpretation Makes International Law, Oxford 2012, S. 37 ff. Über dieses in der Sprachphilosophie und Linguistik entwickelte Konzept kann man die strukturelle und institutionelle Sicht mit der handlungsbezogenen Sicht der beteiligten Akteure verknüpfen. Es genügt weder Handlungsfolgen aus Präferenzen zu erklären, noch die Veränderung der Präferenzen aus der Struktur der Institution. Die beiden Seiten müssen als ko-konstitutiv begriffen werden. 422

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Die Sprache ist keine der Kommunikation vorgeordnete Regelmaschine, welche wörtliche Bedeutung liefert. Sie entsteht vielmehr aus der Verknüpfung gelungener Kommunikationserfahrungen mit einer begleitenden normativen Bewertung. Sie ist dem Sprechen vorgeordnet, aber nicht so wie Gebirge und Flüsse, sondern so wie eine Institution, die wir ständig in unserem Handeln reproduzieren müssen. Sie ist kein Naturgegenstand, sondern ein Phänomen der dritten Art, wie auch der Markt. Sprache ist damit nicht länger der unerklärbare Erklärer des Verstehens und es gilt auch nicht einfach die Umkehrung dieses Verhältnisses. Verstehen und Sprache sind vielmehr gleichgeordnete Begriffe, die erst im Zusammenspiel zur sprachlichen Verständigung führen. Sprache funktioniert weder durch reine Regelmäßigkeit noch durch reine Interpretation, sondern aufgrund einer normativen Bewertung als Anknüpfen an gelungene Kommunikationserfahrungen.423 Die Vernetzung des vorliegenden Falles zu vergangenen gelungenen Kommunikationsakten kann über das Wörterbuch und noch spezifischer über den Kommentar hergestellt werden. Aber auch diese Vernetzung bedarf noch der normativen Bewertung, weil sie eben eine heterogene Vielfalt von Möglichkeiten eröffnet. Regeln kann man nicht empirisch beobachten, Worte haben nirgends eine Heimat, eine statische Umgebung von anderen Worten, mit denen sie ontisch verschweißt wären. Aber man kann die relative Bindung von Worten, ihre Wanderung durch verschiedene Gebrauchskontexte beobachten. Das führt allerdings nicht zu einer von Normativität befreiten Regel. Diese Beobachtung verschafft uns jedoch eine Grundlage für die Diskussion über die Regel. Hier liegt der Ansatzpunkt für die Kookkurrenz- als systematische Gebrauchskontextanalyse. Man kann jetzt die Angemessenheit einer Sprachverwendung besser beurteilen. Aber die Notwendigkeit von Argumentation entfällt dadurch nicht. Man muss sowohl den Regulismus424 überwinden, der die Regel durch Regeln erklärt, als auch den Regularismus425, der die Regel durch Empirie erklärt. Erst danach kann man die Rolle von Empirie für die Argumentation richtig einschätzen. ___________ 423

Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2000, S. 16, 21, 219 ff. „deontic scorekeeping“. Dieser Zusammenhang wird in der deutschen Übersetzung als deontische Kontoführung wiedergegeben. Das führt zu vielen Missverständnissen. Es sei typisch für den amerikanischen Pragmatismus, dass er auch noch das Verstehen der Logik kleiner score-keeper unterwerfe. So Schnädelbach, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2004, 163, 164. Dagegen Stegeler-Weithofer, Wir halten das Banner der Wahrheit. Zu Herbert Schnäbelbachs Lektüre von Brandom, Hegel, und anderen „Idealisten“, in: ebd., 177. Tatsächlich ist im englischen Orginal von scorekeeping in Anlehnung an das Baseballspiel die Rede. Es handelt sich um eine analytische Metapher, welche grundlegende Strukturen sichtbarer machen soll. Durch den Bezug auf den Sport will Brandom das kompetitive und spielerische Moment eines geordneten Konflikts hervorheben. Gerade dieses zentrale Moment geht in der deutschen Übersetzung verloren. 424 Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2000, S. 56 ff. 425 Ebd., S. 66 ff., 81 ff.

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Metaphern spielen in der Wissenschaft oft eine zentrale Rolle, die man nicht bemerkt. Ihre Analyse ist nützlich, weil solche grundlegenden Bilder Perspektiven eröffnen oder versperren. Die Rechtsquelle ist eine dieser Metaphern. Die Logik des Bildes setzt das Recht mit dem Wasser gleich. Wenn man nur die Quelle und den dahinter liegenden Berg betrachtet, ist das Entscheiden freilich ein beschaulicher Vorgang. Man muss nur sauber aufnehmen, was ohnehin vorgegeben ist. So wie das schon im Berg fließende Wasser geschöpft werden kann, ist die Rechtsfindung nur die Abbildung eines in der Sprache der Quelle vorgegebenen Bedeutungsgegenstands. Wenn man dagegen den reißenden Strom der Argumentation betrachtet, auf dem der Richter versucht, das trunkene Schiff des Verfahrens zu steuern, hat Entscheiden als verzweifelte Improvisation mit der Quelle so gut wie nichts zu tun. Beide Lesarten verkürzen die Logik des Bildes. Natürlich entsteht das Wasser nicht in der Quelle. Aber es entsteht auch nicht im Berg. Es bildet vielmehr einen Kreislauf und ist damit nicht Substanz, sondern Prozess. Diese Logik muss man für die im Rechtssystem erzeugte Normativität nutzen. Normativität ist keine Substanz, die in der Sprache vorgegeben ist und abgebaut werden kann wie Bodenschätze in der Erde. Sie ist vielmehr ein praktischer Prozess als ein sich selbst stabilisierendes, aber prinzipiell immer veränderungsoffenes System. In der Logik dieses Bildes wäre das Gesetz der Ausgangspunkt, welcher über den Strom der Argumente im Verfahren seine Bedeutung erhält und dann als mitgebrachte Verwendungsweisen auf weitere künftige Verfahren einwirkt426. Die Frage „Was ist die Quelle des Rechts?“ kann man nicht einfach durch die Frage „Wer ist die Quelle des Rechts?“ ersetzen. Man muss die ganze Metapher auswerten. Das Recht fließt nicht aus Quellen, sondern es entsteht im Streit. Daraus ergeben sich Entscheidungen, die aneinander anschließen und dann zur Bedeutung des Gesetzes gehören. Fallrecht wird dann zum unvermeidbaren Teil der Semantik des Gesetzesrechts. Die Semantik des Gesetzes lässt sich anders als durch Entscheidungen von Fällen gar nicht entwickeln. Insoweit ist „Richterrecht“ unvermeidbar. Es ist Teil des normativen Kreislaufs. Vermeidbar ist dagegen, dass Richter Obersätze selber produzieren. Diese beiden Komponenten sind klar zu trennen. Das Recht ist also vorgegeben. Aber nicht im Wörterbuch oder dem Willen der Gesetzgebungsorgane und schließlich auch nicht in Wertungen, die dem Recht irgendwie zugrunde liegen. Es ist vorgegeben in einer Vielzahl von Kontexten, die durch die Argumentation im Verfahren in eine von der Verfassung bestimmte Hierarchie zu bringen sind. ___________ 426

Zur Semiose des Rechts vgl. auch Felder, Unendliche Semiose im Recht als Garant der Rechtssicherheit, in: Bäcker/Klatt/Zucca-Soest (Hrsg.), Sprache – Recht – Gesellschaft, Tübingen, 2012, S. 141–162.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

d) Notwendiges und überschießendes Richterrecht Unveränderlich vorgegeben ist der Konkretisierung nur der Normtext als Zeichenkette. Die Rechtsnorm als tragender Leitsatz der Entscheidung muss demgegenüber in einem von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturierten Vorgang erst erzeugt werden. Diese Neuformulierung des Problems erlaubt es, Geltung und Bedeutung eines Normtextes zu unterscheiden. Wir wissen am Beginn der Konkretisierung, dass der Normtext etwas bedeutet. Darin liegt seine Geltung. Wir wissen aber vor seiner methodengerechten Verarbeitung nicht, was er bedeutet. Denn diese Bedeutung des Normtextes wird als Rechtsnorm erst von den Gerichten und gerade nicht vom Gesetzgeber erzeugt. Die Rechtsnorm ist in dem Zeitpunkt, da ein Jurist mit der Prüfung eines Sachverhalts beginnt, nicht nur deshalb und insoweit unfertig, als sich „ihr Sinn“ dann jeweils erst „in der Konkretisierung vollendet“. Das ist die unzulängliche Problemformulierung der Hermeneutik. Sie ist vielmehr, genau gesagt, in Bezug auf diesen Fall und in dieser Phase der Entscheidung noch nicht vorhanden. Die Bedeutung muss durch die Verwertung von Kontexten erst noch erarbeitet werden. Als Gegenstand juristischer Textarbeit kommt somit nicht die Bedeutung in Betracht. Sie steht als beste Lesart des Textes erst am Ende juristischer Arbeit und ist gerade keine Voraussetzung. Gegenstand ist vielmehr das Textformular, die bloße Zeichenkette. Wenn hier die Zeichenkette ohne wörtliche Bedeutung als Gegenstand der Rechtsarbeit ausgegeben wird, ist damit natürlich nicht gesagt, dass dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext keinerlei sprachliche Bedeutung zukäme. Das wäre nicht nur kontraintuitiv, sondern man könnte dann die Zeichenketten des Rechts gar nicht als solche erkennen.427 Normtexte sind keine bedeutungsleeren Zeichen. Ganz im Gegenteil! Normtexte haben in der Situation juristischer Entscheidung eher zu viel als zu wenig Bedeutung. Mit dem Normtext als Zeichenkette wird eine große Anzahl von Verwendungsweisen verknüpft, die der Text in die Entscheidungssituation mitbringt. Jeder der beiden streitenden Parteien hat eine sehr spezifische Vorstellung davon, was der fragliche Normtext für ihr Regelungsproblem „sagt“ oder „bedeutet“. Es gibt außerdem meist eine Vielzahl dogmatischer Bedeutungserklärung in der Literatur und eine gewisse Anzahl gerichtlicher Vorentscheidungen. Dazu kommen die mitgebrachten Verwendungsweisen aus der Rechtstradition, der Entstehungsgeschichte, der „Alltagssprache“ und der juristischen Fachsprache. Dieses Überangebot an Bedeutung wird aber in der juristischen Arbeit zunächst eingeklammert. Aus dem Gesetz als Sprachform wird ein Medium gemacht. Das heißt, die von den ___________ 427 Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, Baden-Baden 1996, S. 59 Fn. 284 und ders./Forgo, Nachpositivistisches Rechtsdenken, Wien 1996, S.36.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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Parteien und anderen vorgetragenen festen Kopplungen428 zwischen Zeichen und Bedeutung bzw. Textformular und Textbedeutung werden zurückgestellt. Die Kopplung wird gelöst und es entsteht ein Kopplungspotential. Die praktische Rechtsarbeit erstellt dann mit Hilfe der methodischen Instrumente in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren aus der losen Kopplung wieder eine feste Form der Rechtssprache und muss ihr Ergebnis dann an normativen Vorgaben und sprachlichen Anschlusszwängen wie insbesondere Präjudizien legitimieren. Der Zug der Einklammerung vorgefundener oder mitgebrachter Bedeutungen ist für den entscheidenden Juristen unvermeidbar. Denn die mitgebrachten Verwendungsweisen nicht nur der Parteien, sondern auch der Gerichte und der Literatur schließen sich gegenseitig aus. Mitgebracht vom Normtext in die Entscheidungssituation wird also nicht „die Bedeutung“, sondern der Konflikt um die Bedeutung. Genau diesen Konflikt um die sprachliche Bedeutung muss der Richter unter Bindung an den Gesetzestext entscheiden. Die gewaltenteilende Grenzwirkung des vom Gesetzgeber formulierten Normtextes besteht nur darin, dass der entscheidende Richter seine Bedeutungshypothesen als Leitsätze bzw. Rechtsnormen gerade dieser Zeichenkette, und nicht etwa einer selbst formulierten Zeichenkette zurechnen muss. Dies ist der gewaltenteilende Aspekt, der von den richterrechtlichen Entscheidungen (Dezision durch Normtextunterstellung) verletzt wird. 3. Richtermachtrecht durch Verbiegung Die Richter müssen sich auf die gesetzlichen Normtexte beziehen und dürfen diese nicht nach grammatischer Auslegung verabschieden. Gibt es bei der Verarbeitung weiterer Kontexte methodische Vorgaben oder sind die Richter hier vollkommen frei? Die Art, wie Gerichte vorzugehen haben, steht nicht in einem methodischen Lehrbuch. Sie ist komplexer als ein Lehrbuch: „Gesetz und Rechtsanwendungsmethoden sind gesellschaftsbedingte, historische und weltanschauliche Produkte.“429 Die Methodik von Gerichten ist also nicht law in the books, sondern wie die Preisbildung auf dem Markt als law in action430 etwas, was sich in ___________ 428 Diesen von Haider in der Wahrnehmungspsychologie entwickelten Begriff verwendet Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1989, S. 196, 198 ff., 111 f. und öfter. 429 Rüthers, NZA-Beilage 2011, 10. 430 Wank, NZA-Beilage 2011, 126, 127. „Auch wenn man genau sagen kann, was im Gesetz steht und wie die Gerichte urteilen, besagt das wenig darüber, wie sich das Rechtsleben tatsächlich gestaltet. Insofern unterscheiden die Soziologen mit Recht zwi-

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der Praxis herausbildet. Trotzdem kann man das, was sich dabei entwickelt, nicht einfach hinnehmen. Das wäre Richterpositivismus. In jeder Rechtskultur gibt es eine Tradition der Beobachtung und Kritik von Gerichten. „Der Jurisprudenz obliegt dabei die Aufgabe, diesen zeitlichen und Machtvorrang der Arbeitsgerichtsbarkeit unbeirrbar und unabhängig kritisch zu begleiten.“431 Neben der Vorgabe des Normtextes ergibt sich eine weitere Einschränkung des Richters aus der Form der in Wissenschaft und Praxis anerkannten juristischen Argumentation. Bei Machtentscheidung durch Rechtsverbiegung geht es nicht um die Textverteilung zwischen Gesetzgeber und Justiz, also um den gewaltenteilenden Aspekt, sondern um die checks and balances oder das gewaltenkontrollierende Moment. Bei einer solchen Entscheidung rechnet der Richter seinen Anordnungstext dem vom Gesetzgeber erster Stufe geschaffenen Normtext zwar zu, aber er verletzt die Standards zur Überprüfung dieser Zurechnung. Seine Argumentation zur Begründung des Zusammenhangs von Anordnungstext und Zurechnungstext bleibt hinter dem Stand der Methodenkultur zurück, kann nicht als lege artis gelten. a) Rechtsverbiegung Gibt es in diesem Sinne Fälle von eindeutigen Überschreitungen der richterlichen Entscheidungsbefugnisse? Eine glasklare Rechtsbeugung gibt es in einem Rechtsstaat wie Deutschland so gut wie nie, aber auch sorgfältig begründete Entscheidungen können sich dem Vorwurf unzulässigen Richterrechts im Sinne der hier beschriebenen Verbiegung ausgesetzt sehen. Heftig kritisiert wurden in jüngerer Zeit in der Rechtsprechung des BAG insbesondere das bereits mehrfach zitierte Flashmob-Urteil432 und die Entscheidung im sog. Emmely-Fall, ein Kündigungsschutzprozess wegen „Unterschlagung“ von Pfandbons durch eine Supermarktkassiererin. Zunächst zum Flashmob: Wie bereits oben ausführlich dargelegt, verletzt diese Entscheidung nicht die Grenzen des Richterrechts, indem sie eigene Normen unterstellt. Was sich aber mit guten Gründen vertreten lässt, ist, dass hier ein Fall der Rechtsverbiegung vorliegt. Die Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist weder neu noch falsch, jedoch setzt sich das BAG über ___________ schen der normativen und der faktischen Geltung, die Engländer unterscheiden zwischen dem law in the books und dem law in action.“ 431 Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101, 108. 432 BAG, NZA 2009, 1347; bestätigt durch BVerfG, NZA 2014, 493; prononcierte Kritik u.a. bei Thüsing/Waldhoff, ZfA 2011, 329; Otto, RdA 2010, 135; Rüthers, NZA, Beilage 2011, 101; Lembke, NZA 2014, 471; ebenfalls kritisch Greiner, NJW 2010, 2977; zuvor bereits Rieble, NZA 2008, 796.

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die bisherigen Präjudizien zur Verhältnismäßigkeit im Streikrecht hinweg. Wenn das BAG einerseits durch vielfaches Zitieren von Präjudizien die Kontinuität der Rechtsprechung suggeriert und andererseits die Wissenschaft ganz überwiegend das Urteil als einen Rechtsprechungswandel wahrnimmt, dann liegt es nahe, dass Brüche in der Begründung des Zusammenhangs von Anordnungstext und Zurechnungstext verschleiert wurden. Was hingegen die sog. Emmely-Entscheidung433 betrifft, so dürfte die teilweise ebenfalls recht heftige Kritik434 überzogen sein. Das BAG wurde missverstanden, wenn man ihm einen verdeckten Rechtsprechungswandel vorgeworfen hat. In nachfolgenden Fällen bestätigt das BAG vielmehr seine ständige Rechtsprechung zur außerordentlichen (Verdachts-) Kündigung bei „Bagatelldelikten“ des Arbeitnehmers.435 Damit ist klar: Emmely war ein Einzelfall, bei dem besondere Umstände im Rahmen der bei einer außerordentlichen Kündigung vorzunehmenden Abwägung dazu führten, dass die Kündigung unverhältnismäßig war.436 „Regelmäßig“437 sind aber Vermögensdelikte auch bei einem nur geringen Schaden geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Eine Bagatellgrenze gibt es im Kündigungsschutzrecht also weiterhin nicht.438 In Wirklichkeit fügt sich die Emmely-Entscheidung also in die bisherige Kette von Präjudizien ein. b) Die Reduktion des Gesetzes auf den Autor Wenn der Richter an die Bedeutung der Ausdrücke des Gesetzes gebunden ist und wenn die Bedeutung in der Summe der Wörter besteht, die regelmäßig in ihrer Umgebung auftauchen, dann ist es nötig, diese Kontexte zu strukturieren. Ein erster Vorschlag dazu findet sich in den klassischen Auslegungslehren. Die Technik der Auslegung will eine Hierarchie herstellen zwischen einem privilegierten Text und einem abgeleiteten Text. Wir haben auf der einen Seite einen Gesetzgeber und auf der anderen Seite einen Richter. Der Richter soll nicht seinen Willen an die Stelle des Willens des Gesetzgebers setzen. ___________ 433

BAG, BAGE 134, 349 = EzA § 626 BGB 2002 Nr. 32 mit Anm. Thüsing/Pötters; vgl. instruktiv zu dieser Entscheidung Stoffels, NJW 2011, 118; Preis, AP § 626 BGB Nr. 229. 434 Vgl. zur Entscheidung der Vorinstanz (LAG Berlin-Brandenburg) Rieble, NJW 2009, 2101. 435 Vgl. BAG, NJW 2014, 720; vgl. zuvor BAG v. 21.06.2012 – 2 AZR 153/11, BB 2013, 125 m. Anm. Lipinski = EzA § 611 BGB 2002 Persönlichkeitsrecht Nr. 13 m. Anm. Thüsing/Pötters. 436 So bereits früh die zutreffende Prognose von Walker, NZA 2009, 921. 437 BAG, NJW 2014, 720. 438 Vgl. auch die Einschätzung von Preis, AP § 626 BGB Nr. 229.

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Nun ist aber jedes Lesen eine Sinnverschiebung. Denn der Leser versteht den Text meistens aus einer vollkommen neuen Lebenssituation heraus oder wie man neuerdings formuliert: Er pfropft dem Text einen neuen Kontext auf. Verhindern lässt sich diese Produktivität des Lesens nicht. Das ist heute unumstritten. Aber vielleicht lässt sich diese Produktivität erschweren, bremsen oder in ihrer Gewalt, die sie dem Text antut, teilen und kontrollieren. Beginnen wir mit dem Autor, also der Frage, was will uns der Gesetzgeber sagen? Der Sinnverschiebung durch den Leser soll hier ein sicherer Ursprung entgegengestellt werden. Die klassische subjektive Lehre verwendet damit das Prinzip der Autorschaft mit dem Ziel, dem juristischen Diskurs einen Mittelpunkt zu verschaffen. Die Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm soll um den Autor als Einheit und Ursprung der Bedeutung gruppiert werden. Von ihm verlangt man, dass er den im Text verborgenen Sinn offenbart, den Zusammenhang und die stabile Bedeutung garantierte. Die damit beschriebene Autorenfunktion439 soll im Völkerrecht von den Vertragsparteien bzw. sonst dem Gesetzgeber übernommen werden. Die Gedanken des Autors stehen hinter dem Zeichen des Normtextes und machen sie zu einem sinnvollen Ganzen440. Denn das Gesetz ist als Schöpfung menschlichen Geistes anzusehen, und der Gesetzgeber bzw. die Vertragsparteien haben mit seiner Verabschiedung bestimmte Vorstellungen und Absichten zum Ausdruck bringen wollen. Ziel der Gesetzesauslegung muss es demnach sein, den tatsächlichen Willen als historisches Faktum zu ermitteln. Indem sie ein vom menschlichen Geist Produziertes als solches erkennt441, ist die juristische Auslegung ein Sonderfall der philologischen Auslegung historischer Texte. Das Auslegungsmodell der subjektiven Lehre will eine sichere Bindung des Richters an den Gesetzgeber als Ursprung der Gesetze. Es hat aber nie funktioniert. Das wird deutlich, wenn man die Verknüpfung des gesetzgeberischen Willens nicht mit dem Gedanken, sondern mit der Sprache betrachtet: „Gegen die realpsychische Zurechnung des Gesetzes auf den Willen ist jedoch insbesondere der Einwand zu erheben, dass sie an dem Wesen der Rechtssetzung vorbeisieht und damit die sprachlichen Qualitäten des Gesetzes verkennt [...]. Die Setzung bedeutet als Vorgang der sprachlich-logischen Sphäre eine Objektivierung,

___________ 439 Vgl. zur Beschreibung der Autorenfunktion und ihrer Rolle als Verknappungsprinzip im Diskurs: Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 18 ff. 440 Vgl. zu dem damit gesetzten Repräsentationsmodell: Haug, DÖV 1962, 329, 330. 441 Vgl. zu dieser Verknüpfung mit der Philologie und der romantischen Verstehenslehre die Diltheysche Formulierung: „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er“. Dilthey, Gesammelte Schriften VII, 1927, S. 148; für die Aufnahme in der juristischen Methodendiskussion vgl. die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 85 ff.

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welche ihren Gegenstand dem Vorgang subjektiver Willensbildung entzieht und ihm ein Eigendasein zuweist.“442

Dieses von Forsthoff nicht weiter entfaltete Argument ist unter Berücksichtigung sprachphilosophischer Erkenntnisse tatsächlich geeignet, das von der subjektiven Lehre in Anschlag gebrachte Repräsentationsmodell an einem zentralen Punkt in Frage zu stellen. Denn bei der Vorstellung, dass hinter dem Gesetz ein formierender Wille steht, den der Normtext nachträglich verkörpert, wird tatsächlich die Sprache auf ein bloßes Ausdrucksmedium ohne Eigengewicht reduziert443. Wenn man das vom Repräsentationsgedanken nahegelegte Modell eines vorausdrücklichen Willens und seiner nachträglichen Verkörperung ernst nimmt, muss man auch die Frage stellen, welche Seite bei dieser Verknüpfung die eigentlich formierende ist. Diese Frage betrifft das grundlegende Problem einer Lehre, wonach die Textbedeutung durch die Absicht des Textproduzenten festgelegt ist. Eine Absicht ist immer etwas Bestimmtes, und eine bestimmte Absicht kann man nur im Rahmen einer bestimmten Sprache haben444. Das heißt, dass die Absicht nicht vom Sprachsystem unabhängig ist, sondern sich in dieses einschreibt445. Daher kann man nicht von einer vorausdrücklichen Intention auf die Bedeutung des Textes schließen, sondern nur umgekehrt von der Bedeutung eines Textes auf die Intention446. Die Bedeutung eines Textes kommt also nicht, wie das die subjektive Auslegungslehre voraussetzt, so zustande, dass der Textproduzent irgendwelche bedeutungsverleihenden Akte ausführt, sondern die Intentionalität des Textproduzenten muss anknüpfen an ein bestimmtes System sprachlicher Bedeutungen447. Aus diesem Grund kann der gesetzgeberische oder auktoriale Wille nicht als archimedischer Punkt außerhalb der Sprache angesehen werden, welcher gegenüber der Vielfalt der Interpretationen den identischen Textsinn wahrt448. Der vorausdrückliche Wille kann sich mit dem Normtext nur nach Maßgabe einer Ordnung verknüpfen. Diese Ordnung muss als Struktur formulierbar sein und ist damit auf ___________ 442

Forsthoff, Recht und Sprache, 1940, S. 45. Vgl. zur Kritik an dieser Reduktion: Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 1979, S. 79 ff.; vgl. weiterhin Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 229 (Nr. 188). 444 Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, Randbemerkungen unter § 38. Auch §§ 337 ff., 358. Zusammenfassende Darstellung bei von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 2. Aufl. 1980, S. 36 ff. Kurze Darstellung der sprachphilosophischen Kritik am sinnkonstitutiven Subjekt auch bei Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 77 ff. 445 Vgl. dazu Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 150. 446 Vgl. dazu auch Frank, Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 251 ff. wo am Beispiel der Position Hirschs gezeigt wird, dass der Rekurs auf „authorial meaning“ keineswegs auf die Individualität des Autors zurückführt. 447 Vgl. zu diesem Problem die grundlegende Auseinandersetzung Derridas mit Husserl: Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 1979, passim. 448 Vgl. dazu auch Frank, Was ist Neostrukturalismus? 1983, S. 25 ff. 443

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Bedeutung und Sprache verwiesen449. Damit kommt die äußerliche sprachliche Form der vorgeblich reinen Innerlichkeit des Willens zuvor. c) Die Reduktion des Gesetzes auf Werte Wenn es für die Bindungen des Richters keinen sicheren Ursprung gibt, dann liegen diese Bindungen vielleicht in Wertungen, die dem Text selbst zugrunde legen. Aus dem Argument, dass der gesetzgeberische Wille, um für seine Adressaten verstehbar zu sein, ohnehin nur solche Absichten verfolgen könne, für die sein Textformular allgemein verständliche Zeichen bereithalte, wird hier also gefolgert, dass Ziel der Auslegung nicht die Wiederherstellung eines vom Autor intendierten Wortsinnes sein könne, sondern nur der dem Text immanente objektive Sinn des Gesetzes selbst. Der gesetzgeberische Wille gleicht in diesem Modell einem Bahnreisenden, der, nachdem er seine Fahrkarte gelöst hat, unabhängig von seinem Zutun und ohne weitere Steuerungsmöglichkeiten an einen Ort befördert wird, welcher nach dem Fahrplan schon vorher feststand. Der Auslegende kann sich hier damit begnügen festzustellen, dass der Autor X bei der sprachlichen Objektivierungsstelle ein Ticket gelöst hat, und sich danach auf das Studium der (sprachlichen) Fahrpläne beschränken. Mit dieser Konstruktion wird von der objektiven Lehre ein Prinzip der diskursiven Verknappung in Anspruch genommen, das Foucault unter dem Stichwort „Kommentar“ beschrieben hat450. Im Rahmen dieser Figur kommt dem Sekundärtext die Aufgabe zu, zum ersten Mal das zu sagen, was im Text schon immer angelegt war, und unablässig das zu wiederholen, was eigentlich nie gesagt worden ist. Diese maskierte Wiederholung soll den Zufall des Diskurses bannen, indem sie ihm das Zugeständnis macht, dass das Neue zwar nicht im Inhalt der Aussage, aber im Ereignis ihrer Wiederkehr liegt. In seiner Analyse beschreibt Foucault die Kommentierung als ein spezifisches Verfahren der Kontrolle451, wonach die Arbeit der Kommentatoren mittels sekundärer Texte die Bedeutung der Primärtexte repetiert, festschreibt und auf die Reproduktion

___________ 449 Vgl. als knappe Darstellung der bei Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 1979, entwickelten Kritik: Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, insbes. S. 288 ff. Dort auch die Parallelisierung der Position Derridas zur sprachanalytischen Position Tugendhats im Hinblick auf die Kritik an einem vorsprachlichen Bewusstsein. 450 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 16 ff., insbes. S. 18. 451 Es geht dabei nicht um ein Einschließen oder Einsperren des Diskurses, sondern um seine innere Formation. Vgl. dazu Deleuze, Foucault, 1987, S. 63, 83 ff., 85 und öfter.

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eines vorgegebenen Sinns verpflichtet452. Die Interpretation ist damit nicht offen gegenüber einer Anzahl untereinander vergleichbarer Lesarten, sondern gefordert ist die eine authentische Interpretationsweise, welche entweder getroffen oder verfehlt wird. Die Möglichkeit des Verfehlens ist dabei nur eine empirische Einschränkung, die sich einzig aus der Tatsache herleitet, dass es keine absolut zuverlässige Technik des Verstehens gibt. Dies kann jedoch nichts daran ändern, dass alles, was wir tatsächlich verstanden haben, auf den objektiven Sinn des Textes zurückzuführen ist. Es geht also bei dieser juristisch säkularisierten Form der Inspirationslehre453 nicht um die Produktion einer Entscheidung, sondern um die Affirmation eines bereits Vorentschiedenen454. Man glaubt an eine geregelte Sprache, in welcher der fragliche Sachverhalt bereits klassifiziert ist; diese soll vom Auslegenden lediglich nachgesprochen werden455. Die Sprache wird aber genauso wenig wie das Recht von grundlegenden Werten gesteuert. Zwar gibt es tatsächlich „den engen unlösbaren Zusammenhang von Recht und Weltanschauung, Recht und Politik sowie Recht und Ökonomie/Sozialstruktur [...].“456 Aber dieser Zusammenhang lässt sich nur in totalitären Ordnungen als homogenes Wertsystem oder Basisideologie formulieren. Dort gilt: „Jede Staatsverfassung prägt eine ihr zugehörige Arbeitsverfassung aus, die nach erfolgten Systemwechseln neu erstellt wird. Das geschieht wegen der nach Verfassungswechseln überforderten Gesetzgebung meistens durch Umdeutungen der überkommenen Gesetze auf die neue Basisideologie seitens der Gerichte unter Anleitung wendefreudiger juristischer Autoren.“ 457

In einer pluralistischen Gesellschaft dürfen die Gerichte aber nicht von einer Basisideologie gesteuert werden. Gerade darin liegt die Bindungswirkung der Grundrechte des Grundgesetzes. Das Grundgesetz gibt keine Auslegungslehre ___________ 452 Vgl. zur Stabilisierungsfunktion juristischer Dogmatik die Untersuchung von Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 184 ff., 201 ff. 453 Vgl. dazu Haug, DÖV 1962, 329, 331 „[...] Nach der Inspirationslehre werden wirkliche Gedanken Gottes, nicht solche des Verkünders erkannt. Allerdings wird auch in der Jurisprudenz behauptet, der Jurist müsse bei der Auslegung auf die Stimme des ,objektiven Geistes‘ lauschen, um der Rechtsidee Geltung zu verschaffen. Diese (wohl unbewusste) Parallele von objektivem Geist und Heiligem Geist muss jedoch bei näherem Zusehen erschrecken.“ Vgl. als positive Aufnahme der Beziehung zur Theologie und sogar zu Orakelsprüchen: Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S. 208 f. 454 Kritisch zum Bild des „Nachsprechens“ auch Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 23. 455 Vgl. dazu Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 18: „Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an seinem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand: das bloße Rezitieren.“ 456 Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101, 101. 457 Ebd., 102.

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vor und bindet auch nicht an Werte. Aber trotzdem muss die Vielfalt der Kontexte, in denen die Schlüsselwörter des Gesetzes auftauchen, strukturieren. Es geht also mit Rüthers um eine verfassungsrechtlich rückgebundene Methodik anstelle der verordneten Basisideologie einer Wertelite. Die Auslegungstheorien können also die Kontexte, in denen die Ausdrücke des Gesetzes auftauchen, nicht sinnvoll einschränken. d) Gibt es eine Hierarchie von Kontexten? Ein Bedeutungskonflikt wird entschieden, indem man das fragliche Zeichen kontextualisiert. Die Gerichte bestimmen die Bedeutung eines Gesetzestextes, indem sie andere Texte zur Bestätigung oder Abgrenzung heranziehen. Diese Kontexte werden erschlossen durch die sogenannten Canones der Auslegung. Die grammatische Auslegung erschließt den Kontext des Fachsprachgebrauchs bzw. der Varianten der Alltagssprache. Die systematische Auslegung erschließt den Kontext des Gesetzes bzw. der Rechtsordnung als Ganzes. Die historische Auslegung erbringt den Kontext früherer Normtexte und die genetische den der Gesetzesmaterialien. Das sind die klassischen Canones von Savigny. Ein weiterer Kontext für die Entscheidung ist die Wirklichkeit. Aber weil keiner einen privilegierten Zugang zur Realität hat, formuliert man besser: die Nachbarwissenschaften wie Soziologie, Psychologie, Ökonomie usw. Der Name für diesen Kontextlieferanten wechselt. Früher sprach man von der „Natur der Sache“ oder von „natürlichen Ordnungen“. Das Bundesverfassungsgericht spricht neuerdings von „Normbereichselementen“. Neben diese einfachen Elemente, deren Leistung nur eben darin besteht, Kontexte zu erschließen, treten die zusammengesetzten Argumentformen wie z.B. die teleologische Auslegung und die verschiedenen Schlussformen. Schließlich tauchen die Ausdrücke des Gesetzes auch in Zusammenhängen auf, die allgemeinsprachlicher Natur sind, wie Medien, Politik, Wirtschaft usw. Diese Mittel der Auslegung sind weder von der Sprache noch von der Natur des Verstehens her vorgegeben. Trotzdem ist auffällig, dass z.B. Wortlaut, Entstehung, Systematik und Zweckargument in ganz verschiedenen Rechtstraditionen und von ganz verschiedenen Gerichten durchgängig verwendet werden. Der sachliche Grund für diese Ähnlichkeit dürfte wohl in der holistischen Struktur sprachlicher Bedeutung liegen.458 Danach lässt sich die Bedeutung eines Textes nur in der entwicklungsoffenen Gesamtheit einer Sprache bestim___________ 458

Die holistische Struktur von Bedeutung wurde in der postanalytischen Philosophie vor allem von Davidson und Rorty herausgearbeitet. Vgl. als gut verständliche Darstellung: Mayer, Semantischer Holismus. Eine Einführung, Berlin 1997.

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men. Diese Erkenntnis ist sozusagen der Konvergenzpunkt so unterschiedlicher Entwicklungen wie der angelsächsischen postanalytischen Philosophie, der in Frankreich unter dem Stichwort Dekonstruktion entwickelten Strukturalismuskritik und der in Deutschland unter Berufung auf die Humboldt-Tradition vollzogenen pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft. Aber wenn Bedeutung eine holistische Größe ist und man muss über den Konflikt verschiedener Lesarten entscheiden, ist das Ganze gerade nicht verfügbar. Das heißt, man muss die Kontexte schrittweise erarbeiten, ohne sich die Illusion machen zu können, damit das Ganze restlos im Griff zu haben. Die Formen dieses schrittweisen Erschließens von Bedeutung (Kontextualisierung) haben sich dann historisch herausgebildet und stabilisiert in den heutigen Canones der Auslegung. Erschlossen werden diese Kontexte über Kommentare, Wörterbücher und zunehmend Datenbanken. Die Fülle dieser Kontexte würde jedes Problem erschlagen. Deswegen bedarf es einer doppelten Einschränkung: Einmal durch den Relevanzhorizont des Verfahrens. Man muss Kontexte nur aussuchen, wenn die Bedeutung streitig ist. Wenn im Verfahren jeder weiß, was „unzuverlässig“ heißt, genügt uns allein das, was uns als erstes einfällt und wir nennen es grammatische Auslegung. Sobald allerdings gestritten wird, müssen die herangezogenen Kontexte gewichtet werden. Dies ist der Eintrittspunkt der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Vorhersehbare Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit sind die Extrempunkte des möglichen Erwartungshorizonts an gerichtliche Arbeit. Aber die Einlösung dieser Ziele hängt nicht nur davon ab, was politisch und sozial möglich ist, sondern auch davon, was die Struktur der Sprache als Medium des Rechts zulässt. In den damit angedeuteten Grenzen sind Methodenfragen politisch rechtlicher Entscheidung zugänglich. Eine Rechtsordnung kann also etwa in ihrer Verfassung Regeln formulieren, welche der Textarbeit der Gerichte Ziele vorgeben und somit ihre eigene Anwendung mitbestimmen. Eine starke Betonung der Rechtssicherheit würde etwa methodisch einlösbar durch eine Privilegierung von Wortlaut und Systematik. Natürlich mit dem Risiko von Formalismus und Versteinerung. Eine Hervorhebung der Einzelfallgerechtigkeit lässt sich etwa durch besonderes Schwergewicht auf Zweckargumente einlösen. Natürlich mit dem Risiko mangelnder Vorhersehbarkeit und Steuerungskraft des Rechts. Es gab schon viele Versuche mit Hilfe spezieller normativer Regeln im Rahmen eines Gesetzes dessen Anwendung mitzubestimmen. Einige davon sind kläglich gescheitert. Andere waren ausgesprochen erfolgreich. Gescheitert sind solche Ansätze dann, wenn sie versucht haben, die Anwendung des Rechts von vornherein festzulegen, etwa durch Auslegungsverbote. Damit wird etwas verlangt, was an der Sprache als Medium des Rechts scheitern muss. Zwar haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, die Welt nur noch

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als widerstandsloses Durchzugsgebiet für die Wünsche des Marktes zu begreifen. Aber manchmal stoßen unsere Wünsche auf so etwas wie eine „Natur der Sache“. Jede Anwendung einer Regel pfropft diese auf einen neuen Kontext auf und verschiebt sie damit wenigstens minimal. Ein Verbot der Auslegung könnte also nur erfolgreich sein als Verbot der Anwendung eines Gesetzes. Und selbst bei diesem Verbot müssten wir wahrscheinlich bald über Ausnahmen nachdenken. Normative Auslegungsregeln scheitern also dann, wenn sie von Sprache und Anwender zu viel verlangen. Sie sind aber ausgesprochen erfolgreich, wenn sie durch Festlegung erreichbarer Ziele dem Anwender ein offenes Orientierungsprogramm bieten. Ein solches Erfolgsmodell stellen die methodenbezogenen Normen aus dem Umkreis des Rechtsstaatsprinzips dar. Von den Gerichten wird eine stabile und voraussehbare Rechtsanwendung verlangt. Hier liegt der Schwerpunkt. Aber um die Gefahr der Versteinerung auszuschließen, liegt ein gewisses, wenn auch kleineres Gegengewicht in dem Erfordernis der Einzelfallgerechtigkeit. Diese grundlegende Vorgabe wird ergänzt durch eine Vielzahl flankierender Einzelregelungen, wie etwa die Garantie effektiven Rechtsschutzes, die Begründungspflicht der Gerichte, die Garantie rechtlichen Gehörs usw. Dieser Komplex methodenbezogener Normen des Verfassungsrechts, hat sich gerade in der Tradition der Staaten bewährt, welche die Europäische Union bilden. Wenn man also die Fiktion einer Bindung des Richters an die wörtliche Bedeutung des Textes aufgibt, folgt daraus nicht Regellosigkeit. Vielmehr treten an die Stelle fiktiver Bindungen wirkliche und zu kontrollierende Bindungen. Als aus dem Rechtsstaatsprinzip und anderen methodenbezogenen Normen abgeleitete Forderungen nach Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit juristischen Handelns beziehen sich diese Bindungen auf den mit der Formulierung von Sprachregeln verknüpften Prozess der Sprachnormierung. Die Notwendigkeit der Sprachnormierung, welche sich daraus ergibt, dass die Sprachregeln nicht handhabbare Vorgegebenheiten sind, setzt auch die Möglichkeit einer Sprachkritik als metakommunikative Auseinandersetzung über die Sprachnorm. Wenn Kommunikation kein durch vorgegebene Regeln automatisierter Vorgang ist, sondern Raum für sinnkonstitutive Akte enthält, dann beinhaltet sie auch die Möglichkeit einer kommunikativen Ethik459, die diese gestalterischen Eingriffe zwar nicht, wie die Theorie der kommunikativen Kompetenz annimmt, einer vollständigen Steuerung unterwirft, aber doch kritisierbar macht. ___________ 459 Vgl. zum Begriff einer kommunikativen Ethik: Heringer, Sprachkritik — Die Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln, in: ders., (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 3 ff., 27 ff. Grundsätzlich auch zu Konversationsmaximen: Grice, Logik und Konversation, in: Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, 1979, S. 243 ff.

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Die linguistische Diskussion kann somit jedenfalls die strukturelle Möglichkeit von Bindungen beim Prozess der Regelerzeugung dartun, indem sie auf die Sprachreflexionen als Ermöglichungsbedingung für die Entwicklung einer kommunikativen Ethik hinweist. Das Rechtsstaatsprinzip mit seinen Anforderungen an die Begründung juristischer Entscheidungen kann insoweit als ein kodifizierter Sonderfall kommunikativer Ethik angesehen werden. Es kodifiziert eine bestimmte Kultur des Streitens, welche als Auseinandersetzung über sprachliche Normierung auch im alltäglichen Handeln vorkommt, im juristischen Bereich aber durch Rechtsprechung und Lehre eine spezifische Ausprägung erfahren hat. Zur Konkretisierung seiner Maßstäblichkeit muss der IstZustand der praktischen Rechtsarbeit an seinem Soll-Maßstäben gemessen werden und dort, wo erforderlich, zu begrifflich verallgemeinerungsfähigen Strukturen fortentwickelt werden. Der Ansatzpunkt für die Hierarchisierung von Kontexten ist somit ein sprachspiel-immanenter. Man darf im Unterschied zum Richterpositivismus weder auf einen kritischen Maßstab vollständig verzichten, noch im Sinne der alten Auslegungstheorie einen Maßstab anlegen, der nicht operabel ist. 4. Richtergesetzesrecht als Gesetzesbindung in Fallketten Ein Gericht ist keine triviale Maschine, welche auf Input mit Output reagiert. Dieses mechanistische Paradigma ist längst überholt. Es ist vielmehr eine nichttriviale Maschine, welche ihren eigenen Output immer wieder zum Input macht und dadurch in ihrem eigenen Handeln einen Zusammenhang erzeugt. Deswegen gehört zur gerichtlichen Praxis auch die Selbstbeobachtung eigener Fallketten. Zu fragen ist, ob mit der Bewegung von der Kohärenz des Gesetzes zur Kohärenz der Urteile nicht die Objektivität des Rechts verloren geht. Wird das Recht dadurch nicht zum Spielball der Richter? Das Spezifische der Rechtskommunikation ginge dann verloren. Die Praxis versteht sich nicht als selbsttragend. Sie ist keine letzte Grundlage, sondern bezieht sich auf etwas ihr Vorgeordnetes. Wie ist dieses Vorgeordnete im Kontext der Verwendung eigener Fallketten zu fassen? a) Semantik als Fallrechtsystem Es stellt sich aber die Frage, wie jemand an eine Regel gebunden sein kann, die er selbst formuliert. Die Antwort ergibt sich daraus, dass die Verwendung von Worten den Sprecher auf Konsequenzen festlegt. Die vorgeschlagene Interpretation will die bisherigen Verständnisweisen mit denen der Zukunft verbinden. Sie muss also bisher erfolgreiche Lesarten so ordnen, dass die Perspektive auf den Horizont eines Ganzen erkennbar ist. Dieses Ganze steht der Inter-

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pretation seit Hegels und Larenz’ Tod nicht mehr zur Verfügung. Verfügbar ist nur die Kritik der Anderen. Ausgehend von einer Behauptung legen sie den Sprecher auf Folgerungen fest und bewerten sein Sprachverhalten normativ. Autorität im Unterschied zu bloßer Gewalt impliziert also das aufgeschobene Urteil anderer. Die Gewalt braucht weder auf die Vergangenheit, noch auf die Sicht Anderer Rücksicht zu nehmen. Sie ist ein Bruch. Die Autorität dagegen muss erst über das Urteil Anderer erworben werden. Sie ist damit Zwängen ausgesetzt. Damit setzt man an die Stelle eines externen Maßstabs für die Rechtsanwendung in der Quelle einen internen Maßstab in der Praxis: die semantische Autorität. Verständigung entsteht so aus einer sich selbst stabilisierenden Praxis. Sie beruht auf einzelnen Episoden. Die Menge der bereits gelungenen Kommunikationserfahrungen bildet sozusagen ein Korpus von Präzedenzfällen, das betrachtet wird, als ob es eine Einheit bilden könnte. Man versucht, die gegenwärtige Kommunikation an die Kette bereits gelungener Kommunikation anzuschließen (eben dies zeigt unsere empirische Studie, vgl. C.). Dabei könnte es nun so aussehen, als sei die in der Vergangenheit liegende Kette früherer Episoden vollkommen dem Urteil der Gegenwart ausgeliefert. Denn der gegenwärtige Sprecher muss ja aus der Vielzahl widersprüchlicher Kommunikationsepisoden diejenigen auswählen, die er für gelungen hält. Aber da der gegenwärtige Sprecher von seinem Gegenüber verstanden werden will und seine Leistung selber als gelungenes Kommunikationshandeln anerkannt werden soll, wird dies wieder ausgeglichen. Die Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit über die Auswahl wird relativiert und ein Stück weit antizipativ kontrolliert durch ihr Anliegen, von der Zukunft anerkannt zu werden. Damit ist „Bedeutung etwas, das sprachliche Ausdrücke primär in Situationen gelingender sprachlicher Verständigung haben, und kann in einem gewissen Sinn als ein Produkt der Interaktion bzw. Kooperation mindestens zweier Individuen begriffen werden.“460

Und dies eben führt geradewegs zu einem „holistischen Verständnis der sozialen Struktur sprachlicher Praxis“.461 Diese betont, dass „sprachliche Bedeutung (und mit ihr der Gehalt geistiger Zustände) [...] sich erst dort [konstituiert], wo [mindestens] zwei Sprecher ihre Idiolekte in einer Praxis gelingender sprachlicher Verständigung wechselseitig interpretieren.“462

Was für den Richter im Case Law die Präzedenzfälle, das sind im Fall der Verständigungspraxis die paradigmatisch und damit als prägend erfahrenen ___________ 460

Liptow, Regel und Interpretation, Weilerswist 2004, S. 138. Ebd., S. 140. 462 Ebd., S. 206. 461

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Fälle gelungener Verständigung.463 Entsprechend handelt „regelhaft“, „wer nach Präzedenzen erfolgreicher Handlungsvollzüge des gleichen Typs handelt.“ Allerdings sollte dies nicht wieder kollektivistisch als eine Orientierung der Verständigung auf ihnen vorausliegende gemeinschaftliche Muster hin gedeutet, sondern in seiner individualistischen Konsequenz angenommen werden. „Gelungene Verständigung“ heißt dann im Sinne Davidsons, vom anderen in dem Sinne interpretiert zu werden, den man sich für die eigene Äußerung vorgenommen hat. Entsprechend dem Brandom’schen Modell wird Bedeutung über die Vergegenwärtigung von Festlegungen, die dabei eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben, zum Standard von Interpretationen. Verständigung zeigt damit die grundsätzlich zeitliche Dimension,464 dass sich ihr Erfolg dem verdankt, Vergangenes als Ansatz für Interpretation einzuholen: „Die Tatsache, dass es keinen Standard für das Gelingen eines bestimmten Aktes sprachlicher Verständigung gibt, der außerhalb des Geschehens gegenseitiger Interpretation liegt, heißt nicht, dass es überhaupt keinen solchen Standard gibt. Der Standard für das Gelingen eines bestimmten Aktes sprachlicher Verständigung kann nämlich genauso gut anderen gelungenen Akten sprachlicher Verständigung entstammen.“465

Der Witz dabei ist, dass das Gelingen von Verständigung keineswegs auf so etwas wie Bedeutung bezogen ist, jedenfalls nicht auf eine, die ihr vorausgesetzt wäre. Vielmehr ergibt sich umgekehrt Bedeutung als ein solches Gelingen. Insofern ist Bedeutung nicht die Mutter von Verständigung. Vielmehr ist der kommunikative Erfolg der Vater aller Bedeutung.466 Genau das macht die Pointe eines interaktionistischen Interpretationismus467 aus. Er trägt dem Rechnung, dass Interpretation praktisch für sich selbst zu sorgen hat, indem sie die Bedeutungen und Regeln, auf denen sie beruht als ihre in die Zukunft verlängerte Geschichte, dadurch immer wieder erst hervorbringt, dass diese sich in der Gegenwart des gelungenen Verständigungsaktes konkretisiert, das heißt öffentlich sozial praktiziert wird. Damit entwickelt sich Kommunikation über Konfirmierung und Kondensierung von Sinn, entwickelt sich Recht durch Sedimentierung erfolgreicher Verständigungen der institutionellen Akteure und schlägt sich nieder in gemeinsamen Sprachgebrauchsmustern und Verweisungsketten. Die Struktur ist nicht fest, sondern ihre Einheit wird „als ob“ ge___________ 463 Ausdrücklich von einer Orientierung an „Präzedenzen“ allerdings kollektivistisch in Bezug auf regelhaftes Handeln spricht auch Lewis, Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung, Berlin 1975. 464 Brandom, Journal of Philosophy, Vol. 8, Number 3, 2000, S. 356 ff. 465 Liptow, Regel und Interpretation, Weilerswist 2004, S. 206. 466 Dieser Gedanke findet sich ohne Bezug auf Brandom bereits bei Keller, Sprachwandel, 2. Aufl., Tübingen 1994, S. 87 ff. 467 Dazu Liptow, in: Bertram/Liptow (Hrsg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, S. 129 ff.; sowie ders., Regel und Interpretation, Weilerswist 2004, S. 148 ff. u. 220 ff.

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setzt und damit unabhängig von den konkreten Idiosynkrasien der Kommunikationsteilnehmer. Es gibt kein Fundament sprachlicher Verständigung im starken Sinne. Kommunikation beruht auf vergangener Kommunikation und eröffnet künftige. Keine der in der Vergangenheit liegenden einzelnen Episoden ist für sich gesehen sakrosankt: „Denn die Bewertung dessen, was als Verständigung ermöglichende Tradition gilt, muss jedes Mal aufs Neue erfolgen. Einzelne Kommunikationsakte, die bisher als Teil der Tradition gegolten haben, werden eventuell im Licht neuer Äußerungen nachträglich als missglückt bewertet, andere, die bisher von der Tradition ausgeschlossen waren, nachträglich aufgenommen.“468

Aber sie müssen sich in den Zusammenhang eines „Gesetzes“ stellen lassen, welches von diesen einzelnen Episoden ebenso konstituiert wird, wie es diese konstituiert. Die Grundlage für sprachliche Verständigung ist also eine Menge von Akten gelungener Kommunikation: „Im Gegensatz zu der Figur des radikalen Interpreten verfügt der Interpret im vorliegenden Modell überhaupt nur insofern über seine eigene Sprache, als diese sich in Akten gelungener Verständigung bewährt hat. [...] Der Idiolekt eines Sprechers ist nur insofern eine Sprache, als er sich als Fortsetzung einer beiden Sprechern gemeinsamen Tradition gelingender Verständigung begreifen lässt.“469

b) Fallrecht als Risiko für das Gesetz Die Orientierung an Fallketten hat grundlegende Probleme. „Da Richterrecht aber letztlich aus der Fallentscheidung entsteht, bleibt häufig nicht nur verborgen, welche leitenden Grundsätze die Judikatur beherrschen, sondern man ist auch damit konfrontiert, dass Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie Präjudizien auf den Einzelfall anzuwenden sind.“ 470

Eine weitere Schwierigkeit der Systematik zweiter Ordnung liegt darin, dass ein Gericht weder seine eigenen Entscheidungen noch gar die anderer Gerichte voll überblicken kann und dass schon deshalb häufig Widersprüche zwischen Präjudizien bestehen. Diese verborgenen Nester von Widersprüchen können den Bezug auf Vorentscheidungen willkürlich machen, aber auch in einem laufenden Verfahren zu guten Argumenten führen. Gerade in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte sieht man, dass die Systematik zweiter Ordnung nicht alle Probleme juristischen Entscheidens zu lösen vermag. ___________ 468 Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Müller (Hrsg.), Politik (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, Berlin 2007, S. 55 ff., 66. 469 Liptow, ebd. S. 65. 470 Richardi, NZA, 2008, 1, 2.

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Präjudizien sind zu verstehen „als Exempel richtigen fachsprachlichen Gebrauchs der einschlägigen Begriffe.“471 Sie sind „Verweise auf die semantische Gleichbehandlung und damit die ‚Richtigkeit‘ eines Rechtsbegriffs. Diese Bestimmung der Bedeutung durch die Bezugnahme auf erhebliche Sprachverwender ist auch genau das Verfahren, das gute Wörterbücher anwenden: Sie erläutern einen Begriff durch die Heranziehung beispielhafter Ver472 wendungen.“

Man kann die Situation eines Juristen, der nach der Bedeutung eines Rechtsbegriffes fragt, mit der eines Sprachwissenschaftlers, der ein Wörterbuch erstellt, vergleichen. Beide sammeln gelungene Gebrauchsbeispiele. Der Jurist macht dies mit Hilfe der Auslegungsregeln. Beispiele, die ihm ohne Nachdenken einfallen, ordnet er der grammatischen Auslegung zu. Um weitere zu finden, hat er als Suchstrategien die Systematik, Entstehungsgeschichte, Vorläufernormen und Zweck. Über die Kommentare findet er Vorentscheidungen und wissenschaftliche Stellungnahmen, die diese Suchstrategien schon angewendet haben. Der Sprachwissenschaftler dagegen entwickelt einen Thesaurus je nach dem Zweck seines Wörterbuchs, um die zu Grunde gelegten Korpora auszuwerten. Obwohl auf den ersten Blick verschieden, machen doch beide dasselbe: Sie verknüpfen gelungene Gebrauchsbeispiele und bieten sie in kondensierter Form als Orientierungsrahmen für zukünftigen Gebrauch. Kann das Recht aber in den Vorentscheidungen allein gefunden werden? Die Bindung von Präjudizien ohne Gesetz wäre ein striktes System des case law. Wenn man das case-law-System jedoch genauer untersucht, steht auch hier eine Regel im Hintergrund, welche die Verkettung mit Vorentscheidungen erst ermöglicht. Diese wird allerdings nicht direkt, sondern indirekt thematisiert. Auch Präjudizien können den juristischen Wunsch nach Instruktivität nicht erfüllen. Die Vergangenheit des Rechts ist keine vorgegebene Größe, in der die Einzelentscheidung ihren fraglosen Platz findet, sondern eher eine Projektionsfläche. Ständig muss man passende und unpassende Präjudizien argumentativ unterscheiden, häufig auch überzeugende und nicht überzeugende. Der Richter muss die Kette der Vorentscheidungen selbst knüpfen. Dabei kann jede Gegenwart ihre eigene Vergangenheit erfinden und einfach weglassen, was ihr nicht passt. Manchmal steht am Anfang langer Zitatenketten, die bei den Gerichten schon zum Textbaustein geronnen sind, lediglich ein obiter dictum. Dieses wurde nebenbei und ohne Begründung eingeführt und bildet dann die Grundlage für alle späteren Bezüge. Ganz ohne Metaphysik findet man so einen grundlosen Grund. Schon bei schriftlicher und erst recht bei computerunterstützter Überlieferung macht aber allein die Vielzahl der erfassten Entschei___________ 471 Morlok, Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Ehrenzeller/Gomes/Kotzur/Thürer/Vallender (Hrsg.), Präjudiz und Sprache, Zürich/St. Gallen/Baden-Baden 2008, S. 72 ff. 472 Morlok, ebd. S. 73.

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dungen deutlich, dass Tradition nicht homogen ist, sondern heterogen, umstritten und widersprüchlich.473 Natürlich sind Rechtsprechungsketten, wenn man sie genau betrachtet, immer voller wirklicher und scheinbarer Widersprüche. Bei der Betrachtung von Rechtsprechungsketten „begegnet als weiteres grundlegendes Methodenproblem das Verhältnis von Regelfall und Ausnahme: Das BAG statuiert strenge Obersätze, die dann immer wieder mit vermeintlichen Besonderheiten des Einzelfalls durchbrochen werden, so dass letztlich alles begründbar und die künftige Entscheidungspraxis äußerst schwer prognostizierbar wird.“474

Wichtig ist dabei die Kontinuität der Judikate zu beobachten. „Aus dem Methodenphänomen wird aber ein Methodenproblem, wenn zum einen der Obersatz in der Subsumtion häufiger durchbrochen als aufrechterhalten wird, er den Normalfall also nicht mehr widerspiegelt, und zum anderen eine nachvollziehbare Begründung für die Abweichung vom Obersatz nicht gegeben wird.“ 475

Ein gutes Studienobjekt sind dabei auch die Unionsgerichte. Der EuGH hat einen unionsrechtbezogenen Begriff des Arbeitnehmers im Kontext der Grundfreiheiten entwickelt. Der normative Kontostand des EuGH ist bei den nationalen Gerichten und der Wissenschaft in diesem Bereich sehr hoch. Allerdings unterliegt dieser Kontostand einer laufenden Neubewertung und kann sich ändern. Diese Änderung begründet sich meistens daraus, dass der Gesetzestext nicht ausreichend berücksichtigt wurde oder die verschiedenen Entscheidungsketten untereinander nicht kompatibel sind. Dies verdeutlicht etwa die Rechtsprechung zur Frage der Drittwirkung der Grundfreiheiten. Während die Leitentscheidung Angonese476 im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine unmittelbare Drittwirkung und damit etwa auch die Bindung privater Arbeitgeber bejaht, scheut der EuGH bislang zu Recht vor einer Ausdehnung dieser neuen Rechtsprechungslinie zurück. In Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit judiziert der EuGH etwa zurückhaltend und lehnt eine unmittelbare horizontale Geltung nach mittlerweile477 gefestigter Rechtsprechung ab.478 Es bleibt damit im Hinblick auf die Warenverkehrsfreiheit dabei, dass eine horizontale Wir___________ 473

Morlok, Der Text hinter dem Text, in: Blankennagel/Pernice/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Tübingen 2004, S. 93 ff., 133. 474 Greiner, NZA, Beilage 2011, 117, 120. 475 Ebd. 476 EuGH v. 06.06.2000 – Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139. 477 In eine andere Richtung wies zunächst die Entscheidung Dansk Supermarked, EuGH v. 22.01.1981 – Rs. 58/80, Slg. 1981, 181, 195; vgl. hierzu Lengauer, Drittwirkung von Grundfreiheiten, 2011, S. 105. 478 EuGH, Rs. C-159/00, Slg. 2002, I-5031 (Sapod Audic/Eco-Emballages); vgl. auch bereits EuGH, Rs. 311/85, Sl. 1987, 3801 (Vlaamse Reisbureaus); EuGH, Rs. 65/86, Slg. 1988, 5249 (Bayer/Süllhofer); vgl. Überblicksartig zur Fallpraxis Tiedje/Troberg, Kommentierung zu Art. 43, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 43 Rn. 134, siehe ausführlich Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2010, S. 219.

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kung allenfalls über Umwege wie einer Schutzpflichtskonstruktion479 möglich ist, eine „echte“ unmittelbare Drittwirkung à la Angonese jedoch nicht anerkannt ist. Ein wichtiges Argument gegen die Übertragbarkeit der Anerkennung einer horizontalen Direktwirkung auf die Warenverkehrsfreiheit besteht darin, dass Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs durch Private bereits durch das EU Wettbewerbsrecht (Art. 101 AEUV ff.) einer spezielleren Regelung unterworfen sind.480 Aus dem geschriebenen Unionsrecht ergeben sich also Strukturunterschiede, die gegen eine blinde Befolgung einmal eingeschlagener Wege in der Fallreihe sprechen. Selbst bei allgemein formulierten Normen wie den Grundfreiheiten muss sich der Richter im Unionsrecht also auch der Bindung an das positive Recht unterwerfen. Im Gegensatz zu dieser differenzierten Vorgehensweise bei der Frage der Drittwirkung von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Warenverkehrsfreiheit gibt es jedoch auch Negativbeispiele, bei denen der EuGH versucht, neue und strukturell unterschiedliche Problemkreise in das Korsett nur bedingt passender Präjudizien zu zwängen, um so Kontinuität zu suggerieren. „Immerhin partiell erklärbar ist diese Ausdifferenzierungsmethode – unter Rückgriff auf Begrifflichkeiten der anglo-amerikanischen Methodenlehre – als ein dem ‚overruling‘ vorausgehendes ‚distinguishing‘: Es werden immer neue Abschichtungen und Differenzierungen in ein Rechtsprechungskonzept eingeführt, bis letztlich der Sonderfall zum Regelfall geworden ist und gesichtswahrend ohne offenen Bruch mit der bisherigen Judikatur der ursprüngliche Obersatz aufgegeben werden kann – das so genannte ‚overruling‘, das dem ‚distinguishing‘ folgt.“ 481

Die viel gescholtenen482 Urteile in den Rechtssachen Viking483 und Laval484 illustrieren eine solche Überstrapazierung des case-law-Ansatzes. Beide Fälle ___________ 479 Siehe hierzu EuGH v. 09.12.1997 – Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 (Kommission/Frankreich, häufig genannt: Spanische Erdbeeren). 480 Vgl. hierzu Kingreen, Kommentierung zu Art. 36, in: Callies/Ruffert: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2007, jetzt „EUV/AEUV Kommentar, 4. Aufl. 2011“, Art. 36, Rn. 115. 481 Greiner, NZA-Beilage 2011, 117, 120. 482 Kritisch etwa Supiot, Europa im Griff der kommunistischen Marktwirtschaft, in: AuR 2009, S. 151 ff., Kocher, Das „Sozialthema“ zwischen EuGH und Nationalstaat, in: AuR 2009, S. 332 ff.; Nagel, Europäische Marktfreiheiten, Koalitionsfreiheit und Sozialstaatsprinzip, in: AuR 2009, S. 155 ff.; Krebber, Soziale Rechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung, in: RdA 2009, S. 224 ff., 233; Zwanziger, Nationale Koalitionsfreiheit vs. Europäische Grundfreiheiten – aus deutscher Sicht, in: RdA-Beil. 2009, S. 10 ff.; Kempen, Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht, in: Dieterich/Le Friant/Nogler/Kezuka/Pfarr (Hrsg.), GS Zachert, 2010, S. 15 ff.; Koberski/Schierle, Balance zwischen Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerschutz gewahrt?, in: RdA 2008, S. 233 ff.; Fischer-Lescano, Bundesverfassungsgericht: Zurück zum Nationalstaat, in: Blätter für Dt. und Internat. Politik 2009, S. 15 ff.; C. Barnard, Social Dumping or Dumping Socialism?, in: Cambridge Law Journal 2008, S. 262 ff.; Davies, One step forward, two steps back? The Viking and Laval cases in the ECJ, in: Industrial Law Journal 2008, S. 126; Nicol, Europe’s Lochner Moment, in: Public Law 2011, S. 308 ff.; Rebhahn, Grundfreiheit vor Arbeitskampf – der Fall Viking, in: ZESAR 2008,

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betreffen im Kern eine Kollision von Grundfreiheiten und Grundrechten. Auf der einen Seite stehen die Niederlassungs- bzw. die Dienstleistungsfreiheit des Unternehmers, auf der anderen Seite die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter. Es geht also um den Konflikt unterschiedlicher Rechtspositionen in einem horizontalen Verhältnis, denn auf beiden Seiten stehen sich Private und ihre jeweiligen wirtschaftlichen bzw. sozialen Freiheitsrechte gegenüber. Die Koalitionsfreiheit, die auch ein Streikrecht beinhaltet, ist als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts Bestandteil des Primärrechts485 und steht damit normenhierarchisch auf einer Stufe mit den Grundfreiheiten. Um den Konflikt zwischen Grundfreiheit und Grundrecht aufzulösen, hätte es einer Abwägung im Sinne praktischer Konkordanz bedurft, bei der keiner der beiden Rechtspositionen grundsätzlich ein gewisser Vorrang eingeräumt werden kann. Stattdessen unternimmt der EuGH in Viking und Laval den Versuch, diese delikate Problematik mithilfe des gängigen Bestecks zu sezieren. Er bejaht die Bindung der Gewerkschaften an die Grundfreiheiten mit einem Verweis auf die mit Walrave486 und Bosman487 begründete Rechtsprechungslinie.488 Er stützt sich also wohl nur auf eine erweiterte vertikale Bindung, nicht aber auf eine „echte“ Drittwirkung489 und verkennt damit, dass es sich in den Fällen Viking und Laval um klassische horizontale Kollisionen handelt. Hierdurch ist dann bereits auch das nächste Problem bedingt. Im Rahmen der Rechtfertigung überträgt der EuGH in ebenfalls schablonenhafter Weise die Aussagen von Präjudizien, die zum vertikalen Staat/Bürger-Verhältnis ergan___________ S. 109 ff.; C. Joerges/F. Rödl, Informal Politics, Formalised Law and the „Social Deficit“ of European Integration: Reflections after the Judgments of the ECJ in Viking and Laval, in: European Law Journal 2009, S. 1 ff.; Ballestrero, Le sentenza Viking e Laval: la Corte di Giustizia ‚bilancia‘ il diritto di sciopero, in: Lavoro e Diritto 2008, S. 371 ff.; Wißmann, Zwischenruf: Viking und Laval: EG-Grundfreiheiten über alles?, in: AuR 2009, S. 149 ff., 150; Däubler, ITF-Aktionen gegen Billig-Flaggen-Schiffe – im Widerspruch zum EG-Recht?, in: AuR 2008, S. 409 ff.; vgl. auch die zutreffende Kritik der AG Trstenjak in ihren Schlussanträgen in der Rs. C-271/08, BeckEuRS 2010, 511233 (Kommission/Deutschland). 483 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779. 484 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767. 485 Siehe nunmehr ausdrücklich Art. 28 EUGRC i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EUV. 486 EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Rn. 16 ff. 487 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921. 488 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 85 ff., insb. Rn. 98 (Laval); EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 33 ff. (Viking). 489 Siehe zum Zusammenhang zwischen dieser Rechtsprechung seit Walrave und den neueren Entscheidungen Viking und Laval auch Temming, Das „schwedische Modell“ auf dem Prüfstein in Luxemburg – der Fall Laval (C-341/05), in: ZESAR 2008, S. 231 ff., 235; vgl. hierzu kritisch auch Rebhahn, Grundfreiheit vor Arbeitskampf – der Fall Viking, in: ZESAR 2008, S. 109 ff., 112; ferner Franzen, Europäische Grundfreiheiten und nationales Arbeitskampfrecht, in: FS Buchner, in: Bauer (Hrsg.), 2009, S. 231, 237.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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gen waren. Ansatzpunkt ist dabei die seit Cassis de Dijon490 in nur leichten sprachlichen Abwandlungen übliche Aussage, dass eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein kann. Der EuGH geht daher in Viking und Laval davon aus, dass eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nur gerechtfertigt sein könne, „wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.“491 Als berechtigtes Ziel anerkennt der EuGH die Ausübung der Koalitionsfreiheit als Grundrecht – dies entspricht seit Schmidberger492 ebenfalls ständiger Rechtsprechung. Als zwingenden Grund des Allgemeininteresses nennt er zusätzlich den Schutz der Arbeitnehmer.493 Im Rahmen des sodann folgenden Abwägungsvorgangs konzentriert sich der EuGH aber ausschließlich auf den Arbeitnehmerschutz als Allgemeininteresse, die Koalitionsfreiheit findet hingegen keine Erwähnung mehr.494 Das Bemühen um eine kontinuierliche Linie im Rahmen der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten führt hier also dazu, dass die unpassenden Maßstäbe aus dem Staat/BürgerVerhältnis zum Tragen kommen und die Waagschale so zugunsten der Grundfreiheiten und zum Nachteil der Grundrechte vorbelastet ist.495 Ein solches Ungleichgewicht steht jedoch in klarem Widerspruch zum positiven Recht, denn dort stehen sich Grundrechte und Grundfreiheiten normenhierarchisch auf Augenhöhe gegenüber. Ein Rekurs auf die durch Cassis de Dijon begründete Entscheidungskette wäre daher zumindest nicht ohne gewisse Modifikationen, die den Besonderheiten horizontaler Rechtsverhältnisse Rechnung tragen würden, möglich gewesen. ___________ 490

EuGH v. 20.02.1979 – Rs. 120/78, Slg. 1979, 649. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 75 (Viking); vgl. nahezu wortgleich EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 101 (Laval). 492 EuGH v. 12.06.2003 – Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659. 493 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 77 (Viking); vgl. nahezu wortgleich EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767, Rn. 103 (Laval). 494 Kritisch auch Däubler, ITF-Aktionen gegen Billig-Flaggen-Schiffe – im Widerspruch zum EG-Recht?, in: AuR 2008, S. 409 ff., 415; „Der eigentliche Abwägungsvorgang erfolgt dann erstaunlicherweise ohne Rückgriff auf das so „grundlegende“ Recht auf kollektive Maßnahmen [...] An die Stelle des Grundrechts werden sozialpolitische Ziele der Gemeinschaft gesetzt.“ 495 Siehe kritisch auch Barnard, Social Dumping or Dumping Socialism?, in: Cambridge Law Journal 2008, S. 262 ff., 264; „This is balance in name, not substance. The moment collective action is found to be a ,restriction‘ and thus in breach of Community law, the ,social‘ interests are on the back-foot, having to defend themselves from the economic. And the Court has made it difficult to defend the social interests due to its strict approach to justification and proportionality. […] The precedence of the economic over the social is pretty clear.“ 491

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Es zeigt sich wiederum, dass ein Befolgen von Präjudizien auch im Unionsrecht einer normativen Bewertung bedarf. Man braucht eine Verwaltung der richterlichen Autorität. c) Fallrecht als Chance für das Gesetz Die bisherige Diskussion um die Wirkung von Vorentscheidungen wird durch die prinzipiellen Schranken der traditionellen Rechtserkenntnislehre behindert. Diese wirken bis in die Terminologie hinein. Man stellt die faktische Wirkung von Präjudizien in der kontinentalen Tradition ihrer normativen Wirkung in der angelsächsischen gegenüber.496 Normativität wird dabei als statische Eigenschaft eines Textes verstanden, den man einfach anwenden muss. Diese Vorstellung stimmt weder für Gesetze noch für die angelsächsischen Präjudizien. Wenn man im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion Normativität nicht als Gegenstand, sondern als Prozess fasst, kann man in der bisher unklaren Diskussion über die Bindungswirkung von Vorentscheidungen besser differenzieren: eine Bindung an Normtexte heißt, dass man sich nicht mittels besserer Argumente einfach davon lösen darf. Eine argumentative Bindung bedeutet, dass ein Kontext der Entscheidung die Richtung gibt, aber durch bessere Argumente verdrängt werden kann. Ausgehend von dieser Unterscheidung, sind zwei Fragen zu stellen:497 Können Vorentscheidungen überhaupt bindend wirken oder geben sie nur deklaratorisch den schon von Anfang an feststehenden Norminhalt wieder? Wenn ihnen aber eine konstitutive Rolle beim Erzeugen des Gesetzesinhalts zukommt, stellt sich die weitere Frage, ob diese Wirkung nur argumentativ oder ob sie normtextähnlich ist. Geben die früheren Urteile dem Erarbeiten der Falllösung also nur eine Richtung an, oder sind sie selbst Zurechnungspunkt für die Entscheidung?

___________ 496 Vgl. zur Diskussion Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff.; Toth, The Authority of Judgements of the European Court of Justice: Binding Force and Legal Effects, in: Yearbook of European Law 4 (1984), S. 1 ff.; Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989; Barcelò, Precedent in European Community Law, in: MacCormik/Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 407 ff.; Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997; Arnell, Interpretationand Precedent in English and Community Law: Evidence of Crossfertilization?, in: Andenas (Hrsg.), English Public Law of Europe, 1998, S. 93 ff. 497 Eine interessante Diskussion der Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen findet sich bei Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 179 ff.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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Als besonders brisantes Beispiel bietet sich für diese Diskussion das Vorabentscheidungsverfahren an. Wenn überhaupt eine normtextähnliche Wirkung von Urteilen des Gerichts begründet werden kann, dann noch am ehesten hier. Das Vorabentscheidungsverfahren498 führt dazu, dass Fragen der Auslegung des Primärrechts bzw. sekundärrechtlicher Rechtsquellen vom EuGH auf Grund von Vorlagen nationaler Gerichte geklärt werden.499 Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht über die Wirksamkeit nationaler Gesetze oder deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht. Es geht auch nicht um das Anwenden der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften auf den Einzelfall.500 Ebenso wenig wird nationales Recht interpretiert.501 Es geht nur um das Konkretisieren von Gemeinschaftsrecht.502 In diesem Bereich wird dann die Frage diskutiert, ob und wie die Entscheidungen des EuGH die vorlegenden Gerichte binden503 und ob von einer etwaigen Bindungswirkung auch nicht vorlegende Gerichte erfasst werden. Das Vorabentscheidungsverfahren bindet, soweit besteht Klarheit, nach Maßgabe seines Tenors. Dieser ist im Licht der Entscheidungsgründe auszulegen und bildet eine verbindliche Vorgabe für das vorlegende Gericht. Ein Adressatenkreis wie in § 31 BVerfGG ist in Art. 267 AEUV (Art. 177 EWG AF) nicht vorgesehen, so dass es fraglich ist, ob die Bindungswirkung über das jeweilige Verfahren hinausreicht.504 Über die bindende Wirkung für die am Ausgangsrechtsstreit beteiligten Gerichte hinaus ergibt sich jedenfalls eine tatsächliche präjudizielle Wirkung der

___________ 498 Siehe dazu grundsätzlich Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Österreich, 1997; sowie Barcelò, Precedent in European Community Law, in: MacCormik/Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 407 ff.; Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Ne. 364, 1997. 499 Vgl. dazu Bertelsmann, NZA 1993, 775, 778. 500 Dies ist geklärt seit EuGH Slg. 1967, S. 60 ff. (da Costa). 501 Dies wurde geklärt in EuGH Slg. 1964, S. 379 ff. (Unger/Bedrijfsvereiging voor Detailhandel en Ambachten). 502 Vgl. dazu Hirsch, RdA 1999, 48, 50. 503 Vgl. dazu Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff.; sowie ders., Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Österreich, 1997, S. 17 ff.; sowie Arnell, Interpretation and Precedent in English and Community Law: Evidence of Crossfertilization?, in: Andenas (Hrsg.), English Public Law of Europe, 1998, S. 93 ff. 504 Von einer limitierten Bindung von Vorabentscheidungen aufgrund des Verfahrens der Vorabentscheidung und des Gleichheitssatzes spricht Buerstedde, in: Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 22 ff.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Urteile des EuGH in ähnlich gelagerten Verfahren vor anderen Gerichten:505 Es ist davon auszugehen, „dass die Antworten des Gerichtshofes auf solche Fragen keineswegs etwa unverbindliche gutachtliche Stellungnahmen sind, sondern das vorlegende Gericht und auch alle in der Folge mit der Rechtssache befassten Instanzen verpflichten, dem Gerichtshof und seiner Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu folgen, soweit dieses zur Anwendung kommt.“506

Dies folgt daraus, dass dem EuGH im System des Vertrages die Aufgabe der Auslegung zukommt und dass die innerstaatlichen Gerichte und Behörden das Gemeinschaftsrecht im aktuellen Entwicklungszustand anzuwenden haben.507 Damit gleicht diese Wirkung der von höchstrichterlichen Entscheidungen im nationalen Recht. Diese haben jedenfalls eine tatsächliche rechtsbildende Kraft insofern, als an ihnen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit festgehalten wird. Ein oft zitiertes Beispiel für den Einfluss des EuGH auf die nationale Gerichtsbarkeit ist die Paletta-Entscheidung.508 Hier ging es um die Frage, ob ein privater Arbeitgeber einem Arbeitnehmer Lohnfortzahlung leisten muss, wenn dieser eine im Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Der EuGH übertrug seine im Hinblick auf öffentliche Sozialträger ergangene Rechtsprechung zu Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 574/72 auf den privaten Arbeitgeber und bejahte ohne Vorbehalt dessen rechtliche und tatsächliche Bindung an ein derartiges Attest. Dem Arbeitgeber bleibe nur die Möglichkeit, den Arbeitnehmer durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen. Dieses Urteil wurde in Deutschland stark kritisiert, da es Missbrauch ermögliche. Vor allem in dem fraglichen Verfahren bestand dieser Verdacht. Der Kläger hatte sich mit seiner Familie öfter im Anschluss an den Sommerurlaub in Italien für mehrere Wochen krankgemeldet. Auf Berufung und Revision des ___________ 505 Vgl. dazu Krück, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag, Bd. 3 Art. 137 – 209a EGV, 5. Aufl. 1997, Art. 177, Rn. 87. 506 Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 285; vgl. dazu auch EuGH Slg. 1977, S. 163 ff. (Benedetti/Munari); EuGH Slg. 1986, S. 947 ff. (Wünsche Handelsgesellschaft/BRD); EuGH Slg. 1991, S. I6079 ff. (Gutachten 1/91); vgl. dazu auch Combrexelle, L’impact de l’arrèt de la Cour: étendue et limites des pouvoirs du juge national, in: Christianos (Hrsg.), Évolution récente du droit judiciaire communautaire, Bd. 1, 1994, S. 113 ff. Es steht Unionsrecht entgegen, dass ein nationales Gericht, das nach Zurückverweisung eines höheren Gerichts zu entscheiden hat, an die rechtliche Beurteilung des höheren Gerichts gebunden ist, obwohl das untere Gericht der Auffassung ist, dass diese Beurteilung nicht dem Unionsrecht entspricht. Es besteht also nach EuGH ein uneingeschränktes Recht zur Vorlage auch entgegen den zurückverweisenden Obergerichten. Vgl. EuGH, Urteil vom 05.10.2010 – C-173/09 (Elchinow). 507 Vgl. dazu Hailbronner/Magiera/Klein/Müller-Graf, Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union, Stand September 1991, Art. 177 EWG, Rn. 45. 508 EuGH Slg. 1992, S. I-3423 ff., 3458 ff. (Paletta u. a./Brennet).

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Arbeitgebers hin, legte das BAG dem EuGH zwei weitere Fragen zum selben Ausgangsfall vor. Daraufhin stellte der Gerichtshof im Urteil Paletta II vom 2. Mai 1996 klar, dass das Gemeinschaftsrecht es dem Arbeitgeber nicht verwehre, Nachweise zu verlangen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, dass sich der Arbeitnehmer nicht missbräuchlich oder betrügerisch arbeitsunfähig gemeldet hatte. Anhand dieser Ausführungen hat das BAG den konkreten Fall dann dahingehend entschieden, dass keine Pflicht zur Lohnfortzahlung bestehe.509 Dieses Beispiel macht das Zusammenwirken des EuGH mit der nationalen Gerichtsbarkeit deutlich.510 Da der EuGH die fraglichen Streitfälle nicht entscheidet, sondern nur die „Definitionsmacht“ für das Gemeinschaftsrecht innehat511, sind die Gerichte allein daran gebunden, das Auslegungsergebnis zu Grunde zu legen. Die Art dieser Bindung ist aber noch näher zu bestimmen. In der Literatur wird die Wirkung einer Auslegungsentscheidung des Gerichtshofs bei einer Änderung der Auslegungspraxis folgendermaßen beschrieben: „Darin zeigt sich, dass das frühere Urteil des EuGH nicht einfach ein rechtskräftiges Gerichtsurteil war, sondern eine generelle Norm enthielt, die vom Gerichtshof durch eine spätere generelle Norm aufgehoben werden konnte.“512

Die Ausdrücke „generell“ und „normativ“ sind dabei noch präzisierungsbedürftig. Gegenstand der Bindung sind zunächst die verallgemeinerungsfähigen Rechtsansichten, die der EuGH in seiner Vorlageentscheidung formuliert. In der kontinentalen Tradition wären das die Leitsätze des Urteils, in der angelsächsischen die rationes decidendi. Diese Rechtsauffassungen sind zunächst generell, das heißt, sie gelten für „Fälle wie den vorliegenden“. Sie formulieren, was der Normtext für eine bestimmte Klasse von Fällen bedeutet und vollenden mit dieser Rechtsnormerzeugung den vom Gesetzgeber mit der Normtextformulierung begonnenen Rechtsetzungsvorgang. Trotz der ganz am Einzelfall klebenden Vorlagefragen der nationalen Gerichte und der sehr präzisen Vorga___________ 509

Zusammenfassend zu diesem Beispiel einer Wirkung von EuGH-Entscheidungen Hirsch, Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof. Eine wechselvolle Beziehung, in: RdA 1999, S. 48 ff., 50. Kritisch zur EuGHRechtsprechung in diesem Bereich demgegenüber Wißmann, Europäischer Gerichtshof und Arbeitsgerichtsbarkeit – Kooperation mit Schwierigkeiten, in: RdA 1995, S. 193 ff. 510 Zum Verhalten der nationalen Gerichte vgl. Alter, Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence: A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: Slaughter/Sweete/Weiler (Hrsg.), The European Court and National Courts – Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998, S. 227 ff. 511 Vgl. dazu Blomeyer, NZA 1994, 633 ff., 640. 512 Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 304.

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ben im Bereich von Tarifierungsproblemen bemüht sich der EuGH um diesen generellen Charakter: „Pastillen wie die roten ‚Pulmoll‘-Pastillen fallen angesichts ihrer Zusammensetzung, Aufmachung und Wirkung unter die Tarifnummer 17.04 des gemeinsamen Zolltarifs.“513 Das entscheidende Wort ist hierbei das „Wie“. Damit wird die Rechtsnorm vom Einzelfall abgehoben. Schwieriger als dieser generelle Charakter ist das normative Moment zu fassen. Einigkeit dürfte darüber bestehen, dass die Auslegungsentscheidungen des EuGH künftigen Entscheidungen die Richtung zu geben vermögen, sofern sie einer methodischen Überprüfung standhalten. Fraglich ist aber, ob sie darüber hinaus eine normtextähnliche Rolle aufweisen. Sie hätten dann ähnlich wie der Präzedenzfall im englischen Recht eine „binding authority“ für alle künftigen Entscheidungen: „Ein solcher Status würde bedeuten, diese Gerichte müssten dem EuGH folgen, selbst wenn sie ansonsten gute Gründe hätten, anders zu entscheiden. Sie wären außerdem verpflichtet, die einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofes in ihren Begründungen zu erwägen, und sie dürften sich nicht inhaltlich in die Debatte über bereits entschiedene Fragen einlassen.“514

Eine normtextähnliche Funktion würde zunächst dazu führen, dass der EuGH an seine Vorentscheidung selbst gebunden wäre. Das wäre nützlich, auch für die Bindung der nationalen Gerichte.515 Aber dem EuGH würde dann die nötige Flexibilität fehlen, um auf Veränderungen reagieren zu können. Außerdem wäre er ständig mit dem Subsumieren unter eigene Leitsätze beschäftigt. Für eine Rechtsprechungsänderung wären dann jedes Mal der Gesetzgeber oder sogar die Vertragsparteien nötig.516 Zwar hat der EuGH eine Änderung seiner eigenen Rechtsprechung nur selten vorgenommen,517 aber trotzdem hält er sich durch die eigenen Urteile nicht für gebunden. Im Urteil da Costa518 hat ___________ 513

EuGH, Slg. 1995, S. I-4759 ff. (Strafverfahren gegen Colin und Dupré). Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner/Forgó, (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 295. Zu einer entsprechenden Wirkung von Präjudizien im englischen Recht vgl. Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 37, wonach das entscheidende Gericht an das Präjudiz gebunden ist, selbst wenn dieses „bordering on the absurd“ sei. 515 Vgl. Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997, S. 51. 516 Brown/Kennedy, The Court of Justice of the European Communities, 4. Aufl. 1994, S. 352 ff. Ein Tätigwerden der Vertragsparteien wurde z.B. von der belgischen Regierung als Reaktion auf das Urteil des EuGH, Slg. 1995, S. I-4921 ff. (Bosman) erwogen. 517 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1990, S. I-3711 ff. (HAG GF). 518 EuGH, Slg. 1963, S. 63 ff. (da Costa u. a./Niederländische Finanzverwaltung). 514

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Generalanwalt Lagrange diese Auffassung mit grundsätzlichen Erwägungen der notwendigen Flexibilität begründet, und seither ist es dabei geblieben. Wenn eine normtextähnliche Funktion anzunehmen wäre, müssten neben den vorlegenden Gerichten auch alle anderen nationalen Gerichte durch die Entscheidung des EuGH gebunden werden. Dass auch dies nicht angenommen werden kann, sieht man schon daran, dass es den nationalen Gerichten erlaubt bleibt, die gleiche Frage erneut vorzulegen.519 Diese Möglichkeit wird von der einzelstaatlichen Justiz sogar als Chance für eine Rechtsprechungsänderung520 genutzt.521 Man muss deswegen der Feststellung zustimmen, „dass die Figur der binding authority von Präjudizien im englischen Recht nicht geeignet ist, die Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes über den 522 Einzelfall hinaus zu beschreiben.“

Präjudizien können, insofern sie methodisch haltbar sind, der aktuellen Entscheidung Richtung geben und wirken damit auf die Normativität ein. Aber sie fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen. Sie sind nur Argumente.

___________ 519

Dieser Umstand ist geklärt sei EuGH, Slg. 1963, S. 60 ff. (da Costa u. a./Niederländische Finanzverwaltung); vgl. dazu auch Bebr, Preliminary Rulings oft he Court of Justice: Their Authority and Temporal Effect, in: CMLR 18 (1981), S. 475 ff.; Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, in: Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtschutzinstanz, 1983, S. 69 und 78 f. Die Fälle, in denen der Gerichtshof offen von seinen eigenen Entscheidungen abweicht, sind äußerst selten; und zwar auch dann, wenn ihm ein Abweichen durch die Generalanwälte überzeugend nahe gelegt wird. Siehe dazu etwa solche Vorabentscheidungsverfahren, wo entgegen einer ausführlichen Stellungnahme der Generalanwälte der EuGH geantwortet hat, obwohl Unionsvorschriften nur aufgrund einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung anwendbar waren: Vgl. EuGH vom 18.10.1990 – verbunden mit Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 37; EuGH vom 17.07.1997 – Rs. C-130/95 Giloi, Slg. 1997, I-4291, Rn. 28 sowie EuGH vom 15.05.2003 – Rs. C-300/01 Falzmann, Slg. 2003, I-4899, Rn. 34; EuGH vom 29.04.2004 – Rs. C-222/01 British American Tobacco Manufacturing, Slg. 2004, I-4683, Rn. 40. – Vgl. im Übrigen dazu auch Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 409 ff., 427. 520 Vgl. zur Rechtsprechungsänderung in den wichtigen europäischen Rechtskreisen und auf der Ebene des Unionsrechts Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 465 ff. 521 Entsprechende Beispiele findet man bei Riechenberg, Note concernant les renvois préjudiciels qui réinterrogent la Cour, in: Christianos (Hrsg.), Évolution récente du droit judiciaire communautaire, Bd. I, 1994, S. 99. 522 Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner/Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 297.

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d) Präjudiz als Argument In Europa werden Gesetzes- und Fallrecht oft einander gegenübergestellt und bestimmten Rechtskreisen zugeordnet.523 Durch abstraktes Entgegensetzen verdeckt man aber die wichtige Dynamik einer Annäherung von Rechtskulturen im europäischen Rechtsraum. Sowohl Fallrecht als auch Gesetzesrecht sind intern komplexer, als es der erste Anschein vermuten lässt. Beide arbeiten von verschiedenen Seiten an dem Problem, gelungene Entscheidungen zu einer (immer vorläufig bleibenden) Regel zu verknüpfen. Das wird in der unionsrechtlichen Methodik besonders deutlich. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich der noch heute übliche Typus der offiziellen Entscheidungssammlung durch. Das Beifügen von Überschriften und Leitsätzen, die Angabe der behandelten Gesetzesstellen, die Kürzung und Straffung der Entscheidungsgründe auf das für das Verständnis unverzichtbare Maß sowie das Ausarbeiten von Registern wurden mit der Zeit zu anerkannten Hilfsmitteln.524 Nach Überwindung des im Allgemeinen Preußischen Landrecht enthaltenen Auslegungsverbots untersagten dessen Vorschriften das Berücksichtigen gerichtlicher Präjudizien nicht mehr generell, sondern nur deren normative Verwendung.525 Die veröffentlichten Urteile sollten dem Richter die Erkenntnis des richtigen Rechts erleichtern und andererseits den Parteien und ihren Anwälten die Entscheidung voraussehbar und berechenbar machen.526 Dabei ist die Bindung durch Präjudizien im kontinentalen Rechtskreis keine normtextähnliche, sondern eine argumentative. Das gilt etwa für das deutsche Bundesverfassungsgericht. In § 31 Abs. 1 BVerfGG ist die Pflicht geregelt, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „zu beachten“.527 Das bedeutet, dass die gebundenen Organe bei ihren zukünftigen Maßnahmen die vom Verfassungsgericht gewählte Interpretation zu Grunde zu legen haben. Für den Fall der Nichtbeachtung hat das Gericht zunächst einen Verstoß gegen die in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegte Bindung an Gesetz und Recht festgestellt.528 In einer ___________ 523

Der folgende Text bezieht sich auf den Aufsatz Pötters/Christensen, Das Unionsrecht als Hybridform zwischen case law und Gesetzesrecht, in: JZ 2012, 289 ff. 524 Weller, Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979, S. 80. 525 Ebd. 526 Ebd. 527 Vgl. Ziekow, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 1995, S. 522 ff., 528. 528 BVerfGE 40, 88 ff., 94; vgl. dazu Badura, Die Bedeutung von Präjudizien im öffentlichen Recht, in: Blaurock (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 49 ff., 72.

II. Richtermachtrecht und Richtergesetzesrecht

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anderen Konstellation hat das Gericht einen Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) angenommen.529 Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden nach § 31 Abs. 1 BVerfGG also nur argumentativ. Unterstützt wird diese Sicht vor allem auch durch den Wortlaut des Abs. 2, in dem ausdrücklich von „Gesetzeskraft“ für die dort geregelten Fälle gesprochen wird, so dass davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber dies für sonstige Entscheidungen nicht bezweckt. Sonst wäre diese Differenzierung überflüssig. Auch dem Verfassungsgericht selbst ist es unbenommen, von einer früheren Entscheidung abzuweichen. Es ist der maßgebliche Verfassungsinterpret; ihm darf nicht die Möglichkeit genommen werden, bei einer Veränderung faktischer Verhältnisse oder bei einem Bedeutungswandel die eigene Interpretation zu ändern. Das lässt sich schon aus § 16 Abs. 1 BVerfGG ableiten.530 Da § 16 Abs. 1 BVerfGG die Anrufung des Plenums nur für den Fall anordnet, dass von der Rechtsauffassung des anderen Senats abgewichen werden soll und nicht etwa im Fall der Abweichung von der eigenen Position, ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine solche Selbstbindung nicht vorgesehen hat. Dies würde sonst auch zu einer Erstarrung der Verfassungsinterpretation führen.531 Eine argumentative Bindung an Präjudizien ergibt sich ferner aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, der aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleiten ist, welches Rechtsicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit der Judikatur verlangt.532 So hat etwa das BAG entschieden, dass auf Grund des Vertrauensschutzes ein Abweichen von bereits ergangenen Vorentscheidungen nur dann zulässig ist, wenn es dafür triftige Gründe gibt. Damit soll die Einheitlichkeit der Gerichtspraxis gewahrt werden.533 Später führte das Gericht ergänzend aus, das Argument des Vertrauensschutzes wiege so schwer, dass es auch bei einer notwendigen Rechtsprechungsänderung zu berücksichtigen sei. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass der Gedanke des Vertrauensschutzes eine zutreffende Gesetzesauslegung für alle Zeiten blockiert.534

___________ 529 Vgl. Ziekow, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 1995, S. 522 ff., 528. 530 Stricker, DÖV 1995, 978, 985. 531 Vgl. dazu Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 28. 532 Vgl. dazu Preis, RdA 1989, 327 ff., 329. Vgl. zur Rechtsprechungsänderung und ihrer Diskussion im deutschen, anglo-amerikanischen und britischen Rechtskreis sowie auf europarechtlicher Ebene Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft, 2009, S. 54 ff. – Grundsätzlich zur auch methodischen und rechtstheoretischen Bedeutung der Änderung (ober)gerichtlicher Spruchpraxis: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 10. Aufl. 2009, S. 309, 311 ff., 535 ff. 533 BAGE 12, 278, 284. 534 Vgl. dazu BAGE 45, 277, 288.

210

E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Für die kontinentale Tradition kann damit eine Bindung an Präjudizien als Normtexte nicht angenommen werden, vielmehr besteht eine solche in der Argumentation. Auch ohne Normtextfunktion werden obergerichtliche Entscheidungen etwa von den deutschen Gerichten weitgehend beachtet. Diese hätten sonst eine Korrektur in der Rechtsmittelinstanz zu befürchten.535 Ein Richter, der von der nächsten Instanz „oft aufgehoben worden ist“, wird damit rechnen müssen, dass sich dies auf die Beurteilung seiner fachlichen Qualifikation und somit auf sein berufliches Fortkommen auswirken wird.536 Da das Nichtberücksichtigen von Präjudizien auch Berufungs- und Revisionsgrund sein kann und unter Umständen sogar Grundlage einer Amtshaftung werden könnte, wird kein pflichtbewusster Richter ein Eingehen auf einschlägige Vorentscheidungen unterlassen. Schließlich macht ein Berücksichtigen von Präjudizien eventuell auch die Begründung des eigenen Urteils einfacher.537 Soll ein Rechtstreit ebenso entschieden werden wie ein Präjudiz, kann auf die dortige Argumentation verwiesen werden, ohne sie in jedem Urteil neu entwickeln zu müssen.538 Für die Prozessbeteiligten schließlich dient die Orientierung an Vorentscheidungen einer geordneten und relativ rechtssicheren Gerichtspraxis.539 Das Orientieren an Präjudizien hilft so, abrupte Entscheidungen zu vermeiden.540 Die faktische Bindung an Präjudizien als Argument ist im Ergebnis zum Teil gesetzlich abgesichert. So könnte etwa nach deutschem Verfassungsrecht ein Nichtberücksichtigen einschlägiger Vorentscheidungen als Verstoß gegen die Garantie des effektiven Rechtsschutzes und gegen das Willkürverbot gewertet werden. Andererseits ergibt sich aus der Bindung an Präjudizien auch ein Vertrauensschutz für die Bürger. Dass die Spielregeln nicht beliebig nachträglich geändert werden dürfen, haben inzwischen auch die obersten Bundesgerichte erkannt. Nach Rechtsprechung des BVerfG setzt der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Grundsatz des Vertrauensschutzes auch der richterlichen Rechtsanwendung Grenzen.“ 541 ___________ 535

Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 109. Seifert, Argumentation und Präjudiz, 1996, S. 40. 537 Vgl. dazu Langenbacher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 65. 536

538 539

Ebd.

Vgl. dazu Gröschner, JZ 1987, 903 ff., 904. 540 Vgl. dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 513. 541 Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 100: „Am 18.04.2007 änderte der Vierte Senat bekanntlich die langjährige Rechtsprechung aller BAG-Senate zur Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln (BAG, in: NZA, 2007, S. 965). Bezeichnenderweise geschah dies ohne Vorlage an den Großen Senat. Was den Vertrauensschutz betrifft, wurde der Rechtsprechungswandel geradezu vorbildlich vorbereitet: Denn bereits am 14.02.2005 kündigte der Senat an, an seiner bisherigen Rechtsprechung künftig nicht mehr festhalten zu wollen. (BAG, in: NZA, 2006, S. 607).“

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

211

Mit der Verknüpfung von Gesetz und Fallreihen wird aber nur sichtbar, was im case-law-System und Gesetzesrecht schon angelegt ist. Grundlage dafür ist die Semantik der vom Recht verwendeten Sprache. Wenn man diese beschreiben will, muss man Gebrauchsbeispiele sammeln und vorsichtig systematisieren. Deswegen kann weder die Regel den Fallreihen entkommen, noch das Fallrecht der Regel. Einseitigkeiten müssen notwendig scheitern. Weder Gesetz noch Richter allein garantieren das Funktionieren der Rechtsordnung. Es ist vielmehr ihr Zusammenspiel in der Vernetzung von Entscheidungen unter der Vorgabe des Gesetzes als Form, kontrolliert durch die normative Bewertung. Im Recht verbindet die gerichtliche Entscheidung den Einzelfall mit dem Gesetz, indem sie eine Regel formuliert, deren Einheit als Form unterstellt wird, ohne konkret verfügbar zu sein. Es handelt sich also um eine Praxis, die im jeweiligen Einzelakt fortgeschrieben wird, ohne dass die Einheit all dieser Akte schon verfügbar wäre. Nur so kann Recht aus einer sich selbst stabilisierenden Praxis entstehen. Der Zusammenhang beruht auf einzelnen Episoden. Die Menge der bereits gelungenen Kommunikationserfahrungen bildet sozusagen ein Korpus von Präzedenzfällen, das betrachtet wird, als ob es eine Einheit bilden könnte. Man versucht, die gegenwärtige Kommunikation an die Kette bereits gelungener Kommunikation anzuschließen. Die Bindung an Vorentscheidungen bedarf also der methodischen Kontrolle. „Eine gute, redliche Methodik kann Dinge sehr transparent werden lassen. Andererseits kann durch methodische Winkelzüge auch eine problematische Rechtslage verschleiert werden. Für das Befristungsrecht sollte das Postulat daher lauten: Mehr Methodenehrlichkeit, weniger verdeckte Rechtsfortbildung, Obersätze, die auch das Stadium der Subsumtion überleben, es sei denn, es handelt sich um eine wirklich überzeugend begründbare Abweichung vom Normalfall. Und schließlich: Kein immer ausdifferenzierteres ‚distinguishing‘, sondern ein ehrliches ‚overruling‘ für falsch erkannter Judikate.“ 542

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung Die demokratische Vorgabe des Gesetzes ist die Sprache, die von allen Rechtsunterworfenen gesprochen wird. Ihre Steuerungsfähigkeit einzuschätzen ist eine zentrale Aufgabe nicht nur für die Rechtswissenschaft, sondern auch für die Sprachwissenschaft. Nur soweit die Sprache steuern kann, lässt sich eine Gesetzesbindung gegenüber den Gerichten einfordern und andererseits ein Willkürvorwurf begründen, wenn sie die sprachlichen Vorgaben missachten. Kann es also eine Gesetzesbindung in der Sprache geben?

___________ 542

Greiner, NZA-Beilage 2011, 117, 122.

212

E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Das Arbeitsrecht navigiert zwischen zwei Extremen: Das eine Extrem liegt darin, die Gesetzesbindung zugunsten des Richterrechts aufzugeben. Dies wird von der Literatur zurecht abgelehnt: „Hier wird die Brisanz des Themas der juristischen Methoden augenfällig. Es geht um die Macht- und Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgebung und Justiz. Die Vorstellung, die Gerichte seien bei der Rechtsanwendung in der Wahl ihrer Methoden frei, wie das die modernen Freirechtler verkünden, macht die Richter von Dienern der Gesetze zu Herren der Rechtsordnung. In der Demokratie sollte aber die bis dahin gültige Herrschaft von Menschen (Monarchen, Aristokraten, Oligarchen) soweit wie nur möglich durch die Herrschaft demokratisch verabschiedeter Gesetzes abgelöst werden. Das Grundgesetz hat mit der Gewaltentrennung genau dies zum Ziel. Wer die Gesetzesbindung generell als ‚unerfüllbar und Traum‘ bezeichnet, steht meines Erachtens nicht auf dem Boden dieser Verfassung.“ 543

Das andere Extrem wäre, die Gesetzesbindung zu fordern, ohne sagen zu können, wie sie eingelöst werden kann: „Der Umfang der richterlichen Normsetzungsaufgaben im Arbeitsrecht lässt aus meiner Sicht alle bisherigen Vorstellungen von der Gesetzesgebundenheit der Gerichte als überholt erscheinen. Der durch die genannten Faktoren bedingte Zwang zu richterlicher Normsetzung sowie die unverkennbare Regelungslust und Machtfreude mancher Obergerichte haben zu einem schleichenden Verfassungswandel geführt, der ungern wahrgenommen und diskutiert wird. Am Beispiel Arbeitsrecht wird eine generelle Tendenz deutlich: Der demokratische Rechtsstaat ist zu einem ‚Richterstaat‘ mutiert. Das ist keine Kritik, sondern eine schlichte Tatsachenfeststellung.“ 544

Die Gesetzesbindung muss also gegenüber der herkömmlichen Konzeption präzisiert werden. Im Arbeitsrecht genügt es nicht, mit einer wörtlichen Bedeutung zu argumentieren. Damit ginge man an seiner Realität vorbei. Man muss vielmehr komplexe Bedeutungsentwicklungen erfassen können. Herkömmlich betrachtet man die Gesetzesbindung des Richters als Rückbindung des Urteils an das Gesetz. Das ist auch vollkommen richtig. Allerdings muss man diese Rückbindung auch operativ erfassen können. Dazu ist die Figur der Rückbindung näher zu betrachten. Rhetorisch gesehen handelt es sich dabei um die Metalepse als Rückfall in das schon vorher Vorhandene. Diese Figur ist im Arbeitsrecht nicht unumstritten: „BVerfG und BAG gehen seit langem von dem Grundsatz aus: ‚Höchstrichterliche Urteile ändern die Rechtslage nicht, sondern stellen sie lediglich aufgrund eines prinzipiell irrtumsanfälligen Erkenntnisprozesses für den konkreten Fall fest. (Vgl. nur BVerfG, in: NZA 1993, S. 213 ff., 214; BAG, in: NZA 2006, S. 971 ff., 975.) Die Gerichte finden in der Rechtswissenschaft prominente Anhänger. So spricht etwa Claus-Wilhelm Canaris von der ‚zutreffende(n) rechtstheoretische(n) Vorstellung [...], dass das normativ geltende Recht durch den Spruch des Gerichts anders als bei einer Gesetzesänderung nicht mit konstitutiver Wirkung ex nunc umgestaltet

___________ 543 544

Rüthers, NZA-Beilage 2011, 101, 103. Ebd., 102.

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

213

wird, sondern dass nur deklaratorisch festgestellt wird, was an sich schon bisher rechtens war.“ 545

Rüthers kritisiert hier zu Recht die rhetorische Strategie des Rückfalls in das schon Vorhandene (Metalepse). Aber natürlich fordert auch er, dass die Rechtsanwendung ans Gesetz gebunden sei. Immer wenn ein Fall auf die Entscheidung zuläuft, muss das Gesetz also behaupten, schon da zu sein. Man beansprucht mit dem Urteil, zum ersten Mal das auszusprechen, was im Gesetz schon immer gedacht war. Die Kommentierung will den Wildwuchs des Diskurses beschneiden und beansprucht die Figur der Metalepse. Aber handelt es sich bei dem Igel, der am Ende der Ackerfurche steht, wirklich um denselben, der auch am Anfang stand? Ist die Metalepse also eine Rückkehr in den Ursprung oder die Erinnerung an einen Verlust? Kann das Gesetz in seine sprachliche Heimat zurückkehren, oder kann es nur versuchen, in der Wanderung durch wechselnde Kontexte eine Kontinuität zu finden? 1. Sind Sprachregeln der Rechtsanwendung vorgeordnet? Die Gerichte suchen nach einer Rechtfertigung für ihre Entscheidung. Der sprachliche Sinn soll sich aus dem Gesetz ergeben. Wie wird der Sinn des Gesetzes festgestellt? Nach Ansicht eines einflussreichen Teils der juristischen Methodenlehre soll diese Feststellung durch die Regeln der Semantik bestimmt sein. Diese Regel darf nicht schon Teil dieses Handelns selbst sein. Wir entscheiden nicht mitten in sprachlicher Bedeutung, sondern mit Hilfe sprachlicher Bedeutung. Sie ist uns vorgegeben, wie dem Steinmetz Hammer und Meißel. Daher postuliert die herkömmliche Lehre eine „Externalität der Sprache für das Recht“546. Diese Externalität bedeutet hier, dass die Sprache über den anderen juristischen Argumentformen als Rechtfertigungsinstanz operiert. Sie wird aus dem Entscheidungsvorgang ausgeklammert und als Steuerungs- und Kontrollinstanz gesetzt. Herauskommen soll dann eine Relation, die über die Berechtigung jener Interpretationen entscheidet. Die herkömmliche Lehre spricht hier ausdrücklich von der „Steuerungsfähigkeit der Sprache“547 und des näheren von der „Steuerungskraft der Semantik“548. ___________ 545

Höpfner, NZA-Beilage 2011, 97, 100. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, Baden-Baden 2004, S. 282; dagegen Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 58 ff. 547 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, Baden-Baden 2004, S. 30; dagegen Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 128 ff. 548 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, Baden-Baden 2004, S. 21. 546

214

E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Die angenommene „semantische Normativität“ soll das „Fundament semantischer Grenzen“ für die Gerichte abgeben. Semantische Korrektheit rechtfertigt den Sprachgebrauch des urteilenden Gerichts. Der Richter entscheidet auf der „Basisstruktur einer Wortgebrauchsregel W“, welche lautet: „Für alle Objekte x gilt: Wenn x die Eigenschaften M hat, dann ist x unter den Gesetzesbegriff T zu subsumieren. Formalisiert: W: (x) (Mx → Tx).“ Danach seien Regeln „Normen, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können“,549 also „definitive Gebote“.550 Das kann natürlich weder methodisch noch praktisch funktionieren. Das zentrale Problem ist die praktische Frage der Regelbeschreibung. Die Vorstellung von Kommunikation als Tätigkeit, die sich darauf beschränkt, offenbar fertige Absichten mit Hilfe eines vorgegebenen Codes zu transportieren, erweist sich in der Praxis als nicht einlösbar. Die Regelsemantik neigt dazu, „die System- und Regelhaftigkeit ihres Phänomenbereichs zu axiomatisieren und Universalien auch dort zu postulieren, wo tatsächlich nur historische oder gesellschaftsformativ bedingte Formen des (Sprech-)Handelns vorliegen. Für eine Analyse des realen Sprachgebrauchs taugen ihre formulierten Gesetzmäßigkeiten nicht, denn diese erlauben nur Hinweise dieses Typs: ‚Da eine Person A x erfragt, weiß sie x nicht – vorausgesetzt, es liegen Normalbedingungen der Rede vor.‘ Und ob solche Normalbedingungen in einem gegebenen Fall vorliegen oder nicht, wird [...] zur kontingenten Angelegenheit erklärt; Systematisierungsmüll [...].“551

In der Diskurstheorie des Rechts wird dieses Problem der Regelformulierung unter dem verkürzenden Stichwort „Defeasibility“ rubriziert.552 Nachdem es erwähnt wurde, wird es sogleich beiseitegeschoben mit folgender Formulierung: „Im Vorgriff auf den noch zu entwickelnden Begriff des tatsächlichen Diskurses besteht eine diskurstheoretische Möglichkeit zu erklären, warum Regeln defeasible sind, also die Ausnahmen zu Regeln nicht aufzählbar sind, darin, dass uns nur der tatsächliche Diskurs mit beschränkten Erkenntnismöglichkeiten dessen, was richtig ist, zur Verfügung steht. Diese Überlegung zeigt, dass Regeln nur dann endgültige konkrete Handlungsanweisungen beinhalten können, wenn die Voraussetzungen des in allen Hinsichten idealen Diskurses vorlägen, wenn wir also etwa unendlich viel Zeit hätten und alles wüssten.“553

Die Sprachregel ist also entweder nicht nötig, weil die Bedeutung bekannt oder unstreitig ist, oder aber, wenn sie benötigt wird, wegen Defeasibility nicht verfügbar. Dagegen werden von der Theorie der juristischen Semantik Vorkehrungen im Begriff der Bedeutung getroffen. Das ist die Rolle der Begriffe ___________ 549

Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1994, S. 76. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. Aufl., München 1994, S. 120. 551 Gloy, Unbehagen an der Linguistik, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 1984, S. 97 ff. (104 f.). 552 Vgl. dazu C. Becker, Begründen und Entscheiden, Baden-Baden 2008, S. 135. 553 Becker, ebd., S. 135, Fn. 475. 550

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

215

„Vagheit“ und „Mehrdeutigkeit“554. Dem liegt noch immer die frühe analytische Auffassung von Sprache zugrunde, nach der Bedeutung eine mitgebrachte Eigenschaft von jeweils einzelnen Wörtern sei. Wegen des Fehlens der Anwendungsregel zur Sprachregel kommt man mit diesen unterkomplexen Voraussetzungen meist zu dem Schluss, dass Unbestimmtheit oder Mehrdeutigkeit vorliegt. Die fehlende Bedeutung wird dann durch andere sprachliche Maßnahmen hergestellt, die als Präzisierung begriffen werden sollen. Vor dieser Präzisierung hat man aber die fraglichen Ausdrücke von ihrem realen Kontext und ihrer Verwendungssituation isoliert. Das heißt, die Entstehung des Problems von Mehrdeutigkeit und Vagheit setzt voraus, dass zunächst die Semantik von der Pragmatik aktiv getrennt wird. Pragmatik heißt nämlich, sich Bedeutung aus den Beziehungen zu erschließen, in denen eine Äußerung steht und diese wiederum mit entsprechenden Überzeugungen in Einklang zu bringen. Wenn man an den Begriffen Vagheit und Mehrdeutigkeit festhalten will, muss man sie anders fassen. Sie hängen von dem Zweck ab, zu dem Ausdrücke in der Verständigung verwendet werden, und damit von den Personen und Umständen, die dabei eine Rolle spielen. Vagheit und Mehrdeutigkeit sind allein pragmatisch begründet. Es ist ja nicht etwa eine Verwaschenheit des Wortlauts, die den Streit provoziert hat, sondern eine Störung im gesellschaftlichen Zusammenleben. Der Normtext weist also nicht ein „zu wenig“, sondern ein „zu viel“ an Klarheit auf. Es gibt mehrere vollkommen verständliche, aber sich gegenseitig ausschließende Lesarten. Mehrdeutigkeit und Vagheit sind damit keine Eigenschaften der Bedeutung. Sie sind heuristische Begriffe, mit denen man Konfliktkonstellationen im semantischen Streit beschreiben kann, und somit geht es letztlich um Pragmatik und nicht um Erkenntnisprobleme. Die Pragmatik der Sprache soll aber abgeschnitten werden zugunsten von Spekulationen über Prinzipien und den Rechtsbegriff. Die Sprachregel als Grundlage funktioniert also nicht. Sobald die Regel streitig wird, brauchen wir eine weitere, die ebenso wenig verfügbar ist. Dieser unendliche Regress soll beendet werden durch den Hinweis auf eine empirische Regelmäßigkeit. Diese sei im Wörterbuch oder in unserer eigenen Sprachkompetenz zu finden. Der Glaube an Regeln wird damit ersetzt durch den Glauben an objektive Regelmäßigkeiten. Aber weder das Wörterbuch, noch empirische Befragungen können, wie gezeigt, dem Sprecher eine vorgeordnete Regel liefern. Deswegen muss man sich von der Alternative zwischen Regulismus und Regularismus verabschieden, um einen neuen Ansatzpunkt zu suchen.

___________ 554

Vgl. dazu grundlegend Koch, ARSP, Beiheft Nr. 14, 1978, 59 sowie Rüßmann, Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzesbindung, in: Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann (Hrsg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003, S. 135 ff.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

2. Bedeutungsfestsetzung oder die Sprache als Beute Die Sprache ist weder Definitionskalender noch Regelmaschine, welche Ja/Nein-Antworten liefert. Damit ist sie überfordert. Aber manche Juristen sind darüber nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil. In der Sprache muss man mit jedem reden. Das stört den autoritären Stil der Rechtsfindung. Deswegen ist man froh, die Sprache durch Überforderung entsorgen zu können. Die zur Sicherung der Wortlautgrenze gesuchte Sprachregel kann also ruhig vage bleiben. Die Sprache liefert eben keine Ja-/Nein-Antworten, immerhin haben wir sie gefragt. Daraus wird dann gefolgert, dass die Sprache keinerlei Kontrollfunktion für die Gesetzesbindung ausüben könne, sondern diese durch Wertungen der Juristen sichergestellt werden müsse555. Die Sprache des Gesetzes wird damit zum Privateigentum der Juristen. Aber ist die Sprache des Gesetzes wirklich so inhaltslos, dass sie zur Beute ihrer Anwender werden muss? Der radikalste Versuch zur Entsorgung von Sprache und damit sprachlicher Aushandlung aus der Rechtsfindung ist der Dezisionismus Schmitts. Danach ist im Urteil Bedeutung nichts und Entscheidung alles. Diese Position versucht man heute mit sprachskeptischen Argumenten wiederzubeleben. Juristen verstehen Sprachregeln häufig als Konventionen556. Die Auszeichnung einer Konvention setzt aber einen beschreibbaren Kontext voraus. Brauchen wir also die Totalität der Sprache, um die Angemessenheit oder Richtigkeit einer Bedeutungszuschreibung beurteilen zu können? Wenn das so wäre, dann ginge die spezifische Bedeutung eines Zeichens in einem einzigen nicht beherrschbaren Kontext unter. Aber mit der Behauptung „Es gibt kein außerhalb des Kontextes“557 setzt man nicht einen einzigen grenzenlosen Zusammenhang, sondern eine Vielzahl von Zusammenhängen. Keiner dieser Kontexte erreicht seine Bestimmtheit in sich selbst, sondern benötigt dazu den Umweg über andere. Damit gibt es einen Verweisungsraum des Textes, welche nicht die Spezifität des jeweiligen Zusammenhangs beseitigt, sondern nur begrenzt. Wenn man heute mit den Mitteln der Korpuslinguistik die Bedeutung eines Wortes untersucht558, so betrachtet man die Wörter, die in der Umgebung dieses Wortes auftauchen. Dann die Umgebung der Wörter, die in der Umgebung aufgetaucht sind. So ergeben sich allmählich Strukturen (vgl. oben unsere Kontextanalyse zum Wort „Arbeitnehmer“, C). Natürlich kann man die Umgebung ___________ 555 Zum Scheitern der Wortlautgrenze Binz, Gesetzesbindung. Aus der Perspektive der Spätphilosophie Ludwig Wittengensteins, Basel 2008, S. 97 ff. 556 Kritisch dazu Sang-Don Yi, Wortlautgrenze, Intersubjektivität und Kontexteinbettung. Frankfurt/Main 1992, S. 80 ff. 557 Derrida, Limited Inc., Wien 2001, S. 211. 558 Felder/Müller/Vogel, Korpuspragmatik. Paradigma zwischen Handlung, Gesellschaft und Kognition, in: Felder u.a. (Hrsg.), Korpuspragmatik, Berlin/Boston 2012, S. 3 ff.

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

217

nie abschließend beschreiben. Der totale Kontext ist nicht verfügbar (wenn dem so wäre, müssten Wörterbücher nur einmal geschrieben werden). Aber man kann die Umgebung eines Wortes relativ zu einem bestimmten Korpus beschreiben, etwa das Wort „Menschenwürde“ im Korpus der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen. Dann kann man damit die Umgebung des Wortes „Menschenwürde“559 in einem Medienkorpus vergleichen. Wir finden dabei niemals die Bedeutung heraus, aber doch sehr viele Bedeutungen, die man dann auf guter, transparenter Grundlage diskutieren kann. Aufgegeben wird heute ein Begriff von Bedeutung, der etwas in der Wiederholung nur erneut abbildete560. Zeichen unterscheiden sich nicht nur von anderen Zeichen, sondern auch von sich selbst561. Sie sind in der Selbstunterscheidung ein Verschiedenes. Das Zeichen muss also einen Umweg über sich selbst zurücklegen, um sich zu wiederholen. Damit ist eine ideale Identität ausgeschlossen, welche unverändert ewig wiederkehrt. Aber es sind gleichzeitig die Möglichkeitsbedingungen für eine wiedererkennbare Identität des Selben angegeben562. Damit werden also Logik und Wahrheitsbedingungen nicht über Bord geworfen. Verschwindet durch die Aufpfropfung des Zeichenkörpers auf einen neuen Kontext wirklich die Bedeutung oder wird sie nur vervielfältigt? Nur ein grenzenloser Kontext würde die Spezifität von Bedeutung aufheben. Eine Vielzahl von Kontexten ermöglicht sie gerade. Es geht also nicht um einen undifferenzierten Text ohne Wahrheitswert, sondern im Gegenteil um die Wahrheit von Differenzen. Diese Wahrheit ist zwar mit einer Nichtabschließbarkeitsklausel versehen. Aber dieser Rest an Unvorhersehbarkeit verbietet nur eine der Argumentation entzogene Wahrheit, nicht dagegen eine Wahrheit relativ zum Stand der vorgebrachten Argumente und in Rechnung gestellten (und damit immer selektiven) Kontexte. Wenn man heute an der klassischen Metaphysik kritisiert563, dass diese die Bedeutung dem Zeichenkörper vorordnet, bezweckt sie keine einfache Umkehrung der Hierarchie, sondern eine Verschiebung564. Bedeutung hat im Zeichenbegriff ihren Platz als spezifische Spurung des Zeichens aus seinen Differenzen zu sich selbst und anderen Zeichen. Diese Selbstverortung des Zeichens durch Differenzierung ist seine Bedeutung. Abgeschafft ist nur das transzendentale ___________ 559 Vogel, Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Felder u.a. (Hrsg.), Korpuspragmatik, Berlin/Boston 2012, S. 314 ff. 560 Derrida, Dissemination, Wien 1995, S. 187. 561 Derrida, Randgänge der Philosophie, 2. Aufl., Wien 1999, S. 42. 562 Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1983, S. 373; Coendet, Rechtsvergleichende Argumentation, Tübingen 2012, S. 38. 563 Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/Main 2003, S. 30 f. 564 Coendet, Rechtsvergleichende Argumentation, Tübingen 2012, S. 41.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

Signifikat einer wörtlichen Bedeutung, die sich immer selbst gleich bleibt und jedem Sprechen vorgeordnet wäre. Wenn es keine Steuerung durch Regeln gibt, dann kann man die Anwendung nicht mehr ohne weiteres hierarchisch dem Gesetz unterordnen. Heute will man die Normativität des Gesetzes nicht als Kraft oder als Wirkung verstehen, sondern rekursiv durch wiederholte Bezugnahme. Normativität wird damit zu einem passiven Konzept565 und die Trennung von Gesetz und Anwendung aufgegeben. Tatsächlich kann man das Verhältnis von Norm und Anwendung grundsätzlich gar nicht anders fassen. Wie Wittgenstein schon für den Begriff der Regel gezeigt hat, können Normen nie in eine irgendwie geartete äußerliche Beziehung zu ihrer Verwendung gesetzt werden566. Das Befolgen leitet sich weder aus der Regel ab, noch zeichnet die Regel ihre Befolgung vor: „Die Regel steht ihrer Aktualisierung nicht als eine Instanz gegenüber, die außerhalb dieser Aktualisierung Bestand hätte. Es gibt kein Auseinanderstehen zwischen Regel und Aktualisierung derart, dass man betrachten könnte, inwieweit die Aktualisierung der Regel gerecht wird.“567

Vielmehr zeigt sich die Regel erst in der Praxis ihrer Anwendung. „Regel“, sagt Wittgenstein, ist das, was „sich, von Fall zu Fall der Anwendung […] in dem äußert, was wir ‚der Regel folgenʻ und was wir ‚ihr entgegenhandelnʻ nennen.“568 Und das wiederum entscheidet sich daran, welche Ereignisse wir als die Anwendung von Regel auszeichnen569. Indem wir dies tun, entziehen wir diesen Bezug unserem Handeln, „entäußern“ ihn, um diesem durch den Verweis auf die andere Anwendung als Fall von Regel ein Maß zu setzen. Zugleich hat das normativ anleitende Moment darin keinen anderen Sitz als in diesem Verhältnis der Beobachtung. Ganz analog dazu, dass wir die Welt nicht wahrnehmen, sondern sie uns durch die Beobachtung schaffen, ganz so befolgen wir nicht Regeln, sondern wir machen sie uns mit der Frage der Anwendung zu einer solchen. Wir machen „es uns zur“ Regel, in dieser und keiner anderen Weise vorzugehen. ___________ 565 Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, Weilerswist 2012, S. 204, Skizze 213 und 219. 566 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/Main 1984, § 195 ff.; J. McDowell, Wittgenstein on Following a Rule, in: Synthese 58, 1984, S. 325 ff. 567 Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Kern/Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/Main 2002, S. 296. 568 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/Main 1984, § 201. 569 Davidson, Die logische Form von Handlungssätzen, in: Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt/Main 1990, S. 155 ff.

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

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In der fallorientierten Arbeit der Gerichte zeigt sich ein Verhältnis von Immanenz und Transzendenz, welches Normativität konstituiert570. Die Anwendung greift nicht direkt auf die Norm zu. Vielmehr wird diese erst eingesetzt: „Die Norm wird dadurch erneuert, dass der neue Fall in sie eingetragen wird. Sie tritt dem Fall nicht als gegebene Größe gegenüber. Der Eintrag macht sie zu einer neuen, immanenten Größe.“571

Dies kann aber nur die eine Seite der Medaille sein. Zwar ist damit das Verhältnis von Norm und Fall grundsätzlich als ein internes markiert. Bliebe es aber dabei, so fielen allerdings Norm und Anwendung amorph in sich zusammen: „Im Sinne der Immanenz gibt es keinen Abstand zwischen Norm und Anwendung. Es ist unmöglich, zwischen die Norm und ihre Anwendung zu treten und zu überprüfen, ob das eine auf das andere passt oder umgekehrt.“572

Das Normativität allein ausmachende, interne Verhältnis von Anwendungsfall und Normauszeichnung hat sich seiner selbst gewahr zu werden. Fälle lassen sich ohne Regeln nicht beurteilen573. Die Blindheit des Normativen in der Anwendung ist also durch Beobachtung der darin liegenden Beobachtung von Handeln als normativ gehaltvoll aufzuheben. Genau hier kommt die Transzendenz der Norm gegenüber dem Fall ins Spiel. Wenn die Norm angewendet wird, verschwindet sie im Fall. Aber wenn man ihre Anwendung als geglückt und vorbildlich beobachtet, wird sie als Anwendung eines Anderen wieder vom Fall abgehoben574. Wenn sich Gerichte also für das Verständnis der Gesetze an Vorentscheidungen orientieren, so tun sie das, weil es gar nicht anders geht. Man kann die Regel nur in der Anwendung anderer beobachten. Sprache ist die Verknüpfung gelungener Kommunikationsakte unter mitlaufender normativer Bewertung. Den normativen Aspekt der Orientierung an Vorentscheidungen kann ein dezisionistisches Modell nicht aufnehmen. Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit sind im Dezisionismus durch das Ereignis der Rechtserzeugung nur zeitlich, aber nicht inhaltlich verknüpft575. Autorität oder Richtigkeit spielen dafür keine Rolle, weil Sinnzuschreibungen zu einem Normtext nicht empirisch zu bestimmen sind. Rein empirisch kann man die Bedeutung eines Textes tatsäch___________ 570 Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Kern/Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/Main 2002, S. 296 ff. 571 Ebd., S. 296. 572 Ebd. 573 Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, Weilerswist 2012, S.241 f. 574 Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: Kern/Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/Main 2002, S. 297. 575 Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, Weilerswist 2012, S. 179 ff.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

lich nicht sinnvoll beschreiben. Die Datenmasse einer linguistischen Korpusanalyse kann ohne gute Vorbereitung jede Frage erschlagen576. Es bedarf also für sinnvolle Analysen einer strukturierenden Vorbereitung. Empirisch und normativ kann man die in den Kontexten gefundenen Belege für eine bestimmte Lesart argumentativ bewerten. Die normative Dimension der Sprache wird vom Dezisionismus allerdings geleugnet577. Der Ursache-Wirkungsgedanke von Regel und Anwendung muss nicht nur umgekehrt, sondern auch verschoben werden, von der Regelebene auf die Fallebene oder von der langue auf die parole. Dabei zeigt sich Folgendes: Ein Normtext hat tatsächlich nicht eine Bedeutung. Aber deswegen hat er nicht gar keine Bedeutung. Abzulehnen ist ein transzendentales Signifikat. Beim Schach wäre dies eine Figur, die alle anderen schlägt und selber nicht geschlagen werden kann. Damit könnte das Spiel nicht mehr funktionieren. Die wörtliche Bedeutung ist solches transzendentales Signifikat, welche einen bestimmten speziellen Kontext und eine bestimmte Verständnisweise sakrosankt macht. Festhalten an der Fiktion einer ontisch festgeschriebenen wörtlichen Bedeutung ist Fundamentalismus in der Methodik. Diese Konstruktion ist im Lichte der heutigen Kritik nicht mehr haltbar. Aber deswegen kann man nicht Bedeutung und Sprachregeln abschaffen. Es muss in jedem Spiel einen offenen Ereignisraum geben, in dem man argumentieren kann. Das Gesetz bindet nicht durch seinen Inhalt, sondern als Form. Aber diese Form ist nicht leer, sie ist übervoll mit gegenläufigen Lesarten. Dieser Streit ist zu klären. Sonst hätte ein Verfahren keinen Sinn. Der Richter kann sich auch mit Hilfe von Präjudizien für die Gesetzesbindung nicht an einer vorgegebenen Regel orientieren. Er hat nur Beispiele. Und genau solche Beispiele liefern auch Kommentare, Präjudizien und Kookkurrenzanalysen. Aber wenn die Beispiele, an denen der Richter sich orientieren kann, nicht homogen sind, bedarf es einer Auswahl. Diese muss der Richter selbst treffen, argumentativ vertreten und dabei die Kette der Verwendungsbeispiele und Vorentscheidungen selbst knüpfen. Er kann nicht einfach in die Tradition einrücken wie eine Truppe in die Kaserne. Schon bei schriftlicher, und erst recht bei computerunterstützter Überlieferung macht allein die Vielzahl der erfassten Entscheidungen deutlich, dass Tradition nicht homogen ist, sondern heterogen, umstritten und widersprüchlich. Hier geht es den Gerichten nicht anders als denjenigen, die ein Wörterbuch erstellen –: sie können zunächst an der Komplexität der Sprache verzweifeln und müssen dann ihre Befunde gewichten, nach Fragestellungen ordnen und andere Strategien anwenden, um ___________ 576 Lobenstein-Reichmann, Medium Wörterbuch, in: Müller (Hrsg.), Politik (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, Berlin 2007, S. 279 ff., 297 ff. 577 Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, Weilerswist 2012, S. 207 und durchgängig.

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

221

diese Komplexität abzuarbeiten. Solche Strategien ergeben sich zum Beispiel aus anerkannten Auslegungsregeln, aus methodenrelevanten Normen der Verfassung und vor allem aus der Argumentation der Beteiligten im Verfahren. 3. Bedeutungsfestlegung oder die Sprache als Überprüfungsinstanz Im Recht gibt es eine Grundparadoxie, die darin besteht, dass wir an Normen gebunden sind, die wir selbst schaffen. Ein solches Paradox muss praktisch entfaltet werden. Dies geschieht, indem wir die Norm als Form gemeinsam voraussetzen, aber über ihren Inhalt streiten. Zwischen dem „Dass“ der Norm und dem „Was“ ihres Inhalts kann nicht die Erkenntnis, sondern nur die Praxis der Argumentation eine vorläufige Brücke schlagen. Normativität ist kein dem Handeln vorgegebener Maßstab, sondern eine perspektivische Form, welche die Kommunikationsteilnehmer sich gegenseitig unterstellen. Die Verwendung von Wörterbüchern und Kommentaren ist Einstieg in die Debatte und nicht deren Grenze. Früher war man bei der Analyse der Sprache auf Introspektion angewiesen und es gab als Grundlage für die Sprachbeschreibung nur wenige Gebrauchsbeispiele. Heute können über den Computer eine große Zahl von Gebrauchsbeispielen erfasst und formseitig vorstrukturiert werden. Damit sieht man viel deutlicher, was tatsächlich in der Sprache geschieht. Auch in der Sprache des Rechts. Juristen beschreiben Begriffe, indem sie die Worte betrachten, die in ihrer Umgebung auftreten. Beim Begriff „Versammlung“ sind dies „Personenmehrheit“, „kommunikativer Zweck“ usw. Diese Beschreibungen werden aufgenommen und eventuell fallbezogen weiterentwickelt. Allerdings sind Juristen bei diesen Beschreibungen häufig zu stark von Einzelfällen beeindruckt und vergessen den Zusammenhang. Das ist die Gefahr des Impressionismus. Die Korpuslinguistik kann durch methodische geleitete Suchanfragen diesen Impressionismus korrigieren und die subjektive Perspektive (Introspektion) zumindest kontrastieren. Damit wird der tatsächliche Zusammenhang juristischer Debatten ohne voreilige Parteinahme sichtbar. Die eigentliche Stellungnahme, ob diese Weiterentwicklung wünschenswert ist oder nicht, wird damit nicht vorentschieden. Aber niemand kann dann noch behaupten, er sei die herrschende Meinung bzw. den Gerichten eine Meinung unterstellen, die sie gar nicht vertreten. Die leicht zugänglichen Instrumente der Korpusanalyse verschaffen der juristischen Diskussion also eine sicherere Grundlage. Die scheinbare Objektivität von Wertungen aus Gerechtigkeit, Rechtsidee usw. wird ersetzt durch die Objektivität, die sich in der juristischen Diskussion herausbildet. Auch die Korpuslinguistik kann natürlich die Begriffe des Rechts nicht definieren. Aber sie führt zu einer besseren Grundlage für vorläufige Umschreibungen der gesetzlichen Begriffe, die dann natürlich am Fall zu diskutieren sind. Korpuslinguistik wird in einigen Jahren Teil der Entscheidungsarbeit von Gerichten sein. Diese Entwicklung führt nicht dazu, dass wir

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

den Gesetzespositivismus durch einen Richterpositivismus ersetzen. Das Recht ist weder im Gesetz, noch in der Wissenschaft oder bei den Gerichten vorgegeben. Es muss immer diskutiert werden. Aber diese Diskussion hat Anschlusszwänge, in dem, was wir bisher schon für Recht gehalten haben. Diese in systematischen Sprachgebrauchsmustern sich niederschlagenden Anschlusszwänge macht die Korpuslinguistik sichtbar. In der juristischen Diskussion ist zu prüfen, ob die Verknüpfungen mit Beispielen einer normativen Bewertung standhalten, oder anders formuliert, ob sie zu einer Traditionslinie verknüpft werden können, die auch künftigen Bewertungen standhalten wird. Das schließt natürlich nicht aus, dass die in Wörterbüchern oder Kookkurrenzanalysen nachgewiesenen Beispielen aus der Alltagssprache so weit vom Fall weg sind, dass sie ihn nicht zu beeinflussen vermögen. Aber trotzdem bildet ihre Summe doch ein Potential von Argumentationsmöglichkeiten, die im Verfahren abgearbeitet werden müssen. Die Wortlautgrenze ist keine einfache Größe, sondern eine komplexe Größe. Sie besteht aus juristischer Methodik, den Präjudizien und der Argumentation der Verfahrensbeteiligten und alles vollzieht sich in der Sprache. Mit dem Vorschlag, einen Normtext dem Verfahren zugrunde zu legen und ihn in einer bestimmten Weise zu lesen, wird dieser Normtext im Verfahren als symbolische Verkörperung von Recht sichtbar. Jetzt kann er mit anderen Lesarten besetzt werden; über die konkurrierenden Weisen, diesen Text zu verstehen, kann dann im Verfahren gestritten werden. Vor Gericht geht es nicht um Verständigungsprobleme, die man unter Berufung auf die gemeinsame Sprache beilegen könnte. Beide Parteien haben das Gesetz verstanden. Nur in gegensätzlicher Weise. Der Rechtsstreit ist die Krise von Kommunikation par excellence. Auf eine Formel gebracht sind die Parteien in den „Kampf um das Recht im Raum der Sprache“ verstrickt578. Die Sprache gibt keine den Parteien gemeinsame Verständigungsbasis ab. Vielmehr steht sie als Einsatz selbst auf dem Spiel. Die Parteien wollen sie durch ihr jeweiliges Verständnis vereinnahmen und dieses so als Recht im anstehenden Fall durchsetzen. Die Bedeutung der betroffenen Normtexte und Begriffe löst sich in eine Vielzahl konträrer Bedeutsamkeiten auf. Dass Sprache umstritten ist, heißt aber nicht, dass die Akteure im Rechtsstreit hoffnungslos aneinander vorbeireden müssten. Im Gegenteil. Kompetitives Handeln wie der semantische Kampf ist Inter-Aktion auf dem höchsten Niveau der wechselseitigen Angewiesenheit der einzelnen Züge der Sprecher aufeinander. Jedes Missdeuten wird sofort mit dem Misserfolg bestraft. Um also ___________ 578 Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Rechtsarbeit, Berlin 1997, S. 68 ff.

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

223

im Rechtsstreit bestehen zu können, sind die Parteien darauf angewiesen, genau auf den anderen zu hören. Ein Konflikt ist soziologisch gesehen ein hoch integriertes System von Kommunikation579. Von zentraler Wichtigkeit ist vor allem, dass jede der beiden Seiten gewinnen will. Dazu muss sie allerdings die Position des Gegners verstehen und antizipieren, denn nur dann findet man Wege, sie argumentativ anzugreifen. Durch diesen ganzen Vorgang löst sich der Streit von der konkreten Person ab und wird in die Welt des Rechts transportiert, der tatsächliche Streit wandelt sich zum Rechtsstreit. Bisher hat man versucht, die Arbeit des Richters von der Sprache her zu kontrollieren. Die Härte des Gesetzes bestehe darin, dass der einzelne Sprecher und seine Lesarten von der ihm vorgeordneten Sprache her korrigiert würden. Deswegen, weil diese Sprache von den Individuen nicht beeinflusst werden könne, bedürfe es mit der Härte des Gesetzes einer Korrektur durch eine außergesetzliche Gerechtigkeit580. Diese einseitige Auffassung der Sprache hindert aber daran, das Problem der Gerechtigkeit aus dem Gesetz heraus zu begreifen. Die Sprache gibt uns das Gesetz nicht vor. Mit ihr geht es uns genau wie mit der Welt. Niemand hat die versionslose Beschreibung. Das gerichtliche Verfahren zwingt den Idiolekt der Beteiligten zur Reflexion. Sie erfahren, dass sie nur eine Sprache haben, aber diese nicht ihre eigene ist581. Die Faltung des Konflikts in die Sprache des Rechts faltet auch die Sprache der Beteiligten. Die Gewalt des Gesetzes besteht darin, dass sie den selbstgenügsamen Lauf der Autoaffektion stört582 . Ich muss um zu gewinnen, die Position des anderen verstehen und mich jedenfalls ein Stück weit darauf einlassen. Auch der Gegner spricht. Aber anders als ich. Die Ordnung der Sprache liegt also nicht im Subjekt, sie liegt auch nicht im objektiven Geist, sie konstituiert sich vielmehr in einem Netzwerk von Relationen, die zwischen den Individuen bestehen und sich laufend verändern583. Das Verfahren ist damit eine List der Sprache unter latenter Hilfe der Gewalt. Durch aktualisierte Gewalt würde diese List zerstört. Der Richter kann also Recht nicht einfach erzeugen. Die Beteiligten haben im Verfahren subjektive Rechte wie effektiven Rechtsschutz, Justizgewährungsrecht und rechtliches Gehör. Das Justizgewährungsrecht soll ein faires Verfahren und Waffengleichheit der Prozessparteien gewährleisten. Vor allem aber das rechtliche Gehör ___________ 579 Luhmann, Konflikt und Recht, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt/Main 1999, S. 101. 580 Ladeur/Augsberg, „Der Buchstaben tödtet, aber der Geist machet lebendig“?, in: Rechtstheorie 2009, S. 438 ff. 581 Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/Main 2003, S. 13. 582 Ladeur/Augsberg, „Der Buchstaben tödtet, aber der Geist machet lebendig“?, in: Rechtstheorie 2009, S. 431 ff., 458. 583 Ebd., S. 465.

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E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

gibt den Beteiligten die Möglichkeit, den Fortgang des Verfahrens zu beeinflussen. Eine Entscheidung, solange sie eine Rechtsentscheidung und keine bloße Gewalt sein will, muss dem Betroffenen Einfluss auf die Sprache geben, die in der Entscheidung an die Stelle seiner eigenen tritt. Wenn dagegen diese Sprache schon vorher feststeht, haben wir kein Recht vor uns, sondern nur sprachlich verbrämte Gewaltsausübung. Der Richter muss also den Streit der Parteien so gegeneinander setzen, dass er in seiner Begründung die beste Lesart des Gesetzes validieren kann. Nur dann lässt er Recht geschehen. Ganz so wie sich die Beobachtung nicht beobachten kann, kann die Entscheidung sich nicht entscheiden. Und hier droht sich nun jener Abgrund zu öffnen, über den nach Carl Schmitt nur der dezisionistische Sprung helfen kann. Die Modellierung des Urteils als Rechtsanwendung nutzt hier nichts. Das war die vergebliche Mühe des Positivismus, die zugleich gegen ihren Willen gezeigt hat, warum sie scheitern musste. Denn der Jurist als Entscheider muss sich unsichtbar machen, damit sich die Entscheidung als Rechtsanwendung vollziehen kann. Das Urteil wird ihm zugerechnet. Es darf aber nicht seine Entscheidung sein. Er darf sie allenfalls vollziehen, weil sie sonst seine Entscheidung über Recht und nicht die Entscheidung des Rechts wäre. Das Entscheidungsparadox lässt sich nicht aufheben, aber bearbeiten: „Die Entscheidung muss über sich selbst, aber dann auch noch über die Alternative informieren, also über das Paradox, dass die Alternative eine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung).“584

Mit der Befragung des Entscheiders als „re-entry“, mit einer Beobachtung, die ihn unterscheidet auf die Frage hin, ob seine Entscheidung von Recht zu Recht oder Unrecht besteht, kann der kommunikative Zug des Entscheidens zum Tragen gebracht werden. Und zwar in den beiden Richtungen des Vorher und Nachher. Die Entscheidung kann aber die Last der Entparadoxierung des Rechts nicht alleine tragen. Denn als Entscheidung macht sie ja deutlich, dass auch anders entschieden werden könnte. Deswegen braucht sie die Hilfe der Begründung. Diese stellt eine Hilfssemantik dar und ist als Supplement der ideale Ansatzpunkt einer Dekonstruktion585. Dagegen setzen Carl Schmitt und Niklas Luhmann vor seiner Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion die Stabilität des Rechts. Argumentation „besitzt für die Entscheidung selbst keinerlei Bedeutung ___________ 584

Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000, S. 140. Vgl. zum Sprachgebrauch „Zusatzsemantik oder Supplemente“ Luhmann, Metamorphosen des Staates, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/Main 1999, S. 101 ff., 107. Vgl. dazu auch Werber, Vor dem Vertrag, in: Wirth (Hrsg.), Performanz, Frankfurt/Main 2002, S. 366 ff., 381. 585

III. Wortlautgrenze ohne wörtliche Bedeutung

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und deckelt nur nachträglich das Begründungsloch.“586 Stabilität des Rechts soll garantiert werden, indem man die Entscheidung von der Argumentation im Verfahren und auch ihrer Zusatzsemantik, dem Supplement der Begründung, radikal abtrennt. Aber lässt sich das Ziel der Stabilität wirklich erreichen? Ist die richterliche Entscheidung überhaupt in der Lage, den Aufschub der Bedeutung durch die Kontexte und damit das Gleiten der Schrift ruhig zu stellen? Die Begründung und damit die Argumentation lässt die feste Regel des Rechts nicht unangetastet, sondern verschiebt sie: „Dies Dilemma des Einschlusses des Ausgeschlossenen, dies Problem des Systemgedächtnisses, das auch die nichtaktualisierten Möglichkeiten festhält, wird als Text verbreitet. Das multipliziert die Möglichkeiten, den Text anzunehmen oder abzulehnen, das heißt: die Entscheidung als Prämisse für weitere Entscheidungen zu verwenden – oder auch nicht. Die Information, also die konstative Komponente des Textes, die besagt, dass der Text kraft seines Ursprungs verbindlich ist, besagt noch nicht, dass er im weiteren Verlauf als verbindlich behandelt wird. Dazwischen vergeht Zeit, und Zeit heißt unabwendbar: Offenheit für Einflüsse aus dem unmarkierten Bereich des Ausgeschlossenen. Von der Texttheorie her gesehen, bedeutet dieser Befund, dass die im Text vorgesehenen Unterscheidungen dekonstruierbar sind und dass der Text selbst dazu den Schlüssel liefert.“587

Die Dekonstruktion ist nicht eine äußere Kritik des Rechts, welche von romantischen Individuen ausgeht588. Sie ist nicht nur innerer, sondern auch konstitutiver Moment des Rechts. Man muss die Differenz zwischen der Entscheidung als Behauptung von Recht und ihrer Kommunikation als Entscheidung, die auch anders sein könnte, ernst nehmen. Das performative Element der Entscheidung lässt sich vom konstativen Element der behaupteten Rechtserkenntnis nicht festbinden. Darin liegt eine Stärke des Rechts. Es kann sich damit über Irritationen an gesellschaftlichen Strukturwandel anpassen. Die Begründungstexte der Gerichte speichern nicht einfach Vergangenheit, um sie der Gegenwart als mit sich identischen Sinn zur Verfügung zu stellen, sondern sie halten nicht aktualisierte Möglichkeiten fest und stellen sich neuen Kontexten zur Sinnverschiebung durch Lektüre bereit. Sie öffnen damit das Recht für „den unmarkierten Bereich des Ausgeschlossenen.“589 Die Regel bleibt also durch ihre beständige Begründung gerade nicht fest und unangetastet, sondern sie ___________ 586

Wirtz, Entscheidungen. Niklas Luhmann und Carl Schmitt, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin 1999, S. 175 ff., 182 f.) 587 Luhmann, Metamorphosen des Staates, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/Main 1999, S. 101 ff., 106 f. 588 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1993, S. 172: „Überhaupt darf man die romantische Bewegung als die vorläufig letzte gezielte Opposition gegen die Dominanz des binären Codes Recht/Unrecht einschätzen.“ 589 Luhmann, Metamorphosen des Staates, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt/Main 1999, S. 101 ff., 107.

226

E. Gesetzesbindung trotz Lücke und Richterrecht

verschiebt sich und macht Metamorphosen durch. Das Recht beendet nicht den Streit der Bürger in der Stabilität der Entscheidung. Vielmehr verschieben die für das Recht kontingenten Streitigkeiten der Bürger ständig das Recht und zwingen es in Wandelprozesse590. Damit entwickelt sich Recht über Konfirmierung und Kondensierung von Sinn. Die Struktur ist nicht fest, sondern ihre Einheit wird „als ob“ gesetzt und damit unabhängig von den konkreten Idiosynkrasien der Kommunikationsteilnehmer591. Es gibt kein Fundament des Rechts im starken Sinne. Recht beruht auf vergangener Kommunikation und eröffnet künftige. Keine der in der Vergangenheit liegenden einzelnen Episoden ist für sich gesehen sakrosankt: „Denn die Bewertung dessen, was als Verständigung ermöglichende Tradition gilt, muss jedes Mal aufs Neue erfolgen. Einzelne Kommunikationsakte, die bisher als Teil der Tradition gegolten haben, werden eventuell im Licht neuer Äußerungen nachträglich als missglückt bewertet, andere, die bisher von der Tradition ausgeschlossen waren, nachträglich aufgenommen.“592

Aber sie müssen sich in den Zusammenhang eines „Gesetzes“ stellen lassen, welches von diesen einzelnen Episoden ebenso konstituiert wird, wie es diese konstituiert. Was geschieht also, wenn der Fall auf sein Ende zuläuft und den Ausgangspunkt des Gesetzes trifft? Damit die Gesetzesbindung als Metalepse funktioniert, brauchen wir einen Hasen und zwei Igel. Aber die Igel müssen miteinander verwandt sein und wir müssen es dem Hasen mitteilen.

___________ 590 Werber, Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht, in: Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2002, S. 381 f. 591 Brandom, Pragmatische Themen in Hegels Idealismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, 1999, S. 355 ff. 592 Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Müller (Hrsg.), Politik (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, Berlin 2007, S. 66.

227

F. Schlussbetrachtung Die herausgearbeiteten Ergebnisse sollen abschließend jeweils in einem Fazit aus korpuslinguistischer (I.), arbeitsrechtlicher (II.) und rechtstheoretischer Sicht (III.) gewürdigt werden.

I. Möglichkeiten und Grenzen korpusgestützter Zugänge zu juristischer Dogmatik Die vorangegangenen theoretischen und empirischen Überlegungen versuchen die Möglichkeiten korpuslinguistischer Zugänge zu juristischer Dogmatik zu erproben. Vor dem Hintergrund juristischer Arbeit als systematische Textarbeit und am Beispiel des ›Arbeitnehmer‹-Begriffs wurde die Überlegung diskutiert, wie sich Spuren der juristischen Semantik auch in textübergreifender Perspektive bzw. großen Textsammlungen (Korpora) auf der sprachlichen Oberfläche analysieren ließen. Resümierend können wir folgende Potentiale oder Chancen korpuslinguistisch inspirierter Rechtsarbeit festhalten: Die Korpuslinguistik bietet durchaus geeignete methodische Instrumentarien, um qualitative mit quantitativen Verfahren zu kombinieren und wiederkehrende Sprachmuster als Spuren rechtsdiskursiver Sedimentierungen sichtbar zu machen. In dieser Form ermöglicht sie einerseits bestehende Hypothesen der Dogmatik deduktiv und auf Basis großer, beschreibbarer Datenmengen empirisch zu überprüfen, andererseits auch induktiv neue Hypothesen zu entwickeln. Zu letzterem gehören nicht nur allgemein Untersuchungen zum diachronen Wandel juristischen Sprachgebrauchs, sondern insbesondere auch neue Einsichten in die tatsächliche juristische Text- und Deutungspraxis über eine Vielzahl von Gerichten hinweg. Mit anderen Worten: eine korpusgestützte Dogmatik kann zu einer methodologischen Metakritik des Rechts beitragen. Schließlich lassen sich auch Anwendungsmöglichkeiten am anderen Ende, korrekter: am Entstehungsort der Rechtssetzung denken. Denn gerade bei der Formulierung neuer Normtexte sollte die Antizipation von unterschiedlichen Lesarten (im Rahmen einer linguistischen Gesetzesfolgenabschätzung) nicht spekulativer Introspektion überlassen, sondern von einer empirischen Prüfung der Praxis geleitet werden. Dieses Programm umzusetzen könnte und sollte Ziel einer „Juristischen Korpuspragmatik“ sein, wie sie an anderen Orten bereits diskutiert und entwickelt wird (zuletzt auf der gleichnamigen Tagung im April 2013 unter

228

F. Schlussbetrachtung

Leitung von Vogel in Freiburg; vgl. http://www.juristische. korpuspragmatik.de). Bei der Entwicklung einer juristischen Korpuspragmatik sind jedoch weiterhin folgende Einschränkungen und Herausforderungen zu bedenken, wie sie bereits an anderer Stelle formuliert wurden593: ­

Korpuslinguistische Analysen können helfen, globale Strukturen juristischer Diskurse sichtbar zu machen und damit Einblicke in die Konstitutionsbedingungen juristischer Sachverhalts- bzw. Bedeutungskonstitution zu ermöglichen. Sie können aber weder Fälle ‚lösen‘, noch ersetzen sie die einzelne Belegprüfung im (Gesamt-)Text. Damit verbunden ist auch die Frage, wie sich der auf Muster bezogene Phänomenblick methodologisch mit der Bedeutung des Einzelfalls vermitteln lässt, und zwar nicht nur für ganze Entscheidungen, sondern auch schon für Einzeläußerungen in juristischen Textkorpora. Letztere fallen nämlich in globaler Analyseperspektivebzw. statistischer Analyse leicht heraus, was in alltagssprachlichen Diskursen in der Regel nicht zu Ergebnisverschiebungen führt. Im juristischen Diskurs jedoch zählt jede Äußerung des Bundesverfassungsgerichts, eine Nicht-Berücksichtigung hat vor Gericht im Zweifel gravierende Folgen.

­

Die Aussagefähigkeit korpusgestützter Analysen zum juristischen Sprachgebrauch setzt Untersuchungskorpora voraus, die die Textvarianz praktischer Textarbeit von Juristen möglichst weit nachbilden. Nur dann können explizite und implizite Verweisungsketten potentiell an der Ausdrucksoberfläche rekapituliert sowie Analysen auf Makro- und Mikroebene zusammengeführt werden. Mit anderen Worten: Mit den Grenzen des Korpus sind meist auch die Grenzen der Erkenntnis erreicht. – Entsprechend sollte ein Korpus zur Analyse dogmatischer Konzepte eine systematische Auswahl von Texten umfassen, insbesondere Texte höchstrichterlicher Rechtsprechung (v. a. der Bundes- und Landesverfassungsgerichte), der rechtswissenschaftlichen Literatur (insb. Kommentare) sowie auch der Lehrliteratur (klassische Lehrbücher, Karteikartensysteme, Übungsblätter mit Fallbeispielen u. ä.). Die Korpustexte müssten annotiert werden, um einzelne Äußerungen automatisch den jeweiligen Akteuren (z.B. Richter vs. Beschwerdeführer) zuordnen zu können.594 Solche Textkorpora fehlen bislang bzw. sind rechtslinguistischen Untersuchungen nicht zugänglich (wie die durchaus attraktiven Großdatenbanken bei Juris oder Beck Online). Ein Teilprojekt der „Juristischen Korpuspragmatik“ unter Leitung von Vogel und Hamann setzt hier an und bemüht sich um Konzeption und empirische

___________ 593 Vogel, Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive, in: Felder/Müller/Vogel (Hrsg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, 2012, S. 345 ff. 594 In der vorliegenden Analyse musste dies jeweils im Einzelnen selbst geprüft werden.

II. Was verrät die Korpuslinguistik dem Arbeitsrechtler?

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Erschließung eines „Juristischen Referenzkorpus“ zunächst nur zur Nutzung in Forschung und Lehre (JuReKo; vgl. http://www.jureko.de). In dem Projekt wird auch der Frage nachgegangen, welche Texte (insbesondere der Rechtsprechung) in welcher Form derzeit zugänglich sind und ob eine Kommerzialisierung und damit künstliche Verknappung des Zugangs verfassungsgemäß sein kann. ­

Neben dem Aufbau neuer Rechtstextkorpora müssen aber auch die bisherigen korpuslinguistischen Methoden angepasst und Instrumente weiterentwickelt werden. Der etwa für alltagssprachliche Medientexte übliche Radius von [–5/+5] Wörtern für Kookkurrenzanalysen reicht oft nicht aus und muss zuweilen auf Radien von bis zu [–20/+20] Wörtern erweitert werden, um Transkriptionen tatsächlich nachverfolgen zu können. Ferner bedürfte es Tools, die etwa explizite Verweisungsketten (termini technici, Urteilsund Normtextverweisungen usw.) nachvollziehen und praktikabel darstellen.

­

Quantitative Analysen kommen ohne Textdurchsicht nicht aus. Die in Untersuchungen zu Mediendiskursen bewährte zeilenweise Darstellung von Belegen (Konkordanzen) ist dabei nur im Hinblick auf Sortierungsmodi eine Hilfe. Hintergrund: Konkretisierung einzelner juristischer Ausdrücke bzw. Sachverhalte erfolgt in der Regel durch einen wesentlich größeren kotextuellen Rahmen als dies etwa in alltagssprachlichen Diskursen der Fall ist.

­

Für den Einsatz korpusgestützter Methoden im Recht bedürfte es langfristig einer entsprechenden Methodenlehre und -reflexion im juristischen Fachstudium. Wie eine solche Lehre mit den ansonsten bislang vor allem auf Dogmatik fokussierenden Studienprogrammen vermittelt werden könnte, bedürfte grundlegender Diskussionen – auch über die Rolle der Methodenlehre insgesamt im universitären Kontext.

Vor diesem Hintergrund können korpuslinguistische Zugänge zu rechtssprachlichem Usus zwar helfen, ausdrucksseitig im Diskurs verdichtete Konzepte sowie Tendenzen aufzuspüren; sie können zum jetzigen Zeitpunkt aber beileibe nicht den Blick in klassische Quellen bzw. Nachschlagewerke (etwa Kommentare) ersetzen. Gerade im Arbeitsrecht gilt es einen besonnen Blick zu erarbeiten

II. Was verrät die Korpuslinguistik dem Arbeitsrechtler? Heute wird dem Computer sehr viel zugetraut. Es gibt sowohl die Furcht, dass der Computer die Argumentation verdrängen könnte595, als auch die Hoff___________ 595 Vgl. Habermas, Ach, Europa: Kleine politische Schriften, Frankfurt/Main 2008, S. 162; Pariser, Filter bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden, München 2012.

230

F. Schlussbetrachtung

nung, dass er sie überflüssig macht. Die Hoffnung beruht vor allem darauf, dass heute eine unvorstellbar große Datenmenge verfügbar ist und wir erkennen können, worüber wir früher nur spekulieren konnten. Die immer bessere Verfügbarkeit dieser Datenmenge könnte zu einem Ende der Theorie führen: „Today companies like Google, which have grown up in an era of massively abundant data, don’t have to settle for wrong models. Indeed, they don’t have to seetle for models at all.“596 Hier geht man davon aus, dass eine bloße Addition von Daten die Notwendigkeit einer theoretischen Perspektive verschwinden lasse: „Out with every theory of human behaviour, from lingustics to sociology. Forget taxonomy, ontology and psychology. Who knows why people do what they do? The point is they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data the numbers speak for themselves.“597

Wenn man über eine Kookkurenzanalyse den Sprachgebrauch möglichst umfassend erheben würde, fände man eine Vielzahl divergierender Verwendungen. Daraus können sich Muster ergeben, aber eben noch keine Entscheidung über die Vorzugswürdigkeit dieser Muster. Soll man nach einem gemeinsamen Kern suchen, nach dem engsten oder dem weitesten Sprachgebrauch oder dem quantitativ häufigsten? Ein gemeinsamer Kern würde sich nur extrem selten finden lassen und ein bloßes Abzählen der Häufigkeit stellt noch keine Entscheidung über die Vorzugswürdigkeit für eine bestimmte Problemlösung dar. Die großflächige Erfassung des Sprachgebrauchs wirkt also zunächst einmal zentrifugal. Für die Entscheidung einer Rechtsfrage brauchen wir aber eine zentripetale Kraft der Auswahl. Diese Auswahl macht aus der Addition von Sprachgebräuchen eine Gestalt. Dies ist die Aufgabe dogmatischer Theorie. Aber auch diese im Bereich des öffentlichen Diskurses entstehende Notwendigkeit einer Gestaltbildung kann eine Fallentscheidung noch nicht vorgeben. Dazu bedarf es der Argumentation im Verfahren, welche Sprachgebräuche selegiert und synthetisiert.598 Die Hoffnung, für eine Lesart des Gesetzes nicht argumentieren zu müssen, sondern diese einfach zu erkennen, ist nicht leicht zu enttäuschen. Es handelt sich um eine Wunschkonstellation.599 Der Wunsch nach Instruktivität600 wird ___________ Byung-Chul Han, Digitale Rationalität und das Ende kommunikativen Handelns, Berlin 2013. 596 Anderson, The End of Theory: The Data Deluge Makes Scientific Method Obsolete, in: Wired Magazine vom 23.06.2008. 597 Ebd. 598 Habermas, Ach, Europa: Kleine politische Schriften, Frankfurt/Main 2008, S. 162. 599 Vgl. dazu Winkler, Docuverse, Regensburg 1997, S. 11. 600 Vgl. dazu Morlok, Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Ehrenzeller/Gomez/Kotzur/Thürer/Vallender (Hrsg.), Präjudiz und Sprache, Zürich/St. Gallen 2008, S. 28 ff., 31.

II. Was verrät die Korpuslinguistik dem Arbeitsrechtler?

231

mitunter auf die neuen Medien übertragen: Dabei wird nicht nur den „Suchfunktionen juristischer Datenbanken“ zugetraut herauszufinden, „mit welcher Bedeutung ein Begriff im Gesetz und von der Rechtsprechung verwendet wird“601. Auch wird der Rückgriff des BGH602 auf Diskussionen im Internet zur Frage, „ob psilocybin- und psilocinhaltige Pilze vom Pflanzenbegriff des § 2 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erfasst werden“, so interpretiert, dass jedermann das „zur Veröffentlichung eigener Texte zugängliche“ Internet und dieses „eine umfassende Auskunft über das gesamte Spektrum des aktuellen Sprachgebrauchs geben“ könne.603 Haben wir also mit dem neuen Medium Computer endlich das Wörterbuch, welches den Sprachgebrauch der Gegenwart abbildet? Tatsächlich kann man mit dem Computer in der Sprachwissenschaft empirisch arbeiten. Die Kookkurrenzanalyse geht davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes durch die Wendungen bestimmt wird, die in seiner Umgebung erscheinen. Dies kann man heute, bezogen auf Textkorpora, mit dem Computer auswerten. Aber natürlich gibt es auch hier Grenzen. Denn es wird schnell ein Komplexitätsniveau erreicht, das zwar dem holistischen Charakter der Sprache besser gerecht wird, aber praktisch nicht mehr abgearbeitet werden kann. Wenn man in einer Liste von Kollokationen die neu hinzukommenden Wörter mit ihren Kollokationen auswerten würde, würde sich dadurch die Zahl der Wörter des jeweiligen Wortfeldes exponentiell erhöhen. Die Unterstützung durch zunehmend intelligenter werdende Suchmechanismen und wörterbuchgestützte Informationsretrieval wird der Linguistik wie dem Recht nützen: „Hier berühren sich Überlegungen, Ideen, Techniken aus sehr unterschiedlichen Wissensbereichen, deren Zusammentreffen aber dazu führt, dass jeder dieser Bereiche eine erhebliche Leistungssteigerung erfährt und mehr Werte sozusagen on the fly erzeugt werden können. Techniken hierzu sind im Rahmen von Statistikverfahren entwickelt worden.“604

Aber die maschinelle Auswertung von Quellenkorpora kann niemals die Quellenexegese durch Fachwissenschaftler ersetzen. Im Zentrum dieser Arbeit wird immer die textsemantische und hermeneutische Kompetenz eines Individuums stehen. Der Informationszuwachs, den die neuen Medien liefern, wäre ___________ 601 Knauer, Juristische Methodenlehre 2.0? Der Wandel der juristischen Publikationsformate und sein Einfluss auf die juristische Methodenlehre, in: Rechtstheorie 2009, S. 379 ff. 397; vgl. auch Herberger, Von der Unentbehrlichkeit der juris-Datenbanken für die rechtswissenschaftliche Arbeit, in: ders./Berkemann (Hrsg.), Standard juris., Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der juris GmbH, Saarbrücken 1995, S. 287 ff., 288 f., 297. 602 Vgl. dazu BGH. In: NJW 2007, S. 524 ff., 226. 603 Knauer, Juristische Methodenlehre 2.0? Der Wandel der juristischen Publikationsformate und sein Einfluss auf die juristische Methodenlehre, in: Rechtstheorie 2009, S. 379, 398. 604 Speer, Grenzüberschreitungen – vom Wörterbuch zum Informationssystem. Das deutsche Rechtswörterbuch im Medienwandel, in: Müller (Hrsg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, Berlin 2007, S. 261 ff.

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F. Schlussbetrachtung

ohne diese Kompetenz eine bloße Addition und würde nicht zu einem Erkenntniszuwachs führen. Das Wissen bedarf einer qualitativen Vernetzung, die in sich geordnet und strukturiert ist. Technische Informationszugänge liefern keine Semantik oder interpretiertes Wissen, nur tote Mengen von Zeichen. Es gibt also tatsächlich ein Risiko der neuen Medien, nämlich dass mit Hilfe von Textmassen ausladend wenig gesagt wird und dabei die entscheidende Leistung der Verarbeitung von Informationen vergessen wird. Aber dieses Risiko bestand schon bei allen Medienrevolutionen und bisher ist es immer nach einiger Zeit gelungen, die Chancen des neuen Mediums zu nutzen. Man kann auf der Grundlage von Korpora und genauerer Analysen die Vielfalt und Vernetztheit der jeweiligen Sprache besser sichtbar machen. Aber genau darin liegt das Risiko für den Irrglauben in der Jurisprudenz, im Wörterbuch stecke die Wortlautgrenze und man könne sie dort einfach nachlesen. Wir können jetzt computerbasiert viel mehr an Information auffinden und sind nicht mehr so stark der hermeneutischen Kompetenz des jeweiligen Wissenschaftlers ausgeliefert, weil wir die Belegstellen gegebenenfalls selbst aussuchen können. Dieses Vorgehen liefert uns nicht die Wortlautgrenze, aber es liefert uns eine Fülle von Möglichkeiten, vorgeschlagene Lesarten zu verstärken oder zu relativieren. Ohne diese Grundlage arbeiten wir nicht nach den Regeln der Kunst. Aber die Notwendigkeit, über den Konflikt der Lesarten juristisch zu entscheiden, kann uns das beste Wörterbuch nicht abnehmen. Wörterbuch und Computer helfen uns also, eine große Zahl von Bedeutungsvarianten zu entdecken und auch dabei, diese auf Kontexte zu beziehen. Aber eine Sprachgrenze liefern sie nicht. Denn die einzige Grenze in der Sprache ist die Verständlichkeit. Die empirische Analyse entlastet uns also nicht von dem Streit, welche der gefundenen Verwendungsweisen für unsere Zwecke die beste ist. 1. Korpuslinguistische Software als Subsumtionsautomat? Der korpuslinguistische Zugang ermöglicht deskriptive Aussagen über juristische Schemata wie das durch breite (introspektive) Textlektüre erarbeitete dogmatische Fachwissen eines Juristen. Einerseits überrascht dies angesichts der komplexen sprachlich-kommunikativen Hermetik der Jurisprudenz. Anderseits bestätigt es die Wittgensteinsche Prämisse, man könne Bedeutungen oder Konzepte (und Normen sind Konzepte) von Ausdrücken durch Beschreibung ihres regelhaften Ko(n)textes erschließen. Korpuslinguistische Verfahren operationalisieren genau dies, sie helfen eine unübersehbare Fülle an Sprachgebräuchen zu ordnen. Korpuslinguistik erlaubt jedoch weder Streitfälle zu lösen noch normative Fragen zu entscheiden. Die korpuslinguistische Software kann auch keine De-

II. Was verrät die Korpuslinguistik dem Arbeitsrechtler?

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finitionen juristischer Begriffe liefern. Dennoch ermöglicht eine computergestützte (nicht computergesteuerte!) Analyse rechtlicher Texte, die juristische Textarbeit auf einer Makroebene zu spiegeln und bestehende Hypothesen – etwa über diachrone Veränderungen oder auch, wer oder was beanspruchen kann, „herrschende Meinung“ zu sein – anhand konkreter Daten zu überprüfen. Mit anderen Worten: Die juristische Deutungsarbeit lässt sich auch auf einer methodologischen Ebene problematisieren, anhand von Belegen effektiv kontrollieren und letztlich transparenter machen. In diesem Sinne hat die oben durchgeführte Korpusanalyse u.a. deutlich gemacht, dass der Arbeitnehmerbegriff in der Rechtsprechung typologisch herausgearbeitet wird. Die typologischen Merkmale unterliegen einerseits einem stetigen Wandel, der Arbeitnehmer der Vergangenheit ist nicht automatisch auch der Arbeitnehmer der Gegenwart. Andererseits weist die so vorgenommene Begriffsbildung eine gewisse Statik oder Stabilität auf. Dies wird durch die signifikant häufigen und im Vergleich zur Allgemeinsprache sehr langen Cluster bzw. Mehrworteinheiten und durch die hohe Anzahl von Selbstreferenzen in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung belegt. Die Korpusanalyse illustriert ferner, dass der Arbeitnehmerbegriff für das Arbeitsrecht unverändert von zentraler Bedeutung ist, auch wenn er bei neueren Gesetzen an Bedeutung verliert. 2. Korpuslinguistik als Analysetool für Rechtspolitik Ebenso lassen sich Auswirkungen sozio-ökonomischer Veränderungen oder rechtspolitischer Reformen sichtbar machen, indem Akzentverschiebungen im Rechtsprechungskorpus nachgezeichnet werden können. So konnten sich insbesondere Spuren der Agendapolitik im Korpus visualisieren lassen: Neue gesetzliche Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass sich neue Abgrenzungsprobleme im Betriebsverfassungs- und Kündigungsschutzrecht stellen. Durch den Ausbau von Leiharbeit und Befristung wurden legale Alternativen zur Scheinselbständigkeit geschaffen. Beide bieten einen Ausweg aus dem strengen Kündigungsschutz und damit mehr „Flexibilität“, um auf wirtschaftliche Schwankungen reagieren zu können. Anfangs war die Leiharbeit auch ein Instrument für Lohndumping, dies wurde durch Gesetzgebung und Rechtsprechung jedoch in letzter Zeit sukzessive erschwert. Dies führt in der Praxis zu Ausweichbewegungen aus der einstmals so „attraktiven“ Zeitarbeit in Richtung (Schein-)Werkverträge. Bei den so entstehenden Abgrenzungsproblemen können – mit einigen Nuancierungen – die klassischen Abgrenzungskriterien, die im Zwei-Personen-Verhältnis zur Aufdeckung von Scheinselbständigkeit entwickelt wurden, verwendet werden. Die vom BAG vorgenommene typologische Betrachtung ermöglicht dabei auch in Zukunft eine flexible Handhabung.

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F. Schlussbetrachtung

Auf diese Weise kann Korpuslinguistik also auch ein Tool für die Politik sein, wenn sie etwa analysieren will, welche Dimension ein (vermeintliches) Problem in der Rechtspraxis hat oder welche Auswirkungen eine bestimmte Reform hatte. Aber auch insofern gilt als caveat: Die Korpuslinguistik ermöglicht rein deskriptive Aussagen, liefert aber keine Argumente oder fertige rechtspolitische Positionen. Ob also beispielsweise der Missbrauch von Werkverträgen ein Problem oder nur ein Scheinproblem darstellt, und wenn ja, ob der Gesetzgeber sich dessen annehmen oder die Lösung der Rechtsprechung überantworten sollte, ob Schutzlücken bestehen oder Vollzugsdefizite – all dies sind Fragen, die uns der Computer nicht beantworten kann; und selbst wenn er es könnte, er dürfte es nicht.

III. Im Wesentlichen frei? Begriffsbildung im Arbeitsrecht Die Beschäftigung mit dem Begriff des Arbeitnehmers führte zu grundsätzlichen Fragen der Rationalität von Begriffsbildung und speziell juristischer Begriffsbildung. Durch die so genannte sprachphilosophische Wende und vor allem die empirische Arbeit der Sprachwissenschaft hat die Jurisprudenz etwas verloren, was sie immer als sicheren Besitzstand betrachtet hat: die wörtliche Bedeutung. Sie wurde bisher als Gehalt des Gesetzes verstanden, als das, was der Gesetzgeber dem Rechtsanwender vorgibt. Die ganze Konstruktion von Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber und Richter und damit ein Kernbestandteil des Demokratieprinzips wird in Frage gestellt. Auch die Kontrollfunktion der Wissenschaft gegenüber den Gerichten scheint verloren zu gehen, weil ihr der sichere Ausgangspunkt abhandenkommt. Aber es hat sich gezeigt, dass Demokratie und Gewaltenteilung komplexer sind als man bisher gedacht hat. Für eine wissenschaftliche Kritik der Gerichte ist eine wörtliche Bedeutung gar nicht erforderlich. Die Situation in der Jurisprudenz ist soweit ähnlich wie in den empirischen Wissenschaften. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man in der wissenschaftstheoretischen Diskussion bemerkt, dass Theorien nicht an der Wirklichkeit scheitern, sondern nur an der interpretierten Wirklichkeit. Es gibt keine Basissätze, in denen die Wirklichkeit selbst spricht. Theorien scheitern an Theorien und wir arbeiten in Kaskaden von Wirklichkeitsinterpretationen. Trotzdem verliert eine empirische Wissenschaft, wenn sie eine fortlaufende methodische Selbstreflexion durchführt, nicht ihre Rationalität. Diese ist nur komplizierter als gedacht. Genauso ist es in der Jurisprudenz. Lesarten des Gesetzes scheitern nicht an der wörtlichen Bedeutung. Lesarten scheitern an Lesarten. Aber das muss nicht methodisch irrational sein. Ganz im Gegenteil kann dies die Rationalität der Ju-

III. Im Wesentlichen frei? Begriffsbildung im Arbeitsrecht

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risprudenz gerade stärken. Lange hat man auch geglaubt, die Religion sei nötig als Strafe und Belohnung für regelkonformes Verhalten der Subjekte. Nachdem in der Moderne die autoritäre Außensteuerung durch selbstverantwortete Steuerung ersetzt wurde, glaubte man den Tod Gottes feststellen zu können. Tatsächlich konnte aber der Eigenwert der religiösen Problematik dadurch erst hervortreten. So ergeht es dem Recht mit der wörtlichen Bedeutung. Indem sich die Jurisprudenz von diesem Scheinargument befreit, werden erst die tatsächlichen Maßstäbe juristischer Arbeit sichtbar. Der Arbeitnehmerbegriff mit seinen Wandlungen von Begriffsjurisprudenz über die Typenlehre und sein heutiges Verständnis ist dafür ein gutes Beispiel. Eine Definition von Gesetzesbegriffen reicht als Urteilsbegründung nicht aus. Man braucht Argumente, die sie gegenüber anderen Definitionen vorzugswürdig macht. Die herkömmliche Lehre bezieht dieses normative Element der Sprache aus der Gesamtheit des Rechts. Aber diese Gesamtheit ist nicht verfügbar. Wertungen aus einem Ganzen bleiben damit behauptend. In einer pluralistischen Gesellschaft sind das Ganze und die Idee des Rechts umstritten. Das garantieren schon die Grundrechte. Trotzdem wird es in der Methodik kaum berücksichtigt. Die Sprachwissenschaft kann bei der Rationalisierung dieser unverzichtbaren Wertungen helfen. Wir können nicht eine Wertung zugrunde legen, ohne uns mit den gegenläufigen Wertungen zumindest auseinandergesetzt zu haben. Dies gilt gerade für das Recht in einem rechtsstaatlichen Verfahren. Korpus- und Computerlinguistik können uns dabei helfen, die Kontexte mit divergierenden Wertungen aufzufinden. Wir entdecken mit ihrer Hilfe ein Stück des von Savigny gesuchten Volksgeistes. Dieser ist aber nicht eine von der Rechtsidee geordnete Totalität, sondern eine Pluralität divergierender Wertungen, die der Richter zu einem Ausgleich bringen muss. Die begriffliche Arbeit der Gerichte ist also nicht im Wesentlichen frei. Sie ist im Wesentlichen gebunden durch viele kleine Anschlusszwänge, die sich aus der Sprache ergeben und die sich in der juristischen Fachsprache Spuren bildend niederschlagen. Dies wird nur nicht ausreichend methodisch reflektiert. Das Dickicht der Kommentare zeigt, dass diese sprachlichen Anschlusszwänge immer schon gewirkt haben. Mit Hilfe der Korpuslinguistik kann man sie systematischer erfassen.

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Über die Autoren Dr. iur. Dr. phil. Ralph Christensen (Bonn/Mannheim) ist Repetitor für öffentliches Recht in Köln und Bonn und Mitbegründer der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Dogmatik von Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und Europarecht. Neben zahlreichen Veröffentlichungen unter anderem auch zu Dogmatik, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ist er zusammen mit Friedrich Müller Autor einer Methodik des öffentlichen Rechts (11. Aufl., Berlin 2013) sowie des Europarechts (3. Aufl., Berlin 2012). Dr. iur. Stephan Pötters, LL.M. (Cambridge), ist Habilitand am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit (Universität Bonn, Lehrstuhl Professor Thüsing). Seine Arbeitsschwerpunkte sind individuelles und kollektives Arbeitsrecht, Europarecht und Verfassungsrecht. Ausgewählte Publikationen: Grundrechte und Beschäftigtendatenschutz (Baden-Baden 2013); Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze, JZ 2011, S. 387-394 (gem. mit R. Christensen); Das Unionsrecht als Hybridform zwischen case law und Gesetzesrecht, JZ 2012, S. 289-297 (gem. mit R. Christensen); Der personale Anwendungsbereich des Arbeitsrechts: Morgen ist gestern?, NZA 2014, S. 704-708. Jun.-Prof. Dr. phil. Friedemann Vogel ist Juniorprofessur für Medienlinguistik an der Universität Freiburg i.Br. und Mitglied der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtslinguistik, Linguistische Diskurs- und Imageanalyse, Korpuslinguistik, Konfliktlinguistik und Internetkommunikation. Ausgewählte Publikationen: Linguistik rechtlicher Normgenese. Theorie der Rechtsnormdiskursivität am Beispiel der OnlineDurchsuchung (Berlin/Boston 2012); Der Arbeitnehmerbegriff in Recht und Medien, früher und heute. Plädoyer für eine korpusgestützte Dogmatik (gem. mit R. Christensen et al., Berlin 2014); Das LDA-Toolkit. Korpuslinguistisches Analyseinstrument für kontrastive Diskurs- und Imageanalysen in Forschung und Lehre (in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, 1.2012, 129-165); Handbuch Sprache im Recht (hrsg. von E. Felder/F. Vogel. Boston/New York 2015); Rechtslinguistik. Bestimmung einer Fachrichtung (in: Handbuch Sprache im Recht, hrsg. von E. Felder/F. Vogel, Boston / New York 2015).