Richterliches Prüfungsrecht: Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung [1 ed.] 9783428458172, 9783428058174

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Richterliches Prüfungsrecht: Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung [1 ed.]
 9783428458172, 9783428058174

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CHRISTOPH GUSY

Richterliches Prüfungsrecht

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 37

Richterliches Prüfungsrecht Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung

Von

Christoph Gusy

DUNCKER &

HUMBLOT I BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gusy, Christoph: Richterliches Prüfungsrecht: e. verfassungsgeschieht!. Unters. I von Christoph Gusy. Berlin: Duncker und Humblot, 1985. (Schriften zur Verfassungsgeschichte; Bd. 37) ISBN 3-428-05817-8 NE:GT

Alle Rechte v orbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1985 b e i Buchdruckerei A . Sayffaerth - E. L. Krohn, Berl!n 61 Printed in Germany

© 1985 Duncker

ISBN 3-428-05817-8

Inhaltsverzeichnis Einführung: Richterliches Prüfungsrecht in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . I. Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Lehre von der Gewaltentei-

lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 9

1. Gewaltenteilung als Forderung nach Mitwirkung an der monar-

chischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 a) J. Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 b) Ch. Montesquieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2. Die Forderung nach Volkssouveränität als Alternative zur Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Gewaltenteilung und richterliches Prüfungsrecht in Verfassungsrecht und Praxis des deutschen Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 111. Die Stellungnahmen der Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht . . 29 1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips: Der Primat des

Monarchen a) b) c) d) e)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

F. J. Stahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Zoepfl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. A. Zachariae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Die Staatsrechtslehre des "liberalen" Rechtsstaates: Der Primat der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) R. v. Mohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) H. Schulze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) L. v. Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 34 37 39 41 42 43 47 49 52

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches: Der Primat der Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 a) 0. Bähr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 b) R. v . Gneist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

6

Inhaltsverzeichnis c) J. C . Bluntschli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

d) C. F. Gerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 e) P. Laband . ........................ ... ... . .............. .... 65 f) G. Jellinek

68

g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

IV. Die Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

a) Die Entscheidungspraxis der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Richterliches Prüfungsrecht und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 V. Die Stellungnahmen der Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht . . 90 1. Die legalistische Richtung: Der Primat des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . 91

a) G. Anschütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) R. Thoma ............. . .......... .. . . ... . .................. . 94 c) H. Heller

96

d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts . . . . . . . . . . . . . 99

a) H. Triepel

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

b) E. Kaufmann .......................... . ........... ... ...... 103 c) C. Schmitt

............... . .............. . .... . ...... . . .. . . .. 106

d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3. Die Reine Rechtslehre: Staatsgerichtsbarkeit als Schutz der Demokratie ......... . .................. . ...... .. . ........... . . . . .. .. 112 4. Zusammenfassung ....................... ... ........... . . . . ... . 117 VI. Zusammenfassung: Richterliches Prüfungsrecht als Garantie des sozialen Kompromisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Verfassungsrecht als sozialer Kompromiß . . .. ........ .. . . . . . . . .. 121

2. Sozialer Ausgleich und konstitutionelles Verfassungsrecht . .. . ... 122 3. Sozialer Ausgleich und demokratisches Verfassungsrecht ...... . . 124 4. Sozialer Ausgleich und Weimarer Reichsverfassung

128

Literaturverzeichnis ............ . ........ ...... . . .......... ... ......... 130

Einführung: Richterliches Prüfungsrecht in der Diskussion Daß die Gesetze verfassungsgemäß sein sollen, ist ein altes Anliegen. Forderte die Staatslehre seit der Antike die Übereinstimmung der gesetzten Normen .mit dem üb€rpositiven Recht, so erschiene es nur folgerichtig, daß mit der fortschreitenden Positivierung des Verfassungsrechts an die Stelle der Rechtmäßigkeit von Gesetzen die Forderung nach ihrer Verfassungsmäßigkeit trat. Daß jener Paradigmawechsel nur äußerst zögernd erfolgte und nie unbestritten blieb, mag mit dem ungeklärten Verhältnis von üb€rpositivem Recht, positiver Verfassung und einfachem Gesetz zueinander zusammengehangen haben. Idealtypisch läßt sich jedoch formulieren; die Maßstabsnorm wechselte, das Problem blieb. Von jener materiellen Forderung ist die formelle Komponente analytisch zu unterscheiden. Wer ist für die Wahrung der inhaltlichen Kongruenz von Verfassung und Gesetz zuständig und verantwortlich? Unbestritten war zu jeder Zeit, daß sich das Postulat der Rechtsbindung an die Legislativorgane selbst richtete. Sie hatten kraft ihrer Aufgabenstellung dafür zu sorgen, daß keine Rechtsbrüche durch Gesetz eintraten. Was aber hatte im Kollisionsfall zu gesch-ehen? Hier ließen sich im Streit um den "Hüter der Verfassung" unterschiedliche Konzeptionen denken, die ihrerseits staatstheoretische, staatsrechtliche und politische Implikationen voraussetzen. Wer dem Gesetzgeber allein die Verantwortung für die Widerspruchsfreiheit von Verfassung und Gesetz überantwortete, begriff letztlich die dafür zuständigen Organe als authentischen Verfassungsinterpreten. In diesem Falle war ein Widerspruch zwischen Verfassung und Gesetz praktisch a priori ausgeschlossen. Wer hingegen andere Organe als die gesetzgebenden Instanzen für die Prüfung und Vermeidung von inhaltlichen Widersprüchen verantwortlich machte, setzte ein Mehrfaches voraus: die Verschiedenheit von Verfassunggebung und Gesetzgebung, den Vorrang der Verfassung und die Trennung von gesetzgebenden und prüfenden Organen. Das Prüfungsrecht steht so im Schnittpunkt von staatstheoretischen, staatsrechtlichen und politischen Konflikten. Als Kompetenzfrage ist es eine Rechtsfrage, welche politische Entscheidungen voraussetzt und maßgeblich determiniert. Konsequent sind Auseinandersetzungen um das Prüfungsrecht stets zugleich politische Fragen, die mit rechtlichen Argumenten ausgetragen werden; ebenso wie sie Rechtsfrag-en sind, die

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Einführung: Richterliches Prüfungsrecht in der Diskussion

im politischen Prozeß notwendig umstritten bleiben. Stoßen hier politischer .Problemdruck der Machtfrage und ihre rechtliche Einbindung notwendig aufeinander, so sind Auseinandersetzungen um das Prüfungsrecht notwendig Auseinandersetzungen um die jeweilige Verfassungsordnung. Das Verfassungsverständnis determiniert unmittelbar die Stellungnahme zur Prüfungsfrage, wie umgekehrt das Prüfungsrecht die Verfassung und ihr Verständnis prägt. Dementsprechend kann es kaum überraschen, daß jede Epoche des Verfassungsrechts ihre eigenen, je spezifischen Antworten für die Kompetenzfrage sucht und findet. Dieser Kontext soll hier am Beispiel des deutschen Konstitutionalismus und der Weimarer Reichsverfassung erörtert werden. Dabei ist das richterliche Prüfungsrecht lediglich ein Ausschnitt aus dem möglichen Spektrum von Vorkehrungen zur Wahrung der Einhaltung von Verfassungsrecht. Wegen der historischen Kontinuität seiner Erörterung kann es jedoch als Paradigma nahezu lückenlos verfolgt werden. Dabei finden sich in der Wissenschaft überaus verschiedene Hypothesen. Partiell wird behauptet, das richterliche Prüfungsrecht sei die spezifische Reaktion der deutschen Justiz auf die Einführung der demokratischen Staatsform1• Weiter findet sich die Feststellung, Vorrang der Verfassung und richterliches Prüfungsrecht wiesen parallele Entwicklungsbedingungen und -perioden auf2• Dem steht der Befund gegenüber, das richterliche Prüfungsrecht sei im Konstitutionalismus und in der Weimarer Zeit weitgehend identisch gehandhabt worden3 • Die vorliegende Untersuchung will die grundlegenden Argumentationsstrukturen unter den zeitgenössischen Bedingungen erforschen•. Dabei versteht sie sich bewußt als rechtswissenschaftliche, wobei das Umfeld allerdings nicht ausgeblendet werden soll. Eine unmittelbare Verwendung der damals vertretenen Anschauungen und Argumente in der Diskussion um das Bundesverfassungsgericht ist wegen der Verschiedenheit des Grundgesetzes sowohl gegenüber der WRV wie gegenüber den institutionellen Verfassungen ausgeschlossen. Desungeachtet kann ein methodischer Ertrag darin liegen, das Problem exakter zu umschreiben und die Zusammenhänge von Verfassungsverständnis und Kompetenzordnung aufzeigen. t So etwa Hase I Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System, 1980. 2 Wahl, DSt 1981, 499 ff. 3 Bettermann, FS J. Broermann, 1982, S. 491 ff. 4 Wenig weiterführend sind hierzu die neuesten Ansätze von Wendenburg, dessen unspezifische Fragestellung Verfassungsgerichtsbarkeit und richterliches Prüfungsrecht zu eng aufeinander bezieht und dabei die durchaus verschiedenen historischen Entwicklungslinien miteinander vermengt.

I. Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Lehre von der Gewaltenteilung Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen setzt voraus, daß der Verfassung gegenüber dem sonstigen Recht ein höherer Rang zukommt. Dabei ist eine inhaltliche Kontrolle nur möglich, sofern die Verfassung auch materielle Maßstäbe bereithält1. Neben diesem Vorrang der Verfassung setzt Normenkontrolle Gewaltenteilung voraus. Die prüfende Instanz muß von derjenigen, deren Akte kontrolliert werden sollen, funktionell wie organisatorisch verschieden sein. Erst die Trennung der Gerichte von den sonstigen Staatsgewalten ermöglicht daher eine verbindliche Prüfung der Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem jeweiligen Verfassungsrecht. Mit diesen Voraussetzungen gerät die Verfassungsgerichtsbarkeit samt ihren Vorläufern in enge Abhängigkeit von den jeweiligen historischen Bedingungen der Gewaltenteilung. Hier sollen dementsprechend zunächst die historischen Entstehungsbedingungen der politischen Forderung nach Gewaltenteilung erörtert werden. In Deutschland wandte sich insbesondere die Staatsrechtslehre den hier untersuchten Fragestellungen zu. Daher werden sodann Verfassungsrecht und Praxis in Deutschland bezüglich ihrer Haltung gegenüber diesem Prinzip und den daraus gezogenen Konsequenzen für das richterliche Prüfungsrecht untersucht, um auf dieser Grundlage die Stellungnahmen der staatsrechtlichen Literatur darzustellen. In gleicher Weise wird die Entwicklung für die Weimarer Republik erörtert. Die durchaus zeitbedingte und -gebundene Idee der Gewaltenteilung entstand aus dem Bestreben, auch im heraufziehenden modernen Staat die Freiheit des einzelnen zu sichern und den Mißbrauch staatlicher Herrschaft durch wirksame Kontrollen zu verhindern. Gegenüber der Machtfülle des entstehenden Absolutismus, gegenüber der einheitlichen, unteilbaren und souveränen Gewalt des neuen Staates, welcher in langen Kämpfen die partikularen Zwischengewalten entmachtete und begann, unter Ausdehnung seiner Wirksamkeit das soziale Leben planmäßig zu organisieren, mußten neue Sicherungen und Kontrollen gefunden werden, um die persönliche und politische Freiheit zu gewähr1 Sog. "zweistufige Legalität"; dazu Henke, DSt 1964, 433 ff.; Korinek, VVDSTRL 39, 17 ff.

10

I.

Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Gewaltenteilung

leisten2• Die Entstehung der Gewaltenteilung erklärt sich aus dem Obergang von der traditionellen feudalen zu einer zunehmend absolutistischen Herrschaftsordnung, die nicht nur in der Theorie gefordert und gerechtfertigt, sondern in fast allen Staaten Europas von den Monarchen angestrebt oder gar durchgesetzt wurde. Derartige Tendenzen stießen auf Widerstand aus zwei unterschiedlich·en Richtungen3 : Einerseits dem Kleinadel, der in den Machtkämpfen um die Zentralisierung der Herrschaft unterlegen war und - seiner überkommenen Herrschaftsrechte völlig oder doch weitgehend verlustig - als höfische Schicht in steigendem Maße von den Monarchen auch wirtschaftlich abhängig wurde; andererseits dem aufstrebenden Bürgertum, das den Handel und das entstehende Gewerbe betrieb und an ökonomischem Einfluß den Adel bereits weitgehend übertraf. So unterschiedlich diese Ausgangsbasen waren, so verschieden waren auch die politischen Ziele der Opposition: War das Ziel des Adels im Ergebnis die Restauration oder Erhaltung der überkommenen feudalen Zustände, so forderten die Bürgerlichen eine Neuordnung der Machtverteilung im Sinne einer Stärkung der eigenen Position, um so ihre ökonomische Stärke auf politischem Gebiet zur Geltung bringen zu können. Größere Schwierigkeiten als die Definition des angestrebten Zieles bereitete jedoch der Weg, auf dem es zu realisieren sein sollte. Mit den neuen Ideen gingen politische Machtkämpfe - wie etwa der Sturz der Stuarts in England 1688 - einher. So dienten die neuen Lehren, unter denen die Gewaltenteilungstheorie nur einen Weg darstellte, zur theoretischen Rechtfertigung bereits stattgefundener Machtverschiebungen oder aber zur Begründung von Forderungen nach einem friedlichen Übergang in der Zukunft4• 1. Gewaltenteilung als Forderung nach Mitwirkung an der monarchischen Herrschaft

a) J. Locke Ihre erste Ausprägung fand die Gewaltenteilungslehre in dem Werk von John Locke. Seine "Two Treatises of Government" (1692) sollten Ausdruck der bürgerlichen Opposition gegen die absolutistischen Bestrebungen König J ames I I. sein; bei ihrem Erscheinen wirkten sie als Rechtfertigung der Glorious Revolution. Wie kaum bei einem Zweiten wurden in seine Schriften moderne liberale wie demokratische Ideen hineingelesen5• Böckenförde, Gesetz, S. 20. Quaritsch, Souveränität, S. 316 ff.; Rittstieg, Eigentum, S. 36 ff. 4 Zu der Entstehung und den Wandlungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes grundlegend Kägi, Gewaltenteilungsprinzip, S. 13 ff. 2

3

1. Forderung nach Mitwirkung an der monarchischen Herrschaft

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Dabei waren seine Zielsetzung wie seine Mittel durchaus zeitbezogen. Nachdem er in der ersten Abhandlung die seinerzeit äußerst wirksamen monarchistischen Lehren Sir Robert Filmers widerlegt hatte, wandte er sich der Frage nach dem Ursprung und der Legitimation der politischen Macht im Staate zu6 • Dazu wandte er das zeitgenössische Gedankenexperiment des Naturstandes an. Dort seien alle Menschen von Natur aus frei und gleich, da alle an der gleichen Vernunft teilhaben. Jedermann ist berechtigt, Eigentum zu erwerben und zu behalten7. Dabei ist er jedoch stets der Möglichkeit von Übergriffen durch andere ausgesetzt. Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und Gefahren istB. So schließen sich die Menschen zu einer politischen Gesellschaft zusammen, deren Zweck der Schutz des Eigentums darstellt9 • Dazu verzichtet der einzelne auf zwei "powers": Die Gewalt, alles zu tun, was er für die Erhaltung seiner selbst und der übrigen Menschheit als richtig ansieht, damit sie durch Gesetze der Gesellschaft geregelt werde10; daneben die Gewalt zu strafen. So verschwindet die private Strafgerichtsbarkeit des einzelnen, statt dessen wird die Gemeinschaft nach festen, stehenden Regeln zum unparteiischen und einzigen Schiedsrichter für alle11 • Auf dieser Grundlage unterscheidet Locke funktionell vier Gewalten12. Die Gesetzgebung (legislative power) soll durch stehende Gesetze für Gerechtigkeit sorgen und die Rechte der Individuen entscheiden13 • Charakteristika dieser Normen sind ihre Bedeutung als "stehende Regel" und "festes Gesetz". Die Exekutive (executive power) soll auf die Vollziehung der erlassenen und in Kraft bleibenden Gesetze achten14• Die föderative Gewalt (federative power) umfaßt die auswärtigen Beziehungen, d. h . die Gewalt über Krieg und Frieden, über Bündnisse und Abmachungen mit Personen und Gemeinschaften außerhalb des Staates15• Die Prärogative (prorogative power) ist die Macht, für das 5 Laslett (Hg.), John Locke, Two Treatises, S. 35; McPherson, Besitzindividualismus, S. 219; Zur Staatszwecklehre Lackes: W. Euchner, Naturrecht und Politik, S. 198 ff. 6 Locke, II, §§ 3-6; daher auch die folgenden Nachweise. 7 Zu Lackes Eigentumsverständnis: ebd., §§ 25-51. 8 Ebd., §§ 123, 127. 9 Ebd., § 124. 10 Ebd., § 129. 11 Ebd., § 87. 12 Grundlegend dazu Tsatsos, Peri Politeias, S. 128-139; Rostock, Gewaltenteilung, S. 151 f. 13 Locke, § 136; näher dazu Böckenförde, Gesetz, S. 23 ff. 14 Locke,§ 144. 15 Ebd., § 146.

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I.

Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Gewaltenteilung

öffentliche Wohl zu handeln, ohne dabei an eine Vorschrift gebunden zu sein16. Sie soll zum Wohl der Gemeinschaft gebraucht werden, wenn das Gesetz des Landes keine Richtung gibt, ist also als Notfallkompetenz bei fehlendem oder unzureichendem (!) Gesetzesrecht konzipiert17. Eine eigene rechtsprechende Gewalt führte Locke dagegen nicht auf; er betrachtete sie als Teil der Exekutive18 . Diese funktionelle Gewaltenteilung wird in der organisatorischen Dimension nicht in gleichem Umfang nachvollzogen. Als Oberbegriff der Staatsgewalt - und nicht als einzelner Zweig - erscheint bei ihm die Regierungsgewalt. Nach der Ausübung der legislativen Gewalt bestimmt er die Staatsform. Gibt die Gesellschaft19 sich selbst durch Mehrheitsentscheidung die Gesetze, so stellt der Staat eine Demokratie dar. Legt sie sie in die Hände einiger weniger, so ist er eine Oligarchie. Die Übertragung auf einen einzelnen begründet die Monarchie. In den Händen derer, auf die das Volk die Gesetzgebung übertragen hat, liegt sie ,.heilig und verbindlich" 20 ; sie darf an keinen Dritten übertragen werden21. Die Gewaltenteilungslehre Leckes steht in keinem unlösbaren Zusammenhang mit einer dieser Staatsformen, insbesondere nicht mit der Idee der Demokratie. Zwar leitet die gesetzgebende Gewalt ihre Legitimation vom Willen des Volkes her, keineswegs ist es jedoch notwendig das Volk, das die Gesetze beschließt. Weder ist eine periodische Wahl noch eine ausdrückliche Zustimmung zu einzelnen Maßnahmen erforderlich. Als Zustimmung zur Gesetzgebung gilt auch der Wille dessen, der mit der Legislative betraut ist. Der einzelne unterwirft sich dieser Herrschaft durch ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung, indem er in das Land einreist oder in ihm verbleibt, etwa dort Eigentum erwirbt oder frei auf einer Landstraße reistll. Dagegen beschreibt Locke die übrigen Gewalten organisatorisch nicht mit derselben Deutlichkeit. Zwar stellt er fest, daß Exekutive, Föderative und Prärogative in einer Hand vereinigt sein müßten23, da sie als ,.ständige Gewalten" vorhanden sein müßten24, während die Gesetze, die ständig in Kraft sind, in kurzer z,eit geschaffen werden können. Daher Ebd., § 166. Ebd., § 159. 18 Tsatsos, Peri Politeias, S . 130. 19 Zu Lackes Gesellschaftsbegriff: McPherson, Besitzindividualismus, S. 278 ff. 20 Locke,§§ 133 f. 2' Ebd., § 141. 22 Ebd., § 119. 23 Ebd., §§ 148, 159. 24 Ebd., § 144. !6 17

1.

Forderung nach Mitwirkung an der monarchischen Herrschaft

13

sei es nicht notwendig, daß die Legislative ständig im Amt sei, "weil sie nicht ständig beschäftigt ist" 25• Wegen dieser unterschiedlichen Organisation der Legislative und der drei anderen Gewalten seien sie "oftmals getrennt"16, insbesondere in allen gemäßigten Monarchien und wohlgeordneten Regierungen27• Wem hingegen die drei anderen Gewalten zufallen sollen, sagt er nicht ausdrücklich. Als absolut unvereinbar mit seiner Lehre erklärt Locke die "absolute Monarchie". Das geschieht jedoch nicht deshalb, weil diese undemokratisch ist, sondern weil sie dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht. Gegen die Herrschaftsausübung wäre die Berufung eines unparteiischen Richters unmöglich, sie wäre daher notwendig Richter in eigener SacheU. Die Mitwirkung der Gesellschaft an der Herrschaftsausübung begründet er somit keineswegs mit demokratischen Erwägungen, sondern ausschließlich mit praktischen Überlegungen. Wenn die Gesetzgebung von den übrigen drei Gewalten organisatorisch stets getrennt sein muß, so kann der überkommene Monarch nur noch einen dieser Zweige ausüben. Daß Locke ihm die exekutive Gewalt zusprechen wollte, ergibt sich schon aus der ständigen Existenz und Präsenz des Monarchen, welche den Bedürfnissen der Exekutive entspricht. Die davon abgetrennte Legislative kann dann durch die Gesellschaft wahrgenommen werden, wobei jedoch die Rückführung auf eine "Zustimmung" genügt. Grundsätzlich soll die Legislative die höchste Gewalt im Staat sein, der alle Gewalten untergeordnet sind29• Deutlich wird so die Zielrichtung Lockes: Nicht eine Verlagerung aller Herrschaftsgewalt auf das Volk oder die Gesellschaft war seine Absicht; dazu war sein Gesellschaftsmodell ohnehin wenig geeignet. Er strebte vielmehr eine Mäßigung der monarchischen Herrschaft durch Mitwirkung der Gesellschaft an. Nicht Beendigung des feudalen oder monarchischen Systems, sondern Beschränkung der Herrschaft durch Gewaltenteilung war sein Ziel. Er wandte sich somit gegen den Absolutismus traditioneller Prägung, indem er die Macht des Königs durch Mitwirkungserfordernisse der Gesellschaft einschränken wollte, ohne jedoch jene völlig abzulösen. Nicht der Staat oder die Staatsgewalt sollte geschwächt werden, sondern nur der Anteil des Monarchen an ihr. Legitimation dafür war die Verpflichtung der Staatsgewalt zum Schutz des Eigentums.JO. Bei der Verwirklichung seines Anliegens spielte die RechtEbd., § 143. Ebd., § 144. 27 Ebd., § 159. 28 Ebd., § 90 f. 29 Ebd., § 150, s. aber zur Prärogative §§ 159, 166. .JO Ebd., § 124; zu Einzelheiten §§ 125 ff. 25

16

14

I. Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Gewaltenteilung

sprechung für Locke noch keine eigenständige Rolle; sie nimmt in seinem Werk keine hervorgehobene Stellung ein.

b) Ch. Montesquieu Anders als Locke ergriff Montesquieu für den in Frankreich weitgehend entmachteten und von sozialer Entwurzelung bedrohten Kleinadel Partei31 • Aus dieser Position heraus kritisierte er die Realität des zeitgenössischen ancien regime, dessen Charakteristika das Streben der königlichen Zentralmacht nach unbeschränkter und unkontrollierter Machtvollkommenheit unter Aufhebung aller intermediären ständischen, provinziellen oder lokalen Zwischeninstanzen und die Stellung der Parlamente als das letzte Bollwerk der bereits weitgehend entmachteten Stände mit dem Anspruch auf Kontrolle der monarchischen Machtausübung waren32 • Ähnlich wie bei Locke sind auch bei Montesquieu die Methoden nach der Art ihrer Zeit gewählt. In seinem Hauptwerk "De l'esprit des lois" (1748) argumentiert er überwiegend historisch. Eine eigenständige Lehre über die Entstehung oder Legitimation des Staates liefert er nicht, beschreibt jedoch eingangs die "Gesetze der Natur" und argumentiert hi.er mit dem Modell des Naturzustandes33 • Für ihn war dessen Charakte., ristikum nicht der Kampf aller gegen alle, sondern die Furcht voreinander, die aus der menschlichen Schwäche und Furchtsamkeit resultiert34. Erst durch ihre Vereinigung zu einer Gemeinschaft verlieren die Menschen das Gefühl ihrer Schwäche; das entstehende Bewußtsein von Stärke läßt nunmehr Rivalitätskonflikte nach innen und nach außen auftreten, welche die Menschen veranlassen, sich Gesetze zu geben. Die Frage nach dem Gesetzgeber beantwortet er nicht einheitlich; ausschlaggebend dafür seien die jeweiligen geographischen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten der einzelnen Gesellschaften35• Je nach der Organisation der Gesetzgebung unterscheidet er drei Staatsformen: Die Demokratie, in der das Volk die souveräne Macht besitzt, die Aristokratie, in der die souveräne Macht in den Händen eines Teils des Volkes liegt-16, und die Alleinherrschaft, in ·der ein einzelner die Macht ausübt. Die Organisation der Ausübung von Staatsgewalt wird in den einzelnen Staaten durch das Ziel der Gemeinschaft bestimmt. Über die Staats31 Eingehend dazu Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, S. 151 ff. 32 Böckenförde, Gesetz, S. 29 f. 33 Dazu Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, S. 165 f. 34 Montesquieu, I 2 f. 35 Näher ebd., XIV ff. 36 Ebd., II 2 ff.

1. Forderung nach Mitwirkung an der monarchischen Herrschaft

15

ziele äußert Montesquieu sich nur sehr allgemein: Nach außen hat jeder Staat das gleiche Ziel, nämlich die Selbsterhaltung; nach innen verfolgt er je spezifische Zwecke37. Aus allen Zielen greift er dasjenige der politischen Freiheit heraus. Politische Freiheit besteht darin, das tun zu können, was die Gesetze erlauben38• Freiheit wird so weder naturrechtlieh noch vorstaatl.ich begründet, sondern ausschließlich durch die Gesetze geschaffen. Sie ist allerdings keineswegs für alle gleich: Personen, die durch Geburt, Reichtum oder Auszeichnung aus der Allgemeinheit hervorragen, sollen wegen ihrer anderweitigen Vorrangstellung besondere Rechte genießen, da sie eine allen gemeinsame gleiche Freiheit als Sklaverei empfinden würden. Eine solche Vorrangstellung kommt nach Montesquieu dem Adel zu39; deutlich wird darin, daß er erworbene Rechte und Freiheiten verteidigt, nicht hingegen die allgemeine Freiheit in der Gleichheit. Zur Wahrung der Freiheit fordert Montesquieu eine maßvolle Regierung, die ihre Macht nicht mißbraucht40 • Eine solche Mäßigung der Staatsgewalt will er durch Gewaltenteilung sichern. Hierzu unterscheidet er funktionell drei Gewalten: Die Legislative (puissance legislative) schafft Gesetze auf Zeit oder für die Dauer, ändert geltende Gesetze oder schafft sie ab. Die Exekutive (puissance executrice) stiftet Frieden oder Krieg, sendet oder empfängt Botschafter, stellt die Sicherheit her, sorgt für Einzelfälle vor. Sie umfaßt alle drei ausführenden Gewalten Lockes. Die daraus abgetrennte richterliche Befugnis (puissance de juger) als "la bouche qui prononce les paroles de la loi" besteht darin, Verbrechen zu bestrafen und über Streitfälle von Einzelpersonen zu Gericht zu sitzen41 • Diese funktionelle Gewaltenteilung ist in organisatorischer Hinsicht ergänzt. Oberstes Konstitutionsprinzip der Gewaltenteilung ist für Montesquieu, daß nicht eine Körperschaft oder Person zugleich mehrere Zweige der Staatsgewalt ausübt. Daher teilt er die Gewalten organisatorisch und personell (distribution des pouvoirs, nicht separation des pouvoirs). Die Legislative soll dem Volk in seiner Gesamtheit zustehen42• Diese Zuweisung begründet er grundsätzlich, da in einem freien Staat jeder Mensch, dem eine freie Seele zusteht, durch sich selbst regiert werden soll. Entsprechend dem unterschiedlichen Maß an Freiheit von Adel und Ebd., XI 5. Ebd., XI 3; dazu Kägi, Gewaltenteilungsprinzip, S. 290 f. 39 Montesquieu, XI 6. 40 Ebd., XI 4; zur Gewaltenteilung bei Montesquieu eingehend: Böckenförde, Gesetz, S. 30 ff., 174 ff.; Tsatsos, Peri Politeias, S. 136 f. 41 Montesquieu, XI 6; dort auch zum Folgenden. 42 Montesquieus Gesetzesverständnis erläutert Böckenförde, Gesetz, S. 33 ff. 37

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I. Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Gewaltenteilung

Bürgertum soll jedoch auch das Maß der Beteiligung an der Gesetzgebung verschieden sein. So litt nach seiner Auffassung die Mehrzahl der antiken Republiken an dem schweren Gebrechen, daß dort das gesamte Volk verbindliche Beschlüsse fassen konnte. Dagegen fordert er, daß nur solche Bürger am Gesetzeserlaß beteiligt werden sollen, die dazu die notwendige Einsicht und Leistungskraft besitzen. Diese sollen durch allgemeine Wahlen ermittelt werden, von denen allerdings jener erhebliche Bevölkerungsanteil ausgeschlossen bleiben soll, der in einem solchen Elend lebt, daß man ihm keinen eigenen Willen zutraut. Die so gewählte Körperschaft soll jedoch die Gesetze nicht allein erlassen; an ihre Seite soll vielmehr eine Adelskörperschaft treten, um ihre anderweitige Vorrangstellung, die auch ihr höheres Maß an Freiheit legitimiert, innerhalb des Staates angemessen zur Geltung zu bringen. Die Mitgliedschaft in dieser Kammer soll erheblich sein. So bleibt Montesquieu seinen eigenen Prämissen treu: Legitimiert das Bedürfnis nach Herstellung von Freiheit die Gesetzgebung durch Kammern, so sind diejenigen, denen ein besonderes Maß an Freiheit zukommt, darin privilegiert zu beteiligen. So will er der Adelskammer als "regulierende Gewalt" unter beiden Häusern den Vorrang einräumen. Die exekutive Gewalt soll in den Händen des Königs liegen, da sie unverzügliches Handeln erfordere, das besser von einem als von mehreren besorgt werden kann. Die richterliche Gewalt soll keine eigenständige Gewalt im Sinne der Ausübung von Herrschaft darstellen. Ihre Unabhängigkeit wird dadurch garantiert, daß Richter nach einem gesetzlichen Verfahren aus der Mitte des Volkes genommen werden, wobei dem Angeklagten ein weitgehendes Ablehnungsrecht zusteht. Die soziale Absicherung dieser organisatorischen Trennung erfolgt dadurch, daß sich alle relevanten Gruppen der Bevölkerung an der Ausübung der Staatsgewalt beteiligen. Adel und Volk teilen sich die Gesetzgebung; dem König obliegt die Vollziehung. Die Gerichtsbarkeit muß von beiden Zweigen getrennt sein, wird jedoch keiner eigenen Gruppe zugewiesen. Vielmehr sollen die Richter aus demselben Stand stammen wie der Angeklagte. Dieses System schließt für Montesquieu Gewaltenverschränkungen nicht aus: So verweigert er der Legislative das Selbstversammlungsrecht und spricht diese Befugnis dem König zu; zudem kommt dem Monarchen ein Vetorecht gegen Gesetzesbeschlüsse zu43. Die Sicherung der Freiheit soll nach Montesquieu durch ein Gleichgewicht der Gewalten erreicht werden. Sein Bestreben, nicht die allgemeine und gleiche Freiheit aller zu garantieren, sondern überkommene 43 Trennung und Verbindung der Gewalten bei Montesquieu erläutert Imboden, Montesquieu, S. 7 ff.

2. Volkssouveränität als Alternative zur Gewaltenteilung

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Rechte und Freiheiten des Adels als Privilegien zu erhalten, verleiht diesem Stand eine herausragende Stellung. Wo stets das absolute Konsensprinzip besteht, wird der soziale Status quo stabilisiertM. So wird der Zweck seiner Ideen deutlich: Die Staatsgewalt sollte nicht auf andere Träger verteilt oder insgesamt geschwächt werden, begrenzt werden sollte der Anteil des monarchischen Herrschaftsanteils durch Mitwirkungsrechte des Volkes und insbesondere des Adels. Dementsprechend fordert er keine Demokratie; ausdrücklich wird betont, daß Freiheit und Demokratie nicht notwendig miteinander korrelieren45 • Freiheitssicherung erfolgt somit für ihn nicht durch eine Schwächung des Staates, sondern des Königs im Wege der Mitwirkung der Betroffenen. Insofern unterscheidet er sich nicht von Locke. Die Rechtsprechung hat an dieser Art der Freiheitssicherung keinen eigenständigen Anteil.

2. Die Forderung nach Volkssouveränität als Alternative zur Gewaltenteilung Die Ablehnung des Absolutismus ist auch die Basis der politischen Ideen Jean Jacques Rousseaus. Seine Perspektive ist jedoch schon deshalb von derjenigen Lackes oder Montesquieus verschieden46 , weil er nicht in einem großen, monarchisch regierten Flächenstaat Europas, sondern aus der Perspektive eines Stadtstaates heraus schreibt. So kann er zugleich weitgehend ohne Rücksicht auf mögliche Behinderungen durch königliche Instanzen publizieren. Auch Rousseau geht in seinem Hauptwerk "Du cantrat social" (1762) von einem angenommenen Naturzustand aus. Für ihn sind alle Menschen frei geboren47 , ihre ursprüngliche Freiheit begründet ihre Unabhängigkeit voneinander. Vereinbarungen zwischen den einzelnen, welche für alle Beteiligten verbindlich sind, können nur durch freiwillige Vereinbarungen eingegangen werden; dagegen schafft einseitige Unterdrückung etwa aufgrund überlegener Stärke kein Recht, sondern nur faktische, jederzeit durch Veränderung der Machtkonstellationen auflösbare Abhängigkeiten. Schließen sich die Menschen wegen ihrer Schwäche als Indviduen zur Vereinigung ihrer Kräfte zu einer Gemeinschaft zusammen, so müssen auch Gesellschaft und Staat durch freiwillig geschlossenen "Urvertrag" entstanden sein, dem alle Mitglieder zugestimmt haben, denn ,.warum sollte sich eine Minderheit der Mehrheit 44 45

46 47

Diese "Gewalteninterdependenz" betont Lange, DSt 1980, 224. Montesquieu, XI 4. Zur Abgrenzungs. Kägi, in: Rausch, Gewaltenteilung, S. 68 ff. Rousseau, I 1--tl.

2 Gusy

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I. Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Gewaltenteilung

unterwerfen" 48? Dadurch wurden die Beteiligten Teil des Ganzen "Staat", dem sie in einer Doppelrolle gegenübertreten. Als Teilhaber am Staat (citoyen) und als Unterworfene unter die Staatsgewalt (sujet)49 • Mit dem Eintritt in den Staat ändert sich der Status des einzelnen vollständig. Einerseits überäußert er sich mit allen seinen Rechten an die Gemeinschaft, ohne daß ihm ein Rest an eigenen Ansprüchen bleibt; andererseits hat jeder teil an der Souveränität, so daß er, wenn er dem Souverän gehorcht, nur sich selbst gehorsam ist50• Die Volkssouveränität ist unveräußerlich und unteilbar51• Ist so jeder zugleich Mitglied des Souveräns und des Volkes, so sind beide Zusammenschlüsse identisch52• Auf dieser Basis begründet Rousseau sein StaatsmodelL Funktionell unterscheidet er die Gesetzgebung von der Regierung. Der Bereich der Gesetzgebung wird durch seinen Gesetzesbegriff nicht gegenständlich wie etwa bei Locke nach dem Zweck des Eigentumschutzes - , sondern ausschließlich formal definiert53• Gesetze sind Ausprägungen der volonte generale, die vom Volk beschlossen sind. Die volonte generale ist entweder allgemein oder sie ist nicht. Sie ist der Wille des ganzen Volkes, nicht nur eines Teils54• Demnach wird sie durch das ganze Volk als Souverän gebildet, die Ausschließung eines Teiles wäre mit dieser Idee unvereinbar. Innerhalb des Volkes hat die Gleichheit der Beteiligung an der Willensbildung zu herrschen. Dabei bildet sich dieser Wille - im Gegensatz zur volonte de tous - nur in einer atomistischen Gesellschaft ohne Verbände und Parteien, ohne extreme Interessen und ohne Manipulation. Gesetzgebung ist somit für Rousseau kein Gestaltungs- oder Rechtsetzungsproblem, sondern eine Rechtsfindungs- oder Erkenntnisaufgabe. Aus dem Verbot der Beibehaltung privater Ansprüche leitet Rousseau zudem die Pflichtengleichheit der Bürger durch Allgemeinheit des Gesetzes her, da andernfalls eine Angelegenheit Privatsache würde und so die Grundlage des Staates gefährden könnte. Gleichfalls formal wird die Regierung bestimmt als rechtmäßige Ausübung der Vollzugsgewalt. Als Diener des Souveräns ist sie mit dem Vollzug der Gesetze und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen und politischen Freiheit beauftragt. Diese Umschreibung benennt keine inEbd., I 5. Ebd., I 6. 50 Ebd., I 6. SI Ebd., II 1, 2; zu Rousseaus Verständnis der Volkssouveränität: Imboden, Rousseau, S. 14. 52 Rousseau, I 7. 53 Hierzu Böckenförde, Gesetz, S. 146 ff. 54 Rousseau, II 2; zum folgenden II 3 f.; Volonte generale als Zentralbegriff des Rousseauschen Gesetzesdenkens analysiert Fetscher, Rousseau, S. 119 ff. 48

49

2. Volkssouveränität als Alternative zur Gewaltenteilung

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haltliehe Konkretisierung tatsächlicher oder zulässiger Regierungstätigkeit. Die Exekutive erhält ihre Handlungsaufträge durch die Gesetze, ohne dieses Zusammenwirken kann und darf nichts geschehen55• Der Gesetzeserlaß steht der Regierung niemals zu; ihre Charakteristika sind Gesetzgebundenheit und Bezogenheit auf "actes particuliers". Organisatorisch sieht Rousseau das Volk als Gesetzgeber an, da dieses allein die volonte generalezuerkennen und hervorzubringen vermag56. Durch Gesetzgebung wird nur der gefundene und festgestellte Gemeinwille in Gesetzesform gegossen, die Normen werden nicht "gesetzt", sondern nur "verfaßt". Das Volk kann sich dieses Rechts nicht begeben, da nur der so festgestellte Gemeinwille allgemeinverpflichtende Kraft besitzt. Die Abstimmung darüber hat allgemein, gleich und frei zu erfolgen. Dabei kann das Volk jedoch nicht als real präsentes, formell verfaßtes und organisiertes Staatsorgan angesehen werden. Aus den Darlegungen Hausseaus über die demokratische Staatsform57 ergibt sich, daß er eine unmittelbare Herrschaft durch das Volk zumindest in größ.eren Staaten nicht nur für störungsanfällig, sondern für wenig praktikabel hält. Weder ist das Volk tatsächlich permanent versammelt, noch läßt sich eine solche Versammlung zur unmittelbaren Erledigung von Staatsgeschäften in der Realität durchführen. Diese Erwägungen treffen gleichfalls auf den Gesetzgeber zu. Selbst wenn nicht permanent Gesetze erlassen werden müssen, so ist die Möglichkeit der Volksversammlung nur hypothetisch. Das gilt gerade dann, wenn Rousseau die volksbestimmte volonte generale auch für größere Staaten als Grundlage der Gesetzgebung ansieht. Schon hieran zeigt sich deutlich, daß er das Volk weder für einen abstimmungsfähigen noch die volonte generale für einen abstimmbaren Faktor hält. Volksbestimmt ist die Gründung und reale Basis des Staates, die als Gemeinwille Herrschaftsausübung legitimierts". Volk als Träger der volonte generale ist bei Rousseau eine ideelle Größe, welche die Herrschaft begründet und legitimiert, an ihrer praktischen Ausübung jedoch kaum Anteil hat. Die Regierung besteht aus Beauftragten, die als Beamte des Souveräns in seinem Namen die Macht ausüben, die ihnen übertragen ist-59 • Ihr Auftrag ist abänderbar und rücknehmbar. Sie kann aus einem (roi) oder mehreren Mitgliedern (magistrats) bestehen. Liegt die Regierung in den Händen des gesamten Volkes oder seiner Mehrheit, so nennt Rousseau die Staatsform Demokratie. Wird sie von einer Minderheit ss Rousseau, 111 1. 56

57 58 59

Ebd., II 7; Fetscher, Rousseau, S. 146 ff. Rousseau, 111 4. s. aber auch Fetscher, Rousseau, S. 150. Rousseau, 111 1-6.

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I. Ideengeschichtliche Voraussetzung: Die Gewaltenteilung

ausgeübt, ist der Staat eine Aristokratie; liegt sie in den Händen eines einzelnen, ist der Staat monarchisch konstituiert. Die Lehre Rousseaus ermöglicht demnach funktionell eine Unterscheidung zwischen zwei Gewalten. Souverän und Regierung fallen nur in der Demokratie zusammen, die Rousseau jedoch nur für kleine, relativ homogene Staaten für möglich hält. Deutlich weist er darauf hin, daß er wegen der Gefahr von Manipulationen und praktischer Schwierigkeiten eine Trennung zwischen Souverän und Regierung bevorzugf'O. Damit im Staat ein Gleichgewicht herrscht, muß zwischen der Macht der Regierung, der Macht des Volkes als Souverän und derjenigen der Untertanen ein ausgewogenes Verhältnis bestehen61 • Dabei zeigt er erhebliches Mißtrauen gegenüber der Regierung. Diese könnte trotz ihrer Gesetzesbindung aufgrund ihrer überlegenen Effizienz oder ihrer Zusammensetzung als Sondergruppe das Gleichgewicht beeinträchtigen. Daher erwägt er eine gemischte oder gemäßigte Regierungsform durch Teilung der Ämter62 • Demgegenüber wendet er sich eindeutig gegen die Lehre Montesquieus, dem er unterstellt, er wolle die Souveränität "in ihrem Prinzip" aufteilen63 • Organisatorisch kennt Rousseau hingegen nur eine Staatsgewalt, die Regierung. Sie konkretisiert die ideelle volonte generale in Akte konkreter Herrschaftsausübung, die unmittelbar berechtigende und verpflichtende Kraft für den Bürger haben. Die Gewaltenteilung lehnt Rousseau ab64• Rousseau will dem Absolutismus demnach auf die Weise begegnen, daß er als Träger der Staatsgewalt statt des Monarchen das Volk ansieht. In seinem deutlichen Plädoyer gegen die Monarchie65 zeigt sich der prinzipielle Unterschied zu Locke und Montesquieu: Sie begründen die Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk, um diesem vermittels der Gewaltenteilungslehre eine Beteiligung an der Herrschaftsausübung durch den König zu sichern. Rousseau wendet sich gegen eine Teilhabe des Königs überhaupt. Damit schlägt er einen völlig anderen Weg als jene ein: Während Locke und Montesquieu dem Machtanspruch der absoluten Monarchen durch Beteiligung der Beherrschten an der Ausübung der Staatsgewalt im Wege der Gewaltenteilung begegnen wollen, geht Rousseau darüber hinaus, indem er die Vbertragung der Trägerschaft der Staatsgewalt vom König auf das Volk verlangt. Die Ebd., III 4. Ebd., III 1. 62 Ebd., III 7. 63 Ebd., II 2. 64 Ausführlich Kägi, in: Matz, Demokratie, S. 117 ff.; anders partiell Fetscher, Rousseau, S. 151 ff.; zur Justiz bei Rousseau: Tsatsos, Peri Politeias, 60 6!

5.138. 65

Rousseau, III 6.

2. Volkssouveränität als Alternative zur Gewaltenteilung

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Gewaltenteilung bei jenen und die Demokratie bei diesem sind somit ihrer Intention nach gleichgerichtet; sie ergänzen sich nicht, sandem sind als Mittel gegen den monarchischen Absolutheitsanspruch austauschbar. Beide stellen für sich spezifische Antworten auf die zeitgenössische politische Machtlage dar, schlagen aber auf dem Weg zu ihrem Ziel nach den verschiedenen Interessen und Perspektiven unterschiedliche Wege ein, um die Macht des Königs einzuschränken. Verstärkt wird dieser Unterschied durch den formalen Gesetzesbegriff Rousseaus. Zwar ist nach allen dargestellten Lehren die Exekutive an die Gesetze gebunden, die inhaltliche Determinierung der Reichweite von Gesetzen, insbesondere bei Locke, läßt der monarchischen Exekutive jedoch erhebliche gesetzesfreie Räume zur eigenen Machtentfaltung. Dagegen ist nach Rousseau die Gesetzgebung inhaltlich unbegrenzt, die Bindungen der Regierung weiten sich so aus. Der von Montesquieu und Locke durch die Gewaltenteilungslehre angestrebte Zweck, die Macht des Königs zu begrenzen, entfällt bei Rousseau, da er statt dessen die Trägerschaft der Herrschaftsausübung für das Volk fordert. Er bedarf keiner Begrenzung des monarchischen Anteils mehr.

II. Gewaltenteilung und richterliches Prüfungsrecht in Verfassungsrecht und Praxis des deutschen Konstitutionalismus 1. Rechtsgrundlagen

Das deutsche Verfassungsrecht als Grundlage jeder Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht stellte geradezu eine Antwort auf die Forderungen nach Gewaltenteilung und Volkssouveränität im Ausland dar1• Art. 57 der Wiener Schlußakte von 1820 normierte das "monarchische Prinzip", nach dem die gesamte Staatsgewalt in der Hand des Monarchen vereinigt war. An diese Vorschrift waren alle Bundesglieder bei Erlaß ihrer "landständischen Verfassungen" (Art. 13 Bundesakte 1815) gebunden, so daß sie keine Gewaltenteilung einführen durften. Auch dieJenigen deutschen Landesverfassungen, die vor der Wiener Schlußakte in Kraft traten, gingen vom monarchischen Prinzip aus2• Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß der Erlaß von Gesetzen - wie die Änderung der Verfassungen - an Mitwirkungsrechte der Ständeversammlungen geknüpft war. Dabei galt jedoch, daß die Stände nicht selbst Staatsgewalt ausübten, sondern auf Mitwirkungsrechte bei der Wahrnehmung königlicher Befugnisse verwiesen waren, wenn sie in bestimmten Fällen "Beyrath und Zustimmung" erteilten. Dementsprechend tagten sie nicht permanent, sondern nur aufgrund königlicher Einberufung zu einzelnen Sessionen; ein Selbstversammlungsrecht kam ihnen nicht zu3• Funktionell wie organisatorisch war lediglich die Hechtsprechung von den übrigen Staatsgewalten getrennt; die Unabhängigkeit der Justiz war allgemein anerkannt. Zur Gewährleistung der Verfassungen waren unterschiedliche Mittel vorgesehen. Soweit die Verfassungsmäßigkeit von Staatshandlungen überhaupt einer Kontrolle unterlag, war das Mittel dazu die - allerdings selten praktische- Ministeranklage. Als quasi strafrechtliche Sanktion setzte sie eine schuldhafte Verletzung der Verfassung durch ein Regierungsmitglied voraus. Sanktions1 Zur Normenkontrolle vor dem Frühkonstitutionalismus Wulffen, Das richterlich Prüfungsrecht; Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 20 ff. 2 Baden I § 5; Bayern li § 1; Württemberg li § 4. 3 Jekewitz, Diskontinuität, S. 58 ff.

1. Rechtsgrundlagen

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mittel waren insbesondere die Amtsenthebung und die Verpflichtung zu bestimmten Geldleistungen4 • Voraussetzung war eine Anklageerhebung durch die Stände, wozu ein mehrheitlich gefaßter Beschluß erforderlich war. Über die Anklage wurde durch Gerichte entschieden5• Daneben hatten die Stände das Recht, eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu rügen und Abhilfe zu verlangen; gelegentlich waren sie auch befugt, Bitten oder Beschwerden über Rechtsverletzungen gegenüber einzelnen Bürgern zu prüfen und der Regierung zur Abhilfe zuzuleiten6 • Die Wahrnehmung dieser Rechte war jedoch nicht mit zwingenden Rechtsfolgen verknüpft, insbesondere traten keine Normenkontrollwirkungen wie etwa das Außerkrafttreten verfassungswidriger Vorschriften ein. Sie standen so dem Petitionsrecht näher als dem Prüfungsrecht. Da zudem meistens ein übereinstimmender Beschluß beider Kammern erforderlich war, stellten diese Rechte keine praktikablen Instrumente dar7 • Eine Ausnahme war die württembergische Verfassung von 1819. Sie enthielt ein eigenes Kapitel über den Staatsgerichtshof, der zum gerichtlichen "Schutze der Verfassung" eingerichtet war. Er entschied über "Unternehmungen, welche auf den Schutz der Verfassung gerichtet sind" und über "Verletzungen einzelner Punkte der Verfass1:1ng" (X§ 195). Zur Klageerhebung berechtigt waren die Regierung und die Stände, jedoch stets nur in der Form einer Anklage gegen Mitglieder des jeweils anderen Gremiums (§ 199, s. aber § 53). Das Gericht hatte die Pflicht, die von der Anklage umfaßten Handlungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen. Das Urteil konnte auf Bestrafung des Verurteilten lauten(§ 203); das Recht zur Normenkontrolle und damit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen wurde dem Staatsgerichtshof nicht eingeräumt. Insoweit hielten sich seine Befugnisse weitgehend innerhalb des von damaligen Verfassungen aufgezeigten Rahmens8 • Einige frühkonstitutionelle Verfassungen, die um 1830 erlassen wurden, räumten der Justiz ein Prüfungsrecht bezüglich der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen der Exekutive ein. Dieses Recht bezog sich auf die formelle wie materielle Rechtmäßigkeit9 • Ein Normenkontrollrecht Dazu Scheuner, in: BVerfG und GG I, S. 4 f. Sachsen VIII §§ 141 ff.; Kurhessen VII § 100; Hess. Verantwortlichkeitsgesetz bei Huber, Dokumente I, S. 236. 6 Bayern X § 5; Baden IV § 67; Hessen VIII Art. 80/81; Sachsen VII §§ 109/ 112. 7 Scheuner, in: BVerfG und GG I, S. 31 ff. s Ähnlich später Sachsen VIII § 142; der Staatsgerichtshof war aber nie in Tätigkeit; vertiefend Fangmann, Justiz, S. 35. 9 Schwarzburg-Son dershausen, § 107 (1830); Braunschweig § 100 (1832). 4 5

24 II. Gewaltenteilung und richterl. Prüfungsrecht im Konstitutionalismus gegenüber Gesetzen war den Gerichten nirgends ausdrücklich eingeräumt; bisweilen war die Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit sogar untersagt. Diese Tendenz setzte sich in verstärktem Umfang in denjenigen Konstitutionen, welche während der Reaktion auf die Revolution von 1848 oktroyiert worden waren, durch. Die Preußische Verfassung von 1850 nannte zwar den König nicht mehr als Träger aller Staatsgewalt, sondern nur noch der Exekutive (Art. 45), während die Gesetzgebung vom König und zwei Kammern .,gemeinschaftlich ausgeübt" wurde (Art. 62). Nichtsdestoweniger erklärte Art. 106 alle Gesetze und königlichen Verordnungen für verbindlich, wenn sie in der vom Gesetz vorgeschriebenen Form bekanntgemacht waren. Dementsprechend stand die Prüfung solcher Verordnungen nicht den Gerichten, sondern den Kammern zu. Daraus wurde einhellig der Schluß gezogen, daß den Gerichten eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nicht zustehen könne, wenn ihnen schon die Kontrollbefugnis gegenüber Verordnungen entzogen sei. Ein richterliches Prüfungsrecht wurde hingegen bei solchen Verordnungen anerkannt, die nicht .,königlicher" Herkunft waren, also von nachgeordneten Stellen erlassen wurden. Dem preußischen Beispiel folgte eine Vielzahl von Landesverfassungen der Folgezeit10• Der Ausschluß des richterlichen Prüfungsrechts stellte dabei eine Nachwirkung des monarchischen Prinzips dar. Das erhellt deutlich dadurch, daß vereinbarte Verfassungen und Konstitutionen, welche durch revolutionäre Ereignisse gefordert worden waren, in weitaus höherem Maße Kontrollen der Verfassungsmäßigkeit des Staatshandeins enthielten als einseitig oktroyierte Verfassungen aus .,ruhigen" Zeiten11 • Die Reichsverfassung von 1871 nahm zum richterlichen Prüfungsrecht weder positiv noch negativ ausdrücklich Stellung. Gern. Art. 2 übte das Reich die Gesetzgebung .,nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung" aus. Damit war jedoch nicht angesprochen, wer über die Wahrung der Verfassungsmäßigkeit wachen sollte. Einhellig war dagegen in Rechtsprechung und Lehre die Auffassung, daß aus dessen 2. Halbs., nach dem die Bundesgesetze den Landesgesetzen vorgingen, ein Prüfungsrecht der Justiz bezüglich der Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht herzuleiten sei. Über die Prüfung von Verordnungen war in der Verfassung nichts ausdrücklich normiert12• ,. Verfassungsgerichtsbarkeit" konnte lediglich in begrenztem Umfang durch den Bundesrat ausgeübt 10 Oldenburg § 5 (1852); Waldeck § 94 (1852); Schwarzburg-Rudolstadt § 26 li (1854); Schaumburg-Lippe Art. 32 (1857); Schwarzburg-Sondershausen § 41 (1857); Lippe § 5 (1867).

11 Zum preußischen Verfassungskonflikt insoweit Scheuner, in: BVerfG und GG I, S. 36 ff. 12 Nachweise bei Huber, Verfassungsgeschichte 111, S. 1063.

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis

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werden. Er "erledigte" gern. Art. 76 I RV "Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten", die nicht privatrechtlicher Natur waren. Gern. Art. 76 II RV sollte er zudem Verfassungsstreitigkeiten in bestimmten Bundesstaaten "gütlich ausgleichen"; im Falle des Mißlingens sollten diese "im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung" gebracht werden. In den Ländern blieb die Möglichkeit der Ministeranklage das zentrale Mittel, welches zur Wahrung der Verfassung vorgesehen war. 2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis

In der Praxis des Frühkonstitutionalismus entwickelte sich das richterliche Prüfungsrecht sehr uneinheitlich13• Erstmals wurde eine solche Befugnis von einem Gericht wohl im Jahre 1826 in Anspruch genommen. Strittig war die Rechtmäßigkeit eines ohne landständische Zustimmung erlassenen "Gesetzes" in Sachsen-Weimar-Eisenach. Während das Heidelberger Spruchkollegium das richterliche Prüfungsrecht bejahte, wurde es vom Leipziger Schöppenstuhl verneint14• Seit 1829 wurden in Bremen, seit 1835 in Lübeck Gesetze, welche ohne Zustimmung des Senates ergangen waren, nicht mehr angewandt15• Von verfassungsgeschichtlicher Bedeutung war die Inanspruchnahme des Prüfungsrechtes durch das Kurhessische Oberappellationsgericht in Kassel (1850). Als Reaktion auf die Unruhen von 1848 war die liberale Regierung entlassen und eine konservative Exekutive eingesetzt worden, welche in Konflikt mit den Ständen geriet. Innerstaatlich gestaltete sich der Streit als Budgetkonflikt. Nachdem die Stände die Steuerbewilligung verweigert hatten, erließ der Kurfürst unter Verstoß gegen die Verfassung (XI § 143) eine Verordnung, nach der Steuern und Abgaben ohne gesetzliche Grundlage weiterhin zu zahlen seien. Wegen Fehlens der vorgeschriebenen Bewilligung wurde die Verordnung vom Oberappellationsgericht für verfassungswidrig erklärt16 • Aus demselben Grunde erklärte das Obergericht Aurich eine Verordnung von 1855 für unwirksam, durch welche ohne die vorgeschriebene ständische Mitwirkung entgegen der Verfassung den Gerichten die Entscheidung über bestimmte Maßnahmen von Behörden entzogen wurde. Hierin sah das Gericht eine formwidrige Verfassungsänderung17• Die Justiz nahm demnach in einigen Fällen ein Prüfungsrecht in Anspruch, das sich allerdings nur auf die 13 14 15 16 17

Dazu grundlegend Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 41 ff. Zachariae, AcP 16, 150; Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 44. SeuffArch 4, 401; 5, 225; 16, 99; 32, 129. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 908 ff. DSt 1971, 395 ff.; Frotscher, DSt 1971, 383 ff.

26 II. Gewaltenteilung und richterl. Prüfungsrecht im Konstitutionalismus

formelle Verfassungsmäßigkeit bezog. Die materielle Prüfung oder gar

eine Zweckmäßigkeitskontrolle wurde stets abgelehnt18• Eine einheitliche Begründung für diese Praxis läßt sich noch nicht feststellen.

Eine solche Entwicklung war allerdings nur in denjenigen Staaten, welche den Gerichten nicht von vornherein das Prüfungsrecht entzogen hatten, theoretisch möglich. Die Inanspruchnahme der Kontrollrechte stärkte die Mitwirkungsrechte der Stände an der Ausübung der Staatsgewalt durch den König, indem Normen, welche verfassungswidrig ohne ihre Zustimmung ergangen waren, von den Gerichten jede Gültigkeit abgesprochen wurde. Entsprechend waren auch die Reaktionen der fürstlichen Verordnunggeber auf solche Entscheidungen und eine sich rasch ausbreitende Ansicht in der Staatsrechtswissenschaft19• Das Schlußprotokoll des Wiener Kongresses vom 12. 6. 1834 forderte die Fürsten zum Zusammenstehen gegen "Kompetenzübergriffe der Gerichte" auf, worunter insbesondere die Inanspruchnahme des Prüfungsrechts zu verstehen war20. In Hessen wurde erwogen, die Ausübung richterlicher Normenkontrolle unter Strafe zu stellen. Wesentlich härter waren die Maßnahmen nach 1848. In Kurhessen löste der Konflikt zwischen dem Kurfürsten und dem Oberappellationsgericht den Verfassungskonflikt aus, der erst durch militärische Intervention des Deutschen Bundes und erheblichen Druck auf das Gericht beigelegt werden konnte21 • In Aurich wurden die beiden Richter, die der Entscheidung zugestimmt hatten, disziplinarisch gemaßregelt. Der Kammervorsitzende wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, der Beisitzer Planck versetzt, für zwei Monate von "Amt und Gehalt" suspendiert und polizeilich überwacht22 • Angesichts solchen Drucks konnte das Prüfungsrecht nur dort entstehen, wo liberale Regierungen bestanden: Praktisch relevant wurde es insbesondere in den Hansestädten, in Sachsen, Württemberg, Kurhessen und Bayern23• Ebenso wie die Lehre von der Gewaltenteilung war das richterliche Prüfungsrecht Teil der Bestrebungen des Bürgertums, die königliche Macht durch Mitwirkungs- und Kontrollrechte einzuschränken. Wo sich das monarchische Prinzip als stärker erwies, konnte dieses Recht gesetzlich ausgeschlossen oder seine Inanspruchnahme politisch unterdrückt werden; nahm hingegen das Bürgertum eine nicht nur wirtschaftlich, Jähn, Richterliches Prüfungsrecht, S. 23. Nachweise bei Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 44 f., und u. III vor 1. 20 Zachariae, AcP 16, 153; Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 45. 21 Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 926 ff. 22 Frotscher, DSt 1971, 391 f. 23 Einzelheiten bei Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 51 mwN. 18

19

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis

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sondern auch politisch starke Stellung ein, so konnte eine - allerdings unterschiedlich wirksame - Kontrolle tatsächlich ausgeübt werden. Nach der Reichsgründung wurde die Rechtsprechung des Reichsgerichts maßgeblich für die Behandlung des richterlichen Prüfungsrechts in der Rechtsprechung. Entsprechend der allgemeinen Auslegung des Art. 2 RV wurde die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem Reichsrecht von der Rechtsprechung in Zweifelsfällen stets geprüft. Der Kontrolle unterlagen einfache Landesgesetze ebenso wie Verfassungen, die Nachprüfung bezog sich auf die formelle und materielle Übereinstimmung mit dem vorrangigen Reichsrechfl4• Das entsprach der vereinheitlichenden Zielsetzung von Reichsgründung und Rechtsetzung des Reichs, die eine "unbedingte Unterordnung der Landesgesetzgebung unter die Reichsgesetzgebung" als das "oberste Axiom des deutschen Reichsstaatsrechts" erscheinen ließ25 • Diese Rechtsprechung war jedoch kein Indiz für Verschiebungen im Gefüge der Gewaltenteilung; vielmehr wandelte sich das Reich vom Staatenbund zum Bundesstaat. Sie vollzog nur die Reichsidee mit der daraus resultierenden Überordnung des Reichs über die Länder nach. Das Prüfungsrecht konnte durch Landesgesetze nicht ausgeschlossen werden. Auch Verordnungen der obersten Reichsorgane wurden von den Gerichten daraufhin geprüft, ob sie auf einer zureichenden gesetzlichen Ermächtigung beruhten oder sich in diesem Rahmen hielten26 • Die Reichsverfassung enthielt über eine solche Prüfungskompetenz keinerlei Regelungen; die einschlägigen Urteile des RG enthalten keine Begründung, sie gehen vielmehr unter Berufung auf fehlende entgegenstehende Normen und zustimmende Literatur von einer solchen Befugnis ausZ1. Auf diese Weise sicherte das RG den Vorrang des Gesetzes und damit die parlamentarischen Mitwirkungsrechte, die nicht durch rechtswidrige Verordnungen unterlaufen werden durften. Dagegen nahm das RG gegenüber dem Prüfungsrecht bei Reichsgesetzen eine differenzierte Haltung ein. Die Inanspruchnahme einer materiellen Nachprüfungskompetenz lehnte das Gericht stets ab. Schon in der Frühzeit seiner Rechtsprechung entschied es, daß Verfassungsbestimmungen, welche inhaltliche Anforderungen an Gesetze enthielt, "nur als eine Norm für die gesetzgebende Gewalt" aufzufassen seien. Binden sie nur die Legislative, so konnte die Justiz nicht zuständig sein, ihre Einhaltung zu überwachen. Darüber hinaus wurde auch die verfassungskonforme Auslegung abgelehnfZS. 24 25 26 27

Nachweise bei Huber, Verfassungsgeschichte 111, S. 1063 f. RGZ 19, 176, 180. RGZ 14, 1; 40, 76; 48, 88. RGZ 24, 1, 3.

28 II. Gewaltenteilung und richterl. Prüfungsrecht im Konstitutionalismus

Wenn das Gericht den Richtern dennoch die Befugnis, bei der Anwendung einer Rechtsnorm in einem konkreten Fall deren Rechtsgültigkeit zu prüfen, nicht absprach29, so konnte es sich dabei nur um die Prüfung solcher Gesetze handeln, welche "nicht verfassungsgemäß zustande gekommen" sind30• Ein solches formelles Prüfungsrecht nahm das Reichsgericht für sich in Anspruch, wobei es den Umfang seiner Befugnisse dahin umschrieb, daß "das Gesetz vom Bundesrat und vom Reichstag beschlossen und ordnungsgemäß verkündet ist" 31 • Diese Auffassung wurde auch von einem Strafsenat des RG geteilt32• Über den aufgezeigten Rahmen hinaus hielt es die Gerichte nicht für befugt, an dem ordnungsg.emäßen Zustandekommen von Gesetzen zu zweifeln. Ein Vorrang der Reichsverfassung vor dem einfachen Gesetz wurde abgelehnt33• Mit dieser Definition seines Prüfungsrechts schloß sich das Gericht explizit den von Laband vertretenen Ergebnissen des staatsrechtlichen Positivismus an34• Materiell war seine Rechtsprechung Ausdruck des Wandels von einem vorwiegend an überkommenen Rechten und Freiheiten orientierten Staatsrecht hin zu einem positivistischen Verständnis der Verfassung als "Organisationsstatut". Im Gefüge der Staatsgewalten stärkte sie den Gesetzgeber, der im Spätkonstitutionalismus organisatorisch auf ein Zusammenwirken zwischen Kaiser, monarchischer (Landes-)Exekutive und Volk hin konzipiert war. Diese anfällige und für Verschiebungen offene Machtbalance stellte den zentralen Ausgleichsmechanismus zwischen den rivalisierenden politischen Kräften des späten 19. Jh. dar. Politische Mitwirkung sicherte die Teilhabe des Bürgertums an der Staatsgewalt; die Ausübung des Prüfungsrechts gegenüber kaiserlichen Verordnungen verhinderte, daß diese Mitwirkungsrechte auf dem Verordnungsweg umgangen werden konnten. Der Ansicht des RG folgten durchweg die Gerichte der Einzelstaaten. Sie prüften nur die Rechtmäßigkeit von Verordnungen, nicht hingegen die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze35•

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34 35

RGZ 9, 232, 235 f. RGZ 45,267,270. RGZ 46, 175, 176. RGZ 77, 229, 231; s. schon RGZ 43, 417, 420; 48, 84, 88. GA 55, 326. RG JW 1916, 596; s. auch JW 1917, 719. Dazu 111 3. BayObLGSt 7, 380; PrOVGE 63, 167, 169 ff.; HansOLGE 1894, Beibl. 184 ff.

111. Die Stellungnahmen der Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht Angesichts der eindeutigen Rechtslage konnte sich auch in der Rechtslehre die Theorie der Gewaltenteilung im Frühkonstitutionalismus kaum durchsetzen. Im Staatsrecht wurden zwar mannigfaltige Funktionenlehren entwickelt, denen jedoch zur Gewaltenteilung die organisatorische Ergänzung fehlte. Eindeutig für die Gewaltenteilung sprach sich lediglich Rotteck aus 1• Solange das monarchische Prinzip die Ausübung aller Staatsgewalt in den Händen des Königs verbleiben ließ, konnte Gewaltenteilung nur rechtspolitische Forderung, nicht hingegen Beschreibung des Status quo sein2• Zwar traten auch in Deutschland bürgerliche Emanzipationsbewegungen auf; die Forderung nach Freiheit mündete jedoch weniger in den Ruf nach einer Beteiligung des Bürgertums an der Ausübung der Staatsgewalt als vielmehr in das Bestreben, eine der staatlichen Wirksamkeit entzogene Sphäre privater Freiheit zu gewinnen. Dieses Ziel, das insbesondere in den Theorien zur Trennung von Staat und Gesellschaft seinen Ausdruck fand, orientierte sich am politischen Status quo3• Daß dieser Status quo bei Einführung eines richterlichen Prüfungsrechts gegenüber Gesetzen Verschiebungen erfahren und somit eine Veränderung der Durchsetzungsfähigkeit politischer Interessen zur Folge haben würde, war im 19. Jh. den an der Diskussion um seine Einführung Beteiligten bewußt4 • Das galt um so mehr, wenn die Verfassungen das Prüfungsrecht nicht ausdrücklich geregelt hatten. Die Unmöglichkeit, in diesem Fall das Problem ausschließlich mit der Rechtslogik lösen zu können, ließ Raum für eine politisch wertende Deutung des Verhältnisses der an der Ausübung von Staatsgewalt beteiligten Faktoren5. So hoben die Anhänger des richterlichen Prüfungsrechts die Wahrung der bürgerlichen Freiheiten und individuellen Rechte hervor; die Gegner befürchteten ein Überhandnehmen der Machtfülle von Richtern und Beamten und appellierten dagegen an den mäßigenden Einfluß des Rotteck, Allgemeine Staatslehre, §§ 7, 24, 26, 45. Böckenförde, Gesetz, S. 65 ff.; Schack (1918), S. 59 ff. 3 Grabitz, Freiheit, S. 159 f . 4 Darstellung bei Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 53-55. s Huber, Verfassungsgeschichte 111, S. 1060. 1

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III. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Königs. Dementsprechend sind die Argumente, die im Streit für und gegen das richterliche Prüfungsrecht verwandt wurden, stets vor dem Hintergrund der staatstheoretisch-politischen Auffassungen ihrer Anhänger zu würdigen6• Die Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht begann kurz nach Erlaß der ersten Verfassungen in Deutschland. Bereits 1821 wurde eine Prüfungsbefugnis der Gerichte abgelehnt, da die Verfassungen gegen Rechtsverletzungen die Möglichkeit der Beschwerde an die Stände vorsähen7. Befürwortet wurde das Prüfungsrecht nach einem anonymen Artikel8 erstmals von Jordan im Jahre 18259• Er führte aus, daß die Gerichte bei ihrer Rechtsprechungstätigkeit nur an gültige Gesetze gebunden seien; Gesetze, die der Verfassung widersprächen, seien jedoch ungültig. Bei der Feststellung der Gültigkeit anzuwendender Gesetze seien die Richter darauf verpflichtet, auch deren Verfassungsmäßigkeit in die Prüfung einzubeziehen. Fehlte hier noch die Begründung, welche Gesetze verfassungswidrig und warum verfassungswidrige Gesetze ungültig seien, so wies Feuerbach (1830) 10 auf den Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung hin. Gesetze dürften nur vom König mit Zustimmung der Stände erlassen werden, Verordnungen seien dagegen allein seine Angelegenheit. Soweit Normen zur gemeinsamen Kompetenz von Fürst und Ständen gehörten, konnten sie nicht durch den Fürsten allein erlassen werden. Andernfalls seien sie ungültig. Da die Gerichte nur gültige Normen zu befolgen hätten, stände ihnen ein Prüfungsrecht zu. Diese prozessuale Begründung war lange Zeit hindurch das meistgebrauchte Argument, ohne daß die Frage, warum gerade die Gerichte das Prüfungsrecht ausüben sollten, erörtert worden wäre. Dagegen wandten die Gegner des Prüfungsrechts zumeist ein, daß dessen Zuerkennung an jedes Gericht zur Rechtsunsicherheit führen würde, da man niemals sicher bestimmen könne, ob ein Gesetz gültig sei oder nicht. 1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips:

Der Primat des Monarchen

Gleich zu Beginn der Diskussion erhoben sich vielfältige Stimmen gegen das richterliche Prüfungsrecht. Sie argumentierten auf der Basis 6 Mohl, Staatsrecht, S. 66 ff.; Übersicht über die juristischen Argumente bei Schack (1918), S. 89 ff. 7 Mittermaier, AcP 4, 305, 334--336; Darstellung der weiteren Diskussion bei Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 41 ff. 8 Nachweis bei Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 46. 9 Jordan, AcP 8, 191, 214 f. 10 Feuerbach, Die Gerichtsverfassung eines konstitutionellen Staates, kann sie durch Verordnung abgeändert werden?, 1830.

1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips

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des zeitgenössischen Bundesrechts und verwiesen darauf, daß die Nachprüfung eigentlich überflüssig sei, da die Verfassung andere Mittel ihrer Garantie vorsehe, insbesondere die Ministeranklage. Die Gegenzeichnung, welche die Ministerverantwortlichkeit begründe, reiche als Schutz gegen Verfassungsverletzungen aus 11 • Außerdem sei ein Kontrollrecht schon deshalb nicht aus dem Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung herzuleiten, da der König alle für verfassungswidrig erklärten Gesetze als Notverordnung erlassen könne. Die Voraussetzungen des Notverordnungsrechts waren nach allgemeiner Ansicht gerichtlich nicht überprüfbar, obwohl der Erlaß solcher Normen an spezifische Kautelen geknüpft war, welche durch diesen Vorschlag ignoriert wurden12. In der Realität ist dieser Weg niemals beschritten worden. Staatstheoretische Basis dieser ablehnenden Stimmen ist die Lehre vom monarchischen Prinzip.

a) F. J. Stahl Diese prägt deutlich die Haltung F. J. Stahls 13• Sie ist bestimmt von den politischen Zeitereignissen insbesondere in Frankreich, der Revolution von 1789 und der folgenden von 1830. Diesen Vorgängen steht er zutiefst ablehnend gegenüber. Er will nicht Revolution oder Reaktion, sondern "Autorität und Freiheit". Ordnung soll nicht das Produkt der Freiheit, sondern dieser vorausliegend sein. Freiheit ist nicht politisch im Sinne einer "Herrschaft der Nation", sondern "selbsttätiger Gehorsam". Diese Grundsätze sucht er auf einer religiös-pietistischen, theistisch wertenden Basis zu entfalten14. Ausgangspunkt in diesem System sind das göttliche Recht der Obrigkeit, die Legitimität und die Souveränität des Monarchen. In seinem "sittlichen Reich" bestimmt die bewußte, in sich einige Herrschaft über bewußt frei gehorchende Wesen. Das Reich Gottes, das die christliche Religion im Jenseits verheißt, ist dessen vollendete Verwirklichung15 • Sein Staatsverständnis weist drei konstituierende Elemente auf: Legitimität als notwendige, über die Menschen schlechthin erhabene Autorität der Obrigkeit zur Verwirklichung der Gedanken des sittlichen Reiches; das konstitutionelle Prinzip als Notwendigkeit eines sittlichen und verständigen Inhalts, der als unwandelbares Wollen eine unübersteigbare Grenze jeder Autorität darstellt; Repräsentation als selbständiger freier Gehorsam gegenüber der sittlichen Idee, aus der das Volk durch Sitte u Linde, GießZ 16, 330 ff. u Bischof, HistVJS 3, 148. 13 Stahl, Rechts- und Staatsphilosophie, 5. A., Bd. II, 1878. 14 Ebd., XXVII f.; zum Stand der Stahl-Forschung in der Bundesrepublik: Wiegand, Das Vermächtnis Stahls, S. 25 ff. 15 Stahl, S. 1.

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III. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

und Herkunft stammt und an deren späterer Fortentwicklung es durch die Landesrepräsentation beteiligt ist16• Die auf dieser Grundlage konstituierte Staatsgewalt wird von Stahl nach Funktionen unterschieden, welche den Staat nach seiner inneren Struktur und Teleologie erkennen. Eine solche Erkenntnis hat sich an dem konkreten Staat, nicht hingegen an abstrakten logischen Erwägungen zu orientieren. Einteilungsgrund ist für ihn der "innere Gehalt" jeder Tätigkeit, dagegen lehnt er eine Einteilung nach Organen und äußeren Formen der Tätigkeit ab 17 • Gesetzgebung ist die Feststellung der Rechtsgrundsätze18• Als Ethos des Staates konkretisiert sie die Grundlagen, an denen sich das Leben im Staat und die Ausübung der Staatsgewalt orientiert. Eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen Verfassunggebung und Gesetzgebung vollzieht er nicht19• Das Gesetz bestimmt alle übrige Staatsgewalt, ohne von ihr bestimmt zu werden; es ist die höchste Äußerung der Staatsgewalt. Der Gesetzgebungsfunktion steht die Regierungsfunktion gegenüber. Sie ist die wirkliche unmittelbare und reale Versorgung der ZuständelO durch Ausführung bestehender Gesetze (Vollziehung) und Verfolgung weiterer, gesetzlich nicht definierter Ziele (Regierung i. e. S.). Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Komponenten erfolgt somit danach, ob ihre Tätigkeit durch Gesetze positiv determiniert oder negativ begrenzt ist. Als dritte Funktion kennt er die richterliche als Wiederherstellung des verletzten Gesetzes gegen das Individuum21 • Anders als die gemeinwohlbezogene Regierung ist die Gerichtsbarkeit am individuellen Interesse orientiert. Sie dient der Wahrung und Herstellung des Gesetzes und ist daher durch die "unwandelbare Regel des Gesetzes" bestimmt. Die politische Grundhaltung Stahls wird jedoch weniger an der funktionellen Bestimmung und Abgrenzung der staatlichen Wirksamkeit als vielmehr bei der Frage bedeutsam, von wem und in welcher Weise sie auszuüben ist22• Oberstes Prinzip ist für ihn die Einheit und Unteilbarkeit der Staatsgewalt. In dieser Einheit ist sie die Souveränitätll, die oberste und ursächliche Gewalt, die alle Organe und Verrichtungen bedingt und umschließt. Sie kann nur in ihrer Ausübung auf verschiedene Organe "unter dem Souverän" gegliedert werden24 • Deutlich wendet er 16

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v. Oertzen, Positivismus, S. 73. Stahl, S. 190. Ebd., S. 192. Böckenförde, Gesetz, S. 179. Stahl, S. 193. Ebd., S. 196. Böckenförde, Gesetz, S. 171. Stahl, S. 189 f. Ebd., S. 190, 199 ff.

1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips

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sich gegen die Gewaltenteilungslehre, deren funktionelle Unterscheidungskriterien er ablehnt: Sie bezeichne die Begriffe nicht scharf genug und verfehle den "echten Konstitutionalismus", da sie keinen "echten König" anerkenne. Für ihn ist es allein der Wille des Souveräns, der im ganzen Bereich des Staates gegenwärtig und wirksam isfS. Dieser Souverän ist in der Monarchie der König. Er bestimmt den Inhalt aller Maßnahmen, verleiht ihnen Geltung und Autorität und führt die oberste Aufsicht. Ständische Mitwirkung an der Gesetzgebung kann daher stets nur Mitwirkung an der Ausübung der einheitlichen Souveränität sein. So bleibt der Monarch als Souverän immer alleiniges Subjekt der gesetzgebenden Gewalt, "aber er soll die Gesetze im öffentlichen Bewußtsein erproben", und eben diese Probe ist die ständische Mitwirkunglli. Haben die Gesetze ihren Ursprung und Geist im nationalen Bewußtsein, so gewährleistet die ständische "Erprobung" nur die Richtigkeit der Erkenntnis vom Inhalt dieses Bewußtseins. Wie die Gesetzgebung geht auch die Regierung, vielfach abgestuft, vom Souverän aus. Als Angelegenheit von Persönlichkeit und Tatkraft übt er sie allein und ohne Zustimmung des Volkes ausZ7. Dagegen sollen die Richter vom Souverän unabhängig sein, da sie die Gerechtigkeit gegen die Macht der persönlichen Berechtigung verwirklichen sollen. Ihre Unabhängigkeit und Gesetzesbindung legitimiert sich aus ihrer notwendig unparteiischen Rolle; die Vereinbarkeit einer solchen Unabhängigkeit mit dem monarchischen Prinzip begründet Stahl mit der Einzelfallbeschränkung und dem "untergeordneten Charakter" ihre Tätigkeitu. Diese Aussagen über die Ausübung der Staatsgewalt und die damit befaßten Organe bestimmen auch die Ansichten Stahls zum richterlichen Prüfungsrecht. Der Richter steht unter der anordnenden Gewalt des Souveräns unabhängig davon, ob sie sich durch Gesetze oder Verordnungen äußert29 • Dagegen darf niemand durch Einzelakte in seine Befugnisse eingreifen. Fällt für ihn der Erlaß allgemeiner Normen ausschließlich in die Kompetenz des Souveräns, so darf sich der Richter in dessen Rechtsetzungsbefugnisse ebensowenig einmischen wie jener in die Entscheidungszuständigkeit des Richters. So steht ausschließlich dem Souverän ein Urteil über die Rechtmäßigkeit seiner Anordnungen zu; ein Richter kann hierüber ein materielles Urteil nicht haben30• Er darf daher nur über die Existenz, nicht hingegen über die Gültigkeit einer 25 26 Z7

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Ebd., S. 190 f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 193 f. Ebd., S. 198. Ebd., S. 670 f. Ebd., S. 672 f.

3 Gusy

111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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Norm entscheiden. Dabei untersucht er, ob die Anordnung vom Souve-

rän ausging, gegengezeichnet ist und gehörig publiziert wurde. Nicht seiner Zuständigkeit unterfällt die Frage, ob der Souverän die Norm erlassen durfte. Insbesondere die fehlende Zustimmung der Stände begründet keinen Mangel der Gültigkeit einer Norm, da deren Erlaß in jedem Fall ausschließlich in die Kompetenz des Souveräns fällt. Das gilt für Gesetze wie für Verordnungen. An der Souveränität haben die Stände eben keinen Anteil. Geltungsgrund einer Norm ist somit für Stahl ausschließlich die monarchische Anordnung. Diese ist wirksam unabhängig von der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens; als Mittel zur Wahrung der ständischen Mitwirkung verweist er auf die Ministeranklage31 • Im übrigen stelle die monarchische Verfassung gerade auf das Vertrauen in die Loyalität des Fürsten ab. Kennt Stahl keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz, so nähern sich die Ergebnisse seiner Ausführungen konsequent absolutistischem Gedankengut, wenn er die monarchische Souveränität ausschließlich naturrechtlich limitiert. Das monarchische Prinzip als Legitimation des Königs gegen bürgerliche Mitwirkungsund Kontrollwünsche bei der Ausübung der Staatsgewalt schließt folgerichtig Gewaltenteilung und richterliches Prüfungsrecht aus32• b) H. Zoepfl

In seinen Ergebnissen steht Heinrich Zoepfl Stahl vielfach nahe, wiewohl er keinen religiös-philosophischen Ansatz verfolgt, sondern historisch argumentiert. Als Zeitgenosse Stahls ist er von ähnlichen Ereignissen geprägt; auch er hält - ungeachtet aller neuen Ansätze in seinem Werk- an einem streng monarchischen Standpunkt fest33• Grundlage jeder staatlichen Organisation ist für Zoepfl die Ansässigkeit von Menschen auf einem bestimmten Landesbezirk in völkerschaftlicher Einigung-14. Der Staat dient zur Geltendmachung gemeinsamer, gleicher und bleibender Interessen. In dieser seiner "Vernünftigkeit und Notwendigkeit" trägt der Staat den Rechtsgrund seiner Existenz in sich Ebd., S. 676. Im praktischen Ergebnis folgte F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder ideellen S.taatsrechts, 1845, S. 552 ff., den Ansichten S.tahls. Seine anders gearteten, bisweilen moderner anmutenden theoretischen Ausgangspunkte finden in seinen staatsrechtlichen Ausführungen selbst keinen unmittelbaren Niederschlag. So hat seine Ansicht, die Zustimmung des Volkes oder der Stände sei Bedingung der Gültigkeit von Gesetzen (ebd., S. 485 f.), in seinen Ausführungen zum Prüfungsrecht keine Konsequenzen. 33 Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, 5. A., 1863. 34 Ebd., S. 1. Jt

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1.

Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips

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selbst: Er ist ein lebender Organismus, als solcher eine Persönlichkeit mit allen Eigenschaften einer juristischen Person. Daher ist er nach außen ein unabhängiges, selbständiges und souveränes Gemeinwesen35• Nach innen legitimiert sich die staatliche Herrschaft durch ihre Vernunft; so, wie die Individuen nur vernünftig sind, wenn sie an dem "Wesen der Gattung", dem Allgemeinen, teilhaben, so ist dieses Allgemeine wie der Staat, der es erst hervorbringt, gleichfalls vernünftig36. Der auf die Erreichung der Staatszwecke gerichtete Wille ist die Staatsgewaltl7. Daraus, daß sie die höchste Gewalt im Staate ist, folgt nicht, daß sie unbegrenzt ist: Sie findet ihre Grenze im Zweck des Staates38 • Die Außerungen der Staatsgewalt kategorisiert Zoepfl funktional, wobei er sich an der überkommenen Theorie der Hoheitsrechte orientiert39• Danach unterscheidet er zwei Funktionen, die gesetzgebende und die vollziehende. Das Gesetz soll allgemeine Grundsätze aufstellen, es regelt das Prinzipielle und Bleibende40; einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz kennt Zoepfl wie Stahl nicht. Dagegen hat die vollziehende Gewalt durch den Erlaß von Anordnungen und Verfügungen, die Oberaufsicht, das richterliche Entscheidungsrecht und die "Vollstreckung im engeren Sinne" die Aufgabe, den Vollzug der Gesetze und die öffentliche Ordnung und Wohlfahrt entsprechend den wechselnden Zeitumständen und Verkehrsverhältnissen zu ordnen41 • Aufgabe der Gerichte als Teil der Exekutive ist die "Subsumtion der einzelnen Fälle unter die Gesetze und andere feststehende allgemeine Grundsätze" 42• Bezüglich der Organisation der Ausübung von Staatsgewalt geht Zoepfl vom deutschen Bundesrecht aus. Ist die Staatsgewalt der auf die Verwirklichung der Staatszwecke gerichtete Wille, so ist sie für ihn subjektiv die lnnehabung der Staatsgewalt in einem bestimmten Gebiet, objektiv die Innehabung der dem Herrscher zustehenden Regierungsoder Hoheitsrechte43 • Deren Ausübung setzt ein willensfähiges Subjekt voraus44• Dieses Subjekt ist der Souverän45, in der Monarchie ist der Ebd., S. 8. Ebd., S . 10; zu Legitimationsproblemen bei Zoepfl: von Oertzen, Positivismus,S.83. 37 Zoepfl, S. 83. 38 Ebd., S. 93. 39 Ebd., S. 76 f.; Darstellung bei Böckenförde, Gesetz, S. 84 f. 40 Zoepfl, 11, S. 518 f. 41 Ebd., S. 521 ff. 42 Ebd., S. 770. 43 Ebd., I, S. 83. 44 Ebd., S. 89. 45 Ebd., S. 97. 3S

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a•

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111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Souverän der Fürst46• Er konstituiert erst den Staat als ,.Persönlichkeit": die Rechte des Staates sind keine anderen als die des Herrschers41• So übt dieser die Gesetzgebung allein aus48 • Ist das Gesetz ,.an sich betrachtet" ein Unterfall der allgemeinen landesherrlichen Verordnungen49, so wird es nur vom Monarchen erlassen, sanktioniert und publiziert. Ständischer Beirat und Zustimmung bedeuten nur, daß von seiten der Landesvertretung nichts einzuwenden ist, wenn die Regierung eine bestimmte Anordnung in Gesetzesform erläßfiO. Die vollziehende Gewalt steht gleichfalls dem Souverän zu51 ; insofern kennt Zoepfl entsprechend dem monarchischen Prinzip keine Gewaltenteilung. Differenziert behandelt er die Rechtsprechung. Auch sie geht nur vom Staatsoberhaupt aus, dem daher das Recht zur Oberaufsicht zukommP2 • Die Rechtsprechung selbst wird jedoch durch unabhängige Richter ausgeübt53• Deren Unabhängigkeit legitimiert sich für Zoepfl aus der ,.Rücksicht auf die Sicherstellung der individuellen Freiheit" 54• Sie betrifft jedoch nur ihre amtlichen Zuständigkeiten. Dabei darf ihr jedoch nicht ein solches Maß an Unabhängigkeit zuerkannt werden, daß sie eine die gesetzgebende und vollziehende Gewalt des Staatsoberhauptes beherrschende Souveränität einnehmen könnte. Diese grundsätzlichen Auffassungen bestimmen seine Ausführungen zum richterlichen Prüfungsrecht. Da Rechtsprechung in der Anwendung der Gesetze oder sonstiger Rechtsquellen auf die einzelnen Fälle besteht und daher solches Recht voraussetzt, müssen die Gerichte prüfen, ob ein Rechtssatz existiertsS. Die Prüfung bezieht sich darauf, ob eine Norm überhaupt sanktioniert und publiziert ist und ob die Publikation auf verfassungsgemäße Weise erfolgte. Dagegen sind alle Vorgänge vor der Publikation der Nachprüfung entzogen56• Das gilt sowohl für das Verfahren als auch für die inhaltliche Verfassungsmäßigkeit, obwohl Zoepfl materiell unzulässige Gesetze kennt57. Der Grund dafür liegt darin, daß Gesetze ihre Legitimation und verbindliche Kraft ausschließlich aus der Ebd., S. 101. 47 Ebd., S. 109. 48 Ebd., II, S. 512. 49 Ebd., S. 494; Zoepfl behandelt die Gesetzgebung im Abschnitt über die innere Verwaltung. so Ebd., S. 371. 51 Ebd., S. 522. 52 Ebd., S. 566 f. 53 Ebd., S. 571 ff. 54 Ebd., I, S. 770. 55 Ebd., II, S. 577. 56 Ebd., S. 578 ff. 57 Ebd., S. 500. 46

1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips

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Anordnung des Souveräns erhalten. Da die Vorschriften über die ständische Mitwirkung nur Ausnahmevorschriften zu allgemeinen Normen über den Verordnungserlaß darstellen58, gelten für die Gesetze dieselben Regeln wie für die Verordnungen. Diese sind nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfbar, da die Richter an die Normen gebunden seien, ein Recht zur Kritik daran stehe ihnen nicht zu. Daneben könne es nicht in das "subjektive Ermessen des einzelnen Richters selbst der untersten Instanz" gestellt sein, ob ein Gesetz in Kraft ist oder nicht59• Dieses stehe vielmehr nur den verfassungsgemäßen Gesetzgebungsinstanzen zu. Ein richterliches Prüfungsrecht kann daher für ihn nicht bestehen. Deutlich klingt bei ihm die Vorstellung an, das Zustimmungsrecht der Stände sei lediglich deren subjektives Recht, das ihnen nur im eigenen Interesse zustehe60• Daher seien auch nur sie befugt, Verletzungen dieses Rechts geltend zu machen. Dazu weist Zoepfl auf ihr Beschwerderecht hin61 • Er erkennt, daß die gegenteilige Auffassung das Prinzip der Gewaltenteilung einführen würde, und dieses sei gerade durch die Bundesgesetzgebung ausgeschlossen62• Für ihn können nur die in den Ständen vertretenen Gewalten Faktoren des politischen Ausgleichs sein, ein richterliches Prüfungsrecht, das die Gerichte "über den Souverän" stellen würde, ist für ihn ausgeschlossen. c) J . Held

Wesentlich systematischer als die Ideen Zoepfls ist die Darstellung von Josef Held. Seine Ausführungen sollen die Prinzipien des monarchischen Verfassungsrechts unter den spezifischen Bedingungen des Konstitutionalismus entwickeln. Dabei sind seine Ansichten teilweise religiös beeinflußt63. Auch er geht von der Konstituierung des Staates als "sittlicher Organismus" aus64• Objektiv ist er ein Zustand, als Ganzes eine juristische Person. Anders als bei Zoepfl dient der Staat jedoch nicht zur Verwirklichung von Interessen der einzelnen oder höherer Belange, er ist vielmehr ein Selbstzweck, der sich selbst trägt und erhälf'S. Die Menschen Ebd., S. 581. Ebd., S. 585. 60 Ebd., S. 581 f. 61 Ebd., S. 582, 586. 62 Ebd., S. 585. 63 Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten, 1857; Grundanschauungen über Staat und Gesellschaft, 1861/63/65. 64 System I, S. 7. 65 v. Oertzen, Positivismus, S. 85. 58

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111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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sind in ihm durch eine gemeinsame Idee verbunden, Ideen sind eine ab:.. solute Notwendigkeit für den Staaflli. Diese Ideen sind jedoch nicht die Summe von Ideen einzelner, sie sind durch höhere vernünftige Gesetze gestiftet. Im so konstituierten Staat ist die Staatsgewalt "die Summe aller materiellen, intellektuellen und sittlichen Kräfte einer Nation, welche, dem Staat zugewandt, in einem ewigen Kreislauf sich im Träger der Krone konzentrieren, um von ihm wieder auszustrahlen" 67• Die Souveränität ist dort vorhanden, wo die Gesamtkraft am vollständigsten sich konzentriert und reflektiertM. So wird die Souveränität im Staat und vom Staat ständig hervorgebracht; sie ist nicht außerhalb des Staates oder der Staat, sondern "das höchste und einzige absolut notwendige Amt" 69• Als solches ist sie unteilbar. Inhaber dieses Amtes ist in den monarchischen Staaten der König. Er erhält seine Souveränität nicht aus sich heraus, sondern vom Staat. Allerdings sind Fürst und Souveränität untrennbar, der Fürst ist die "personifizierte Staatsgewalt"10• Als solche hat er jedoch gegenüber dem Staat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, die durch die rechtliche Anerkennung der Schranken der Staatsgewalt und die rechtlich geordnete Beteiligung von Staatsbürgern an ihrer Ausübung gezogen werden11 • Diese Ausübung vollzieht sich für ihn durch Gesetzgebung und Verwaltung. Deren Unterscheidung sucht er formal durchzuführen, wobei Gesetze nur mit Beratung und Zustimmung der Stände ergehen können; die Verwaltung handelt gesetzesvollziehend oder gesetzesfrei72• Organisatorisch sieht er die Ausübung der Staatsgewalt entsprechend dem monarchischen Prinzip in den Händen des Souveräns vereinigt. Der Wille des Souveräns wird bestimmt "durch Wesen und Zweck des Staates und dessen bestehendes Recht'173• Bei der Gesetzgebung geht ihm die Volksvertretung zur Erfüllung der gemeinsamen Staatsaufgaben zur Hand74• Die Exekutive steht dem Monarchen allein zu. Der Richter ist unabhängig, dabei an die Gesetze streng gebunden. Für ihn besteht die Pflicht, jedes in der gesetzlichen Form publizierte Gesetz anzuwenden75• 66 67 68 (f}

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Grundanschauungen I, S. 584 f. Ebd., 111, S. 918 ff. Ebd., li, S. 516 f. System I, 243. Ebd., S. 357. Ebd., S. 37, 112, 193 ff. Ebd., li, S. 60 f.; dazu Böckenförde, Gesetz, S. 205 f. System I, S. 320 f. Ebd., S. 376 ff. Ebd., li, S. 95.

1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips

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Daraus ergibt sich Helds Haltung zum richterlichen Prüfungsrecht. Der Richter hat die Echtheit und Verfassungsmäßigkeit der Publikation zu überwachen. Die legale Form der Publikation begründet die Notwendigkeit der Anwendung von Gesetzen. Ist das Gesetz nicht in ordnungsgemäßem Verfahren verabschiedet worden oder sonst verfassungswidrig, so steht dem Richter darüber kein Kontrollrecht zu. Im Falle eines solchen "Unglücks" bleibt dem Richter in konsequenter Anwendung des monarchischen Prinzips nichts, als die Verordnung auszuführen76• Über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen zu wachen, steht ausschließlich den Ständen zu. Da ihre Zustimmung Rechtswirkungen nur gegenüber dem Souverän erzeugt, besteht dieser Konflikt nur zwischen ihnen77; er ist daher auch ausschließlich hier auszutragen. Die ausschließlich vom Souverän legitimierte und begründete Wirksamkeit der Norm nach außen wird davon nicht berührt. Trotz seiner vielfach modern anmutenden Ansätze bleibt Held so dem monarchischen Prinzip verhaftet.

d) H. A. Zachariae Die Anschauungen und das methodische Vorgehen Heinrich Albert Zachariaes stimmen weitgehend mit den Ideen Zoepfls überein. Seine staatsrechtlichen Arbeiten orientieren sich - trotz philosophischer und historischer Interessen des Autors - am positiven Recht des deutschen Bundes nach 184878• Für ihn ist der Staat das souveräne, die oberste Leitung und Förderung aller Gesamtinteressen der organisch verbundenen Glieder umfassende Gemeinwesen. Souveränität ist danach nicht eine vor- oder außerstaatliche Eigenschaft des Monarchen oder des Volkes, sondern des Staates als Organismus79 ; sie bedeutet für ihn die Unabhängigkeit des Staates nach außen und innen. Nur dieses Gemeinwesen ist die Quelle aller öffentlichen Macht. Die Betonung der Staatssouveränität gilt als das eigentlich Neue der Lehre Zachariaes, der in der Folgezeit große Bedeutung beigemessen wurde80• Er selbst stand jedoch zu sehr in den Traditionen des monarchischen Prinzips, um daraus grundlegende Konsequenzen zu ziehen. Für ihn ist die Staatsgewalt die im Begriff des Staates enthaltene oberste Gewalt, welche das staatliche Gemeinwesen seiner Bestimmung gemäß zu ordnen und zu leiten berufen ist. "Ideal" erscheint sie als selbständiger 76 77 78 79 80

Ebd., S. 99. Ebd., S. 95. Zachariae, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 3. A., 2 Bde., 1865/67. Ebd., S. 67 ff. Etwa: Bluntschli, Schultze; dazu: v. Oertzen, Positivismus, S. 116 f .

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III. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Staatswille, "real" dagegen als Wille des zur Repräsentation des Staates nach innen und außen berufenen Subjekts, des Herrschers oder Souveräns81. So äußert sich für ihn die Staatssouveränität praktisch nur als ideelle Legitimation von Herrschaft, welcher für die Praxis der Herrschaftsausübung keine tatsächliche Bedeutung zukommt. Insofern steht Zachariae mit seinen Ausführungen zum Staatsorganisationsrecht in unmittelbarer Nachfolge der Lehre vom monarchischen Prinzip82. Nach den Äußerungen der Staatsgewalt unterscheidet er funktional die gesetzgebende, die oberaufsehende und die vollziehende GewaltsJ. Die Gesetzgebung bestimmt die Verhältnisse des Staates im ganzen sowie der Zustände und Handlungen einzelner Bestandteile und Glieder durch allgemeine oder spezielle Vorschriften84 • Trotz dieser umfassenden Definition soll nicht alles im Staat geltende Recht durch Gesetze bedingt sein, Gesetzgebung ist nicht die einzige Quelle des Rechts. Die Oberaufsicht umfaßt verschiedene Leitungsbefugnisse des Staates nach innen85 ; die vollziehende Gewalt soll alles ins Leben rufen und verwirklichen, was nach dem Gesetz oder den Bedürfnissen geschehen muß86• Dazu zählt er die administrative und die rechtsprechende Gewalt. Letztere dient zum Schutze verletzter Privatrechte ebenso wie zur Sicherung der obj-ektiven Rechtsordnung87. Organisatorisch ist der Fürst Inhaber der gesamten, ungeteilten StaatsgewaltM. Das gilt jedoch nur im Rahmen der Schranken, welche die Verfassungen für die Ausübung der Staatsgewalt oder einzelner Zweige von ihr errichtet haben. So ist er Inhaber der gesetzgebenden Gewalt, die Stände haben nur ein Teilnahmerecht an der Gesetzgebung89. Verbindliche Kraft erhält eine Norm jedoch erst durch die förmliche Abfassung und Publikation des Fürsten90 • Oberaufsichtsrecht und administrative Gewalt stehen dem Monarchen zu, während die Gerichte Selbständigkeit und Unabhängigkeit genießen91 . Eine Begründung dafür findet sich bei ihm - über ansatzweise historische Erwägungen hinaus - nicht. Die Gesetze sind für alle Untertanen, Behörden und Gerichte verbindlich92 • 81 Zachariae, I, S. 49. 82 s. etwa ebd., II, S. 320 ff.: "Souveränität der deutschen Fürsten". 83 Ebd., I, S. 73. 84 Ebd., II, S. 139 f.; näher hierzu Böckenförde, Gesetz, S. 122 ff. 85 Einzelheiten: ebd., II, S. 193 ff. 86 Ebd., S. 198 f. B1 Ebd., S. 208. 88 Ebd., I, S. 325. 89 Ebd., II, S. 163 ff. 90 Ebd., S. 176 ff. 91 Ebd., S. 207 ff.

1. Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips

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Im konkreten Fall muß jedes Gericht entscheiden, ob ein Gesetz tatsächlich vorliegt. Dabei unterfällt seiner Kompetenz jedoch nur die Prüfung, ob es ordnungsgemäß unter Beachtung aller vorgeschriebenen Förmlichkeiten publiziert worden ist93 • Darüber hinaus steht den Gerichten keine Kontrollbefugnis zu, da sie keine "Wächter der Verfassung" sind. Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kennt er nur zwischen Fürst und Ständen, obwohl er den repräsentativen Charakter der Stände partiell erkennt und deren Funktion nicht ausschließlich in der Wahrung subjektiver Privilegien ihrer Mitglieder sieht94• Seiner neuen Ideen wegen kann Zachariae nicht einfach den Vertretern des monarchischen Prinzips zugerechnet werden. Er selbst zieht jedoch aus diesen Erkenntnissen noch keine praktischen Konsequenzen; Staatssouveränität ist für ihn zu ideell, um reale Konsequenzen zu zeitigen. Sein Ansatz ist so eine Auffassung des Überganges, dessen Wirkungen erst andere erkennen und verwirklichen.

e) Zusammenfassung Die Staatslehre des monarchischen Prinzips konnte von ihren Prämissen her ein richterliches Prüfungsrecht nur verneinen. Weder kannte sie eine Gewaltenteilung, noch ließ sie einen Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz erkennen. Verfassunggebung, Gesetzes- und Verordnungserlaß waren in der Hand des monarchischen Souveräns vereint. Andere konnten ihn dabei unterstützen, außerhalb seiner Wirksamkeit gab es jedoch keine Staatsgewalt. Stand ihm so die Souveränität allein zu, so konnten zwar Beteiligungsrechte anderer verletzt werden. Inwieweit das der Fall war, war allerdings ausschließlich zwischen diesen zu entscheiden; die Möglichkeit der Ministeranklage war das zentrale Mittel. Da diese Mitwirkungsrechte jedoch den Charakter von Ausnahmebestimmungen von der fürstlichen Souveränität bedeuteten, waren sie nicht erweiterungsfähig. Der Fürst übte die Staatsgewalt allein und uneingeschränkt aus; für ihn war es unmöglich, sich dabei den "willkürlichen Ansichten der Staatsdiener" unterzuordnen95 •

Ebd., S. 179 f. Ebd., S. 244 ff. 94 Ebd., S. 151 f. 9s So der Kurfürst von Kassel, nach: Augsburger Allgemeine Zeitung vom 28.10.1850,S.4092. 92 93

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III. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

2. Die Staatsrechtslehre des "liberalen" Rechtsstaates: Der Primat der Verfassung Zeitgleich mit den ablehnenden Stimmen wurde die Forderung nach einem richterlichen Prüfungsrecht im Staatsrecht laut. Erstmals erlangte diese Ansicht -nach dem bereits erwähnten Fall von 182696 Bedeutung im Hannoverschen Verfassungskonflikt. Nachdem der neue König im Jahre 1832 die alte Verfassung außer Kraft gesetzt hatte, ersuchten die Landstände die Tübinger, Heidelberger und Jenaer Juristenfakultäten um Rechtsgutachten97• Das Tübinger Gutachten98 untersuchte alle Möglichkeiten des Widerstandsrechts gegen die Maßnahmen des Königs99 und erörterte in diesem Rahmen auch das richterliche Prüfungsrecht. Dabei hatte es sich mit zwei Fragen auseinanderzusetzen: Welche Folgen sind aus dem Fehlen der landständischen Zustimmung zu den ergangenen Maßnahmen zu ziehen? Was folgt daraus für die Kompetenz der Gerichte? Zu der ersten Frage äußerte sich die Fakultät dahin, daß die Landstände durch ihr Zustimmungsrecht Teilnehmer an der gesetzgebenden Gewalt geworden seien100; nur dort, wo sie die Verfassung ausdrücklich auf den "Beirat" beschränke, sei diese Funktion ausschließlich dem König vorbehalten. Diese einschränkende Interpretation des monarchischen Prinzips wird mit Art. 13 der Wiener Bundesakte begründet, dem aufgrund historischer Vergleiche gewisse Mindestanforderungen an jede dort vorgesehene "landständische Verfassung" entnommen werden101 • Die Mitwirkungsrechte sind nicht nur subjektive Rechte der Stände selbst, sondern ihnen als Repräsentationsorgane des Volkes zuerkannt. Ihre Zustimmung erfolgt auch im Interesse "der nicht erschienenen oder nicht besonders repräsentierten Stände" 102• Da nicht nur derjenige Monarch, welcher die Verfassung erlassen habe, sondern auch seine Nachfolger an deren Bestimmungen gebunden seien, solange die Verfassung nicht ausdrücklich abgeändert werde103 , gelangt das Gutachten zur Verfassungswidrigkeit der ohne ständische Mitwirkung ergangenen Maßnahmen und wirft dem König Hochverrat vor104• Diese Verfassungswidrigkeit s. o. II 2. Dahlmann (Hg.), Gutachten der Juristenfakultäten in Heidelberg, Jena und Tübingen, 1839. 98 Ebd., S. 101 ff. 99 Ebd., S. 231 ff. 100 Ebd., S. 161. 101 Ebd., S . 145 ff. 102 Ebd., S. 213 f . 103 Ebd., S . 245. 104 Ebd., S. 241 ff. 96 97

2. Die Staatsrechtslehre des liberalen Rechtsstaates

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führe zur Unwirksamkeit der erlassenen Normen; weder sei der Bürger zum Gehorsam gegenüber dem König verpflichtet, noch sei dieser berechtigt, irgendwelche Leistungen vom Volk zu fordern 105• Die zweite Frage beantwortet das Gericht mit kompetenzrechtlichen Erwägungen. Da der Staat nicht berechtigt sei, rechtswidrige Leistungen hoheitlich zu verlangen, trete er bei deren Beanspruchung nicht mit seiner Hoheitsgewalt, sondern "wie ein Privatmann" dem Bürger gegenüber106• Daher seien für Klagen die Zivilgerichte zuständig. Die gerichtliche Entscheidung setze jedoch voraus, daß nicht nur überhaupt ein Gesetz bestehe, sondern daß die Norm gültig sei107• Gültig sei eine Norm aber nur, wenn sie ordnungsgemäß erlassen sei. Insoweit stimmt das Gutachten mit der Begründung Feuerbachs überein. Entsprechend der Fragestellung nimmt es nur zum formellen Prüfungsrecht ausdrücklich Stellung; auf die materielle Komponente einzugehen, bestand kein Anlaß. Der Gültigkeitsbegriff begründet im Gutachten somit sowohl die Zuständigkeit der Gerichte als auch die Unbeachtlichkeit verfassungswidriger Gesetze. Die Ausführungen zeigen bereits deutlich die Zielsetzung der rechtsstaatliehen Staatsauffassung. Bestand das vordringliche Interesse ihres Bemühens um Freiheitssicherung darin, Ideen zu dem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (Humboldt), zu entwickeln, so genügte es nicht, durcll die Verfassungen solche Grenzen zu statuieren. Erforderlich war vielmehr, wirksame Mechanismen zu schaffen, um die Verfassungsbindung der Staatsgewalt durchzusetzen. Dazu war das richterliche Prüfungsrecht ein brauchbares Instrument. Das Gutachten weist bereits einen breiten Meinungsstand zur Prüfungskompetenz nach. Auch wenn seine Publikation später wegen der scharfen Angriffe auf den König108 verboten wurde, so begründete es doch in weiten Teilen die rechtsstaatliche Auffassung und enthält erstmals nicht mehr ausschließlich prozessuale, sondern auch staatsrechtlich fundierte Einwände gegen die Thesen der traditionellen Vertreter des monarchischen Prinzips109• a) R. v. Mohl

Die größte Bedeutung für das rechtsstaatliche Verfassungsrecht kommt im 19. Jh. Robert v. Mohl zu110• Er hatte sich in den politischen Ebd., s. 255, 262, 276 f. Ebd., S. 266 f. 1117 Ebd., S. 270 f. 108 Ebd., S. 241 ff. 109 Wegen des Verbots der Publikation des Gutachtens wurde oft von Schaffrath, Theorie der Auslegung konstitutioneller Gesetze, 1842, § 20, als Begründer der Lehre vom richterlichen Prüfungsrecht angesehen. lOS

106

III. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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Auseinandersetzungen seiner Zeit bereits frühzeitig auf die Seite des Bürgertums gestellt und dessen Position literarisch und - später politisch unterstützt. Seine Ausführungen basierten auf der Einsicht, daß die politischen Verhältnisse nur durch konsequente Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten an wissenschaftlicher Meinungsäußerung und politischer Mitwirkung zu beeinflussen seien. So nimmt sein Werk eine eigenartige Zwischenstellung zwischen den monarchischen und bürgerlichen Staatsideen ein. Die vielfältigen Äußerungen können hier nur insoweit berücksichtigt werden, als sie für seine Auffassungen zum richterlichen Prüfungsrecht Relevanz erlangten111 • Mohl beschreibt den Staat in Gegenüberstellung zur Gesellschaft112• Die Gesellschaft wird konstituiert durch gemeinsames Wollen und Handeln zur Erreichung eines gemeinsamen Interesses. Dabei ist die Gesellschaft jedoch störungsanfällig und nur unvollkommen zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse geeignet 113• Daher muß der Staat die Zwecke der Gesellschaft wie der einzelnen in ihr fördern, indem er ständig auf die gesellschaftlichen Prozesse einwirkt114; der Staat ist somit nur in seinen Mitteln, nicht in den Zwecken von der Gesellschaft verschieden. Ein solcher Staat ist für ihn der Rechtsstaat115 • Das irdische Leben und seine Gestaltung ist sein Zweck, nicht hingegen ein metaphysisches Ziel. Seine Aufgabe besteht darin, vernünftige menschliche Zwecke zu fördern und dazu eine Rechtsordnung aufrechtzuerhalten116• Staat und Gesellschaft stehen einander gegenüber; der einzelne hat nicht notwendig ein Mitwirkungsrecht an der Regierung, sondern erhält seinen Status durch Freiheitsrechte, welche die Staatsgewalt zum Schutze der Gesellschaft, an der er teilhat, begrenzen117• Beschwerde und gerichtliche Klage sind so die zentralen Instrumente zur Kontrolle einer rechtsstaatsgemäßen Ausübung der Staatsgewalt118• Nur ausnahmsweise hat das Volk ein Recht auf Beteiligung an staatlichen Funktionen, wenn Maßnahmen drohen, welche sich durch nachträgliche Kontrolle nur 110

1 ff.

Zu Mohl: Angermann, Robert von Mohl, S. 19 ff.; Scheuner, DSt 1979,

111 Zum Folgenden: Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 1859; Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bde., 1855/56/58; Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, 3 Bde., 1860/68; nicht berücksichtigt ist insbesondere das Frühwerk Mahls. 112 Enzyklopädie, S. 18 f. 113 Ebd., S. 30 ff. 114 Ebd., S. 66. 115 Zu Mohls Rechtsstaats begriff: Angermann, Robert von Mohl, S. 97 ff., einerseits; Scheuner, DSt 1979, 16 ff. mwN andererseits. 116 Mohl, Enzyklopädie, S. 324 ff., 325. 117 Ebd., S. 359 ff. 118 Ebd., S. 303.

2. Die Staatsrechtslehre des liberalen Rechtsstaates

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schwer rückgängig machen lassen. So ist insbesondere die Demokratie keine notwendige Konsequenz aus Mahls Staatstheorie119• Aus der Gestaltungs- und Ordnungsfunktion des Staates ergeben sich die Elemente der Staatsgewalt als befehlende, ordnende und durchführende Macht120. Sie besteht teils aus den Mitteln, das Erforderliche zu tun, teils aus den Mitteln der Ausführung und Gehorsamserzwingung. Funktionell äußert sich die Staatstätigkeit in unterschiedlichen Formen121. Die Verfassungsnormen legen die Grundlagen für alles Recht im Staat, setzen "Grenz- und Zielpunkte" und damit die obersten Grundsätze für alle weiteren Regelungen. Die einfachen Gesetze stellen innerhalb des durch die Verfassung gezogenen Kreises das Recht fest 122. Ihnen unterfällt die gesamte Rechtsetzung, soweit sie nicht in der Verfassung niedergelegt ist123• Die Verwaltung hat den gesamten Inhalt der Verfassung in allen einzelnen Fällen zur Geltung zu bringen, indem sie institutionell-organisatorische Mittel bereitstellt und tatsächlich handeJtl24 • Dies Definition umfaßt auch die "Verwaltung der Rechtspflege", die Gerichtsbarkeit als spezieller Verwaltungszweig. Sie sorgt für die Vorbeugung von Rechtsstörungen und die Wiederherstellung des gestörten Rechtsm. Organisatorisch vollzieht Mahl diese Anschauungen jedoch kaum nach. Die Staatsgewalt bedarf eines Trägers oder Inhabers126. Dieser kann nur diejenige Person sein, welcher die Ordnung und Leitung des Staatswesens zusteht. Welche Person das ist, hängt von der jeweiligen Staatsform ab; in der Monarchie fällt eine solche Stellung dem Fürsten zu. Die Staatsgewalt ist ausschließend und unteilbar, allumfassend, ewig und unverantwortlichm. Die Befugnis zum Erlaß von Gesetzen kommt ausschließlich dem Staatsoberhaupt zu12ll. Damit ist die Teilhabe der Stände an der Gesetzgebung durchaus V'ereinbar, solange nichts gegen den Willen des Staatsoberhauptes geschieht und ihm die letzte Entscheidung bleibt129. Die Stände nehmen als Vertreter des Volkes an der Gesetzgebung teil, ihre Beteiligung soll ausdrücklich dem Schutz der Un119 s. zu Mohls politischer Haltung: v. Oertzen, Positivismus, S. 86. 120 Mahl, Enzyklopädie, S. 107. 121 Mahl, Staatsrecht II, S. 405 ff. 122 Ebd., S. 409 f., 412 ff. 123 Ebd., S. 413, 408 f. 124 Mahl, Enzyklopädie, S. 244 f. 125 Mohl, Geschichte, S. 277; Enzyklopädie, S. 264; zum Ganzen auch Enzyklopädie, S. 138. 126 Mahl, Enzyklopädie, S. 108. 127 Ebd., S. 110 f. 12ll Ebd., S. 139. 129 Ebd., S. 139, 360 ff.; Mahl, Geschichte, S. 208 ff.

111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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tertanenrechte dienen130• Während die Verwaltung ausschließlich dem Souverän zusteht und in seinem Namen und Auftrag durchgeführt wird131 , nehmen die Richter eine wesentlich ander-e Stellung ein als die Verwaltungsbeamten132• Sie sind im Rahmen ihrer amtlichen Zuständigkeit unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen133• In organisatorischer Hinsicht unterscheidet sich Mahls Staatsmodell wenig von demjenigen der Anhänger des monarchischen Prinzips. Das Charakteristische seiner Lehre wird deutlich bei der Zuordnung der Staatsfunktionen zueinander. Dient die Verfassung dazu, den Staat in der Gesellschaft zu konstituieren und mit seinen Funktionen auszustatten, so bezeichnet sie zugleich die Abgrenzung beider Sphären und bezweckt den Schutz der Gesellschaft vor dem Staat134, insbesondere der Regierung. Bleibt dieser Schutz unwirksam, wenn er nicht mit praktischen Vorkehrungen und Sanktionen verknüpft wird, so entwickelt Mahl ein System solcher Sicherungen. Hierzu rechnet er sowohl die ständische Mitwirkung an der Gesetzgebung als auch Abwehransprüche und Klagerechte, welche dem Bürger zur Verfügung stehen135• Ist die Verfassung die höchste Norm, so darf der Gesetzgeber keine Vorschrift erlassen, welche ihr widerspricht136• Ebensowenig kann der Verordnunggeber Recht setzen, das dem Gesetz entgegensteht. Diese Lehre von der gestuften Rechtsordnung unterscheidet Mahl deutlich von den Anhängern des monarchischen Prinzips. Sie ist die Grundlage seiner Ausführungen zum richterlichen Prüfungsrecht. Auch er geht davon aus, die Gerichte seien weder zur Kritik an den Gesetzen berufen, noch ständen sie über dem Gesetzgeber137• Sie haben jedoch einen konkreten Sachverhalt unter das jeweils anwendbare Gesetz zu subsumieren. Wenn anwendbare Normen einander widersprächen, was etwa bei verfassungswidrigen Gesetzen der Fall sei, so müßten hierfür Kollisionsregeln bestehen. Geht die Verfassung als höherrangige Norm der niederrangigen vor, so ist im Einzelfall nach der vorgehenden Regelung zu entscheiden. Das dagegen verstoßende niederrangige Recht hat in diesem Fall außer Betracht zu bleiben. Das gilt für formelle wie für materielle Rechtsverstöße, für verfassungswidrige Gesetze ebenso wie für gesetzwidrige Verordnungen. Damit wird das Prüfungsrecht von einer staatsrechtlichen zu einer prozessualen Frage; die verfassungswidrige Norm wird nicht mehr formell 130 131 132

133 134 135 136 137

Mohl, Enzyklopädie, S. 636 ff. Ebd., S. 249 ff. Mohl, Geschichte, S. 277. Mohl, Enzyklopädie, S. 271 ff. Ebd., S . 355 ff. Scheuner, DSt 1979, 18. Mahl, Enzyklopädie, S. 142. Mohl, Staatsrecht, S. 79 f.

2. Die Staatsrechtslehre des liberalen Rechtsstaates

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außer Kraft gesetzt, sondern nur nicht angewandt. Die Gegenargumente sind so leicht zu entkräften: den Verweis auf die Rechte der Stände weist er zurück, da diese bei ihrem Mitwirkungsrecht nicht nur eigene Befugnisse wahrnehmen, sondern zugleich die Interessen aller vertreten138. Dem Argument der Rechtsunsicherheit tritt er mit dem Vorschlag entgegen, den Normenkonflikt durch eine einheitliche obere Instanz, etwa einen Staatsgerichtshof, entscheiden zu lassen139. Seine rechtsstaatliche Auffassung bleibt so in ihren Ergebnissen gegenüber den Ansätzen folgerichtig. Für ihn ist nicht die bürgerliche Mitwirkung an der Ausübung der Staatsgewalt, sondern die Sicherung der staatsfreien Gesellschaft das zentrale Anliegen, das unabhängig von der konkreten Staatsform zu verwirklichen ist. Dazu zieht er aus dem auch von ihm angenommenen Amtscharakter der Herrschaft die notwendigen organisatorischen Konsequenzen. Nicht abstrakte Normenkontrolle, sondern konkrete Anwendbarkeitsprüfung sichert den Bürger vor unberechtigten staatlichen Zugriffen. So gelangt er nicht nur zu einer Konkretisierung der rechtlichen Grenzen staatlicher Herrschaft, sondern auch zu scheinbar unpolitischen Mechanismen ihrer Durchsetzung unter den Rahmenbedingungen des politischen Status qua, nämlich des komplizierten Verfassungskompromisses des Konstitutionalismus140.

b) H. Schulze Die Schriften Hermann Schulzes erscheinen fast sämtlich wesentlich später als die grundlegenden Werke der rechtsstaatliehen Richtung; er ist daher schon von neueren Ansätzen beeinflußt. Seine methodische Fundierung ist dementsprechend nicht einheitlich: eine organische Staatsauffassung wird mit rechtsstaatliehen und positivistischen Elementen verknüpft. So entstehen Werke des Überganges, die vielfach ihr.en Charakter als Vorläufer des staatsrechtlichen Positivismus andeuten141. Für Schulze ist der Staat ein lebendiger Organismus142. Darin ist jedes Glied nicht bloß Mittel, sondern zugleich Zweck. Indem es zum Besten des Ganzen mitwirkt, wird es durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stellung und Funktion nach bestimmt. Zum Begriff des Staates gehören für ihn Staatszweck, ein Gesamtwille, der durch eine Obrigkeit 138 Ebd., S. 84 f. 139 Ebd., S. 86 f. 140 Die Auffassung Mohls wurde in Begründung und Ergebnis von Ludwig von Rönne übernommen; s. Staatsrecht der preußischen Monarchie, 1856/1863, Bd. I, S. 138 ff.; Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1876/77, Bd. II, S. 61 ff. 141 Differenzierend: v. Oertzen, Positivismus, S. 123 mwN. 142 Schulze, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, 1865, S. 119 ff.

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111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

verkörpert wird, und eine Verfassung. Jeden Staatsabsolutismus hält er für verfehlt, sei er demokratisch (Rousseau) oder monarchisch143 . Für Deutschland b€gründet er diese Auffassung historisch: nie sei die Staatsgewalt ohne rechtliche Schranken gewesen; und diese Rechtsnormen seien auch durch die Auflösung des deutschen Bundes nicht aufgehoben144. Die Staatsgewalt ist für ihn die höchste herrschende Gewalt im Staat, ihr Inhaber ist der Souverän. Die Souveränität wird durch die Verwirklichung der Staatszwecke gerechtfertigt145 . Rechtsquellen sind in einem solchen Staat Autonomie, Gewohnheitsrecht und Gesetz146. Das Gesetz definiert er - im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht - formal als vom Inhaber der Staatsgewalt erklärte, mit Verbindlichkeit zur Befolgung für die Untertanen ausgestattete, veröffentlichte Rechtsvorschrift147. Davon unterscheidet er funktionell Rechtspflege und Verwaltung. Die Verwaltung ist bei ihrer Tätigkeit auch zum Erlaß allgemeiner Verordnungen berechtigt, wobei Schulze sich nach anfänglichem Widerstreben der Kriterienbildung des Positivismus anschließt148. Organisatorisch folgt Schulze dem traditionellen Schema des deutschen Staatsrechts. Die Souveränität liegt im Staat, ihre Ausübung hat Amtscharakter. Als Amt ist sie unteilbar; in der Monarchie kommt sie dem König zu149. Dieser ist Träger der Staatsgewalt. Bei der Gesetzgebung wird sein Wille jedoch nur durch die Zustimmung der Volksvertretung zum Staatswillen erhoben; das Volk hat an der Legislative teil. Während die Vollziehung dem König zusteht, wird die Rechtsprechung durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Richter ausgeübt, in deren Sphäre der Monarch nicht eingreifen darf. Deutlich weist er darauf hin, daß diese Organisation der "Irrlehre der Gewaltenteilung" entgegenstehe150. Seine Auffassung zum richterlichen Prüfungsrecht orientiert sich an den Vertretern der rechtsstaatliehen Ideen. Während für Preußen dieses Recht durch Art. 106 Verf ausgeschlossen ist, entwickelt er für das Reich diesbezüglich "gemeinrechtliche Grundsätze"ISI. Danach hat der Richter nur existentes, gültiges Recht anzuwenden und dessen Gültigkeit selbst zu prüfen. Zur Begründung zieht er seine Rechtsquel143 !44 145 146 147 148 149 ISO

151

Ebd., S. 164 f. Ebd., S. 21 f., 165 ff.; zum Einfluß Stahls: v. Oertzen, Positivismus, S. 126. Schulze, Einleitung, S. 156; zu den Staatszwecken, S. 125 ff. Ebd., S.15 f., 17. f. Schulze, Preußisches Staatsrecht, Bd. II, 1890, S. 7. Ebd., S. 7 ff. Schulze, Einleitung, S. 367 ff. Preußisches Staatsrecht Il, S. 7. Ebd., S. 47,39 ff.

2. Die Staatsrechtslehre des liberalen Rechtsstaates

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Jenlehre heran: Wenn unbestritten sei, daß der Richter die Existenz von Gewohnheitsrecht und dessen Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung selbst zu prüfen habe, so sei kein Grund ersichtlich, warum für andere Normen gegenteilige Grundsätze gelten sollten. Diesen Schluß wendet er auf verfassungswidrige Gesetze ebenso wie auf gesetzwidrige Verordnungen, auf formelle ebenso wie auf materielle Fehler an. Die Prüfung soll nicht abstrakt, sondern entsprechend den von Mahl entwickelten Normenkonkurrenzen konkret im Einzelfall erfolgen. Dabei soll sich der Richter nicht auf etwaige Prüfungen durch den Monarchen oder die Volksvertretung verlassen, sondern jeden Widerspruch selbst klären. Für Schulze war der Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz nicht mehr neu; angesichts zunehmender Kritik am richterlichen Prüfungsrecht152 konnte er ihn jedoch nicht mehr allein als Argument für seine Anschauung heranziehen. Insbesondere seine ausdrückliche Wendung gegen die Verlagerung der Verfassungsmäßigkeitskontrolle auf den König oder die Volksvertretung zeigt, daß er die Frage, wer die Verfassungswidrigkeit geltend machen solle, erneut diskutieren mußte. Seine Parallele zur Feststellung und Prüfung des Gewohnheitsrechts mutet dabei angesichts der auch von ihm erkannten weitgehenden Verdrängung des Gewohnheitsrechts durch Gesetze antiquiert an. Nur so kann er jedoch den rechtsstaatliehen Elementen seiner Auffassung folgen und das richterliche Prüfungsr-echt bejahen. Sein Argumentation ist ein deutliches Anzeichen für die Auflösung der Vorherrschaft der Idee des Rechtsstaates, die sich im Kaiserreich vielfältigen Angriffen ausgesetzt sah. c) L. v. Stein

Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft bestimmt auch die Lehre Lorenz von Steins. Seine Staatsideen gründen auf primär soziologischen Fragestellungen, die er unter dem philosophischen Einfluß Hegels entwickelt. Recht und Staat sind für ihn Resultate der in der Gesellschaft real wirkenden Kräfte und Gesetzlichkeiten. Für seine Zeit sah er diese Gesetzlichkeiten in dem Vordringen des Bürgertums und den daraus resultierenden Spannungen und Konflikten in den konstitutionellen Monarchien. Die Bewegung der Gesellschaft und die Klassenbildung stellen in seiner Sicht Herausforderungen dar, welche die zeitgenössischen Staats- und Herrschaftsformen sprengen würden, wenn nicht ausgleichende Mechanismen den Konflikt entschärfen. Bei der Analyse seiner Zeit und ihrer Entwicklungen wurde er so zum Propheten des sozialen Staates153• 152 s. dazu u. 3. Dazu Böckenförde, in: Forsthoff, L. v. Stein, S. 513 ff.; Kästner, in: Staat und Gesellschaft, S. 381 ff. 153

4 Gusy

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111.

Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Für Stein ist der Mensch als vereinzeltes Individuum nicht in der Lage, seine Bestimmung und seine dadurch vorgegebenen Bedürfnisse zu befriedigen154• Eine Vielzahl von Menschen vermag diesen Mangel nur zu beseitigen, wenn nicht jeder ausschließlich seinen eigenen Bedürfnissen folgt. Erst ein Füreinanderdasein aller kann die Widersprüche zwischen den Individuen beseitigen. Dieser Zusammenschluß ist die Gemeinschaft; sie zerfällt funktional in zwei Sphären. Die wirtschaftliche Ordnung, durch die Verteilung der Güter bedingt, den Organismus der Arbeit geregelt und das System der Bedürfnisse in Bewegung gesetzt, ist die Gesellschaft; in ihr befriedigt das Individuum seine ökonomischen Bedürfnisse155• Davon unterscheidet er den Staat. Dieser kann als Gemeinschaft, für Persönlichkeiten vorhanden, Persönlichkeiten umfassend, nur als eigene Persönlichkeit begriffen werden156• Wie jede Persönlichkeit ist er durch einen einheitlichen Willen bestimmt, den er in Taten verwirklicht. Elemente seines Staatsbegriffs sind so Wille und Tat. Während der Staat vom Gemeinwillen konstituiert und geformt wird, ist das Gestaltungselement der Gesellschaft die Vielzahl der individuellen Interessen. Beide Sphären stehen einander gegenüber157• Die Staatsgewalt ist die höchste Gewalt des Staates zur Verwirklichung des Staatszweckes, die Sorge für die Entwicklung der Bürger wie seiner selbst158• Sie vollzieht sich durch selbstbestimmenden Willen und verwirklichende Tat. Der Wille, das konstituierende Element des Staates als Persönlichkeit, fordert eine grundlegende Willensbildung. Sie betrifft die Prinzipien der eigenen Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit, nämlich die Bestimmung des Verhältnisses jedes Staates zur Gesellschaft und damit zu seinen Bürgern. Die Äußerung dieses Willens nennt Stein Gesetz159• Durch den Willen allein kann der Staatszweck jedoch nicht verwirklicht werden, da ihm als solchem gegenüber seinem Gegenstand noch keine Möglichkeit der Einflußnahme zukommt. Vielmehr muß als weitere Komponente seine Umsetzung in die Realität, seine tatsächliche Verwirklichung, hinzutreten. Diese Taten sind die Vollziehung; Vollziehung ist nicht blinde Aktivität, sondern verlangt ihrerseits gestaltende Handlungsentschlüsse. Ihre Aufgabe ist es, die Gesellschaft, welche für den Staat als vorgefundene äußere Ordnung erscheint, im Sinne der formulierten staatlichen Willensbildung zu gestal154 Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 1850, ed. Salomon 1921, S. 13 f. ISS Ebd., S. 29. 156 Ebd., S. 14 f. 157 Ebd., S. 31 f. 158 Ebd., S. 34 f. 159 Stein, Die Lehre von der vollziehenden Gewalt 1, 1865, S. 4 f.; Steins Gesetzesbegriff erläutert Böckenförde, Gesetz, S. 145 ff.

2. Die Staatsrechtslehre des liberalen Rechtsstaates

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ten160• Die so definierte Verwaltung umfaßt drei Gebiete: Finanzverwaltung, innere Verwaltung und Rechtspflege. Diese grenzt die Rechtssphären der einzelnen Individuen voneinander ab 161 • Die Organisation des Staates bestimmt Stein nicht aus abstrakten Deduktionen, sondern entsprechend den sozialen Gegebenheiten seiner Zeit konkret162• Das Gesetz als Selbstbestimmung des Staates muß von allen Faktoren des Staatslebens mitbestimmt werden. Dabei muß der Staat der Selbstbestimmung der einzelnen Rechnung tragen, die Freiheit der Persönlichkeit ist auch dann "gesetzt, wo dieselbe einem anderen Willen gehorcht". Die Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung163 ist so Ausdruck staatsbürgerlicher Freiheit, seine Zustimmung bei der Gesetzgebung wird zum Merkmal des Gesetzes als Äußerung des Staatswillens schlechthin. Dabei darf jedoch die Gesetzgebung nicht der Gesellschaft überantwortet werden, vielmehr müssen als Repräsentanten des Gemeinwohls Staatsoberhaupt und Regierung beteiligt sein. Nur der Staatswille, bei dem alle diese Elemente mitgewirkt haben und bei welchem diese Mitwirkung ausgesprochen ist, weist die Merkmale eines formellen Gesetzes auf164• Dagegen steht die vollziehende Gewalt ausschließlich Staatsoberhaupt und Regierung zu165• Eine Begründung dafür findet sich bei ihm nicht; er geht wohl selbstverständlich davon aus, daß diese ständig organisierten Faktoren schon aus praktischen Gründen allein die notwendige Handlungsfähigkeit und -möglichkeiten aufweisen. Die Rechtspflege steht dem Staat in seiner Eigenschaft als Gesamtorganismus zu166 ; sie ist unabhängig von den anderen Faktoren. Die Eigenarten der Gesetzgebung und das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive bestimmen Steins Ausführungen zum richterlichen Prüfungsrecht167• Jedes Gericht muß bei seinen Entscheidungen die Gesetze anwenden; das setzt voraus, daß ein Akt als Gesetz anzuerkennen ist. Damit stellt sich für ihn die Frage, wer über diese Anerkennung entscheidet. Ausgehend von seinem Gesetzesbegriff, der ein Zusammenwirken von Staatsoberhaupt, Volksvertretung und Regierung voraussetzt, kann für die Gerichte eine Anwendungspflicht nur bestehen, wenn alle drei Faktoren gemeinsam die Anwendbarkeit angeordnet haben. Eine Anordnung nur durch einzelne dieser Faktoren wäre kein Gesetz, 160 161

162 163 164

16.5 166 167



Stein, Die Lehre, S. 9. Ebd., S. 15 f. Stein, Die Lehre, 2. A., 1869, S. 85 ff. Hierzu Grawert, in: Staat und Gesellschaft, S. 261 ff. Stein, Die Lehre, 2. A., 1869, S. 89. Ebd., S. 86. Stein, Die Lehre, 1. A., S. 15. Ebd., S. 188 ff.

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111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

da sie gerade der Funktion des Gesetzes als Ausdruck staatlicher Selbstbestimmung entgegenstände. Daher muß das Gericht prüfen, ob ein Gesetz tatsächlich durch ein Zusammenwirken aller Beteiligten entstanden ist, da hierüber nur ein Gericht als neutrale Instanz entscheiden kann. Einbezogen werden müssen die formelle wie die materielle Ordnungsmäßigkeit von Verordnungen und Gesetzen, da die Verfassung die Grenze der Gesetzgebung und die Gesetze die Grenze der Verordnungen als Schutz der Gesellschaft vor dem Staat konstituieren. Prozessual ist die Entscheidung nicht als abstrakte Kontrolle, sondern - im Anschluß an Mohl - als konkrete Anwendbarkeitsprüfung durchzuführen168. Für Stein ist die Rechtsprechung demnach Schiedsrichter zwischen den an der Ausübung der Staatsgewalt Beteiligten. Bestimmt die Verfassung des konstitutionellen Staates das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte als zentralen Ausgleichsmechanismus im Staat, so ist das Gesetz Ausdruck dieses Ausgleichs. Die Justiz wird so zum zentralen Garanten der Funktionsfähigkeit der konstitutionellen Monarchie, die der Freiheit aller verpflichtet ist. Sie sichert die Freiheit durch "Selbstbestimmung" als Mitwirkung an der Staatsgewalt und verhindert so revolutionäre Änderungen, die für ihn voraussehbar waren, sofern die Unfreiheit durch Fremdbestimmung im Gemeinwesen überband nähme 169.

d) Zusammenfassung Wie die ablehnenden Autoren, gehen auch die Befürworter des richterlichen Prüfungsrechts von der Verfassung der konstitutionellen Monarchie in Deutschland aus. Während jene jedoch das monarchische Element in den Vordergrund rücken, betonen diese die konstitutionellen Elemente. Der Unterschied liegt somit nicht in der rechtlichen Grundlage, sondern der politischen Zielsetzung beider Richtungen. Während die ersteren in überkommener Weise den Primat des Monarchen im Staat hervorheben und die Verfassungen als Grenze der ausschließlich ihm zustehenden Staatsgewalt qualifizieren, betont die andere Richtung den Kompromißcharakter der Verfassung als Grundlage eines Zusammenwirkens aller im Staat organisierten sozialen Mächte. Das Gesetz als Äußerung dieses Zusammenwirkens steht somit unter der Verfassung. Je nach dieser Ausrichtung bestimmt sich auch die Stellungnahme zum richterlichen Prüfungsrecht. Steht die Souveränität dem König allein zu und ist sie daher den Gerichten entzogen, so kann nur der König über Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit eines Hoheitsaktes 168 Ebd., S. 192 f.; zum Rechtsschutz gegen Verordnungen ausführlich von Unruh, in: Staat und Gesellschaft, S. 451 ff. 169 Stein, Geschichte, S. 46 ff.

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches

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entscheiden. Kann hingegen nach der anderen Ansicht allein ein auf Kooperation und Abstimmung beruhender Hoheitsakt Verbindlichkeit erlangen, so kann darüber nur die unparteiische und unabhängige Justiz entscheiden. Sie wird so zum Hüter des konstitutionellen Verfassungskompromisses, der die allseitige Mäßigung und Kontrolle zum zentralen Ausgleichsmechanismus im Staat erhebt. Dabei werden die Gerichte nicht durch abstrakte Normenkontrolle über den Gesetzgeber gestellt, sondern im Wege konkreter Anwendbarkeitsprüfung darauf beschränkt, die Grundvoraussetzungen des Verfassungskompromisses zu bewahren: die Sicherung individueller bürgerlicher Freiheit vor einzelnen Eingriffen. Die Verfechter dieser Auffassung wirkten teilweise auch als Politiker der gemäßigt liberalen Partei. Besondere Bedeutung erlangte ihr Wirken während der Verfassungsberatungen der Faulskirehe von 1848. Der Verfassungsentwurf enthielt einen eigenen Abschnitt über das Reichsg-ericht (V §§ 125 ff.), zu dessen Kompetenzen die Normenkontrolle gegenüber Reichsgesetzen gern.§ 126lit. a auf Antrag eines Einzelstaates sowie die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden nach§ 126 lit. g zählen sollten. Der ersteren Bestimmung kam überwiegend kompetenzrechtliche Bedeutung zu, während der Bestimmung über die Verfassungsbeschwerdenicht zu entnehmen ist, ob sie sich auch gegen Gesetze richten sollte. Eine ausdrückliche Bestimmung über das richterliche Prüfungsrecht enthielt der Verfassungsentwurf nicht, zumal er sich nur mit dem "Reichsgericht" befaßte. In d€'n Beratungen ging der Berichterstatter ohne Widerspruch davon aus, daß den Gerichten eine solche Befugnis zukäme. Eine ausdrückliche Entscheidung darüber fiel jedoch nicht170• Während der Zeit des deutschen Reiches galt die Bejahung des richterlichen Prüfungsrechts als Ausdruck liberaler Haltung; sie wurde jedoch fast nur noch von Außenseitern171 vertreten. So geriet sie etwa ab 1870 in die Minderheit und beeinflußte Praxis und herrschende Meinung nicht mehr. 3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches: Der Primat der Legislative Hatte die rechtsstaatliche Richtung in der Politik wie im deutschen Staatsrecht um die Mitte des 19. Jh. den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit erreicht, so ging ihr Einfluß in der Folgezeit spürbar zurück. Das Bürgertum war in seinem Kampf um die Führungsrolle bei der politischen Gestaltung des Staatslebens unterlegen; der preußische Verfassung&170 171

Faller, FS Geiger, S. 827 ff., insbes. S. 844 f. So etwa Haenel, Studien zum deutschen Staat~;~recht 1, 1873,

s. 262 ff.

111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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konflikt hatte die nach wie vor ungebrochene Macht von Königtum und Adel unter Beweis gestellt. Die Richtung der Staatsrechtswissenschaft, welche ihre Aufgabe in dem Bemühen um eine Neugestaltung der politischen Verhältnisse unter den Rahmenbedingungen des Konstitutionalismus gesehen hatte, versagte - etwa in der Paniskirche - auch vor ihren praktischen Aufgaben172• Die Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Adel, welche in den Verfassungen des frühen 19. Jh. eine vielen Zeitgenossen nur vorübergehend erscheinende Mäßigung erfahren hatte, hatte ein vorläufiges Ende gefunden. Dementsprechend trat der Konstitutionalismus, der bislang die kompromißhafte, in ihren praktischen Konsequenzen stets umstrittene Basis der divergierenden politischen Richtungen gewesen war, in eine Phase relativer Normalität und Stabilität ein. Diese Wendung zeigte sich deutlich in den Strömungen der zeitgenössischen Staatsrechtswissenschaft173• Die historisch-philosophische Methode, welche aus abstrakt-theoretischen Staatsmodellen praktisch-politische Konsequenzen auf die reale Wirklichkeit projizierte, verlor ihre Führungsrolle zugunsten der juristisch-positivistischen Betrachtung des geltenden Verfassungsrechts. Diese neue Richtung erwies sich nach der Reichsgründung als die führende wissenschaftliche Strömung ihrer Zeit. Der Methodenwechsel trat jedoch keineswegs plötzlich ein, wenn aus schon längst bekannten Ansätzen andere Konsequenzen gezogen wurden, als sie noch zur Jahrhundertmitte weithin üblich gewesen waren. Solchen Wandlungen unterlagen auch die Auffassungen zum richterlichen Prüfungsrecht.

a) 0. Bähr Charakteristisch für diese Übergangsphase ist die Haltung Otto Bährs174• Der Kasseler Oberrichter war geprägt von den Erfahrungen des Kurhessischen Verfassungskonflikts, seine Arbeit entstand unter dem Eindruck des noch schwelenden preußischen Heereskonflikts. Seine rechtspolitischen Intentionen lassen ihn eine aus philosophischen und politischen Grundlagen hergeleitete rechtsstaatliche Auffassung vertreten. Zentrales Anliegen seines Werkes ist die Entwicklung eines ausgebauten Rechtsschutzsystems. Dazu entwickelt er keine allgemeine funktionale oder organisatorische Ordnung der Staatsgewalt, sondern macht nur solche Ausführungen, die zur Bestimmung der Stellung der Justiz im Rechtsstaat notwendig sind. 172

Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre,

1939, s. 31. 173 174

v. Oertzen, Positivismus, S. 158 f., 249 ff. Bähr, Der Rechtsstaat, 1864.

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches

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Ausgehend von der unbestrittenen, sogar von Stahl erhobenen Forderung: .,Der Staat soll Rechtsstaat sein", fordert er, der Staat müsse das Recht zur Grundbedingung seines Daseins erheben175• Dieses Recht kann nicht der Willkür des zeitigen höchsten Trägers der Staatsgewalt überlassen sein, sondern muß eine selbst ihn überragende geistige Macht im Staat bilden176• Es kann seiner Idee nach daher nicht im Geiste eines einzelnen, sondern nur im Bewußtsein der ganzen Nation, d. h. des Fürsten und des Volkes in seiner Gesamtheit, gründenm. Dabei besteht die wahre Volksfreiheit nicht darin, daß möglichst viele an der Gesetzgebung teilhaben, sondern darin, daß dem Individuum zu seiner Entfaltung der nötige Raum bleibt178• Ein solches Recht umgibt den Menschen mit einer geistigen Schranke, innerhalb derer er frei handeln und sein menschliches Dasein entwickeln darf; Recht ist demnach identisch mit Freiheit179• Das Privatrecht grenzt die Interessen der einzeltien ab, während das Gesamtinteresse durch besondere Rechtssätze, welche die .,dem Ganzen zugrundeliegende einheitliche Idee" vermitteln, zur Geltung gebracht wird 1ao. Dieses Ganze zur Verwirklichung einer Idee sieht er genossenschaftlich organisiert181 • Der Staat ist für ihn die Genossenschaft der Nation. Mit allen Genossenschaften teilt er, daß in ihm zur Verfolgung dieser Idee und des Gesamtinteresses ein Element des Wollensund somit eine Organisation vorhanden ist, die eine Über- und Unterordnung bedingt182• Diese Organisation ist aus früherer Zeit überliefert, und so ist es auch der Staat183• Welche Befugnisse seine Überordnung begründet, was also der Inhalt der Staatsgewalt ist, wird von Bähr im Rahmen seiner Fragestellung ebensowenig erörtert wie die allgemeinen Grundsätze der Staatsorganisation. Vielmehr wendet er sich unmittelbar seiner zentralen Fragestellung, dem Umfang des Rechtsschutzes, zu. Unzweifelhaft erstreckt er sich auf die .,Regierungsgewalt", die .,innerhalb der Gesetze zu walten" hat184• Anderes gilt nach seiner Auffassung für die Gesetzgebung. Unterliegt sie keiner vor- oder naturrechtliehen Schranke, so ist sie, geäußert durch Gesetz und Richterspruch, die .,letzte formale Quelle des Rechts", .,geEbd., S. 2. Ebd., S. 16. 177 Ebd., S. 13. 178 Ebd., S. 169. 179 Ebd., S. 4. tao Ebd., S. 20 f. 181 Ebd., S. 18 ff. 182 Ebd., S. 20. 183 Ebd., S. 48. 184 Ebd., S. 51 f. 175

176

111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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wissermaßen das Recht selbst", das also nicht nach einem höheren Recht bemessen und daher nicht durch Richterspruch beurteilt werden kann185• Sie stößt im Staat nur auf moralische, nicht hingegen auf rechtliche Schranken. So kann Rechtsschutz gegen Gesetze nicht gewährt werden; zwar könne man ein Gesetz oder einen Richterspruch als unrichtig bezeichnen, aber Rechtsschutz dagegen könne im Staat "nicht zum Austrag gebracht werden". Es sei eben das Charakteristikum des Staates als Rechtsgenossenschaft, daß er das Recht als oberste Regel für das menschliche Zusammenleben seiner Angehörigen endgültig vermittelt186• Daneben zieht er zur Stützung seiner Argumentation die Unterordnung des Richters unter das Gesetz heran187• Seine Auffassung erhält ihre Folgerichtigkeit nur unter der Voraussetzung, daß Bähr - anders als etwa die rechtsstaatliehen Lehren Mohls oder Steins- einen Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz nicht kennt. Er bringt diese Auffassung allerdings nicht explizit zum Ausdruck, ebensowenig wie ihr Gegenteil. Zentrale Bedeutung hat für Bähr der Schutz der bürgerlichen Rechte durch Gerichte, die als Institutionen durch bestimmte formale Merkmale wie Unabhängigkeit und Gesetzesbindung gekennzeichnet sind. Auf Inhalt und Maßstab des Rechtsschutzes legt er geringeren Wert. So gelangt er zu völlig anderen Konsequenzen als die übrigen Vertreter der rechtsstaatliehen Richtung. Die Gerichte sind für ihn nicht Schiedsrichter des konstitutionellen Verfassungskompromisses, sondern bieten Schutz gegen einzelne Maßnahmen der Verwaltung. Freiheitsschutz erfolgt für ihn nicht durch Einflußnahme auf die staatliche Rechtserzeugung, sondern durch formalverfahrensrechtliche Sicherungen individueller Freiheit im Einzelfall.

b) R. v. Gneist Ebenso wie Bähr war Rudolf von Gneist ein Anhänger der rechtsstaatlichen Richtung im deutschen Staatsrecht, für die er sich als Politiker und als Wissenschaftler einsetzte. Seine Ansichten standen denjenigen Steins nahe; beide waren von Hegels Staats- und Geschichtsphilosophie beeinflußt. Gneist argumentierte überwiegend historisch, wobei er die Geschichte vorwiegend als Mittel zur Erklärung und Gestaltung der Gegenwart auffaßte188• Seine Anschauungen basierten auf der Trennung von Staat und Gesellschaft. Die Gesellschaft ist die Sphäre des Erwerbs und Besitzes, der 185 186 187 188

Ebd., S. 50.

Ebd., S. 51. Ebd., S. 50, 52.

Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland,

2. A., 1879.

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches

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äußeren und geistigen Güter, zu deren Gewinnung und Genuß die Menschheit bestimmt ist189 ; Besitz und Arbeit sind die sie prägenden Phänomene. Werden in ihr Individualinteressen verfolgt, so zeichnet sich demgegenüber der Staat durch einen einheitlichen und kontinuierlichen Willen aus190. Als Gegenorganismus zur Gesellschaft erhebt er sich über deren wechselnde und widerstreitende Interessen191 . Er steuert und reguliert über die Verfolgung bloßer Individualinteressen hinaus, in ihm ist Herrschaft kein persönliches Recht, sondern ein Amt192 • Dabei orientieren sich Staatsform und Staatshandeln an den jeweils konkreten Bedürfnissen der einzelnen Gesellschaft. Kennzeichen des zeitgenössischen Staates waren für ihn so der weltliche Zweck, Überparteilichkeit und die Einheitlichkeit der Willensbildung. Im Zuge der historischen Entwicklung nähern sich Staat und Gesellschaft zunehmend einander an; individuelle Interessenverfolgung bleibt nicht auf die Gesellschaft beschränkt, sondern bezieht zunehmend die staatliche Sphäre ein. Analog zur Ausbildung des Privatrechts als Grundlage und Grenze individueller Freiheit entsteht so im Staat die Verfassung. Einen so konstituierten Verfassungsstaat bezeichnet Gneist als Rechtsstaat193• Staatsgewalt ist für ihn die Herrschaft im Staat. Ihre Äußerungsformen begründet er aus der von ihm als Urform des europäischen Staates bezeichneten karolingischen Herrschaftsordnung. Danach unterscheidet er Regierungsgewalt, richterliche Gewalt und Gesetzgebung. Eine funktionelle Abgrenzung dieser Zweige kennt er nicht; die Aufgabe der Rechtsprechung konkretisiert er dahin, das Recht zu schützen und den Frieden zu sichern194. Bei dieser Erklärung der Staatsorganisation stellte sich Gneist bewußt in Gegensatz zur Gewaltenteilungslehre im Sinne Montesquieus; diese lehnte er wegen ihres engen Zusammenhangs zum französischen Konstitutionalismus und der Volkssouveränität ab195 . Wenn er darauf hinweist, die Verordnung sei Ausdruck der Regierungsgewalt oder das Gesetz derjenige der gesetzgebenden Gewalt, so wird damit keine funktionelle Abgrenzung angestrebt. Er erklärt die zeitgenössische Realität seit dem Entstehen der konstitutionellen Verfassungen nach 1815 historisch196. Danach ist das Gesetz eine königliche Verordnung mit Zustim189 Ebd., S. 1 f. 190 Ebd., S. 10. 191 Ebd., S. 13. 192 Ebd., S. 15. 193 Ebd., S. 26 ff., 33. 194 Ebd., S. 16; Zu seinen historischen Ableitungen und den Differenzierungsmöglichkeiten bei Gneist: Böckenförde, Gesetz, S. 166 ff. 195 Gneist, Rechtsstaat, S. 172. 196 Gneist, Verordnungsrecht, in: Rechtslexikon (Hg.: Franz v. Holtzendorff),

I II 2, 1881, S. 1059.

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mung der Landesvertretung, im Organismus der Gesetzgebung sind Staat und Gesellschaft zusammengefaßt191• Die Gesetzgebung ist somit Ausdruck des Zusammenwirkens beider Sphären, welches zugleich Grundlage der spezifischen konstitutionellen Verfassungsbildung war198. Ist die Gesetzgebung somit die konsequente und ureigene Ausprägung des konstitutionell organisierten Zusammenwirkens aller im Staat relevanten Mächte, so unterliegt sie auch exakt den Schwächen dieses Modells: schwankende, widerstrebende und wechselnde Interessen können in sie eingehen und so ihre Funktion als regelnde Ordnungsmacht untergraben199. Daher muß die Regierung als Obrigkeit entsprechend den Bedürfnissen der Zeit und des Ortes frei handeln können. Nach Lage der Dinge kann eine solche Regierung nur in der Hand des Monarchen liegen198. Dagegen ist die Rechtsprechung als "ständische Selbstverwaltung des Rechts" von ihr unabhängiglOO. Das Rangverhältnis zwischen den Gewalten ist so vorgeprägt. Das Gesetz ist die höchste Norm und geht der Verordnung in allen Angelegenheiten, welche durch die Gesetzgebung präokkupiert sind, vor198. Die Gesetzgebung habe ein Zugriffsrecht auf alle wichtigen Fragen, welche ihr regelungsbedürftig erscheinen. Umgekehrt kann sie aber diese Bedürfnisse nicht allein regulieren, vielmehr sind weitgefaßte Delegationen an die Regierung erforderlich, die aufgrund weittragender Generalklauseln handeln kann. Den Vorrang des Gesetzes vor Regierung und Verwaltung sieht er als wesentliches Element der rechtsstaatliehen Ordnung. Die Rechtsprechung ist an die Gesetze gebunden. Diese Ansichten sind Grundlage für Gneists Antwort auf die Frage nach dem richterlichen Prüfungsrecht~1 • Er gliedert die Fragestellung in drei Problembereiche: das formelle Prüfungsrecht, das Prüfungsrecht gegenüber Verordnungen und die materielle Rechtmäßigkeitskontrolle. Das formelle Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen wird von ihm bejaht, insbesondere die Zustimmung der Kammern soll ihr Gegenstand sein~2 • Er begründet dieses damit, daß die Verfassung ausdrücklich die ständische Zustimmung vorschreibe; nach diesen Normen der Verfassung seien die Gesetze zu beurteilen. Warum diese Beurteilung gerade den Richtern zufallen soll, begründet er nicht. Dabei nimmt er eine wesentliche Differenzierung vor, die in der Folgezeit allgemeine Bedeutung erhält. 197 Gneist, Rechtsstaat, S. 17. 198 Gneist, Verordnungsrecht, S. 1063. 199 Gneist, Rechtsstaat, S. 74. 200 Ebd., S. 16. 201 Gneist, Verhandlungen des 4. Deutschen Juristentages, 1863, 1. Bd.,

s. 212 ff. 202

Ebd., S. 229 f.

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches

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Das Gericht hat nicht zu prüfen, ob die Kammern ordnungsgemäß besetzt, beschlußfähig waren oder in der vorgeschriebenen Weise abgestimmt haben203 • Solche "interna corporis" seien einer Nachprüfung entzogen, weil ihre Wahrung- nach englischem Vorbild- ausschließlich den Kammern selbst zustehe. Für die Ordnungsmäßigkeit ihres Verfahrens seien sie selbst verantwortlich. Für Verordnungen erkennt er ein formelles Prüfungsrecht der Gerichte an, das insbesondere die Kompetenz der Regierung zum Erlaß solcher Normen betreffen sollte; ferner räumte er ihnen ein Recht zur inhaltlichen Prüfung auf deren Vereinbarkeit mit den Gesetzen ein. Grundlage dieses Rechts sei der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Verordnung. Für Gesetze lehnt er ein materielles Prüfungsrecht ab. Hierfür führt er die fehlende gesetzliche Zuweisung und die Untererdung der Justiz unter die Gesetze an204• Wie Bähr geht Gneist somit selbstverständlich von einer fehlenden materiellen Überordnung der Verfassung über die einfachen Gesetze aus. Das Zusammenwirken von Fürst und Kammern in der Gesetzgebung ist für ihn der zentrale Ausgleichsmechanismus zwischen Staat und Gesellschaft, ohne daß zu seiner Absicherung eine gerichtliche Kontrollkompetenz notwendig erschien. Im Detail weist so das Rechtsstaatsverständnis Gneists deutliche Anleihen bei der zeitgenössischen Realität auf; trotz des rechtsstaatliehen Anspruchs ist seine Lehre im Ergebnis sozial affirmativ. Die dem englischen Verfassungsrecht entnommene Lehre von den interna coporis hat späteren Erörterungen zum richterlichen Prüfungsrecht zumindest implizit zugrunde gelegen. c) J. C. Bluntschli Johann Gaspar Bluntschli verbindet mit Bähr, daß auch er seine theoretischen wie methodischen Grundlagen aus älteren Ansätzen bezieht, in praktischen Fragen jedoch als Vertreter der späten konstitutionellen Ära auftritt. Eine einheitliche philosophische, historische oder politische Grundlage findet sich bei ihm nicht, vielmehr fließt eine Vielzahl von Anschauungen "zusammen, ineinander und durcheinander" 205• Insbesondere auf dem Gebiet der allgemeinen Staatslehre wie der politischen Wissenschaft erweist er sich als führend, indem er die herrschenden Strömungen seiner Zeit zum Ausdruck bringt, ohne sie jedoch um wesentliche neue Erkenntnisse zu bereichern206• 203 204

Ebd., S. 232. Ebd., S. 229 f .

Böckenförde, Gesetz, S. 195. Bluntschli, Die Lehre vom monarchischen Staat 1, 6. A., 1886; 2, 6. A., 1885; 3, 1. A., 1876. 205

206

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Grundlage seiner Auffassung ist die organische Staatslehre, die auch von Zachariae und Schulze vertreten wird. Danach ist der Staat kein lebloses Instrument, sondern ein lebendiges organisches Wesen2111 , eine öffentlich-rechtliche P·erson208, die politisch organisierte Volkssouveränität eines bestimmten Landes209. Diesseitigkeit des Zwecks, Persönlichkeit und daraus resultierende Einheitlichkeit der Willensbildung sind die Elemente dieses Verständnisses. Als organisierte Volksperson ist der Staat Verkörperung und Personifikation der Volksmacht210• Diese ist in ihm höchste Würde und größte Gewalt, die Souveränität. Trotz dieser Zuordnung von Volksmacht und Souveränität will Bluntschli die Volkssouveränität nicht als allgemein gültige Legitimation des Staates anerkennen, sondern diese Lehre nur für die Demokratie gelten lassen211 • Für ihn ist die lebendige Staatspersönlichkeit, das "Volk im staatlichen Sinne als die geordnete Gesamtheit in Haupt und Glieder", Quelle der Souveränität212• Dieser Staatssouveränität stellt er die Regentensouveränität gegenüber213, welche sich in Monarchien als "Fürstensouveränität" darstellt. Sie umschreibt die oberste Macht und Stellung des Regenten. Ihr Verhältnis zur Staatssouveränität wird von ihm nicht als Widerspruch definiert, sondern nach praktischen Aspekten erklärt: wo die Staatssouveränität ruht, ist die Fürstensouveränität wirksam. Beide begründen keine konkurrierende Legitimation, sondern legitimieren alle Staatsgewalt unabhängig von der Zuständigkeit zu ihrer Ausübung. Übt das Volk nicht alle Staatsgewalt aus, so ist deren Ausübung auch dann legitim, wenn statt seiner das Staatsoberhaupt, der Monarch, herrscht. Die Staatssouveränität äußert sich praktisch nach außen durch Unabhängigkeit von fremden Staaten, nach innen durch das Recht des Volkes zur Verfassunggebung, zum Gesetzeserlaß und zur Ausübung "aller anderen Staatsgewalt" 214• Die Gesetzgebung umfaßt das gesamte Volk, sie ordnet die dauernden Verhältnisse der Gesamtheit215• Ihr Zuständigkeitshereich wird durch seine Wichtigkeit definiert, indem Bluntschli die Ordnung des Gemeinwesens und die Begründung und Änderung staatlicher Institutionen in sie einbezieht. Ihr stellt er die "RegierungsEbd., I, S. 18. Ebd., S. 23. 209 Ebd., S. 24. 210 Ebd., S. 563. 211 Ebd., S. 568 f.; zu Bluntschlis Legitimationsverständnis grundsätzlich: v. Oertzen, Positivismus, S. 119 ff. 212 Bluntschli, I, S. 572. 213 Ebd., S. 575. 214 Ebd., S. 577 ff. 215 Ebd., S. 594 f.; dazu Böckenförde, Gesetz, S. 195 ff. 2111

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gewalt" zur Seite, welche er - im Gegensatz zur Gesetzgebung als "allgemeiner Wille" - ihrerseits als "besonderer Wille" darstellf16• Sie soll im einzelnen das Rechte und Gemeinnützige befehlen und anordnen und das Land vor gemeinen Übeln bewahren. Dabei soll sie die Gesetze nicht vollziehen, sondern nur beachten217 , sie begründen ihre Zuständigkeit nicht, sondern begrenzen sie nur. Die Rechtsprechung soll dagegen das erkannte und anerkannte Recht schirmen und anwenden. Ihr Wesen liegt nicht im Urteilen, sondern im Richten218• Daneben kennt er die Verwaltung der Staatskultur und der Staatswirtschaft als .,öffentliche Funktionen".

Organisatorisch geht Bluntschli von einer Sonderung der Gewalten aus, die durch die zweckmäßige Wahrnehmung der Staatsfunktionen begründet wird219• Für ihn ist die konstitutionelle Monarchie eine .,wahre, keine Scheinmonarchie" 220• In ihr sieht er das monarchische Prinzip, begrenzt durch die Verfassung, verwirklicht. Bei dem König ist demnach die oberste Staatshoheit und vollkommene Staatsgewalt konzentriert. An der Gesetzgebung hat er entscheidenden Anteil, die Kammern haben nur Mitwirkungsrechte221 • Die Regierungsgewalt steht ausschließlich ihm zu, mitwirkungsbefugt sind nur die Minister .,als unentbehrliche Organe seines Willens" 222• Dagegen sind die Richter unabhängig zur notwendigen Beschränkung der Regierungsgewalt und zur wichtigen Garantie für die Freiheiten der Bürger223. Somit stellt sich die Frage nach der Realisierung der Staatssouveränität gegenüber der Fürstensouveränität. Die Gesetze als Ausdruck der Staatssouveränität nehmen für ihn einen hohen Rang ein; nur innerhalb der Schranken der Gesetze bewegt sich die Fürstensouveränität in der Ausübung ihrer Macht224 • Eine I!echtliche Durchsetzung dieses Rangverhältnisses kennt Bluntschli jedoch nicht; bei seinen Ausführungen zum richterlichen Prüfungsrecht nimmt er eine differenzierte Haltung ein225 • Die formelle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze ist von allen Staatsorganen zu prüfen. Fehlt es an der vorgeschriebenen Mitwirkung des Königs oder der Volksvertretung, so ist das Gesetz unbeachtlich; 216 217 218 2!9

220 221 222

223 224 225

Bluntschli, I, S. 595, 597. Ebd., S. 596. Ebd., S. 597 ff. Ebd., S. 591. Ebd., S. 594. Ebd., 8.499 f . Ebd., S. 496, 500 f . Ebd., S. 503. Ebd., S. 576. Ebd., II, S. 134 ff.

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III. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

eine Entscheidung über die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens in den Kammern steht den Gerichten nicht zu. Die materielle Verfassungsmäßigkeit ist der Prüfungszuständigkeit der Gerichte vollständig entzogen. Den Grund hierfür sieht Bluntschli in der Unverantwortlichkeit des Souveräns, die ihn der Gerichtsbarkeit entzieht. Dieses Argument spricht für ihn auch gegen eine konkrete Anwendbarkeitsprüfung im Sinne Mahls. Ist die Autorität des Gesetzgebers eine unteilbare, so sollen ihr Behörden und Gerichte stets untergeordnet sein. Wichtigster Garant für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist für ihn die Zusammensetzung der zuständigen Organe. Diese Ausführungen sind die Konsequenzen des nach Bluntschlis Ansicht fehlenden Vorrangs der Verfassung vor dem einfachen Gesetz226 • Auf dieser Grundlage erscheint die Gesetzgebung tatsächlich als die höchste Gewalt im Staat. Die Staatssouveränität wird somit nicht praktisch-organisatorisch, sondern nur ideell-moralisch der Fürstensouveränität übergeordnet. Insoweit bleiben Bluntschlis theoretische Darlegungen folgenlos. Wie gering er tatsächlich deren Relevanz für die Legitimation der Staatsgewalt einschätzte, zeigen seine Ansichten zu den "demokratischen Tendenzen unserer Zeit" 227 • Nicht die spezifische Legitimation vermag die Zukunft der Monarchien zu sichern, sondern nur praktische Politik unter besonderer Berücksichtigung der Interessen des vierten Standes gegen den dritten Stand. Dazu sind nach seiner Ansicht Monarchien besser in der Lage als Demokratien; die Legitimität wird hier als Konstitutionsprinzip des Staates durch die politische Zweckmäßigkeit abgelöst. d) C. F. Gerber Mit Carl Friedrich von Gerber begann im deutschen Staatsrecht die Epoche des Positivismus. Dabei stand er selbst noch in hohem Maße in der Tradition der überkommenen Methoden, welche sich auch in seinem Werk niederschlugen. Neu ist bei ihm die wissenschaftliche Präzision, mit der er schärfere und konkr·etere juristisch-dogmatische Grundbegriffe entwickelt und dabei aus einheitlichen Grundgedanken ein System herauskristallisiert228 • Für Gerber erhält das Volk im Staat die rechtliche Ordnung seines Gemeinwesens229, der Staat ist das Volk selbst in seiner politischen Gestaltung230. In ihm sucht und findet es das wesentlichste Mittel zum Ebd., S. 93 f. Ebd., III, S. 383 ff. 228 Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. A., 1880; zu Gerber grundlegend: v. Oertzen, FS Smend, S. 183 ff. 229 Gerber, Grundzüge, S. 1. 230 Ebd., S. 220. 226

227

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Schutz und zur Förderung seiner Gesamtinteressen. Auf dieser Grundlage unterscheidet er die Staatsmodelle nach den methodischen Ansätzen ihrer Gewinnung. Die "natürliche" Betrachtung des Staates vermittelt den Eindruck eines Organismus, hingegen zeigt die juristische Betrachtung, daß das Volk im Staat zum rechtlichen Gesamtbewußtsein und zur Willensfähigkeit erhoben wurde, so daß es zur rechtlichen Persönlichkeit gelangt231 • Das dem Staat als solche Persönlichkeit zustehende Recht ist das Staatsrecht. Es regelt Inhalt und Grenzen der Willensfähigkeit des Staates, d. h. dasjenige, was der Staat in seiner jeweils konkreten Verfaßtheit wollen kann232 • Grundlage und Motive seiner Willensfähigkeit und Willensbildung erhält der Staat nicht von einer höheren Gewalt, sondern aus sich heraus. Er ist im Besitz der Souveränität233. Die Staatsgewalt ist die Willensmacht des Staates, die rechtliche Äußerung der Staatsgewalt, das Herrschen234• Dieses äußert sich in verschiedenen Formen. Als Gesetzgeber offenbart der Staat seinen Willen in der Form abstrakter Normen, Charakteristikum des Gesetzes ist seine Allgemeinheif35. Dabei ging Gerber ursprünglich vom Gesetz als dauerhafte und abstrakte Norm aus236 ; konkrete juristische Folgerungen resultieren daraus jedoch nicht. Die Verwaltung definiert er negativ als Regierungshandeln, das kein Gesetz ist, mit Ausnahme der richterlichen Gewalt237• Dazu zählt insbesondere die Organisation und Leitung der Staatsbehörden sowie die Ausführung der Gesetze. Die Justiz hält den Rechtszustand aufrecht; sie hat die Geltendmachung des absoluten Rechts zum Gegenstand und urteilt "in völliger Isolierung allein nach den Grundsätzen des Rechts" 238• Die Staatsorganisation basiert auf der Grundlage, daß der Staat als juristische Person nicht handlungsfähig ist; er bedarf daher der persönlichen Vertreter. Sie sind Organe der Staatsgewalt, Herrschaft ist nicht ihr persönliches Recht nach individueller Willkür, sondern nur als staatliches Amt "unter der höheren Fügung des organischen Zusammenhangs" auszuüben. Die Betonung der Staatssouveränität basiert nicht auf dem Prinzip der Volkssouveränität239• Staatsorgane sind in monarEbd., S.1 f. Ebd., S. 3. 233 Ebd., S. 22. 234 Ebd., S. 3. 235 Ebd., S. 145, 156. 236 Ebd., S. 146 f. 237 Ebd., S. 171 f. 238 Ebd., S. 181. 239 Ebd., S. 19 f. 23!

232

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chischen Staaten der Monarch und die Stände240• Unter ihnen ist der Monarch das oberste Willensorgan. Sein Wille soll als allgemein, als Wille des Staates gelten; er übt die eine, ungeteilte Staatsgewalt aus, das Herrschaftsrecht des Staates gestaltet sich in seinen Händen zum persönlichen Herrschaftsrecht241 • Sein Recht ist jedoch durch den institutionellen Charakter der monarchischen Organschaft eingebunden, zentraler Mechanismus dieser Einbindung ist die Verfassung. Die Gesetzgebung steht danach dem Monarchen nur unter Mitwirkung der Stände zu242• Ein Gesetzentwurf wird jedoch erst durch seine Sanktion zum Gesetz erhoben und somit verbindlich. Die Regierung wird durch den Monarchen allein ausgeübt; die Rechtsprechung ist hingegen seiner Einwirkung völlig entzogen, die Gerichte sind allein dem Gesetz unterworfen243. Seine Ansichten zum richterlichen Prüfungsrecht entwickelt Gerber - im Gegensatz zu den meisten führenden Staatsrechtlern - nicht aus historischen Argumenten, sondern ausschließlich unter Bezugnahme auf das geltende Recht. Ausgangspunkt ist dabei, daß ein Gesetz als wirklicher Akt der gesetzgebenden Gewalt nur unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Formvorschriften zustande kommen kann244• Der Richter darf nur wirkliches Recht zur Anwendung bringen, zu einer entsprechenden Prüfung ist er ermächtigt. So kann er prüfen, ob eine Verordnung mit Verfassung und Gesetz übereinstimmt und ob ein Gesetz "ein wirkliches Gesetz" ist. Dabei kommt allerdings der Publikation einer Norm durch den Monarchen mit ministerieller Gegenzeichnung besondere Bedeutung zu. In ihr bezeugt der Regent, daß die verfassungsmäßige Mitwirkung der Stände stattgefunden habe. Dieses Zeugnis der höchsten Autorität hat der Richter zunächst zu beachten; seine Glaubwürdigkeit kann jedoch widerlegt werden, wenn die Volksvertretung die Rechtswidrigkeit der Publikation geltend macht oder "notorische und entscheidende Tatsachen" oder "unzweifelhafte Rechtssätze" der Ordnungsmäßigkeit der Norm entgegenstehen. Die Publikation allein macht demnach eine rechtswidrige Norm nicht rechtmäßig. Zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist demnach zunächst der Monarch berufen; seine Sanktion begründet eine widerlegbare Vermutung für die Rechtmäßigkeit der Norm. Der Umfang der gerichtlichen Nachprüfungskompetenz wird nicht ausdrücklich erörtert. Verordnungen sollen formell wie materiell auf ihre Übereinstimmung mit dem höherrangigen Recht geprüft werden, während für die Gesetze ein 240 241 242 243 244

Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 149. Ebd., S. 101. Ebd., S . 158 ff.

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näherer Hinweis fehlt. Die Tatsache, daß die Prüfung insbesondere das Verhältnis zwischen Regent und Volksvertretung einbeziehen soll, läßt den Schluß zu, daß nur das formelle, nicht das materielle Prüfungsrecht gemeint ist. Von einem inhaltlichen Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht geht Gerber jedenfalls nicht aus. Die Verfassung soll zwar besondere Stabilität aufweisen, ein besonderer Rang wird dadurch jedoch nicht begründet. Sein Verständnis der Rechtsordnung hat sich endgültig von historisch-politischen Voraussetzungen freigemacht, welche noch um die Jahrhundertmitte die Position des Staatsrechts in den zeitgenössischen politischen Machtkämpfen begründeten. Für Gerber ist juristisch nur noch das Formelle und Festgelegte maßgeblich. Ein solches Verständnis begreift den zeitgenössischen Konstitutionalismus nicht mehr als fort- oder rückschrittliche Herausforderung, sondern als selbstverständliche Grundlage der Staatsorganisation wie als akzeptierte Basis der staatsrechtlichen Arbeit. Das Zusammenwirken zwischen Volk und Regent hat in der Verfassung seine formell-verfahrensmäßige Grundlage gefunden, deren Einhaltung von der Rechtsprechung garantiert werden soll. Dazu reicht das formelle Prüfungsrecht aus. Der materielle Agnostizismus der Reichsverfassung ermöglichte erst die Hervorbringung der konstitutionellen Politik, welche ihre Grundlage weniger in der materiellen Sicherung vorgegebener Rechtspositionen als in der Sicherung individueller Rechte durch Mitwirkungsrechte bei der Ausübung der Staatsgewalt hat. Zur Verwirklichung solcher Politik waren die gesetzgebenden Organe aufgerufen; der Rechtsprechung kam für sie keine Bedeutung zu. Ein materielles Prüfungsrecht wäre daher wenig sinnvoll gewesen. e) P. Laband

Der Positivismus wurde nach Gerber von Paul Laband fortgeführt. Im Vordergrund seines Werkes steht weniger die Ausbildung allgemeiner Grundlagen und Systeme als vielmehr die juristische Durchdringung des positiven Reichsstaatsrechts, wie es sich nach der Reichsgründung von 1871 darstellte. Stärker noch als Gerber löste er die Begriffe von der in ihnen zum Ausdruck gebrachten Realität. So entsteht eine sachliche, verfassungsnahe Darstellung, von der eine ausführliche Diskussion ihrer theoretischen Voraussetzung nicht zu erwarten isf45 • Für Laband ist der Staat ein Rechtssubjekt, dessen juristische Persönlichkeit darin besteht, zur Durchführung seiner Aufgaben und Pflichten eigene Herrschaftsrechte und einen selbständigen Herrschaftswillen zu 245

Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches 1-4, 5. A., 1911 ff.

5 Gusy

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entwickeln2~. D~e Rechte des Staates sind nicht Rechte der Mitglieder, sondern Rechte über die Mitglieder. Sein charakteristisches Merkmal ist die Souveränität als oberste, höchste Willensmacht, welche keine andere über sich hat. Sein Staatsbegriff ist somit ein rein juristisch formaler, dessen Charakteristika die Souveränität, das daraus abgeleitete Herrschaftsrecht und die Einheitlichkeit des Willens sind. Eine allgemeine Lehre von der Staatsgewalt entwickelt er nicht, vi-elmehr erörtert er nur die einzelnen, den Reichsorganen durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzen. Auf diese Weise gelangt er auch nicht zu einer systematischen Lehre zur Ausübung der Staatsgewalt und der Kompetenzen der damit betrauten Organe247 •

Labands Ausführungen zum richterlichen Prüfungsrecht basier>en auf seinem Gesetzesverständnis248• Er unterscheidet nach ·den Verfahren des Normerlasses formelle und materielle Gesetze. Im materiellen Sinne ist Gesetz die rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes249, Gesetz im formellen Sinn ist jeder Rechtssatz mit Zustimmung der VolksvertretunglSO. Der Wirkung nach treten für beide Formen gleichfalls zwei Komponenten nebeneinander, die er aus den Bestimmungen über den Gesetzeserlaß, welche in der RV enthalten waren, entwickelte251• Zunächst erfolgt die Feststellung des Gesetzesinhalts, auf sie bezieht sich der übereinstimmende Beschluß von Bundesrat und Reichstag. Danach wird der so beschlossene Entwurf dadurch zum Gesetz erhoben, daß seine Befolgung befohlen und angeordnet wird. Diese Sanktion252 erfolgte durch den Bundesrat. Seine Verbindlichkeit erhält das Gesetz ausschließlich durch diese formelle Gesetzeskraft; die materielle Gesetzeskraft bezeichnet nur den Inhalt, mit dem das Gesetz formell wirksam wird. Diese Auffassung sollte später noch in der Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht Bedeutung erlangen. Laband selbst setzt mit seiner Stellungnahme zu dieser Frage jedoch erst später im Gesetzgebungsverfahren ein253• Zur Ausfertigung und Verkündung ordnungsgemäß beschlossener Gesetze war nach Art. 17 RV der Kaiser berechtigt und verpflichtet. Er versah jede Norm mit der Verkündungsformel " ... nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages . . ." . Danach enthält die Ausfertigung die VersicheEbd., I, S . 56 f. s. aber ebd., II, S. 29: Gesetzgebende Gewalt = Staatsgewalt. 248 Ebd., II, S. 1 ff.; dazu Böckenförde, Gesetz, S . 226 ff. 249 Laband, II, S. 2. 250 Ebd., S. 62. 251 Ebd., S. 24 ff. 252 Die Bedeutung der Sanktion bei Laband erläutert Pieroth, DSt 1977, 557, 561 ff. 253 Laband, II, S. 42 ff. 246 247

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches

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rung, das Gesetz sei auf verfassungsgemäße Weise zustande gekommen. Diese Versicherung setzt jedoch die Prüfung jener Vorgänge voraus. Dem Kaiser kommt daher das Recht und die Pflicht zu der Untersuchung zu, ob das Gesetz die Zustimmung der vorgeschriebenen Organe erhalten hat und ob diese in vorgeschriebener Weise zustande gekommen ist. Führt diese Prüfung zu einem negativen Ergebnis, so hat der Kaiser die Ausfertigung zu unterlassen. Die Kontrollkompetenz bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kommt somit dem Kaiser zu. Seine Feststellung ist unanfechtbar und rechtswirksam für alle Staatsorgane und Untertanen254 • Das wird damit begründet, daß Art. 17 RV den Kaiser zum "Wächter und Hüter der Verfassung" eingesetzt habe, der im Interesse aller Glieder und Untertanen des Reichs prüfe, ob die Gesetze verfassungsgemäß seien255 • Wenn die Ausfertigungskompetenz des Kaisers nicht völlig sinnlos sein solle, könne ihr nur diese Bedeutung zukommen256 • Diese Ansicht bezieht Laband ausdrücklich nur auf die formelle Rechtmäßigkeit, zu ihren materiellen Komponenten nimmt er für die Gesetze im formellen Sinne keine Stellung. Auch bei Rechtsverordnungenm hat die Ausfertigung den Sinn, die Ordnungsmäßigkeit des Verordnungserlasses zu prüfen und festzustellen. Das gilt allerdings nur für die formelle Rechtmäßigkeit, also die Frage, ob der Verordnungsweg formell richtig eingehalten worden ist. Ob hingegen der Verordnungserlaß überhaupt zulässig war oder die Norm nicht als formelles Gesetz hätte ergehen müssen, wird von dieser Prüfung nicht erfaßt. Insoweit stehe allen Behörden und Gerichten ein Prüfungsrecht zu. Warum sich die Nachprüfungskompetenz ausschließlich auf formelle Fehler bezieht, begründet er nicht. Diese Limitierung wird vielmehr erst dadurch erklärt, daß Laband einen inhaltlichen Vorrang der Reichsverfassung vor den einfachen Gesetzen nicht kannte, da jene materielle Anforderungen nicht enthielt258 • Das sei anders bei Verordnungen, welche nicht nur an die Verfassung, sondern zugleich an die Gesetze gebunden seien. Damit bezieht sich das kaiserliche Prüfungsrecht für Laband gegenüber Gesetzen und Verordnungen einheitlich nur auf ihre formelle Ordnungsmäßigkeit. Mit seiner Auffassung geht er noCh über Gerber hinaus, welcher noch eine formelle Kontrolle der Gesetze durch die Gerichte zugelassen hatte. Der Unterschied resultiert daraus, daß nach Gerber die Feststellungswirkung der Sanktion und Publikation lediglich eine widerlegliehe war. Bei Laband erlangt sie demgegenüber unwiderleglichen Charakter. 254 255

256 1S1 258

s•

Ebd., S. 44. Ebd., S. 46. Ebd., S. 49 f. Dazu ebd., S. 106. Ebd., S. 106.

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Politische Gefahren für das ordnungsgemäße Verfahven bei der Verwirklichung des konstitutionellen Verfassungskompromisses sieht Laband "mit Rücksicht auf den Bundesrat, den Reichstag, die öffentliche Meinung und das eigene Ansehen" des Kaisers nicht259•

f) G. Jellinek Ebenso wie Gerber und Laband ist auch Georg Jellinek der positivistischen Schule des deutschen Staatsrechts zuzuordnen. Er orientierte sich allerdings in wesentlich stärkerem Maße als Laband an materiellen Voraussetzungen und Kriterien, ohne dadurch jedoch in seinen Konsequenzen den positivistischen Ansatz zu verlassen. Seine Anschauungen zum richterlichen Prüfungsrecht entwickelt er nicht im Rahmen einer Gesamtdarstellung des Staatsrechts, sondern aus speziellen Erörterungen zu Gesetz und Verordnung; seine Grundlagen sind somit nicht allgemeine Lehren zur Staatsorganisation, sondern auf den Rahmen jener Fragestellung begrenzte Ausführungen260• Dabei geht er von dem Bewußtsein aus, daß oft bis in die kleinste Einzelheit hinab die Lösung staatsrechtlicher Fragen davon abhängt, welche Erkenntnis man vom Wesen des Staates besitzt261 • Den Staat versteht er als juristische Person, dieser Begriff ist der Grund- und Eckstein des Staatsrechts262• Die Staatsgewalt ist das Wollen und Handeln des Staates zur Erreichung seiner Zwecke; sie äußert sich in Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung:l63• Di:ese Einteilung wird durch die Staatszwecke geboten, einer Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus steht er kritisch gegenüber. Entscheidende Bedeutung für seine Stellungnahme zum richterlichen Prüfungsrecht kommt seinem Gesetzesverständnis zu. Das eigentliche Gesetz ist für ihn im Konstitutionalismus das formelle Gesetz264; sein Charakteristikum ist - wie bei Laband - nicht der Inhalt, sondern die Form. Grundsätzlich unterscheidet er formelle und materielle Gesetzeskraft. Die formelle Gesetzeskraft ist die Geltung als allgemein verbindliche Norm265, sie bestimmt ihren Rang und ihre Geltung. Die materielle Gesetzeskraft ist die sich durch den konkreten Norminhalt in der RealiEbd., S . 44. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1887. 261 Ebd., S. X. :162 Ebd., S. 195. :163 Ebd., S . 213 ff. 264 Ebd., S . 226 ff.; Zum Gesetzesverständnis Jellineks: Böckenförde, Gesetz, s. 242 ff. 265 Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 248, 338. 259

260

3. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreiches

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tät aktualisierende Wirkung der Vorschrift. Damit knüpft er an Labands Unterscheidung zwischen Gesetzesinhalt und Gesetzesbefehl an. Dieses Verständnis bestimmt auch die Beteiligung der verschiedenen Organe am Gesetzeserlaß: In der "auf dem monarchischen Prinzip beruhenden konstitutionellen Monarchie" in Deutschland und Österreich äußert sich die Staatsgewalt ausschließlich durch den Willen des Monarchen266. Dieser verleiht allem Staatshandeln seine verbindliche Kraft. Die formelle Gesetzeskraft als Anordnung der Gültigkeit eines Gesetzes kann daher nur durch den Monarchen verliehen werden267• Dagegen sind die Kammern unvollständige Staatsorgane. Ihnen steht die Ausübung der Staatsgewalt nicht zu; ihr Wille kann denjenigen des Souveräns nur beschränken, nicht hingegen bestimmen268• So können ihnen nur zwei Funktionen zukommen: die Feststellung des Gesetzesinhalts, d. h. des Umfanges der materiellen Gesetzeskraft, und die Zustimmung zum Erlaß des Gesetzesbefehls, welcher dann durch den Monarchen erteilt werden muß269 • Indem die Kammern den materiellen Inhalt eines Gesetzes beschließen, erteilen sie gleichzeitig den Konsens, daß ihr Beschluß Inhalt eines formellen Gesetzes des Monarchen werden kann. Diese monarchische Anordnung ist die SanktionZIO. Nicht der König im Verein mit den Kammern, sondern der König allein nimmt die entscheidende legislative Tätigkeit vor. Dabei kommen der Sanktion und der Zustimmung der Kammern noch weitere Funktionen zu. Neben dem Gesetzesbefehl bzw. der Zustimmung zu seiner Erteilung enthalten sie zugleich ein Urteil, "mindestens eine starke Analogie mit einem Urteil" 171 • Dieses bekundet, daß nach Überzeugung des Beschließenden den verfassungsmäßigen Anforderungen Genüge getan ist. Mit seinem Beschluß bekundet das Parlament, daß seine Willensbildung verfassungskonform erfolgt ist; desgleichen enthalten Sanktion und Ausfertigung die Bestätigung, daß der Entwurf den verfassungsmäßigen Bedingungen entspricht. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm erfolgt demnach durch die an ihr.em Erlaß Beteiligten. Neben diesem Urteil kann der Richter nicht nochmals urteilen. Hierzu zieht Jellinek den Grundsatz "ne bis in idem" und die Unterordnung des Richters unter den Souverän heran. Ein materielles Prüfungsrecht lehnt er auf dieser Grundlage ab; über die formelle Nachprüfungskompetenz, welche sich insbesondere auf die Ordnungsmäßigkeit der Ausfertigung bezieht, äußert er sich nicht abschließend, 266

267 268 269 Z10

211

Ebd., S. 314. Ebd., S. 315,317. Ebd., S. 314. Ebd., S. 316 f. Ebd., S. 315 ff. Ebd., S. 401 f.

111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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neigt ihr jedoch zum. Rechtsvergleichende Ausführungen sollen seine Ansicht stützen273 • Ganz anders behandelt er das Prüfungsrecht gegenüber Verordnungen274. Zwar werden auch sie ausgefertigt und verkündet, bei ihrem Erlaß wirken jedoch die Kammern nicht mit. Demnach wäre der Monarch erlassendes und prüfendes Organ zugleich und zu der Feststellung befugt, daß er allein zum Verordnungserlaß berechtigt sei. Über solche Kompetenzen kann aber niemals das ausübende Organ selbst entscheiden, sondern nur ein Richter. Daher stehe hier den Gerichten ein formelles und materielles Prüfungsrecht zu, was J ellinek zudem auf den Vorrang des Gesetzes vor Verordnungen und der Rechtsprechung stützt Ebenso wie die übrigen Positivisten geht auch Jellinek nicht von einem inhaltlichen Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz aus. Maßgeblich dafür ist die Tatsache, daß dieselben Organe Verfassung und Gesetze erlassen; ein Organ kann sich jedoch durch seine Maßnahme nicht selbst binden275• Deutlich wie kein zweiter stellt er die politischen Grundlagen und Ziele der Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht darZ16 , zumal es "um die Mitte des 19. Jahrhunderts dem Volk am Gefühl für die Sicherheit der ihm zuerkannten Rechte mangelte". Er selbst geht davon aus, daß mit der Normalisierung der konstitutionellen Verhältnisse, insbesondere der Sicherung des Zustimmungsrechts der Kammern zu den Gesetzen, die Individualrechte sicher geworden seien. So bejaht er auch das Prüfungsrecht, soweit Befugnisse der Kammern tangiert sein könnten. Sieht man vor diesem rechtspolitischen Hintergrund seine eigenen Auffassungen, so kann seinen Begründungen ein hohes Maß an Konstruiertheit und Künstlichkeit nicht abgesprochen werden. Schon die Herleitung eines Urteilscharakters aus Sanktion und Zustimmung ist kaum begründet. Die unterschiedliche Reichweite der monarchischen Kontrollkompetenz bei Gesetzen und Verordnungen erstere soll auch die Ordnungsmäßigkeit der parlamentarischen Zustimmung einbeziehen, letztere dagegen die fehlende Notwendigkeit parlamentarischer Mitwirkung nicht umfassen - wird aus dem Urteilscharakter der Ausfertigung nur schwach begründet. Sein Anliegen, die Funktionsbedingungen der Rechtsetzung im Konstitutionalismus und die Freiheitssicherung durch Mitwirkung der Kammern an der Gesetzgebung zu sichern, wird zwar realisiert. Der konstruktive Aufwand, das 272 273 274

Z15 Z16

Ebd., S. 402, 405 f. Ebd., S. 402. Ebd., S. 406. Ebd., S. 261 ff. Ebd., S. 297 f.

4. Zusammenfassung

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verfassungspolitisch erwünschte Ergebnis positivistisch zu begründen, ist jedoch erheblich.

g) Zusammenfassung Die Staatslehre des Kaiserreichs zeigt insgesamt deutlich die Tendenz, den Gesetzgeber als zentrale Instanz zum Ausgleich der konkurrierenden Interessen im Staat anzusehen. Der konstitutionelle Staat als Kamprarniß zwischen Monarch und Bürgertum fand danach seine höchste Willensäußerung in der Form des kompromißhaft zustande gekommenen Gesetzes. Politischer Ausgleich war Voraussetzung und höchster Ausdruck des so verfaßten Staates; inhaltliche Bindungen waren dabei eher hinderlich. Grundlage dafür war die Negation des Vorranges der Verfassung gegenüber dem Gesetz. Damit reduzierte sich deren Bedeutung auf die Aufstellung formeller Grundsätze für den Gesetzeserlaß; sie erschien so als Verfahrensnorm für den Ausgleich zwischen den verschiedenen Mächten im Staat. Dementsprechend nimmt danach die Rechtsprechung die Rolle des Wächters über das ordnungsgemäße Zusammenwirken der beteiligten Mächte ein. Sie soll formell prüfen, ob die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Erlaß eines Gesetzes vorliegen; damit ist ihre Kompetenz erschöpft. Diese von der Staatslehre des Kaiserreichs mit wenigen Ausnahmen vertretene Auffassung beschränkte sich nicht auf den staatsrechtlichen Positivismus277, wiewohl diese Richtung sie am konsequentesten verfolgte. Sie herrschte insbesondere auf dem 4. Deutschen Juristentag vor, der sich mit großer Mehrheit für das formelle Prüfungsrecht einsetzte. Inhaltlich wurde das zeitgenössische System so zu einer akzeptierten Grundlage der Staatsrechtswissenschaft. Insofern wirkte das Staatsrecht des Spätkonstitutionalismus als Legitimation des politischen Status quo mit seinen monarchischen wie bürgerlichen Elementen278• 4. Zusammenfassung

Die Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht im Deutschland des 19. Jh. war insgesamt durch drei Faktoren bestimmt: Ablehnung des Prinzips der Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte und monarchisches Prinzip oder Vorrang der Verfassung. Einigkeit bestand779 in der Ablehnung des Prinzips der Volkssouveränität. Grundlage der Diskussion war das geltende Bundesrecht mit der Anders wohl Fangmann, Justiz, S. 44 ff. Wilhelm, Methodenlehre, S. 156; differenzierend zu Recht: v. Oertzen, Positivismus, S. 321 ff. 279 Bis auf Rotteck, s. o. III vor 1. 277

278

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111. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

in ihm enthaltenen Anordnung des monarchischen Prinzips. Die Anschauungen über seine Reichweite und seine praktischen Konsequenzen divergierten je nach dem politischen Standort des Autors und seiner daraus resultierenden Einschätzung der Verfassung. War die Verfassung Grenze der Staatsgewalt, so erschien ihre Bedeutung für den monarchischen Herrschaftsprimat in anderem Licht als unter der Voraussetzung, daß sie Grundlage des Staates sei. Im ersten Fall stand die Staatsgewalt außerhalb der Verfassung, im zweiten war sie ihr untergeordnet. Je nach dieser Standortbestimmung variierte die Beurteilung der Mitwirkungsrechte der Kammern an der Gesetzgebung. Begrenzte die Verfassung die Staatsgewalt, war der Monarch einzige Quelle aller Gesetze; den Kammern standen nur subjektive Mitwirkungsrechte zu, die ihnen -quasi als Privileg- eingräumt waren. Konstituierte die Verfassung die Staatsgewalt, hatte die Volksvertretung an der Legislative Anteil. Je nach diesem Vorverständnis variierten die Auffassungen zum richterlichen Prüfungsrecht. Allgemein wurde der Rechtsprechung wegen ihrer Unabhängigkeit eine gewisse Eigenständigkeit eingeräumt, wobei sie stets dem Gesetz unterworfen war. Stand die Staatsgewalt außerhalb der Verfassung, so nahmen Konstitution und einfache Gesetze, da sie beide vom Monarchen mit Zustimmung der Kammern erlassen wurden, den gleichen Rang ein. In diesem Fall blieb für ein Prüfungsrecht kein Raum. Diese Auffassung vertraten die Anhänger des monarchischen Prinzips. Wurde der Staat durch die Verfassung hervorgebracht, so war er zugleich durch deren Bestimmungen begrenzt, die Verfassung ging somit den Gesetzen vor. Das allein begründete jedoch noch kein Prüfungsrecht. Abstrakt war das Gesetz stets der Rechtsprechung gegenüber vorrangig. Nur wenn eine konkrete Einzelfallprüfung vorgenommen werden konnte, in der die Normenhierarchie wegen widersprechender Gesetze zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen konnte, war Platz für ·e ine inzidente Normenkontrolle. Die Voraussetzung dafür, der inhaltliche Vorrang der Verfassung, wurde nur von der rechtsstaatliehen Richtung anerkannt; nur für sie konnte daher ein richterliches Prüfungsrecht überhaupt existieren. Wurde demgegenüber die Verfassung nur als Organisationsnorm für das Zusammenwirken der im Staat vorhandenen Mächte begriffen, so konnte nur ein formelles Prüfungsrecht in Betracht kommen. Dieses war die Position der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit. In der Monarchie mußte die rechtsstaatliche Staatslehre als Ausprägung der bürgerlichen Bewegung erscheinen. Ihr Aufstieg und Niedergang ist eng mit der Stärke der bürgerlich-liberalen Bewegung verknüpft. Sie erlangte im Kurhessischen Verfassungskonflikt nicht nur wissenschaftliche, sondern auch praktische Bedeutung in der Rechtspre-

4. Zusammenfassung

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chung. Die Verfassung war das zentrale Instrument des Bürgertums im Staat, bei ihrer Auslegung waren Rechtsfragen stets zugleich Machtfragen. Mit dem Scheitern der bürgerlichen Bewegung gelang es den monarchisch gesonnenen Kräften, die Machtfrage erneut zu ihren Gunsten zu entscheiden. Ausdruck dieser Realität ist der staatsrechtliche Positivismus.

IV. Die Weimarer Reichsverfassung 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

Mit dem Erlaß der WRV fand in Deutschland die monarchische Staatsform ihr Ende, die konstitutionelle Monarchie wurde durch die republikanische Verfassung abgelöst. Art. 1 WRV ist zentraler Ausdruck dieses fundamentalen Wandels, der die Volkssouveränität an die Stelle des monarchischen Prinzips treten läßt. Die neue staatliche Ordnung basierte auf dem Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art. 20 ff.), an deren Spitze nicht mehr ein König, sondern der unmittelbar vom Volk gewählte Reichspräsident stand (Art. 41 ff.). Die Reichsregierung wurde dem Reichstag verantwortlich, die Kontrolle der Exekutive durch ein umfassendes parlamentarisches Kontrollrecht gesichert (Art. 54). Mit diesem Umsturz des alten Verfassungssystems war der Kampf gegen den Herrschaftsprimat des Monarchen, welcher im 19. Jh. die politische wie die staatsrechtliche Auseinandersetzung geprägt hatte, entschieden. Nicht bürgerliche Mitwirkungsrechte durch Gewaltenteilung, sondern Übernahme aller Staatsgewalt durch das Volk war zur realen Alternative geworden. Eine ausdrückliche Anordnung der Gewaltenteilung enthielt die WRV demgegenüber nicht. Wenn sie gleichwohl eine funktionelle wie organisatorische Gewaltenteilung vornahm, so konnte dieser Differenzierung nicht mehr der Sinn einer Minderung der monarchischen Herrschaftsgewalt zukommen. Vielmehr waren die Spitzen der Exekutive, Reichspräsident und Reichsregierung, selbst unmittelbar oder zumindest mittelbar demokratisch legitimiert und kontrolliert. Eine Neukonzeption der Gewaltenteilung nach ihrem Sinn und ihren Folgen im demokratischen Staat fand jedoch weder in der Verfassung selbst noch im zeitgenössischen Verfassungsrecht statt. Dabei wäre eine solche Diskussion um so notwendiger gewesen, als - wie gesehen - in der konstitutionellen Monarchie Demokratie und Gewaltenteilung in ihrer Zielrichtung als gleichgerichtet ang,e sehen wurden, eine theoretische wie praktische Neuordnung ihres Verhältnisses zueinander jedoch nicht durchgeführt waren war. Beide Systeme waren anti-monarchisch, aber weder war die Demokratie als notwendig gewaltenteilend noch die Gewaltenteilung notwendig als demokratisch erschienen. Überdeckt war das gewaltenteilende System der WRV durch vielfältige Gewaltenverschränkungen, wie sie insbesondere in der theoretisch wie praktisch äu-

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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ßerst bedeutsamen Stellung des Reichspräsidenten zum Ausdruck kam, der - vom Reichstag organisatorisch getrennt (Art. 44) - an der Legislative (Art. 48), der Exekutive (Art. 46 f., 53) und der Rechtsprechung (Art. 49) beteiligt war1• Das Verhältnis der einzelnen Zweige der Staatsgewalt zueinander war in der Verfassung durch einige charakteristische Regelungen bestimmt. Rechtliche Grundlage des Staates war die Verfassung. Sie war von der Nationalversammlung als erster normsetzender Instanz der Republik erlassen worden; später sollte sie "im Wege der Gesetzgebung geändert werden" können (Art. 76). Erforderlich war dazu eine ZweiDrittel-Mehrheit im Reichstag und- ggf.- im Reichsrat. Verfassungsdurchbrechungen ohne ausdrückliche Änderung ihres Textes waren zulässig2. Das Verhältnis der Verfassung zum einfachen Gesetz war nur ansatzweise geregelt. Eine ausdrückliche Anordnung des Vorrangs der Verfassung bestand nur für vorkonstitutionelle Gesetze und Verordnungen (Art. 17811), für nachkonstitutionelle Normen fehlte eine solche Vorschrift. Diese Tatsache erlangte in den Diskussionen um das Verhältnis der Staatsgewalten zueinander erhebliche Bedeutung. Dagegen war das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung zueinander durch Art. 13 WRV in gleicher Weise wie in Art. 2 RV 1871 geregelt. Das Reichsrecht sollte dem "Landrecht" in jeder Beziehung vorgehen. Eine ausdrückliche Regelung des Verhältnisses von Verfassung und Gesetz zu den Verordnungen fehlte demgegenüber; in den Beratungen wurde betont, Rechtsverordnungen dürften nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung erg.ehen. Weder diesbezüglich noch über die inhaltliche Bindung des Verordnungsrechts wurden jedoch eigene Bestimmungen in die Verfassungen aufgenommen. Die Justiz war unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 102); die Richter sollten unabhängig gegenüber jeder Gewalt außer dem Gesetzgeber sein. Ob unter "Gesetz" auch die Verfassung zu verstehen war, wie bei Widersprüchen zwischen Verfassung und Gesetzen zu entscheiden war und was dafür die richterliche Gesetzesgebundenheit bedeutete, war in der zeitgenössischen Methodenlehre und Staatsrechtswissenschaft sehr umstritten3• Dabei wurden weniger die positiven Normen der Verfassung als vielmehr allgemeine methodische, historische und politische Fragestellungen herangezogen. Dieses Fehlen einer verfassungsrechtlich fundierten Untersuchung der Stellung der dritten Gewalt in der Demokratie war eine unmittelbare Folge des Mangels an einer allgemeinen Klärung der Gewaltenteilung in der Demokratie. 1 2 3

Allgemeine Charakterisierung bei Apelt, Geschichte der WRV, S. 127 ff. RG, JW 1927, 2198; Anschütz, S. 401. Nachweise bei Anschütz, S. 476.

76

IV. Die Weimarer Reichsverfassung

Zur Entscheidung zumeist verfassungsrechtlicher Streitigkeiten sah die WRV den Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich vor (Art. 19). Ähnlich wie der Bundesrat im Kaiserreich (Art. 76 RV 1871) nahm er überwiegend zentralstaatliche Kontroll- und Schlichtungsaufgaben wahr4• Bestimmte Meinungsverschiedenheiten zwischen Reich und Ländern entschied er nach Art. 15 li 2 WRV (Reichsaufsicht), 19 I (nichtprivatrechtliche Streitigkeiten), 90 S. 2 (Kompetenzfragen im Eisenbahnwesen), 170 II (Übernahme der Post- und Telegraphenverwaltung durch das Reich), 171 II (Übernahme der Staatseisenbahnen, Wasserstraßen und Seezeichen durch das Reich). Daneben unterfielen seiner Zuständigkeit Streitfälle zwischen den Ländern gern. Art. 18 VII (Neugliederung des Reiches) und 19 I (nichtprivatrechtliche Streitigkeiten) und Verfassungsstreitigkeiten innerhalb einzelner Länder, in denen kein Gericht zu ihrer Erledigung bestand (Art. 19 I WRV). Innerhalb des Reiches war er zuständig für Anklagen gegen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichsminister (Art. 59 WRV). Unter diesen Kompet·enzzuweisungen fehlte eine ausdrückliche Erwähnung eines Prüfungsrechts bezüglich der Vereinbarkeit von Reichsgesetzen mit der Verfassung. Auch das durch Art. 108 WRV vorgeschriebene Gesetz über den Staatsgerichtshof enthielt eine derartige Zuweisung nicht5, es normierte überwiegend die Zusammensetzung des Gerichts. Ein Antrag im Rechtsausschuß des Reichstages, dem Staatsgerichtshof ein Normenkontrollrecht zuzusprechen, wurde von der Mehrheit abgelehnt, wobei allerdings unterschiedliche Motive ausschlaggebend waren: einige Abgeordnete lehnten den Entwurf ab, da ein solches Prüfungsrecht in der Verfassung nicht vorgesehen sei und daher nicht existiere; andere stimmten dagegen, da das Prüfungsrecht nicht dem Staatsgerichtshof, sondern den anderen Gerichten zustehe, in deren Kompetenzen nicht eingegriffen werden solle6 • Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit wurde durch einfaches Gesetz nicht dem Staatsgerichtshof, sondern dem Reichsgericht zugewiesen7• Es sollte gern. Art. 13 II WRV über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsr.echt entscheiden. Hieraus war ein Prüfungsrecht über die Rechtmäßigkeit von Landesrecht herzuleiten, dessen Ziel jedoch nicht die Wahrung des Primats der Verfassung, sondern die Erhaltung der bundesstaatliehen Kompetenzordnung war. Die Reichsgesetze waren hier nicht Gegenstand, sondern Maßstab des Prüfungsrechts. So schloß sich 4 Dazu i. E. Jerusalem, Die Staatsgerichtsbarkeit, 1930, S. 104 ff.; Friesenhahn, in: HBDStR II, 523 ff. s G. v. 9. 7. 1921, RGBl S. 905. 6 Bericht in Verhandlungen des Reichstages, 1. Wahlperiode, Bd. 365, Anlagen, Nr. 1592. 7 G. v. 8. 4. 1929, RGBl S. 510.

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

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di:ese Regelung an Art. 2 RV 1871 an; ein Prüfungsrecht gegenüber formellen Reichsgesetzen ließ sich daraus gleichfalls nicht herleiten. War somit ein richterliches Prüfungsrecht in der Weimarer Reichsverfassung nicht ausdrücklich vorgesehen, so waren die Gründe für dieses Fehlen schon kurz nach Erlaß der Verfassung sehr umstritten. Der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung hatte sich mit dieser Frage ausführlich beschäftigt, seine Diskussionen und Beschlüsse gaben jedoch zu äußerst kontroversen Deutungen und SchluiÜolgerungen Anlaß8• Dem Ausschuß lag folgender Antrag vor: "Wenn 100 Mitglieder des Reichstages es beantragen, ist der Staatsgerichtshof dazu berufen, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofes ist bindend." Zur Begründung beriefen sich die Antragsteller auf die Ansichten der Verfassungsrechtier des Spätkonstitutionalismus, insbesondere Gneists. Ihr Antrag wurde im Ausschuß mehrheitlich abgelehnt, dem Staatsgerichtshof wurde kein Prüfungsrecht eingeräumt. Vor der Abstimmung war ·er in zweifacher Hinsicht ergänzt worden. Eine Ergänzung lautete: "Die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen ist dem richterlichen Prüfungsrecht entzogen." Die andere: "Der Staatsgerichtshof darf nicht darüber entscheiden, ob nach Art. 9 RV ein Bedürfnis zum Erlaß eines Reichsgesetzes vorhanden ist." Die Ergänzungen zielten somit auf den Ausschluß des Prüfungsrechts aller Gerichte und die Eingrenzung der Befugnisse des Staatsgerichtshofs auf die Rechtmäßigkeitskontrolle ab. Auch diese Ergänzungen wurden im Ausschuß bei Stimmengleichheit abgelehnt. Damit hatte man sowohl die ausdrückliche Aufnahme des Prüfungsrechts in die WRV unter gleichzeitiger Beschränkung auf den Staatsgerichtshof- als auch seinen vollständigen Ausschluß abgelehnt. Aus diesen Entscheidungen zogen die Mitglieder des Ausschusses selbst unterschiedliche Konsequenzen. Der Abgeordnete Cohn (USPD) und Hugo Preuß gingen davon aus, die Verfassung setze ohne ausdrückliche Erwähnung das Prüfungsrecht aller Gerichte stillschweigend voraus. Sie führten die Notwendigkeit des Schutzes der Verfassung und ihrer Errungenschaften gegen den Gesetzgeber an. Schon stets sei es ein Anliegen rechtsstaatlich gesonnener Kreise gewesen, das Prüfungsrecht zu begründen und zu sichern. Die gegenteilige Bestimmung des Art. 106 der Preußischen Verfassung von 1851 sei "ein eklatanter Sieg der Reaktion über den Rechtsstaat von 1848" gewesen. Gingen sie demnach von einem rechtsstaatliehen Verfassungen vorausliegenden Gedanken des richterlichen Prüfungsrechts aus, so berücksichtigte ihre Argumentation nicht den grundlegenden Wandel, den die Staatsform von der konstitus Wiedergabe der Verhandlungen in Aktenstück 391, 483 ff.; Überblick bei Theisen, AöR 1925, 250 ff.

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IV. Die Weimarer Reichsverfassung

tionellen Monarchie zur demokratischen Republik vollzogen hatte. Sie waren noch weitgehend in den Fragestellungen und Gedankengängen einer früheren Epoche befangen. Gegenteilige Schlüsse zog der Abgeordnete Kahl (DVP). Er ging davon aus, daß durch die Schaffung eines umfassenden richterlichen Prüfungsrechts die Justiz über den Gesetzgeber gestellt würde und somit die Gewaltenteilung entscheidende Verschiebungen erführe. Damit argumentierte er in den Bahnen des überkommenen staatsrechtlichen Positivismus. Ebenso kontrovers wie im Ausschuß blieben die Folgerungen, welche aus dieser Entstehungsgeschichte später gezogen wurden. Weder hatte sich der Verfassunggeber eindeutig für das richterliche Prüfungsrecht ausgesprochen, noch hatte er sich ausdrücklich dagegen entschieden. Zur Auffüllung dieser "bewußten Lücke" konnte die Vorgeschichte von keiner Seite als Argument herangezogen werden, wenn man nicht aus der konstitutionellen Monarchie überkommene Vorverständnisse dem Verfassunggeberoder der Verfassung unterlegen wollte. Ein neues Bewußtsein von Bedeutung und Umfang des richterlichen Prüfungsrechts hatte sich so bei Erlaß der WRV für den demokratischen Staat noch nicht gebildet. Die unterschiedlichen Ansätze in der Diskussion um dieses Recht waren somit auf inhaltliche und verfassungstheoretische Fragestellungen verwiesen. Dabei konnten sie die Ansätze aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie nur noch bedingt übernehmen. Hatte das überkommene Staatsrecht das konstitutionelle System legitimiert, unter dessen Geltung die tatsächlichen Machtfragen seit der Niederlage des Bürgertums faktisch entschieden gewesen waren, so hatte sich diese Situation nach 1918 entscheidend gewandelt. Unter den Bedingungen der Demokratie mußten die einzelnen sozialen Mächte ihre Stellung und ihren Einfluß im Staat neu suchen und definieren. Faktizität und Herkommen besaßen angesichts prekär werdender Machtlagen keine eigene legitimierende Kraft mehr. So entstanden neue Bedürfnisse nach einer Legitimation der gewandelten Ordnung wie der Praxis ihrer Verwirklichung, die ihrer verfassungstheoretischen wie -politischen Erfüllung harrten9 • Die Verfassung selbst vermittelte dazu nur wenige Anhalts9 Von entscheidender Bedeutung für das Aufkommen dieser Problemstellungen waren insbesondere die Divergenzen unter den politisch und gesellschaftlich führenden Gruppierungen. Die Revolution von 1918 hat die relative Homogenität der Führungsschicht im Staat gesprengt. Die Führer der im Reichstag vertretenen Parteien lösten die aristokratischen Kreise in der Regierung des Kaiserreiches ab, ohne daß die letzteren ihren gesellschaftlichen Einfluß völlig verloren. Der Kampf um die Führungsrolle nach der neuen Verfassung war so vorgeprägt, wobei die vielfältigen ökonomischen Krisen ebenso wie die außen- und innenpolitischen Hypotheken des jungen Staates verschärfend wirkten. s. dazu Rittstieg, Eigentum, S. 252 ff.

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis

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punkte. Das völlige Fehlen allgemeiner Staatsziel- oder -strukturbestimmungenzeigt ihren Kompromißcharakter, wobei nicht mehr wie im Konstitutionalismus die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen Adel und Bürgertum, sondern vielmehr zwischen den in der Revolution führenden - unteren - Mittelschichten und dem ökonomisch wie politisch nach wie vor einflußreichen Bürgertum im Vordergrund stand. Die wesentlichen Grundentscheidungen wurden dem einfachen Gesetzgeber überantwortet, ihm wurden durch die Verfassung inhaltlich nur geringe Bindungen auferlegt. Die Freiheitsrechte, welche als Abwehrrechte konzipiert waren, standen unter einem umfassenden Gesetzesvorbehaltbis auf Art. 129 III, IV WRV -. materielle Grenzen der Grundrechtseingriffe kannte die Verfassung nicht10• Bezüglich der Sicherung der Freiheit hatte die WRV somit die Mechanismen des Konstitutionalismus beibehalten: Freiheitssicherung sollte durch Mitwirkung des Volkes an der staatlichen Herrschaftsausübung, d. h. parlamentarische Gesetzgebung geschehen. Grundrechte unterschieden sich somit von anderen subjektiven Rechten dadurch, daß ihre Klagbarkeit verfassungsrechtlich nicht angeordnet war; sie sollten vielmehr primär dem politischen Prozeß zur Verwirklichung aufgegeben sein. Dieses entsprach sowohl der Tendenz der Verfassung, die demokratische Komponente der Willensbildung in Staat (Art. 22, 41, 73 f., 76) und Gesellschaft (Art. 165) zu betonen, als auch dem Kompromißcharakter der Verfassung, welcher eine möglichst geringe Bindung des Gesetzgebers an inhaltliche Vorgaben n ahelegte. Diese inhaltliche Offenheit der Verfassung verwies die Legitimation der Herrschaft auf die demokratische Entscheidungsfindung.

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis In der Rechtsprechung zum richterlichen Prüfungsrecht erlangten die Entscheidungen des Reichsgerichts die größte Bedeutung. In seiner Praxis ist jedoch die Ausübung des Prüfungsrechts bisweilen von anderen, vergleichbaren Phänomenen kaum zu unterscheiden. Primäre Entscheidungsmaßstäbe waren für die Gerichte das Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht; dagegen spielte das Verfassungsrecht in den Gründen oft nur eine untergeordnete Rolle. Ergebnisse, welche die Nichtanwendung einer Norm wegen Verfassungswidrigkeit vorausgesetzt hätten, wurden gelegentlich durch eine Einzelfallentscheidung contra legem erzielt, 10 Die vielfältigen sozialen Rechte, welche als Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber ausgestaltet waren, konnten nicht eingeklagt werden. Wenn der Legislative überhaupt inhaltliche Bindungen auferlegt waren, dann eher durch die - nicht einklagbar - sozialen Rechte als durch die offenen Abwehrrechte. s. zu diesen Bindungen Huber, Verfassungsgeschichte 5, S. 1197 ff.

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IV. Die Weimarer Reichsverfassung

ohne daß die Verfassung auch nur erwähnt worden wäre11 • Maßgeblich hierfür waren methodische Einflüsse des außergesetzlichen Gerechtigkeitsdenkeng wie der Freirechtsschule, welche über Generalklauseln in die Gesetze eingeführt wurden. Solche Entscheidungen weichen im Ergebnis oft von Urteilen und Beschlüssen, welche sich zum richterlichen Prüfungsrecht äußern, nicht ab. Auffällig ist in letzteren nur, daß die Kompetenzen der dritten Gewalt hier ausdrücklich gegen das Gesetz gekehrt werden und dies unter Berufung auf das geltende Verfassungsrecht geschieht. Problemlos war während der gesamten Rechtsprechung des RG die Prüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht, wie es in Art. 13 li WRV vorgesehen war12• Rechtfolge dieser Prüfung sollte sein, das "betreffende Landesrecht für nicht geltend zu erklären und außer Anwendung zu lassen" 13 , was gelegentlich auch geschah14•

a) Die Entscheidungspraxis der Gerichte Die früheste Entscheidung zur richterlichen Normenkontrolle fällte jedoch nicht das RG, sondern der RFH 15• Strittig war, ob die noch von der Nationalversammlung erlassene Reichsabgabenordnung und ein spezielles Steuergesetz ordnungsgemäß erlassen und mit Art. 151 WRV vereinbar waren. Grundsätzlich entschied dazu der Senat, die Gerichte seien berechtigt und verpflichtet, "die von ihnen anzuwendenden Reichsgesetze auf ihr ordnungsgemäßes Zustandekommen sowie auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen". Er nahm damit das richterliche Prüfungsrecht in vollem Umfang in Anspruch, ohne diesen Schritt aus dem positiven Verfassungs- oder Gesetzesrecht zu begründen oder auf ablehnende Stimmen näher einzugehen. Im konkreten Fall wurde allerdings darauf verwiesen, die gerügten förmlichen Fehler gehörten zu den "Erwägungen praktischer Politik" und seien daher gerichtlich nicht kontrollierbar; das Grundrecht aus Art. 151 WRV enthalte nur "einen allgemeinen Leitsatz für Gesetzgebung und Verwaltung". Blieb somit hier das Prüfungsrecht praktisch folgenlos, so ist seine grundsätzliche Inanspruchnahme das eigentlich Neue; zugleich deutet es die Grenzen richterlicher Nachprüfung an16• Ungeklärt blieb, welche Rechtsfolge die An11 RGZ 104, 394, 397; 106, 7 ff.; 272 ff.; 107, 78 ff.; RGSt 56, 309; 57, 35, 39; 228 ff., 424 ff.; Darstellung bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 13 ff. 12 RGZ 103, 200; 104, 58; 137; 106, 34; RGSt 56, 177. 13 RGZ 103, 201. 14 RGZ 104, 58. 1s RFHE 5, 333 f. 16 s. auch RFHE 7, 97 f.

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nahme der Verfassungswidrigkeit der geprüften Steuergesetze gehabt hätte. Eine Begründung für die Beanspruchung des Prüfungsrechts entwikkelte bald darauf das Reichsgericht17, dessen Großer Senat für sich sowohl das formelle als auch das materielle Prüfungsrecht in Anspruch nahm. Dieser Schritt wird damit legitimiert, daß "das RG die Gerichte in ständiger Rechtsprechung für befugt erklärt" habe, "die formelle und die materielle Rechtmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen nachzuprüfen, soweit die Nachprüfung nicht durch Gesetz ausgeschlossen ist" 18 . Eine solche Aussage ist aus zwei Gründen überraschend. Zunächst erforderte der Sachverhalt nicht, sich zum Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen zu äußern, entscheidungserheblich war ausschließlich die Ordnungsmäßigkeit einer Rechtsverordnung. Zudem widerspricht die Aussage inhaltlich der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts. Die vom RG zum Beleg seiner Auffassung herangezogenen Entscheidungen vermögen die aus ihnen gezogenen Schlüsse nicht zu rechtfertigen. In ihnen wurde teilweise das Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen ausdrücklich abgelehnt19 oder nur das Prüfungsrecht gegenüber Verordnungen thematisiert20 oder aber die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsgesetzen erörtert21 ; eine Entscheidung war überhaupt nicht einschlägig22• Insgesamt konnte das RG aus den Entscheidungen nur ein Prüfungsrecht gegenüber Rechtsverordnungen herleiten, nicht hingegen gegenüber parlamentarisch beschlossenen Gesetzen23 • Zutreffend wäre das Resultat nur gewesen, wenn der Senat zwischen Rechtsverordnungen und Landesgesetzen einerseits und Reichsgesetzen andererseits differenziert hätte. Für die konkrete Entscheidung reichte die Begründung aus; das obiter dieturn bezüglich der Nachprüfbarkeit von Gesetzen war nicht nur unzutreffend, sondern zugleich unnötig. Eine Begründung für die Inanspruchnahme des Prüfungsrechts aus Verfassung oder Gesetzen fehlte völlig, insbesondere nahm das RG nicht zu der Frage Stellung, ob der Umsturz der Verfas·sung Rückwirkungen auf das Prüfungsrecht haben könnte. Die zitierten Entscheidungen waren sämtlich unter der Geltung konstitutioneller Verfassungen ergangen, sie konnten den Besonderheiten der WRV nicht Rechnung tragen. Eine Zuordnung von Demokratie und Gewaltenteilung und damit eine Würdigung der Grund17 18 19 20 21

RGZ 102, 161, 164. Bestätigt in RGZ 107,377, 379; RG, DJZ 1921, 290. RGZ 9, 235; 77,229 ff. RGZ 24, 3; 45, 270; 48, 84. RGZ 48, 195 ff. 22 RGZ 25, 274. 23 Ablehnend auch Jellinek, JW 1925, 454 f.; Wassertrüdinger, JW 1925,44 f.; Lassar, VVDStRL 2, 81, 94; zustimmend dagegen Simons, DRiZ 1924, 424; Lobes, AöR 7, 352. 6 Gusy

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lage wie der Stellung des richterlichen Prüfungsrechts im demokratischen Staat nahm das RG allerdings nicht vor. Für die Prüfung der Rechtsverordnung war ein solcher Schritt zwar noch nicht zwingend erforderlich, das obiter dieturn des RG reichte jedoch darüber hinaus. In der Sache hielt das Gericht die angegriffene Verordnung für verfassungsgemäß. Die Prüfung von Rechtsverordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit Verfassung und Gesetz war seitdem ständige Praxis in der Rechtsprechung24 • Im Jahre 1924 hielt ein Gericht erstmals ein Reichsgesetz für verfassungswidriglS. Die Inanspruchnahme des Prüfungsrechts wurde dabei ausführlich begründet26 • Die WRV habe wegen der unternchiedlichen Anschauungen absichtlich keine Entscheidung über diese Materie getroffen, sie sei vielmehr Wissenschaft und Praxis überlassen worden. Zwar komme der Reichsverfassung nicht "formell", wohl aber "materiell" erhöhte Bedeutung gegenüber den Reichsgesetzen zu. Dieser Vorrang müsse durch die Gerichte geschützt werden. Die Bindung des Richters an das Gesetz (Art. 102 WRV) setzt voraus, daß das Gesetz gültig sei, indem es der Verfassung nicht widerspreche. Der besondere Rang der Verfassung werde beeinträchtigt, wenn jedes einfache Gesetz sie verdrängen könne. Der Schutz der Verfassung erfordere daher die Anerkennung des formellen und materiellen Prüfungsrechts. Dieses stehe auch nicht in Konkurrenz zum Prüfungsrecht des Reichspräsidenten. Art. 17 WRV räume ihm nur ein formelles, hingegen kein materielles Prüfungsrecht ein. Die Argumentation des Senats vermittelte erstmals eine verfassungsrechtliche Begründung der beanspruchten Kompetenz. Ausgangspunkt ist die These vom Vorrang der Verfassung; dagegen fehlt eine Zuordnung der Kompetenzen von Gesetzgebung und Justiz im demokratischen Staat. Warum gerade die Richter und nicht der Gesetzgeber zum Wahrer und Hüter der Verfassung bestellt sein sollten, bedarf unter der Geltung der Volkssouveränität einer Begründung. War hierfür unter der Geltung des Konstitutionalismus von der rechtsstaatliehen Richtung die unparteiische Rolle der Justiz zwischen den in unterschiedlichen Staatsorganen verfaßten sozialen Mächten angeführt worden, so sollte der Interessenausgleich nach der WRV nicht zwischen verschiedenen Organen, sondern nur in einem einzigen vor sich gehen. War dieses allein zur höchsten Instanz im Staat berufen und nur weitmaschigen Vorgaben unterworfen, so griff die Justiz durch ihre Normenkontrolle in den Prozeß des Ausgleichs und der Interessenvermittlung von außen ein. Eine Begründung für diesen Eingriff findet sich in der vorliegenden Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts nicht, 24 25 26

RGZ 107, 370 ff.; 107, 377, 379; 109, 216 ff. Reichsversorgungsgerichts E 4, 168 ff. Ebd., S. 189 ff.; bestätigt in E 5, 95.

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seine Angumente sind noch weitgehend dem Konstitutionalismus verhaftet. In der Sache hielt der Senat die Rechtsgarantie der Beamten in Art. 129 I 3 WRV auch gegenüber dem Gesetzgeber für unantastbar und behandelte damit die verbürgten Rechte der Beamten als faktisch unentziehbar. Soweit das Gesetz dagegen verstieß, nannte er es "nichtig" und wandte es nicht an. Weitaus größere Bedeutung als in diesen eher vereinzelten Fällen erlangte das Prüfungsrecht in der Inflationsrechtsprechung seit 192327• In der Hyperinflation standen die wirtschaftlichen Gläubigerinteressen dem schuldnerschützenden Grundsatz "Mark gleich Mark", der in den Währungsgesetzen niedergelegt war, gegenüber. Nachdem das RG diesen Grundsatz unter Berufung auf die clausula rebus sie stantibus und Treu und Glauben eingeschränkt und die Hypothekenaufwertung zugelassen hatte28 , wollte die Reichsregierung dem durch ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung entgegentreten. Dagegen wandte sich eine Erklärung des Richtervereins beim RG29• Sie unterstrich die Erwägungen, welche das RG zur Aufwertung der Hypotheken bezogen hatte und "glaubt von der Reichsregierung erwarten zu können, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird". Ohne den "großen Grundsatz von Treu und Glauben" könne keine Rechtsordnung bestehen, welche "diesen Ehrennamen verdient". Die beabsichtigten gesetzgeberischen Maßnahmen könnten sich als "Mißgriff", als "schwerer Stoß für das Ansehen der Regierung, das Rechtsgefühl im Volke und den Glauben an das Recht" darstellen. Das RG könne daher die Berufung auf solche neuen Vorschriften als Verstoß gegen Treu und Glauben zurückweisen und ihnen damit die Gefolgschaft versagen. Die Erklärung ist gekennzeichnet von einer Entgegensetzung des richterlich verwirklichten Rechts und der gesetzgeberischen Macht; Gesetz und "Recht" , als dessen überpositiver Grundsatz hier "Treu und Glauben" erscheint, treten auseinander. Das Gesetz hat demnach auch "rechtlichen" Vorgaben zu genügen, welche nicht ausdrücklich aus der Verfassung hergeleitet werden. In ihrer eindeutigen Wendung gegen den Gesetzgeber ist die Erklärung wegweisend. Die Reichsregierung gab trotz anfänglicher Proteste30 den Aufwertungsforderungen des Vereins partiell nach31 , das RG erklärte die Notverordnungen für verfassungsgemäß32• 27 Grundlagen und Überblick bei Fangmann, Justiz, S. 92 ff.; Rittstieg, Eigentum, S. 256 ff. 2B RGZ 107, 78. 29 JW 1924, 90. 30 DRiZ 1924, 40 f. 31 3. SteuernotVO vom 14. 12. 1924, RGBI S. 74. 32 RGZ 107, 370; s. aber auch RGZ 109, 216.

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Das diese Verordnungen ablösende Reichsaufwertungsgesetz wurde als erstes parlamentarisch beschlossene Gesetz vom Reichsgericht gleichfalls auf seine Verfassungsmäßigkeit untersucht-13• Voraussetzung der Anwendung eines Gesetzes durch das RG ist nach dessen Ansicht, daß sich "keine durchgreifenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit" ergeben. Art. 102 WRV schließt nicht aus, daß der Richter einem Reichsgesetz die Gültigkeit aberkennt, wenn es mit vorgehendem Recht nicht übereinstimmt. Das sei der Fall, wenn ein Gesetz einem in der Reichsverfassung aufgestellten Grundsatz widerspreche, da deren Vorschriften nur durch ein ordnungsgemäß zustande gekommenes Gesetz außer Kraft gesetzt werden könnten. Andernfalls liege ein Verstoß gegen Art. 76 WRV vor. Da die Reichsverfassung keine Vorschrift enthalte, welche den Richtern das Prüfungsrecht entziehe und dieses einer bestimmten anderen Stelle übertrage, sei es Recht und Pflicht der Justiz, eine solche Prüfung vorzunehmen. Entgegen dem früheren obiter dieturn wurde die Rechtsprechungstradition nicht mehr herangezogen; sogar das Zitat jener Stelle, an der das Gericht seine Prüfungszuständigkeit gegenüber Gesetzen bejaht hatte, fehlte. Die Argumentation des Senats konnte nur schlüssig sein, wenn ein Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz angenommen wurde. Die Beantwortung dieser Frage fehlt jedoch in dem Urteil. Ebensowenig setzt es sich mit dem Prüfungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 70 WRV auseinander, das vom Positivismus als konkludentes Prüfungsmonopol angesehen worden war. Die Argumentation, Widersprüche zwischen Rechtsnormen verschiedenen Ranges begründeten ein Prüfungsrecht, erinnert an die Ausführungen Mahls. Inwieweit dessen Lehre aber in Anbetracht des Verfassungsumsturzes, insbesondere dem Übergang vom monarchischen Prinzip zur Volkssouveränität, Fortgeltung beanspruchen konnte, wurde nicht geprüft. Insoweit unterliegt das Urteil ähnlichen Mängeln wie die frühere Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts. In der Sache hielt das RG das Aufwertungsgesetz für verfassungsgemäß. In der Folgezeit wurde das richterliche Prüfungstecht nicht mehr eigenständig begründet, sondern vorausgesetztl4. Bis auf die angeführte Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts hatte noch kein Gericht ein Reichsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Solche Fälle traten jedoch in späterer Zeit auf. Das Reichsgesetz für die Schutzpolizei der Länder verstieß nach Ansicht des RG gegen Art. 129 I 4 WRV, der den Beamten für ihre wohlerworbenen Rechte den ordentlichen Rechtsweg offenhieltlS. Dem sei der Verwaltungsrechtsweg nicht 33 34

RGZ 111, 320, 322 f. RGZ 114, 27, 33; 118, 325; 124, 173 ff.; 126, 161 ff.; 128, 165 ff; 129, 189, 198;

137, 15; 139, 76; JW 1927, 1843 Nr. 1. 35 RGZ 124, 173 ff.

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vergleichbar. Das Gericht sprach daher die "Unwirksamkeit" des Gesetzes aus und wandte es im vorliegenden Fall nicht an. Kurz danach wurde das Rentensperrgesetz vom 6. 9. 192g36, das die Schiedstätigkeit für Abfindungsansprüche der ehemaligen Fürsten aussetzte, wegen Verstoßes gegen Art. 105 S. 2 WRV als Garantie des gesetzlichen Richters für verfassungswidrig erklärtR, da das Sperrgesetz gerade auf dem konkret anstehenden und einen weiteren Fall hin berechnet gewesen sei. In der Sache hielt das RG die Gesetze für "unwirksam", erklärte sie jedoch nicht abstrakt für nichtig, sondern wandte sie nur im konkreten Fall nicht an. Der Praxis des RG folgten die übrigen obersten Reichsgerichte, ohne dessen Argumentation zu vertiefen oder zu hinterfragen38• Sie begnügten sich mit einer inhaltlichen Wiederholung der Ausführungen des RG oder verwiesen auf die ständige Rechtsprechung. Sachlich schloß sich auch der Staatsgerichtshof dieser Tendenz an. Bereits kurz nach der Beanspruchung des richterlichen Prüfungsrechts durch das RG entschied er, er nehme eine andere Stellung und eine andere Zuständigkeit als die übrigen Gerichte des Reiches ein. Hätten diese nur ausnahmsweise über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zu entscheiden, so sei er selbst gerade dazu berufen. In diesem Rahmen falle die Normenkontrollkompetenz primär ihm zu. Das gelte insbesondere, wenn das Prüfungsrecht in einem Streitverfahren ausgeübt werde, welches dem Staatsgerichtshof durch die Verfassung ausdrücklich zugewiesen sei39• Damit legte er sich das Prüfungsrecht gleichsam als Annexkompetenz zu seinen sonstigen Zuständigkeiten zu. Die Frage, ob ein solches Recht den Gerichten überhaupt zustehe, wird nicht erörtert, vielmehr geht der Gerichtshof inzident davon aus. Seine Argumentation bezieht sich nur auf die Problematik, welches Gericht für die Ausübung einer solchen Kontrolle zuständig ist. Er nimmt somit nur zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Gerichten Stellung. Dementsprechend wendet sich die Begründung mehr an die obersten Reichsgerichte als an den Gesetzgeber. Eine verfassungsrechtliche Begründung fehlte über die Bezugnahme auf die angesprochenen Annexkompetenzen hinaus völlig. In der Sache erklärte der Staatsgerichtshof ein Gesetz für verfassungswidrig. Dieser Praxis der Reichsgerichte schlossen sich die Landesverwaltungsgerichte, denen in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vielfach ein letztinstanzliebes Entscheidungsrecht zustand, überwiegend an, wobei sie auch Reichsge36 RGBI S. 131. n RGZ 126, 161. 38 So etwa RFHE 21, 68; 27, 322; 29, 110; 31, 356; RVGE 7, 172, 181 f.; RAG, Arbeitsrechtspraxis 1929, S. 87 ff. 39 Lammers-Simons I, S. 272; RGZ 122, Anhang 1732.

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setze auf ihre Vereinbarkeit mit der WRV prüften. Eine nähere Begründung enthielten diese Entscheidungen nicht«!. Die Inanspruchnahme des Prüfungsrechts durch die Gerichte bedingte zugleich die Bestimmung der Grenzen ihrer Kontrollkompetenzen. Die Justiz prüfte nur die "Rechtmäßigkeit" der Gesetze, nicht hingegen ihre Zweckmäßigkeit, da diese zu den Erwägungen praktischer Politik zähle41 • Nicht jede einzelne Norm sei auf ihre Zweckmäßigkeit und Billigkeit zu untersuchen; darüber zu entscheiden, sei ausschließlich Sache des Gesetzgebers42• Er könne aufgrund der Erkenntnismöglichkeiten im Erlaßzeitpunkt zwischen den unterschiedlichen vorhandenen Alternativen wählen, sofern er sich von "sachlichen Erwägungen" leiten lasse. Wenn der erstrebte Zweck einer Norm wenigstens teilbar erreichbar erscheine, dürfe sich die Legislative über die zugrundeliegenden Tatsachen irren. Diese Tendenz erlangte besondere Bedeutung bei der Prüfung der Notverordnungen des Reichspräsidenten. Voraussetzung für ihren Erlaß war nach Art. 48 II WRV, daß die "öffentliche Sicherheit und Ordnung im Reich erheblich gestört oder gefährdet" war43 • Unter diesen Voraussetzungen durfte der Reichspräsident die "nötigen Maßnahmen" ergreifen. Bezüglich der Voraussetzungen dieses Artikels enthielten sich die Gerichte jeder Prüfung, selbst wenn deren Vorliegen "schwer einzusehen" warM. Ähnliches galt zunächst für die Beurteilung der Frage, ob die getroffenen Maßnahmen "nötig" waren45 • Spätere Urteile prüften die Zuständigkeit des Reichspräsidenten, die formelle Verfassungsmäßigkeitund die Vereinbarkeit der Notverordnungen mit einzelnen Grundrechten46 • Trotz gelegentlicher Bedenken wurde jedoch keine Notverordnung für verfassungswidrig erklärt.

b) Richterliches Prüfungsrecht und Demokratie Das richterliche Prüfungsrecht war somit seit 1925 von den Gerichten beansprucht und gesichert, in einigen Fällen wurde es auch ausgeübt. 40 PrOVGE 81, 368, 384; HbgOVG, JW 1927, 1288; HessOGH 7, 123; 8, 79; s. auch KG, PreußVBI 43; 130; BayObLG, DJZ 1926, 903. 41 RFHE 5, 335. 42 RGZ 128, 165. 43 RGSt 57, 384, 385; 65, 366; 66, 255, 260; 55, 117; 56, 161; 58, 271; 59, 41, 45; 59, 185, 187, 189; StGH, Lammers-Simons V, S. 152, 168; zu den Notverordnungen: C. Schmitt, RVBI 1932, 161 ff.; Enz, Richterliche Kontrolle von Maßnahmen nach Art. 48 II WRV; Revermann, Die stufenweise Durchbrechung des Verfassungssystems der Weimarer Republik. 44 RFHE 15, 163, 167; 29, 322. 45 Nach RGSt 56,117, stellte die WRV keine Schranke der Notstandsdiktatur dar. Diese Auffassung setzte sich jedoch nicht durch. 46 RGSt 56, 161; 419; 57, 384 ff.; StGH in Lammers-Simons V, S. 152, 168; RFHE 29, 322; 32, 139; RAGE 12, 63, 73.

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Dabei ist jedoch auffällig, daß die Abkehr von der Praxis des Konstitutionalismus, in der eine solche Prüfung nicht vorgenommen wurde, faktisch ohne verfassungsrechtliche Begründung geschah. Soweit die Gerichte für ihre Auffassung überhaupt Argumente anführten, waren diese noch dem Gedankengut des Konstitutionalismus verhaftet. Insbesondere fehlen neben den Ausführungen zur Prüfungskompetenz Erörterungen zum Verwerfungsrecht. Dieses wird durch eine Prüfungszuständigkeit noch nicht allein begründet. Die Problematik wird jedoch weder gesehen noch diskutiert. Berief man sich darauf, daß die Verfassung solche Kompetenzen nicht ausdrücklich ausgeschlossen habe, so fehlte andererseits eine Norm, welche sie begründet hätte. Angesichts des Umsturzes der alten Staatsform im Jahre 1918 hätte die Herleitung eines Prüfungsrechts eine verfassungsrechtliche Fundierung in dem Verhältnis von Demokratie und Gewaltenteilung nach der WRV finden müssen. Gerade zur Klärung dieser Frage trugen die Gerichte jedoch nicht bei. Daher war es ihnen auch unmöglich, zum Verhältnis der Kompetenzen der obersten Staatsorgane zueinander, insbesondere zwischen Reichstag und obersten Gerichten, Stellung zu nehmen. Eine so völlig fehlende Bezugnahme auf das geltende Verfassungsrecht legt die Vermutung nahe, bei der Inanspruchnahme des Prüfungsrechts hätten weniger rechtliche als vielmehr machtpolitische Erwägungen im Vordergrund gestanden. Dementsprechend wird der Justiz vielfach der Vorwurf gemacht, sie sei "antidemokratisch" gewesen47 • Sofern dieses auf die subjektiven Motive der Richter abstellt, sind jene Thesen kaum nachprüfbar; tatsächlich wirkte die Rechtsprechung jedoch einengend auf den demokratischen Prozeß. So setzte die Normenkontrolle erst mit der demokratischen Verfassung ein. Diese Tatsache wurde dahin ausgelegt, das richterliche Prüfungsrecht sei die Reaktion der Justiz auf die Einführung der Demokratie gewesen. Zum Beleg wird zusätzlich die Tatsache genannt, daß die Gerichte gegenüber parlamentarisch beschlossenen Gesetzen ein formelles und materielles Prüfungsrecht ausgeübt hätten, gegenüber den Notverordnungen, die eine geringere demokratische Legitimation aufwiesen, hingegen weitgehende politische Freiräume anerkannt hätten. Zudem wurden die Prüfungsmaßstäbe erweitert. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 109 WRV wurde auch gegen den Gesetzgeber gewendet48 , der Eigentumsgarantie des Art. 153 WRV wurde ein auch gegenüber der Legislative eingriffsfester Kern entnomrnen49 , die Rechte der Beamten aus Art. 129 WRV wurden in allen Einzelheiten gegen gesetzgeberische Maßnahmen geschütztso. 47

48 49

Fangmann, Justiz, S. 79 ff. mwN. StGH, Lammers-Simons I, S. 168, 169. Nachweise bei Rittstieg, Eigentum, S. 256 f.

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Gleichheitssatz, Eigentumsgarantie und Rechte der Beamten waren die zumeist herangezogenen Prüfungsmaßstäbe, wodurch noch der Verdacht genährt wurde, daß weniger die Verfassung als vielmehr überkommene Privilegien einzelner Bevölkerungsgruppen vor dem legislativen Zugriff geschützt werden sollten. Daß eine solche Einengung des demokratischen Prozesses als nicht unerwünschte Nebenfolge der Rechtsprechung angesehen wurde, zeigt die Erklärung des Richtervereins beim RG, die die politische "Macht" des Gesetzgebers dem von den Gerichten erkannten und angewandten "Recht" gegenüberstellt. Ebenso wie viele S'elbstzeugnisse der Richterschaft zeigt auch die Aufwertungsjudikatur des RG, daß sich die Justiz als Wahrer eines höheren Rechts, einer vorgefundenen Gerechtigkeit oder objektiven Richtigkeit gegenüber den "Zufallsmehrheiten" im demokratisch gewählten Parlament empfand51 • Auf der Ebene einfacher Gesetzesauslegung wurde dementsprechend bisweilen unter Berufung auf allgemeine Grundsätze contra legem entschieden. Diese Tendenz setzte sich in den Normenkontrollentscheidungen fort. Die Umdeutung und Erweiterung der Kontrollmaßstäbe in der WRV ließ Raum für das Einfließen subjektiver Gerechtigkeitserwägungen der Entscheidungen. In diesem Zusammenhang ist auffällig, daß die Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts durch das RG in dem Moment erfolgte, als der Gesetzgeber solchen Gesetzeskorrekturen entgegentreten wollte. Die Normenkontrolle konnte so die überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen gegen legislative Korrekturen sichern. Reichsregierung und Reichstag bemühten sich - nach anfänglicher Ablehnung der Rechtsprechung, insbesondere des RG- seit den Inflationsentscheidungen, das richterliche Prüfungsrecht beim Staatsgerichtshof zu zentralisieren und gesetzlich zu regeln52• Die Motive dafür waren unterschiedlich: die Gegner des Prüfungsrechts wollten so ein Normenkontrollrecht erst gesetzlich begründen und begrenzen; die Befürworter befürchteten, die Kontrollrechte aller Gerichte würden Rechtseinheit und Rechtssicherheit gefährden. Das formelle und materielle Prüfungsrecht sollte sich auf alle Reichsgesetze beziehen. Antragsberechtigt sollten die Reichsregierung, der Reichsrat, ein Drittel der Mitglieder des Reichstages im abstrakten Verfahren, die Reichsgerichte und die Oberlandesgerichte im konkreten Verfahren sein. Ein präventives Kontrollrecht ergänzte diese Befugnis. Im Parlament fanden die Entwürfe jedoch keine Mehrheit, sie scheiterten schließlich mit dem Ende der politischen Funktionsfähigkeit des Reichstages nach 1930, ohne weiter beso RGZ 99, 262; 102, 168; 104, 60; RVGE 4, 168, 183 f. Kübler, AcP 1963, 104 ff. 52 Verhandlungen des Reichstages, 3. Wahlperiode, Drs. 2855; 4. Wahlperiode, Drs. 382; Entwurf abgedruckt in DJZ 1926, 837 ff. st

2. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis

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handelt zu werden53• Die parlamentarischen Verhandlungen zeigen kontroverse Ansichten über das Prüfungsrecht. Keineswegs bestand Einigkeit in einer Ablehnung der Praxis der Justiz, eigene Gerechtigkeitserwägungen den Gesetzen überzuordnen. War somit zwischen Justiz und Parlament die Machtfrage faktisch entschieden, so blieben die grundsätzlichen Verfassungsfragen unbeantwortet.

53

Zur parlamentarischen Behandlung: Fangmann, Justiz, S. 129 ff.

V. Die Stellungnahmen der Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht Schon vor Beginn der Rechtsprechung des RG zum richterlichen Prüfungsrecht war dieses in der Literatur Gegenstand heftiger Kontroversen geworden. Die Auseinandersetzungen betrafen bis etwa 1925/26 die Grundsatzfrage nach der Anerkennung dieses Rechts durch die WRV, danach bis etwa 1929 überwiegend Detailfragen. Ebenso wie in der konstitutionellen Ära brachten die Stellungnahmen die Vielzahl und Verschiedenheit der staatstheoretischen wie staatsrechtlichen Anschauungen zum Ausdruck. Von besonderer Bedeutung war dabei die jeweilige Einstellung gegenüber der Demokratie und der Stellung des Parlaments in ihr. Bei denjenigen Autoren, welche sich grundsätzlich mit dem richterlichen Prüfungsrecht befaßten, herrschte die Ablehnung der apodiktischen Bejahung dieser Kompetenz durch das Reichsgericht vor; sie bemühten sich vielmehr, ihre Haltung historisch oder politisch zu begründen. Dabei standen die Erörterungen anfangs noch weitgehend im Schatten der Auseinandersetzungen unter der Geltung des Konstitutionalismus. Im Jahre 1922 faßte Schack, der sich schon im Kaiserreich maßgeblich an der Diskussion beteiligt hatte, seine Argumente für das gewandelte Verfassungsrecht zusammen und kam zur Verneinung eines Prüfungsrechts1• Bereits kurz danach geriet diese Auffassung jedoch in die Minderheit, da der überwiegende Teil der Verfassungsrechtier sich im Ergebnis der Auffassung des RG anschloß. Unstrittig war allgemein, daß die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht der gerichtlichen Nachprüfung unterlag (Art. 13 II WRV) und Verordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit den parlamentarisch beschlossenen Gesetzen geprüft werden konnten2• Um so strittiger war diese Frage für formelle Reichsgesetze bezüglich ihrer Übereinstimmung mit der Verfassung. Bei ihrer Beantwortung waren sich die· Autoren der politischen Implikationen ihrer Ansichten durchaus bewußt-3. Schack, AöR 1921, 163 ff. Anschütz, S. 371. 3 Überblick über die vertretenen juristischen Argumente bei Morstein Marx, Variationen über die richterliche Zuständigkeit; von Hippel, HBDStR li, S. 546 ff.; Maurer, DöV 1963, 683 ff.; Oswald, Das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen; s. auch Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentages, 193 ff. I

2

1. Die Iegalistische Richtung: Der Primat des Gesetzes

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1. Die Iegalistische Richtung: Der Primat des Gesetzes Die legalistische Anschauung wurde unter der WRV aus unterschiedlichen politischen und staatstheoretischen Quellen gespeist. Gemeinsam war den Vertretern dieser Auffassung die Annahme, daß das geltende Verfassungsrecht die höchste verbindliche Norm im Staat darstelle und das Gesetz die zentrale Äußerung des Staatswillens sei. Die besondere Betonung des Ranges der parlamentarisch-demokratischen Elemente der Staatswillensbildung weist darauf hin, daß sie der neuen Staatsform zumindest nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstanden. Diese Haltung mündet jedoch keineswegs übereinstimmend in eine positivistisch-liberale Staatsrechtslehre ein; nicht das Verfassungsverständnis, sondern die Bejahung und Betonung parlamentarisch-demokratischer Herrschaftsausübung macht das Gemeinsame dieser Haltung aus.

a) G. Anschütz Noch weitgehend in den durch Labands Staatsrecht vorgezeichneten Bahnen bewegten sich die Anschauungen von Gerhard Anschütz. Wiewohl er materielle Fragen keineswegs völlig aus seinem Staatsverständnis ausblendete\ war er doch methodisch ein Anhänger des staatsrechtlichen Positivismus. Er sah das Staatsrecht als formalen Ausdruck der Machtverhältnisse im Staats. Sein Kommentar zur WRV ist als Erläuterungswerk zum positiven Recht konzipiert; Stellungnahmen zu grundsätzlichen Fragen sind nur insoweit aufgenommen, als es für diese Zwecksetzung notwendig erscheint. War für Anschütz das Kaiserreich ein Staat gewesen, der in seiner Einheit und seinem Dasein auf den Willen der Fürsten beruhte und somit dem Volk ursprünglich fremd wax-li, so ruhte die demokratische Republik auf dem Willen des Volkes, das als Träger des Staates in ihm den Gemeinwillen zum Ausdruck brachte7 • Grundlage der neuen Ordnung des Reiches und seiner Verfassung war für ihn die Revolution von 1918, die er als gelungen bezeichnete8• Sie hat eine neue Ordnung errichtet und dabei auftretende Widerstände überwunden; die von ihr geschaffene Verfassung erfuhr von allen sozialen Gruppen Anerkennung, indem sich alle politischen Strömungen an den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung und deren Arbeit beteiligt haben. Dadurch wurde sie für jedermann im Staate verbindlich und zur Grund4 5 6

7 8

Anschütz, Drei Grundgedanken der WRV, 1923, S. 26 ff. Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. A., 1933, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 1. Ebd., S. 5.

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

lage aller Ausübung der Staatsgewalt9 • Entsprechend der Bedeutung des Volkswillens für den Staat betont Anschütz die demokratischen Element·e der WRV, hingegen mißt er ihren gewaltenteilenden Elementen keine große Bedeutung zu10• Dementsprechend ist für ihn der Reichstag nicht mehr - wie vor 1918 - "drittes und letztes der obersten Staatsorgane", sondern an die erste Stelle gerückt. Er ist der Repräsentant des Trägers der Staatsgewalt, auf seiner Seite ist die Vermutung der Zuständigkeit: er übt die Reichsgewalt aus, soweit sie nicht ausdrücklich anderen Staatsorganen übertragen ist11 • Dabei unterliegt er als Gesetzgeber keinen Einschränkungen durch höherrangiges Recht. Unter Berufung auf Art. 76 WRV stellt Anschütz fest, daß Verfassung und Gesetz Äußerungen ein und derselben Staatsgewalt seien, ein Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz bestehe daher nicht12• Dem Parlament gegenüber steht als stabiles Gegengewicht der gleichfalls demokratisch gewählte Reichspräsident13 • Er soll ein führender und leitender Staatsmann sein, der als treuer Hüter der Verfassung wachend, leitend, ratend, ausgleichend und mäßigend tätig werden soll, um so den Gedanken der neutralen und vermittelnden Gewalt zu verwirklichen14• Seine "Diktaturgewalt" in Notstandszeiten nach Art. 48 II WRV wird konsequent begrüßt und gerechtfertigt15• Dagegen ist die Rechtspflege auf Erhaltung der Rechtsordnung gerichtete Tätigkeit, sie soll bedrohtes Recht schützen und verletztes wiederherstellen16 • Entsprechend dieser Schutzfunktion für die Rechtsordnung kommt der Gesetzesbindung der Gerichte ein hoher Rang zu 17• Diese Anschauungen sind die Grundlage seiner Stellungnahme zum richterlichen Prüfungsrecht, die er im Anschluß an Laband entwickelt. Ist nach den Verfahrensnormen der WRV für die Unterscheidung zwischen formeller und materieller Gesetzeskraft kein Raum mehr, so knüpft er an die Ausfertigungskompetenz des Reichspräsidenten an18 • Das Wesen der Ausfertigung ist für ihn kein anderes als nach altem Recht, ihr kommt beurkundende Funktion zu. Sie beurkundet nach Art. 70 WRV, daß der ausgefertigte Text einem Gesetzesbeschluß der zuständigen Organe entspricht und daß dieser verfassungsmäßig zustande geEbd., S . 6. s. nur ebd., S. 179. II Ebd., S. 179 f. 12 Ebd., S. 401. 13 Ebd., S. 242. 14 Ebd., S. 244 f. 15 Ebd., S. 275 ff. 16 Ebd., S. 473. 17 Ebd., S. 475 f. 18 Ebd., S. 367 ff.

9

1o

1. Die legalistische Richtung: Der Primat des Gesetzes

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kommen ist. Eine derartige Erklärung setzt die Prüfung der beurkundeten Tatsachen voraus, daher steht dem Reichspräsidenten ein formelles und materielles Prüfungsrecht zu. Ein Unterschied zwischen beiden Elementen könne schon deshalb nicht bestehen, weil materielle Verfassungsverstöße stets zugleich formelle Fehler seien (Art. 76 WRV). Führt die Prüfung durch den Reichspräsidenten zu einem positiven Ergebnis, so muß er die Ausfertigung vornehmen, andernfalls muß er sie verweigern. Diese begründet eine unwiderlegbare Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, welche alle Rechtsunterworfenen, Staatsorgane und Bürger, bindet. Den Gerichten steht daher kein eigenes Prüfungsrecht zu. Zur Begründung dafür zieht er zusätzlich noch die Gefahren widersprechender Entscheidungen, insbesondere von Gerichten unterer Instanzen, heran19• Später schränkte er seine Auffassung als Zugeständnis an die entgegenstehende Rechtsprechung und Literatur ein: Danach sollte der Staatsgerichtshof im Rahmen von ihm übertragenen "verfassungsrechtlichen Streitigkeiten" auch über die Gültigkeit von Gesetzen entscheiden können20• Grundsätzlich gilt für ihn: die Gerichte dürfen nur prüfen, ob ein Gesetz ordnungsgemäß verkündet ist und ob es noch fortgilt. Daneben sollen sie auch prüfen, ob niederrangige Normen höherrangigen widersprechen21 • Das begründet jedoch kein Prüfungsrecht gegenüber formellen Gesetzen, da die Verfassung ihnen nicht vorgeht. Deutlich wendet er sich gegen entgegenstehende Thesen der Freirechtsschule. Anschütz folgt mit seiner Lehre somit den Anschauungen des staatsrechtlichen Positivismus in der Form, wie sie Laband vorgezeichnet hat. Der fehlende Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz schließt ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber formellen Gesetzen von vornherein aus. Zugleich teilt seine Ansicht die Mängel der AusfertigungsIehre Labands. Warum die Ausfertigung gerade die Wirkungen begründen soll, welche beide ihr beimessen, läßt sich aus dem positiven Verfassungsrecht nicht begründen. Die eigentliche Fragestellung wird so verdeckt und nicht beantwortet. Konsequent bleibt Anschütz mit seiner Auffassung, wenn er den Vorrang des Parlaments im demokratischen Staat betont. Eine abstrakte Gültigkeitsprüfung wäre damit schwerlich vereinbar, eine Einzelfallprüfung - etwa im Sinne Mohls - würde einen von ihm gerade verneinten Vorrang der Verfassung voraussetzen.

19 20 21

Ebd., S. 374. Ebd., S. 369 f. Ebd., S. 475 f.

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

b) R. Thoma Weiter als Anschütz hat sich Richard Thoma in seinen Werken von den methodischen Grundlagen des staatsrechtlichen Positivismus entfernfl. Zwar sieht auch er seine prinzipielle Aufgabe darin, eine Dogmatik des positiven Rechts zu liefern; diese soll jedoch ergänzt werden durch die historische Ableitung, soziologische Erklärung, politische Kritik und rechtsphilosophische Würdigung der Rechtsordnung. Als Instrument dazu stellt er das im Grunde irrationale, nicht aus logischer Denktätigkeit entspringende Werturteil der rein verstandesmäßigen Konstruktion und ausschließlich logischen Denktätigkeit des überkommenen Positivismus gegenüber-23. Grundlage seines Ansatzes ist die Anerkennung der WRV als für ihn unbestrittene, einzig gültige Grundlage des deutschen Reiches nach 191924• In ihr sieht er als charakteristischen Zug der Staatswillensbildung der Entscheidung für die Demokratie25, die er als Teil eines welthistorisch epochemachenden Wagnisses der abendländischen Zivilisation begreiff-6. Elemente seines Demokratiebegriffs sind die befristete und abrufbare Obrigkeit auf der Grundlage demokratischer Wahlen und die gleiche Beteiligung aller Schichten des Volkes an eben diesem Wahlund Stimmrecht27, wobei alle Herrschaft auf dieser Grundlage aufbauen muß. Zentrales Organ der Staatswillensbildung ist nach der WRV der demokratisch gewählte Reichstag. Als gestaltende Elemente der Weimarer Demokratie erscheinen der Parteienstaat und das Verhältniswahlrecht28. In bewußter Erkennung der Relativität seines Demokratiebegriffs sieht Thoma die deutsche Demokratie als eine solche ganz überwiegend liberaler Prägung29. Diese begründet zum Schutz gegen die Entartungsmöglichkeiten der parlamentarischen Demokratie und seines zentralen Organs, des Reichstages, eine Umhegung der Mehrheitsherrschaft mit einem System von Kautelen, Grenzen und Gegengewichten. Materielle Grenzen sind die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte und Grundpflichten, welche eine inhaltliche Determinierung und Legitimierung des Staates begründen, und das Prinzip des Rechtsstaates30• Formelle Grenzen sind die institutionellen Gegengewichte gegen den Anschütz I Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts I, 1930. Thoma, ebd., S. 4. 24 Ebd., S. 193 f. 25 Ebd., S. 186 ff. 26 Ebd., S. 189. 21 Ebd., S. 189 f. 28 Ebd., S. 195. 29 Ebd., S . 192. .30 Ebd., 8.197. 22 23

1.

Die Iegalistische Richtung: Der Primat des Gesetzes

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Reichstag; hierzu zählen das Recht auf unmittelbaren Volksentscheid, der Reichspräsident, der Föderalismus im Reich und der Minderheitenschutz im parlamentarischen Verfahren31 . Sie alle sind dazu bestimmt, die Geltung der Verfassung und die Funktionsfähigkeit der durch sie begründeten Demokratie zu verbürgen. Maßgeblich für das richterliche Prüfungsrecht ist das Verhältnis zwischen den Mechanismen zur Sicherung der Verfassung ~inerseits und der demokratischen Mehrheitsherrschaft andererseits. Die Ausfertigung als Ausschlußgrund für ein solches Prüfungsrecht lehnt er ab, da diese Argumentation lediglich eine Folge der Begriffsjurisprudenz darstelle32. Die Frage ist für ihn weder aus dem positiven Verfassungsrecht noch aus seiner Entstehungsgeschichte eindeutig zu beantworten, vielmehr steht der voluntaristisch-politische Einschlag des Problems im Vordergrund33. Dabei kommt der Geschichte des deutschen Verfassungsrechts ausschlaggebende Bedeutung zu. Die traditionelle Haltung der deutschen Justiz war das Absehen von einer Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts, ein rechtspolitisch wie vom Standpunkt der Justiz befriedigender Zustand in der deutschen und europäischen Tradition. Daher stellt sich die Frage, ob die radikale Neubildung des Verfassungsrechts im Jahre 1919 zu einer Fortführung oder zu einem Bruch dieser Tradition Anlaß bietet. Ihre Beantwortung hängt davon ab, ob die Gefahr eines Bruchs der Verfassung durch die Legislative nach Einführung der Demokratie zugenommen hat oder nicht. Im ersten Fall ist eine Neuorientierung bezüglich des richterlichen Prüfungsrechts zu erwägen, im letzteren dagegen wäre sie abzulehnen. Grundlage des Urteils über diese Gefahr ist die Untersuchung, ob die WRV hinreichend starke und zuverlässige Eigenschaften für ihre Garantie gegenüber dem Gesetzgeber enthält, ob also die dargestellten Mechanismen effizient genung sind, die Legislative mehr als nur theoretisch zu binden. Als solche wirksamen Garanten erscheinen ihm die Mitwirkung des Reichsrates und des Reichspräsidenten an der Gesetzgebung. Dem Reichspräsidenten gesteht er ein aus Art. 70 WRV hergeleitetes Prüfungsrecht in materieller und formeller Hinsicht zu. Dadurch wird verhindert, daß sich eine "rechtsverachtende Mehrheit" in einer Kammer bewußt gegen die Reichsverfassung stellen könnte; sie würde am Widerstand der anderen Beteiligten scheitern. Bleibe so nur die Gefahr solcher Verfassungsverstöße, die von keinem Beteiligten bemerkt würden, so könnten diese nur völlig belanglose Abweichungen von der Verfassung darstellen, ohne "unbeschrieen durch die Lappen zu schlüpfen". 31 Ebd., S . 196 f. 32 Thoma, AöR 1922, 267, 270. 33

Ebd., S. 272 ff.

V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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Daß diese Sicht - gerade unter den Rahmenbedingungen der WRV nicht von Realitätsblindheit gekennzeichnet ist, zeigen seine eigenen Ausführungen zur zeitgenössischen Demokratie, die er von den ökonomischen Krisen, den Hypotheken des Krieges und dem politischen Extremismus bedroht siehf-4. Dagegen sucht er bewußt keinen Schutz durch das richterliche Prüfungsrecht. Eine "geschlossene und zur Gewalttat entschlossene Clique", die bereits alle von ihm dargestellten Sicherungen der Verfassung außer Kraft gesetzt hätte, würde nicht zögern, sich auch die lästige Kritik durch die Gerichte vom Halse zu schaffen. Zur Verhinderung von Revolution sei das richterliche Prüfungsrecht ohnehin ungeeignetJS. Thoma stellt sich als erster Autor der grundsätzlichen Problematik des richterlichen Prüfungsrechts in der Demokratie. Unter der WRV ist nicht der Reichspräsident allein, sondern das gesamte System zur Sicherung der Verfassung zu berücksichtigen. Dessen Gewicht kann jedoch nicht verfassungsrechtlich, sondern nur politisch gewürdigt werden. Darin liegt zugleich die Schwäche seines Ansatzes. Während Thomas Glaube an die Demokratie auch in ihren Krisenzeiten unerschüttert bleibt, beantworten andere mit seinen Methoden die von ihm gestellten Fragen in umgekehrter Weise36• Deutlich wird bei ihm jedoch, daß die Verneinung des richterlichen Prüfungsrechts nicht notwendig an den staatsrechtlichen Positivismus gebunden ist und daß die Stabilität der Demokratie eine primär politische Fragestellung ist. Justitielle Maßnahmen zu ihrer Sicherung und Begrenzung sind danach weder unentbehrlich noch allein ausreichend.

c) H. Heller Die Staatslehre Hermann Hellers steht ihrem Ausgangspunkt wie ihrer Methode nach in völligem Gegensatz zu den Anschauungen von Anschütz. Heller zog stets Erkenntnisse der Politikwissenschaft heran, um so tatsächliche Grundlagen für seine verfassungsrechtlichen Aussagen zu gewinnen. Er bejahte in vollem Umfang die WRV als "offene politische Form" , welche das parlamentarische System als Medium zur Verwirklichung der pluralistischen Interessen und Willensrichtungen zur Verfügung stelltl7• Seine Staatslehre betonte den formalen Charakter und die inhaltliche Offenheit des Staatsbegriffsl8. Der Staat ist eine Organisation, notwen34 35

36

Thoma, HBDStR I, S. 187 f. Ebd., S. 276. Morstein Marx, Variationen über die richterliche Prüfungszuständigkeit,

s. 73 ff.

:rr Heller, Freiheit und Form in der Reichsverfassung, in: Gesammelte Schriften 2, S. 377.

1.

Die legalistische Richtung: Der Primat des Gesetzes

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dig konstituiert durch Regierende und Regierte; in ihm verwirklichen sich Mitglieder und Organe aufgrund einer Ordnung zu einem einheitlichen Effektl9 • Voraussetzung dieser Handlungs- und Wirkungsfähigkeit ist eine einheitliche Willensbildung zur Entscheidungsfindung. So ist der Staat eine organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit, der sich durch Souveränität und Gebietsbezogenheit von allen anderen konkurrierenden Einheiten unterscheidet. Zentraler Faktor der Entscheidung wie der Wirkung ist die Staatsgewalt. Je nach ihrer Trägerschaft unterscheidet er die Staatsformen40 • Gilt in der Demokratie das Prinzip der Volkssouveränität, so basiert die Autokratie auf dem Prinzip der Herrschersouveränität. Die Demokratie zeichnet sich gegenüber der Autokratie real dadurch aus, daß in ihr größere oder kleinere Kreise des Staatsvolkes über eine wirksame politische Macht verfügen. Im demokratischen Rechtsstaat, den Heller in der WRV verwirklicht sah, soll die vonlonte generale in den staatlichen Entscheidungen möglichst unverfälscht zum Ausdruck kommen41 • Das kann-zumal er die reale Unmöglichkeit einer Identität von Regierenden und Regierten voraussetzt - nur geschehen, wenn das Volk die obersten verbindlichen Normen im Staat zumindest mitbeschließt42 • Das konstitutionelle demokratische Gesetz zeichnet sich demnach dadurch aus, unter Beteiligung der Volkslegislative gesetzt zu sein. Nur dadurch unterscheidet es sich von der Anordnung eines absoluten Monarchen oder Diktators. Eindeutig ist die Frontstellung gegen den dualistischen Gesetzesbegriff des Positivismus: nicht der abstrakt-generelle Inhalt macht das Gesetz aus, sondern die Zustimmung des Volkes oder der von ihm dafür eingesetzten Organe. Dementsprechend begreift er den "modernen Rechtsstaat" als "Herrschaft des Gesetzes" 43 • Die Verwirklichung der volonte generale im Staat soll sich jedoch nicht auf die Gesetzgebung beschränken, sondern alle Zweige der Staatsgewalt möglichst umfassend einbeziehen. Daraus folgert er, daß das Gesetz die "oberste Rechtsnorm", die höchste und für alle verbindliche Äußerung des Staatswillens, sein muß. Das bedeutet für ihn: für alle "obersten Rechtssätze" besteht ein Gesetzesvorbehalt; zudem sind alle anderen Staatsorgane an die gesetzlich konkretisierten obersten Rechtssätze stets gebunden. Das gilt für die Verwaltung ebenso wie für die Gerichte.

38 39 40 41

42 43

Heller, Allgemeine Staatslehre, in: Gesammelte Schriften 3, S. 81 ff. Ebd., S. 339 ff. Ebd., S. 359 ff. Heller, VVDStRL 4, 98 ff. Ebd., S. 115 ff., 118. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, 1930, S. 5.

7 Gusy

V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

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Ein solches formal-organisatorisches Verständnis von Demokratie schließt inhaltliche Bindungen der Legislative weitgehend aus, sollen der politische Ausgleich der konkurrierenden Interessen und die im Gesetz zum Ausdruck kommende valente generale nicht verfälscht werden. Die Verfassung kann somit nur Aufträge an die Legislative enthalten, welche ihr zur politischen Verwirklichung aufgegeben sind, eine formalisierte Verpflichtung durch solche Normen als klagbare Rechtssätze ist dagegen ausgeschlossen44 • Diese Intention steht in diametralem Gegensatz zum richterlichen Prüfungsrecht, welches der Herrschaft des Gesetzes entgegensteht, da es die Justiz über die Legislative stellt. Darüber hinaus verfälscht es den parlamentarischen Ausgleich der konkurrierenden Interessen, da das in der Richterschaft organisierte Bürgertum sich ein Recht zum alleinigen Letztentscheid vorbehält. Auf dieser Grundlage kritisiert er die Verfassungsinterpretation des Reichsgerichts, wenn es für sich ein solches Prüfungsrecht beansprucht; dem sollte durch ein Gesetz oder notfalls eine Verfassungsänderung begegnet werden. Mit dieser Ansicht geht Heller noch über die Anschauung Thomas hinaus. Hatte dieser das richterliche Prüfungsrecht deshalb abgelehnt, weil die konkrete Organisation der Demokratie in der WRV es nicht erfordere, so sieht Heller einen Widerspruch zwischen der Demokratie und dem richterlichen Prüfungsrecht überhaupt. Er geht davon aus, daß Demokratie im gewaltenteilenden Staat idealiter nur zu verwirklichen ist, wenn Exekutive und Rechtsprechung der Legislative stets untergeordnet sind. Den Schutz der Demokratie gegen ihre Entartung wie gegen ihren Mißbrauch sieht er in der Zustimmung und dem Einsatz der Bürger für diese Staatsform45 •

d) Zusammenfassung Die legalistische Richtung sah in der Verfassung nicht etwas Abgeschlossenes oder Fertiges, sondern eine offene Norm, die dem politischen Prozeß zur Verwirklichung aufgegeben war. Dieser politische Prozeß war durch die WRV demokratisch organisiert; die Demokratie wurde von allen Vertretern der legalistischen Ansicht bejaht. Zentraler Mechanismus für die Bildung des Staatswillens in ihr war nach der WRV das Parlament als höchstes Staatsorgan, die in ihm vorgenommene Willensund Entscheidungsbildung stellte den maßgeblichen Selbstregulierungsmechanismus des im Staat verfaßten Gemeinwesens dar. Oberste ÄußeEbd., S. 9 f . Heller, Freiheit und Form, S. 373 ff.; Diese Ansicht vertraten neben ihm alle führenden sozialdemokratischen Staatsrechtler, etwa Fraenkel, Kirchheimer, Neumann, Sinzheimer; Nachweise bei Fangmann, Justiz, S. 118. 44

45

2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts

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rung des Staatswillens war dementsprechend das parlamentarisch beschlossene Gesetz. Das Parlament als führendes Staatsorgan hat die alte Gewaltenbalance zwischen König, Adel und Bürgertum, die in unterschiedlichen staatlichen Organen verfaßt und wirksam gewesen waren, abgelöst. Nicht mehr das Gleichgewicht zwischen mehreren Organen war entscheidend für die Funktionsfähigkeit des Verfassungssystems; an seine Stelle war vielmehr der Ausgleich aller konkurrierenden Interessen in einem Staatsorgan getreten. Die alten, ständisch verfaßten Mächte verloren ihre Privilegien, sie gingen in die neue Staatsform nur als politisch relevante Kräfte ein. Der Schutz dieser Staatsform setzte nicht mehr einen neutralen Ausgleich zwischen verschiedenen Gewalten voraus, sondern die Förderung und Erhaltung des demokratischen Prozesses. Hierzu sah die Iegalistische Richtung die organisatorischen Vorkehrungen der Reichsverfassung, etwa des Zwei-Kammer-Systems und der Mitwirkung des Reichspräsidenten an der Gesetzgebung, zusammen mit dem - notwendigen - Willen der Bürger für den Erhalt dieser Staatsform als ausreichend an. Verfassungsschutz gegen den Willen des Volkes sei in einem demokratischen Staat kaum durchführbar; dieser Grundgedanke lag gerade bei einer revolutionär entstandenen Verfassung nahe. 2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts Die legitimistische Anschauung basierte auf einer radikalen Ablehnung des staatsrechtlichen Positivismus. Dieser erschien ihr als Grundlage eines "Kadavergehorsams der Justiz" gegenüber dem Gesetz in der monarchischen Vergangenheit*. Grundlage und Ziel des neuen Staatsrechts sollte eine ethische und politische Fundierung der Verfassungsauslegung sein. Nicht mehr ausschließlich die handwerkliche methodengerechte Auslegung des positiven Rechts, sondern vielmehr seine kritische Analyse vor dem Hintergrund allgemeiner philosophischer Werte stand im Vordergrund dieser Bestrebungen, die eine Materialisierung der Verfassung ebenso anstrebten wie eine Politisierung der Justiz. Hatte der Positivismus das politische System des Kaiserreichs legitimiert, so stellt sich in Anbetracht der gewandelten Machtlage die Frage nach einer Verfassungstheorie für die neue Staatsordnung.

46

7•

Laun, AöR 1922, 154 f.; Smend, FS Scheuner, S. 575 ff.

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

a) H. Triepel Heinrich Triepel bezog seine theoretischen und methodischen Grundlagen aus einer eindeutigen Wendung gegen den Positivismus47 • Der logische Purismus, der die Jurisprudenz von der Berührung mit anderen Wissenschaften abschließt, führt danach zu einer Verdorrung der Staatsund Rechtslehre48 • Eine solche läßt sich dagegen nur unter Einbeziehung des Politischen betreiben, zu dem die Normen der Verfassung die "innigste Beziehung" aufweisen. Dementsprechend fordert er die Verbindung politischer Erwägungen mit der logisch-formalen Begriffsbildung, teleologische Gesichtspunkte sollten sich nicht mehr hinter der Maske des Logischen verbergen, sondern in voller Offenheit ihren Platz in der Rechtslehre suchen und behaupten49 • Dieses teleologisch-politische Denken findet seine zentrale Orientierung in der Rechtsidee, als welche er die "ewige Gerechtigkeit" ansieht50. Diese Rechtsidee liegt Staat und Gesetz voraus, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben über ihre Einhaltung zu wachen. Sie entscheiden "im Notfalle" konkrete Streitigkeiten so, wie sie als Gesetzgeber entscheiden müßten. Ein Staat, der solche Vorgaben anerkennt und verwirklicht, kann theoretisch nicht als pluralistisch-liberale Demokratie gedeutet werden; vielmehr soll er "organisch" verfaßt sein51 • Er soll die mit elementarer Kraft aus dem Schoß des Volkes herausdringenden Mächte in seinen Dienst zwingen und andererseits von diesen zusammengehalten werden. Dementsprechend steht er dem Parteienstaat ebenso wie dem fortschreitenden Zugriff der Parteien auf den Prozeß der Staatswillensbildung ablehnend gegenüber, da die Parteien aus Gründen des Eigennutzes ihrer Einbeziehung in den organischen Staat widerstreben, vielmehr ihre Aufgabe im Kampf gegeneinander sehen. Zentraler Mechanismus der Verwirklichung des organischen Staates ist für Triepel- im Anschluß an Smend52 - die Integration53• Integration ist die Selbsterhaltung und Selbsterneuerung des Staates, hervorgebracht durch das geistige Erlebnis der staatlichen Gemeinschaft in seiner Totalität. Dieser Prozeß ist das Wesentliche im Staat, sein Ziel Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927. Ebd., S. 19. 49 Ebd., S. 37. so Ebd., S. 39 f. st Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 2. A., 1930, pass., insbes. S. 36 f. 52 Smend selbst hat sich zum richterlichen Prüfungsrecht nicht geäußert, sondern die Frage für seine Staatstheorie, die lntegrationslehre, ausdrücklich offen gelassen; s. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 152. 53 Triepel, VVDStRL 5, 2, 6. 47

48

2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts

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und sein Verlauf liegen jedoch nicht a priori fest, sondern stehen vielmehr im Fluß der geschichtlichen Entwicklung. Die rechtliche Ordnung des Integrationsprozesses ist die Verfassung als geschlossenes System von Rechtssätzen. Inwieweit sie den Integrationsprozeß inhaltlich determiniert, bleibt jedoch offen. Weder muß sie nach Triepel zwingend bestimmte Vorgaben enthalten- so daß ihr die Kriterien und Maßstäbe der Integration nicht zwingend durch Auslegung entnommen werden können - noch ist eine derartige inhaltliche Determinierung mit dem Moment der Verfassunggebung zwingend abgeschlossen. Mechanismus zur Verwirklichung der Integration ist das Politische, d. h. alles, was sich auf den Staatszweck bezieht und diesen gegenüber individuellen Zwecken abgrenzt54. Die Verfassung ist das Recht für das Politische, sie ist der Inbegriff aller Normen, die sich auf das Politische beziehen. Damit treten beide jedoch nicht in einen Gegensatz: rechtsstaatliches Denken ist nicht apolitisches Denken, entsprechend ist die Verfassung Teil des politischen Systems. So geraten für Triepel Integrationsziel und -vorgang in eine Sogwirkung gegenüber politischen Interessen- und Machtlagen. Welchem Staatsorgan bei der Herstellung der Integration der Vorrang zukommt, läßt sich nur negativ bestimmen. Das Parlament ist zunehmend dem Zugriff der Parteien ausgesetzt, die parlamentarische Diskussion zur leeren Form geworden. Sind die Abgeordneten nicht mehr Vertreter des ganzen Volkes, sondern einer Partei, so bestimmt Auseinandersetzung statt Integration die parlamentarische ArbeitsS. Zeichnet sich umgekehrt die Verfassung durch ihren hochpolitischen Charakter vor allen anderen Rechtsnormen aus, so widerstreben verfassungsrechtliche Fragen wegen ihrer politischen Natur einer gerichtsförmigen Entscheidung56. Das Politische aus dem Begriff der V,erfassungsstreitigkeit herauszunehmen heißt, die Schale ihres Kerns berauben. Demnach steht das Wesen der Verfassung "bis zu einem gewissen Grade" mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Widerspruch. Ist damit auch die Rechtsprechung zur politischen Entscheidung und daher zur Herstellung von Integration nicht geeignet, so kann als führendes Organ bei der Verwirklichung des organischen Staates nur die Exekutive in Betracht kommen. Triepels Stellungnahme zum richterlichen Prüfungsrecht gründet in seiner Zuordnung des Politischen zum Staat57. Die traditionelle liberalrechtsstaatliche Auffassung sah in den Grund- und Freiheitsrechten Ebd., S. 7; Staatsrecht und Politik, S. 20. ss Die Staatsverfassung, S. 18. 56 VVDStRL 5, 8. !>I Ebd., S. 21 f. 54

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

nicht einen Teil des Staatlichen, sondern eine Beschränkung der Wirksamkeit des Staates. Dementsprechend waren Streitigkeiten über Grundrechtsverletzungen nicht Verfassungsstreitigkeiten, sondern als Verwaltungsstreitverfahren ausgestaltet. Dieser überkommenen Tradition ist die WRV gefolgt. Das zeigt für Triepel Art. 19 WRV, welcher dem Staatsgerichtshof die Zuständigkeit zur Entscheidung in Verfassungsfragen zuerkannt habe, das Recht zur Nachprüfung von Grundrechtsv,erletzungen jedoch gerade vorenthalte. Dementsprechend zählen für ihn die Grundrechte nicht zum Bereich des primär Politischen, ihre Eigenart steht einer gerichtlichen Entscheidung nicht entgegen. Zum Schutz eben dieser Freiheitsrechte gegen "machthungrige Parlamente" bejaht Triepel das Normenkontrollrecht der Justiz58• Ebenso wie zum Schutz gegen den monarchischen Absolutismus sei es zur Abwehr eines parlamentarischen Absolutismus geschaffen. Andernfalls würde das System des Gleichgewichts der Gewalten, welches den wichtigsten Schutz der bürgerlichen Freiheit darstelle, vernichtet. Neben dem richterlichen Prüfungs11echt bejaht er in vollem Umfang das Nachprüfungsrecht des Reichspräsidenten aus Art. 70 WRV59, räumt jedoch - entgegen Laband und Anschütz - der Ausfertigung nicht den Charakter einer unwiderleglichen Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit der Norm ein. Vielmehr hätten die Gerichte selbst das Recht und die Pflicht, die Gültigkeit dessen nachzuprüfen, was im Schein des Rechts auftritt. Triepel geht unausgesprochen von einem Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen aus; worin der eingriffsfeste Kern der mit umfassenden Gesetzesvorbehalten ausgestatteten Freiheitsrechte gegenüber dem Gesetzgeber Hegt, läßt er offen. Trotz seines Rückgriffs auf die 'e rst unter der Geltung der WRV entstandenen Integrationslehre wirkt seine Begründung des richterlichen Prüfungsrechts sehr traditionell. Das Parlament erscheint in seiner Konzeption nicht als höchstes Staatsorgan, sondern geradezu antistaatlich, wie es auch unter dem Konstitutionalismus als Grenze der Staatsgewalt erschien. Die Volkssouveränität als tragendes Konstitutionsprinzip des demokratischen Staates nimmt in seinem System keine selbständige Bedeutung ein. Zentrales Element der Freiheitssicherung ist für ihn das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Staatsgewalten, wie es der Konstitutionalismus als Ausgleichsmechanismus zwischen sozialen Mächten und Interessen, welche in verschiedenen Gewalten organisiert waren, verstand. Daß diese "rechtsstaatliche Tradition" von der WRV trotz des grundlegenden Wandels der Staatsform übernommen worden ist, wird von Triepel nur 58 Triepel, AöR 1920, 537; s. auch Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, S. 45, 59 f. 59 AöR 1920, 535 ff.

2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts

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postuliert, nicht hingegen begründet. Eine Zuordnung von Demokratie und Gewaltenteilung unter den Bedingungen der WRV fehlte. So wird das Problem der Normenkontrollbefugnisse der Justiz unter den Aspekten des Konstitutionalismus abgehandelt, wobei dessen primäres Anliegen, der Kampf gegen den monarchischen Absolutismus, durch die Frontstellung gegen einen angenommenen Absolutismus des Parlaments

einfach abgelöst wird.

b) E. Kaufmann

Ähnlich wie Triepel wandte sich auch Erich Kaufmann in seinem Werk gegen den staatsrechtlichen PositivismusliO. Eine Neuorientierung sucht er in der Hinwendung zur Philosophie. Während der Ausbau der technischen Naturwissenschaften, die historische und philologische Forschung und der Aufbau von Staat und Wirtschaft im Zentrum der geistigen Bemühungen seiner Zeit stehen, so scheint ihm die Beschäftigung mit der Metaphysik in einer tiefen Krise. Dabei hatte die metaphysische Philosophie erst das Reich des Geistes erobert und die Wege zur Wirklichkeit des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens aufgezeigfi1• Das Abebben dieser spekulativ·e n Welle hat dazu geführt, daß die zeitgenössischen rechtsphilosophischen Systeme keine positive Stellung zu den inhaltlichen Problemen des sozialen und politischen Lebens suchten62. Folgert er daraus eine tiefe Krise des gesamten geistigen Lebens61 , so verbindet er mit seiner Kritik an den geistigen Zuständen seiner Zeit zugleich eine Kritik an dieser Zeit selbsfil. Der Positivismus entsteht danach auf dem Boden stabiler oder für stabil gehaltener Verhältnisse und der damit gegebenen Stimmung der Saturiertheit-64. Dieser Zustand endete mit Krieg, Revolution, Zusammenbruch und Friedensvertrag, die zu einer großen Selbstbesinnung geführt haben; in der "geschichtlichen Probe, dile der deutsche Geist wie der deutsche Staat im Weltkrieg zu bestehen hatten", zerbrach das überkommene Denken65 • War dem politischen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt ihr geistiges Versagen vorausgegangen, so sind für ihn die Grundlagen der geistigen Neuorientierung der Respekt vor den konkreten geistigen Werten, die die Wirklichkeit erfüllen und- dem korrespondierend - eine entschiedene Absage an den Relativismus und die an sich selbst verzweifelnde "Spengler-Stimmung". Aufgabe der RechtsliO Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921; zum folgenden: Smend, in: FS Kaufmann, S. 391 ff. 61 Kaufmann, Kritik, S.l f. 62 63

64

65

Ebd., S. 3. Ebd., S. 5.

Kaufmann, VVDStRL 3, 2, 3. Kaufmann, Kritik.

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

wissenschaften ist es, die so gefundenen schaubaren, erlebbaren und vital·en Werte in Formen umzusetzen, welche ihrerseits lebendig stets neu geschaffen und wieder zerstört werden66 • Die Verwirklichung solch-er Werte setzt für den Juristen den Glauben an Rechtsprinzipien über dem Gesetzesrecht voraus, an welche auch der Gesetzgeber gebunden isf7. Ihre höhere Qualität beziehen diese Prinzipien aus der Überzeugung, daß das, was hinter dem Geschehen und dem geltenden Recht steht, nicht minder real ist als die geltende positive Ordnung, sondern vielmehr das wahrhaft Reale darstellt, in dem wir mit dem Besten in uns wurzeln, wenn wir geistig und moralisch aufrecht stehen wollen. Ausdruck dieses wahrhaft Realen ist der Gedanke des Naturrechts als das Wissen von einer höheren Ordnung. In dieser überpositiven Ordnung soll die positive Ordnung wurzeln, sie darf jene nicht verletzen. Soziologischer Träger des "rationalistischen Naturrechts" ist das Bürgertum68• In die Bildung und Ausformung der naturrechtliehen Grundsätze fließen religiös-metaphysische und historisch-politische Elemente ein. Diese geistige Realität findet der Verfassunggeber vor und rezipiert sie, indem er sie positiviert. Dadurch verlieren die allgemeinen Prinzipien jedoch nicht ihren überpositiven Charakter, sie gelten auch über den bloßen Wortlaut der Verfassung hinaus. Der Gesetzgeber darf die an ihn adressierten "obersten Rechtsprinzipien"- unabhängig vom Wortlaut der Verfassung- dementsprechend nicht verletzen, nur so schafft das "Gesetz" wirklich "Recht"69• Eine solche Kongruenz von Recht und Gesetz kann nur bestehen, wenn sichergestellt ist, daß das Recht durch die jeweiligen Staatsorgane in richtiger Weise erkannt und verwirklicht wird. Erkenntnisquelle und Maßstab hierfür sind die für das jeweilige Rechtsinstiut maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien, das Wesen der Institute, die Legitimitätsvorstellungen der Zeit und der konkreten Gemeinschaft70• Grundlage dieses Modells ist die institutionelle Lehre Haurious, nach der alle Lebensbereiche eine ihnen eigentümliche, eingeschaffene Eigengesetzlichkeit aufweisen, aus der sich unabhängig vom geschriebenen Gesetz eine Fülle von Rechtssätzen ergibt, welche der Richter zu finden und anzuwenden hat. Instanz zur Erkenntnis des Wesens der objektiven Institute ist das Gewissen71. Dieses ist nichts Subjektives, sondern die unmittelbare Gewißheit einer höheren objektiven Ordnung, an der die Menschen teilhaben. Eine solche Ordnung ist nicht von Menschen geschaffen, sie bezieht ihre ver66 67

Ebd., S. 99 ff.

VVDStRL 3, 3.

Ebd., S. 4 f. 69 Ebd., S. 6. 70 Ebd., S. 20. 71 Ebd., S. 11 ff. 68

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bindliehe Kraft daraus, daß sich die Menschen verpflichtet fühlen, sie in ihren Willen aufzunehmen und zu ihrer Ordnung zu machen. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß die für alle verbindliche Ordnung im Staat der subjektiven Entscheidung des Richters untergeordnet ist und so ihre allg.emeinverbindliche Kraft verliert. Vielmehr wird die Einheitlichkeit und Allgemeinheit durch besondere Anforderungen an das erkennende Subjekt gesichert. Seine Gesamtpersönlichkeit wird erst durch "sittliche Erziehung" zu jenem "reinen Gefäß", das an den objektiven Werten teil hat. Auf dieser Grundlage bestimmt Kaufmann das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung72 • Beide stehen einander nicht so scharf gegenüber, wie die Lehre von der Gewaltenteilung annimmt. Basiert jeder Prozeß der Schaffung verbindlicher Entscheidungen durch Staatsorgane auf der Erkenntnis des ürerpositiven Rechts, so schafft der Staat nicht Recht, sondern Gesetze. Staat und Gesetze stehen unter dem Recht. Das Verhältnis zwischen Legislative und Judikatur bestimmt sich konsequent danach, in welchem Umfang diese Staatsorgane zur Erkenntnis und Verwirklichung des höheren Rechts in der Lage sind. Recht und Gerechtigkeit sind eine materielle Ordnung, die es zu verwirklichen gilt, nicht hingegen ein Verfahrensprinzip, eine Methode für Diskussionen73 • Ihre Verwirklichung erfordert nicht die Einhaltung bestimmter Regeln, sondern die Schaffung einer materiellen Ordnung, die inhaltlich gerecht ist. Begründet somit das parlamentarische Verfahren der Legislative keinen Vorrang bei der Verwirklichung des Rechts, so stehen vor dieS€r Aufgabe beide Staatsorgane auf derselben Stufe74, die Positivierung des Rechts kann von beiden gleichermaßen wahrgenommen werden. Rechtsprechung ist nicht ausschließlich Gesetzesanwendung, sondern Rechtsanwendung. Sofern der Gesetzgeber von den vorgefundenen Rechtsprinzipien abweicht, ist daher die Justiz befugt, über deren Einhaltung zu wachen. Dazu steht ihr das richterliche Prüfungsrecht zu. Dieses findet seine Grenze in der vorgegeb€nen Ordnung, die zwischen Gesetzgebung und Richter obwaltet; die Gerichte dürfen nicht spezifisch gesetzgeberische Aufgaben an sich reißen75• Kaufmanns Abkehr vom Positivismus geht bei seiner Begründung des Normenkontrollrechts der Justiz so weit, daß er keine Vorschrift der WRV in seine Erörterung einbezieht. Vielmehr ist für ihn auch diese Kompetenz der Gerichte nicht gesetzlich, sondern überpositiv begründet. Die Entgegensetzung von Recht und Gesetz ermöglicht so, metaphysischen Legitimitätsvorstellungen gegenüber der geltenden Verfassung 72 73

74 75

Ebd., S. 19 f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 21. Einzelheiten ebd., S. 19.

106

V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

den Vorrang einzuräumen. Besonders deutlich tritt der Widerspruch zwischen dieser Idee und der Demokratie hervor. Demokratie erfordert gerade nicht die "Idee des homogenen Bürgertums"76 oder eine durch "sittliche Erziehung" begründete ideologische Harmonie, sondern setzt gerade die Verschiedenheit der Ansichten und Interessen voraus, um sie durch politische Vermittlung im Parlament auszutragen und abzustimmen. Funktionsfähig ist eine solche Staatsform nur, wenn sich an einem demokratischen Prozeß alle relevanten Interessen und Gruppierungen potentiell beteiligen können. Dieser Bedingung steht die Forderung nach einer hypothetischen, im komplexen Gemeinwesen niemals real vorhandenen metaphysisch-ideologischen Einheit im Staat diametral entgegen. Das Auseinandertreten von staatlich erkanntem und durchgesetztem "Recht" und dem parlamentarischen "Gesetz" setzt eine Trennung von Staat und Demokratie voraus: der Staat erscheint als Vermittler und Wahrer objektiver Richtigkeit unabhängig vom demokratischen Prozeß, die Demokratie als davon separiertes und untergeordnetes Handlungssystem. Als Wahrer des vorgefundenen richtigen Rechts kann im Staat nicht die Volksvertretung auftl"eten, hierzu sind vielmehr primär Exekutive und Justiz befähigt. Sie ziehen der Legislative im Namen der höheren Ordnung nicht nur funktionell-organisatorische, sondern auch inhaltliche Schranken. Eine solche Staatsvorstellung kommt der konstitutionellen Gewaltenbalance sehr nahe, die Hinwendung zur Volkssouveränität und zum Vorrang des Gesetzes durch die WRV bleibt dabei unberücksichtigt.

c) C. Schmitt Im Gegensatz zu Triepel und Kaufmann, deren maßgebliche Arbeiten zur Begründung des richterlichen Prüfungsrechts bereits in der Frühzeit oder der Konsolidierungsphase der Weimarer Republik entstanden waren, erschienen die Stellungnahmen Carl Schmitts erst in der Krisenund Endphase der demokratischen Staatsform. Schon diese äußeren Umstände prägen den Inhalt seiner Aussagen77• Ausgangspunkt der Untersuchungen ist der Übergang von der konstitutionellen zur demokratischen Staatsform78 • Zentrales Merkmal des Konstitutionalismus war die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Die Gesellschaft war die Sphäre der verschiedensten konfessionellen, kulturellen und wirtschaftlichen Gegensätze, ihr oberstes politisches Forum war die Volksvertretung, das Parlament, in welchem die Ebd., S. 22. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 2. A., S. 63 ff.; Der Hüter der Verfassung, 1931; zu Schmitts Wendung gegen den Status quo: Hofmann, Legitimität, S. 94 ff. 78 Schmitt, Hüter, S. 73. 76

77

2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts

107

politischen Divergenzen ausgetragen und vermittelt werden konnten. Dieser disparaten Gesellschaft trat der Staat gegenüber; er war stark genug, sich den übrigen sozialen Kräften entgegenzustellen, so daß alle gesellschaftlichen Spannungen durch ihn - nötigenfalls durch den gemeinsamen Gegensatz gegen ihn - relativiert wurden. Damit tritt der prägende Dualismus im Gemeinwesen des 19. Jh. deutlich hervor. Die Gesellschaft war der Hort des Gegensatzes, der Staat mit seinem monarchischen Justiz- und Exekutivapparat dagegen eine homogene Einheit, welche die sozialen Strömungen notfalls mit Zwang zusammenfassen und zu einer einheitlichen Organisations- und Willensbildung integrieren konnte. Die Herstellung staatlicher Einheit wurde so von außen an die Gesellschaft herangetragen. Zentrale Vermittlungsinstanz dieser Integrationsleistung war das Parlament, in ihm sollte sich die Gesellschaft in den Staat oder der Staat in die Gesellschaft integrieren. Dieses Modell wandelte sich mit dem Übergang zur Demokratie79• Hier wird der Staat zur Selbstorganisation der Gesellschaft, jedes gesellschaftliche Phänomen wird damit zugleich ein staatliches. Umgekehrt ist keine gesellschaftliche Sphäre mehr staatlicher Einwirkung entzogen. Der Staat wandelt sich - aus der Perspektive der Gesellschaft - vom "neutralen" zum "totalen" Staat. Dieser Wandel gefährdet zugleich die Integrationsleistung des Staates. Werden die wirtschaftlichen und sozialen Fragen Anliegen des Staates, so werden zugleich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in ihn hineingetragen. "Pluralismus, Polykratie und Föderalismus" lösen den einheitlichen konstitutionellen Herrschaftsapparat ab. Gestaltendes Element der staatlichen Willensbildung werden die Parteien. Sie sind jedoch von ihrer Organisation und Struktur her kaum geeignet, Integrationsleistungen zu erbringen. Ihre Zusammensetzung und Zahl, ihr fester Verwaltungsapparat und ihre festgebundene Klientel verhindern, daß sie im Staat über egoistische Ziele hinaus zugleich "höhere Gemeinschaftsgesichtspunkte" berücksichtigen, um so einen "einheitlichen Staatswillen" zu bilden110• Der parlamentarische Parteienstaat wird so zu einer Summe von egoistischen Machtkämpfen, zu einem labilen Koalitions-Parteien-Staat, ein fortwährender Prozeß des Übergangs und Aufstiegs von Interessen und Meinungen führt auf dem Weg über den Parteiwillen zum Staatswillen. Die Beteiligung an der Staatswillensbildung wird zu einem Objekt von Kamprarniß und Erpressung, nur noch solche Regierungen kommen zustande, die infolge ihrer fraktionellen Kompromißbildung zu schwach und zu gehemmt sind, um selbst zu regieren. Ein solches Parlament scheitert notwendig an der z·entralen Staatsaufgabe, der Einheitsbildung. Der Grund dafür liegt schon darin, daß 79 80

Ebd., S. 78 ff. Ebd., S. 87 ff.

108

V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

das Gesetz im Konstitutionalismus nach seinem Begriff und seinem Zustandekommen alle denkbare Gewähr seiner Vernünftigkeit und Gerechtigkeit in sich trug81• Dagegen verliert der Staat der wechselnden Parlamentsmehrheiten "alle statische Festigkeit": es scheint daher erforderlich, Minderheiten gegen die wechselnden Parlamentsmehrheiten zu schützen, um gewisse Interessen und Werte vor ihnen sicherzustellen. Materiell geschieht dies durch die Aufnahme solcher Werte in die Verfassung, welche die höchste Norm im Staat darstellt und den einfachen Gesetzen vorgeht&. Institutionell kann ein Schutz dieser zentralen Grundsätze und damit der Basis staatlicher Integrationsleistung nur durch parteipolitisch neutrale Instanzen erfolgen. Als solche fungieren im Staat die Organe der Exekutive. Primär ist hier der Reichspräsident gefordert. Er ist einerseits demokratisch legitimiert, andererseits nach der Verfassung allein in der Lage, der Zerrissenheit des Parlaments entgegenzuwirken83• Durch die Herbeiführung eines Volksentscheides vermag er an den Souverän zu appellieren; er kann einen funktionsunfähigen Reichstag auflösen und im Notfalle den Schutz der Verfassung nach Art. 48 übernehmen. Ein weiteres verfassungsschützendes Moment in der Exekutive ist der Beamtenapparat, der- politisch von der Verfassung für neutral erklärt- diejenigen organisatorischen und persönlichen Voraussetzungen mitbringt, welche ihn zur neutralen Instanz im Staat befähigen84• So wanderte die Wahrnehmung der lntegrationsfunktion, der ursprünglichsten und elementarsten Staatsaufgabe, innerhalb des Gewaltengefüges vom Parlament auf die Exekutive ab. Sie administriert den Grundbestand des Staates, das allgemeine und gemeinsame Gemeinwohl, gegenüber den im Parlament vertretenen Sonderinteressen. Erst dadurch wird und bleibt der Staat nicht nur als Staat allgemein, sondern gerade auch als Demokratie funktionsfähig. Demgegenüber kommt der Justiz eine partiell andere Funktion zu. Ihre Unabhängigkeit korrespondiert ihrer Gesetzesbindung: alle Justiz ist an Normen gebunden und hört auf, wenn die Norm selbst in ihrem Inhalt zweifelhaft und umstritten ist&S. In jedem Fall müssen bestimmte, meßbare Subsumtionen Grundlage der richterlichen Prüfung und Entscheidungen bleiben. Eine solche Entscheidungsgrundlage kann hergestellt werden durch ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers oder der Regierung, durch die Rechtspraxis oder die Anschauungen der Rechtsgenossen. Begünstigend dafür wirken stabile Verhältnisse und feste soziale Anschauungen. Diese Voraussetzungen erschweren die 8t 82 83

84 85

Ebd., S. 67. Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 101 f. Ebd., S. 18 f.

2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts

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Rechtsprechung in Verfassungsfragen86• Da ein offensichtlicher Verfassungsverstoß kaum auftreten wird, werden real nur solche Fälle zur Entscheidung anstehen, in denen der Verfassungsverstoß zweifelhaft ist. Hier trifft der Richter jedoch auf Verfassungsnormen, die ihrem Inhalt nach höchst mehrdeutig sind: Programme, Richtlinien, dilatorische Formelkompromisse bedingen Unklarheiten und Widersprüche innerhalb der verfassungsgesetzlichen Bestimmungen selbst, die ihrerseits ein unverbundenes Nebeneinander widersprechender Verfassungsprinzipien bilden. Damit entfällt insoweit die notwendige Grundlage richterlicher Subsumtion. Die richterliche Beurteilung einer Unklarheit über den Inhalt des Verfassungsgesetzes ist notwendig Bestimmung des Gesetzesinhalts und damit der Sache nach Gesetzgebung, hier sogar Verfassungsgesetzgebung, und nicht Justiz87• Damit schränkt sich der Raum der Justiz in Verfassungsfragen auf ein Nichts ein. Die Gerichte sind demnach wegen ihrer Gesetzesbindung auf Rechtsentscheidungen beschränkt, eine Überschreitung dieses Bereiches wäre "zwecklos" und "sachwidrig". Letztlich resultiert die Kompetenzabgrenzung zwischen ihnen und den übrigen Staatsorganen damit aus der Unterscheidung von Recht und Politik. Sind die Richter auf die Wahrung des Rechts beschränkt, so kann die politische Integrationsleistung nur von anderen Staatsorganen wahrgenommen werden, insbesondere von der Exekutive. Die Entscheidung über das richterliche Prüfungsrecht hängt demnach davon ab, ob es gelingt, ausreichend klare und stabile Normen als Entscheidungsgrundlage zu gewinnen. Entsprechend den hierfür aufgestellten Kriterien (gesetzliche Entscheidung, Rechtspraxis, Ansicht der Rechtsgenossen) ist hierfür das geltende Verfassungsrecht zu hinterfragen88. Danach ergibt sich eine Basis für die richterliche Normenkontrollbefugnis aus der Eigenart einer bürgerlich-rechtsstaatliehen Verfassung mit ihrer materiellen Unterscheidung von Gesetzgebung und Justiz. Nach der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gibt es ohne diese Gewaltenteilung überhaupt keine Verfassung. Die WRV will eine bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassung in diesem Sinne sein. Infolgedessen hat die Justiz ihre eigene verfassungsmäßige Sphäre unabhängig davon, ob jene Aussage im positiven Verfassungsrecht ihren Niederschlag gefunden hat oder nicht. Die Wahrung ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen mit ihren spezifischen Mitteln führt zu den Befugnissen jeder verfassungsmäßigen Gewalt. Daher dürfen die Gerichte sowohl verfassungswidrige Eingriffe des Gesetzgebers in ihre Unabhängigkeit abwehren als auch die verfassungsrechtlich geschützten Interessen gegen den 86 87

Ebd., S. 44 ff. Ebd., S. 50.

88 Schmitt, Das Reichsgericht, S. 86 ff.

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Zugriff des Gesetzgebers verteidigen, indem sie einen Fall unter die verfassungsgesetzlichen Normen subsumieren. Der Richter schützt hier nicht die Verfassung, sondern die Interessen des Klägers. Die Normenkontrollbefugnis ist somit als konkrete Anwendungsprüfung, nicht als abstraktes Kontrollrecht ausgestaltet. Das richterliche Prüfungsrecht bleibt akzessorisch, seine Wirkungen sind auf den Einzelfall beschränkt. Dabei soll sich der Richter Zurückhaltung auferlegen, sein Prüfungsrecht bewegt sich in engen Grenzen. Nur bei einem offensichtlichen Widerspruch zwischen Verfassung und Gesetz soll einer Norm die Gefolgschaft versagt werden, nicht hingegen bei "Zweifeln" hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes89• Politische Entscheidungen bleiben den anderen Staatsorganen vorbehalten. Im Gefüge der Gewaltenteilung beruht das richterliche Prüfungsrecht "auf dem Gegenteil einer irgendwie gearteten Überlegenheit des Richters über das Gesetz oder den Gesetzgeber", vielmehr befinden sich die Gerichte "in einer Art Notstand" 90• Auf keinen Fall wirkt die Justiz in den Bereich der Gesetzgebung hinein, dazu ist sie "überhaupt nicht in der Lage" 91 • Schmitts Begründung des richterlichen Prüfungsrechts nimmt auf die Normen der geltenden Verfassung keinerlei Bezug, vielmehr wird es aus allgemeinen verfassungstheoretischen Überlegungen legitimiert, indem die WRV in die Kontinuität "bürgerlich-rechtsstaatlicher" Konstitutionen gestellt wird. Im Gegensatz zu Triepel und Kaufmann nimmt Schmitt auch eine Zuordnung von Gewaltenteilung und Demokratie vor. Gewaltenteilung als Separierung der Exekutive und der Justiz vom Gesetzgeber ermöglicht überhaupt erst einen integrationsfähigen Staat, zu dessen Herstellung das zerstrittene Parlament nicht in der Lage ist. Die Exekutive hat die funktionelle Nachfolge des monarchischen Elements zur Zeit des Konstitutionalismus angetreten. Sollte damals die Gewaltenteilung die Gesellschaft vor dem monarchischen Staat schützen, so sichert sie nunmehr genau umgekehrt den Staat vor den Einflüssen der im Parlament wirksamen Kräfte der Gesellschaft. Das Parlament wird so nicht als höchstes Staasorgan, sondern antistaatlich definiert. Verbürgt ist der Mindestbestand staatlicher Funktionsfähigkeit in der Verfassung, die gegen ihre Aushöhlung durch das Parlament geschützt werden soll. Dazu sind die anderen Staatsorgane berufen, denen zur Sicherung des Primats des Staates ein Prüfungsrecht als Notstandsrecht zukommt. Tragendes Element dieser Begründung ist die Unfähigkeit des Parlaments zur Sicherung und Hervorbringung sozialer Einheit. Die Analyse entspricht in vollem Umfang der vorgefundenen zeitgenössi89

90 9t

Ebd., S. 88; Schmitt, Hüter, S. 36 ff., 44 ff. Schmitt, Das Reichsgericht, S. 20. Schmitt, Verfassungslehre, 3. A., S. 194.

2. Die legitimistische Richtung: Der Primat des Rechts

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sehen Realität. Dieses wird von Schmitt jedoch nicht als Krisenfall, sondern als normale, notwendige Konsequenz des demokratischen Parlamentarismus angesehen. Daher kann sein Ziel, die Herstellung eines stabilen und funktionsfähigen Staates, nicht durch Mechanismen parlamentarischer Selbststabilisierung, sondern nur durch eine Stärkung der außerparlamentarischen Organe erreicht werden. Betrachtet er so den vorgefundenen Ausnahme- und Krisenzustand des Parlamentarismus als dessen immanente Normalität, so ist seine Begründung des richterlichen Prüfungsrechts konsequent.

d) Zusammenfassung Die legitimistische Auffassung geht wie die Iegalistische Richtung von dem grundlegenden Wandel der Staatsform durch die WRV aus. Deutlich erkennt sie den Übergang von der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft hin zum Staat als Selbstorganisation der Gesellschaft. Damit kommt auch dem Parlament und den in ihm wirkenden politischen Kräften des Gemeinwesens eine gewandelte Bedeutung zu; es ist nicht mehr antistaatlich, sondern Staatsorgan. Gehen somit die divergierenden politischen Strömungen auch in den Prozeß der Staatswillensbildung ein, so erfordert die Herstellung einer staatlichen Willens- und Handlungseinheit in der Demokratie andere Mechanismen als im Konstitutionalismus. Staatliche Integration liegt dem Parlament nicht mehr voraus, sondern muß erst durch das Parlament geleistet werden. Diese Tatsache wird von der legitimistischen Richtung als Bedrohung nicht nur der Funktionsbedingungen des Konstitutionalismus, sondern darüber hinaus der Handlungsfähigkeit des Staates überhaupt angesehen. Dazu konnte sie sich äußerlich auf die krisenhaften Erscheinungen der Weimarer Demokratie berufen. Ist somit die eigentliche Gefahr für den Staat das Parlament, so ist dieses am allerwenigsten in der Lage, den Staat zu stabilisieren und wirksam zu machen. Die "Funktionsfähigkeit des Staates" erscheint konsequent auch in der Demokratie nicht als parlamentarisch hervorgebrachte Erscheinung, sondern als außerparlamentarisches Phänomen, welches gegen das Parlament gesichert werden muß. Die ideologische und rechtliche Grundlage einer solchen Haltung kann jedoch nicht im demokratischen Staat selbst gesehen werden, da in ihm gerade das parlamentarisch geschlossene Gesetz die höchste Äußerung des Staatswillens darstellt. Vielmehr muß sie als außerstaatlich dem konkreten Gemeinwesen übergeordnet werden. Diese Basis ist die Legitimität, das "Recht", das dem Gesetz gegenübergestellt und vorgeordnet wird. Die Verfassung ist eine, aber keineswegs die einzige Äußerung der Legitimität. Ist die Legitimität die ideologische Substanz des Staates, welche dem demokratischen Prozeß vorausliegt, so darf das

112

V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Parlament über sie nicht disponieren. Ihre Wahrung gegenüber dem Parlament wird politisch dem Reichspräsidenten der Exekutive, juristisch den Gerichten überantwortet. Das richterliche Prüfungsrecht ist hier demnach weniger Verfassungsschutz als vielmehr Schutz der legitimen Bestandteile überkommener Staatlichkeit. Gewaltenteilung schützt nunmehr den Staat vor der politischen Gesellschaft, ihre Frontstellung ist nicht mehr antimonarchisch, sondern antiparlamentarisch92• 3. Die Reine Rechtslehre: Staatsgerichtsbarkeit als Schutz der Demokratie Die Reine Rechtslehre nimmt nach Ansatz und Ergebnissen in der Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht eine Sonderstellung ein. Stellt sie einerseits eine Fortentwicklung und Überhöhung des staatsrechtlichen Positivismus dar, so ist sie andererseits materialen Erwägungen keineswegs unzugänglich. Die staatsrechtlichen Aussagen ihres konsequentesten und geistvollsten Vertreters, Hans Kelsen, sind demnach aus seiner spezifischen Perspektive der Symbiose allgemeiner methodischer Aussagen zum Staatsrecht mit seinem engagierten und entschlossenen Eintreten für die Demokratie zu würdigen. Der Staat ist für Kelsen eine Ordnung, eine Zwangsordnung menschlichen Verhaltens93• Zentrale Bedeutung nimmt bei der Bestimmung des Charakters dieser Ordnung die Frage ein, wie sie konstituiert ist und wie sie sich äußert. Grundlage seiner Lehre hierzu ist die Ablehnung einer Trennung oder Entgegensetzung von Staat und Recht94• Anders als das konstitutionelle Staatsrecht sieht er das Recht nicht als von außen herangetragene Grenze des Staates, sondern als konstituierendes Element seiner Organisation wie seiner Wirksamkeit. Ist das Recht zentraler Ausdruck staatlicher Herrschaft, so fallen für seine Staatslehre, die den Staat aus der Perspektive normativer Geltung betrachtet, Staat und Recht zusammen. Dieses Recht kann nur das positive Recht sein, welches im Staat Geltung erlangt; jede Rückführung auf ein vorausliegendes Naturrecht ist hingegen unmöglich, weil dessen Geltung durch das positive Recht ausgeschlossen ist. Die Rechtswissenschaft bedarf einer ihrer Eigenart, nämlich der Eigengesetzlichkeit ihres Geg.e nstandes, bewußten Rechtstheorie95• Die Eigengesetzlichkeit des Rechts beruht auf der Entgegensetzung von Na92 93 94

95

Deutlich bei Goldschmidt, JW 1924, 244, 248 f . Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 95. Ebd., S. 16 ff. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. A., S. 111.

3. Die Reine Rechtslehre

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tur und Gesellschaft bzw. Geist96• Da die Einheit des Erkenntnisgegenstandes von der Erkenntnismethode begründet wird, welche das erkennende Subjekt an die Welt heranträgt97, entspricht jener Trennung die Unterscheidung von Naturwissenschaft und Gesellschafts- bzw. Geisteswissenschaften. Natur ist nach dieser Vorstellung dadurch geprägt, daß Kausalgesetze den Zusammenhang zwischen ihren Elementen prägen. Das Recht hingegen ist nicht Natur, es ist ein gesellschaftliches Phänomen, das sich auf die Natur nur insoweit bezieht, als es ihr "spezifische Sinngehalte" bzw. "Bedeutungen" vermittelt96• Jeder Sachverhalt erhält seinen spezifischen juristischen Sinn erst durch eine Norm, die sich ihrem Inhalt nach auf ihn bezieht und ihm so eine rechtliche Bedeutung verleiht98• Die Funktion der Norm ist den Naturgesetzen genau entgegengesetzt: sie beruht nicht auf einer kausalgesetzliehen Verknüpfung, sondern auf einem teleologischen Sollen, das in der gestuften Rechtsordnung seine Wurzel in der Grundnorm findet99• Diese Grundnorm ist Geltungsgrund aller anderen Normen. Ausschließlich das so definierte Recht ist Gegenstand der Rechtswissenschaft, welche als Reine Rechtslehre die Rechtsordnung so beschreibt, "wie sie ist". Dieses Recht soll seinem Wesen nach begriffen und durch die Analyse seiner Struktur verstanden, nicht hingegen bewertet werden. Vielmehr haben die Rechtsnormen nach diesem Verständnis einen rein formalen Charakter, Recht in diesem Sinne ist eine "soziale Technik" 100, mit der jeder beliebige Zweck verfolgt werden kann101 • Von anderen Normen unterscheiden sich Rechtsnormen lediglich dadurch, daß in ihnen Zwang angeordnet ist102• Ausdrücklich aus der rechtswissenschaftliehen Betrachtung ausgeschlossen ist damit die Frage nach der Legitimität einer Ordnung; mit ihren Mitteln kann kein Rechtssystem als gerecht oder ungerecht qualifiziert werden103• Dafür hat sie jedoch den Vorteil, daß ihre ausschließlich formal-deskriptive Analyse auf alle existenten und denkbaren Rechtssysteme und Staaten angewendet werden kann, sie ist die Rechts- und Staatslehre schlechthin104• Mit diesem methodischen Ansatz allein lassen sich zu Einzelfragen konkreter Verfassungsinterpretation noch keine verbindlichen Aussagen machen. Das setzt vielmehr ihre Verknüpfung mit den inhaltlichen Ebd., S. 2 ff. Ebd., S. 126. 98 Ebd., S. 5. 99 Ebd., S. 64 ff. 100 Ebd., S. 28. 101 Ebd., S. 32. 102 Ebd., S. 26. 103 Ebd., S. 17, 127 f. 104 Ebd., S. 125 ff. 96

97

8 Gusy

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Aussagen der jeweiligen Verfassung voraus. Dabei zeigt schon die Stoffauswahl und -behandlung in der allgemeinen Staatslehre105 - und ansatzweise auch der Reinen Rechtslehre -, daß diese Anschauungen an den zeitgenössischen politisch-kulturellen Standard Europas und Nordamerikas anknüpfen, indem sie die Funktionsweisen bürgerlich-rechtsstaatlicher Herrschaft theoretisch zu erfassen und zu beschreiben suchen. Noch deutlicher wird dieses in Kelsens Stellungnahmen zu Grundfragen und Einzelproblemen konkreter Verfassungen. Grundlage dafür ist für die WRV sein entschiedenes Eintreten für die Demokratie106• Demokratie steht für ihn in untrennbarem Zusammenhang mit der individuellen Freiheit; die Freiheits- und nicht die Gleichheitsidee ist es, welche die Demokratie in erster Linie bestimmt. Das zeigt sich schon daran, daß andere politische Systeme die Gleichheit insbesondere in ihrer ökonomischen Dimension besser verwirklichen können als die demokratische Staatsform107. Ähnliches gilt für die Freiheit nicht. Organisatorisch erscheint die parlamentarische Demokratie als einzig mögliche Form, in der Demokratie in der sozialen Wirklichkeit realisierbar ist108. Nicht Herrschaftslosigkeit oder Identität der Regierenden mit den Regierten ist das Grundelement dieser Staatsform, maßgeblich ist vielmehr, daß eine breitere Schicht der Normunterworfenen an dem Prozeß der Willensbildung - zumindest in einem bestimmten Stadium - teilnimmt. Diese Teilnahme vollzieht sich bei der Kreation des Gesetzgebungsorgans109. Aufgabe des Parlaments ist es, die staatliche Einheit des Volkes und seiner Willensbildung herzustellen. Das Volk selbst ist zur Herrschaftsausübung real nicht in der Lage, da seine Einheit als Übereinstimmung des Denkens, Fühlensund Wollens, als Solidarität der Interessen, ein ethisches Postulat, nicht hingegen eine Realität darstellt110. Jede Gemeinschaft, auch die staatliche, umfaßt die Lebensäußerungen ihrer Mitglieder eben nur partiell in einzelnen Rollen, nicht hingegen vollständig. Die Herstellung der partiellen Einheit des Volkes ist die Aufgabe des Staates, sie liegt ihm nicht voraus. Voraussetzung dafür ist in der Demokratie der parlamentarische Prozeß zur Herstellung von Kompromissen und einem möglichst weitgehenden Ausgleich der sozialen Interessen. Das adäquateste Mittel zu dessen Realisierung ist das Majoritätsprinzip als "relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit"111. Möglichst wenig Menschen sollen mit ihrem Willen in Widertos Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 229, 235 f ., 240 f., 259 f., 310 ff. u. a.

106 107 108 109 uo 111

Kelsen, Demokratie, in: Demokratie und Sozialismus, S. 11 ff. Ebd., S. 36. Ebd., S. 17. Ebd., S. 27. Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, 2. A., S. 15 f. Ebd., S. 9 f.

3. Die Reine Rechtslehre

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spruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten. Dabei ist die demokratische Entscheidung jedoch keineswegs das Diktat der Majorität über die Minorität; sie entsteht im parlamentarischen Prozeß als Ergebnis der gegenseitigen Beeinflussung beider Gruppen112 • Dieser Kamprarniß ist das Ergebnis des parlamentarischen Verfahrens mit seiner dialektisch-kontradiktorischen Technik, welche die soziale Integrationsleistung in der Demokratie erst hervorbringt. Wird die besondere Leistungsfähigkeit dafür insbesondere durch Verfahren begründet, so ermöglicht der formale Ansatz der Reinen Rechtslehre überhaupt erst die Funktionsfähigkeit des pluralistischen Systems. Nicht mehr das Ergebnis wird vorausgesetzt, das nur noch "gefunden" zu werden braucht; die Demokratie wird vielmehr als Ausgleichsmechanismus konkurrierender Interessen zur Herstellung einheitlicher, allgemeinverbindlicher Entscheidungen hingenommen, ihre soziale Realität als Parteienstaat wird ausdrücklich bejaht und als Konstitutionselement demokratischen Interessenausgleichs anerkannt113• Dem entspricht die Tatsache, daß Ethik und Moral aus der juristischen Betrachtung ausgeschlossen werden; sie begründen verschiedene Wertsysteme, welche anders als die Rechtsordnung - nur relative Bedeutung haben, also nicht allgemein für alle verbindlich sein können. Das zeigt deutlich der vorausgesetzte Stufenbau der Rechtsordnung. Die Verfassung ist das Fundament, auf der die ganze Staatsordnung aufbaut114 • Sie determiniert die Staatsform und stellt damit die Regeln auf, die das Zustandekommen der Gesetze bestimmen, insbesondere die Benennung der zuständigen Organe und das Verfahren der Gesetzgebung. Die Verfassung ist so in der Demokratie primär Verfahrensregel; solche Normen bezeichnet Kelsen als Verfassung "im engeren Sinne". Daneben zeigt jedoch die zeitgenössische Realität, daß die tatsächlich geltenden Verfassungen nicht nur Verfahreiisnormen, sondern auch inhaltliche Bindungen für die Gesetze enthielten, etwa die Freiheitsrechte115• Einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden Arten von Vorgaben kennt die Reine Rechtslehre nicht. Die materiellen Verfassungsnormen binden nur einfache Gesetze, nicht hingegen verfassungsänderndes Recht. Sofern daher Gesetze, welche Verfassungsrecht widersprechen, in der Form einer Verfassungsänderung ergehen, sind sie nicht materiell rechtswidrig. Die materiellen Bindungen bedeuten demnach zugleich formelle Schranken: sie schützen die Verfassungsnorm und das Verfahren der Verfassungsänderung. Kelsen, Demokratie und Sozialismus, S. 34 f . Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, S. 19 ff. 114 Kelsen, VVDStRL 5, 30, 36. m Ebd., S. 37. 112 113

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V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Auf dieser Grundlage nimmt Kelsen zum richterlichen Prüfungsrecht Stellung. Gesetzgebung und Rechtsprechung sind beide Organe sowohl der Rechtsanwendung als auch der Rechtsetzung. Sie sind Rechtsanwendung insofern, als sie einer materiellen oder formellen Bindung durch höherrangiges Recht unterliegen; sie sind Rechtserzeugung, soweit ihnen bei der Rechtsanwendung ein Spielraum freien Ermessens zusteht116• Sie unterscheiden sich nur dadurch, daß für den Gesetzgeber die Ermessensbindungen vergleichsweise geringer sind. Unterliegen sie beide rechtlichen Vorgaben, so bedürfen diese zur Garantie ihrer Verbindlichkeit im vollen Sinne einer Durchsetzungsinstanz117 • Diese Garantie ist für die Verfassung die Staatsgerichtsbarkeit. Sie ist Teil des Systems rechtstechnischer Maßnahmen, welche auf die Sicherung der Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen abzielen118• Während die anderen Garantien zwar Verfassungsverstöße mit Sanktionen belegen, nicht aber aufheben können 119, so kommt als wirksamste Verbürgung der Verfassung die Vernichtung des verfassungswidrigen Aktes in Betracht120 • Dazu ist - mangels anderweitiger Kompetenzzuweisungen - nur der Staatsgerichtshof berufen. Zwar nimmt er dadurch legislative Funktionen wahr, das dient aber nur zur Durchsetzung der Verfassung gegen die "politische Macht" des Gesetzgebers121 • In der Demokratie kommt der Staatsgerichtsbarkeit Bedeutung insbesondere bei der Durchsetzung der Minderheit im Recht gegenüber der Majorität zu. So verhindert sie eine Diktatur der Mehrheit, die dem sozialen Frieden nicht weniger gefährlich ist als eine Diktatur der Minderheit122 • Im gerici}tlichen Verfahren sollen die demokratisch-pluralistischen Elemente verfahrensmäßig berücksichtigt werden, indem die relevanten Gegensätze "prozeßtechnisch richtig zum Ausdruck gebracht werden" 123• Nur so kann das Gericht die von der Verfassung eingeräumten Ermessensspielräume richtig ausfüllen. Dadurch werden neben Rechtmäßigkeitsfragen auch Zweckmäßigkeitserwägungen in das Verfahren eingeführt. So erfüllt die Staatsgerichtsbarkeit ähnliche Zwecke wie die parlamentarische Verhandlung. Zur Sicherung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen bei der Wahrung und Durchsetzung der Verfassung lehnt er ein richterliches Prüfungsrecht ab; Gerichte und Behörden haben Rechtsnormen, die sie für verfassungswidrig halten, vorzulegen124• 116 117 118 119

120 121 122 123

124

Ebd., S. 31 f . s. auch Kelsen, Staatslehre, S. 243. Kelsen, VVDStRL 5, 78. Ebd., S. 30. s. insbes. ebd., S. 51 f. zur Ministerialverantwortlichkeit. Ebd., S. 51, 78. Ebd., S. 53 f. Ebd., S. 81. Kelsen, Die Justiz 1930/31, 576, 600. Kelsen, VVDStRL 5, 74.

4. Zusammenfassung

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In der Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht in der Weimarer Zeit nimmt Kelsen eine mittlere Position ein. Seine eindeutige Stellungnahme gegen naturrechtliche und metaphysische Legitimitätsvorstellungen nähert ihn der legalistischen Richtung an. Das Gesetz ist Ausdruck des demokratischen Prozesses und daher die höchste Willensäußerung des Staates, die -von der Reinen Rechtslehre vorausgesetzte -Verfassung "im engeren Sinne" regelt das Verfahren zur Rechtserzeugung und dient so zur Sicherung der Funktionsfähigkeit demokratisch-pluralistischer Mechanismen. Dem hätte es entsprochen, Verfassungsgerichtsbarkeit als Schutz der Verfahrensrechte von Minderheiten auszugestalten und der Justiz ein formelles Prüfungsrecht einzuräumen. Dem steht jedoch die Realität insoweit entgegen, als bestimmte Verfassungen wie etwa die WRV nicht nur verfahrensrechtliche, sondern auch inhaltliche Vorgaben für die Gesetze enthalten. Solche Normen determinieren nicht das Rechtserzeugungsverfahren, sondern das Ergebnis niederrangiger Rechtsetzung. Die Einbeziehung dieser Vorgaben in die Kontrollmaßstäbe des Staatsgerichtshofs sprengt das vorausgesetzte System, durch die gerichtliche Entscheidung wird der Prozeß des demokratischen Ausgleichs und Kompromisses aus dem Parlament hinaus in die Verfassungsgerichtsbarkeit hineingetragen. Die Frage nach der funktionellen Leistungsfähigkeit der Staatsgerichtsbarkeit wird bei ihm ebensowenig gestellt wie diejenige nach ihrem Verhältnis zur Demokratie. Der Grund liegt darin, daß sein System politisch eine funktionierende Demokratie voraussetzt125• Verfassungsgerichtsbarkeit soll die Leistungsfähigkeit der Demokratie erhöhen. Welche tatsächlichen wie rechtlichen Bedingungen dafür vorliegen müssen und wie diese herzustellen sind, erklärt er jedoch nicht. Damit fallen Stärke und Schwäche seines Ansatzes zusammen: eine vorhandene stabile Demokratie wird durch Verfassungsgerichtsbarkeit gestärkt126• 4. Zusammenfassung

Die Offenheit der WRV in der Frage des richterlichen Prüfungsrechts spiegelt sich in Theorie und Praxis deutlich wider. Bestand Einigkeit darin, daß durch die neue Verfassung die Staatsform grundlegend gewandelt worden war, so blieb strittig, welche Folgen daraus im einzelnen zu ziehen waren. Methodisch büßte der staatsrechtliche Positivismus seine im Spätkonstitutionalismus unangefochtene Stellung ein; dem Pluralismus der neuen Theorien und Vorverständnisse entsprach ein Pluralismus der Ergebnisse. Ebd., S. 80 f. Zur Bedeutung der Gewaltenteilung für Kelsen s. Demokratie und Sozialismus, S. 24 ff. 125

!26

118

V. Die Literatur zum richterlichen Prüfungsrecht

Als zentrales Problem erwies sich der reale Widerstreit zwischen dem Bedürfnis nach einer gewissen Stabilität des Staates einerseits und der demokratischen Staatsform andererseits. Tatsächlich war der Reichstag häufig nicht in der Lage, seine Aufgabe als führendes Staatsorgan zu erfüllen oder auch nur eine entscheidungs- und handlungsfähige Regierung hervorzubringen. Ein akzeptabler demokratischer Normalzustand trat so faktisch nur in Ausnahmefällen ein. Worin auch immer die Gründe dafür lagen oder gesehen wurden, so lag schon angesichts dieser Voraussetzungen die Annahme nahe, daß wirksame Mechanismen zur Konsolidierung des Staates außerhalb des Parlaments gesucht werden mußten. Als handlungsfähige Staatsorgane kamen dabei insbesondere die Exekutive und die Justiz in Betracht. Ihre Komponenten wurden konsequent betont und gestärkt, zumeist zu Lasten des Reichstages. Methodische Grundlage für diese Zuständigkeitsverschiebung war die überkommene Lehre von der Gewaltenteilung, die in ihrer traditionellen Ausprägung des "Gleichgewichts der Staatsgewalten" auch in der Demokratie aufrechterhalten wurde. Das galt ungeachtet der Tatsache, daß die neue Staatsform eben nicht auf dem Ausgleich zwischen sozialen Mächten basierte, welche in unterschiedlichen Staatsorganen institutionalisiert waren und daher zur Erzielung akzeptabler Resultate etwa gleichgewichtig sein mußten. Die Zuordnung der überkommenen Gewaltenteilung und der Demokratie auf der Grundlage der WRV blieb in der verfassungstheoretischen und staatsrechtlichen Diskussion jedoch weitgehend aus. Das zeigt deutlich die Rechtsprechung der obersten Gerichte, die sich bei der Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts mit den einschlägigen Normen der WRV nicht auseinandersetzte. Über die Feststellung, die Verfassung habe der Justiz die Normenkontrollkompetenz nicht ausdrücklich entzogen, hinaus, wurden in den Begründungen lediglich Argumente des konstitutionellen Staatsrechts herangezogen. Damit wurden implizit die Grundlagen jener Lehre, insbesondere der Primat der monarchischen Exekutive im Staat, übernommen. Erst recht galt das für die legitimistische Richtung der Staatsrechtswissenschaft, die nicht nur die traditionellen Anschauungen einfach übernahm, sondern aus überpositiven Erwägungen die Prärogative der Exekutive und der Justiz gerade auch unter den Bedingungen des demokratischen Staates zu rechtfertigen suchte. Eine Auseinandersetzung mit dem geltenden Verfassungsrecht fand dabei nicht statt; sie wäre möglicherweise als positivistisch erschienen. Nur die Vertreter positivistischer Anschauungen einschließlich Kelsen und die sozialdemokratischen Staatsrechtler setzten sich für eine Stärkung des Parlaments und gegen einen Primat der Exekutive ein. Die realen Probleme der Demokratie, insbesondere die häufig auftretende Entscheidungs- und Gestaltungs-

4. Zusammenfassung

119

unfähigkeit des Reichstages, lagen nach Ansicht dieser Richtungen der Verfassung voraus, sie wurden von ihr nicht geschaffen und konnten von ihr daher auch nicht gelöst werden. Zur Überwindung der größten praktischen Schwierigkeiten standen sie den Kompetenzen des Reichspräsidenten für den Notstandsfall, wenn sich das Parlament als handlungsunfähig erwies, zumeist positiv gegenüber127• Der Kompetenzzuwachs der Zweiten und Dritten Gewalt entsprach der staatspolitischen Realität, in welcher die anderen Staatsorgane zunehmend in das vom Reichstag offengelassene Vakuum nachdrängten. Er ignorierte dagegen die WRV und schwächte ihre Normativität; im Ergebnis wirkte er antidemokratisch.

127

Anschütz, Anmerkungen zu Art. 48.

VI. Zusammenfassung: Richterliches Prüfungsrecht als Garantie des sozialen Kompromisses Das richterliche Prüfungsrecht, im Konstitutionalismus häufig gefordert, aber selten praktiziert, wurde unter der WRV vom Reichsgericht in vollem Umfang in Anspruch genommen und ausgeübt. Dabei weist jedoch die Rechtsprechungsentwicklung des höchsten deutschen Gerichts einen bemerkenswerten Bruch auf. Im Konstitutionalismus hatte es sich auf zwei Dimensionen der Normprüfung beschränkt: die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen einerseits und die Feststellung der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsgesetz andererseits. Eine Normenkontrolle bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen lehnte er demgegenüber ausdrücklich ab1• Dieser Schritt wurde erst unter der Geltung der WRV vollzogen. Entgegen der anders lautenden Begründung durch das RG selbst stellt die Prüfung formeller Gesetze keine Fortsetzung der konstitutionellen Entscheidungspraxis dar; vielmehr kehrt sie von den überkommenen Grundsätzen ab2• Zwar hatte das Gericht unbestritten bereits früher einzelne Dimensionen des richterlichen Prüfungsrechts für sich in Anspruch genommen, aber stets eine differenzierende Auffassung beibehalten. Nicht das Prüfungsrecht schlechthin, sondern lediglich einzelne Dimensionen waren bislang anerkannt gewesen; gerade die Dimension der Verfassungsmäßigkeitsprüfung förmlicher Gesetze war demgegenüber stets ausgeklammert worden. Wurde diese - entgegen der früheren Ansicht nunmehr gleichfalls beansprucht, so konnte eine solche Auslegung der richterlichen Prüfungskompetenz gerade nicht mit der traditionellen Rechtsprechung begründet werden. Daß in dem tatsächlich praktizierten Rechtsprechungswandel zugleich eine qualitative Änderung der Kompetenzverteilung zwisch.e n Legislative einerseits und Justiz andererseits zum Ausdruck kam, wird durch die Behauptung historischer Kontinuität der eigenen Entscheidungspraxis lediglich verdeckt, nicht hingegen argumentativ widerlegt. Demnach ist die Kontinuitätsthese weder bezüglich der Entscheidungsergebnisse noch bezüglich ihrer Begründungen haltbar.

I

2

s.o. II 2. Anders Bettermann, FS J. Broermann, S. 491 ff.

1.

Verfassungsrecht als sozialer Kamprarniß

121

1. Verfassungsrecht als sozialer Kompromiß Eine rechtshistorische Bewertung jenes Kontinuitätsbruches hat die verfassungstheoretischen und -rechtlichen Rahmenbedingungen einzubeziehen. Dies gilt um so mehr, als die gewandelte Entscheidungspraxis mit einem fundamentalen Umsturz der überkommenen Staatsordnung einhergeht. Zwar schlägt sich das Ende des konstitutionellen und der Beginn des demokratischen Verfassungsstaates in Deutschland in den ausdrücklichen Entscheidungsgründen nicht nieder. Der Grund dafür mag in der Tatsache liegen, daß die Problematik des richterlichen Prüfungsrechts vom RG weder vor noch nach 1919 jemals grundsätzlich mit Argumenten aus dem positiven Verfassungsrecht diskutiert wurde. Die - zumindest zeitliche - Parallelität von neuer Verfassung und neuer Rechtsprechung zum richterlichen Prüfungsrecht ist jedoch augenfällig. Jedes Verfassungsrecht stellt eine mehr oder weniger eindeutige Antwort auf die politischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen ihrer Zeit dar. Dabei gilt es, den entstandenen Problemdruck entweder durch Verfassungsrecht selbst zu entscheiden oder aber geeignete Rahmenbedingungen für seine Entscheidung in der Zukunft schaffen. Beiden Alternativen stellt sich die Aufgabe, die real verschiedenen Interessen zu berücksichtigen. Nur soweit dies geschieht, kann eine Konstitution auf ein Mindestmaß an Wirksamkeit rechnen. Träger ausgeschlossener, unterdrückter oder benachteiligter Interessen würden sie hingegen als rechtliche Grundordnung von vornherein ablehnen. Schon aus diesem Grunde sind Verfassungen Kompromißordnungen. Sie sind Produkte des sozialen Kompromisses in dem Sinne, daß sie ihrerseits auf einem Ausgleich der antagonistischen Macht- und Interessenstrukturen im Gemeinwesen beruhen: ohne Kompromiß keine Verfassung. Zugleich organisieren und determinieren sie rechtlich den sozialen Ausgleich, indem sie im pluralen Gemeinwesen eine handlungsbereite und handlungsfähige Entscheidungs- und Wirkungseinheit, nämlich die staatliche Organisation, hervorbringen müssen. Die Handlungsfähigkeit des Verfassungsstaates basiert ihrerseits auf seiner Fähigkeit zur Hervorbringung von Ausgleichs- und Vermittlungsleistung. Verfassungsrecht ist so Resultat sozialer Kompromisse und bringt solche Kompromisse zugleich hervor. So ist diejenige Instanz, die über Einhaltung, Auslegung und Sicherung des Verfassungsrechts wacht, zugleich Hüter der Grundlagen des sozialen Kompromisses. Welcher Instanz jene Aufgabe zukommt, ist nicht apriorisch festgelegt, sondern dem jeweiligen Verfassungsrecht selbst zu entnehmen. Zugleich erweist sich allerdings darin dasjenige Konzept, welches das jeweilige Verfassungsrecht dem von ihm inten-

122 VI. Richterliches Prüfungsrecht als Garantie des sozialen Kompromisses

dierten sozialen Ausgleich zugrunde legt. Wer über die rechtlichen Grundlagen der Interessenvermittlung im Gemeinwesen wacht, prägt zugleich diese Vermittlung inhaltlich wesentlich mit. Daraus ergibt sich unmittelbar politische Bedeutung der Verfassungsauslegung und -Verwirklichung einerseits und die rechtliche Relevanz der dabei Mitwirkenden, niemals völlig außerhalb des politischen Prozesses stehenden Instanzen andererseits. 2. Sozialer Ausgleich und konstitutionelles Verfassungsrecht

Der Charakter des Konstitutionalismus als Kompromißordnung ist vielfach betont worden3• Dieser Charakter basierte der Idee nach auf dem Konzept gesamtgesellschaftlicher Macht- und Gewaltengliederung. Theoretische Voraussetzung dafür war die Erkenntnis einer tripolaren sozialen Machtverteilung: Monarch, Adel und Bürgertum wurden als je verschiedene Macht- und Interessenträger definiert. Eine solche Definition ist ihrerseits überaus voraussetzungsvolL Zunächst müssen die einzelnen Gruppen ihrerseits als homogen verstanden werden, die Interessen der in ihnen jeweils zusammengefaßten Menschen werden als einheitliche, als homogene begriffen. Der Interessenhomogenität entspricht die Homogenität der Macht. Jedes Interesse verwirklicht sich in einer sozialen "Gewalt". Es verfügt so über soziale Macht, die sich im Gemeinwesen zur Geltung bringt. Die vorausgesetzte Gewaltengliederung des Konstitutionalismus ist somit materiell Interessengliederung und dem korrespondierende organisatorische Machtgliederung. Dieses vorausgesetzte Modell hat idealtypischen Charakter; daß es der sozialen Realität keineswegs entsprach, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf die zeitgenössische Wirklichkeit. Die Idee des Konstitutionalismus war diejenige der Gewaltengliederung und -kooperation. Die vorhandenen Interessen konnten in einem einheitlichen Staat lediglich durch Vermittlung und Kamprarniß ausgeglichen werden. Dem entsprach die Organisation des konstitutionellen Staates. Die Verfassung basierte der Idee nach auf einer Übereinkunft zwischen den beteiligten Gewalten. Der Monarch teilte die ihm seit dem Absolutismus zustehende Staatsgewalt mit den relevanten Mächten. Dies geschah entweder im Wege einseitiger Selbstbeschränkung durch oktroyiertes Verfassungsrecht oder - seltener - durch eine tatsächliche Vereinbarung zwischen den einzelnen Gruppierungen. Medium des Ausgleichs im Gemeinwesen sollte die allseitige Kooperation darstellen, welche in der Legislative angeordnet war. Die Legislative- und nicht 3

Ausführlich Schefold, ZNR 1981, 137 ff. mwN.

2. Sozialer Ausgleich und konstitutionelles Verfassungsrecht

123

die Verfassung selbst- sollte die eigentliche Ausgleichsleistung erbringen. Demgegenüber nahm das Verfassungsrecht lediglich den Charakter einer Geschäftsordnung des allseitigen Zusammenwirkens, eines formellen Regulars geordneten Mit- und Gegeneinanders ein. Sie sollte die Kompromißleistung durch Gesetzgebung erst ermöglichen, nicht hingegen dieses selbst darstellen.

Dem konstitutionellen Gesetz kam so Vertragscharakter zu; es sollte eine rechtsförmliche, verbindliche Einigung zwischen den drei vorausgesetzten Mächten darstellen. Ohne oder gegen den Willen einer beteiligten Gewalt sollte kein verbindliche~ Gesetz möglich und zulässig sein. Die Übereinstimmung von Monarch, Adel und Bürgertum in der Gesetzgebung sollte eine ideelle gesamtgesellschaftliche Einigung ihrerseits die Gewähr dafür bieten, daß alle Interessen hinreichend und gerecht berücksichtigt seien. War das höchste Anliegen konstitutioneller Verfassungen eben diese Einigung, so entsprach es jenem Ziel, den allseitigen Ausgleich nur durch Gesetzgebung möglichst keine inhaltlichen Vorgaben zu unterwerfen. Da durch formelle Vorkehrungen gesichert war, daß keine der sozialen Gewalten übergangen oder ausgespielt werden durfte, war jedes als berücksichtigungsfähig anerkannte Interesse in den Prozeß der Kompromißfindung notwendig einbezogen. Ein besonderer rechtlicher Schutz einzelner Belange gegen Maßnahmen des Gesetzgebers war demnach weder erforderlich noch wünschenswert; er hätte den sozialen Ausgleich eher behindert als gefördert. Die Sicherung der legislativen Vermittlungsleistung intendierte demgegenüber ausführliche formelle Regelungen über den notwendigen Wirkungsbereich der Gesetzgebung, also dem Vorbehalt des Gesetzes, und das legislative Verfahren selbst. Zugleich mußte durch rechtliche Vorkehrungen gesichert werden, daß die einzelnen Gewalten, insbesondere der stets handlungsbereite und -fähige monarchische "Staat", nicht das Gesetz als obersten Ausgleich unterlaufen, entwerten oder umgehen konnten. Wichtigste Vorkehrung hierfür war der strikte Vorrang des Gesetzes. In der Logik solcher Interessenvermittlung lag die Schaffung von Grundrechten, welche lediglich E:x:ekutive und Justiz, nicht hingegen die Legislative binden sollten. Diese ideellen Rahmenbedingungen der Verfassung finden ihre exakte Entsprechung im richterlichen Prüfungsrecht. War höchstes Anliegen des Verfassungsrechts der soziale Ausgleich, der auf den Konsens aller sozialen Gewalten angelegt war, so lag es nahe, im Wege di·e ses Einstimmigk-eitsprinzips zugleich über die rechtlichen Grundlagen jenes Ausgleichs, eben die Verfassung, zu disponieren. Theoretisch fielen so zumindest die verfassungsändernde und die gesetzgebende Gewalt zusammen. Dispositionsmöglichkeit über das Gesetzesrecht implizierte

124 VI. Richterliches Prüfungsrecht als Garantie des sozialen Kompromisses zugleich Dispositionsmöglichkeit über das Verfassungsrecht. Waren beide Gewalten insoweit ungeteilt, so konnte Gesetzgebung bruchlos als authentische Verfassungsinterpretation verstanden werden. Ein materielles richterliches Prüfungsrecht war demgegenüber nicht sinnvoll. Im Falle der Feststellung eines Verfassungsverstoßes durch Gesetz hätte die Legislative unmittelbar die Möglichkeit, im Wege der Verfassungsänderung ihre Absichten durchzusetzen. Materielles richterliches Prüfungsrecht setzt demnach die Trennung von verfassunggebender bzw. verfassungsändernder Gewalt einerseits und gesetzgebender Gewalt andererseits voraus. Demgegenüber kam einem formellen Prüfungsrecht um so größere Bedeutung zu, da hier festzustellen war, ob das gesamtgesellschaftliche Ausgleichs- und Vermittlungsverfahr·e n zutreffend durchgeführt worden war. Insbesondere galt es insoweit, einseitige lnteressendurchsetzung durch Ausschaltung anderer Gewalten zu verhindern. Ob also ein Gesetz entsprechend den Formvorschriften der jeweiligen Verfassung zustande gekommen war, mußte entsprechend der Logik des konstitutioneUen Systems im Stl'eitfalle von einer unbeteiligten, unabhängigen Stelle festgestellt werden können. Gleiches galt für die Frage, ob eine Gewalt den Mindestbel'eich von Kamprarniß und Kooperation dadurch aushöhlte, daß sie allein und ohne Mitwirkung der übrigen Beteiligten handelte. Dieses Ziel bedingte insbesondere eine Prüfung der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit von Verordnungen, welche der Monarch eben nicht mit Zustimmung von Adel und Bürgertum, sondern allein erlassen konnte. Hier bestand ständig eine Umgehungsmöglichkeit der Grunplagen des konstitutionellen Systems. Der so verstandene konstitutionelle Verfassungsstaat bedingte somit die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen einerseits und die formelle Gesetzesprüfung andererseits. Demgegenüber mußte das materielle Prüfungsrecht ausgeschlossen bleiben. Zu dieser Konsequenz konnte allerdings lediglich finden, wer die Idee jenes sozialen Ausgleichs für zutreffend hielt: jede Gewalt ist interessenmäßig homogen; und jedem Interesse entspricht seine verfassungsrechtlich anerkannte Durchsetzungsmöglichkeit und Berücksichtigungsfähigkeit.

3. Sozialer Ausgleich und demokratisches Verfassungsrecht Eben jene Grundannahme entfiel mit dem Übergang vom konstitutionellen zum demokratischen Staat. Demokratie geht eben nicht von der ideellen Einheit, sondern von der realen Vielfalt der Anschauungen, Interessen und Bedürfnisse aus. Sie begreift jeden einz.elnen Bürger als Subjekt von Bedürfnissen und Rechten; und zwar nicht nur auf dem

3. Sozialer Ausgleich und demokratisches Verfassungsrecht

125

ökonomischen, sondern gerade auch auf dem politischen Sektor. Die Interessenvermittlung durch ideell prästabilisierte soziale Gewalten entfielsomit ersatzlos zugunsten eines Systems allseitiger Berücksichtigung und Mitwirkung der Individuen und ihrer freiwillig gebildeten Zusammenschlüsse. J.eder einzelne ist somit potentiell in den Prozeß der Willens- und Entscheidungsbildung im Gemeinwesen einbezogen. Nicht mehr seine vorab idealtypisch definierten Interessen, sondern seine realen Bedürfnisse und Ansprüche gehen in diesen Prozeß ein. Damit verloren zugleich die tragenden Grundprinzipien des konstitutionellen Ausgleichs- und Vermittlungsverfahrens ihre Berechtigung. Das galt zunäch.st für die Gesetzgebung als organisiertes Zusammenwirken dreier unterschiedlicher Gewalten. Solche Gewalten wurden in der Demokratie nicht mehr vorausgesetzt und waren dementsprechend auch nicht mehr organisiert. Die Tripolarität der Legislative wandelte sich konsequent zu einem pluralen Verfahren innerhalb eines einzigen Organs, des Parlaments. Dieses repräsentierte das ganze Volk und nahm somit als oberstes Staatsorgan die Aufgabe der Legislative alleine wahr. Für die Gesetzgebung äußerte sich der Übergang vom konstitutionellen zum demokratischen System durch die Ersetzung des legislativen Gewaltenpluralismus durch den Gewaltenmonismus eines einzigen Gesetzgebungsorgans, des Parlaments. Funktionslos wurde zugleich die maßgebliche Abstimmungsregel des Konstitutionalismus, das Einstimmigkeitsprinzip. Wenn nicht mehr drei ideell formierte Gewalten, sondern alle Bürger in den Vermittlungsprozeß einbezogen werden, ist Einstimmigkeit irreal und nicht mehr praktikabel. Weder kann sich jeder einzelne Bürger zu jedem Gesetz überhaupt eine eigene Meinung bilden, noch wäre in einem solchen Falle Einstimmigkeit zu fordern oder zu erwarten. Mit der Berücksichtigung j-edes einzelnen geht eine derart große Zahl von Sonderinteressen in die kollektive Willens- und Entscheidungsbildung ein, daß Einstimmigkeit überhaupt nicht oder erst am Ende eines unendlich andauernden Ausgleich.sprozesses zu erwarten wäre. Zudem ist das Einstimmigkeitsprinzip im demokratischen Staat unpraktikabel, da das Votum aller Bürger kaum je empirisch festgestellt werden kann. Dementsprechend wurde das Konsensprinzip vom Mehrheitsprinzip abgelöst. Dieses ist elementare Funktionsbedingung jedes demokratischen Staates, der ein pluralistisches Gemeinwesen voraussetzt. Daraus resultiert ein wesentlicher Unterschied des demokratischen Vermittlungsprozesses gegenüber seinem konstitutionellen Vorläufer. Im konstitutionellen Staat hatte jedes Interesse bei jeder Sachentscheidung wegen des Konsensprinzips die Möglichkeit, in das Entscheidungsergebnis unmittelbar einzugehen. Kein Gesetz war real möglich, ohne

126 VI. Richterliches Prüfungsrecht als Garantie des sozialen Kompromisses sämtliche der als berechtigt anerkannten Interessen in seinem Inhalt zu berücksichtigen. Das Ende des Konsensprinzips bewirkt hier: Im Wege der Mehrheits- und Minderheitsbildung hat nunmehr jegliche Position nur noch die Möglichkeit, in den Abstimmungsvorgang einbezogen zu werden. Das Vermittlungsbedürfnis endet, sobald eine Mehrheit konstituiert ist. Ist in der Abstimmung eine Anschauung in der Minderheit geblieben, so bleibt sie im Gesetz selbst unberücksichtigt. Abstimmung begrenzt und beendet so den Ausgleichsprozeß; Konsensbildung ist nur insoweit erforderlich, als dies zur Mehrheitsbildung ausreichend ist4• Dieser Problematik läßt sich demokratie-immanent auf zweifache, einander ausschließende Weise begegnen. Der erste Weg hierzu ist die Ineinssetzung von Volk und Mehrheit. "Volksherrschaft" heißt sodann Mehrheitsherr·schaft in dem Sinne, daß Volkswille und Mehrheitswille notwendig identisch sind. Minderheits-, Sonder- und Partikularinteressen sind damit definitorisch aus dem Volkswillen ausgegrenzt; der Volkswille ist notwendig der Mehrheitswille, der Mehrheitswille ist notwendig der Volkswille. Dementsprechend bedürfen Minderheiten weder irgendwelcher Sonderrechte noch eines besonderen Schutzes. Verfassungsrechtliche Bindungen der demokratischen Staatswillensbildung können sich somit auf Organisations- und Verfahrensnormen beschränken, welche faire Mehrheitsbildung und Abstimmung verbürgen. Derartige Konzepte erinnern an identitäre Demokratiekonzepte, welche die Abstimmung lediglich zur Ermittlung des "wahren" oder "eigentlichen" Volkswillens zulassen. Umgekehrt setzt sich ein solches Verständnis dem Vorwurf der "Tyrannei der Mehrheit" aus. Andererseits kann der Volkswille auch auf die gesamte Bevölkerung erstreckt werden, also Mehrheit und Minderheiten einbeziehen. In diesem Fall ist er auch in Einzelfragen kein einheitlicher, sondern notwendig ein pluraler. Nicht nur Majorität und "Regierungslinie", sondern auch Minorität und Opposition nehmen am Volkswillen teil. In diesem Falle ist das Mehrheitsprinzip lediglich AbstimmungsregeL Es dient weder zur Ermittlung noch zur Hervorbringung "des Volkswillens", sondern zur Entscheidung zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb eines inhaltlich pluraIen Willens. Ist demnach definitionsgemäß auch die Minderheit Volk und der Minderheitswille Volkswille, so ist eine Ineinssetzung von Mehrheit und Gesamtheit unzulässig. Vielmehr ist die Minderheit gleichbel'echtigt, gleich schutzwürdig und besonders schutzbedürftig. Zwar wird der Mehrheitswille Gesetz; das Gesetz ist allerdings an die für berücksichtigungsfähig erklärten Interessen der Minderheiten gebunden. Dies impliziert einen nicht nur formellen, sondern zugleich materiellen Minderheitenschutz. Demokratische Mehrheitsregel und for4

Vgl. hierzu Gusy, AOR 1981, 342 ff. mwN.

3. Sozialer Ausgleich und demokratisches Verfassungsrecht

127

melle wie materielle Grundrechte ergänzen einander in diesem pluralistischen Demokratiekonzept. Beide Konzeptionen demokratischer Willens- und Entscheidungsbildung begründen unterschiedliche Einschätzungen des richterlichen Prüfungsrechts. Die Ineinssetzung von Volkswillen und Mehrheitswillen leitet jedes Gesetz unmittelbar vom demokratischen Souverän, dem Volk, ab. Ist hier der parlamentarische Willensbildungs- und Entscheidungsprozen die höchste Vermittlungsinstanz im Staat, so kann jenes Kon~ept keinerlei Berechtigung anerkennen, das Parlament als Repräsentanten des Souveräns inhaltlichen Bindungen zu unterwerfen. Folglich kann es auch keinen berufeneren Hüter des demokratischen Staates geben als das Parlament. Das gilt um so mehr, als Verfassungs- und Gesetzgebung über denselben Legitimationszusammenhang verfügen. Besteht danach kein theoretisch zulässiges Unterscheidungskriterium zwischen Verfassung- und Gesetzgebung, so liegen die Voraussetzungen für ein richterliches Prüfungsrecht nicht vor. Die dafür notwendige Bedingung, nämlich die Separierung von verfassunggebender und gesetzgebender Gewalt, ist eben nicht aufweisbar. Dementsprechend muß sich hier das Prüfungsrecht auf formelle Verfahrenskontrolle und die Sicherung parlamentarischer Entscheidungen gegen Aushöhlung oder Konterkarierung durch exekutives Verordnungsrecht beschränken. Insoweit würden demnach keine Änderungen gegenüber dem konstitutionellen Verfassungssystem eintreten. Demgegenüber basiert das andere, pluralistische Demokratiekonzept auf der Entgegensetzung von Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz. Jene Garantien für Minderheiten können und dürfen nicht erst durch Gesetz begründet sein, sondern müssen dem Gesetz vorausliegen und gegenüber Mehrheitsentscheidungen eingriffsfest sein. Ein solches Konzept bedingt demnach den Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz. Verfassung- und Gesetzgebung sind ebenso voneinander zu trennen wie Verfassung und Gesetz selbst. Soll der Minderheitenschutz auch gegenüber der Legislative wirken, muß diese an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden sein. Eine solche Bindung bedarf zu ihrer Realisierung einer verfahrensmäßigen Absicherung. Diese kann nicht durch die rechtsgebundene Instanz selbst gewährleistet werden, sondern muß unbeteiligt Dritten zur Aufgabe gemacht sein. Hier ist der Standort des richterlichen Prüfungsrechts als unabhängiger Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einfacher Gesetze. Demnach bedingt Demokratie nicht notwendig den Vorrang der Verfassung; ebensowenig bedingt sie notwendig das richterliche Prüfungsrecht. Vielmehr ist es nur ein bestimmtes Vorverständnis demokratischer Willens- und Entscheidungsbildung, welches folgerichtig eine gerichtliche Normenkontrollbefugnis eröffnet. Die Gleichsetzung von

128 VI. Richterliches Prüfungsrecht als Garantie des sozialen Kompromisses

Volks- und Mehrheitswillen schließt das Prüfungsrecht aus, die Anerkennung eines pluralistischen Volkswillens mit Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz erfordert sie hingegen unabweislich.

4. Sozialer Ausgleich und Weimarer Reichsverfassung Die WRV hatte sich weder zu dem einen noch zu dem anderen Demokratiekonzept ausdrücklich bekannt. Dieser Umstand ist keineswegs ungewöhnlich. Unter den geltenden Konstitutionen westlicher Prägung findet sich keine, die in jenem Streit explizit Stellung bezieht. Vielmehr ist ihr jeweiliges Konzept von Volkswillensbildung und -entscheidung lediglich durch Auslegung einer Vielzahl von Einzelbestimmungen induktiv zu ermitteln. Jene Auslegung war denn auch der Gegenstand des Methodenstreites, wobei zumindest einige Beteiligte allerdings Zirkelhaft argumentierten: nachdem sie zunächst ihr Demokratiekonzept an die WRV herangetragen hatten, entnahmen sie dieses anschließend den Einzelnormen. So wurde denn auch das richterliche Prüfungsrecht zumeist nicht aus konkreten Bestimmungen des geltenden Verfassungsrechts, sondern vielmehr aus allgemeinen Aussagen über Staat und Recht deduziert. Ein solches Vorgehen wurde ihnen durch den aufgezeigten Zusammenhang zwischen Demokratiekonzept und Prüfungskompetenz erleichtert.

So war der Streit um das Prüfungsrecht zugleich der Streit um die Weimarer Reichsverfassung. Eine historische Untersuchung kann und soll nicht entscheiden, welches Demokratiekonzept von der WRV zugrundegelegt wurde. Auch ist es gegenwärtig müßig, nach der historischen Richtigkeit der einen oder anderen Anschauung zu forschen. Jedenfalls bot die Offenheit, welche viele Bestimmungen des damaligen Verfassungsrechts auszeichneten, unterschiedlichen Vorverständnissen Einfluß- und Wirkungsmöglichkeiten. Dies galt um so mehr, als tatsächlich das höchste demokratische Staatsorgan, das Parlament, in der Früh- wie in der Spätzeit der Republik praktisch handlungsunfähig war bzw. durch kooperationsunwillige Regierungen ausgeschaltet wurde. Dementsprechend lag der Ruf nach extremen oder radikalen .,Lösungen" nahe. Die dargestellten Demokratiekonzepte haben jedoch aufgezeigt, daß demokratische Staatsform und richterliches Prüfungsrecht nicht notwendig Gegensätze sein müssen. Deutlich zeigt dies insbesondere die Anschauung Kelsens. Daß das Prüfungsrecht auch aus undemokratischen Motiven oder zur Schmälerung demokratischer Entscheidungskompetenz postuliert werden konnte, ist damit allerdings theoretisch gleichfalls nicht ausgeschlossen.

4. Sozialer Ausgleich und Weimarer Reichsverfassung

129

Jedenfalls in Deutschland entwickelte sich das richterliche Prüfungsrecht nicht in notwendiger Parallelität zum Vorrang der VerfassungS. Das positive Verfassungsrecht der WRV wurde zur Begründung einer solchen Kontrollkompetenz auch zumeist gar nicht herangezogen. Vielmehr ergaben sich derartige Begründungen zwangsläufig aus vorausgesetzten Staats- und Verfassungskonzepten, welche ihrerseits von außen an die WRV herangetragen worden waren. Sie - und nicht eine geltende konkrete Rechtsnorm - wurden stets als Begründung justizieller Normenkontrolle genannt. Ebenso deutlich wird dieser Ableitungszusammenhang an den thematisierten Prüfungsmaßstäben. Nicht einzelne Verfassungsbestimmungen mit ihren durch Auslegung zu ermittelnden Inhalten, sondern allgemeine Gerechtigkeitspostulate oder das Rechtsprinzip schlechthin waren die meist erwähnten Kriterien. Deutlich zeigte dies auch die Praxis des Reichsgerichts, welche überwiegend an Gerechtigkeitsformeln anknüpfte, die es dem Gleichheitssatz "entnahm", oder an wohlerworbene Beamten- oder Eigentumsrechte. Richterliches Prüfungsrecht war demnach "Rechtmäßigkeitsprüfung", nicht Verfassungsmäßigkeitsprüfung. Der Vorrang der Verfassung nahm demgegenüber lediglich periphere Bedeutung ein. Ob beide dargestellten Konzeptionen des Volkswillens tatsächlich demokratischer Natur im Sinne der Voraussetzung eines pluralistischen Gemeinwesens sind, kann und braucht hier nicht diskutiert zu werden. Jedenfalls war die WRV eine demokratische Verfassung. Demgegenüber hatte sich die Staatsrechtslehre bis 1933 noch keineswegs von den wissenschaftlichen Kategorien verdemokratischen Verfassungsdenkeng gelöst. Monarchische, konstitutionelle und demokratische Elemente standen hier unverbunden nebeneinander. Hier wirkte die Kontinuitätsthe6e des Reichsgerichts problementlastend, aber nicht problemlösend. Im Ergebnis blieb das richterliche Prüfungsrecht umstritten wie die Weimarer Demokratie selbst. Beide verschwanden 1933 gemeinsam. Das neue System der Interessenvermittlung bedurfte ihrer nicht mehr.

s Dazu Wahl, DSt 1981, 499 ff. 9 Gusy

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