Rhetorik und Wissenspoetik: Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic 9783839461181

Literarische Texte sowie Modi der Wissensdarstellung können nicht nur mit Hilfe von neorhetorischen Begriffen (Verfremdu

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Rhetorik und Wissenspoetik: Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic
 9783839461181

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Renate Lachmann Rhetorik und Wissenspoetik

Lettre

Für Peter L.

Der Hochschul- und Landesbibliothek Fulda danke ich für die Abdruckgenehmigung.

Renate Lachmann (Prof. em. Dr.) ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Academia Europaea. Sie hatte bis 2001 den Lehrstuhl für Slavische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz sowie zahlreiche internationale Gastprofessuren (Tel Aviv, Yale, Irvine, Chicago, Stockholm, Prag, Moskau) inne und war Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin und am IFK Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gedächtnis, Rhetorik, Phantastik und Ikonoklasmus.

Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergović

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Athanasius Kircher, »Arbor philosophicus«, aus: Ars magna sciendi, 1669, Hochschul- und Landesbibliothek Fulda Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6118-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6118-1 https://doi.org/10.14361/9783839461181 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte 1.

Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«.................................. 9

2.

Evidenzeffekte in Texten der Phantastik ................................................ 35

3.

Memoria – Kultursemiotisch Gesehen ................................................... 47

4.

Russische Ästhetische Terminologie.................................................... 59

5.

Metaphern der Kreativität: Textgenesen ................................................ 75

Strategien der Einverleibung 6.

Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe ......................................... 95

7.

Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei ................................................... 117

8.

Heine in russischen Versionen ..........................................................145

Texte und Emotionen 9.

Dostoevskijs Passionen und die Affektenlehre .......................................... 173

10.

Die Rhetorik der Rührung ............................................................... 191

11.

Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović ............... 203

12.

Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić ..................................................... 225

Verborgenes und Manifestes 13. Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur...................................... 245 14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik............................................. 265 15.

Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis ...................................... 289

16.

›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit) Ein dualistisches Motiv in altrussischen Texten ........................................... 319

17.

Verwandlungen: Kržižanovskijs Kopfspiele.............................................. 341

18.

Traumerzählung und Traumkonzept – von Puškin bis Kiš............................... 355

Versuche im Umgang mit dem Wissen 19.

Die Ordnungskraft der Triaden ......................................................... 377

20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert (Athanasius Kircher und Johann Amos Comenius) ........................................................... 391 21.

Die Rhetorik der ›Seelenbildung‹ in Comenius’  Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens ........................................... 439

Nachtrag 22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung Analyse im Stil Roman Jakobsons ....................................................... 459

Quellenangaben der Erstveröffentlichungen Ursprüngliche Titel der Erstveröffentlichungen ............................................. 473

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

Für manche Konzepte der Literaturwissenschaft mag gelten, dass sie erst in der Migration von Kontext zu Kontext, oft von Disziplin zu Disziplin, ihre Konturen allmählich gewinnen. Das lässt sich besonders an Migrationen von Ost nach West- und umgekehrt beobachten. Eine der ersten prominenten Ost-West-Wanderungen setzte mit der Rezeption der formalistischen Poetologie in den 1960er Jahren ein. Deutsche, englische und französische Versuche, die Begrifflichkeit jeweils ins eigene Idiom zu übersetzen, zeigen zugleich die Bemühung an, sie in einen bestehenden Wissenschaftskontext einzufügen. Das gilt bereits für den sehr allgemeinen Begriff priem, der mit procédé, stratégie, procedure, strategy, mit Verfahren, aber auch Kunstgriff (Šklovskij 1966) übersetzt wurde. Die von Jurij Striedter und Wolf-Dieter Stempel Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in Konstanz vorgelegte umfangreiche zweisprachige Edition von Texten der russischen Formalisten (Striedter and Stempel 1969, 1972) erlaubte, die Originalterminologie mit der Übersetzung zu vergleichen, und war damit den Übertragungen von Arbeiten Šklovskijs, Eichenbaums und Tynjanovs, in diesem Punkt überlegen. Die Striedter-Stempelsche Unternehmung bereitete in einer Zeit literaturtheoretischer Neubesinnung, genauer: Krise, mit ihren wegweisenden vielzitierten Einleitungen ein theoretisches Feld, das fortan vielfach beschritten und bearbeitet wurde. Das Interesse galt insbesondere dem Verfremdungsbegriff, der Konzeption literarischer Evolution im Sinne einer Ablösung der Systeme (smena sistem), dem Gedanken der Automatisierung und Desautomatisierung der Formen, dem Entwurf einer Theorie der Poetizität, und dem narratologisch relevanten Konzept der Sujetfügung, (sjužetosloženie).

1.1 Begriffe kursieren in unterschiedlichen Abstraktionsstufen bzw. -zuständen und schlagen dabei unterschiedliche Wanderwege ein. Das Konzept ›Verfremdung‹ (ostranenie)

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

war ein besonderer Migrationsfall mit seiner Wechsel-Geschichte zwischen Deutschland und Russland in den 1930er Jahren – zwischen Brecht und Šklovskij. Mehrere Theorie-Interessen wirkten an seinen Konturen, wobei so etwas wie ein Ausgangsbegriff, semantisch durchaus nicht eindeutig, in Konstellationen mit anderen Begriffen eintrat. Als ein Begriff der techne im Sinne der aristotelischen Poetik und Rhetorik hat Verfremdung im Verbund mit anderen Begriffen, vor allem mit demjenigen der ›Entblößung des Verfahrens‹, (obnaženie priema), die formalistische Literaturtheorie attraktiv gemacht und damit eine Kunstauffassung vermittelt, die das Parodistische, Selbstbezügliche der Verfahren, die ›Literarizität‹ favorisierte, und hat später, in einem anderen Kontext, weltanschauliche Züge angenommen. Bei der Wiedergabe von ostranenie in anderen Sprachen kam es zu den bekannten Merkwürdigkeiten; etwa im Englischen als foregrounding (einen anderen semantischen Horizont eröffnend) oder estrangement (ostranenie nachbildend), im Französischen als étrangement aber auch aliénation, was zugleich als Übertragung von Entfremdung eingeführt ist und einen rousseauistisch-marxistischen Zusammenhang aufruft. Diese terminologischen Annäherungen an den Begriff und Entfernungen von ihm gehören in das Feld der Konnotationen mischenden Lesarten von Verfremdung. Bereits 1953 zeigte Dmitrij Tschižewskij (1953, 120-145) in seiner Analyse von Comenius’ Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens die Funktionen der Verfremdung als »negative Allegorie« und »inadäquate Perspektive« auf. In den literaturwissenschaftlichen Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts fand Verfremdung einen festen Platz. 1961 veröffentlichte R. Grimm (1961) die begriffsgeschichtliche Studie Verfremdung. Beiträge zu Wesen und Ursprung eines Begriffs, in der auf eine deutsche romantische Vorgeschichte (Novalis Diktum vom Poetischen als »die Kunst, auf angenehme Art zu befremden«), auf die Begriffe der Concettisten, acutezza, arguzia, und auf Giambattista Marinos far stupir verwiesen wurde. Wolfgang Kayser hat in Das Groteske (1957, 182f.) Chiricos Manier des render strano, Hauptverfahren der pittura metafisica, als Verfremdung qualifiziert. Der Begriff figurierte in Immanente Ästhetik (Iser 1966): C. Heselhaus (1966, 307-326) zog in »Brechts Verfremdung der Lyrik« Lessings Witzbegriff, Vischers Komisches, die alienatio aus Jakob Masens Dramenpoetik heran, Jurij Striedter (1966, 263-296) stellte in seinem Beitrag »Transparenz und Verfremdung«, die Semantik der Verfremdung in Jesenins Lied vom Brot heraus. J. W. Wissmann (1966, 327-366) ließ Verfremdung als Hauptverfahren der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinen in »Collagen oder die Integration von Realität im Kunstwerk« und in »Pop-Art oder die Realität als Kunstwerk« in Die nicht mehr schönen Künste (1968, 507-530).

1.2 Der Begriff war gewissermaßen poetisch-hermeneutisch etabliert und wurde ubiquitär in Analysen und Interpretationen von Texten aus unterschiedlichen Perioden. Die ursprünglichen Pointen der Šklovskijschen Theorie standen dabei nicht im Mittelpunkt des Interesses ebenso wenig wie die verwickelte terminologische Geschichte des Begriffs. Šklovskijs ›erschwerte Form‹, sein Bezug auf Aristoteles’ glotta (Poetik Kap. 22) mit ihren die Erschwerung der Form ermöglichenden Verfahren, die Šklovskij für deren

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

Bewusstmachung benötigte, nachdem ihm die Lektüre der Tagebuchnotiz Tolstojs vom 1. März 1897 die Augen für den Verlust des Bewusstmachens geöffnet hatte, der eintritt, wenn Handlungen automatisiert sind, seine Rezeption der von Broder Christiansens in Philosophie der Kunst (1909) entwickelten Theorie mit den dominierenden Begriffen der Differenzqualität und Differenzempfindung, die ihm die Idee der Normabweichung als Qualität vermittelten, wurden erst Themen einer späteren Aufarbeitung, die auch der Stellung Šklovskijs im Kontext der russischen Literaturwissenschaft der 1920er Jahre galt. Was zunächst stattfand – zumindest in Deutschland, war die Lösung eines Theorieelements aus dem ursprünglichen Diskurs und die Abkoppelung des Begriffs von seinem Autor, ja die Abkopplung von seiner Nachgeschichte. Denn infolge der Verurteilung der formalen Schule von Seiten der Dominanz erlangenden Ausrichtung der offiziellen Literaturwissenschaft Ende der 1920er Jahre, die nicht zuletzt das Konzept des ostranenie betraf, fühlte sich Šklovskij offenbar zu einer Revision (ja, auch Rettung) des Begriffs veranlasst. Im Kapitel »Obnovlenie ponjatija« im zweiten Band seiner Povesti o proze von 1965 (eine Publikation früher entstandener Texte) qualifiziert Šklovskij seinen Begriff als unwahr und unoriginell, »неверен и неоригинален« (1965b, 305). Er sieht sich in Abhängigkeit von Novalis Fragmenten und stellt sich erneut in eine antike Tradition, indem er aus Aristoteles’ Rhetorik den Passus über die der Erhellung dienende Verrätselung zitiert. Mit der Selbstbezichtigung der Nicht-Originalität kann er seinen Begriff weiter ausbauen, vom Vorwurf der Selbstzwecklichkeit befreien und den Aspekt der Wirkung, im Sinne der Bewusstseinsschärfung, hervorheben, den er als »novoe videnie« im Kapitel »O novom videnii« (Šklovskij 1965b, 198-202) und als »zaostrivanie vosprijatija« (Šklovskij 1965a, 97) in den semantischen Raum des revidierten ostranenie einbezieht. Šklovskij führt noch einen weiteren Begriff ein, der ebenfalls einen Bezug zu Aristoteles zulässt, den des »udivlenie«, des In-Erstaunen-Versetzens, in dem das aristotelische thaumazein mitklingt. Im Kapitel »Ob udivlenii« (Šklovskij 1965a) heißt es: »Удивление – начало жизни«. (1965a, 206) Und: »Удивление – одна из целей, достигаемая построением событий, их последовательностью и противоречью взаимоотношения« (1965a, 201). (Erstaunen ist Beginn des Lebens; In ErstaunenVersetzen ist eines der Ziele, das durch die Konstruktion von Ereignissen, ihre Abfolge und die Widersprüchlichkeit ihrer Wechselbeziehung erreicht werden kann). Nicht mehr »priem«, Verfahren, Kunstgriff, heißt es in diesem Kontext, sondern »sposob«, Art, Weise. In Band 2 der Povesti nimmt er den neuen Begriff nochmals auf: mit »udivlenie« und »sceplenie« (das ist der Tolstojsche Begriff, der für sein Konzept des »sjužetosloženie« prägend war) beginne der Vorgang des Bewusstmachens (Šklovskij 1965b, 303). Auch zu Brecht stellt er eine Verbindung her, indem er in »Obnovlenie ponjatija« (Šklovskij 1965b, 298f.) das Verfahren der otodvinutost’ hervorhebt, ein Verfahren des Wegrückens, der Distanzherstellung zwischen Zuschauer und Bühne, das Brecht in seine Theaterpraxis eingeführt und als otčuždenie bezeichnet habe. Die Vermittlungswege zwischen Šklovskij und Brecht sind allerdings keineswegs gradlinig,1 erschwert durch die Terminologie. John Willett (1959) vermutet, Brecht ha1

John Willett (1959) vermutet, Brecht habe den ostranenie-Gedanken 1935 kennengelernt, seine erstmalige Verwendung tauche bei ihm ein Jahr später als Verfremdung auf und sei der Begriff für

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

be den ostranenie-Gedanken 1935 kennen gelernt, seine erstmalige Verwendung tauche bei ihm ein Jahr später als Verfremdung auf und sei der Begriff für ein zentrales seine Theaterpraxis bestimmendes Verfahren (das durch die russische Avantgarde mitbestimmt war). Im Deutschen wird das just in den 1930er Jahren, als Brecht in der Sowjetunion weilte, verpönte ostranenie mit ›Verfremdung‹ wiedergegeben, während Brechts Verfremdung im Russischen mit otčuždenie übersetzt wird, was zugleich die klassische Übersetzung des philosophischen Begriffs der ›Entfremdung‹ ist. Dass bei Brecht eine Marxlektüre auch den Entfremdungsbegriff als gesellschafts- und bewusstseinskritischen eingebracht hat, macht diese terminologischen Vermischungen nicht einfacher; Bloch führt im Falle Brechts Entfremdung und Verfremdung (eine in andern Sprachen nicht mögliche Zwillingsbildung mit Wortspielcharakter), d.h. Gesellschaftskritik und Theaterpoetik, zusammen. (Bloch 1962) Šklovskij nimmt eine der Konnotationen von otčuždenie in seinen revidierten Begriff auf, wenn er das Aufdecken von Verfälschungen, die Distanz zwischen Gegenstand und Betrachter als Strategien auf dem Weg zum richtigen Erkennen, zu neuer Wahrnehmung empfiehlt. Es ist, als wolle er mit der Betonung dieser bewusstseinskritischen, das Sozialkritische streifenden Konnotation seinen neu konturierten Begriff zusätzlich legitimieren und auch auf den ursprünglichen positives Licht fallen lassen, wobei die Abhängigkeit zu Brecht, in die er sich selbst gebracht hat, nicht dementiert wird. Offener allerdings äußert er sich in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Seweryn Pollak (Szkłowski 1964) in dem er (umgekehrt) eine Abhängigkeit Brechts von seinem Begriff andeutet: »Den Terminus ›Verfremdung‹ (polnisch udziwnienie), den ich in den Jahren 1918-1919 schuf, hat, wie ich später erfuhr, seine Parallelen in einigen Aussagen der Romantiker, besonders bei Novalis. Bei Brecht klingt er wie ›Entfremdung‹, ›Wegrücken‹ (polnisch wyobcowanie, odsunięcie). Die Tatsache, dass er ostranenie als seine Wortschöpfung hervorhebt, scheint hier ebenso bemerkenswert als nachmalige Bekenntnis zum Begriff (und zur Sache) wie die Betonung jener Pointe des Verfahrens, die er bereits zuvor als die Spezifik der Brechtschen Theaterpraxis bezeichnet hatte, nämlich die otodvinutost’, (was die Rückübersetzung von odsunięcie ins Russische nahelegt). Bei der Revision seines Begriffs zitiert Šklovskij den zweiten Teil der Tagebuchnotiz von Tolstoj, den er 1918-1919 ausgelassen hatte, in dem es um die wechselseitige Bedingung von Bewusstsein und Freiheit geht: »Без сознания нет свободы, и без свободы не может быть сознания« (PSS, 53, 142) (ohne Bewusstsein gibt es keine Freiheit, und ohne Freiheit kann es kein Bewusstsein geben) »svobodosoznanie« sei das zu erringende Bewusstsein.

1.3 Es gab im Übrigen etliche Korrekturen an Šklovskijs Begrifflichkeit. Die Diskussion um die formgebende Funktion des priem, den Roman Jakobson zum alleinigen Akteur für eine rationale Literaturwissenschaft erklärt hatte und der in Šklovskijs Diktum vom ein zentrales seine Theaterpraxis bestimmendes Verfahren (das durch die russische Avantgarde mitbestimmt war).

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

Kunstwerk als Summe seiner Verfahren rangierte, wurde in Viktor Žirmunskijs Kritik an Šklovskij durch otnošenie korrigiert (Žirmunskij 1977, 35) Jurij Lotman kritisiert in seiner frühen Arbeit Lekcii po struktural’noj poetike, die rein innertextlich orientierte Konzeption des Kunstwerks als Summe der Verfahren, er sieht den priem-Begriff als einen relationalen, otnošenie, der das Innertertextliche mit dem Außertextlichen zu verbinden vermag (Lotman 1968, 155, 158, 161). Ohne Kenntnis der Revision des Begriffs durch Šklovskij und die Reaktivierung der Tagebuchnotiz, die den Bezug zu Tolstojs ›Freiheitsbegriff‹ herstellt, wandert Verfremdung in eine ›linksorientierte‹ Ideologie. Mit Verweis auf Šklovskij und seinen im Westen ›klassisch‹ gewordenen Begriff heißt es in Herbert Marcuses Versuch über die Befreiung (1969, 64): »Die Zerstörung der vertrauten Wahrnehmungsweisen, der radikale Bruch mit routinierten Weisen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge« sei die Voraussetzung für die »Befreiung«, nur »die Revolution der Wahrnehmung« könne zum »Umbau der Gesellschaft« führen, und es sei die »neue Sensibilität«, die dies verbürgen soll, indem sie den »falschen Automatismus« durchbreche. Marcuses Formulierung lässt eine gewisse Nähe zu Šklovskijs novoe videnie (vermittels udivlenie und zaostrivanie vosprijatija, Wahrnehmungsverschärfung) erkennen: im ›Neuen Sehen‹ ist der im ursprünglichen Begriff dominante poetologische Aspekt durch den gesellschaftskritischen, ja weltanschaulichen ergänzt, was die Verbindung zur neuen Sensibilität nachgerade plausibel macht – auf einem Umweg hat Verfremdung somit eine temporäre Brisanz in einem andern Kontext erlangt. Der eigentliche Verfremdungs-Diskurs konnte allerdings erst mit dem monumentalen Werk von Aage Hansen-Löve einsetzen, das dem Westen eine Theorie in ihrer Entstehungsphase, ihrer Logik, ihrer Verzweigtheit und ihrer Krise vorgeführt, für Russland aber ein verschüttetes Theoriegelände wiederentdeckt hat. In Russland ist es die Literatur-und Kulturtheorie, die davon profitiert und das Angebot des Diskurses angenommen hat. Der russische Formalismus (Hansen-Löve 1978) ist zu einem der meistgelesenen Bücher der westeuropäischen Slavistik geworden und hat damit auch den russischen Blick auf diese Szene der Formalismus-Rezeption gelenkt. In Deutschland blieb der Diskurs auf die theorieorientierte Slavistik beschränkt, während sich die allgemeine Literaturwissenschaft mit dem zufrieden gab, was sie vom Gegenstand schon zu wissen meinte.

1.4 Ein Begriff, ein Konzept kann nach einiger Zeit des Schlummerns eine plötzliche Aktualität gewinnen, verwandte Konzepte mobilisieren oder durch sie revitalisiert werden. »Нет ничего абсолютно мертвого: у каждого смысла будет свой праздник возрождения« (Bachtin 1979c, 373); »Es gibt nichts absolut Totes, jeder Sinn wird seine Auferstehung feiern«, schreibt Michail Bachtin ein Jahr vor seinem Tod. Die Rezeption seines Werks bestätigt diese Verheißung. Die Auferstehung des in seinen Schriften akkumulierten Sinns begann allerdings bereits in den 1960er Jahren. Der geradezu gierige Griff des Westens nach dem Bachtinschen Karnevalskonzept bzw. seiner dual, aber nicht dualistisch angelegten Kulturtheorie in den späten 1960er

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

Jahren deutete auf einen Stillstand in der kulturellen Paradigmatik. Das durch Julia Kristeva gewissermaßen überraschend in den strukturalistisch-poststrukturalistischen Diskurs geworfene Konzept, le discours carnavalesque, führte zusammen mit der Rezeption des Dialogizitätsbegriff (wovon später noch die Rede sein wird) zu Modifikationen im Theoriehaushalt. In Le texte du roman (Kristeva 1970) wird Bachtins Rabelais-Buch zitiert, paraphrasiert und in einen eigenen Diskurs überführt, der die Bewegungen von offen und geschlossen, von offiziell und inoffiziell, von doktrinär und ungebunden mit vollzieht. Erst später wird Bachtins Rabelais-Buch ins Französische übersetzt. In den USA gerät Bachtin im Kontext der Dekonstruktivismus-Debatte in die Umklammerung postmoderner Theoreme zur Dezentrierung des Subjekts, zur Repräsentations- und Logozentrismus-Kritik, während die Slavistik in den Arbeiten von Michael Holquist, Katherina Clark, Caryl Emerson und Gary Saul Morson um die allmähliche Herstellung eines umfassenden Bachtin-Bildes bemüht war, ohne sich modischen Anforderungen zu unterwerfen.2 Gerade die genannten Autoren haben nach Russland zurückgewirkt, was ihre Beiträge in Bachtinskij Sbornik und in Dialog. Karnaval. Chronotop, den Publikationsorganen der russischen Bachtinologie, nachdrücklich belegen. Der viele Disziplinen tangierende Duktus der Bachtinschen Arbeiten, in denen heterogene Denktraditionen verschmolzen sind, aber auch die Polyvalenz der Begrifflichkeit, deren Spezifikum eine flottierende auslegungsbedürftige Metaphorik ist, mag ein Grund für die Mehrfachlesbarkeit seines Werks sein. Strukturalismus und Poststrukturalismus, Postmodernismus haben mit stets anderer Akzentsetzung sich seiner Thesen versichert, insbesondere die Körper- und Groteskespezialisten. In der Sowjetunion wurde Bachtin von Seiten einer neoslavophilen Gruppierung vereinnahmt, die ihn zum Verkünder eines allslavischen Heilsgedankens stilisierte. Die Kultursemiotik hat sich seiner Thesen konstruktiv nüchtern angenommen. Spektakuläre Kritik an dessen Kulturtheorie, insbesondere am Konzept der Karnevalskultur und des Grotesken hat Boris Groys (1989) in seinem viel beachteten und geschmähten Artikel »Grausamer Karneval. Michail Bachtins ästhetische Rechtfertigung des Stalinismus« vor einem deutschen Lesepublikum geübt. Groys’ Position, deren provokative Dimension – Sturz des als antistalinistischer Denker gefeierten Theoretikers – die Stringenz der Bachtinschen Argumentation verdeckte, gründet sich auf die Annahme einer ununterbrochenen von den futuristischen Manifesten bis zum Diktat des Sozialistischen Realismus führenden Entwicklung, die derjenigen von der vorrevolutionären zur nachrevolutionären Politik entspricht: Totalitarismus und Staatsterror als Manifestation des Karnevalesken und Grotesken. Wenn Groys Bachtin als einen stalinistischen Theoretiker, einen Theoretiker des Stalinismus vorstellt und die Karnevalsutopie als kulturelle Legitimation der Stalinschen Gewaltherrschaft, als kulturphilosophisches Pendant seiner Vernichtungsideologie, den Karneval als totalitären Anschlag aufs Individuum lesen lässt, macht er Bachtin zum Krypto-Stalinisten, dessen Gegenentwurf zum System einer monologisch-monolithischen Kultur, aus der alles Inoffizielle, Zentrifugale ausgemerzt ist, folglich demaskiert werden muss. Groys tut dies, indem er aus 2

Gerade die genannten Autoren haben nach Russland zurückgewirkt, was ihre Beiträge in Bachtinskij Sbornik und in Dialog. Karnaval. Chronotop, den Publikationsorganen der russischen Bachtinologie, nachdrücklich belegen.

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

Bachtins Konzept die Ambivalenz, die Polyphonie, das utopische Moment, die Idee der aufgeschobenen letzten Wahrheit streicht und das weltanschauliche Pathos des Karnevalskonzepts ignoriert: d.h. das Pathos eines angstfreien, herrschaftsfreien Raums, in dem das Lachen den Körper aus seinen individuellen Grenzen und seiner Unterwerfung unter die Zensur befreit. Der Attraktion des Lachprinzips, das die Regeneration des Gattungskörpers verspricht, der Idee einer zyklischen Wiederkehr des Exzesses, der sich in den konkreten Formen der Karnevalsriten als transitorische Gegenkultur zum Ausdruck bringt, war Groys nicht erlegen. Eben so wenig vermochte er einer ›karnevalisierten Schreibweise‹ etwas abzugewinnen, die mit Lizenzen für das Exzessive, Exorbitante, Schockierende und Spektakuläre operiert. Während die zuletzt genannten Punkte die BachtinRezeption in Frankreich und weitgehend auch in Deutschland und in Kanada (Bakhtin News Letter) bestimmte, und diese Aspekte inzwischen klingende Münze in allen Arbeiten geworden sind, die sich mit Leiblichkeit und Groteske beschäftigen, hat Groys (den dieser Umstand vermutlich irritiert hat) den in Karneval und Groteske virulenten Aspekt der Gewalt und des Terrors isoliert und zum zentralen Index des Gesamtentwurfs gemacht. Michail Ryklin wendet sich in seinem Beitrag »Ekstasis des Terrors« (1992, 35-40) nochmals dem Lachpinzip zu, das er in zwei Spielarten im Rabelais-Buch findet: dem »distanzierten (ambivalenten) Lachen und dem unendlichen (kosmischen) Lachen«, dessen Wirkung er im Bereich eines (von außen drohenden und nicht durch es mitverursachten) »Terrors« und des Phänomens der »kollektiven Körperlichkeit« sieht. Wie kaum jemand zuvor liest Ryklin das Rabelais-Buch als Trauma-Therapie. Groys’ Bachtin-Demontage passte wenig zur Gesamtausrichtung der russischen Bachtinologen, die sich in ihrem Bachtinskij laboratorij dem Werk, der Werkgenese, dem philosophischen Werdegang Bachtins verschrieben und die wissenschaftliche Herausgabe seiner Werke in Angriff genommen haben. Gleichwohl wurde Groys’ Beitrag »Totalitarnyj karnaval« (1997, 76-80) im Bachtinskij Sbornik, einem führenden Organ der russischen Bachtinologie, veröffentlicht, zusammen mit Beiträgen entgegengesetzter Orientierung (Günther, 56-75; Lachmann, 81-85)

1.5 Eine andere Richtung hatte die Bachtin-Rezeption durch die Betonung des axiologischen Aspekts seines Denkens bereits 1979 genommen, als Rainer Grübel in einer Schrift (1979, 48ff.), die als umfangreiche Einleitung zu Die Ästhetik des Wortes erschien, eine sowohl sprachphilosopische als auch ästhetiktheoretische Interpretation vorlegte. Mit der Diskussion der weitgehend deutschen philosophischen Vorgeschichte zum Dialogizitätskonzept, dessen Einbettung in die russische konzeptuelle Umgebung und der Darstellung der dialogischen Beziehungen (die weder auf linguistische, psychologische noch logische Bezüge reduziert werden können) als durch »Sinnkonvergenz« und »Sinndivergenz« im Text entstehende Faktoren vermochte er, der trivialisierenden Vereinnahmung des Konzepts entgegenzuarbeiten.

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

Die Rezeption der Bachtinschen Dialogizitätstheorie hatte Ende der 1960er Jahre allerdings auch Resultate erbracht, die sich in einem neuen Konzept verdichteten, dem der Intertextualität. Julia Kristeva, die aus einem theoretisch ›raffinierten‹ bulgarischen Milieu der Literaturwissenschaft stammt und eine hervorragende Kennerin der formalistischen und der kultursemiotischen Szene Russlands ist, hat Bachtin vergleichsweise früh gelesen und nach ihrer Emigration in die französische Theorieszene die Relevanz seiner Ideen just für diese, von den Poststrukturalisten eröffnete, Szene erkannt.3 In einem in der Vitebsker Vierteljahrschrift Dialog. Karnaval. Chronotop abgedruckten Interview berichtet Kristeva von der Lektüre des Dostoevskij- und des Rabelais-Buches, Anfang der 1960er Jahre in Bulgarien, wo diese Texte, wie andernorts, als Revolution rezipiert wurden, und ihrem Bestreben, den in Frankreich gänzlich unbekannten Bachtin vorzustellen und mit bestehenden Theorien zu verbinden (Kristeva 1995, 5-17). In Deutschland war es Horst-Jürgen Gerigk, der auf dem Heidelberger Slavistentag 1964 einem slavistischen Publikum nicht nur durch den Bericht vom (Wieder-)Erscheinen des Bachtinschen Dostoevskij-Buches, sondern auch durch eine Interpretation der darin entwickelten Dialogizitästhese eine Sensation bescherte. In der anschließenden Diskussion empfahl Dmitrij Tschižewskij der deutschen Slavistik im Zuge einer Bachtin-Rezeption das Beschreiten neuer Wege. Es dauerte einige Zeit, bis die nichtslavistische deutsche Literaturwissenschaft in der aus Frankreich importierten Intertextualität auch die Rolle des Dialogischen und die russischen Wurzeln der Theorie zur Kenntnis nehmen konnte. In Frankreich geriet Bachtins Dialogizität in ein Theorienetz, dessen von Jean Starobinski geknüpfte Maschen nach Kristevas Arbeiten am Netz von Michael Riffaterre, Laurent Jenny, Gérard Genette und anderen aufgefädelt wurden, wobei deskriptive und theoretische Ansätze aneinanderrückten. Begriffe der Rhetorik, der linguistischen Poetik, Philosophie, Semiotik, des Strukturalismus und Poststrukturalismus und mythopoetische Positionen – Begriffe mit unterschiedlichem Generalisierungspotential – wurden aufeinander bezogen. Durch Rückbezüge und indirekte Bezugnahmen wurde auch im ›Ursprungsland‹, wenn auch mit anderer Terminologie, am Konzept gearbeitet: eine französische und eine russische Linie sind auszumachen, die in der Neulektüre der de Saussureschen Anagrammstudien sich zu berühren scheinen.

1.6 Kurz nach der 1963 erfolgten Neuauflage von Bachtins 1929 veröffentlichtem (bekanntlich verändertem und erweitertem) Dostoevskij-Buch hat Kristeva aus dem das Wort und den Text bestimmenden Dialogismus und den durch Starobinski explizierten Anagrammstudien ihr Konzept der Intertextualität und des Paragramms entwickelt, das

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In einem in der Vitebsker Vierteljahrschrift Dialog. Karnaval. Chronotop 2, (1995), 5-17, abgedruckten Interview berichtet Kristeva von der Lektüre des Dostoevskij- und des Rabelais-Buches, Anfang der 1960er Jahre in Bulgarien, wo diese Texte, wie andernorts, als Revolution rezipiert wurden, und ihrem Bestreben, den in Frankreich gänzlich unbekannten Bachtin vorzustellen und mit bestehenden Theorien zu verbinden.

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

den Einzeltext in einem Verweisungszusammenhang mit anderen Texten und deren Interdependenz als dialogische reflektiert, wobei ihre Argumentation die Logozentrismuskritik Jacques Derridas und die Sprachkonzeption Jacques Lacans miteinbezieht. D.h. der Bachtinsche Komplex der Dialogizität wird in einen damals aktuellen (interdisziplinären) Diskurs verlagert, wobei es zu Auslegungen Bachtinscher Gedanken kommt, die diese als Vorwegnahmen von Konzepten wie lecture/écriture, ambivalence, le double erscheinen lassen. In diesem Sinne heißt es bei ihr: Mais pour Bakhtine […] le dialogue n’est pas seulement le langage assumé par le sujet, c’est une écriture ou on lit l’autre (sans aucune allusion à Freud). Ainsi le dialogisme bakhtinien désigne l’écriture à la fois comme subjectivité et comme communicativité ou, pour mieux dire, comme intertextualité; face à ce dialogisme, la notion de ›personnesujet de l’écriture‹ commence à s’estomper pour céder la place à une autre, celle de ›l’ambivalence de l’écriture‹.« (Kristeva [1966] 1969b, 149).   Für Bachtin […] ist der Dialog nicht nur die vom Subjekt übernommene Sprache, sondern vielmehr eine Schreibweise, in der man den anderen liest (ohne Anspielung auf Freud). So bezeichnet der Bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als Kommunikativität, oder besser gesagt, als Intertextualität. In Anbetracht dieses Dialogismus verwischt sich der Begriff ›Person-Subjekt der Schreibweise‹ und macht einem anderen Platz: dem der ›Ambivalenz der Schreibweise‹. (Kristeva 1972, 351) (Darauf ist zurückzukommen). In den an die Anagramm-Studien von Ferdinand de Saussure anknüpfenden Entwürfen von Jean Starobinski (1971; dt. 1980), werden zwei Momente elaboriert, die mit den Begriffen Doppelkodierung und Interferenz zwischen latent und manifest eben jenen Bezug zwischen Wörtern und Texten meinen, der dem Konzept der Intertextualität zuarbeitet. Bei der Diskussion des Saussureschen Begriffs des mot-thème, als Vorgabe für den texte développé poétique, den Saussure selbst immer wieder mit anderen Termini umkreist (anagramme, anaphome, hypogramme, paragramme, paratexte), arbeitet Starobinski diesen Gedanken heraus: »Er dachte also an einen Text unter dem Text, einen Vor-Text.« (Starobinski 1980, 23). Auch die Antwort auf die Frage, was vor dem Text liege, nicht das kreative Subjekt nämlich und nicht der sprachliche Kode, sondern »das leitende, verleitende Wort« (Starobinski 1980, 152), »die vorhergehende Rede« (1980, 14f.), entwickelt Starobinski aus dem Anagramm-Konzept, das er so expliziert: »die Wörter des Werks [sind] aus anderen, vorgängigen Wörtern hervorgegangen […] und vom formenden Bewußtsein nicht unmittelbar gewählt.« (Starobinski 1980, 152). Starobinski unternimmt den Versuch, an de Saussures Stelle dessen zentrale These zu generalisieren, wenn er sagt: »Jeder Text ist eine Gesamtheit, aus der sich Untereinheiten entnehmen lassen; und diese können interpretiert werden: als latenter Inhalt oder Tiefenstruktur der Gesamtheit und als das Vorgängige der Gesamtheit«. (Starobinski 1980, 153) Die hieran anschließende Frage, ob nicht auch umgekehrt gelte, dass jeder Text (discours) gewissermaßen nur provisorisch eine Gesamtheit bilde – eine Geschlossenheit vorgebe –, gestattet die Vorstellung einer offenen Textkette, in der jedes Glied zunächst als das letzte (das vorangehende umschließend) gedacht werden kann, das je-

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doch durch Anschluss eines neuen Gliedes von diesem einverleibt wird usf. Das heißt, es gibt immer nur vorläufige Totalitäten, deren prekärer Status – Eingeschlossensein und Einschließen – einem Ort dazwischen, einem Schwellenort zwischen vergangener und zukünftiger Texttotalität entspricht. Solche Vorstellungen werden auch in anderen Kontexten entwickelt. Roman Timenčik (1981, 73) spricht von Pause, von zwischentextlicher Leerstelle, »mežtekstovoj probel«, die umspielt wird, wenn der neue Text sich dem alten anschließt, diese Leerstelle ist zugleich der Augenblick, das Atemholen (oder -anhalten) dazwischen, wenn der fremde andere Text verklungen ist, (otzvučal), und der neue noch nicht eingesetzt hat. Pause, Leerstelle, Atemholen- sie gehören zur Vorgeschichte des neuen Textes. Das »inter« in Kristevas intertextualité verweist ebenfalls auf dieses Dazwischen. Es gibt eine Reihe von Parallelen zwischen Starobinkis und Kristevas Anagramm-Lektüre, das betrifft den Aspekt der Verdoppelung und die Vorstellung des im manifesten Wort verborgenen anderen Wortes. Für Starobinski zeigt das Anagramm einen verborgenen Text an, dessen Verborgenheit jedoch durch lesbare Signale markiert ist. Der verborgene Text kann ein konkreter anderer (wie ursprünglich bei de Saussure), aber auch das Textkontinuum schlechthin sein, das sich durch jeden Text zieht, ihm vorausgeht und in das jeder Text mündet. Bei Kristevas Paragramm-Arbeit (1969c, 175; [1966] 1969b, 150; dt. 1972, 352), die ihre Herkunft im Titel nicht verleugnet, wird le double zum zentralen Konzept. In le double steckt der Ambivalenz-Gedanke von lecture/écriture ebenso wie der der Bachtinschen Zweistimmigkeit, des dvugolosoe slovo. Die ›Paragrammatik‹ repräsentiert gewissermaßen den Kode der Doppelkodierung, sie ist die Grammatik der Doppelzeichen. Le double umfasst aber immer auch die ausgeblendete, inoffizielle Sinnkomponente, das Verborgene. Die »science paragrammatique«, die Kristeva zu entwickeln vorschlägt, könnte die Forderung der Bachtinschen Metalinguistik (Bachtin [1935/1936] 1975, 111; 1963, 309ff.) einlösen, in der es darum geht, die doppelte Orientierung des Wortes zum Untersuchungsgegenstand zu machen. D.h. das Doppelzeichen (double, paragramme) würde in seiner doppelten Verweisstruktur an die Stelle des einfachen signe treten. Die Kristevasche Paragrammatik, als neue Disziplin der dialogischen Poetizität, führt die beiden aus der Bachtinschen Dialogizität herausdifferenzierten Aspekte des Doppelten und der Ambivalenz zusammen: »Le langage poétique est un dialogue de deux discours. Un texte étranger entre dans le réseau de l’écriture.« (181f.). Mit den beiden Konzepten intertextualite und paragramme versucht Kristeva, je eine Richtung des kompakten Dialogizitätskomplexes zu profilieren: Dialog zwischen den Texten als intertextualité und Dialog im Wort als paragramme. Die Bachtinsche Dialogizität – intertextuell und paragrammatisch interpretiert – ist hiermit für eine Dimension poetischer Sprache neu zur Geltung gebracht, die weder für den Roman noch für die Lyrik exklusiv reklamiert werden kann.

1.7 Zuvor hatte Roman Jakobson das unter dem Namen Valentin Vološinov veröffentlichte sprachphilosophische Werk, Marksizm i filosifija jazyka von 1929, ohne die Frage der

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Autorschaft zu diskutieren, frühere formalistische Positionen weiterführend und revidierend, seinen Gedanken vom »vyskazyvanie v vyskazyvanii« als Beitrag zur Dialogizität formuliert, wobei er einen wesentlichen Punkt der Anagrammatik einbezieht. Mit Rekurs auf Vološinov (1929, 136; dt. 1975, 178) formuliert Jakobson folgende These: »Virtually any poetic message is a quasi-quoted discourse/…/›speech within speech‹« (Jakobson 1968, 371) »quasi quoted discourse« und »speech within speech« sind Versuche, die fremde Rede im Rahmen eines Dialogizitätsmodells zu bestimmen. Die fremde Rede, die andere fremde Sinnpositionen reflektiert, ist der aktualisierten Rede implizit, antwortet ihr und macht sie ambivalent. Den Rede-in-der-Rede-Gedanken zitiert Jakobson im Zusammenhang seiner Darstellung des Shifter-Problems vollständig: »Reported speech is speech within speech, a message within a message and at the same time it is also speech about speech, a message about a message, as Vološinov formulates it.« ([1957], 1971, 130) Der Begriff des Dialogischen, der im Rahmen der Bachtinschen Theorie die Berührung zweier semantischer Instanzen und die sich daraus ergebende semantische Potenzierung des Wortes meint (nicht also den Primär-Dialog mit verteilten Rollen und entsprechender sprachlicher Instrumentierung), wird bei Jakobson durch Begriffe wie Doppelstruktur, Ambiguität, anagrammatischer Wert abgelöst. Die Rezeption der Saussureschen Anagramm-Studien wirken auch in Jakobsons Subliminal-Konzept nach (1970, 302-308; dt. 1979, 311-327). Jedes Element der poetischen Sprache umfasst einen manifesten und einen verborgenen Zeichenwert. Der anagrammatische Wert ist der Wert eines Wortes, der eine zweite Lektüre verlangt. Hier spielt die Vorstellung von einer vergessenen, unbewusst gewordenen oder verborgenen sprachlichen Regel, die die poetische Sprache auch ohne Wissen ihres Produzenten realisiert, ihre Rolle. Das heißt, in der poetischen Sprache zeichnet jede sprachliche Strategie eine latente Regel (subliminal pattern) mit auf, ein Gedanke, der den des Substrats von de Saussure aufnimmt. Die russische Bachtinologie war durch den Umstand bestimmt,4 dass Bachtin und genereller, der Bachtin-Kreis, von der Dialogizität in der Lyrik des Akmeismus und ihren Folgen für den Text-Text-Bezug keine konstruktive Notiz genommen, wie umgekehrt der Akmeismus die dialogische Prosapoetik Bachtins übersehen hat. Der Fall einer synchronen Entsprechung zwischen Theorie und Praxis, wie sie der russische Formalismus und Futurismus belegen (und – in Ansätzen – Postmoderne und Poststrukturalismus), ist von demjenigen einer frappanten Phasenverschiebung zu unterscheiden, wie sie die Beziehung der russischen postsymbolistischen Strömung des Akmeismus zu den ihr geltenden Theorien charakterisiert. Der erst vierzig Jahre später sich ergebende Kontakt entstand im Zuge einer (historisch begründeten) Neulektüre der Schriften des Bachtinkreises und der Lyrik der Akmeisten, speziell der Werke der Achmatova und Mandel’štams. Diese Neulektüre

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Der Fall einer synchronen Entsprechung zwischen Theorie und Praxis, wie sie der russische Formalismus und Futurismus belegen (und – in Ansätzen – Postmoderne und Poststrukturalismus), ist von demjenigen einer frappanten Phasenverschiebung zu unterscheiden, wie sie die Beziehung der russischen postsymbolistischen Strömung des Akmeismus zu den ihr geltenden Theorien charakterisiert.

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führte innerhalb der sowjetischen Semiotik zur Artikulierung eines neuen semantischen Modells, (s. auch Rusinko 1979, 213-235) das sich auf die Beziehung des manifesten Textes zu dem ihm unterliegenden latenten Text, dem Subtext, konzentrierte. Gleichzeitig entwickelte der amerikanische Slavist Kirill Taranovsky (1976, 18) aufgrund seiner Mandel’štam-Interpretation ein für die Analyse folgenreiches Instrumentarium, das ebenfalls dem Subtext galt. Vladimir Toporov (1981, 1-63) hat es unternommen, die fundamentalen Thesen de Saussures, die dieser selbst verworfen hatte, neu zu überprüfen und sie gegen die Skepsis ihres Autors zu vertiefen und weiterzuschreiben. Diese Wiederaufnahme des Anagrammgedankens aus analytischer Perspektive, die Flut von Untersuchungen über den Akmeismus, die der ›Erhebung‹ des von diesem vertretenen Lyrik-Paradigmas in den Stand eines solchen der Kultur (Levin et al. 1974, 42-82) galt, aber auch die zunehmende Komplexität im Bereich der Prosaliteratur – speziell im Fall der Werke Andrej Belyjs und Vladimir Nabokovs – führten zu einer neuen poetischen und poetologischen Episteme. Der mit der neuen Text-Episteme in einem komplexen Wechselverhältnis stehende Begriff der Intertextualität selbst erwies sich nun alles andere als luzid oder gar definitiv. Vielmehr hatte er in seiner konzeptuellen Verzweigung mit ihren jeweiligen terminologischen Konsequenzen irritierende Dimensionen angenommen. Doch selbst wenn die Vielzahl der in Umlauf gebrachten Unterbegriffe ihr deskriptives und analytisches Potential in divergierenden Diskursen entfalten konnten, lässt sich der gemeinsame Ursprung einer Fragestellung ausmachen. Das gilt für die im Anschluss an Julia Kristeva und Jean Starobinski im französischen Kontext, insbesondere in der Zs. Poétique 27 (1976)5 geführte oder die im New York Literary Forum (Parisier-Plottel and Charney 1978) dokumentierte amerikanische Diskussion ebenso wie für die Analysen Michel Riffaterres (1978; 1979a), die terminologische Systematik Gerard Genettes (1982) oder die zugleich theoretisch und analytisch ausgerichteten Anstrengungen eines der Bände von Semeiotike (Lotman 1981), des Publikationsorgans der Tartu-Moskauer Schule. Mit »Subtext«, »Hypotext«, »Hypertext«, »Anatext«, »Paratext«, »Intertext«, »Transtext«, »Text im Text« – im Verbund mit »Metatext« und »Autotext« – werden Aspekte der komplexen Erscheinung des Text-Text-Kontakts und des Vorgangs der Kontaktaufnahme benannt, der alle Texte erfasst – und dies suggerieren Starobinskis Lektüre von de Saussure ebenso wie Timenčiks Lektüre der Akmeisten und Bachtins Vorstellung von der gegenseitigen dialogischen Affizierung der Texte. Jurij Lotman (1969, 206-238) erweitert den Begriff des podtekst (in der Bedeutung von Subtext und Prätext) durch den der Transposition, transpozicija, indem er andere nichtsprachliche Zeichensysteme in den Dialog und Intertext-Austausch mit aufnimmt. Kristeva hat in ihren späteren Arbeiten den Begriff der intertextualité, der im Übrigen seinerseits bereits andere nichtverbale Systeme berücksichtigt, durch den Begriff transposition ersetzt.6

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Insbesondere in der Zs. Poétique 27 (1976). Vgl. auch Erika Grebers andere Zeichensysteme und Diskurstypen (etwa Musiktheorie) einbeziehende Arbeit Intertextualität und Interpretierbarkeit des Textes. Zur frühen Prosa Boris Pasternaks (1989).

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Dies ist allerdings nicht der Punkt, der einen Analytiker wie Riffaterre interessieren konnte. In seinem Ansatz geht es vielmehr um die Herausbildung einer Beschreibungsfigur, die in den Raum des Textes zurückführt. Aus der Verknüpfung eines rezeptionsorientierten mit einem textgenerativen Aspekt, die seinen Konzepten des semantischen Paragramms und der Syllepse vorausgeht, die beide unter Einbeziehung der Freudschen Überdeterminierung aus der Anagrammtheorie hervorgegangen sind, entwickelt er eine applizierbare Figur. Diese gilt dem spezifischen Befund intertextueller Konstruktion, der Doppelung, das heißt der Herstellung doppelt kodierter Textzeichen, dual signs. »Da die normale Bezeichnung (signification) diskursiv, d.h. sich in einer Linearität manifestierend und referentiell ist, kann sich die Bedeutung (signifiance) nur außerhalb der Linearität vom Sinn unterscheiden.« (Riffaterre 1979a, 75). Diese Vorstellung einer Doppelsinnstruktur des Textes (was an die doublesensedness von Jakobson erinnert, der hier nicht zitiert wird) wird in La Production du texte elaboriert und durch die Profilierung des Begriffs der Syllepse als trope mixte veranschaulicht (Riffaterre 1979b, 496-501). Die Syllepse als Schaltstelle von Text und »intertexte« (der Begriff wird nicht als aus dem von Kristeva geprägten Terminus abgeleitet kenntlich gemacht) wird zur rhetorischen Repräsentanz der Überdeterminierung und der Doppelkodierung: Das doppeltkodierte Element verweist auf die Syntax, die es konstituiert, das heißt auf eine präsente Zeichenreihe von textueller Konsistenz, und gleichzeitig – als Isotopiebruch – auf absente Texte. Brüche und Inkompatibilitäten, die das Doppelzeichen markiert, funktionieren wie Tropen, das heißt wie Abweichungen, nicht aber von einer Sprachnorm, sondern von der Norm des gegebenen Textkontinuums. Hier wird die Rolle des Lesers relevant, der die Abweichung bemerkt, wenn ihm das »paragramme intertextuel« (das Doppelzeichen – auch hier kein Verweis auf Kristeva) in einer ersten Lektüre verschlossen bleibt, und der sie im Aufdecken der Sinnspur in einer zweiten Lektüre kompensiert, die ihn über die Textgrenzen hinausweist. In Riffaterres der Lyrik gewidmeten Arbeiten wird die Verfeinerung der aus dem Kompositkonzept Intertextualität entwickelten Analysetechnik beispielhaft deutlich. Riffaterre zieht rhetorische Tropen und Figuren hinzu, deren Leistung, ›intertextuelle‹ Strukturen zu beschreiben, er quasi aufdeckt. Es ist im Übrigen signifikant, dass die Intertextualitätstheoretiker um die Aufrechterhaltung des Konzepts des letztlich einen Sinns bemüht bleiben. Laurent Jenny (1976, 262) setzt den »texte centreur«. Auf M. Arrivé (1973, 53-63) rekurrierend, spricht er vom »texte […] restant centré par un sens«. (Jenny, 267) zur Zähmung der intertextuellen Strategien ein; auch Riffaterres Intertexte aufspürende analytische Praxis zeigt im Aufweis der Syllepsen und der Doppelstrukturen eine vom autoritären Text verantwortete und in ›Grenzen‹ gehaltene Sinnkonstitution. Besonders die Versuche der Typologisierung, wie sie Genette vorlegt, sind in ihrer Bereitstellung eines deskriptiven Instrumentariums der Reakademisierung des Konzepts gewidmet. Die Entwicklung einer Metasprache der Intertextualität zeigt das Aufbegehren des Strukturalismus gegen ein die Struktur (des Einzeltextes) überschreitendes poststrukturales Denken an.

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1.8 Die Schriften Bachtins und Vološinovs arbeiten an der Profilierung dieses gegen den abstrakten Objektivismus, die Systemlinguistik gerichteten Konzepts, das immer wieder – vehement und unüberhörbar – das Sinnmonopol eines zentripetal geordneten Sprach- und Herrschaftsraums als Bedrohung des Wortlebens (des Lebens) anklagt. Erst die Exzentrik des Sinns, die Kreuzung der Wertakzente, die in der Äußerung intoniert werden, lassen die zentrifugalen Zeichenhandlungen zu, die den akkumulierten und den potentiellen Sinn aufzurufen vermögen. Die Diskussion um Bachtins (und Vološinovs) zeichentheoretische Thesen bezieht noch weitere Aspekte des Dialogischen mit ein, wobei nach der Art des dialogischen Geschehens und nach dessen Teilnehmern gefragt wird. Diesen Aspekt, das Konzept der Zeichengemeinschaft und Zeichensituation einschließend, haben wiederum die Autoren des Bachtinkreises (Vološinov 1926, 244-267; 1996, 60-87) aufgegriffen. Der Zeichenkontext, dem sich der Text einflicht, ist das noch nicht Text Gewordene, das Mitverstandene, »podrazumevaemoe« (Vološinov 1926, 250), das aufgrund einer gemeinsamen kulturellen Erfahrung Geltung besitzt. Der soziale Kontext als Zeichenkontext funktioniert wie ein ›Enthymema‹ (Vološinov 1926, 251) von Zeichen- und Texterfahrung, dessen sich der jeweils aktualisierte Text bedient. Das Sich-Einflechten des Textes in den Zeichenkontext markiert auch den kulturellen und ideologischen Ort, der die Funktionen der Zeichenkreuzung, die Funktionen der intertextuellen Organisation des Textes selbst offenlegt. Der Text erscheint somit im sozialen Kontext als ideologische Handlung (für Vološinov ist die ideologische immer und ausschließlich eine Zeichenhandlung), die in den Zeichenkontext eingreift. Auch Kristeva beschäftigt sich mit einer ähnlichen Frage: mit Begriffen wie »s’insérer« oder »s’inscrire« (Kristeva 1969c, 181) bestimmt sie die spezifische Bedeutungsleistung des Textes im Raum von Geschichte und Gesellschaft, des Textes in seiner Funktion als Ideologem. Es mag den Anschein haben, als verkehre Kristeva das dialogische Prinzip in ein autorloses, quasi autopoetisches und opfere den Aspekt der Autorschaft einem neu sich entwickelnden Diskurs, dessen ›Energie‹ hier seine Wirkung entfaltet. Rainer Grübel spricht in diesem Zusammenhang von »produktivem Missverständnis« und schärfer von einer »Ironie der Geschichte« (342). Die Stellen (einschließlich der oben bereits zitierten) bei ihr lauten: Mais pour Bakhtine […] le dialogue n’est pas seulement le langage assumé par le sujet, c’est une écriture ou on lit l’autre (sans aucune allusion à Freud). Ainsi le dialogisme bakhtinien désigne l’écriture à la fois comme subjectivité et comme communicativité ou, pour mieux dire, comme intertextualité; face à ce dialogisme, la notion de ›personnesujet de l’écriture‹ commence à s’estomper pour céder la place à une autre, celle de ›l’ambivalence de l’écriture‹ (Kristeva [1966] 1969b, 149).   Für Bachtin […] ist der Dialog nicht nur die vom Subjekt übernommene Sprache, sondern vielmehr eine Schreibweise in der man den anderen liest […]. (Kristeva 1972, 351) So bezeichnet der Bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als Kommunikativität, oder besser gesagt, als Intertextualität. In Anbetracht dieses

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Dialogismus verwischt sich der Begriff »Person-Subjekt der Schreibweise« und macht einem anderen Platz: dem der »Ambivalenz der Schreibweise« ([1966] 1969b 144, dt. 1972, 351). Ambivalenz meint die Doppelfunktion des Textes als »Schreibweise« und als »Lektüre des vorausgegangenen literarischen Korpus« und – radikaler noch – als »Absorption eines anderen Textes und als Antwort auf einen anderen«. Dieser Gedanke wird vielfach variiert: Der literarische Text erscheint als »Reminiszenz«, das heißt: »Hervorrufen einer anderen Schreibweise« und als »Transformation dieser Schreibweise«. (Kristeva 1969c, 181) Die lecture in der écriture schließt die Vorstellung des Schreibenden als Lesers des anderen als Schreibenden bzw. geschrieben Habenden nicht aus – so der erste Teil der These. Die Sinnkonstitution des Textes verliert, da sie sich in der Beziehung zum fremden Text erst herausarbeiten kann, ihren statischen Charakter und wird als Prozess vorstellbar: »Bakhtine est l’un des premiers à remplacer le découpage statique des textes par un modèle ou la structure littéraire n’est pas, mais ou elle s’élabore par rapport à une autre structure« (Kristeva 1969c, 144); »Bachtin gehört zu den ersten, die die statische Zerlegung der Texte durch ein Modell ersetzen, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt.« (Kristeva 1969c, 346) Der Autor ist in den Text, den er verantwortet, eingeschlossen, d.h. er ist in der Antwort auf den anderen Text (den Anderen), in dessen Absorption und Transformation, eingeschlossen. Kristeva schließt, ohne dies ausdrücklich zu tun, an ein Diktum Bachtins an, das die Vorstellung einer Autorlosigkeit zulässt: »Два речевых произведения, высказывания, сопоставленные друг с другом, вступают в особого рода смысловые отношения, которые мы называли диалогическими«; »Zwei Sprachkunstwerke, zwei Äußerungen, hintereinander gerückt, treten in eine Art semantischer Beziehung, die wir dialogisch nennen« (Bachtin 1979b, 297). Indem Bachtin den Text in der Dialogbeziehung zu den fremden Texten situiert und die aus diesem Kontakt entstehende semantische Reibung im Text selbst stattfinden lässt, unterstellt er diesem eine doppelte Bewegung. Der Text entsteht in der Überschreitung seiner Grenzen und zugleich der Rückkehr in seinen inneren Bezirk, in welchem er die dialogische Erfahrung mit den anderen Texten gleichsam ausfaltet. Eine solche Bewegung ist freilich kein Gegenstand textueller Deskription, sondern wird in einem (verstehenden) Lektüreprozess erst eigentlich vollzogen: Кажддое слово (каждый знак) текста выходит за его пределы. Всякое понимание есть соотнесение данного текста с другими текстами. […] Этапы диалогического движения понимания: исходная точка – даянный текст, движение назад – прошлые контексты, движение вперед – предвосхищение (и начало) будущего контекста. […] Текст живет, только соприкасаясь с другим текстом (контекстом). Толкко в точке этого контакта текстов вспыхивает свет, освещающий и назад и вперед, приобщающий данный текст к диалогу. (Bachtin 1979c, 364).   Jedes Wort (jedes Zeichen) eines Textes führt über seine Grenzen hinaus. Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten […]. Die Etappen dieser dialogischen Bewegung des Verstehens sind: Ausgangspunkt –

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der vorliegende Text, Bewegung zurück – die vergangenen Kontexte, Bewegung nach vorn – Vorwegnahme (und Beginn) des künftigen Kontextes. […] Der Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Texten erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen lässt. (Bachtin 1979d, 352f.) Auch in Bachtins Konzept des Gattungsgedächtnisses, das insbesondere für seinen Entwurf einer anderen Literaturgeschichte gilt, wird ein übersubjektiver Vorgang vorstellbar, in den der Autor als schöpferisches Subjekt eintritt und von dem er ergriffen wird. In der Geschichte der Menippea, die er von Lukian zu Dostoevskij verfolgt, versucht Bachtin, den Beweis für die Existenz eines »Gattungsgedächtnisses« zu erbringen (Lachmann 2006, 19-39). Subjektlosigkeit betrifft also die quasi energetische Wirkung, die Texte aufeinander ausüben, betrifft das Gedächtnis der Formen und das Geschehen, das sich im Wort als Dialog zweier Stimmen abspielt. Allerdings führt Bachtin an anderer Stelle in den den Dialog konstituierenden Verstehensprozess eine Personalisierung ein, die einen (wenn auch schwer eingrenzbaren) Subjektbegriff impliziert. »Personifikation (in der humanwissenschaftlichen Erkenntnis gegen die Verdinglichung gesetzt) ist jedoch keinesfalls Subjektivierung. Das Extrem ist hier nicht ›ich‹, sondern ›ich‹ in Wechselbeziehung mit anderen Personen.« (Bachtin 1979b, 354) Subjekt interessiert da, wo es im Dialog, in der Sinnkreuzung sich mit einem anderen trifft. »Sinn« ist personalistisch: in ihm liegen immer Frage, Appelle und Vorwegnahme der Antwort, in ihm sind immer zwei (als dialogisches Minimum) gegenwärtig. Es ist dies keine psychologische Personalität, sondern eine ›Sinn-Personalität‹. Das Abrücken von einem psychologischen Subjektbegriff (das in einer Auseinandersetzung mit zentralen Positionen der Freudschule gründet) (Vološinov 1927)7 indem statt Psyche Sinn, statt Subjekt Person, Personalität, Personifikation gesetzt werden, ist wiederum dem Dialog-Gedanken und dem des Sinnverstehens als eines Zeichenprozesses verpflichtet. Das sprechende, zeichenhandelnde Subjekt ist nie nur eines, es konstituiert sich als Person (als Stimme) im Wort des anderen. Das Wort wird so als zweiseitiger Akt und zugleich als Produkt dieses Aktes gesehen: »Jedes Wort drückt den ›einen‹ in Beziehung zum anderem aus«; »Im Wort gestalte ich mich vom Standpunkt des anderen« (Vološinov 1975, 146). Im Konzept des Fremden als des Anderen hat Ulrich Schmid (2008, 19f.) Spuren einer Rezeption von Theoremen Hermann Cohens festgestellt, die Bachtin über Matvej Kagan vermittelt wurden. In Cohens Ethik des reinen Willens (1904) heißt es: »Der Andere, der alter ego ist der Ursprung des Ich«. Tzvetan Todorov, mit dem nämlichen Gegenstand beschäftigt, hat im Kontext der französischen Diskussion, in der der Lacansche Begriff des Anderen relevant war, in seinem Beitrag »Bakhtine et I’alterité« (1979, 504) die Bachtinsche Dialogizität im Konzept der Subjektivität als Alterität und des Autors als des ›Anderen‹ zu begründen versucht und dies auf die paronomastische Formel »être«/»autre« reduziert.

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Vgl. die Auseinandersetzung mit der Freudschen Theorie bei V. Vološinov, Frejdizm – Kritičeskij očerk, Moskau-Leningrad 1927, s. auch Bachtin pod maskoj, Bd. 1, Moskau 1993.

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

Die westliche Rezeption der Dialogizität wird durch die unter dem Namen Vološinovs (und seiner vermutlichen Mitautorschaft) erschienene Schrift, auf die sich bereits Jakobson bezog, nuancenreicher, wobei Konzepte der Dekonstruktion eine Rolle spielen. Samuel Weber hat in seiner Vološinov-Lektüre – im Kontext der Derridaschen différence/différance und absence – auf die Äußerung als nachträgliches und vorläufiges Produkt der Interaktion hingewiesen: Als Übersetzung ohne Original ist die Äußerung eher Reproduktion denn Identität, differentielles Moment einer Übertragung […] sie ist Reaktion und Repetition, doch nicht als Abschwächung einer vorgegebenen Identität, sondern als Bewegung einer Differenz, die die Äußerung hervorbringt und sie gleichzeitig aufhebt und vernichtet (Weber 1975, 32). Doch ist auch »diese Punktualität fiktiv« (Weber 1975, 29). Der Begriff der Wertung oder des Wertakzents, der die Vorstellung einer vorläufigen Eindeutigkeit und Sinnentscheidung oder einer »Setzung, die ihre Entstehung und Beschaffenheit als Übersetzung vergisst oder vergessen machen will« (Weber 1975, 36), suggeriert, erscheint in dieser Interpretation als unverzichtbar für das Dialogizitätskonzept. Der Wertakzent konstituiert die verbale Interaktion als soziale, fungiert als Interpretant der Zeichenhandlung. Die Differenzen zwischen bestimmten Positionen in Marxismus und Sprachphilosophie und den Schriften Bachtins werden dabei übersehen: Während Vološinov in seinem Versuch einer marxistischen Auslegung verbaler Interaktion Zeichengeschehen als ideologisches Geschehen bestimmt und die militante Ablösung der Wertakzente, die Sinn als ›Interesse‹ artikulieren, verfolgt (das Wort als »Arena des Klassenkampfes«, Vološinov 1975, 71), geht es Bachtin um den Abbau auch der punktuellen Wertkonsolidierung. Das heißt, Spaltung und Differenzierung, Speicherung und Spur sind im Wort zusammenzudenken. Das Wort, das die Kontexte erinnert, durch die es gegangen ist, zeichnet die Spuren des Sinns auf, der in ihm intoniert wurde. Jeder neue Sinn, der in es eindringt, findet die Spuren vor: die Spaltung geschieht in der Akkumulation, die Akkumulation durch die Spaltung. Bachtins Weltmodell der wachsenden Zeichenkomplexion oszilliert zwischen vorweggenommener Utopie und utopischem Abschluss. »Bei den Erinnerungen berücksichtigen wir auch die nachfolgenden Ereignisse (im Rahmen des Vergangenen), d.h., wir rezipieren das Erinnerte im Kontext des unvollendeten Vergangenen.« Die Leugnung des ersten und des letzten Wortes lässt den Dialog in die »unbegrenzte Vergangenheit« und in die »unbegrenzte Zukunft« (Bachtin 1979d, 349-357) vordringen. Selbst ein vergangener, das heißt im Dialog früherer Jahrhunderte entstandener Sinn kann niemals stabil (ein für allemal vollendet, abgeschlossen) werden […]. In jedem Moment der Entwicklung des Dialogs liegen gewaltige, unbegrenzte Massen vergessenen Sinns beschlossen, doch in bestimmten Momenten der weiteren Entwicklung des Dialogs werden sie je nach seinem Gang von neuem in Erinnerung gebracht und leben (im neuen Kontext) in erneuerter Gestalt auf. Es gibt nichts absolut Totes: jeder Sinn wird – in der ›großen Zeit‹ – seinen Tag der Auferstehung haben. (Ebd.)

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Alle Prozesse der Dezentrierung, Pluralisierung und Zersetzung von Sinn, von denen die Rede war, implizieren den Begriff der Stimme als der Instanz, die jene Berührung von eigen und fremd in das Wort einspielt, das zweistimmige Wort (dvugolosoe slovo). Der innere Wortdialog ist Ergebnis der Zweistimmigkeit und, extremer, der Polyphonie. Hier lässt sich eine Diskussion des Konzepts der Stimme in Opposition und Nähe zu Derridas Konzept der Schrift anschließen. Gegen die Hypostase des Buchstabens hat Bachtin die Hypostase der Stimme gesetzt, die ›dargestellte‹ Stimme, die verschriftete Rede, die durch das Erkennen der Spur der Stimme deskriptualisiert oder genauer: entgrammatisiert wird. Ausgehend von der Stimme als Ambivalenz- und als Doppelstimme führt seine Idee zu einer Diaphonologie, nicht zu einer Grammatologie. Die Schrift Derridas als »differentielle Aufschubstruktur« und als »uneinholbare Nachträglichkeit« (Derrida 1967, 83; dt. 99; s. auch Hörisch 1979, 14) gibt der Bachtinschen Stimme ihre logoskritische Kontur. Die Schrift ist für Bachtin jene disziplinierende Kraft, die den Sinnpluralismus und die Vielstimmigkeit einebnet, zugleich aber die Schrift zum Speicher der Stimmen werden lässt; es gilt die Schrift zu deskriptualisieren, sie zum Klingen zu bringen. So bewegt sich die Stimme in einem Prozess zwischen Grammatisierung und Entgrammatisierung. In der Vielzahl der Intonationen, die den einen Sinn zersetzen, verstummt das Stimmwort in die Schrift, doch um eben diese Intonationen, die vielfach gekreuzten Sinnintentionen zu erfassen, bedarf es wiederum der ›lauten‹ Lektüre. Das heißt, die Sinnmasse bringt die ›phonetischen‹ Stimmen zum Verstummen und die Schrift, in die sie einsinken, zum Klingen. Während Vološinov für lautes Lesen plädiert, fasst Bachtin diesen Vorgang abstrakter: Es geht ihm um die Wahrnehmung der Stimmspuren, die in der schriftlichen Fixierung eine Art vorläufiger Eindeutigkeit ›erlitten‹ haben. Die Schrift ist ohne die zusätzliche Anstrengung, sie zu verstimmlichen, nicht dialogisch. Nur im Roman gelingt diese Verstimmlichung der Schrift und nur hier findet so etwas wie ein nicht abschließbarer Vorgang statt: Внутренняя диалогичность художественно-прозаического двуголосого слова никогда не может быть исчерпана тематически (как не может быть тематически исчерпана и метафорическая энерия языка). (Bachtin [1935/36] 1975, 139)   Daher kann sich die innere Dialogizität des zweistimmigen Wortes in der künstlerischen Prosa niemals thematisch erschöpfen (wie auch die metaphorische Energie der Sprache sich niemals thematisch erschöpfen kann). (Bachtin 1979d, 214)

1.9 Vitalij Machlin hat die westliche Bachtin-Rezeption genau verfolgt: In seiner 1993 in Voprosy filosofii publizierten Abrechnung »Bachtin i Zapad. Opyt obzornoj orientacii«, einer Rezeption der Rezeption, in der siebenundzwanzig Arbeiten (von 1988 bis 1991) besprochen werden, schneidet Michael Holquist am besten ab: er wird als wegweisend für eine taugliche westliche Rezeption und zugleich als Interpret verstanden, der auf die Ausgangsszene zurückwirkt. Holquist ist ein Mittler, nicht ein Vermittler nur. Für Machlin sind Konzeptgenese, die Verflechtung von Theorie-Elementen, die in anderen

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

Diskursen stattfinden, die Entstehung eines neuen Diskurses nicht von erstrangiger Bedeutung, ebenso wenig wie ihn die Rolle des Dialogizitätsgedankens für die Literaturwissenschaft interessiert. In dieser Darstellung wird die russische Geschichte der Religionspilosophie zum Ausgangspunkt Bachtins und letzterer mithin ein auf besondere Weise russischer Philosoph. In den Westen zurückgespiegelt, wird Bachtins kulturologisch-philosophische Terminologie Gegenstand einer Konzept-Archäologie, die in erster Linie Brian Poole zu danken ist (1998, 537-578; 2001, 109-135). Den Weg präziser Begriffsanalyse und der Rekonstruktion terminologisch relevanter sprachlicher Schöpfungen hat Rainer Grübel auch in der neuesten Publikation zusammen mit Ulrich Schmid und Edward Kowalski nicht verlassen. In der die Frühschrift Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit (2008) begleitenden Einleitung und dem Kommentar zeigen die Herausgeber auch jene Aspekte der Bachtinschen ›ästhetischen Anthropologie‹ auf, die im Frühwerk bereits auf Denkfiguren der künftigen Werke voraus weisen, sie lassen eine Handlungstheorie ebenso hervortreten wie Ansätze zu einer ganzheitlichen ästhetischen Konzeption. Diese interpretatorischen Anstrengungen sind dazu angetan, reduktionistische Lesarten zu blockieren und lassen auf eine neue Bachtin-Rezeption hoffen. Während Machlin die russkost’ Bachtins herausstellt, wird in der genannten Publikation der deutsche Kontext, in den viele der Bachtinschen Gedankenfiguren gehören, entfaltet. Die vnenachodimost‘ gerät dabei in den Fokus des Interesses. Ulrich Schmid nimmt bei der Diskussion des Begriffs eine Idee von Caryl Emerson (2005, 637-676) auf, die in »Shklovsky’s ostranenie, Bakhtin’s vnenakhodimost’« einen unerwarteten Zusammenhang zwischen den beiden Repräsentanten divergierender Lehrmeinungen herstellt. Dazu meint Schmid: »Es ist durchaus möglich, Bachtins Kernkategorie der ›Außerhalbbefindlichkeit‹ auf den formalistischen Verfremdungsbegriff (ostranenie) zu beziehen.« Bachtin gehe davon aus, dass jede ästhetische Tätigkeit eine Distanznahme voraussetzt, sowohl Produktion als auch Rezeption. Bachtin fordere die »liebevolle Entfernung«, »ustranenie«, aus dem Lebensfeld des Helden. Die ästhetische Tätigkeit beruhe in beiden Fällen auf einem Wahrnehmungsüberschuss, der sich nur auf einer Außenposition einstellen könne. (15) und weiter: Auch die formalistische Verfremdung beruhe auf einer ästhetischen Distanz. Man könnte ergänzen: auch die für Šklovskij so wesentliche, zur Abweichungsthese führende Diffenzqualität aus der Christiansenschen Kunstphilosophie impliziert Distanz. Die Verbindung zu Šklovskij ließe sich zusätzlich stärken durch Bezug auf den später eingeführten Begriff der otodvinutost’, von dem die Rede war. Die otodvinutost’, wie sie Šklovskij – die Revision seines ostranenie einbeziehend – in Hinblick auf die Brechtsche Theaterpraxis versteht, passt durchaus auch zu der in »Slovo v žizni i slovo v poezii« (Vološinov 1926, 244-267) geäußerten Kritik an Inszenierungen, die das Publikum einbeziehen. Es geht um das Wegrücken der Zuschauer, die Trennung der Bühne vom Zuschauerraum durch die Rampe. Das ist just Brechts Strategie, die in otodvinutost’ bündig wiedergegeben wird: die ›Weggerücktheit‹ als Verfahren und Ergebnis. Dieser Begriff taucht bei Bachtin freilich nicht auf, wohl aber eine aus ostranenie abgeleitete Verbform, die er in seiner Interpretation von Dostoevskijs »Son smešnogo čeloveka« nutzt: »Достоевскому, безусловно, была известна мениппея Вольтера ›Микрoмегас‹, лежащая в той же – остраняющей земную

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действительность – фантастической линии развития мениппеи«8 . (Bachtin 1963, 199) (Dostoevskij war zweifellos die Menippea Voltaires, Micromégas, bekannt, die auf derselben die Wirklichkeit verfremdenden phantastischen Entwicklungslinie der Menippea liegt, 166). Das mit vne gebildete Abstraktum vnenachodimost’ hat Geschichte in der russischen philosophischen Terminologie, d.h. vnenachodimost’ ist kein terminologischer Einzelfall. Schmid eröffnet mit Hinweis auf Pavel Florenskijs vnepoložnost’, Außerhalbgelegenheit, und Sergej Bulgakovs vnepolagaet, entäußert, im Sinne »eines metaphysischen Außerhalbgelegensein« einen neuen Horizont für Bachtins vnenachodimost’, die Todorov als exotopie, Emerson als outsidedness, Grübel als »Außerhalbbefindlichkeit« wiedergibt. Rainer Grübel verfolgt weniger den möglichen Zusammenhang mit einer formalistischen Gedankenfigur als dass er Bachtins Konzeption von der Plessnerschen abzugrenzen versucht, indem er das »Außen« Bachtins als »partitives« dem Plessnerschen »Außen« als einem »absoluten« gegenüberstellt und damit eine spezifische Lesart des Plessnerschen Begriffs gibt. Der komplexe Begriff der »exzentrischen Positionalität«, mit dem Plessner den Menschen vom Tier (und vom Pflanzenreich) zu unterscheiden vorschlägt, ließe sich allerdings auch anders lesen. »Exzentrische Positionalität« meint jene Stellung des Menschen, die ihn, der durch eine Grenze (d.h. seinen Körper) bestimmt ist, zu seinem Zentrum verhalten lässt, in dem er gleichwohl nicht sein kann, denn er ist innen und außen. Während das Tier in seinem Zentrum ruht, also zentrisch angelegt ist, betrachtet der Mensch sein Zentrum von einem Exzentrum aus, ist auf es ausgerichtet – und dieses Verhältnis zu seinem Zentrum beschreibt zugleich sein Bewusstsein als Selbstbewusstsein. Die exzentrische Positionalität befähigt den Menschen, sein Ich zu benennen. Mit Ulrich Schmids Verweis auf Kant, Cohen, Scheler, Simmel und die russische sophiologische Tradition gewinnt vnenachodimost’ nochmals andere Konturen, insbesondere, was den letzten Punkt angeht. Dabei geht es um »Gottes Außerhalbbefindlichkeit in Bezug auf seine Schöpfung – als labiler Zustand, der in die Wiederherstellung der ursprünglichen All-Einheit münden muß« (31). Gerade diese Vorstellung eröffnet einen weiteren Horizont, da sie einerseits an eine kabbalistische Gedankenfigur gemahnt, die vom ein-sof und tikkun handelt, bzw. einen ›Zustand‹ Gottes vor dem Schöpfungsakt meint, andererseits an eine gnostische Doktrin gemahnt, die Gott außerhalb der von einem Demiurgen verantworteten schlechten Schöpfung sieht. Was geschieht in diesen konzeptgeschichtlichen Arbeiten? Formulierungen wie »Dieser Gedanke von X geht auf Y zurück«, oder »X greift hier den Gedanken von Y auf« ebenso wie die Einflussmetapher umschreiben den Vorgang, der zu einer Konzeptgenese führt. Ulrich Schmid spricht im Rückblick auf seine Darstellung der Bachtinschen von einem »breiten Spektrum von Theorieangeboten«, auf das Bachtin zurückgreifen konnte, von Bachtins »synthetischem Intellekt« und weist auf »Überschneidungen, Verschränkungen und Überblendungen« der Theorieelemente hin. Es geht um den Nachvollzug der Konzeptgenese, die das Denken eines TheorieAutors bestimmt, und um die Qualifizierung seiner Terminologie. Häufig werden Be8

Indem er Phantastik und Verfremdung zusammenführt, gewinnt er dem Begriff eine Nuance hinzu.

1. Migrationen von »Verfremdung« und »Intertextualität«

griffe zurückverfolgt und ihre Umformung nachvollzogen. Was nicht immer verfolgt wird, sind die Argumentationslinien, die Rhetorik der Darstellung, die Stilistik insbesondere der Aussage, der Status des Theorems (Hypothese, Behauptung etc), der Modus der Aussage (Ironie, Kritik, Selbstkritik). Unterschiedliche Stufen der TheorieRezeption sind gewöhnlich zu beobachten: zunächst gilt es, einen Autor in seine eigene Vorgeschichte zurückzuversetzen, ihn in einen bestehenden Bezugsrahmen einzupassen, eine weitere Stufe betrifft die Sondierung des Feldes, das ihn aufnimmt, ihn verändert oder das er verändert. Bei Bachtin in westlicher Rezeption sind die Integration einiger seiner Theoreme in bestehende Diskurse, hernach Vorgänge der Amalgamierung, der Transformation zu vermerken. Zugleich entwickelt sich ein Interesse, das der Vorgeschichte seiner Theorie sowie den Transformationen gilt, die er seinerseits mit Theoremen vorgenommen hat, die in seine Konzeption hineingewachsen sind. Dabei lassen sich Verfahren der Abbreviatur (detractio), der Elaboration (adiectio), der Veränderung (transmutatio) ausmachen. Die Frage nach der Genese einer Theorie und ihrem Verhältnis zu vorangegangenen Theorien legt den Gedanken nahe, theoretische Konstrukte gleich literarischen zu behandeln und eine Typologie der Intertextualität zur Bestimmung dessen heranzuziehen, was den Bezug einer gegebenen Theorie zu anderen Gedankenfiguren, Argumenten herstellt: Transposition, Partizipation, Abwehr. Als konkrete Verfahren solch intertextuellen Kontakts lassen sich Zitat, Allusion, Kontamination, Kritik, Persiflage, Plagiat u.a. feststellen. Ein vorausgehendes Theoriemoment kann als Subtext (als Anagramm) fungieren, metaphorisch ließe sich in einigen Fällen von einem Grammatologie sprechen. Sieht man das Rezeptionsgeschehen dynamisch, so lässt sich fragen, ob es in der Berührung und Kreuzung von Diskursen stattfindet, oder ob nur der (eine) Diskurs der Ort ist, an dem es zu einem ›Energieaustausch‹ zwischen theoretischen Positionen kommt, (Bachtins Vorstellung von den sich gegenseitig affizierenden Texten aufnehmend), oder ob ein neuer Diskurs als Resultat von Grenzüberschreitungen entsteht, die sich Diskurse inbezug auf andere erlauben? Im Falle der Konzept-Migrationen zwischen Ost und West sind Amalgamierungen, Vorgänge der Integration in jeweils geltende Diskurse ebenso häufig wie Distortionen, aber auch konzeptuelle ›Bereicherungen‹, die manche Konzepte in ihren Ursprungskontext zurückgenommen haben. KonzeptMigrationen schaffen aber auch, indem sie Asymmetrien aufheben, eine Art Gleichgewicht des Wissens. Asymmetrien, die durch Unkenntnis einer Theorie entstanden sind, sind offenbar leichter auszugleichen als durch ideologische Konstellationen verursachte, die zu Blockaden geführt haben. Zudem lassen sich intellektuelle Milieus ausmachen, die durch wissenschaftliche Neugier bestimmt sind, neben solchen, die sich als geschlossener Verein gerieren und fremde Theoreme, zumal östlicher Herkunft, eher mit Skepsis behandeln. Aber es zeigt sich auch, dass ›objektive‹ Lücken bestehender Theorieentwürfe eine Bereitschaft zur Öffnung verlangen und durch Berührung mit fremden Konzepten Innovation zulassen können. Aber es gibt auch außergewöhnliche Migrationsfälle, wie die Geschichte der nicht enden wollenden Rezeption des Bachtinschen Werkes und des Echos West-Ost-West, das sie jeweils erzeugt, beweist. Bereits am 6. April 1991 hat B. N. Turbin in der Literaturnaja gazeta die Besonderheit dieses Vorgangs benannt: »Впетчатление общее: нечто

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в роде волны катится по миру… Бахтин вышел за рамки какой-то одной сферы истолкования: он становится фигурой-магнитом, влекущей к себе, генерирущей попытки по-новому понять человека в мире«. (Man hat den Eindruck, dass etwas wie eine Welle über die Welt rollt…Bachtin ist aus dem Rahmen einer bestimmten Interpretationssphäre herausgetreten: er hat die Gestalt eines Magneten angenommen, die alles an sich zieht und zu Versuchen anregt, die Welt auf neue Weise zu verstehen.)

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2. Evidenzeffekte in Texten der Phantastik

2.1 Texte, die etwas darstellen sollen, das plastisch vor Augen tritt, glaubhaft und plausibel, haben sich von jeher bestimmter Verfahren bedient, die dies zu leisten vermögen, dies gilt sowohl für faktographische wie für fiktionale Texte, insbesondere aber für Texte der Phantastik und deren Theorien, in denen der Sehsinn eine entscheidende Rolle spielt. Das Vor-Augen-Führen, die Vergegenwärtigung des Darzustellenden erscheint dabei als das entscheidende Verfahren.1 Im Folgenden gehe ich bezüglich entsprechender Verfahren von einer Wechselbeziehung zwischen Rhetorik und Phantastik aus. Denn das Verhältnis Rhetorik/Phantastik ist keineswegs durch Ablösung bestimmt. Einerseits gibt es zwar die Emanzipation aus rhetorischer Zähmung, die die Phantastik als Gegenentwurf zur Rhetorik im Sinne einer Regel-Institution erscheinen lässt; andererseits aber bildet die Phantastik eine eigene Verfahrensrhetorik heraus, die sich ausgewählter von der antiken Rhetorik bereits benannter Verfahren bedient. Paradox, Pseudos, Adynaton, Oxymoron, Metamorphose sind solche aus dem Regelwerk gelöste Verfahren, die ihre Rollen mit unterschiedlicher Gewichtung in der Phantastik spielen und mit dem Geheimnis, dem Fremden und Unerklärlichen Koalitionen eingehen. Stets aber spielt die konzeptuelle Vorgeschichte von phantasia ihre Rolle, wobei die Koalitionen mit verwandten oder konträren Begriffen je andere semantische Felder eröffnen (memoria, ingenium, iudicium, decorum, figmentum, pseudos, argutia, ekplexis u.a.).

2.2 Der Sehsinn, dessen Privilegierung für die Theoriebildung konstitutiv ist, gilt auch für Vorstellungen, die, den ›wahren Verhältnissen der Dinge‹ widersprechend, keinen Realitätsgehalt besitzen. Selbst das Nie-Gesehene beruht auf dem Kriterium des Sehens: im phantasma wird es ›sichtbar‹. Diesen Aspekt von phantasma kann man bis in Aristoteles’

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Heinrich F. Plett hat Bedeutungsumfang und Ästhetik von enargeia von der Antiks bis in die Frühmoderne verfolgt (Plett 2012)

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

De memoria et reminiscentia zurückverfolgen. Zum einen vermag phantasma – als Hervorbringung des Seelenvermögens phantasia – den sinnlichen Eindruck, den eine Wahrnehmung im Gedächtnis hinterlassen hat, zu reproduzieren, zum andern aber das Unmögliche, durch keine sinnliche Wahrnehmung Abgesicherte wirkungsästhetisch hervorzubringen, d.h. es ist zum einen ›Echtbild‹, zum andern ›Trugbild‹ (De mem., 449 b-451a).2 Das erste macht bis zum Rationalismus, das zweite bis in die Gegenwart (der phantastischen Texte) Karriere. Diese beiden Bestimmungen des aristotelischen phantasma lassen sich auch bei Quintilian ausmachen, dem mit dem Vorschlag, »phantasiai« als »visiones« zu latinisieren, der Anschluss an die griechische Theorie gelingt: »Phantasiai nennen die Griechen – wir mögen dazu immerhin ›visiones‹ sagen – die Seelenkräfte, vermöge deren wir Bilder abwesender Dinge, imagines rerum absentium, uns so lebhaft vorzustellen imstande sind, dass wir sie mit Augen zu sehen und leibhaftig vor uns zu sehen glauben« (VI, 2, 29-31). Das semantische Feld, in dem sich Quintilian in seiner Institutio oratoria bewegt, umfasst nicht nur Termini wie visio, effigies, imago und simulacrum, sondern auch eine Argumentation, die sich auf die Hervorbringung von Trugbildern bezieht, für die er ein spezifisches Laster verantwortlich macht: »Oft entstehen solche Bilder in der Langeweile und in eitlen Hoffnungen (inanes spes)/…/. Dieses seelische Laster (animi vitium), warum sollte man es nicht nutzbringend (ad utilitatem) anwenden?« (VI, 2, 2931), womit er auf die stärkere Wirkungskraft gerade derjenigen Bilder verweist, deren Echtheit zweifelhaft ist. In der wirkungs- und affektorientierten Rhetorik Pseudo-Longins steht das Wechselspiel von Echt- und Trugbild nicht im Vordergrund, vielmehr wird phantasia in Peri hypsous (Pseudo-Longin 1983) mit zwei inkongruenten Definitionen eingeführt. Zum einen bedeutet sie jeden Gedanken, der einen sprachlichen Ausdruck hervorbringt (also eine Vorstellung, die dem Sprechen vorausliegt, ein inneres Bild, das verbal umgesetzt, ›veräußert‹ wird), zum andern die Fähigkeit, »das, was man sagt, in Begeisterung und Leidenschaft (hyp enthousiasmou kai pathou) vor sich zu sehen und es den Zuhörern vor den Blick (hyp opsin) zu stellen« (15,1-2). Enargeia ist der dieses Verfahren bezeichnende Begriff, für den Manfred Fuhrmann die plausible Übersetzung »Vergegenwärtigung« vorgeschlagen hat und dessen Entsprechung in der lateinischen Tradition Heinrich Lausberg als evidentia angibt. Vermittels eines intensiven Gefühls, besser: einer vom Redner ausgehenden Gefühlsenergie, die weniger auf Wahrheit und Realität der Aussage ausgerichtet ist als auf die Erzeugung einer Illusion, sollen Hörende auf eine Weise affiziert werden, dass sie das in der Rede entworfene Bild quasi vor sich sehen. Die freigesetzte Energie, die Macht der rein verbalen Bilder stellt einen Augenschein, Evidenz, her und löst damit heftige Erregung aus. Es geht also um die Wirkung, die das Hören der Rede auszulösen vermag, indem sie etwas schein-sichtbar macht. Dieses Verfahren, das eng mit Enthusiasmus und Pathos verbunden ist und sich verschiedener Redefiguren bedient, wird durch eine Zweigliederung spezifiziert und gewissermaßen gebändigt. Der Traktat unterscheidet dabei zwischen den beiden technai: Eine Phantasie der Rhetorik, rhetorike phantasia, wird von einer Phantasie für die Poeten, para poietais, 2

Der Begriff phantasma hat allerdings keine homogenen Konturen, zumal zoon und eikon in der Definition ihre Rolle spielen.

2. Evidenzeffekte in Texten der Phantastik

unterschieden und funktional differenziert: poetisches Ziel ist die ekplexis, rhetorisches die enargeia. Weder ekplexis noch enargeia sind auf Begründungen angewiesen. Denn der von der Rede ausgehende Impuls der Vergegenwärtigung, schränkt Willen und Urteilskraft der Hörenden ein. Die Fähigkeit des Redners, das Unmögliche zu phantasieren, erregt Bestürzung oder Erschütterung und vermag den Rahmen des rhetorisch Zulässigen zu überschreiten. Enargeia und ekplexis erscheinen als komplementäre Faktoren der Phantasie. Nina Otto stellt in ihrer Studie Enargeia. Untersuchung zur Charakteristik alexandrinischer Dichtung (2009) eine enge Verbindung zwischen enargeia und phantasia her, wobei sie phantasia in der stoischen Tradition verortet und andere als die genannten Konnotationen aufruft: phantasia avanciert, so ihre These, zum »Herzstück der Erkenntnistheorie« (67), die sog. kataleptike phantasia gelte als Wahrheitskriterium der Stoa, d.h. phantasia werde als spezifisches Erkenntnisvermögen bestimmt (94). Otto weist auf die Berührung von energeia und enargeia hin, wobei energeia als Kraft interpretiert wird, die bewirkt, dass etwas als in Bewegung, als geschehend vor Augen tritt. Oder anders: Etwas, das im Akt selbst, in energeia, vergegenwärtigt wird, erzeugt enargeia (75). In Demetrios Peri hermeneias verweist Otto auf den Begriff der akribologia (77), der ein Verfahren der genauen Detailschilderung meint, das allein die Anschaulichkeit herzustellen vermag, d.h. Vergegenwärtigung durch ein beschreibendes Vor-Augen-Führen. Dazu passt in der terminologischen Rückschau das pro ommaton poiein, das Vor-Augen-Stellen in Aristoteles Rhetorik (Rhet. 1410b33-36, 1411b22-29), das Nina Otto stimmig als »Akt der Vergegenwärtigung interpretiert« (73). Sie verfolgt des Weiteren die lateinische Tradition (Lucullus übersetzt enargeia mit perspicuitas und evidentia, 103) und unterscheidet bei Cicero die philosophischen Termini evidentia, perspicuitas von den rhetorischen »inlustris explanatio/…/sub aspectum paene subiectio« (De oratore, 3, 202). Letzteres habe seine Entsprechung in Quintilians subiectio sub oculos (Inst. or., III, 9, 2, 40). Quintilian hebt die virtus der heftigen Affekterzeugung beim Publikum hervor, die dazu führe, dass die Hörenden von den suggerierten Wortbildern geradezu gefesselt sind und ihre Umgebung vergessen: »velut mente captos et quo essent in loco ignaros« (Inst. or. III, 34). Dieser das Publikum übertölpelnde und entmündigende Kunstgriff wird wie folgt umschrieben: »nec fortibus modo, sed etiam fulgentibus armis proeliatur« (Inst. or., VIII, 3,2). Gleichzeitig gilt Quintilians Lob den der Wortgewalt Unterworfenen, denen es gelingt, lebendige Vorstellungen zu erzeugen, d.h. den bewirkten Affekt in eigene Bilder zu übersetzen: »Derjenige, der sich Dinge, Stimmen, Handlungen auf die wahrhaftigste Weise vorstellt, secundum verum optime finget«, wird als »mit starker Einbildung begabt, euphantasioto/s/«, bezeichnet. (Inst. or., VI, 2, 2931). In Ciceros Partitiones oratoriae wird eine Rede dann als anschaulich (inlustris, vgl. enarges) bezeichnet, wenn ausgewählte Wörter, übertragene und übertreibende Wörter, Attribute, Verdoppelungen und Synonyme u.ä. eingesetzt werden. Diese Art der Rede sei es nämlich, die etwas geradezu plastisch vor Augen (ante oculos) stelle (Part. 20). Cicero gibt einer exquisiten Stilistik vor der Akribilogia den Vorzug.

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

2.3 Das Verfahren der enargeia wird in den genannten Traktaten nicht mit dem ausdrücklichen Anspruch verbunden, das Reale als Reales vorzustellen, sondern geht mit der Empfehlung an die Redekünstler zusammen, ein Fiktives als Reales zu vergegenwärtigen und Hörende quasi zu Sehenden zu machen. Lausberg hat für einen solchen Vorgang mit Verweis auf die quintilianischen Begriffe evidentia, perspicuitas representatio die Formulierung »fiktive Augenzeugenschaft« eingeführt (Lausberg 1973). Das Potential des enargeia Begriffs liegt in seinem Bedeutungsumfang, der Verfahren und Wirkung verbindet, Schreibweisen und Lektüremodi gleichermaßen bestimmt. Bereits in der Frühgeschichte der Phantastik, in der Menippeischen Satire, ging es um Verfahren der Darstellung, der Plausibilisierung des Ungewöhnlichen, Unwahrscheinlichen, Unmöglichen, der Erfahrung Widersprechenden. Bis in die Realismus-Programme des 19. Jahrhunderts bleiben diese Darstellungsaufgaben bestehen. Nun ergibt sich die Frage, ob die Vergegenwärtigungsverfahren für die Phantastik generell gelten (die menippeische Vorphase der Phantastik, die vorromantische Phantastik, die romantische Phantastik, die Neophantastik, Science-Fiction) und wie das Unschlüssigkeitstheorem, das für einen Teil der Phantastik-Versionen entscheidend ist, hier Unterschiede nötig macht. Die menippeische Satire, die Michail Bachtin mit Hinweis auf deren Phantastikund Experimentcharakter als ein die Entwicklung der europäischen Literatur mitbestimmendes Genre dargestellt hat und deren Bedeutung für die Vorgeschichte der Phantastik Werner von Kopppenfels in seiner Monographie Der andere Blick. Das Vermächtnis des Menippos in der europäischen Literatur (2007) behandelt, unterscheidet sich von der romantischen und postromantischen Phantastik in der Einschätzung des semantischen Status des Phantasmas zwischen Realität und Irrealität. Aus dessen jeweiliger Bestimmung haben sich unterschiedliche Poetiken des Phantastischen ergeben. In der romantischen Phantastik bestimmt die Oszillation zwischen den Polen real-irreal, natürlich-übernatürlich den Bedeutungsaufbau vieler Texte. Der ›gleitende‹ Sinn, der zwischen den Polen entsteht, schließt den Zweifel ein, der sich auf den Zwitterstatus des Phantasmas zwischen Realität und Irrealität richtet. Die Frage nach dem Verhältnis von real/irreal hat sich allerdings schon in der vorromantischen Phantastik gestellt. In einer neuen Arbeit zur Phantastik Vom Wunderbaren zum Phantasmatischen von Irmgard Scharold (2012), die sich vormodernen PhantastikKonzeptionen bei Ariost und Tasso widmet, wird dies als Gegensatz von meraviglioso und verisimile behandelt. Zwischen den Polen natürlich und übernatürlich der romantischen Phantastik entsteht die Unschlüssigkeit als ein Zögern zwischen zwei Erklärungsmodellen. Gerade das Zögern, die Unentschiedenheit der Lesenden und die Unentscheidbarkeit, die der Text suggeriert, verlangt Verfahren genauer Beschreibung, die die Tatsächlichkeit der ungewöhnlichen Erscheinung, des unerhörten Ereignisses bekunden können. Sinnlich wahrnehmbare Details, optische, akustische und eine Kunst der Argumentation für und gegen den Realitätsgehalt des Phänomens werden aufgeboten. Der Begriff der »hésitation«, den Tzvetan Todorov (1970) für diese Unschlüssigkeitssemantik benutzt – in seiner Argumentation die Essenz des Phantastischen –, lässt sich im Übrigen auf den gleichlautenden Begriff in Guy de Maupassants »Le fantastique«

2. Evidenzeffekte in Texten der Phantastik

1883 zurückführen, wo Hoffmann, Poe und der späte Turgenev als deren Vertreter erscheinen. Zum andern erweist er sich als Reinterpretation einer Phantastik-Definition von Vladimir Solovev von 1899, die sich letztlich auf Puškins Erzählung »Pique Dame« und deren Interpretation durch Dostoevskij bezieht. Puškin überlässt dem Leser die Entscheidung bezüglich der Einschätzung des seltsamen Ereignisses (Wiederkehr der Toten), während bei Hoffmann, z.B. in »Der Magnetiseur«, die Urteile über den Status der schockierenden Geschehnisse im Text selbst von kritischen Stimmen geäußert werden. Diese Zweipoligkeit gilt für das romantische und postromantische Phantasma und die Tradition, die es begründet hat. Das Phantasma der Menippea hingegen, dessen Spuren bis zur Neophantastik und Science Fiction verfolgt werden können, lässt sich nicht auf die semantische Struktur der Unschlüssigkeit zurückführen. Unschlüssigkeit wird nur dann zum Faktor, wenn es um die Entlarvung von Wunder- oder Aberglauben oder die Brüskierung von Leichtgläubigen geht. Das Abergläubische-Wunderbare wird parodistisch inszeniert, und die andere Welt, für die es zu stehen scheint, ironisch dementiert – so etwa in Lukians »Der Lügenfreund«. Doch lässt sich durchaus ein Wunderbares anderer Art ausmachen, wie es in den paradoxen und unmöglichen Konstrukten anderer Seinssphären hervortritt. Erstaunen und Neugier, die dadurch geweckt werden, münden aber nicht in Zweifel, denn das schlechthin Unmögliche kann nicht bezweifelt werden; es ist in sich schlüssig, ja folgerichtig. Die Logik der phantastischen Narration, in der es um Experiment, Erfindung und Abenteuer geht, wird innertextlich entwickelt und verlässt sich auf das Urteil des Lesers, der Kenntnis von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Dinge und Geschehnisse hat und die Berichte von interstellaren und lunaren Reisen mit Bewunderung für den Einfallsreichtum des Autors beantwortet. Gleichwohl vermittelt das utopische Moment, wie es den mit neuen Perspektiven operierenden kosmischen Reisen eignet – das Sujet etlicher menippeischer Satiren – neues Wissen, anderes Denken, öffnet oder verheißt Einblicke in Unbekanntes, anders konstruierte Welten, lässt Gedankenexperimente zu etc.

2.4 In Lukians »Ikaremenippos oder die Luftreise« wird die Weltraumreise mit Fragmenten kosmologischer Hypothesen und der Abwehr falscher Annahmen eingeleitet, so dass Menippos’ genauer Bericht von deren Durchführung seinem Gesprächspartner als wohl begründet erscheint. Indem Lukian den Menippos, seinen Helden und Erzähler, Annahmen seiner Zeitgenossen über den Weltraum und die Gestirne als irrig bezeichnen lässt, und deren Annahmen durch noch weit irrigere überbietet, verfährt er zum einen ironisch, zum andern aber entwickelt er mit dem Blick von oben und nach oben ein amüsantes Gedankenspiel. Das Spiel mit Gedankenexperimenten lässt sich sowohl in der Science-Fiction wie in der Neophantastik weiter verfolgen, ein Spiel, das auf die Semantik der Unschlüssigkeit verzichtet. Anders aber verhält es sich mit der Unentscheidbarkeit in der vorromantischen, romantischen und postromantischen Phantastik. Bereits Jan Potocki, einer der bedeutendsten Autoren der vorromantischen Phantastik, hat das Gleiten zwischen zwei

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Erklärungsmodellen nachgerade spielerisch eingesetzt. Potocki kombiniert in seinem Meisterwerk Die Handschrift von Saragossa (Anfang des 19. Jahrhunderts.) (Potocki 1961) die Perspektive frommen Wunderglaubens mit derjenigen einer abergläubischen Furcht und führt als Gegeninstanz eine Art aufklärerischer Skepsis ein, die der IchErzähler und Protagonist allmählich zu übernehmen beginnt. Denn die Prüfung seiner unbeirrbaren Fähigkeit zu klarer Beurteilung dessen, was ihm an Wunderlichem und Erschreckendem begegnet, unterwirft ihn (und den Leser) einem Lernprozess, in dem er erkennen soll, dass die befremdlichen Geschehnisse, die auf die Einwirkungen übernatürlicher Kräfte hinzudeuten scheinen, fingiert sind. Dabei wird das Übernatürliche, mit dem die erzählten Abenteuer ausgestattet sind, auf zweifache Weise skeptisch beleuchtet: zum einen wird das Mirakel-Ereignis durch seine rücksichtslose Aufklärung um sein Numinosum gebracht, zum anderen wird durch ›Agenten‹ des Geheimwissens schrittweise arkanes Wissen preisgegeben, das als Teil eines gewaltigen, alle Geheimnisse und deren Schlüssel umgreifenden Beziehungssystems erscheint. Das unvermittelte Aufkommen von Schein- und Trugbildern, denen der Protagonist zeitweise zum Opfer fällt, verdankt sich einem präzisen Vor-Augen-Führen, das auf wunderlichen und erschreckenden Details beharrt. Zwar treibt Potocki mit den Phantasmen, indem er sie in Erscheinung treten lässt und hernach wieder in Frage stellt, sein aufklärerisches Spiel, doch wird das ungewöhnliche Ereignis, das Staunen oder Entsetzen weckende Ereignis keineswegs durch Rückführung in eine natürliche (kausal begründete) Ordnung aufgeklärt, sondern auf heterodoxe Ordnungen bezogen, wie sie das Geheimwissen (z.B. der Kabbala) vorstellt. Damit bleibt das Faszinosum der Ambivalenz, der Unentscheidbarkeit erhalten. Die romantische Phantastik setzt vollends auf diese Dynamik der Oszillation. Einen späten Höhepunkt der Unschlüssigkeit, der aus der Erfahrung der romantischen Phantastik schöpft und genau dieses Faszinosum als Spannungsmoment des Textes aufrecht erhält, stellt Henry James’ The Turn of the Screw von 1898 (James 1994) dar. James (der im Übrigen ein Verehrer der Erzählungen Puškins war), schafft eine Szenerie der Unentscheidbarkeit, die der Beurteilung der Revenant-Phänomene gilt. Es geht um die Einschätzung der beschreibenden und argumentierenden Eloquenz der IchErzählerin, die ihre Visionen oder genauer: ihre »extravagant fancies« mit niemandem teilen kann. Dem in psychoanalytischen Belangen bewanderten Leser der Jahrhundertwende suggeriert der Text die Möglichkeit, die halluzinierten Manipulationen auf die sexuelle Frustration der Halluzinierenden zurückzuführen, doch lässt er zugleich deren psychotische Energie als die ins Negative wirkende, die Wirklichkeit verwandelnde unheimliche Macht der Phantasie erscheinen. Das Unschlüssigkeitsmoment, das die kryptische Argumentation des Textes von James bewegt, ist das Erbe einer auf jener Konkurrenz von Aufklärung und Gegenaufklärung aufbauenden Poetologie, wie sie auch für E.T.A Hoffmann galt. Vergegenwärtigung geschieht einerseits durch die eindringliche Beschreibung des Vorgangs der Vision, aber auch der Gestalten, d.h. der Geistererscheinungen (in den 90er Jahren kursierten Berichte über Geistererscheinungen als Augenzeugenberichte), Vergegenwärtigung geschieht andererseits aber auch durch die Fragen einer Gegeninstanz, die das Reale, die Tatsächlichkeit einfordert. Das Halluzinatorische bleibt gleichwohl unaufgeklärt und auf eine Gothic Novelmäßige Weise beunruhigend. Etliche Texte der postromantischen Phantastik operieren mit dieser Un-

2. Evidenzeffekte in Texten der Phantastik

schlüssigkeitssemantik, z.B. George Herbert Wells The Isle of Doctor Moreau oder Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray.

2.5 Zeitgleich, also in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, verdichten sich Züge der experimentellen Phantastik zu Formen der Science-Fiction. Wie bereits angedeutet, lässt sich das Phantasma der Science-Fiction und der Neophantastik nicht auf die semantische Struktur der Unschlüssigkeit zurückführen, vielmehr entsteht es durch die verbale Verletzung der von Vernunft und Erfahrung verbürgten Naturgesetze oder durch deren Neudefinition. Dies geschieht mithilfe der Gedankenfiguren des Paradox und des Adynaton, die Aufgaben der Vergegenwärtigung übernehmen. Das Paradox hat mit einer spezifischen Verarbeitung und Hervorbringung von Wissen zu tun. Zum einen geht es darum, geltendes Wissen in Frage zu stellen, durch Radikalisierungen bestimmte Aporien aufzuzeigen oder darum, die letztliche Unbegründbarkeit von Annahmen bloßzulegen und damit auch die Unverlässlichkeit des Wissens, das der ordnenden Interpretation der Welt zur Verfügung steht. Zum andern geht es durch die Zuspitzung, besser die Überspitzung, eines Konzepts um den Aufweis seiner äußersten Konsequenz. Neben die De- und Reorganisation von Wissensdiskursen tritt das Gedankenexperiment, die ingeniöse Fabrikation von durch nichts abgesichertem ›Wissen‹. Paradox und Adynaton sind Gedankenfiguren, die insofern für die Science-Fiction Geltung haben, als die unterschiedlich dosierte Aufnahme von Ergebnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaft eine Rolle spielt und ein Wahrscheinlichkeitsanspruch aufrecht erhalten wird. Die Science-Fiction operiert, zumindest in der von Stanisław Lem geforderten Form, mit dem Unmöglichen als einer Form des noch nicht Möglichen, das sich als Denkmögliches aus der Radikalisierung von naturwissenschaftlichen und technischen Vorgaben herleiten lässt. Die Science-Fiction verzichtet auf paralogische Spekulationen. Vielmehr setzt sie Beglaubigungsverfahren ein, die dem Paradox zu Leibe rücken und seine Verträglichkeit mit Logischem, wenn auch höchst Überraschendem zu vermitteln versuchen. In der Science-Fiction werden paradox und unmöglich Erscheinendes, der Erfahrung Widersprechendes durch rationale Argumentation, durch Berufung auf Kausalitäten in sich schlüssig gemacht. Das Menippeische, von dessen Tradition die Rede war, zeigt sich vor allem im Thema der Weltraumfahrten, das die Science-Fiction ebenso bearbeitet wie es Lukian getan hat. Science-Fiction ist experimentelle Phantastik. Die Science-Fiction-Ingenieure erscheinen dabei als Pioniere der Astrophysik und der Astronautik. Ein weniger bekanntes frühes Beispiel dafür ist der Roman von Konstantin Bogdanov, Der Rote Stern von 1907 (Bogdanov 2011). Der Autor, Kommunist, Philosoph, Anhänger der Philosophie Ernst Machs (dessen Opus Magnum Tektologie. Organisationswissenschaft ist der frühe Versuch einer Systemtheorie), galt als stärkster Gegner Lenins wegen seines Zweifels an der Realisierung der Revolutionsidee. Lenin disqualifizierte ihn wegen seiner philosophischen Positionen als bürgerlichen Denker und entfernte ihn als unliebsamen Kritiker aus der Parteihierarchie. Bogdanovs Der Rote Stern entstand in Kenntnis der damaligen Ergebnisse der Marsforschung und

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der wissenschaftlichen Phantastik. Der Roman steht zweifellos in der Tradition von Herbert George Wells War of the Worlds, konnte aber auch auf russische Vorläufertexte, vor allem auf Konstantin Ciolkovskijs Auf dem Mond und Auf dem Weg zu den Sternen zurückgreifen. Ciolkovskij gilt bekanntlich als einer der Vordenker der Raumfahrt, der seine phantastischen Konzepte in theoretischen Abhandlungen und in radikalisierter Form im Genre der wissenschaftlichen Phantastik veröffentlichte. (Hagemeister 2012, 135-149). Die Besonderheit des Bogdanovschen Romans, in dem der Ich-Erzähler als irdischer Revolutionär in der Rolle des Beobachters extraterrestrischer Ereignisse und Verhältnisse auftritt, besteht in der Verbindung von wissenschaftlicher Phantastik mit einer weit ausholenden Sozialutopie. Die Marsbewohner werden dabei nicht als Gefahr, sondern als zukunftsweisende, technisch und in ihrer Sozialstruktur überlegene, hilfreiche Partner der Erd-Bewohner dargestellt. Die Utopie, die Bogdanov in der Beschreibung der Mars-Gesellschaft entwirft, wurde als Modell einer funktionierenden sozialistischen Gesellschaft rezipiert, deren Realisierung den russischen Revolutionären als Desiderat erschien. Der Ich-Erzähler tritt als Proband und Initiand auf, der in das fremde Wissen, die fremde Welt des Roten Planeten Schritt für Schritt eingeführt wird. Zunächst gilt es, die Weltraumtechnik zu verstehen, die von einem in Petersburg auftauchenden Marsbewohner erklärt wird, der den Ich-Erzähler zum ersten irdischen Marsbesucher ausgewählt hat. Die Apparate und ihre Arbeitsweise werden beschrieben, die beim Unerfahrenen auftauchenden Zweifel werden von einem Mars-Ingenieur mit präzisen Angaben zerstreut. Die Wahrnehmungen während des Raumfluges, zu dem sich der Erdbewohner entschließt, und das Gefühl des Aufsetzens des Flugapparats auf dem Planeten werden durch akribische Beschreibung vermittelt. Die Technik des Fluges betreffende Fragen, Raum und Zeit, Schwerkraft, Druck und Atmosphäre werden beantwortet, und eine in sich stimmige wissenschaftliche Erkenntnisstufe wird vorgestellt, die das Unmöglich scheinende zum Möglichen gemacht hat. (Während Ciolkovskij mit seiner Vorausverkündigung der Raumfahrt recht behielt, hat Bogdanov die Möglichkeit eines Mars-Besuches fürs erste überschätzt.) Die Verbindung von wissenschaftlicher Phantastik und Sozialutopie bedarf zusätzlicher, plausibilisierender Argumente, die das Funktionieren einer Gesellschaftsordnung vergegenwärtigen, wie sie von etlichen Anhängern der bolschewistischen Bewegung durch die Revolution herbeigesehnt wurde. Deshalb schildert Bogdanov sämtliche Mars-Einrichtungen und ihr Wechselverhältnis und lenkt den Blick auf ihre innere, sich selbst kontrollierende Ordnung, d.h. ihr System.

2.6 Dieser utopische Entwurf machte den Roman trotz Verbot von Seiten Lenins zu einer vielgelesenen Verheißung. Er gilt weiterhin und neuerdings als zentrales Werk sozialistischer Phantastik. Stanisław Lem hat sich in seiner theoretischen Schrift Phantastik und Futurologie von 1964 mit der Darstellungsproblematik beschäftigt, ohne den enargeia-Begriff zwar, aber in der Argumentation denselben Punkt treffend. Bei ihm geht es um Anschaulichkeit, genauer um etwas, das zur Anschauung gebracht wird, aber gänzlich unanschaulich bleibt. »Die Kreation phantastischer Objekte – (»die sprachli-

2. Evidenzeffekte in Texten der Phantastik

che Kreation« fügt er hinzu) kann unanschaulich sein« (Lem 1984, 33). »Stark phantastische Objekte sind vor allem diejenigen, mit denen wir bis dato nirgends zu tun hatten. Und der Kontakt zu solchen Gegenständen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass wir diese Gegenstände im eigentlichen Sinn nicht betrachten können« (34) »Die Objekte der Science-Fiction vom Typ ›extraterrestrische Wesen‹, Zeitmaschinen«, »kosmische Kreuzer« dagegen sind keine Konstituanten konkreter Visionen, sondern eine Art Wechsel, den das Werk ausstellt und den – mit seinem weiteren Verlauf – einzulösen es sich verpflichtet«. (34), und das bedeutet, dass dessen letztendliche Schlüssigkeit (auf der Fiktionsebene des Textes) hergestellt werden sollte. Er konstatiert, dass »die Texte im allgemeinen sehr wenig Angaben liefern, die eine brauchbare Visualisierung phantastischer Gegenstände ermöglichen würden.« (37). Was dazu führe, dass in der lesenden Rekonstruktion fiktive Welten entstehen, die lediglich durch ein paar Wortfetzen angedeutet sind. (Lem gilt im Übrigen als ein Theoretiker der Rezeptionstheorie). Mithin, so könnte man anfügen, ist die konstruierte rekonstruierte Anschaulichkeit ein Vergegenwärtigungsmoment, das die Unvorstellbarkeit des phantastischen Objekts kompensiert. Allerdings hebt Lem immer wieder das diskursive Denken als Motor bei der Lektüre von Science-Fiction Texten hervor, daher dürfen »jene Ideen, Begriffsstrukturen und deren Transformationen, die wir in der Science Fiction erwarten in der Hoffnung auf ihre eventuelle Ausnutzung zu futurologischen Zwecken, keinen Scheincharakter haben«, und sie »dürfen auch nicht nur Fragmente momentaner, durch eine bestimmte Lektüre hervorgerufener Täuschungen sein« (42). Damit wird vorgeschlagen, den phantastischen Objekten und phantastischen Gedankengebilden ihre Irrealität auszutreiben. Anders verhält es sich in der Neophantastik, die zwar wie die Science-Fiction die Unschlüssigkeit suspendiert, d.h. wie diese einpolig konstruiert ist, aber in der es um die Konfrontation mit dem absoluten, kompromisslosen Phantasma geht. Eine das Kontrafaktische vorführende Technik der paralogischen Argumentation ist in den neophantastischen Texten entwickelt worden, die sich ebenso wie die Science-Fiction auf die Gedankenfiguren Paradox und Adynaton verlässt. Es entsteht eine nachgerade hermetische Phantasmalogik, die so etwas wie einen kognitiven Schock hervorzurufen vermag, wobei die Vergegenwärtigung vom Seh-ins Denkvermögen verlagert wird. Die Spekulation mit dem Unmöglichen geht mit einer diktatorischen und apodiktischen Paradoxie zusammen, die eine Diskussion über Wahrnehmungstäuschung und den Einbruch des Wunderbaren zu verdrängen vermag. Es geht nicht mehr um die beunruhigende Verstörung der gegebenen Welt, sondern um die totale Alterität einer unmöglichen Welt. Hier sind nochmals aristotelische Konzepte von Bedeutung und zwar seine Sätze zum Wahrscheinlichen, Glaubhaften einerseits und zum Unmöglichen, die die Definitionen in der rhetorischen/poetischen Tradition nachhaltig geprägt haben. Ich beziehe mich auf die Übersetzung von Manfred Fuhrmann von 1994: »Das Unmögliche (adynata), das wahrscheinlich (eikota) ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen (dynata), das unglaubwürdig (apithana) ist.« (Poet. 24, 1460b). Und nochmals, nunmehr ohne den Begriff des Wahrscheinlichen: »Was die Erfordernisse der Dichtkunst betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist (pithanon adynaton) den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist (apithanon kai dynaton)« (Poet. 25, 1461b). Hiermit ist wiederum die Vergegenwärtigung das Verfahren, das die Glaubwürdigkeit des Unmög-

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lichen herzustellen vermag: durch Detailbeschreibung, Akribilogia und Argumentation in einer Sequenz vernünftiger Sätze.

2.7 In der Neophantastik behält das Vergegenwärtigungsverfahren zwar seine Geltung, jedoch nicht über Visualisierung, sondern vermittels komplexer kognitiver Prozeduren. Das Phantasma, das auf diese Weise hervorgebracht wird, funktioniert logisch-paralogisch. Die Logophantasmen sind Experimente der Kalkulation, die dem Aufbau ungesehener Welten und dem Ausklügeln von Parametern eigener Art dienen. Die Katapultierung in eine alternative, in sich funktionierende Welt mithilfe einer ingeniösen Gedankenreise findet in Borges’ Erzählung »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius« aus Fiktionen von 1944 statt. Im Entwurf von Gegenordnungen und irrealen Systemen von monströser (A-)Logik wird in diesem Text die vertraute und kulturell verankerte Imaginationstradition ebenso aufgehoben wie die Topik der Wissensordnung. Die Paradoxalisierung sämtlicher Kategorien des Denkens, die raffinierten Referate von Theoremen und deren Widerlegung berühmter Philosophen bringen weitere Beunruhigung ein. Die Metamorphose von Geometrie, Arithmetik, die Verdoppelung und Erfindung der Gegenstände (die Gegenstandsgenese aus dem Gegenstand), der Entwurf einer heterogenen Sphäre ohne Raum und Kausalität, die Erfindung einer Sprache mit einer kategorial anders strukturierten Grammatik und die Revision aller vertrauten Parameter verheißen die Befreiung von dem Gedächtnisspeicher der Kultur und dem Wissen, das darin niedergelegt ist, was der Erzähler wie folgt kommentiert: Der Kontakt und der Umgang mit Tlön haben diese Welt aufgelöst./…/Schon ist das (erschlossene) ›Uridiom‹ von Tlön in die Schulen eingedrungen; schon hat seine harmonische Geschichte/…/die in meiner Jugend herrschende ausgelöscht; schon nimmt in den Memoiren eine fiktive Vergangenheit die Stelle einer anderen ein, von der wir nichts mit Sicherheit wissen – nicht einmal, dass sie falsch ist. (Borges 1999, 15-34) Diese Erzählung repräsentiert den Extrempunkt einer Tradition, die Bachtins These vom Weiterleben der Menippea und der Spezifik ihrer Phantasmen plausibel erscheinen lässt. Extrem, da alle Denkfährten – wissenschaftlichen Disziplinen, die dingliche und die intellektuelle Welt – derangiert werden. Es ist als ob der Leser Atem holen müsste, um in seine alte Welt zurückzufinden. Als sich selbst in den Text versetzender Autor bietet Borges eine Kompensation für seine Ausschweifungen an. Er gibt sich als Leser und Übersetzer des »Urn Burial von Browne«, eines der rhetorisch ausgefeiltesten Texte des englischen Barock. Thomas Browne’s Urn Burial erzählt die Geschichte der im 17. Jahrhundert bekannten Begräbnisriten verschiedener Kulturen. Mit der Nennung dieses Titels und seines Verfassers verspricht Borges den Wiedereintritt in vertrautere Bereiche des Denkens. Und es wird deutlich, in welche Gebiete der Unanschaulichkeit man sich in der Lektüre begeben hat und wie stark die Vergegenwärtigung durch die paralogische Argumentation wirkt, die quasi zu einer kognitiven Zeugenschaft zwingt, die man allerdings kaum als Augenzeugenschaft bezeichnen kann. Denn sie verzichtet auf den Augenschein ebenso wie auf die Frage nach der Schlüssigkeit. In der semantischen

2. Evidenzeffekte in Texten der Phantastik

Praxis der phantastischen Texte – in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen – wirkt enargeia in zweifacher Hinsicht: durch die Auslösung des Affekts der ekplexis und durch kognitive Stimulation, die das bedingungslose thaumaston erzeugt.

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3. Memoria – Kultursemiotisch Gesehen »Die Dichtung atmet mit Nase und Mund Erinnern und Erfinden.« Mandel’štam

3.1 Angelpunkt der Kultursemiotik ist ein Gedächtnisbegriff, der weniger anthropologisch als kulturologisch bestimmt ist. Diese Akzentsetzung erlaubt es, die Kultur als nicht vererbbares Gedächtnis eines Kollektivs zu verstehen, das vermittels eines überindividuellen Speicher- und Transformationsmechanismus in Erscheinung tritt. Mit Hilfe konstanter, dem Kollektiv gemeinsamer Texte, konstanter Kodes und einer bestimmten Gesetzmäßigkeit in der Transmission kultureller Information garantiert dieser Mechanismus kulturelle Sinninvarianz, gleichzeitig aber bietet er ein generatives Potential an, das neue Mechanismen der Transformation anzeigt. (Lotman 1985, 5-9) Der Kulturraum wird als Raum eines »Gemeingedächtnisses« definiert, in dem »bestimmte Gemeintexte gespeichert und aktualisiert werden können«.1 Texte, in denen die Kultur sich realisiert, fungieren als nicht-personale Träger des Gedächtnisses, indem sie zum einen als ›Akkumulatoren‹ kulturellen Sinns und zum anderen als dessen ›Generatoren‹ auftreten. Entscheidend für die dynamische Konzeption, die die Kultursemiotik vertritt, ist, dass der akkumulierte Sinn nicht »lagert« sondern im Kulturgedächtnis »wächst«. Das Gedächtnis ist mithin kein passiver Speicher, sondern ein komplexer Textproduktionsmechanismus. Konzepte wie das des Speicherns kultureller Erfahrung und kulturellen Sinns sowie der Untilgbarkeit von Zeichen, die Kulturen gesetzt haben und durch Modi der Rekonstruktion verfügbar halten, aber auch solche des Löschens kultureller Daten gehören zum Objektbereich kultursemiotischer Beschreibung. Die Modellierungsversuche gelten dabei der komplexen Verflechtung von Selbstbeschreibungsentwürfen einer Kultur und deren semiotischer Dynamik (wobei Metasprache und Modellbildung der

1

Die Umwertung der Speichermetapher und der Aspekt der »Kodes« und des »Transformationsund Erinnerungsprozesses« könnten im Kontext der konstruktivistischen Gedächtniskonzeption diskutiert werden, vgl. etwa die von G. Rusch vertretene Position (1987, 345-364).

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

Kultursemiotik ihrerseits wieder Objekt werden können). Der durch die Annahme eines wachsenden Sinns suggerierten Vorstellung von der Unzerstörbarkeit eines ständig zunehmenden semantischen Potentials einer Kultur, die weder mit dem Regulativ der Selektion noch damit zu rechnen scheint, dass Sinn, verdrängt und vergessen wird, tritt die Kultursemiotik nun selbst mit kompensierenden Konzepten entgegen. Entscheidend ist jenes, das einen Mechanismus von Einschluss und Ausschluss kulturellen Sinns voraussetzt, der das Vergessen als Ruhepause – im Sinne einer vorübergehenden Inaktivität eines Sinnsystems –, den Wechsel von Vergessen und Erinnern als die Eigenbewegung der Kultur zu interpretieren erlaubt. Mit anderen Worten, die Kultursemiotik geht von einem das stabile Funktionieren kultureller Kommunikation garantierenden Mechanismus aus, der, vom Selbstbeschreibungsmodell einer Kultur jeweils anders legitimiert und gesteuert, der Regulierung des vorhandenen Zeichenhaushalts gilt. Dieser von der kulturtragenden Gruppe durch spezifische Techniken in Gang gesetzte Mechanismus manifestiert sich als De- und Resemiotisierung kultureller Zeichen. (Der Kultur- und Gedächtnisraum ist nun allerdings keineswegs einheitlich, sondern ist durch Untergruppen gegliedert, die eigene ›Gedächtnisdialekte‹ herausgebildet haben und damit zu einer mnemonischen Pluralisierung des Systems beitragen.) Desemiotisierung bedeutet, dass ein Zeichenträger seine Zeichenqualität, d.h. sowohl seine semantische als auch seine pragmatische Funktion, die er innerhalb des Systems und seiner Institutionen wahrgenommen hat, verliert. Der Verlust der Zeichenqualität eines Elements bedeutet zwar dessen kulturelle Inaktivität, nicht aber dessen Löschung; denn die ›vakanten‹ Zeichen bleiben innerhalb der Kultur in einer Art Reserve, die wie ein negativer Speicher fungiert. In einer späteren Phase ihrer Entwicklung kann die Kultur aufgrund von Veränderungen in ihrem Selbstbeschreibungsmodell, die bestimmte Ausgrenzungen als problematisch erscheinen lassen, die vergessenen Elemente wieder eingrenzen und damit resemantisieren. Wichtig ist, dass die Zeichen, deren Verschiebung in die Latenz kulturelles Vergessen bewirkt, vom semiotischen Prozess wieder eingeholt und in der bestehenden Kultur erneut manifest werden können. Mit der funktionalen Differenzierung des Gedächtnisses in ein informatives einerseits und ein kreatives andererseits wird der komplexe Prozess von Eingrenzen und Ausgrenzen kulturellen Sinns in eine weitere Perspektive gestellt.

3.2 Das informative Gedächtnis verfügt insofern über eine Zeitdimension, als es von der chronologisch letzten Schicht des Akkumulierten ausgehend kontinuierlich und prospektiv operiert; es ist auf Erfinden ausgerichtet. Dagegen wird das kreative Gedächtnis als panchron und raumkontinuierlich gedacht, wobei das Gesamttextmassiv einer Kultur potentiell aktiv ist. Das Funktionieren dieses zeitresistenten Gedächtnisses ermöglicht die Reaktualisierung von Texten der Vergangenheit, die als quasi neue in das Ensemble bestehender Texte einer Kultur eingebracht werden. Im Wechsel ihrer mnemonischen Paradigmen, die Ein- und Ausgrenzen, Erinnern und Vergessen steuern, besteht der semiotische Mechanismus einer Kultur. ›Vergessen‹

3. Memoria – Kultursemiotisch Gesehen

als Ausgrenzen passiv gewordener Elemente (temporäre Desemiotisierung) ist dabei notwendiger Bestandteil des kulturellen Kommunikationsprozesses, der letztendlich dem kulturellen Vergessen im Sinne eines Löschens entgegenarbeitet. Diese kultursemiotische Position steht quer zu der von Umberto Eco vertretenen Skepsis gegenüber dem Vergessen als einer semiotisch relevanten Kategorie (1988, 254-261). Für Eco ist Vergessen aufgrund einer kulturellen Überinformation lediglich als Konsequenz aus der Wahl einer falschen Lösung zu werten. Vergessen resultiert mithin aus einer Konfusion, die durch einen Exzess der Semiosis entsteht. Aus dieser Perspektive verliert die als Teil eines binär operierenden Mechanismus verstandene kulturelle Strategie des Vergessens, die der Zügelung der Hypersemiose gilt, ihre Relevanz. Gegen Ecos These lässt sich nun nicht nur mit den konkreten Fallbeschreibungen argumentieren, die die Kultursemiotik vorgelegt hat (Lotman, Uspenskij 1970, 1971),2 sondern auch mit den ›Vergessenskünsten‹ – von Bernhard von Clairvaux bis zu Ignatius von Loyola – d.h. Techniken der De-Präsentation und der Evakuierung des Speichers. Auch Yosef Yerushalmis aus der Thora entwickeltes Gedächtniskonzept (1988, 7-21), das Vergessen als Ausgrenzen umschließt, wäre gegen Eco anzuführen. Der Mechanismus, den Yerushalmi beschreibt, ist an den Begriff der »Halakhah« gekoppelt, der die Identität eines Volkes und den Zweck, auf den hin es lebt, bezeichnet. Halakhah bedeutet das Kulturwesentliche, um das sich eine Gruppen- oder Volksidentität herausbildet. Der Rest der tatsächlich gelebten und erlebten Geschichte wird ausgegrenzt. Wichtig bleibt nur das, was für die Identität, für die Zukunft, den weiteren Weg eines Volkes Relevanz hat. Fasst man die Halakhah als Konkretisierung dessen auf, was die Kultursemiotik das Selbstbeschreibungsmodell einer Kultur genannt hat, dann wird verständlich, dass sie, da sie über die Zeichenhierarchie entscheidet und die Selektionsmechanismen steuert, mit dem Konzept einer Geschichtswissenschaft kollidiert, der es nicht nur um die Restitution einer verlorenen Vergangenheit (passé perdu), deren Verlust nicht realisiert wird, sondern auch um die Reproduktion der gesamten Vergangenheit (passe total) geht. Die Geschichtswissenschaft, so verstanden, vor der alle Zeichen als gleichbedeutend erscheinen, dient, da sie den kulturellen Wert des Vergessens vergisst, nicht mehr der Selbstmodellierung der Kultur, sondern wird, fungiert sie als einzige Gedächtnisinstanz, zu deren Bedrohung. Pointierter noch als in der Kultursemiotik wird hier auf dem kulturellen Vergessen als einer Strategie insistiert, die die kulturelle Identität eines Volkes sichert. In der Kultursemiotik wird zwar auch von einer identitätsstiftenden Sinninvarianz, die ein dem gegebenen Kulturraum gemeinsames Gedächtnis erst sicherstellt, gleichzeitig aber vom Wandel der mnemonischen Konzepte ausgegangen, der das Invarianzmodell in gewisser Weise wieder unterläuft. Während die Kultursemiotik mit Blick auf den binären Mechanismus, den sie generell für Kulturen ansetzt, auf Erinnern und Vergessen als deren Motoren besteht, sieht sie sich zugleich genötigt, extreme, diesen Mechanismus dementierende Positionen als Bestandteil des Selbstbeschreibungsmodells bestimmter Kulturen (oder bestimmter Gruppen innerhalb einer Kultur) ernst zu nehmen. Denn offenbar entwickelt eine 2

Auch Kanonisierungs- und Dekanonisierungsvorgänge sind Teil dieses semiotischen Mechanismus oder sogar sein manifester Ausdruck (A. und J. Assmann 1987, 7-27).

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Kultur verschiedene Weisen ihrer mnemonischen Konstruktion, die im Extrem Löschbarkeit einerseits und Unlöschbarkeit der Zeichen andererseits als Leitparadigmen favorisieren. Diese extremen Positionen interagieren, koexistieren oder lösen einander ab. Stehen für das Löschungsprojekt künstlerische und intellektuelle Avantgarden, die sich durch die Negierung der Vergangenheit definieren (vgl. den Futurismus), so stehen für den konservativen oder konservierenden Pol künstlerische und intellektuelle Gruppierungen, die demselben Kontext angehören und sich von den ersteren durch eine aktive Arbeit am kulturellen Gedächtnis unterscheiden (vgl. den Akmeismus). Unter den sich ablösenden, konkurrierenden und interagierenden Paradigmen, die auf immer andere Weise an der mnemonischen Konstruktion der Kultur beteiligt sind, sind insbesondere die hervorzuheben und nach ihrem systematischen Ort innerhalb der Kulturmodelle zu befragen, die eigene Techniken, Disziplinen und konsistente Konzepte hervorgebracht haben. Zu den Paradigmen dieser Art zählen das mnemotechnische, das diagrammatische, das diegetische und das poetische. Es soll hier zunächst nur um eine kurze Skizzierung dieser Paradigmen, nicht aber darum gehen, der komplexen Fragestellung nachzuspüren, die sich aus dem Umstand ergibt, dass zum einen mit der Übertragung dieser Paradigmen aus einer Kultur in die andere zu rechnen ist, wo sie eine zentrale Funktion bei der Herausbildung bestimmter Gedächtnisstile übernommen haben, und zum andern, dass einige dieser Paradigmen innerhalb der europäischen Kultur konstant geblieben sind. Die Frage nach deren systematischem Ort innerhalb eines gegebenen Kulturmodells müsste auch die nach deren Wechselbeziehung mit den bestehenden mnemonischen Paradigmen einer Kultur umfassen. Die vier Paradigmen haben einen unterschiedlichen Fokus. Sie sind entweder Techniken oder Künste, sie sind entweder mythisch oder wissenschaftlich, konzeptuell oder pragmatisch ausgerichtet. Geht es in dem einen um die Kunst des Merkens, die der perfekten Produktion einer Rede gilt, so geht es in dem anderen um die Repräsentation des gesamten Weltwissens oder um die erzählende Reproduktion der Vergangenheit oder aber um das Aus-Sprechen eines in der Sprache immer schon verborgenen Ur-Wissens. Die von den antiken Rhetoren ausgeübte Merkkunst erscheint als etablierte kulturelle Technik, die Vergessen durch Imagination abwendet, indem sie das zu Erinnernde, dasjenige, das in Gefahr ist zu entschwinden, durch das Bild repräsentiert und an markierten Stellen eines gegliederten und betretbaren Raums deponiert. Dabei sind die Verfahren der Transposition des Erinnerungsgegenstandes in seinen Bildvertreter sowie deren sequenzbildende Anordnung im Raum durch spezielle Regeln präzisiert. Diese regulieren die semantischen Relationen zwischen dem zu Erinnernden (dem Signifikat) und dem Bild (dem Signifikanten), geben Modi ihrer Kennzeichnung an und lenken die Wahl des Gedächtnisraums. Indem der architektonische oder ein anderer geordneter Raum, den sich der Erinnernde einbildet, zum Gedächtnisraum wird, wird das innere Gedächtnis (das, was Plato mit, der Metapher der Wachstafel bezeichnet hat) nach außen, verlagert. Der innere Sitz des Gedächtnisses, die Seele, das Gehirn, wird in einer vorgestellten äußeren Architektur – ein frühes phrenologisches Modell? – als Raum mit Gängen, Säulen und Nischen nachgebildet. Das von der Imagination in Gang gesetzte Wechselspiel von Innen und Außen wird durch das reale Nach-außen-Tragen, d.h. die Äußerung der Rede, abgelöst. Nach der Rückübersetzung der imagines in res

3. Memoria – Kultursemiotisch Gesehen

und verba und nach der Rückübersetzung der Bewegung des Schreitens von Merkort zu Merkort in die Syntax der Rede wird auch die visuelle Komponente, die das innere Sehen bestimmt, von dem tatsächlich zu Gehör Gebrachten überlagert. Dieser Prozess lässt sich als Weg vom Einbilden zum Ausdrücken, von einer »invisible art« (Yates) zu einer rhetorischen Praxis bestimmen. In der Bildfindung, die der Repräsentation des zu Erinnernden gilt, eine Umsetzung des eigentlichen Ausdrucks in einen mnemonischen, lässt sich eine Orientierung an der Tropenlehre der Rhetorik ausmachen: Metaphern, Metonymien, Synekdochen usw. werden Statthalter der zu memorierenden Redeelemente. (Blum 1969) Nachdem sie von ihren Repräsentationsaufgaben entlastet sind, können die tropischen Merkzeichen erneut für die temporäre Aufbewahrung von Zeichen Verwendung finden. Es geht also bei der Findung der imagines nicht um Speichern und Akkumulieren, denn der Merkzweck ist pragmatisch auf die aktuelle Ausführung einer Rede ausgerichtet. Die Pragmatisierung der mnemonischen Prozedur – die den Gründungsmythos der Mnemotechnik, in dem der Zusammenhang von Ahnenkult und Gedächtnisarbeit verborgen ist, überformt – verbindet die Mnemotechnik nicht nur mit der Tropenlehre, sondern auch mit der Argumententopik der Rhetorik. (Weinrich 1991, 569-582) Topos ist der Begriff, in dem die Bereiche koinzidieren, denn topos bezeichnet den Gedächtnisort und die sedes argumentorum in eins. Der Topos ist ein als ›sichtbar‹ imaginierter Ort: ein Gesichtspunkt also. Er funktioniert als »disponierendes mnemotechnisches Hilfsmittel« und gleichzeitig als allgemeine »Suchformel« zum Auffinden geeigneter Gedanken. (Lausberg 1973, 201, 526) In der diskursiven Verknüpfung der Topoi vollzieht sich das Erinnern wie eine Art Schlussfolgern. Die Analogie zwischen Memorieren und Argumentieren lässt sich auch dadurch plausibilisieren, dass die Reden, als öffentliche, mit dem Gemeinwissen (den endoxa) des Publikums operieren. Cicero hat in seiner Kommentierung des die Mnemotechnik begründenden Mythos noch auf einen anderen Aspekt hingewiesen, zeichnet dort ordo als dasjenige Prinzip aus, das dem Gedächtnis Licht bringt (»hac tum re admonitus invenisse fertur ordinem esse maxime, qui memoriae lumen adferret«. De oratore II 86, 353-54). Welches Licht? Geht es um die Erkenntnis einer verlorengegangenen Zeichenordnung, die unser Gedächtnis ›erleuchtet‹, ist es das Licht der Wahrheit, das durch die Technik der Ordnung, das Abschreiten der Ordnung, den Ordnungsweg selbst (methodos) entzündet wird? Dies würde zur Simonides-Legende passen. Behält man daneben aber die Rede im Blick, dann lässt sich der ordo-Aspekt noch anders perspektivieren. Die Mnemotechnik (innere Ordnung) und die artikulierte Rede (äußere Ordnung) stellen die Ordnung des Gedächtnisses her und das Gedächtnis als Ordnung dar. In der Rede wird das Gedächtnis als Ordnungsmacht manifest. Die Mnemotechnik wird zwar als dominierende Gedächtniskunst abgelöst, dennoch bleibt sie auf mehrfache Weise präsent: sie insistiert zum einen als Ikonik in den verkappten Mnemobildern in Malerei und Literatur und zum andern als Topik in den Darstellungen neuer Welt- und Eigenerfahrung. (Locher 1990, Neuber 1991, 166 ff) Auch in den Merktechniken wirkt sie fort, die mit verfeinerten Methoden der Verschlüsselung, Abbreviatur und Vernetzung für geheime und private Zwecke einerseits und pädagogische

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andererseits (Rieger 1997) eine, wenn auch obskure, stabile Tradition gebildet haben, ganz abgesehen vom Fall ihrer womöglich spontanen Wiedererfindung.3

3.3 Auch das diagrammatische Paradigma knüpft, selbst wenn es als deren Ablösung im Sinne einer dominierenden Gedächtnispraxis und Theorie gelten kann, an die Mnemotechnik an. Doch hat es einen anderen Fokus. Es geht nunmehr um Wissensabbildung, Erkenntnis und Wahrheitsfindung. Freilich zeigen der komplexe Konzeptualismus der ars combinatoria (Lullus), das Amphitheater der memoria (Camillo) und die Ordnung der Begriffsnamen (Bruno) ebenso wie die logische Analyse (Ramus), die eine Art innerer Ikonoklasmus darstellt, der dem äußeren des Kalvinismus entspricht (Yates 1984), den Übergang von den Bilddeponien zu den Systematiken an. Diese bauen auf Korrespondenzvorstellungen und solchen hierarchischer Natur auf. Von solchen Vorstellungen werden insbesondere schon bestehende. Wissen (und Geheimwissen) transportierende Disziplinen tangiert (die sich dem Aristotelismus, dem Neoplatonismus, der Kabbala und der Mystik verdanken), deren Begriffskonstellationen, die gleichsam als deren Gedächtnis fungieren, in komplexe Beziehungsnetze gestellt werden. Vorformulierte Systematiken wie die der aristotelischen Kategorienlehre, der kabbalistischen Sephirot, des astrologisch interpretierten Planetensystems werden mit ausgeklügelten kombinatorischen Techniken bearbeitet. Das akkumulierte Wissen wird damit nicht nur bewahrt, sondern als Matrix für die Generierung neuen oder die Aufdeckung verborgenen Wissens eingesetzt. Freilich bedarf auch das kombinatorisch gewonnene Wissen der ›Abbildung‹. Es ist das Diagramm, das diese leistet, indem es sich nicht ikonischer, sondern symbolischer Zeichen bedient: geometrischer Figuren, Buchstaben, Zahlen oder bestimmter, von der kulturellen Semantik vorgeprägter Figuren wie Baum, Rad oder Stufenleiter. Das Konzept der akkumulierten Wissenssummen, die sich einem kombinatorischen Kalkül verdanken, vertraut auf die Zählbarkeit der die Welt konstituierenden Dinge, der sichtbaren und unsichtbaren. Über Zahlenmagie und deren Manipulierbarkeit können alle Korrespondenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen der Konstitution des Menschen und jener der Welt für den Eingeweihten aufgedeckt werden. Der ikonische Blick, der die Dinge in Bilder umprägt, wird durch das diagrammatisch dargestellte ›Geheimnis‹ abgelöst. Alle Schemata, von denen des Raimundus Lullus bis zu denen von Bruno und Leibniz, behaupten einen universalistischen Anspruch auf das Weltwissen. (Rossi 1983) Doch bewahren memoria-Theater, Wissensbäume und mobile Enzyklopädien eine visuelle Komponente. Neuer Gedächtnisort, der die syntaktische Ordnung, d.h. die collocatio der Elemente, ermöglicht, ist das visualisierte Schema, in dem der locus der Mnemotechnik erkennbar bleibt, ebenso wie das Konzept, das durch den geschriebenen

3

Vgl. den Fall des russischen Mnemonisten, dargestellt von A. R. Lurija (1968, 1987); (Lachmann 1991, 111-141). Beaujours interpretiert diesen Fall einer Gedächtnishypertrophie im Kontext der Mnemotechnik, insbesondere der Rhetorica ad Herennium (1990, 97ff)

3. Memoria – Kultursemiotisch Gesehen

Namen, der es bezeichnet, eine optische Kontur gewinnt, in dem die imago Schriftfigur wird. Die diagrammatische Tafel, das aufgezeichnete Konzeptpanorama verkehren das innere Sehen der Mnemotechnik in ein äußeres. Camillos gebautes und betretbares Theatro liefert synoptisch und synchron ein pansophisches Spektakulum, dessen Wirkung auf den Betrachter – der so in die Präsenz der memoria eintaucht – dem Einfluss der Astralmagie zugeschrieben wird.4 Die mnemonischen Bildtopiken, die sich trotz und neben der Diagrammatik behaupten, werden weitertransportiert: in der bildenden Kunst und in der Literatur. So gesehen wäre die Ablösung des mnemotechnischen durch das diagrammatische Modell weniger über die Diskontinuität von Zeichenoperationen und Repräsentationsverfahren bestimmbar als vielmehr über Kontinuität und Ähnlichkeit. Die Syntax der Architektur ist in den Wissensbäumen, den enzyklopädischen Repertoires mit ihren spezifischen Anordnungsschemata ebenso wiederzuerkennen wie die Semantik der Bildkürzel in den Konzepten, die als Chiffren eingesetzt werden. Die Kombinatorik selbst erscheint als die mentale Verknüpfung der Konzepte (aus der immer neue generiert werden können) und ist darin dem imaginativen Abschreiten der Gedächtnisräume und der Bilddeponien Vergleichbar. Der Weg zur Abstraktion und Reduktion wird möglich durch Steigerung und Intensivierung der Repräsentationsleistung der konzeptuellen Chiffren und die Pluridimensionalität ihrer Semantik. Das kombinatorische und generative Vernetzen von mimetischen und nichtmimetischen Zeichen etabliert sich als neue ars memoriae.5 Die kombinatorische Operation in Schemabildung und Systemaufbau sowie im Kalkül der Generierung verdankt sich einem anderen Ordnungsbegriff: dem der Hierarchisierung und Klassifikation der Welt, und einer anderen Intention, der der Wissensabbildung, die einen neuen Umgang mit der Kultur anzeigt.

3.4 Das diegetische Paradigma steht weder in einem Ablösungs- noch in einem Konkurrenzverhältnis zu den beiden schon genannten. In Kulturen, die weder ein mnemotechnisches noch ein diagrammatisches Modell herausgebildet haben, erscheint es als die universale Repräsentanz der memoria – und diese wiederum als semiotische Matrix aller Leitkonzepte der Kultur (ihrer Mythologeme und Ideologeme), die Bereiche individuellen und sozialen Handelns, Formen des Zusammenlebens, der Lebensorganisation, von Praktiken des Erinnerns und Vergessens und insbesondere der Abgrenzungsstrategien von Fremdkulturellem tangieren.

4 5

Vgl. Giulio Camillos Interpretation seiner Konstruktion in dem Traktat L’Idea del Theatro (1550), (Bolzoni 1991, 9-34). Aus der Verknüpfung von mnemotechnischer Ikonik und Topik mit diagrammatisch vermittelter Kombinatorik einerseits und einem radikalisierten enzyklopädischen Anspruch andererseits entstehen im 17. Jahrhundert die gigantischen Wissenskompendien (A. Kircher), der neue orbis pictus, der Bilder aller Dinge der Welt und einen Katalog aller richtigen Sätze, die man über sie bilden kann, enthält, und die Pansophia (Comenius), die alles Wissen für alle bereithält. Zu Alsted, Comenius und zum Lullismus des 17. Jahrhunderts (Schmidt-Biggemann 1983)

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

Von jeher ist das Erzählen eine Leistung des Memorierens auf zweifache Weise: als Reproduzieren und Wiederholen des Textes selbst (in der oralen Phase des Erzählens), wobei mnemonische Verfahren in der Rekurrenz metrischer Schemata, epitheta ornantia, syntaktischer Parallelismen, d.h. in der Organisation der Texte selbst verborgen sind, und als narrative Fixierung aller Handlungen, Ereignisse und Erfahrungen, über die sich eine Kultur über sich selbst verständigt. Es ist nach den selektiven Mechanismen solcher Fixierung zu fragen, danach also, welche Handlungen, Ereignisse und Erfahrungen memoria-Wert beanspruchen, wie die memorabilia Zeichenvalenz erhalten und die non memorabilia aus der Zeichenwelt einer Kultur ausgeschlossen werden. In diegetischer Rede wird die memoria einer Kultur sowohl hervorgebracht als auch als ständig wiederholbare bewahrt. Ihre Konstitution vollzieht sich in allen diegetischen Genres: im Mythos, im Epos, in der historia (A. Assmann 1991, 13-35). Geschichtsschreibung, besonders wenn sie als nationale Kultur-, Politik- und Sozialgeschichte auftritt, rekurriert auf ein Gedächtniskonzept, das die Kultur bzw. bestimmte Gruppen, die als deren Repräsentanten erscheinen, artikuliert haben, oder entwirft selbst ein Gedächtniskonzept, das wiederum auf Mythologeme und Ideologeme der Kultur, der sie gilt, zurückgreift. Der selektive Mechanismus, der die Etablierung eines nationalen Gedächtnisses begleitet, ist ein komplexer Wertungsprozess, der Hierarchien errichtet, alte abbaut, umwertet oder revitalisiert. In der Geschichtsschreibung wird das kulturelle Gedächtnis gewissermaßen institutionalisiert, und als institutionalisiertes fungiert es im Verarbeitungsprozess nationaler Geschichte im Kontext von Gedächtnisritualen (Denkmaiskult, Gedenktage, Jahrhundertfeiern) und Gedächtnisorten (Friedhöfe, Nationalmuseen), die eine Kultur sich einräumt. Krisen, Diskontinuitäten und Antagonismen innerhalb einer Kultur lassen sich an der Problematisierung gerade des institutionalisierten Gedächtnisses (das immer auch einen totalisierenden Geltungsanspruch behauptet) ablesen.6 In einem viele Phasen durchlaufenden Arbeitsgang von Erinnern und Vergessen, Bewahren und Verdrängen, Einschließen und Ausschließen avanciert die Geschichte (bzw. die Geschichten) zum wesentlichen Faktor des Selbstbeschreibungsmodells einer Kultur, der deren Konzeptbildung (Ideologieproduktion) und soziales Handeln bestimmt und auf die Rekonstruktionsstile ›faktischer‹ Geschichte zurückwirkt.7 Wenn die Diskrepanz zwischen institutionalisierten Gedächtnis und ausgegrenzter Geschichte (faktischer und mythischer), die das inoffizielle Gedächtnis bewahrt, unerträglich wird und die Kultur in eine Aporie treibt, werden Modi der Rekonstruktion durchgesetzt, die Fälschungen aufdecken, Lücken schließen, globale Reinterpretationen der Nationalgeschichte versuchen (vgl. die Diskussion über die ›weißen Flecken‹ in der russischen Geschichtsschreibung der Gegenwart). In den diegetischen Genres, in denen sich Mythisches und Historisches wechselseitig affizieren, drängt das produktive kollektive Gedächtnis einer Kultur zur Artikulation. Die Struktur kultureller Modelle könnte womöglich nach der Dominanz des einen oder anderen dieser Genres bestimmt werden. So gesehen erscheint jede Kultur auch 6 7

Zum Prozess der »Gedächtnisbildung« vgl. A. Cavalli (1991, 200-21). Hier einzubeziehen sind die unterschiedliche Akzente setzenden Diskussionen der Position von Halbwachs bei J. Assmann (1988, 9-19) und Funkenstein (1989, 5-27).

3. Memoria – Kultursemiotisch Gesehen

als die in ihre diegetischen Repräsentationen eingelagerte memoria, deren Verfallsgeschichte von Lesbarkeit zu Unlesbarkeit die Reflexionen der Kultur über sich selbst und deren semiotischen Mechanismus prägt.

3.5 Poesie und memoria sind in einem elementaren, vortechnischen Sinn miteinander verknüpft; Poesie erscheint als Beschwörung der memoria, memoria als deren »Urquelle«8 Als Mnemosyne gewinnt die mneme in der Mythopoiesis der Antike Gestalt. In poetischer Rede tritt sie als Prosopopoia auf und insistiert als topischer Bestandteil in einer mythopoetischen Tradition, die von der Antike über Vico, die Romantik, den Symbolismus bis zum Postsymbolismus verfolgt werden kann. In Mnemosyne reflektiert sich die Bewahrung einer mnemonischen Tradition selbst. Erscheint im Symbolismus die Poesie selbst als »Mnemotechnik des Schönen« (Baudelaire), als Erinnerungsarbeit der Imagination (Koch 1988, 103ff; Wunberg 1991, 83100), die das Ur-Bild nicht (mimetisch) verfälscht, so wird sie im Postsymbolismus (Mandel’štam) zum Gedächtnisraum erhoben, in dem die Kulturen und ihre Texte zeitaufhebend aus der Diachronie heraus- und in eine Panchronie eintreten, die das Weltgedächtnis entfaltet. Die postsymbolistische Mythopoetik lässt die Poesie zugleich als Handlung – Aufzeichnung des Gedächtnisses der Kultur – und als Architektur erscheinen, in die die Texte der Vergangenheit über Stufen der Transformation aufgenommen worden sind: jeder konkrete poetische Text konnotiert als entworfener Gedächtnisraum das Makro-Gedächtnis, das die Kultur repräsentiert. Jedoch ist Poesie nicht nur Ort der Bewahrung (Dichten ist Erinnern, Erinnern ist Dichten; Achmatova), sondern zugleich auch Gegenort, an dem die Poesie der mythisch vorgeschichtlichen (chaotischen) memoria entgegentritt. Die poetische Arbeit an der memoria orientiert sich an der Rivalität von Mnemosyne und ímaginatio, von Museninspiration und Phantasie.9 Im konkurrierenden Zusammenspiel von Erinnern und Bildfindung wird die Poesie zur mnemonischen Kunst par excellence, in der sich Gedächtnis, imaginatio und poetische Einbildungskraft treffen. Das Bildwissen der memoria und das der Poesie spiegeln und kommentieren einander. Poetische ›Ikonographie‹ greift auf die des Gedächtnisses zurück, ebenso wie die Bildtätigkeit der ars memoriae sich die dichterische Einbildung, das Originalvermächtnis poetischer Weltaneignung (Vico) einverleibt. ›Mnemosyne‹ als Verwalterin des Ur-Gedächtnisses und die ›Grammatik der mnemonischen Kunst‹ lenken gemeinsam die poetischen Akte der Bildfindung. In allen Paradigmen, die der mnemonischen Konstruktion der Kultur zugrunde liegen, insistiert ein Moment des Vergessens, Vergessen im Sinne spektakulärer Löschungsaktionen oder Vergessen als Rückzug aus der Welt der Zeichen, als Verheißung

8 9

Zur Verbindung von Gedächtnis und Poesie im Mythos der Mnemosyne Bolzoni (1990, 16-26). Im Barock tritt die Phantasie durch die Koppelung an den Begriff des ingegno und der acutezza in Konkurrenz zur memoria und der mnemonischen Bildtopik. Mnemosyne ist Muse des Erfindens, nicht mehr des Wiederfindens (Gracián, Tesauro).

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Tauglichkeit und Mobilität literaturwissenschaftlicher Konzepte

oder Bedrohung. In Bezug auf das Vergessen sind die Mnemoniken ambivalent: sie arbeiten ihm entgegen und streben ihm zugleich zu. Und so ist es nicht nur die Angst vor der Katastrophe, die die Transmission des kulturellen Wissens unterbricht, oder vor der Zerstückelung, die die Zeichenordnung unkenntlich macht, welche die mnemonische Arbeit gegen das Vergessen a u fruft, sondern das Begehren nach Katharsis. Im Ikonoklasmus, in der Ausstreichung des Wissens,10 wird das Vergessen ebenso zelebriert wie in der Vorstellung einer totalen Amnesie. Die Kultursemiotik, die insofern im Kontext der genannten Paradigmen und des ihnen innewohnenden oblivionalen Akzents gesehen werden kann, als sie diese nicht nur beschreibt, sondern auch weiterschreibt, neigt mit der Annahme eines regulierenden Mechanismus keiner extremen Position zu. Weder kennt sie den Moment der magischen Präsenz alles Wissens noch den ekstatischen seiner Streichung. Ausgrenzen ohne zu löschen, Eingrenzen ohne zu ›überspeichern‹ sind Aspekte eines konservativen Kulturmodells.

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Vgl. Descartes’ Konzept der antezedenzlosen Wissenschaft, die alle bisherigen (widersprüchlichen, divergierenden) Meinungen (»opinions«) über die Welt ausstreicht. Im Discours de la méthode, heisst es: »se défaire de toutes les opinions qu’on a reҫues« (15) oder »ôter […] toutes les opinions« (13); zitiert nach: Euvres de Descartes (Adam, Tannery 1982).

3. Memoria – Kultursemiotisch Gesehen

Koch, M., »Mnemotechnik des Schönen« – Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988. Lachmann, R., »Die Unlöschbarkeit der Zeichen: das semiotische Unglück des Mnemonisten«, in: Gedächtniskunst, hg. v. Anselm Haverkamp, R. Lachmann, Frankfurt a.M. 1991, 111-141. Lausberg, H., Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1973. Locher, E., »Curiositas« und »Memoria« im deutschen Barock, o. O. 1990 (Der Prokurist. 4). Lotman, J., »Das Problem des Zeichens und des Zeichensystems und die Typologie der russischen Kultur des 11.-19. Jahrhunderts« (1970), in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. v. K. Eimermacher, übers, v. A. Schramm u.a., Kronberg/Ts. 1974. Lotman, J., »Pamjat’ v kulturologičeskom osveššenii« (Das Gedächtnis unter kulturologischem Gesichtspunkt), in: Wiener Slawistischer Almanach 16 (1985), 5-9. Lotman, J.; Uspenskij, B., »Zum semiotischen Mechanismus der Kultur« (1971), übers. v. A. Schramm-Meindl, in: Semiotica Sovietica (Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu modellbildenden Zeichensystemen, 1962-1973), hg. und eingeleitet v. K. Eimermacher, Aachen 1986, Bd. 2, 853-880. Lurija, A. R., Malen’kaja knižka o bol’šoj pamjati. (Um mnemonista), Moskau 1968. Lurija, A. R., The Mind of a Mnemonist – A Little Book about a Vast Memory, übers. aus dem Russ. v. L. Solotareff, Cambridge/Mass., London 1987. Neuber, W., Fremde Welt im europäischen Horizont, Berlin 1991. Rieger, St., Speichern/Merken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock, München 1997. Rossi, P., Clavis universalis – Arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Bologna 1983. Rusch, G., Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte – Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt a.M. 1987. Schmidt-Biggemann, W., Topica Universalis – Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983. Weinrich, H., »Gedächtniskultur – Kulturgedächtnis«, in: Merkur 45, H. 508 (1991), 569-582. Wunberg, G., »Mnemosyne – Literatur unter den Bedingungen der Moderne«, in: Mnemosyne, hg. v. A. Assmann, D. Harth, Frankfurt a.M. 1991, 83-100. Yates, F., The Art of Memory, London 1984. Yerushalmi, Y. J. »Réflexions sur l’oubli«, in: Usages de l’oubli – Colloque de Royaumont, Paris 1988, 7-21.

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4.1 »Schönheit« führt zugleich in ästhetische und moralische Gefilde, verbündet sich mit semantisch gleichgestimmten Begriffen und stellt sich vehement dem »Hässlichen« entgegen. Wenn man, um krasota (Schönheit) und bezobrazie (Hässlichkeit) nachzuspüren, nicht nur etymologische Lexika, sondern auch etymologische Artikel konsultiert, wie sie Logičeskij analiz jazyka. Jazyki estetiki (Logische Sprachanalyse. Sprachen der Ästhetik) bietet, so trifft man zunächst auf die Koalition von wahr-gut-schön, die als »Velikaja triada Istina, Dobro, Krasota« (Arutjunova 2004, 5-29) beschworen wird. Betrachtet man die griechische terminologische Szene, so erscheint kalokagathia als Präterminus für dobro-krasivo, das kalos wird dabei vom dobro gleichsam ein- und überholt.1 Sowohl bei Plato wie auch bei Aristoteles ist die Verknüpfung der beiden Elemente so eng, dass von einem einheitlichen Konzept ausgegangen werden kann, das körperlich-moralische Vollendung, Harmonie, Entsprechung von Körper und Geist meint.2 Das dritte Element, in dieser Konstellation, istina, hat im semantischen Verbund mit pravda eine separate, ältere Geschichte, deren Konnotationen, im Falle von pravda als Gerechtigkeit und Wahrheit, in christlicher Zeit Anschluss an die griechischen finden. (Lachmann 2006) Trotz dieser Einbindung in das Wahre und Gute kann sich die Konnotation des Ästhetischen, die in krasota enthalten ist, durchsetzen, wenn es um die Benennung von Schönheiten der äußeren Form geht. Doch wird das Äußere zum Inneren, wenn die Schönheit der Seele ins Blickfeld rückt: krasota ist Kernbegriff der Ästhetik des Spirituellen. Dem Lexikon der Schönheitsprädikate mit diesen divergierenden Konnotationen sind die genannten etymologischen, bedeutungsgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen gewidmet. Sie gehen epochen- und genrespezifisch vor und zeigen auf, wie

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Vgl. die Übersetzung des Titels Philokalia, den die Sammlung hesychastischer Texte im 18. Jahrhundert erhalten hat, mit Dobrotoljubie, Titel der kirchenslavischen Version, die der Archimandrit Paisij Veličkovskij 1793 in Petersburg veröffentlicht hat. Hier ist kalos zu dobro geworden. Zur Interpretation des Begriffs der kalokagathia A.F Losev (1994).

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religiöse Konzepte die Darstellung des Schönen in altrussischen Texten einfärben, und welche Schönheitsattribute die Volksliteratur Dingen und Personen zuschreibt. Es fragt sich allerdings, ob man aus diesen lexikalischen Befunden und den Versuchen, den jeweiligen Kontext zu befragen, um das Bedeutungsfeld abzustecken, einen Begriff oder Begriffe von Schönheit destillieren kann, d.h. ob ein Unternehmen wie Logičeskij analiz jazyka, das ja keine philosophische Abhandlung über das Wesen der Schönheit zur Vorlage hat, sondern Texte, in denen es um das Prädikat des Schönen geht, auf Tautologien zurückgeworfen ist. Die Frage muss offen bleiben, wenngleich Versuche zur Formulierung eines Schönheitsbegriffs aufgrund der lexikalischen Erhebungen unternommen werden. Nina Arutjunova macht im Eingangsartikel deutlich, dass ihr aufgrund der Befunde an der Entwicklung eines Schönheitsbegriffs gelegen ist, der sich nicht auf die sinnliche Wahrnehmung beschränkt, sondern einer Vorstellung des Schönen nachkommt, das nur mit einem »sechsten Sinn«, und zwar in der Kunst, erfahren werden kann, wobei sie sich, eher unsystematisch, auf Äußerungen von Dostoevskij und Odoevskij bezieht (7). Trotz ihrer Privilegierung eines Konzepts abstrakter Schönheit gilt ihr Interesse auch den Bezeichnungen für das im »lebendigen Leben« wahrgenommene Schöne, d.h. der darin enthaltenen ästhetischen Beschreibung konkreter Phänomene. Diese entdeckt sie in Attributen wie milyj, milovidnyj, prelestnyj, očarovatel’nyj, blagoobraznyj, privlekatel’nyj, chorošenkij, nežnyj, izjaščnyj, slavnyj etc. (10) (lieb, lieblich, reizend, bezaubernd, wohlgestaltet, anziehend, hübsch, zärtlich, elegant, prächtig). Diese allerdings sind, wie sie konstatiert, vornehmlich feminin konnotiert und eignen sich zweifellos nicht für die Qualifizierung von Kunstwerken. In Arutjunovas Nachzeichnung der Konnotationen von krasota geht es nach den Bezeichnungen für das Schöne sinnlich wahrnehmbarer Phänomene nicht nur um die Gewinnung eines Begriffs der Schönheit, wie er der Kunst innewohnt, sondern auch um eine Phänomenologie der netlennaja krasota (der unverweslichen Schönheit) und um eine religiös-erhabene Interpretation der Schönheit, die in den anderen, nämlich den übersinnlichen, Bereich eingegangen ist: »Красота […] перешла в область духа и воплотилась в образе Христа« (16). (Die Schönheit ist in das Gebiet des Geistes gelangt und hat im Bilde Christi Gestalt angenommen). Es ist ihr Anliegen, die spirituelle Bedeutungsfülle von krasota in dieser Konstellation herauszustellen, so als habe die Schönheit nunmehr hier ihren einzig wahren Ort und ihr eigentliches Wesen gefunden. Erwartungsgemäß wendet sich Arutjunova der Hypostasierung der krasota bei Dostoevskij zu. Unter den Belegstellen gilt dem, wie sie kommentiert, zur Formel verkürzten Satz, besondere Aufmerksamkeit: »Kpacoтa cnaceт мир«. (Schönheit rettet die Welt). Auffällig ist, dass die stilistische Finesse, die darin besteht, dass Dostoevskij den Skeptiker (und Nihilisten) Ippolit zu diesem ›Spruch‹ eine ausdrückliche Distanz einnehmen lässt, hier nicht im Sinne einer Depotenzierung des ihn prägenden Pathos verstanden wird. Es bleibt also unkommentiert, dass der Satz nicht unmittelbar von Fürst Myškin geäußert (d.h. der Leser ist nicht »Zeuge« dieser Äußerung), sondern als geradezu verächtlich gemeintes Zitat von Ippolit vorgebracht wird:

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Правда князь, что вы раз говорили, что мир спасет ›красота‹? Господа, […] князь утверждает, что мир спасет красота! А я утверждаю, что у него оттого такие игривые мысли, что он теперь влюблен […] Какая красота спасет мир? (3, 432).3 Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt wird durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren, […] der Fürst behauptet, daß Schönheit die Welt erlösen werde! Doch ich behaupte, daß er nur deshalb so sonderbare Gedanken hat, weil er verliebt ist […] Was ist das für eine Schönheit, die die Welt erlösen wird? (Idiot, 588) Aus der spirituellen Karriere, die der Satz von der welterlösenden Schönheit gemacht hat, kann man schließen, dass diese stilistische Einkleidung lediglich als Tarnung gelesen wurde, die ihm – trotz Ippolit – letztlich nichts anhaben konnte.4 Es gibt allerdings auch andere Sätze zur Schönheit, die Dostoevskij Fürst Myškin unvermittelt und ungebrochen äußern lässt, etwa beim Betrachten der Photographie von Anastasja Filippovna (das synonymisch zu verstehende choroša erscheint hier als Prädikat), oder beim Nachsinnen über Schönheit und Leiden, zu dem ihn ihr Anblick bewegt. Auf die Frage nach seiner Einschätzung der von ihm als črezvyjčajnaja krasavica (außergewöhnliche Schönheit) bezeichneten Aglaja antwortet er: »Kpacoty тpyдно cyдить; я еще не приготовился. Красота-загадка«. (8, 66) (Eine Schönheit ist schwer zu beurteilen. Ich habe mich nicht darauf vorbereitet. Schönheit ist ein Rätsel. (Idiot, 122) Das Motiv des Dunklen und Verhängnisvollen tritt in der negativen Schönheitstheorie Dmitrij Karamazovs hervor, der die schreckliche Macht der Schönheit aufruft, die keineswegs Erlösung verheißt, sondern Gegenstand eines auf dem Schlachtfeld des menschlichen Herzens ausgetragenen manichäischen Kampfes zwischen dem Teufel und Gott ist: Kpacoта – этo страшная и ужасная вещь. Страшная, потому что неопределимая, а определить нельзя потому, что бог задал одни загадки. […] Тут берега сходятся, тут все противоречия живут. […] Ужасно то, что красота есть не только страшная, но и таинственная вещ. Тут дьявол с Богом борется, а поле битвы – сердце людей (III, 138).   Die Schönheit, das ist ein furchtbares, schreckliches Ding! Furchtbar, weil sie undefinierbar ist, und definieren kann man sie nicht, weil Gott uns nur Rätsel aufgegeben hat. Da kommen die Ufer zusammen, da leben alle Widersprüche beieinander. (III, 125) Der verhängnisvolle Doppelcharakter der Schönheit, ihr Sublimes und ihr Dämonisches, lässt dieses Glied der Triade als das unbeständigste und schwierigste erscheinen (Arutjunova, 14). In der Bestimmung der Schönheit, die Adelaida Epančina äußert, nachdem sie Anastasja Filippovna gesehen hat, klingt die Ahnung eines Unheils, die Möglichkeit von Umsturz und Chaos mit: »Такая красота-сила/…/С такой красотой

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Band- und Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe F.M. Dostoevskij, Polnoe sobranie sočinenij v desati tomach (1956/1958). Zur vielschichtigen Konstruktion des Schönheitskonzepts die Analyse von Wolf Schmid (2010, 59-72)

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можно мир перевернуть.« (8, 69) (Eine solche Schönheit ist eine große Macht,/…/mit einer solchen Schönheit könnte man die ganze Welt umdrehen! (Idiot 128) Arutjunova schließt ihren programmatischen Artikel mit der Anfangsthese von der engen Verbindung der drei ›Instanzen‹, sie spricht vom trojstvennyj sojuz (Dreierbund) oder nochmals von der Triade Istina-Dobro-Krasota (28). Auf die spirituelle Dimension des dritten Gliedes schließt sie aus Christusworten, deren Bestätigung sie wiederum in Äußerungen Dostoevskijs sieht, ohne zwischen der Rolle der Schönheitsthematik im Kontext der fiktionalen Texte Dostoevskijs und deren Präsentation in seinen ›Bekenntnistexten‹ zu unterscheiden. Auch die meisten anderen Beiträge von Logičeskij analiz jazyka nehmen die Triade zum Ausgangspunkt, doch geht es auch um die Ermittlung von Grundlexemen, die sinnlich wahrnehmbare Phänomene qualifizieren. In den untersuchten Texten kommen sie als Substantive, häufiger als Adjektive vor. V. A. Matveenko führt anhand der Analyse altrussischer religiöser Texte krasota, lepota, dobrota, utvar‘, sladost‘, stroj (Matveenko 2004, 60-78) (Schönheit, Schönheit (sic!), Gutheit, Zierat, Süße, Wohlgestalt) als positiv wertende ästhetische Bezeichnungen an, deren jeweilige Konnotationen mit Bezug auf den griechischen (Prä-)Terminus ausgefaltet werden. Er hebt die ästhetische Komponente in dobrota hervor, ein Attribut Gottes, das zugleich krasota bedeutet, ebenso erscheint in diesen Texten die gute Schöpfung zugleich als schöne. Die Etymologie des zentralen Begriffs, krasota, macht Schwierigkeiten. Маx Vasmers Herleitung aus altisländisch hrosa, sich rühmen, hros Ruhm, scheint nicht ganz zu überzeugen (68); in der Lautseite des Wortes überwiege das dem Auge Sichtbare, wird dagegen argumentiert. Mit Verweis auf Sreznevskijs Materialy drevnerusskogo jazyka (dessen diesbezügliche Belegstellen aus dem Sbornik Svjatoslava und einer Übersetzung des Gregor von Nazianz stammen) wird krasota, krasovatisja als Übersetzung für griechisch terpnotes, terpo (im Sinne von Freude, sich freuen, genießen) angenommen (69). Auch in weiteren Begriffen sieht Matveenko Entsprechungen für griechische Begriffe: utvar‘ für kosmos im Sinne von Schmuck und Ordnung, aber auch – mit Verweis auf den von R. M. Cejtlin herausgegebenen Staroslavjanskij slovar‘ X-XI Jahrhundert – im christlichen Sinne der guten, schönen Schöpfung. Lepota erscheint als Äquivalent von kalos in der Bedeutung körperliche und geistige Schönheit. (Vasmers Rückführung auf das Verb lepit‘ wird hier nicht angezweifelt.) Das nur als Adjektiv vertretene čudnyj, čudesnyj (wunderbar, wundersam), eine Entsprechung von thaumasios, erscheint vornehmlich als Attribut der Sterne und lässt sich als Steigerung von krasota verstehen. Matveenko hebt hervor, dass eine kontextbezogene Analyse wegen des vorherrschenden Stils der Synonymie, der dem byzantinischen Vorbild folgt, hier schwer anwendbar sei (71). Er greift damit Dmitrij Lichačevs These von der spezifischen Stilistik altrussischer Texte auf, die eine Häufung von Begriffen zulasse, die demselben Bedeutungsfeld angehören, ohne deren semantische Unterschiede hervortreten zu lassen. Nicht um die Ausfaltung von Konnotationen gehe es dabei, sondern um die Erzeugung eines starken Eindrucks. (Damit erübrigt sich die Abgrenzung der sich synonymisch verhaltenden Begriffe krasota-dobrota, dobrota-lepota, krasota-lepota). Matveenko führt eine Reihe zusammengesetzter Adjektive mit ästhetisch beschreibender Funktion an: blagolep, dobrolepnyj, dobrokrasnyj, blagovidnyj, blagoobraznyj, krasnovidnyj, krasnoobraznyj. Nicht produktiv ist lep: lepota hat im Gegensatz zu nelepost‘ (Un-

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sinn) keine Karriere gemacht. Dennoch gelingt es Matveenko durch das Aufspüren von Verbindungen, die krasota in den altrussischen Texten mit anderen Lexemen eingeht, die Bedeutungsfülle zu ermitteln, die er als ustroennost‘, porjadok, soveršenstvo, celeobraznost‘ (Gefüge, Ordnung, Vollendung, Zweckmäßigkeit) ja sogar pol’za (Nutzen) wiedergibt – die schöne Schöpfung ist zweckmäßig geordnet, harmonisch und vollendet. Den für die altrussischen Texte charakteristischen spezifisch religiösen Inhalt von krasota sieht Matveenko mit Verweis auf Nikolaj Losskij als einzigen in der neueren russischen Theologie erhalten. Zum absoluten Wert krasota treten bei Losskij istina, svoboda, nravstvennoe dobro (Losskij 1991) (Wahrheit, Freiheit, das moralisch Gute). In der Untersuchung von Personenbeschreibungen in altrussischen Texten von I.I. Makeeva wird mit Verweis auf die Ipatevskaja letopis’ (Ipatjev-Chronik) und die Lavrentieva letopis’ (Laurentiuschronik) das Aussehen von Menschen, insbesondere Gestalt (Wuchs) und Gesicht, hervorgehoben. Sie vermerkt, dass das Äußere fast ausnahmslos mit Schönheitsbegriffen (blagolepen, dobrolicen, krasen, lep) beschrieben wird, während entsprechende Antonyme fast gänzlich fehlen. (Makeeva 2004, 428-436) Dieser Umstand, so die Argumentation Makeevas, lasse vermuten, dass das Geschöpf Gottes im Mittelalter nicht negativ beurteilt werden durfte – was allerdings einige negative Charakteristiken des Äußeren nicht ganz ausschloss (428). Das Positivum taucht meist als Adjektiv auf: krasen (weniger häufig sind dobr, predobr, lep, prelep, blagolepen vertreten); erst seit dem 14. Jahrhundert ist auch krasivyj belegt; prekrasnyj allerdings taucht als Attribut des Gesichts bereits in der altrussischen Periode auf (431). Mit der portretnaja leksika (Porträtlexik) versucht Makeeva, eine Art Charakterologie aus der Zuweisung von qualifizierenden Attributen zu erstellen, welche Form und Farbe des Gesichts betreffen, den Gesichtsausdruck benennen, jedoch keine rein ästhetische Beschreibungsfunktion haben. Vielmehr besteht das Hauptanliegen des slovesnyj portret (Wortporträt) darin, eine Person durch Beschreibung identifizierbar zu machen. Die Angabe individueller äußerer Merkmale sollte das Wiedererkennen ermöglichen, so dass Wuchs, Gesichtsfarbe, Augenfarbe sowie Haar nicht mehr Gegenstand ästhetischer, sondern feststellender Beschreibung sind. Diesen Funktionswandel der Beschreibung sieht Makeeva auch im Ikonopisnyj podlinnik des 17. Jahrhunderts, der angibt, wie ein bestimmter Heiliger zu malen war. (Dieser Fall passt m.E. zum vorangegangenen nur insoweit, als es hier um die Individualität des Typus, d.h. seine Wiedererkennbarkeit geht.) Hingegen übernimmt das historisch Gestalten geltende »paradnyj portret« wieder die deskriptive Aufgabe, die beiden Aspekte des Schönen zusammen zu führen: der ethisch hoch Stehende verfügt über ein ästhetisch ansprechendes Äußere (433). Auffällig ist, wie bereits erwähnt, das Fehlen echter Antonyme: das Gegenfeld des Hässlichen wird mit dem Verneinungspartikel »ne« wie in nekrasivost‘, nelepost‘, nelepota, nelepost‘, nelepovstvo, nelepotstvo oder Partikeln für das Fehlen einer Eigenschaft bezeichnet, »bez« (ohne). Letzteres führt zur Bildung der Opposition krasota-bezobrazie. (Alle Bezeichnungen stehen für Mangel an Schönheit, für das Unschöne; in nelepost‘ klingen im heutigen Sprachgebrauch Ungereimtheit, Unsinn, Abgeschmacktheit mit.) Zu den Antonymen im weiteren Sinn kann man Begriffe zählen, die das Unförmige, körperlich und geistig Missgestaltete benennen: urod, urodlivyj – davon jurodivyj für slaboumnyj (schwachsinnig). Das Unschöne wird offenbar als widerwärtig und abstoßend eingeschätzt, was Bezeichnungen wie gadost‘, merzost‘, skvernost‘, gnusnost‘ (Ekelhaftig-

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keit, Abscheuliichkeit, Garstigkeit, Gemeinheit), die ihre je eigenen etymologischen Geschichten haben, mit ihrer unüberhörbaren, moralischen Note verdeutlichen, es sind jedoch keine Antonyme in eigentlichen Sinn. Auch das Hässliche in bez-obrazie geht mit Konnotationen wie Widerwärtigkeit, Unanständigkeit, Unverschämtheit oder Gemeinheit zusammen. Gerade in bezobrazie wird deutlich, dass das Ungeformte, Ungefügte (obraz als gemeißeltes, geschnitztes Werkstück, Bild, Gesicht) auch den Abfall vom Guten meint. E. Ja. Šmeleva, die den Negativa nachgeht (2004, 597-602) führt an, dass bezobraznyj als kirchenslavische Lehnübersetzung von a-schemon oder a-morphos zu betrachten sei (598) im Sinne von formlos, gestaltlos, wobei sie sich auf die Paraphrase in Djačenkos Polnyj cerkovno-slavjanskij slovar‘ beruft: »ne imejuščij obraza, vida, podobija«. (keine Gestalt, kein Aussehen, keine Ähnlichkeit habend). Als Epithet des Teufels zeigt bezobraznyj an, dass es hier um die Abwesenheit der Ebenbildlichkeit Gottes geht, die nur für den Menschen gilt. Bei Puškin ergibt sich aus der Gegenüberstellung von prekrasnyj und bezobraznyj, dass letzteres als nekrasivyj, urodlivyj, aber auch im Sinne von ohne Gestalt (ohne Form) verstanden werden kann (die Betonungsverhältnisse spielen dabei offenbar noch keine Rolle). Gestaltlosigkeit grenzt in bezobrazie auch an Gesichtslosigkeit, bezlikost‘, worin ein Moment des Unheimlichen steckt.5 Gerade in den negativen Epitheta treten die ästhetischen und ethischen Aspekte zusammen: nekrasivyj, urodlivyj, bezobraznyj kann sich sowohl auf das Äußere wie auf das Verhalten eines Menschen beziehen (Šmeleva, 600). Diese lexikalischen Erhebungen sind letztlich auf Umschreibungen angewiesen, die das Lexikon der Gegenwartssprache zur Verfügung stellt6 und lassen Konturen eines Schönheits- bzw. Hässlichkeitsbegriffs keineswegs als klare hervortreten. Dies ändert sich auch nicht mit dem allmählichen Aufkommen nicht religiös ausgerichteter Literatur. Mit der Rezeption, d.h. Übersetzung von Ritterromanen und Texten mit erotischen Sujets entsteht eine monotone Schönheitstopik, die ausschließlich weiblichen, stereotyp dargestellten Figuren gilt. Prekrasnyj und das ererbte krasota haben Konjunktur und figurieren als Epitheta des Äußeren, d.h. haben ihren Doppelaspekt eingebüßt und wirken wie mechanisch zugewiesene Attribute: Prekrasnaja kralevna Magilena na nego zrela (Kuzmina 1964, 280); on že na nju zrja očima svoimi i na krasotu lica ee. (Škripil‘ 1954, 149) (Er blickte auf sie mit seinen Augen und auf die Schönheit ihres Gesichts). Die Schönheit wird personifiziert und zum erotischen Agenten: Krasota tvoja streloju streljaet vo utrobu; ljutye strely krasota vaša v serdce moe vonzila. (Mojseeva 1965, 244) (Deine Schönheit schießt mit einem Pfeil in mein Inneres, scharfe Pfeile hat eure Schönheit in mein Herz hineingestoßen). Die Eintönigkeit im Bereich der ästhetischen Attribuierungen entspricht der Eintönigkeit der Liebestopik – beides ist genrespezifisch bestimmt. Es bleibt aber just jene Topik aus, die sich in der westeuropäischen Dichtung entwickelt hat; eine Topik, in

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Tschižewskij interpretiert das auf der Tabaksdose in Šinel‘ verwischt erscheinende Gesicht als das bezlikoe (Gesichtlose), das für den Teufel steht (1966, 57-126). Makeeva umschreibt die aus den altrussischen Texten exzerpierten, ästhetisch orientierten Bezeichnungen mit standardrussischen Begriffen: blag mit prijatnyj, krasivyj, prekrasnyj; dobr mit krasivyj, milovidnyj; krasen mit krasivyj, prekrasnyj; lep mit krasivyj (534).

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die eine differenzierte, aus unterschiedlichen Traditionen (Anakreontik, Petrarkismus) stammende Metaphorik des Schönheitslobs eingegangen ist.

4.2 Nina Arutjunova hat deutlich gemacht, dass die von ihr angeführten Bezeichnungen für das sinnlich wahrnehmbare Schöne sich zweifellos nicht für die Qualifizierung von Kunstwerken eignen. Implizit ist damit gesagt, dass eine eigene Terminologie für die Bestimmung des Kunstschönen hier keineswegs gegeben ist. Das berechtigt zum Versuch, für den Teilbereich künstlerisch bearbeiteter Sprache der Tradition eines Lexikons nachzugehen, das Termini versammelt, die in Bezug auf ihren Objektbereich als ästhetische Metabegriffe verstanden werden können. Verengt man also den Blickwinkel auf Begriffe, die Sprache bzw. Stil ästhetisch qualifizieren, kommen Bezeichnungen ins Spiel, die zum einen mit der Rezeption der (griechisch-lateinischen) rhetorischen Tradition, zum anderen mit der damit verbundenen, aber ›moderne Termini‹ einführenden Poetik des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zusammengehen, wobei Nikolaj Ostolopovs Slovar‘ drevnej i novoj poėzii von 1821 (Wörterbuch der alten und er neuen Poesie) einige Auskünfte erteilen kann. Bezeichnungen, in denen die Wurzel kras oder lep steckt, sind in den Qualifizierungen von Sprache bzw. Stil nicht auszumachen. Die Antike hat differenzierte qualifizierende produktions- und rezeptionstechnische Termini mit der Funktion ästhetischer Meta-Begriffe hervorgebracht, wie sie insbesondere die aristotelischen Abhandlungen (technai) zu Rhetorik und Poetik belegen, die allerdings nicht mit dem Terminus kalos zusammengehen. Der Schönheitsbegriff, den kalos verbürgt, bezieht sich offenbar nicht auf den sprachlichen Ausdruck. (Diese technai lassen sich als Vorstufen zu einer Disziplin lesen, die mit Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik von 1750 etabliert wird.) Die Empfehlungen, die Aristoteles aus der Analyse gelungener Rede und Dichtung für die Herstellung neuer rhetorischer und poetischer Werke gibt, gelten deren Wirkung; genauer: einer beim Rezipienten zu erreichenden Verschärfung der Wahrnehmung, aisthesis. Es ist nun interessant zu verfolgen, dass Aristoteles Verfahren hervorhebt, die das Erwartbare, Übliche und Bekannte keinesfalls bestätigen, sondern Verwunderung, das thaumaston, hervorrufen sollen. D.h. es liegt diesen ein Begriff des Ästhetischen zugrunde, der nicht dem ›reinen‹ Schönen verpflichtet zu sein scheint, sondern zulässt, dass ästhetische Effekte aus dem ›Gegendas-Gewöhnliche-Gerichteten‹, pan to para to kyrion, erzielt werden. Das xenikon steht für ein selten gebrauchtes Wort oder für eine besondere (ungewöhnliche) Metapher, aber auch für einen spezifischen Umgang mit dem Wort: die Dehnung der Laute (epektasin) (Poet. Cap.22). Die Konnotationen des xenikon hat Viktor Šklovskij, der Neorhetoriker, in seiner Verfremdungstheorie zu entfalten verstanden – mit deutlicher ästhetischer Akzentuierung. (Hansen-Löve 1978, 24-30) Wertende Kriterien werden in der antiken Stiltheorie insbesondere bei der Gegenüberstellung der beiden Stiltypen artikuliert, die in der weiteren Tradition (diese Kriterien beibehaltend) als ›klassisch‹ (attizistisch) und ›unklassisch‹ (asianisch-manieristisch) in Erscheinung treten, wobei epochenspezifisch der eine oder der andere Pol ei-

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nen positiven Index erhält.7 Cicero und Quintilian liefern die Begriffe: Cicero – ein heftiger Asianismus-Verächter – unterscheidet zwei Modi asianischen Stils, den künstlichpreziösen und den beflügelt aufreizenden (Brutus 325). Auch diese Unterscheidung ist traditionsbildend. Quintilian spitzt die aus attizistischer Position entwickelte Kritik mit einem Tadel an Ovid zu (Inst. or, I, 67), der sein ingenium nicht durch das iudicium gezügelt habe. Dies ist womöglich der erste eindrückliche Beleg einer Konkurrenz zwischen diesen beiden Vermögen, wobei das letztere als Korrektiv fungiert – eine Funktion, die vor allem bei den nachbarocken Kritikern des Concettismus hervortreten wird. Das semantische Feld, in dem sich Quintilian in seiner Institutio oratoria bewegt, enthält neben ingenium auch imago, simulacrum und visio. Auch diese Begriffe implizieren an Maß und Angemessenheit orientierte Wertvorstellungen, die sich bei Quintilian mit Lizenzen verbinden. Mit dem Vorschlag phantasiai als visiones zu latinisieren, gelingt ihm der Anschluss an die griechische Theorie: Phantasiai nennen die Griechen – wir mögen dazu immerhin visiones sagen – die Seelenkräfte, vermöge deren wir Bilder abwesender Dinge, imagines rerum absentium, uns so lebhaft vorzustellen imstande sind, dass wir sie mit Augen zu sehen und leibhaftig vor uns zu sehen glauben. Wer solche Vorstellungen lebendig erfasst, wird in der Erregung von Affekten stark sein. Derjenige, der sich Dinge, Stimmen, Handlungen auf die wahrhaftigste Weise vorstellt, secundum verum optime finget, wird als mit starker Einbildung begabt, euphantasiotos, bezeichnet. Oft entstehen solche Bilder in der Langeweile und in eitlen Hoffnungen, inanes spes. Dieses seelische Laster, animi vitium, warum sollte man es nicht nutzbringend, ad utilitatem, anwenden? (VI, 2, 29-31) Quintilians Empfehlung, das animi vitium zweckmäßig einzusetzen, weist ihn als pragmatischen Attizisten aus, der zugleich, das zeigt der Kontext, den für die Genese der Phantasmen verantwortlichen irrationalen Zug hervorhebt. Dem korrespondiert in seiner anti-asianischen Stilkritik die Indizierung von Rednern, die schwülstig, tumidi, leichtsinnig, temerarii, verderbt, corrupti, mutwillig, exultantes, sind (X, 2, 16). Mit der Einführung des Negativbegriffs des kakozelon, der eine verwerfliche Affektiertheit, mala adfectatio, und damit alle vitia von Schwulst, Süßlichkeit, Überschwang, Abundanz und Gesuchtheit meint, verbindet er den Tadel an einem von seinem iudicium verlassenen ingenium (VIII, 3, 56). Die wertenden Kriterien Quintilians haben neben dem ästhetischen einen pathologisierenden Aspekt: der schlechte Stil und die übersteigerte Phantasie gehen zusammen. (Diese Pathologisierung bildet eine Tradition bis in die romantische Diskussion um kranke oder gesunde Phantasie, wobei das Kranke immer auch das moralisch Verwerfliche ist). Konsultiert man Untersuchungen zur Kritik des 18. Jahrhunderts am Barockstil, dann fällt auf, dass die negativ wertende Begrifflichkeit fast ohne Abstriche auf die Phantastikkritik übertragen werden kann. (Lachmann 2002, 29-45) Der Aufstand gegen die Stilhypertrophie und deren Gründe – Geschmacksverlust, Urteilsarmut, Maßlosigkeit, Unverhältnismäßigkeit in der Zuordnung von res und verba, die Extravaganzen des ingenium entspricht der Verurteilung der Normverstöße, die sich die Phantasie erlaubt.

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Den Aspekt des 3. Stils, des Stils von Rhodos, klammere ich aus, da es hier um die beiden Extreme geht. (Anders die Argumentation in Lachmann 2016, 95-109)

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Korrupter Stil entsteht aus korrupter Einbildungskraft – das ist die Folgerung normativer Ästhetik, die der barocke Concettismus mit seiner normsprengenden Ästhetik provoziert hat. Diese beruft sich auf Aristoteles, dessen thaumaston, atopon und alogon für die Begründung der acumen-Lehre herangezogen werden. Die Ästhetisierung der inventio gipfelt in der Privilegierung von Witz und Scharfsinn, die Steigerung der Finessen der elocutio in der ›kühnen‹ Metapher, der Über-Trope, die sich auf Nicht-Ähnlichkeit zu verlassen scheint. Das Groteske, Abstoßende gewinnt an Reiz und die damit verbundenen Schockelemente werden erwartet und eingeordnet. Umberto Eco hat in seiner Geschichte des Hässlichen, die jener des Schönen nachfolgt, dessen positive Attribute insbesondere in der bildenden Kunst herausgestellt. (Eco 2007) In seinem Beitrag »Außerhalb der Schönheit. Außerästhetische Elemente in der slavischen Barockdichtung« (1969, 207-238) hat Dmitrij Tschižewskij in den slavischen Literaturen des Barock Züge hervorgehoben, die er im Kontext des Nicht-Mehr-Schönen dennoch als positive Qualitäten bestimmt, wobei ihn Ludismus und Formbezogenheit interessieren. Er hebt »das Spiel mit den formalen Elementen der dichterischen Sprache, ohne eine unmittelbare Rücksicht auf die semantische Seite der Werke« hervor (211). In dieser Stilcharakterisierung wird auf tradierte rhetorische Termini verzichtet (obwohl sich einige der angeführten Charakteristika auf die traditionelle Terminologie rückbeziehen lassen). Als Dominanten, nicht aber als Konstanten slavischer Barockdichtung sieht er »1. die Schilderung des Grausigen.« (In diesem Zusammenhang geht er besonders auf Comenius ein, dessen Verfahren der Grausamkeitsdarstellungen wie Foltern, Hängen, Häuten, Vierteilen (215f.) und der Schilderung des dem Untergang und Verfall preisgegebenen Körpers im Kontext der Todes- und Vergänglichkeitsthematik in »Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens« er hervorhebt); 2. die Darstellung des Hässlichen; 3. die ideologische Hyperbolik in Texten von ›Fanatikern‹; 4. ›anstößige‹ Äußerungen über ernste, ideologische, vor allem theologische Probleme; 5. die ›spielerische‹ Dichtung; 6. die beabsichtigt ›dunkle‹ Dichtung« (212). Hässlichkeitsdarstellungen, häufig mit der Vergänglichkeitsthematik verbunden, erscheinen als antipetrarkistischer und stellenweise frauenfeindlicher Kontrapunkt zu den Schönheitsentwürfen der Renaissance.

4.3 Die oben genannten, den beiden Stilkonventionen geltenden Begriffe, die poetologischrhetorischer Tradition entstammen, funktionieren wie ästhetische Metabegriffe. Der Terminus »schön« als Bezeichnung für eine Stilqualität fehlt allerdings, fungiert aber als Attribut in einer Umschreibung von ars rhetorica, auf die man in der deutschen Tradition stößt: »die Kunst der schönen Rede«.8 Michail Lomonosovs krasnorečie (Predislovie k krasnorečiju von 1747) schließt hier an, um den als ritorika übernommenen Terminus zu russifizieren. Aber bereits ein die Frühgeschichte der Rhetorik in Russland markierendes Handbuch, die sog. Makarij-Rhetorik vom Beginn des 17. Jahrhunderts (Lachmann 1980) zeigt Versuche, ritorika auf eine Weise zu umschreiben, dass Termini ins Spiel 8

»Die schönen Künste«, »les beaux arts werden seit dem 18. Jahrhundert mit izjaščnye iskusstva wiedergegeben.

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kommen, die dobro, krasovito (gut, schön) mit sladko (süß) und polezno (nützlich) (das Horazische dulce et utile) zusammenführen und den Gegenstand der Rhetorik mit Komposita (aus -slovie und -glasie und dobro, sladko, krasno) benennen: Ritorika est' jaže naučaet puti pravago žitija poleznago dobroslovija. Siju že nauku sladkoglasiem ili krasnosloviem. Poneže krasovito i udobno glagolati i pisati naučaet (lV). Dieses nur zwei Teile umfassende rhetorische Lehrbuch, das der von Melanchthon begründeten Linie folgt (Steinkühler 1983, 153-178), führt nach inventio (izobretenie) die elocutio als ukrašenie slovesnoe ein und expliziert: »ukrašenie slova est’ kotoroe jasno i javno i sladkoju rečiju ili glagolaniem dela i vešči objavljaet« (27v); jasno, javno und sladko (klar, offen, süß) erscheinen als ästhetisch wertende Attribuierungen einer gelungenen elocutio; mit ukrašenie (eigentlich Schmückung, Sprachschmuck) ist der die Rede gestaltende ornatus gemeint. Als ein Synonym von ukrašenie erscheint an anderer Stelle auch vyobraženie, das auf dem Einsatz von Tropen und Figuren beruht, wobei die Poiesis des Herstellens, Fügens, Formens betont wird (28). Die russische lateinische Tradition knüpft an die Antike an: In Feofan Prokopovičs Ars rhetorica von 1706 wird eine weit gefächerte decorum-Lehre entwickelt und die von Cicero und Quintilian entwickelte Stilqualifizierung übernommen, die in der Gegenüberstellung von falsa eloquentia und vera eloquentia verknappt zum Ausdruck kommt. (Prokopovič 1982) In De corruptae eloquentiae vitijs (Cap. 5, lib. 1) führt Prokopovič die Fehler der verderbten, eigentlich dekadenten Eloquenz – wie sie für ihn die barocken polnischen Prediger mit ihrer Bevorzugung des acumen und des lusus verborum repräsentieren – in peinlicher Genauigkeit auf und geißelt sie als Verstoß gegen das alles bestimmende decorum, das ästhetische Maß jeder Rede. Die Laster des tumidum, cacozelum, frigidum, puerile, parenthyrsum sind es nicht allein, sondern die Lautspiele, das obscurum, der tumor des Übermaßes und der Unordnung, der Griff nach ungewöhnlichen Archaismen und die Tendenz zu sprachlichen Neubildungen werden – jeder Aristoteles-Rezeption trotzend – als Verderbnisse ausgestellt. (Lachmann 1984, 181-250) Dagegen wird (Cap. 3, lib. 1) die um den Begriff der forma kreisende (an die Antike anschließende) Dreistillehre, die auf der Entsprechung von Stilhöhe und Schmuck beruht, verordnet. In der höchsten Stilstufe wird das besonders deutlich: das genus grande, grave, sublime erweist sich als das perfekte Verhältnis von res magna und magnifica forma. Dazu kommen andere Instanzen wie Tropen und Figuren, Ort, Anlass, Adressat. Das Ganze ergibt ein Entsprechungssystem, das den Regeln der Angemessenheit unterworfen ist. Decorum bzw. aptum ist das Schlüsselwort für dieses Zusammenspiel von Affektklasse, Affektstufe, Redegattung, Redefunktion, Stilart, Tropen und Figuren, die Entsprechungsstilistik hat ein ästhetisches Ziel, das der Harmonie und der Formschönheit gilt. In Michail Lomonosovs, rhetorischer Abhandlung Krasnorečie (Lomonosov 1952) ist eine gewissermaßen zurückgewandte barockisierende Tendenz auszumachen, die sich den Rigoren des decorum entzieht und ostroumie, vitievatye reči, vymysel (Scharfsinn, kunstvolle Reden, Einfall) empfiehlt, wobei der Effekt der vitievatye reči in etwas besteht, das als važnoe und prijatnoe (gewichtig und angenehm) bezeichnet wird. (Das prijatnoe wird auf einer späteren Entwicklungsstufe wiederum als ästhetische Qualität fungieren.) Durch

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Lomonosovs Manier(ismus) wird die wertende Stilkritik auf den Plan gerufen, die mit Vehemenz in den Vzdornye ody (Spottoden) seines konkurrierenden Zeitgenossen Aleksandr Sumarokov zum Ausdruck kommt. Hier wird zudem deutlich, dass nunmehr auch aufklärerische Kriterien ästhetische Urteile mitbestimmen. So kann es etwa nicht angehen, wenn Lomonosovs sila sovobraženija (Einbildungskraft) kühne Metaphern, Hyperbeln etc. ersinnt und damit den Verstand, razum, beleidigt, oder wenn das strannoe (Seltsame) das Angemessene, priličnoe, und das črezestestvennoe (das Übernatürliche) das estestvennoe (das Natürliche) außer Kraft zu setzen versuchen, und die vitievatye reči geradezu gegen den guten Geschmack (vkus) verstoßen. (Lachmann 1984, 148-172) Vkus figuriert hier in der Tradition klassizistischer Ästhetik im Sinne des bon goût, des buon gusto, der sich auch gegen gromkost‘, toržestvennost‘ und mnogoglagolanie (lautes Tönen, Pomp und Vielredenheit) verwahrt. Kürze, Einfachheit und Klarheit sind angesagt, und eine eigene Qualität, nežnost‘ (Zärtlichkeit), wird hier beschworen, die zu einem der Stilattribute avanciert, die nach dem Anschluss an die Tradition der erotischen Genres ihre Rolle spielen wird. In Vasilij Trediakovskijs Vorwort zu Ezda v ostrov ljubvi (Reise auf die Liebesinsel) wird gegen das gromkoslovie das legkoe stichotvorstvo (leichte Verskunst) gesetzt, wie es der Rokoko-Anakreontik entspricht. Zwar klingt in nežnost‘, nežnyj sluch, die klassische suavitas mit, doch gewinnt dieses Stilattribut – in Verbindung mit prijatnost’ und dem interesnoe dlja duši (dem Interessanten für die Seele) – in der Stilkonzeption des Sentimentalismus bei Nikolaj Karamzin, Jurij Neledinskij-Meleckij und Ivan Dimitriev eine wirkungsbezogene Komponente hinzu. In Nikolaj Ostolopovs Slovar‘ drevnej i novoj poezii wird die Tradition der Stiltypologie mit der etablierten Wertskala wieder aufgenommen und mit Rekurs auf französische Stillehren dargelegt. Zu slog ili stil‘ wird ausführlich der französische Poetiker André zitiert (III, 196-200), dessen poetologische Abhandlung unter dem Titel Razsuždenie o prekrasnom v tvorenijach razuma (Abhandlung über das Schöne in den Schöpfungen des Verstandes) in der Übersetzung von Dmitrij Chvostov, wie die Anmerkung angibt, 1821 offenbar vorlag. Der lučšij (beste) oder der prekrasnyj slog (schöne Stil) wird mit klassischen Idealattributen beschrieben, darunter točnost‘ v oborotach i figurach, rod nekotoroj garmonii v izbranii slov. (Genauigkeit in Wendungen und Figuren, eine Art von Harmonie in der Wortwahl) Das Vermeiden von lišnie slova (überflüssigen Wörtern) und eines Übermaßes an blesk (Glanz) wird als stilistischer, diesen slog auszeichnender Vorzug hervorgehoben. Aufschlussreich ist der Abschnitt »O pogrešnostjach v sloge«, (Über Fehler im Stil) der stilistische Verfehlungen mit Prädikaten wie temnyj, prinuždennyj, nadutyj, cholodnyj, nizkij, odnoobraznyj (dunkel, gezwungen, aufgeblasen, kalt, niedrig, einförmig) versieht, die in die Tradition der Verurteilung korrupter Rede gehören. Im prinuždennyj slog wird insbesondere die Manier, das Gewöhnliche durch fremde Wendungen und Ausdrücke, strannye oboroty i vyraženija, angenehm zu machen, gerügt. Es scheint, als wirke hier Prokopovičs decorum-Anweisung nach. Ein eigenes Kapitel wird der prinuždennost‘ (II, 429-432) gewidmet, womit der Terminus, der als Äquivalent von affectatio erscheint, offenbar als Bezeichnung einer Negativ-Kategorie Bedeutung gewinnt. Der affektierte Stil bedient sich ausgesuchter Wendungen versucht übermäßig natürlich, natural’nyj, oder übermäßig empfindsam, čuvstvitel’nyj, zu sein – natural’nyj geht hier vermutlich auf frz. naturel im Kontext der Poetik des empfindsamen Romans zurück. Stilqualitäten wie nežnost‘ und prijatnost‘ werden nicht eigens hervorgehoben.

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In der von Puškin vorgebrachten Sentimentalismus- (insbesondere Karamzinismus-)Kritik (die an Ostolopovs prinuždennost‘-Beschreibung angeschlossen werden könnte) taucht eine die negativen Stilistika charakterisierende Terminologie auf, die sich nicht an den Wortlaut der Bezeichnungen für den korrupten Stil hält: vjalye metafory, napyščennost‘, čopornost‘, žemanstvo;(blasse Metaphern, Schwulst, Affektiertheit, Geziertheit) die idealen Qualitäten indes werden mit den herkömmlichen Termini jasnost‘, kratkost, točnost‘, blagorodnaja prostota (Klarheit, Kürze, Genauigkeit, edle Einfachheit) bezeichnet. (Puškin, t. 7, 1956-58). Gogol’ hebt in den neuen, von Puškin herausgebildeten Stilqualitäten just die Abwesenheit der schönen Rede hervor: »zdes’ net krasnorečija« (Gogol’. t. 6, 1967, 73), während Puškin die frühen Erzählungen Gogol’s mit dem Lob »bez žemanstva«, »bez čopornosti« auszeichnet. (261)

4.4 Obschon Rhetorik und Poetik ihre präskriptive Rolle längst ausgespielt, bzw. an andere Instanzen abgegeben haben, an die Literaturkritik zum einen, an die Poetologie der Autoren zum andern, bestätigen die Bewertungsskalen – und deren Terminologie – den Fortbestand einer ästhetischen, auf der Opposivität zweier konkurrierender oder einander ablösender Stile beruhenden Konzeption. Auch in Belinskijs Gegenüberstellung von poezija ideal’naja und poezija real’naja, die den stilistischen Bereich einbezieht, ist letztere noch zu erkennen. Das stilistische Schönheitskonzept hat jetzt allerdings das gesamte krasnorečie als verlogen und rhetorisch aufgegeben (»ne govori krasivo’ (red’ nicht schön) sagt Bazarov in Turgenevs Otcy i deti (Väter und Söhne). Als Bezeichnung für eine neue literarische Strömung macht nun allerdings natural’nyj Karriere. Die von dem konservativen Kritiker und Autor Faddej Bulgarin als negative Charakterisierung der novejšaja škola (der neuesten Schule) eingebrachte Bezeichnung meint ein Ensemble von Verfahren, die den Gegenstand der Auseinandersetzungen der 40er Jahre bilden. Die kontroverse Aufnahme des Sammelbandes Fiziologija Peterburga von 1845 macht deutlich, dass sich eine neue Literaturästhetik durchzusetzen beginnt. Mit Belinskijs Umwertung des Negativbegriffs erhält die neue Richtung ihre Bezeichnung natural’naja škola (Kulešov 1965, 14-20) (Natürliche Schule) Die stilistische Kontroverse ergibt sich einerseits aus dem Vorwurf, dass die Darstellung der Natur, priroda, in der ›neuen Schule‹ ohne Hülle, bez pokrova, auskomme, was das Hässliche, Schmutzige, Niedrige zulasse, und andererseits aus der Zurückweisung der ›alten Schule‹ als rhetorisch oder nicht-natürlich, d.h. künstlich und verlogen: »staroj, retoričeskoj, ili ne natural’noj, to est‘ iskusstvennoj, ložnoj školy.« (Belinskij, t. 9, 650). Gegen die Ästhetik des Verhüllens tritt die Ästhetik des Aufdeckens, wie sie insbesondere die Gattung der Physiologischen Skizze in dem weitgehenden Verzicht auf das narrative und der Betonung des deskriptiven Moments entwickelt. Ästhetische Positiva sind nunmehr die Reduktion des stilistischen Aufwands und die Hinwendung zu stilistisch wenig bearbeiteten Sprachformen, woraus eine prominent werdende neue Form von Stilisierung entsteht, der skaz. Ästhetische Relevanz erhalten im sich entwickelnden Realismus neben dem Stil auch die für den Aufbau des Sujets, den Entwurf von

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handlungstragenden Figuren gelten Kriterien, was zu kontroversen Positionen, insbesondere in der Frage der Typisierung, führt. Dass die stilistischen Attribute weiterhin eine Rolle spielen und zur Charakterisierung sprachlichen Ausdrucks eingesetzt werden, macht deren sarkastische Zurückweisung bei den frühen Futuristen deutlich. Aleksej Kručenych und Velimir Chlebnikov führen in Slovo kak takovoe von 19139 die beiden terminologischen Traditionen zusammen, die je einen der stilistischen Pole bezeichnet haben: До нас предъявлялись следующие требования языку: Ясный, чистый, честный, звучный, приятный (нежный для слуха), выразительный (выпуклый, колоритный, сочный) […] мы заметим, что все их требования (о ужас!) больше приложимы к женщине как таковой, чем к языку, как таковому […] язык должен быть прежде всего языком и если уж напоминать что-нибудь, то скорее пилу или отравленную стрелу дикаря (1929, 81) […] Чтоб писалось туго и читалось туго неудобнее смазанных сапог или грузовика в гостиной. (80)10   Bis zu uns wurden folgende Anforderungen an die Sprache gestellt: Klar, rein, ehrenhaft, wohlklingend, angenehm (zärtlich für das Gehör), ausdrucksvoll (plastisch, farbig, saftig) […] wir merken an, dass ihre Forderngen (o Schreck!) eher der Frau als solcher angemessen sind als der Sprache als solcher […] Sprache muß vor allem Sprache sein und wenn sie schon an etwas erinnern soll, dann eher an eine Säge oder den Giftpfeil eines Wilden. Es soll sperrig geschrieben werden und sperrig sollte gelesen werden, unbequemer als Schmierstiefel oder ein Lastwagen im Wohnzimmer. Viktor Šklovskij schließt hier an, zitiert das tugoe (sperrig) und führt dies im Konzept der zatrudnennaja forma (erschwerte Form) (1983, 15) weiter. Das Sperrige, die erschwerte Form, das Knirschende, Ungefällige lässt somit nicht nur die prijatnost‘ und nežnost‘, sondern auch die prostota, kratkost‘ und čistota als obsolet erscheinen. Nach deren Verabschiedung wird das stilistische Feld neu geordnet, jedoch kehrt (gewissermaßen regelhaft) die Zweipoligkeit, allerdings anders besetzt, wieder auf den Plan, wenn man die ornamental’naja proza (ornamentale Prosa) als den einen Pol und die konservativen Stilkonzepte des Sozrealismus, bzw. die innovativen der Faktographie als den anderen betrachtet. Das Bild ist bekanntlich komplizierter, da die Konfrontation zwischen innovativen und traditionellen Stilformen zu beachten ist und die Faktographie den eigentlichen Gegenpol zum Ornamentalismus darstellt (wobei es Vermischungen der Stilhaltungen, etwa bei Isaak Babel’ und Boris Pil’njak, gibt). Die ästhetischen Kriterien der russischen akademischen Stilstudien, die sich mit der ornamentalen Prosa, der Faktographie und dem Sozrealismus beschäftigen, lassen weiterhin auf die Geltung der Zweipoligkeit schließen. Die Exzess-Stilistik, die die frühen Werke von Vladimir Sorokin bestimmt, scheint aus der Zweipoligkeit herauszufallen, d.h. die qualifizierende Terminologie ist überfordert; am ehesten noch ließe sich die antike Topik des ›korrupten Stils‹ bemühen, mit 9 10

Zitiert nach der Ausgabe Ot simvolizma k Oktjabru, 1929, t. 1. Grundsätzlich zur ästhetischen und poetologischen Bedeutung der russischen Avantgarde Aage Hansen-Löve (2005).

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Begriffen aus der Affektstilistik bereichert. Damit wäre die Einschränkung auf das Negative zugunsten einer Orientierung auf schiere Wirkung aufgegeben – im Sinne von Schock, ekplexis, Bestürzung, perturbatio. Aber das Abjekte, auf bezobrazie Zugespitzte, das sich außerhalb von Vorstellungen bewegt, die mit decorum etwas zu tun haben könnten, und die letztlich über das aristotelische thaumaston hinausgehen, lässt sich nicht mit den tradierten rhetorischen Begriffen fassen. Am ehesten noch wären Bachtins Bestimmungen der Groteske und des Phantastischen heranzuziehen, doch überschreitet die Gräuel-Stilistik Sorokins den Raum, den Bachtins Semantik der Rekonziliation und des befreienden Lachens absteckt. (Lachmann 2004, 44-52) Dagegen bietet sich an, die (in Russland nicht rezipierte) Ästhetik des Hässlichen von Karl Rosenkranz von 1853 heranzuziehen. Rosenkranz ist nicht nur an der Benennung von Phänomenen des Hässlichen gelegen, sondern auch an deren Interpretation. Für Rosenkranz ist die Groteske (im vorbachtinschen Sinn) die Verkörperung des »Naturhässlichen«, des »Geisthässlichen«, des »Kunsthässlichen« – und sie erscheint nicht nur als Analogon des Bösen und Kranken, sondern inkorporiert es. (Es geht mir hier nur darum, eine neue Etappe in der Entwicklung der corrupta eloquentia und deren pathologisierender Charakterisierung zu zeigen.) Rosenkranz stellt kulturmoralische Überlegungen an, die das Faszinosum des Abscheulichen mit einer degenerierten Gesellschaft verbinden: »Das Wohlgefallen am Hässlichen« tritt auf »krankhafte Weise« auf, »wenn ein Zeitalter physisch und moralisch verderbt ist« (Rosenkranz 1990, 55). Und es hat eine Funktion: Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Hässlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird. Tierhetzen, Gladiatorspiele, lüsterne Symplegmen, Karikaturen, sinnlich verweichlichende Melodien, kolossale Instrumentierung, in der Literatur eine Poesie von Kot und Blut (de boue et de sang, wie Marinier sagte) sind solchen Perioden eigen. (62). Rosenkranz’ Analysen gehen über die moralisierenden Urteile hinaus, die ohnehin weniger den Sittenverfall als die Hypokrisie betreffen: »Die unglaubliche Falschmünzerei der Geschichte der Literatur«, die mit Prädikaten wie das »Edle, Reine, Schöne, Erhebende« etc. betrieben werde und die »Dezenz zum exklusiven Maßstab« (70) mache. In Rosenkranz’ Ästhetik gehören von ihm nicht kommentierte vorangegangene Phänomene in der Literatur (und Bildenden Kunst), z.B. die Manierismen der römischen Antike und diejenigen des Barock, wobei der ästhetische Reiz, den Ecos Geschichte der Hässlichkeit herausstellt, zweifellos dem puristischen Ideal zum Opfer fallen würde, sowie die ›dekadenten‹ Stilzüge des Naturalismus, die Rosenkranz noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte. (Wahrscheinlich wäre auch die auf Hyperbolik angelegte Stilistik Dostoevskijs, der die zanimatel’nost‘ (das Interessante) über die chudožestvennost‹ (das Künstlerische), das fantastičeskoe (das Phantastische) über die sorazmermost‘ (das Maßvolle), die ekplexis über den Formgenuss stellt, in die Negativ-Ästhetik geraten – im Gegensatz zu Tolstojs Prosa.)11

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Zu Dostoevskijs Affektstilistik s. Kap. 10.

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4.5 Der Versuch, Zweipoligkeit in der ästhetischen Begrifflichkeit und ästhetischen Konzeption zu verfolgen, scheint nicht müßig, auch wenn Abgrenzungskriterien undeutlich werden und Rosenkranz’ Terminologie kaum mehr brauchbar ist. Denn es gibt weiterhin eine von der Zweipoligkeit bestimmte Poetologie, wie sie Varlam Šalamov in seiner ›Prosa-Lehre‹ vertritt. Mit einer Belletrismus-Kritik, die sich gegen Ornamentalismen, »Wortgerassel«, eine affektgesteuerte Stilistik des Schocks wendet, verfolgt Šalamov eine Schreibweise, die er ›Faktologie‹ nennt, für die Formulierungen wie »Eine Bereicherung der Sprache bedeutet eine Verarmung der Erzählung im Sinne der Wahrheitstreue, der Wahrhaftigkeit« ästhetische Geltung haben. Babel’s üppiges Imaginarium hat er entschieden abgelehnt, Sorokins Horror-Phantastik wäre vermutlich unter sein Verdikt gefallen. (Šalamov 1970/209, 37) Es wäre zu fragen, ob in die ästhetische Lexik der Stilistik auch Begriffe gehören, die, aus nachrhetorischen Konzepten stammend, die Ästhetisierung des Semantischen anzeigen: Bachtins Konzept der dialogičnost‘ (Dialogizität) und des dvugolosoe slovo (dеs zweistimmigeн Wortеs), Jakobsons anagrammatischer Wert u.a.).

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5. Metaphern der Kreativität: Textgenesen

Im Folgenden geht es um den Versuch, Entstehung und Herstellung von poetischen Texten als getrennte und korrespondierende Vorgänge darzustellen und deren Spiegelung in mythopoetischen Vorstellungen unterschiedlicher Provenienz nachzugehen. Schöpfertum (poeta als alter deus) und Inspiration (das Wirken der Musen), Einbildungskraft (als menschliche facultas) und Begabung (als Gottesgeschenk) erscheinen dabei als gegenläufige, Werkgenesen ›begründende‹ Konzepte. Eine eher poetologische als mythopoetische Rolle spielen Begriffe wie Einfall und Zufall, deren Funktion als generierende Faktoren in Werkentstehungs- und Werkherstellungsbeschreibungen zu Tage tritt, wobei Spontaneität und Planung einander gegenüber stehen; das gilt für den Concettismus, dadaistische Arrangements ebenso wie für die Improvisation. Poetologie und Mythopoetik sind – in ihrer Interrelation – Ausgangspunkte für meine sowohl Traktate als literarische Texte – chronologisch ungeordnet – aufnehmende Darstellung.

5.1 Während der unwillentliche, absichtslose Einfall als gedankliches Phänomen und der Zufall als ein sich Ereignendes zu spontanen Hervorbringungen führen können, ist das Spontane im forcierten, beabsichtigten Einfall und im arrangierten Zufall lediglich Projektion. Allerdings spielen beide, Einfall und Zufall, in ihrer doppelten Funktion in unterschiedlichen Konzepten der Poiesis ihre Rolle und sind dann Themen der Literatur, wenn von Triumphen oder Krisen der Kreativität und der Entstehung von Werken erzählt wird. Was ist ein Einfall als gedankliches Phänomen?1 Einfall als unwillentliche Selbsthervorbringung oder als von außen Kommendes, etwas das einem zufliegt, das von außen einfällt, ohne Warnung, ohne Anstrengung und Mühe, ein Zugefallenes? Oder eher ein

1

Hier schließe ich an einige frühere Überlegungen an (2007, 7-12). Zur Geschichte des Einfalls sei verwiesen auf den aufschlussreichen Artikel mit philosophischen und poetologischen Pointen von Ulrike Zeuch: »Out of the blue« (2010, 22-33).

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Überfall, den sich bestimmte Gedanken auf die Vernunft erlauben? Oder gar ein Unfall des Denkens, ein Abfall vom kontrollierbaren kontinuierlichen Gedankenfluss? Es scheint, als ergebe sich die Spontangenese des Einfalls aus einer Zufallskonstellation von Gedankenfetzen, Erinnertem, einer Augenblickswahrnehmung, die das gleitende Denken staut und im Bruchteil eines Augenblicks, der eine Art gedankliche Kontraktion zulässt, (eine zentripetale Gedankenkonstellation), die aus der zerebralen Unruhe herausführt, alle quer und durcheinanderlaufenden Gedanken bündelt und eine momentane Leere herstellt, aus der ein Unbekanntes, Noch-Nicht-Gedachtes hervortritt. Die Neurophysiologie sieht das vermutlich ganz anders. Es geht um das Vorher (das dieses Neue noch nicht kennen kann) und das Nachher, in das das Neue eingeht. Das Neue erscheint demjenigen, der es nicht absichtsvoll hervorgebracht hat, und demjenigen, der es (unverhofft) wahrnimmt oder erfährt, als zufällig, es betrifft ihn, beunruhigt. Der Einfall, der das Neue generiert, bewirkt eine Diskontinuität im Be-Denken und Aus-Denken der Welt. Aber: ist das Neue eine Erfindung oder eine Wieder-Findung, ist die Spontangenese des Einfalls zuverlässig? Die kritische Prüfung des Einfalls deckt häufig seine Unoriginalität auf, oft handelt es sich um einen Einfall aus des Kopfes zweiter Hand. Weiterentwickeln, Transformieren, Verwerfen, Gegensteuern (troping against im Sinne von Harold Blooms Anxiety of Influence, 1973) mögen verschiedene Gesten des Umgangs mit den Einfällen anderer sein, die uns als die eigenen täuschen, letztlich sind es Gesten der Bewahrung fremder Ideen, die langsam zum Eigentum werden, einverleibt, einverhirnt werden. Die fremde Quelle wird allmählich vergessen (oder begraben?). Dieter Henrich hat in der Zeitschrift Idee in einem mit Ulrich Raulff geführten Gespräch über seinen Begriff der »Sekundenphilosophie« (Henrich 2010, 5-21) dafür plädiert, den Einfall von der Einsicht (Erkenntnis, Eingebung) zu unterscheiden: er hebt die Eingebung als Erfahrung hervor, an die man sich lebenslang erinnert. Die Nichtwiederholbarkeit des fundamentalen Einsichtsmoments, die Plötzlichkeit, das Unvorhersehbare werden betont. Einsicht und Eingebung haben wie der (unwillkürliche) Einfall etwas Autorloses, etwas das geschieht, nicht erzwungen, nicht herbeigeführt werden kann. Henrich spricht von einem »ekstatischen Augenblick« der Einsicht, und bejaht die Frage des Gesprächspartners, ob dies im Sinne der Mystik zu verstehen sei. Es sei eine Art Lichterfahrung (Erleuchtung, Aufklärung). Einsichten seien von »kristalliner Klarheit und Deutlichkeit«. Einsichtsmomente können, auch das eine Beobachtung Henrichs, »als Schlüssel für die gesamte Konzeption« auftreten, sie sind also generierend, inchoativ; es geht also nicht, wie es für philosophisches Denken zu erwarten wäre, um einen Schritt für Schritt konsekutiv erarbeiteten Gedanken, sondern mit dem Einsichtsmoment verbindet sich etwas Unwillentliches. Das Momentane gelte, so Henrich, der neurologische Beobachtungen streift, auch für »naturwissenschaftliche Entdeckungseinsichten«. Letztere nennt er »archimedische Einsichten«, die er von religiösen unterscheidet. Darin hebt er die »singulären Ereignisse« hervor, etwa den Empfang einer Offenbarung oder einer Berufung. In Henrichs Sekundenphilosophie ist die Einsicht von »fundamentaler Evidenz« (ich sehe dies, das Momentane einrechnend, als das plötzliche Verstehen eines Zusammenhangs, einer Kausalität). Anders als beim Einfall, so scheint es, kommen hier keine Zweifel auf, es gibt nichts Spielerisches, man wird eher auf das

5. Metaphern der Kreativität: Textgenesen

apodiktisch Endgültige verwiesen, Einsichten bedürfen offenbar nicht wie die Einfälle einer Originalitätsprüfung. Wie für die Einsicht gilt für die eine Version des Einfalls, dass er nicht erzwungen werden kann, dass er von innen kommt oder einem zufliegt. Aber es gibt auch die andere Version, den Einfall, um den man sich abmühen muss. Von Lessing lassen sich zwei Dikta zitieren, die diese Diskrepanz zu fassen scheinen: »Gute Einfälle sind Geschenke des Glücks« (1997, 24), heißt es zum einen – hier ist auch der Aspekt des Zufälligen enthalten. In der Hamburgischen Dramaturgie handelt eine andere Formulierung von der Qual, sich etwas ausdenken zu müssen: »Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch die eigene Kraft sich emporarbeitet […] ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen«2 . Ähnliches mag für den Einfalls-Zwang gelten, unter dem Concettisten, Pointensucher, Improvisatoren stehen, die zu einer Produktion genötigt sind, die Plötzlichkeit und Geistesblitz verlangt. Neben dem Zwang gibt es freilich die Begabung, die Improvisationsgabe, die sprachlich gelebte Spontaneität, das Dichten aus dem Stegreif (d.h. ›aus dem Steigbügel‹, ohne vom Pferd zu steigen, wie die Wortgeschichte lehrt).

5.2 Ein Zug von Improvisation, verbunden mit der Erlernbarkeit eines Regelwerks, liegt auch dem Überraschenden, Geistesblitzenden des Concettismus zugrunde. Das Concetto kann nachgerade als Inbegriff des Einfalls, der verbalen Spontangenese gelten. Es geht immer um das Unerwartete, inopinatum, die überraschende Findung von Ähnlichkeiten in der akuten Metapher, Einsichten in semantische Bezüge, plötzlich auftauchende Bedeutungsverwandtschaften, plötzliche Begegnung von Entlegenem, die bestürzende, belustigende, befremdende Einsichten erzeugt. Die semantischen Ähnlichkeitsordnungen, die die inventio aufstellt, sind ephemer, sie werden in Genuss und Bewunderung aufgezehrt, d.h. sie können, sie müssen übertroffen werden. Es geht immer um die Störung, Durchkreuzung einer bereits gelieferten Vorstellung. Concetto jagt Concetto in ständiger Überbietung. Die Einfälle treten als Hyperbeln auf. Anders als bei den Bemerkungen zum Einfall, die auf keine formulierten Regeln zurückgreifen können, erlaubt die Kunst der Concettisten, prominente rhetorisch-poetologische Traktate besonders der Barockzeit zu befragen. Hier gibt es ausführliche Verfahrensbeschreibungen für den großen Bereich der Wortspiele: insbesondere für das, was als dubius sensus, dubia significatio – zentrale Begriffe in Maciej Kazimierz Sarbiewskis Traktat von 1623 »De acuto et arguto« (1958, 1-41) – bezeichnet wird. Hier ließe sich von ›geformten‹, ›gebändigten‹ Einfällen sprechen, wie sie in Adynaton, Paradox, Oxymoron verdichtet werden. Das gilt besonders für das Paradox, das eine eigene (Mikro-)Genretradition entwickelt hat, aber auch für das Adynaton, das im Genre ›Verkehrte Welt‹ das zentrale Verfahren ist, und es gilt für die gesamte bruchlose Tradition der Concetti, conceits oder puns, portemanteau-Wörter und Anagramme. Wortspieler und Punster, wie Shakespeare, Marino, Swift, Carroll, Wilde, Joyce, Nabokov, Arno Schmidt, 2

Dieses Zitat verdanke ich dem Artikel von U. Zeuch (2010, 24).

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haben der Sprache alles abgeluchst, was sie an Paronomasien, Annominationen, Polyptota, Homonymien, Syllepsen, Alliterationen herzugeben hat.3 In Baltasar Graciáns Traktat von 1648 ist die Rede von der ingeniösen Dissonanz der Künstlichkeit, die gegen die Harmonie der Schönheit aufgeboten wird. Künstlichkeit heißt Einfallsreichtum, Geistesblitz, Harmonie. Das Gefügte, Unbezweifelbare, wenig Bestürzende bildet den Gegenpol (1944, 36). In Emmanuele Tesauros Cannocchiale Aristotelico von 1655 ist es die in der Unähnlichkeit verborgene Ähnlichkeit (eine Trug und Täuschung einschließende Ähnlichkeit), die die Metapher, das exzellente Concetto erfindet, d.h. die ingeniöse Zeichensetzung, die das Neue, Seltsame und Fremde hervorbringt (il nuovo, pellegrino, strano, forestiero). (1968, 215) Die Concettisten berufen sich auf Aristoteles (Tesauros Traktat hat einen diesbezüglich vielsagenden Titel), indem sie dessen Poetik und Rhetorik barockisierend lesen. Es geht ihnen besonders um einen Aspekt seiner Lehre: den durch die Schilderung des Wunderbaren und Fremdartigen beim Leser ausgelösten Affekt der Verwunderung, des thaumaston (Rhet. II), der als maraviglia bei den Concettisten auftaucht. In der Kunstform des Capriccio sind diese Verfahren gebündelt. Das sich einer unbegründbaren Laune verdankende Capriccio gibt sich als absichtlicher Regelverstoß, erlaubt sich die spielerische Überschreitung der Normen, arbeitet mit einer Pointenstruktur, die das Überraschende, Geistesblitzende hervortreibt. (Oesterle 1998, 179-188) Die von concetto bzw. acumen und argutia, handelnden Traktate postulieren einen zerebralen Ort der Einfallsgenerierung und ein Vermögen der Hervorbringung; dieses ist das ingenium, die Einbildungskraft, phantasia. (Auch das Originalgenie von Vorromantik und Romantik hat seinen konzeptuellen Vorläufer im barocken ingenium, diesem Organ der Findung und Erfindung). Die Ingeniosität ermöglicht den Einfall durch die Anwendung raffinierter Regeln, die die Möglichkeiten der Sprache bis zum Exzess ausreizen und diese quasi zur Autorin machen. Es scheint, als sei diese die letzte Instanz, nicht der Schreiber, Dichter, Redner. Doch: neben die objektive acumen-Poetik, die selbsttätige Sprache, tritt die Selbstbehauptung des acumen-Schöpfers als alter deus, als poeta creator, d.h. die subjektive acumen-Poetik einer unbeschränkten Findungsgabe, inventio. Das Fingieren von Unmöglichkeiten kann vielleicht als die einzige Form des Einfalls gelten, die durch Verletzung der Wirklichkeitsregeln etwas Ungedachtes, Unerhörtes, das inopinatum hervorzubringen vermag: Die Phantastik des 20. Jahrhunderts scheint dies erreicht zu haben mit dem radikalen Einsatz der erprobten Verfahren: Paradox und Adynaton, etwa bei Jorge Luis Borges. Borges’ phantastischer Einfall der »Chinesischen Enzyklopädie«, der ihm die spektakuläre Kategorienverkehrung erlaubt, von der man sich nur schwer erholen kann, gehört dazu. Auch die Kryptographien, die esoterischen Zahlensysteme, Sondersprachen, alternativen Taxonomien und häretischen Logiken sind Teil dessen, was Emile

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Die Wortspielkunst verfolgt nicht nur literarische, sondern auch (satirisch) pädagogische Ziele. Jonathan Swift nennt seine Ars Punica, Art of Punning (1719) für die er 79 Regeln angibt, im Untertitel: »For the Further Improvement of Conversation and Help of Memory« und weist auf den Nutzen des pun hin: »a double meaning is of double use«. (73)

5. Metaphern der Kreativität: Textgenesen

Cioran in seiner Borges-Würdigung als den »Tanz blitzender Einfälle und köstlicher Sophismen« bezeichnet hat. (1982, 267) Nicht nur das Beispiel Borges zeigt, dass das regelgelenkte, quasi objektivierte ingenium (das gleichwohl den Anspruch auf den Titel poeta creator erhebt) zum subjektiven Genie emanzipiert und aus der Kontrolle der Regel in den Freiraum des Einfalls entlassen worden ist. Diese Entlassung geschieht nach der Entmachtung der Rhetorik und wird bereits in den Abhandlungen des 18. Jahrhunderts deutlich. In Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) wird dieser Freiraum von der Dichtung genutzt, die das Neue hervorbringt. Das Neue schafft die Einbildungskraft: »Die Neuheit liegt nicht in den Sachen, sondern in den Begriffen. Die Dichtung ist die reichste Quelle des Neuen« (1966, 46). Das Neue ist eine gewaltige Störung, für die sich das Genie zu verantworten hat. Im Mittelpunkt steht der redende Mensch als Autor seiner Rede. Er ist aus sich selbst schöpferisch, d.h. schöpft aus seiner Einbildungskraft. David Hume hat dieser Kraft des Denkens eine nachgerade apotheotische Bestimmung gewidmet: Nichts erscheint wohl auf den ersten Blick unbegrenzter als das Denken des Menschen, das sich nicht nur aller Macht und Autorität entzieht, sondern sich nicht einmal in den Grenzen von Natur und Wirklichkeit halten lässt. Ungeheuer zu ersinnen und nicht zueinander passende Gestalten und Erscheinungen miteinander zu verbinden, kostet die Einbildungskraft nicht mehr Mühe, als sich die natürlichsten und vertrautesten Gegenstände vorzustellen; und während der Leib an einen Planeten gefesselt ist, auf dem er unter Schmerzen und Beschwerden einher kriecht, kann uns das Denken im Nu in die entlegensten Regionen des Universums tragen – oder sogar über das Universum hinaus in das grenzenlose Chaos, wo sich die Natur, wie man annimmt, in totaler Unordnung befindet. Was niemals gesehen wurde und wovon man niemals gehört hat, kann dennoch vorgestellt werden, und nichts übersteigt die Macht des Denkens, mit Ausnahme dessen, was einen absoluten Widerspruch enthält. (1982, 18f) Die avantgardistische Position Humes erscheint in nachconcettistischer Zeit bis auf den Ausschluss des absoluten Widerspruchs als uneinholbar und liest sich wie ein Prätext für die Einfälle der Science-Fiction-Autoren und der mit Gedankenexperimenten spielenden Phantastiker des 20. Jahrhunderts. Gedankliche Akrobatik, das Widersprüchliche eingeschlossen, ist Komponente der Entwürfe Vladimir Nabokovs. In seiner Poetik ist die Fälschung der Akt, der das Bestehende verwandelt, das Evidente in Zweifel zieht und mit der Erfindung von Ähnlichkeit dem Unmöglichen eine alternative Existenz verschafft. Die Fiktion erscheint als falsches Geständnis. Beispielhaft führt er dies in seinem Roman Despair, Otčajanie (1978) vor: Er lässt seinen Protagonisten (Schreiber und Täter in eins) die Planung und Durchführung eines Verbrechens quasi autobiographisch erzählen, und den Bericht darüber zugleich als literarischen, als Fiktion denunzieren. Etwas als wirklich und tatsächlich zu behaupten und gleichzeitig dessen Wirklichkeits- und Tatsächlichkeitsstatus im Zwielicht erscheinen zu lassen, macht die semantische Bewegung dieses metapoetisch zu lesenden Romans aus. Es geht um die Konstruierbarkeit beliebiger alternativer Welten, die Fähigkeit des Schreibers, die Realität durch irreale Einfälle zu überlisten. (HansenLöve 2012, 139-162) »Wie leicht ist es, sich etwas auszudenken«, sagt Hermann, dem es leicht fällt, ein fiktives Faktum durch ein anderes zu ersetzen, das ist »der schöpfe-

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rische Triumph« (»творческий триумф«, 178). Er hebt »die leichte, inspirierte Lügenhaftigkeit« (»лёгкую вдохновенную лживость«) hervor, die Fähigkeit, die Welt in eine Fälschung, eine Parodie auf sich selbst zu verwandeln. Das wirklich Neue ist der Einfall der Lüge, da es keiner Wirklichkeit entspricht (auch wenn sie einen Wahrheitssatz als Gegenspieler hat, wie wir von Harald Weinrich (1966) wissen).

5.3 Anders steht es mit dem Zufall als Mit- und Gegenspieler des Einfalls. Der Zufall erscheint in seiner Doppelgestalt als regelhaft produziert und als zunächst unbegründbare Ereigniskollision, d.h. der Zufall ereignet sich, stellt sich selbst her, auctorlos, kann aber durch Manipulation gesteuert, ja hervorgebracht werden. (Lachmann 2002, 117-150) Es ist die autopoietische Literatur – die écriture automatique, die Aleatorik, die sich dem Zufall aggressiv nähert, ihn zu bändigen, zu übertrumpfen und zu tilgen versucht. In der Zurschaustellung des Zufalls lässt die Aleatorik diesen zugleich als Regelfall erscheinen, wobei sie die Spannung zwischen der Willkür der Würfel und der Ordnung der Grammatik aufrechterhält. Es gibt Methoden, den Zufall als Provokation von Regel, Absicht, Ursache und Ordnung einzusetzen. Im Dadaismus wird der Zufall, dessen Entdeckung Hans Arp zugeschrieben wird, zum Selbstzweck. »Der Zufall wurde unser Markenzeichen. Uns erschien der Zufall als eine magische Prozedur, mit der man sich über die Barriere der Kausalität, der bewussten Willensäußerung hinwegsetzen konnte, mit der das innere Ohr und Auge geschärft wurden, bis neue Gedanken- und Erlebnisreihen auftauchten«.4 Es ist allerdings ein Unterschied zu machen zwischen einer – innerhalb eines bestimmten Referenzrahmens und aufgrund eines bestimmten, bereits vorhandenen Zeichenmaterials – zustande kommenden aleatorischen Produktion (Zufallsanordnung) und der reinen Spontaneität, die den Dadaisten so wichtig war. Die Collage als »die jähe Koppelung des Disparaten«.5 Der Zufall ist also nicht mehr Provokation von Regel, von Absicht, von Grund und Ordnung, vielmehr beabsichtigt, kalkuliert, produziert und fingiert. Max Ernst bringt es auf den Punkt: »Die Collage ist die systematische Ausbeutung des Zufalls«.6 Die Collage ist der Einfall, der Einfall hat Collagecharakter. Der Künstler hält Einfälle für Zufälle und stellt die Bedingungen bereit, deren die Zufallsprodukte bedürfen. Der Willkürakt der Kalkulation macht den Zufall zum Fall – zum Kunstfall. In der Autopoiesis überlässt der Poet nach einer Regelvorgabe, die innerhalb bestimmter Grenzen eine freie Kombination erlaubt, die poetischen Dinge sich selbst. Zwar ist die Pointe der Operationen 4 5

6

Eine Definition von Hans Richter, zit.n. Bernhard Holeczek: »Zufall als Glücksfall« (1992, 17). Eine Definition von Werner Spies, zit.n. Holeczek (19). Holeczek erinnert daran, dass der Dadaismus auch unmittelbare Vorläufer hat, nämlich Lewis Carroll, dessen programmatisches Spielgedicht er zitiert: »For first you write a sentence,/And then you chop it small;/Then mix the bits and sort them out/Just as they chance to fall:/The order of the phrases makes/No difference at all.« Zit. nach Dietrich Mahlow: »Der Zufall, das Denken und die Kunst«, in: Zufall als Prinzip (63).

5. Metaphern der Kreativität: Textgenesen

die Suspendierung der personalen Autorschaft; denn nicht mehr die Person ist Agent, sondern die subliminalen Regeln der Sprache.7 Jedoch erweist sich das Hervortreiben des Zufalls letztlich als dessen Eliminierung; er wird instrumentalisiert, um verborgene Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Die Aleatorik produziert den kalkulierten Zufall, der sich als Regelfall entpuppt. Der Zufall des poetischen Würfelspiels ist aber nicht der Zufall der Anagrammatik.8 Auch hier geht es um Autorschaft, Generativität und Automatismus. Aber das Ergebnis der Letternmanipulation ist die Offenbarung eines bislang Verborgenen, immer schon Vorhandenen. In der kabbalistischen Anagrammatik ist der göttliche Name das sprachliche Zeichen, das gesucht und aufgedeckt wird, und die Regel, die dieses hervorbringt. In der nachkabbalistischen Anagrammatik wird deutlich, dass es nicht nur um das Aufdecken des einen Namens, sondern auch um das bewusste Verstecken eines Namens oder eines bedeutsamen Wortes in der willkürlichen Ordnung der Lettern geht.

5.4 Neben den poetologischen Vorstellungen des Concettisten, des poeta creator und alter deus, dessen die Regel absorbierendes Ingenium der ungebundenen Einbildungskraft vorausgeht, denen des Zufallsspielers, der in der Autopoiesis die Regel zu einem Vehikel des Kreativen macht (des Dadaisten), und denen des Machthabers des Wortes, der nichts dem Zufall überlässt (Borges, Nabokov), hat sich die mythopoetische Vorstellung der Inspiration halten können, in der ältere Spuren (wie Marsilio Ficinos furor poeticus) zu erkennen sind, die dem Geniekult zuarbeiten. Die Vorstellung einer Inspiration, eines göttlichen Hineinatmens, lässt einen anderen auctor zu, ja setzt ihn voraus. Das Genie erscheint als beatmetes Wesen, das die ihm geschenkten Früchte lediglich austrägt, zur Welt bringt, sie in Sprache ›inkarniert‹. Eine eigene Form der Inspiration ist mit der bereits erwähnten Improvisationsgabe verbunden, die eine Komponente romantischer Poetologie ist. In französischen und polnischen Dichterkreisen wird sie unter Berufung auf Saint-Martin als göttliche, als die eigentliche – nachgerade mystische – Inspiration verherrlicht. Ein aus der polnischen Literatur bekanntes Beispiel für eine inspirierte Improvisation ist der Romantiker Adam Mickiewicz, der im Moskauer Salon der Fürstin Volkonskaja mit Spontanpoemen Furore machte.9 Der Improvisator scheint die Inspiration nachgerade vorzuführen, er ist der von den Musen Heimgesuchte, Überwältigte, vom göttlichen Funken in Brand gesetzt. Der von der Darbietung des Dichterkollegen offenbar beeindruckte Puškin (er rief aus: Was

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Vgl. hierzu Roman Jakobsons klassischen Artikel: »Unterschwellige sprachliche Gestaltung«, in: Roman Jakobson, Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie (2007, 125-154). Vgl. die Darstellung und Diskussion der Anagrammatik-Konzepte von Erika Greber: »Anagrammatisches und Anazyklisches oder: klebe dir irrgraphe.« (1993, 39-66). Zu Adam Mickiewicz’s stupenden, Improvisationsauftritten in Moskau, Petersburg und hernach in der Pariser Emigration Wiktor Weintraub, Poeta i prorok. Rzecz o profetyzmie Mickiewicza (1982); und den Eintrag in Mickiewicz. Encyclopedia (2010).

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für ein Genius. Welch heiliges Feuer) lässt in seiner Erzählung Ägyptische Nächte10 einen anderen Typ von Improvisator auftreten: den Improvisator als bezahlten Entertainer, der von seinem Publikum Themen entgegennimmt, die er flugs pointenreich und in gereimten und metrisch makellosen Versen zu entwickeln hat. Eben ein solcher, ein verarmter Italiener (kein Pole), trifft in Ägyptische Nächte auf den Dichter Čarskij, der gerade jene günstige Geistesverfassung […] spürt, in der man lebendige, unerwartete Worte für die Verkörperung seiner Träume findet, wenn die Verse sich leicht unter die Feder legen (unter der Feder fügen) und wohltönende Reime dem klaren Gedanken entgegeneilen.   Чарский чувствовал то благодатное расположение духа, когда мечтания явственно русуются перед вами и вы обретаете живые, неожиданные слова для воплощения видений ваших, когда стихи легко ложатся под перо ваше и звучные рифмы бегут навстречу стройной мысли (373). Der italienische Improvisator erscheint als Provokation. Um dessen Können zu prüfen, gibt ihm Čarskij ein poetologisches Thema (ein Meta-Thema), das die Improvisation selbst betrifft: »Der Dichter allein wählt die Themen für seine Lieder; die Menge hat nicht das Recht, seine Inspiration zu bestimmen.« (»поэт сам избирает предметы для своих песен; толпа не имеет права управлять его вдохновением«, 379). Der Improvisator erscheint vom Thema begeistert, erhebt sich gewissermaßen aus der Gebundenheit durch das Vorgegebene und entfaltet in glänzender Form den kritischen Tenor des Themas. »Feurige Strophen entfliegen seinem Mund«, kommentiert der Erzähler, ihre Pointe ist: »Das Genie muß zum Himmel empor streben, der wahre Poet ist verpflichtet, für seine inspirierten Gesänge selbst einen erhabenen Gegenstand zu wählen.« Der (eigentliche) Poet, Čarskij, kommentiert diese Darbietung erstaunt und bewundernd: Wie das? Ein fremder Gedanke hat kaum Ihr Gehör berührt und schon ist er Ihr Eigentum geworden, als ob sie ihn schon immer in sich getragen, gepflegt und ständig entwickelt hätten. Also, für Sie gibt es keine Mühe; kein Erkalten, nicht jene Unruhe, die der Inspiration vorausgeht?   Как! Чужая мысль чуть коснулась вашего слуха и уже стала вашею собственностью, как будто вы с нею носились, лелеяли, развивали ее беспрестанно. Итак, для вас не существует ни труда, ни охлаждения, ни этого беспокойства, которое предшествует вдохновению. (380). Der Improvisator nimmt die poetologische Herausforderung an, verweist auf die Unerklärlichkeit des künstlerischen Talents und auf die Frage, wie erklärt werden könne, dass ein Bildhauer in einem Marmorstück bereits die Jupiterfigur erkenne, und ein Gedanke aus dem Kopf des Dichters bereits durch Reime gewappnet, gemessen durch wohlgeformte gleichmäßige Metren hervortrete? Niemand, nur der Improvisator könne diese Schnelligkeit der Eindrücke verstehen, diese enge Beziehung zwischen der 10

Aleksandr Puškin: Sobranie sočinenij v desjati tomach, t. VI, Moskau 1957, 371-389.

5. Metaphern der Kreativität: Textgenesen

eigenen Inspiration und dem fremden äußeren Willen. Aber eigentlich möchte der Berufsimprovisator über seine möglichen Einnahmen sprechen. Es kommt zum Improvisationsabend vor einem hoch gespannten Publikum; das Thema »Die Liebhaber Kleopatras« wird dem theatralisch gekleideten Italiener gestellt, den die Aura des Inspirierten umgibt, er fühlt, wie der Erzähler berichtet, die Nähe eines/des Gottes, (»приближение бога«) erbleicht, erzittert wie im Fieber, schreitet leuchtenden Auges auf der Bühne nach vorn und kreuzt die Arme auf der Brust. Dann heißt es: »Die Improvisation begann« (386). Die Erzählung stellt die Ambivalenz in der Einschätzung dieser zweifellos beunruhigenden Gabe heraus. In der Improvisation wirken der fremde Wille (das aufgegebene Thema) und die eigene Wortkunst zusammen. Der Improvisator ist der Öffentlichkeit, der er bedarf, preisgegeben. Das entgegengenommene Thema stellt einen intimen Kontakt zwischen der ›Menge‹ und dem Wortkünstler her, während der ›wahre‹ Poet in seiner Abgeschiedenheit auf das Glück der Inspiration hofft. Die private Inspiration einerseits und die öffentliche, erwartete (oder gar käufliche) andererseits sind die Alternativen.11 Puškin scheint der privaten den Vorzug zu geben und zieht die Musen, bzw. Apoll als mythologische Verbrämung heran. Hierzu passen die Zeilen in seinem »Ich habe mir ein Denkmal errichtet« – Gedicht (»Ja pamjatnik sebe vozdvig«) (1957, 424), in denen er das »Geheiß« des abwesenden Gottes (Apoll) zum Dichten, das »božie velenie«, besingt, und Melpomene anruft, ebenso wie die Zeilen in dem Gedicht »Poėt«, in denen er die Dichterseele in der Berührung durch das göttliche Wort erwachen lässt: »Kaum hat das göttliche Wort/Das feinfühlige Gehör berührt/Erzittert die Seele des Dichters/Wie ein erwachender Adler« (»Но лишь божестьенный глагол/До слуха чуткого коснется,/Душа поэта встрепенется/Как пробудившийся орел«). ›Faktisch‹ allerdings ist Puškin im Denkmal-Gedicht der Inspirationsquelle Horaz erlegen. Die intertextuelle Beziehung zu dessen »Exegi monumentum« zeigt (einmal mehr), dass es Texte sind, die (neue) Texte generieren – eine Behauptung, die der romantische Poet bei aller Verehrung, die er für die großen Vorgänger hegt, und trotz den oft reflektierten Anknüpfungen an deren Werke, nicht würde gelten lassen. Das Genie lässt keine Fremdinspiration zu, auch nicht die von anderen Texten ausgehende. Puškin sucht sein Streben nach Unsterblichkeit (horazisch motiviert: »non omnis moriar«) mit seiner Erfindung einer neuen Strophenkonstruktion, der Oneginstrophe, zu begründen: »Es mag sein, daß in der Lethe nicht untergeht/Die Strophe, die von mir gefügte« (»Быть может, в Лете не потонет/Строфа, слагаемая мной«, 2. XL, 3-4).12 Und nochmals: »Und dieser junge (neue) Vers/Wird mein aufrührerisches Jahrhundert überleben/So kann ich, o Freunde, ausrufen/Exegi monumentum«. (»И этот юный стих небрежный/Переживет мой век мятежный/Могу ль воскликнуть (о друзья)/Ехegi monumentum я«). (Meyer 1998, 33-60) Diese Selbstverherrlichung – so als habe er mit dem Zitat Horaz

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Der Romantiker Vladimir Odoevskij hat sich in Der Improvisator einen weiteren Aspekt einfallen lassen: Der seine Improvisationsgabe schwinden fühlende Kypriano erhält durch den Pakt mit einem dämonischen Wunderdoktor nicht nur seine Sprachgewalt zurück, sondern wird mit einer zusätzlichen, letztlich fatalen Fähigkeit ausgestattet: einem alle Geheimnisse des Lebens durchdringenden Blick, was auch das Körperinnere seiner Geliebten einschließt. Aleksandr Puškin: Evgenij Onegin, Polnoe sobranie sočinenij, t. V, 2. XL, 3-4, Moskau 1975.

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bereits eingeholt –, die sich ganz auf die eigene Leistung, die eigene inventio verlässt, spielt dennoch, wie im obigen Beispiel, mit der Inspirations- und Musentopik.

5.5 Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert kann man (verschiedentliche Uminterpretationen einrechnend) die bruchlose Weitergabe des gesamten mit dem Musenkomplex zusammenhängenden mythologischen Apparats (die Namen der Musen, die ihnen zugeschriebenen Aufgabengebiete und gegenständlichen Attribute) verfolgen. (Hansen-Löve 2010, 115-159) Ein stabiles kulturelles Imaginarium ist entstanden, (Kämper 2010, 34-45) von dessen Unausschöpfbarkeit Generationen von Autoren zehren. Bei den Akmeisten Osip Mandel’štam und Anna Achmatova wird das Musenthema in Bezug auf das eigene Schreiben – dabei auf Dante rückblickend – aufgenommen. Achmatova hat eine Reihe von Musengedichten verfasst, in denen die Muse als Gast, als Schwester, als Doppelgängerin, mit der Flöte in der Hand, aber auch als diktatorische Instanz auftritt. Sie erscheint als archaisches Prinzip des Dichtens, das zwei Instanzen hervortreten lässt: das Gedächtnis (die Muse als Gedächtnisträgerin, Erinnern als Dichten) und den Wahnsinn (als Inspiration und Entzückung). In dem Gedicht »Muza« (»Die Muse«, 1924) antwortet sie auf Mandel’štams »Gespräch über Dante« (1921), in dem es heißt, dass »Dante die Göttliche Komödie nicht der eigenen Phantasie verdanke, sondern nach Diktat verfasst habe, wie ein Abschreiber oder Übersetzer.« (»Какая у него фантазия? Он пишет под диктовку, он переписчик, он переводчик«) Mandel’štams Interpretation nimmt Dantes Anruf auf: »O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate« (aus Inf. II, 7). Mandel’štam, der Dantes Werk wie eine Art Gründungsliteratur liest, in der die gesamte europäische (ja Welt-)Kultur vorweg genommen, vor-geschrieben ist, stellt mit dieser Inspirationsinterpretation das quasi Übermenschliche des Danteschen Werks heraus, so als überschreite eine solche Schöpfung das menschliche Vermögen, könne nicht aus sich, sondern nur aus einer anderen Quelle: alto ingegno, einem Über-Genius, schöpfen. Noch dezidierter heißt es dann: »Das ist nicht nur Abschrift, hier geht es um die Reinschrift nach dem Diktat der grausamsten und unerbittlichsten Diktierer. Der Diktierer und Anweiser ist bei weitem wichtiger als der sogenannte Dichter«. (»Тут мало сказатъ списыванъе – тут чистописанъе под диктовку самых грозных и нетерпеливых дикторов. Диктор-указчик гораздо важнее так называемого поэта.«) (1971,406-407) Diktierer (Diktor) meint Diktator wie in »Io veggio ben come le vostre penne/Diretro al dittator sen vanno strette« (Purg. XXIV, 58-59). Der Dichter wird zum Schreiber unter Zwang, dessen Hervorbringung von höherer Instanz verantwortet wird. Anna Achmatova stellt sich in diese Tradition, mildert aber die Musenfunktion. In »Muza« heißt es: »Da trat sie ein. Den leichten Schleier hebend,/Betrachtet sie mich aufmerksam./Ich sprech zu ihr: Diktiertest Du einst Dante/Der Hölle Seiten? Sie erwidert: Ich«. (»И вот покинув покрывало,/Внимательно взглянула на меня./Ей говорю: Ты ль Данту диктовала/Страницы Ада? Отвечает: Я«.) (1967, 230) In »Das Schaffen« (»Tvorčestvo«, 1936) wird das Diktat-Motiv nochmals aufgenommen: »Es legen sich die vordiktierten Zeilen/Einfach und schwarz aufs reine Weiß des Hefts« (»и просто продиктованные строчки/Ложатся в белоснежную тетрадъ«) (251). Die Vorstellung

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eines selbsttätigen Schreibens, einer écriture automatique, scheint ebenso wie diejenige des Schreibzwangs das Postulat der Autorschaft zu suspendieren. Mit der Metapher des Diktats wird Inspiration poetologisch auf eine Weise bestimmt, die die Musentopik aufsprengt, ohne dass ihre Verankerung in der Tradition aufgegeben würde.

5.6 Dagegen steht eine Vorstellung, die diejenige des göttlich »beatmeten« Genies in den Schatten stellt, auf die Beglückung durch die Musen verzichtet und einen äußeren Zwang – und sei es einen ›höheren‹ – nicht zulässt. Es ist die Vorstellung vom männlichen Genie als einer autarken, aus sich selbst schaffenden Instanz. Einen extremen Ausdruck findet sie in der Metapher des sich selbst begattenden Gebärenden, wie sie Aleksandr Bloks Essay »Gogols Kind« (»Ditja Gogolja«) von 1909 zugrundeliegt. Das poetische Kind, »das neue Wesen«, ist die einmalige, antezedenzlose Hervorbringung, die sich einer antezedenzlosen Zeugung-Gebären13 (die sich höchst schmerzhaft und in großer Unruhe vollzieht) verdankt: Die Ursache dieser Unruhe ist die schöpferische Qual, die Gogols Leben bestimmte. Dieser Mensch, der den Reizen dieser Welt und der Liebe zum Weibe entsagt hatte, trug selber gleich einer Frau die Frucht unter dem Herzen; war ein Wesen – finster in sich gekehrt, teilnahmslos gegen alles, außer gegen eines; eigentlich kein Wesen, kein Mensch, sondern gleichsam ein nacktes Gehör, das sich nur auftat, um den langsamen Bewegungen und Regungen des Kindes zu lauschen. (1978, 158)   Источник этой тревоги – творческая мука, которою была жизнь Гоголя. Отрекшийся от прелести мира и от женской любви, человек этот сам, как женщина, носил под сердцем плод: существо, мрачно сосредоточенное и безучастное ко всему, кроме одного; не существо, не человек почти, а как бы один обнаженный слух, отверстый лишь для того, чтобы слышать медленные движения, потягивания ребенка. (1955, 107) Blok lässt den als in sich gekehrten Mönch-Dichter entworfenen Gogol’, der monomanisch in sich horcht, wie eine Frau die untrügliche Gewissheit spüren, dass das Kind geboren, sie aber vor Schmerzen schreien wird, dass sie für die Freude der Geburt des neuen Wesens einen teuren Preis zahlen muss. Vor den unausbleiblichen Wehen, vor dem Erscheinen des neuen Wesens erschauderte Gogol.« (160)   Тал женщина знает с неизбежностью, что ребенок родится, но что она будет кричать от боли, дорогою ценою платя за рдость рождени нового существа. Перед

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Vgl. den Beitrag von Aage Hansen-Löve (2014, 195-224). In einem Konzept für einen Brief an den Kardinal Albrecht heißt es bei Luther: »In concepto parturio, nam omnia argumenta et sinula verba diligenter considero« (Martin Luther: D. Martin Luthers Werke, 120 Bde., Weimar 1883ff., tischreden, Bd. 4, 4188), wobei das parturio soviel wie »ich kreisse« bedeutet.

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неизбежностью родов, перед появлением нового существа содрогался Гоголь.« (108). Hier fügt Blok einen überraschenden, das Verhältnis Hervorbringender und Hervorgebrachtes betreffenden Aspekt hinzu: »Er wusste, dass er selbst ein Nichts war im Vergleich zu seinem Geschöpf, nur ein unglücklicher Wahnsinniger im Vergleich zu jenem Großen, das ihm in seinen Träumen erschien«. (160) (»Он знал, Что сам он – ничто сравнительно со своим творением; что он – только несчастный сумасшедший рядом с тем величием, которое ему снится«, 108). Bloks Metaphorik gilt dem beunruhigenden Phänomen »Gogol«, dem er sich aus dieser Qual- und Wehenperspektive zu nähern sucht. Eine Metaphorik der Zerstörung des Gezeugt-Geborenen, die Blok nicht liefert, würde jene der Hervorbringung umkehren, womit auch die Überlegenheit des Hervorgebrachten gegenüber dem Produzenten verkehrt würde. Der Schöpfer vernichtet sein Geschöpf: spektakulär im Falle Gogols, der den zweiten Teil seines Romans Die Toten Seelen verbrannte – unter dem Eindruck eines asketisch ausgerichteten, ihm von einem Geistlichen auferlegten Schreibverbots. Die suggerierte Einsicht in die Nichtigkeit seines Geschöpfs lässt ihn ein Autodafé anrichten. Nur in diesem Akt gewinnt er die Oberhand über sein Werk; zugleich befreit er sich von der ihm unterstellten blasphemischen Anmaßung, alter deus, zu sein. In einer Art religiösen Wahns wird er zum Schöpfer seines Vernichtungswerks und durch Nahrungsverweigerung zum Schöpfer seines Todes. Diese Destruktionslogik steht in Bloks Essay nicht im Vordergrund, wohl aber die Vorstellung, dass jenes schmerzbereitende Kind, vor dem Gogol schaudert, Russland (Rus‘) sei, welches, falls es seinem Traumbild entsprochen hätte, als Werk über ihn hinausgewachsen wäre. Das Misslingen der Traumschöpfung – das Scheitern an der russischen Niedertracht, Gemeinheit (pošlost‘), hätten zu Gogols Untergang geführt. Die Beschreibung eines Schöpfungsvorgangs, die das Scheitern nicht einkalkuliert, stammt von Vladimir Majakovskij. Der symbolistischen Metaphorik Bloks kaum zugetan, hat er dennoch in seinem poetologischen Traktat »Wie man Verse macht« (»Kak delat‘ stichi?«)14 (81-117) die Geburt eines Gedichts nachexerziert. Schritt für Schritt schildert er (diese poetologische Abhandlung ist als Instruktion für angehende Poeten gedacht) die Hervorbringung einer poetischen Antwort auf die letzten von seinem jungen Dichterkollegen Sergej Esenin hinterlassenen Zeilen, der sich 1926 in dem Petersburger Hotel Angleterre die Pulsadern mit einem Federmesser aufgeschnitten hatte. Diese Zeilen: »Sterben ist im Leben wenig neu,/doch auch Leben, freilich, ist nicht neuer« (»В этой жизни умереть не ново/Но жить, конечно, не новей«) geben Majakovskij keine Ruhe; über Wochen sind sie Stimulus für seine Arbeit an einem langen Esenin gewidmeten Gedicht, mit dessen Schlusspointe er eine Entgegnung auf sie findet: »Sterben ist hienieden keine Kunst. Schwerer ists: das Leben baun auf Erden« (»В этой жизни помирать не трудно/Но делать жизнь значительно трудней«).15 14

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Vladimir Majakovskij: »Kak delat’ stichi«, in: Ders.: Sobranie sočinenij, Moskau, t. XII, 81-117. dt. »Wie man Verse macht«, übers. v. Hugo Huppert, Frankfurt a.M. 1964, 35-93. Die deutsche Version der Majakovskij-Sätze folgt nicht der Huppertschen Übersetzung. Wörtlich: »In diesem Leben sterben ist nicht schwer/Doch das Leben machen ist bedeutend schwerer«. Majakovskij nennt seine Schlusszeilen eine Paraphrase (perefrazirovka) der Eseninschen, auf-

5. Metaphern der Kreativität: Textgenesen

Das Gedicht wurde mit dem Titel »An Esenin« (»Eseninu«) 1926 publiziert. Zwei Jahre danach hat sich Majakovskij erschossen. In seiner poetologischen Unterweisung spricht Majakovskij vom Rhythmus als Energie des Verses (des Gedichts), als einer dem Magnetismus und der Elektrizität verwandten Energie. (»Ритм – это основная сила, основная энергия стиха […] магнетизм и электричество – это виды энергии«). Rhythmus ist innerhalb und außerhalb des Dichtenden: es bedarf eines Impulses, einer Plötzlichkeit, um ihn in Gang zu setzen (»Я не знаю, существует ли ритм вне меня или только во мне, скорее во мне. Но для его пробуждения должен быть толчок«). Es beginnt die Arbeit an der Sprache, »eine Arbeit, die zur Ekstase führt« (»и работа доводит до исступления«), in der Worte empordrängen, hervordringen, die zugelassen oder verworfen werden. Manche Worte, sagt er, »springen förmlich davon, kehren nicht mehr zurück, andere halten sich auf, verweilen, wenden sich hin und her, verkehren sich, bis man weiß, dass das Wort am Platze ist.« (»Некоторые слова просто отскакивают и не возвращаются никогда, другие задерживаются, переворачиваются и выворачиваются по несколько десятков раз, пока не чувтсвуешь, что слово стало на место«). Wenn Rhythmus und Worte zueinander gefunden haben, wenn die ungezählten Varianten (er spricht im Falle des Esenin-Gedichts von 50-60 Varianten) verworfen sind, wenn die rhythmischen Wehen aussetzen, gibt es Tränen des Schmerzes und der Erleichterung: das Gedicht ist geboren. Majakovskij, so meint man, ist entbunden, auch wenn er diesen Vorgang prosaisch mit dem Abschluss einer schmerzhaften Zahnbehandlung vergleicht. Sein »Wie man Verse macht« beendet er allerdings nüchtern mit einer Definition der »Dichtkunst als Produktion« (»Поэзия – производство«), was im Sinne der Produktionskunst der 20er Jahre eher an Werkstatt als an Kreißsaal bzw. Zahnarztstuhl erinnert. In Majakovskijs Beschreibung des ›Versemachens‹ gibt es neben dem Aspekt der erkämpften Produktion auch den eines Arrangements von sich selbsttätig zusammen fügenden Worten, Reimen, semantischen Nuancen, wenn »das Haupt-Wort erscheint, das den Sinn des Gedichts bestimmt, oder ein Wort, das dem Reim unterliegt, und die übrigen Worte hinzutreten und sich in die Anhängigkeit vom Haupt-Wort einfügen« (»Первым чаще всего выявляется главное слово – главное слово, характеризующее смысл стиха, или слово, подлежащее рифмофке. Остальные слова приходят и вставляются в зависимости от главного«). Wenn man diesen Aspekt heraushebt, ergeben sich Parallelen zu anderen Theorien der Zeit, in denen die Vorstellung von der Selbsttätigkeit der (Text-)Elemente eine Rolle spielt. Explizit wird sie in Sergej Eisensteins Montagetheorie formuliert. In seiner Montage-Reflexion von 1938 erinnert sich Eisenstein an eine plötzliche ihn überfallende Begeisterung angesichts der Beziehungslosigkeit der Einzelstücke (Einstellungen), die dennoch, quasi gegen sich selbst, »etwas ›Drittes‹ hervorbrachten und miteinander in Beziehung gerieten«, (»рождали некое третье и становились соотносительными«). (1964, 158)

fällig sind Versmaß, Wiederholung von »In diesem Leben« und Wiederholung des Komparativs, neu-neuer; schwer-schwerer, und statt Esenins umirat’ für sterben wählt er pomirat’ mit einer leicht abwertenden Nuance: »Mit Esenins Vers müsse man kämpfen, und zwar ebenfalls mit dem Vers, nur mit dem Vers« (»С этим стихом можно и надо боротся стихом и только стихом«).

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Der Satz »zwei beliebige Stücke, zusammengestellt, vereinigen sich unvermeidlich zu einer neuen Vorstellung, die als neue Qualität aus dieser Zusammenstellung hervorgeht«, (»что два каких-либо куска, поставленные рядом, неминуемо соединяютс в новое предствление, возникающее из этого сопоставления как новое качество«, 157), und die Rede von einer »gegenständlich nicht darstellbaren neuen Vorstellung, einem neuen Bild« (»предметно неизобразимое, новое представление, новое понятие, новый образ«, 158), das sich aus der Konfrontation zweier Einstellungen im Film ergibt, lassen deutlich werden, dass die Wirkung der Zusammenstellung (sopostavlenie), der Einzelstücke eine imaginäre Gestalt gewinnt, die zwar geplant, in ihrer Wirkung aber unberechenbar bleibt. Immer wieder wird der dynamische Prozess der Wahrnehmung des Kunstwerks und des sich daraus ergebenden Bildes betont, »das nie als Gegebenheit existiert, sondern hervortreten, sich entwickeln muss« (»существует не как готовая данность а должен возникать, развёртыватся«, 163). Eisenstein geht es dabei auch um die Dynamik in der Beziehung zwischen der Autor-Intention (d.h. derjenigen des Montagekünstlers) und dem »persönlichen künstlerischen Akt des Zuschauers«. Felix Thürlemann hat in zwei Arbeiten (2004, 2005) 1979, die der Analyse von Pendanthängungen gewidmet sind, mit dem Begriff hyperimage argumentiert, um eben jene Hervorbringung, die das schweifende Blicken von Bild zu Bild im Betrachter erzeugt, zu bestimmen. Aus einer arrangierten Konstellation gehen unberechenbar und quasi selbsttätig hyperimage und Eisensteins imaginäres Bild hervor.

5.7 Wie bei der Montage und der Pendanthängung wird in Michail Bachtins Dialogiziätstheorie ein semantischer Vorgang hervorgehoben, der sich aus dem Kontakt selbständiger ›Stücke‹ (Texte) ergibt: »Zwei Sprachkunstwerke, zwei Äußerungen, treten, wenn sie zusammengestellt (sopostavlennye) werden, in eine Art semantischer Beziehung, die wir dialogisch genannt haben« (»Два речевых произведения, высказывания, сопоставленные друг сдругом, вступают в особого рода смысловые отношения, корорые мы называли диалогическими«), heißt es in seinen Aufzeichnungen von 19591961. (1979, 297) Zusammenstellen, sopostavlenie, bedeutet hier in einem ungegenständlichen Sinn den Kontakt von Texten unterschiedlicher Provenienz im (kulturellen) Raum. Es geht bei Bachtin darum, die Sinnkonstitution jedes Textes als Ergebnis des Kontaktes mit einem (oder vielen) anderen Text(en) zu sehen. Damit wird der Text selbst zum Ort des semantischen Vorgangs, d.h. er schließt seinen hypertext als Verweis – über den gegebenen Text hinaus – ein. Bei Bachtin ergibt sich der dialogische Bezug nachgerade ohne Zutun des Schreibers/Lesers, die Texte selbst sind aktiv, indem sie einander aufrufen und in Kontakt treten. Die Generierung der Texte aus Texten, wie die daraus entwickelte Intertextualitätstheorie nahelegt, bedarf keines Schöpfertums, die Origo des Textes liegt nicht im Einzelautor, was eine Metaphorik, die sich botanischer Vokabeln bedient, zu beschreiben versucht. Arno Schmidt, einer der radikalsten Intertextualisten, spricht in Zettels Traum von »Gallenbildung«. Diese findet statt auf den Wirtspflanzen, den Primärtexten, und führt

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zu sekundären Gebilden, den parasitären Texten. Die Gallenbildung, eigentlich eine Anomalie, vollzieht sich auf Wörtern, Motiven und führt entweder zur völligen Ausleerung des Primärtextes oder zu gesteigerter Bedeutungsleistung durch Wucherung, Zusatz, Abschweifung. »Rhizome« heißen die wuchernden, proliferierenden Textgebilde bei Gilles Deleuze und Félix Guatarri, Pfropfreis (greffe) ist die Metapher Jacques Derridas für die Zitate als Intertexte. Auch Andrej Belyj, früher russischer Vertreter einer Konzeption der Intertextualität und mit seinem Roman Petersburg von 1913 Exponent ihrer modernen Praxis, greift nach einer botanischen Vokabel, um seine Ausbeutung der Texte Gogols zu bestimmen: »Eine Reihe von Sätzen aus Der Mantel und Die Nase gleicht Keimen, die in das Satzgewebe von Petersburg hineingewachsen sind.« (»Ряд фраз из Шинели и Носа – зародыши, вырастающие в фразовую ткань Петербурга«) (1969, 304). Belyj entwickelt die Vorstellung eines Textraums, in den man weiterschreibend eintritt, und einer unendlichen Kette von Korrespondenzen zwischen den Texten, zwischen Schichten von Texten, deren je neue Schicht die darunterliegende über- und wiederschreibt. In Belyjs Konzeption erscheinen die jeweils entstehenden Texte als Wiederholung von Strukturen, die im (bodenlosen) Mythos vorgeschrieben sind. Wiederholung taucht auch in Borges’ Poetologie auf; Borges verwirft den Begriff des Originalkünstlers, lässt hingegen einen archetypischen zu, der am archetypischen Kunstwerk arbeitet – alle Werke sind Werk eines Autors, eines namen- und zeitlosen. Derrida spitzt dies zu in seinem Essay über Edmond Jabès: »das Buch ist ursprünglich, es gehört dem Buch an, ehe es ist und ehe es zur Welt kommt.« 1972, 118) In dieser (raunenden) Rede von der arché der arché wird die Metaphorik des Gebärens, Zeugens und Inspirierens durch die einer Bibliogenese ›übertroffen‹. Autogenetisch oder heterogenetisch, spontan oder geplant, hervorgebracht oder eingegeben, zugeflogen oder abgepresst, der Einfall ist ein merkwürdiges Phänomen der Denktätigkeit, eines nicht-linearen, eines sprunghaften Vorgangs, der in poetischen Formen kanalisiert wird. Sowohl die Herstellung wie die Entstehung von Texten ist vom Potenzial des Einfalls abhängig ebenso wie von den berechenbaren oder autopoietischen Möglichkeiten des Zufalls. Der Konzeptualisierung von Einfall und Zufall geht diejenige des Concetto voraus, wie sie die rhetorischen Traktate vor allem des Barock liefern, in denen dessen Spezifika der Plötzlichkeit, des Spontanen ebenso wie die nach Regeln erfolgende Herstellung formuliert und der Einsatz einer unermüdlich auf Neues, Überraschendes sinnenden Erfindungsgabe empfohlen wird, wobei die Wirkungsorientierung im Vordergrund steht. Es ist die Forderung nach dem Hyperbolischen, die den Erfinder auf die Erfindungen der anderen zu verweisen scheint. Den Traktatisten gelingt es nicht nur, Einblick in die poetische Werkstatt der Concettisten zu geben, sondern sie erweisen sich auch als Theoretiker der arte de ingenio, als einer Kunst, mit Sprache Gedankenspiele zu spielen, sprachliche Schöpfungsakte durchzuführen. Der Sprachschöpfer erscheint als alter deus, dem es gelingt, Nie-Gesagtes und NieGedachtes, Widersinniges und Unmögliches, Formen ohne Präzedenz zu einer sprachlichen Möglichkeit mit Hilfe der Sprache zu machen. Mit dem Konzept der Inspiration wird dasjenige der Kunst des Ingeniums erweitert und präzisiert. Der geniale Autor ist der Inspirierte, der zugleich auf die Inspiration angewiesen ist, sie erwartet. Die poetologischen Aussagen der Schreibenden, in denen das Konzept der Inspiration mit-

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schwingt, künden von Qual und Triumpf, von Erkaltetsein und Ekstase. Dieser subjektiven Poetik, die die objektive (der Rhetorik) ablöst bzw. stets neben ihr sich entwickelt hat, geht es um die Hervorbringung, Werkentstehung, deren Beschreibung jener expressiven Metaphorik der Geburt/des Zeugens bedarf, von der die Rede war – erst in zweiter Linie um die Frage der vom Autor verantworteten Herstellung. Inspiration berührt sich einerseits mit Autorschaft, andererseits aber auch mit der Vorstellung autorloser ›Selbstschöpfung‹. Die Berichte über die Selbsttätigkeit von Elementen, die ein poetisches Ganzes, Zusammenhängendes, Texte sowohl herstellen als auch entstehen lassen, die eine Poetik der Autopoiesis begründen könnten, sind durch einen weiteren Aspekt zu ergänzen: den der Energie. Gemeint ist die von Texten ausgehende Energie, die diese zu Generatoren macht.

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6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

Es ist nicht allein die Etymologie von Tradition (tradere von trans-dare, griechisch paradidonai, im Sinne von übergeben, überliefern) oder die ursprüngliche Bedeutung als Übergabehandlung konkreter Gegenstände, insbesondere als rechtlicher Akt der Eigentumsübergabe, die nahe legt, einen Bezug zum Thema der Gabe zu sehen, sondern auch der daraus entwickelte Begriff der Tradition als Weiter-Gabe akkumulierten kulturellen Wissens mit seinen positiven und negativen Konnotationen.1

6.1 Die Beziehung einer gegebenen Kultur zur Tradition äußert sich mithilfe verschiedener unvereinbarer Strategien, deren wichtigste ihre Annahme als Gabe, Geschenk der Vergangenheit einerseits und die Verweigerung der Annahme der Gabe, des Geschenks anderseits sind. Diese gegenläufigen Strategien haben kulturideologische Voraussetzungen und bringen konkrete Formen des Umgangs mit der Gabe hervor. Die Tendenz der Kultur, ihre Tradition zu bewahren, bedarf eines aktiven Gedächtnisses. Dieses verwirklicht sich nicht nur durch Gesten dankbarer Erinnerung durch Opferhandlungen (von der Gemeinschaft zu erbringende finanzielle Aufwendungen für den Bau von Museen, die Errichtung von Denkmälern und Gedächtnisstätten, die Gründung von Archiven und Bibliotheken), sondern auch durch das Verlangen, sie fortzusetzen, zu wiederholen, sich in ihr zu reinkarnieren und sie zu transformieren. (D.h. zu den traditionellen Werten der Kultur gehört in diesem Fall auch der Wert der Tradition.). Die Ablehnung der Gabe, die durch Gesten aktiven Vergessens sich manifestiert, bedeutet, die Last des Erbes, die Erblast, abzuwerfen und das Neue, die Erneuerung, einen Beginn ohne die Gabe der Vorgänger zu hypostasieren und die Tradition als solche zum Unwert zu erklären2 . Oder anders, eine auf Gedächtnis aufbauende Kultur empfängt

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Zur Komplexität des Traditionsbegriffs in Theologie, Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaft vgl. Wiedenhöfer 1990. Die in der französischen Revolution zum Unwert erklärte Tradition wird als Topos Bestandteil der ›Revolutionären Tradition‹.

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Strategien der Einverleibung

das Überkommene als Gabe, während eine Kultur des Vergessens die Legitimität des Überkommenen verneint und dessen Nutzen für Gegenwart und Zukunft bezweifelt. Im Vorwort zum Sammelband Vom Sinn der Tradition geht Leonhard Reinisch auf die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs ein: Das Wort Tradition ist vieldeutig. Es verweist auf Vermächtnis, Erbe und Testament, sodann auf Geschenk und Auftrag, schließlich auf Auslieferung und Verrat. In ihm steckt Verehrung für das Gute in der Geschichte, Hoffnung auf einen Fortschritt in der Zukunft und Revolte gegen das Schlechte in der Gegenwart.« Und: »Tradition wirkt aus der Geschichte in die Noch-nicht-Geschichte. (Reinisch 1970, VII). Die Vorstellung einer fortwirkenden, prospektiven Tradition impliziert die Annahme einer generativen Potenz, die die Gegenwart erst eigentlich hervorbringt – die Vergangenheit als Urheberin der Gegenwart. Dies ist eine Vorstellung, die historische Kräfte am Werk sieht, deren (eigentlichen) Agenten die toten Vorfahren sind. Wie kaum ein anderer hat Gilbert Keith Chesterton diesen Aspekt, nämlich die Beziehung zum Tod, zu den Toten in der Tradition gesehen. In seinem Essay Orthodoxy heißt es: Tradition may be defined as an extension of the franchise. Tradition means giving votes to the most obscure of all classes, our ancestors. It is the democracy of the dead. Tradition refuses to submit to the small and arrogant oligarchy of those who merely happen to be walking arond. All democrats object to men being disqualified by the accident of birth; tradition objects to their being disqualified by the accident of death. (Chesterton 1908, 70) Tradition erscheint hier als Vehikel der quasi rechtlos gewordenen Vorfahren, das dazu verhilft, unter den Lebenden einen Platz zu sichern und der Demokratie des Lebens eine Demokratie des Todes entgegenzuhalten. Das bedeutet aber auch, den Tod als Beginn der Tradition zu sehen. Die Weitergabe und Übergabe des Gutes (Wissen, Kultur) geschieht aus dem Jenseits; die Gaben werden den Lebenden gleichsam aus den Gräbern empor gereicht. Es ist nicht von ungefähr, wenn in der Diskussion um die Tradition, wann immer sie geführt wird, einerseits gerade auf der Lebendigkeit der Tradition – im Sinne des demokratischen Votums der Vorfahren – beharrt, und damit sowohl der Akt der Übergabe als auch die Gabe selbst3 hervorgehoben wird, und andererseits der Tradition mit Metaphern des Überlebtseins (verstaubt, verkrustet) begegnet wird, womit die Vorfahren gewissermaßen überstimmt wären. Es sind Strategien des Bewahrens und Erinnerns und solche der Ablehnung und des Vergessens, die sich aus diesen Einstellungen ergeben. Aber es geht nicht nur um lebendig oder überlebt, sondern auch um die kritische Wertung der tradierten Gaben (denen man sich letztlich nicht entziehen kann). Deren Pflege durch Geschichtsschreibung, Musealisierung, Archivierung, mündliche und schriftliche Weitergabe hält die Gegenwart auf, stellt sie still, zwingt zum Blick zurück und provoziert Deutungen. Zugleich aber kommt es zu Bewegungen, die aus der 3

Actus tradendi und traditum (Reallexikon der deutschen Literatur, Bd. 3, 2003, ›Tradition‹)

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

Verarbeitung und Transformation des Empfangenen hervorgehen, die Gegenwart vorwärtstreibend. Die Konfrontation mit einer ›schuldig‹ gewordenen inakzeptablen, aber herandrängenden und unaufhaltsamen Vergangenheit hingegen provoziert eine andere Art der Verarbeitung. Die Last eines negativen Erbes, die die Gegenwart zu leben erschwert oder gar unmöglich macht, ist kein zu bewahrendes Geschenk. Zurückweisung und Verurteilung, aber auch Leugnung und Uminterpretation des Geschehenen, ja Versuche der Löschung und des aktiven Vergessens sind mögliche Reaktionen. »So löste der zweite Weltkrieg und der Zusammenbruch bei der ersten deutschen Nachkriegsgeneration eine Flucht vor der Geschichte, einen Bruch mit der Vergangenheit, eine Sehnsucht nach dem Jahre Null aus. Hier wurde Tradition zum Verrat.« (Reinisch 1970, VIII). Gershom Scholem geht Die Krise der Tradition im jüdischen Messianiamus auf das Judentum bezogen, aber Generelles berührend von unterschiedlichen Weisen des Traditions-›Verhaltens‹ aus, in dem auch der Aspekt des Bruchs eine Rolle spielt. Man kann von drei Wegen sprechen, auf denen die Tradition sich in der Geschichte entfaltet und entwickelt […] Sie kann kontinuierlich fortgesetzt werden; sie kann sich in einem natürlichen Prozeß der Metamorphose verwandeln und neue Gestalt annehmen, und sie kann schließlich einem Bruch ausgesetzt sein, der mit der Verwerfung der Tradition selber verbunden ist. (Scholem 1970, 152)4 Auch Yosef Yerushalmis Gedächtnis und Vergessen betreffende Traditionsinterpretation bezieht sich auf den Bruch. Er argumentiert, dass ein Bruch, der durch Vergessen herbeigeführt werden kann, für bestimmte Phasen kultureller Entwicklung zum Weiterleben notwendig ist. Hier geht es nicht um die schuldig gewordene Vergangenheit, sondern um eine als unerträglich erlittene. Yerushalmis der jüdischen Kultur geltendes Konzept geht vom Störfall aus, von der historischen Krise, dem »Bruch in der Transmission« (rupture dans la transmission). Durch einen gewaltsamen Einschnitt wird die Weitergabe des Vergangenen an die Gegenwart unterbrochen. Die Katastrophe bedeutet einen Einschnitt im Verstehensvorgang, d. er Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Ein Verstehensstillstand, der die Zeichenkette zerreißt. Es bedarf einer Interpretation des Störfalls, der Katastrophe, damit die Kultur (die Gemeinschaft) ihre Zeichen wiedergewinnen kann. Zur Wiedergewinnung der Kultur müssen Sinnfindungsverfahren gewonnen werden. Für Yerushalmi ist der Ort der Sinnfindung zugleich der Gedächtnisort: die Thora. Die Thora ermöglicht Tradition durch die Kanonisierung von Riten und historischen Erzählungen: gestische und verbale Gedächtnishandlungen Es geht um Identitätsbewahrung. Die an der Halakhah (Weg, Gesetz) orientierte Thora ist die Garantie der Identität. Ausgegrenzt wird, was für diese Identität als unwesentlich erscheint. Um deren Bewahrung willen wird eine Zeichenhierarchie, die durch Selektion gesteuert ist, errichtet. Nicht also wie es die Geschichtswissenschaft will, der es nach Yerushalmi nicht nur um die Rekonstruktion eines passé perdu, sondern um diejenige

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Er fragt: »Gibt es etwas Konsistentes, das sich in alldem hält? Und ist dieses Konsistente formulierbar?« (Im Judentum die Opposition von Offenbarung und Tradition, die aber zusammengehen, schriftliche Tora, mündliche Tora etc. (Scholem, Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus.)

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Strategien der Einverleibung

des passé total gehe. Die alles gleichmachende Geschichtswissenschaft – so Yerushalmi – dient nicht der Selbstbewahrung einer Identität, da sie den kulturellen Wert des Vergessens außer acht lasse. Sie wird zu deren Bedrohung. Die Tradition selbst wird undarstellbar, kann nicht in Geschichte (Geschichtsschreibung) überführt werden, wenn sie als Gabe abgelehnt wird. Es geht um einen die Gegenwart bestimmenden Zwiespalt: Zum einen der Dank, den man der Vergangenheit schuldet, zum andern die Schuldenlast, die die Vergangenheit hinterlässt: die unerträgliche Tradition, das Schuld-Erbe, durch das die Vergangenheit zur Gegnerin und Gefährdung, das Überkommene, das über einen kommt, zum Fluch wird. (Yerushalmi 1988, 7-21) Wird Tradition als positives Gut aufgenommen, als etwas das weiterwirkt und transformiert werden kann, so gerät die Gegenwart in die Schuld der Vergangenheit, die sich nicht abtragen und durch keine Gegengabe beschwichtigen lässt. Denn es gibt keine Tauschbeziehungen (keinen Potlatsch) zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Gabe muss auf andere Weise kompensiert werden: durch Pflege, Bewahrung und Kultivierung, sie darf nicht verausgabt, nicht verschwendet werden. Aber es gibt andere Einstellungen zu den Gaben der Tradition. N. Gorlov lässt in seiner Interpretation einer Passage aus Marinettis kontrovers aufgenommenem Manifest in Futurizm i revoljucija (1924) einen interessanten Aspekt aufscheinen, wenn er sie quasi als Tauschobjekte betrachtet, die gegen die Gaben der Gegenwart eingetauscht werden: das Automobil tritt an die Stelle der Zentauren, das Flugzeug an die der Engel, die Maschine an die der Natur, die Materie in die des Geistes. (Gorlov 1974, 8). Die Losung des Vorwärts, des Fortschritts, die die technischen Objekte auf die Plätze des Mythos (im weitesten Sinne) rückt, lässt die Gaben hinter sich. Es ist ein Handel, in dem kein Mehrwert erzeugt wird, in dem es keinen Rest gibt und alles abgegolten ist. (Radikaler allerdings erscheint der totale Ikonoklasmus, der gegen den Imperialismus des Erbes und der Vermächtnisse ankämpft). Aber selbst wenn die Tradition als Akkumulation von kulturellem Wissen betrachtet wird, ergibt sich eine ambivalente, zwischen Autorität und Überlieferung einerseits und Erfahrung und Vernunft andererseits unentschiedene Einstellung. Wenn Ratio als Gegenbegriff zu Tradition auftritt, erscheint das Konzept der Gabe als fraglich. Die radikale Aufklärung lässt Tradition als Konglomerat von Vorurteilen erscheinen, das klare Urteile und das Neue, das die Wissenschaft zu denken provoziert, verhindert. (Wiedenhofer 1990, 627-628).5 Der Umgang mit der Tradition, wie er in beobachtbaren Kulturen stattfindet, ist von Ideologemen geprägt, die in einer die semantischen Bereiche alt-neu, Autorität (Vorurteil)-Urteil in zahlreichen Varianten versammelnden Topik sich konsolidieren (Barner 1987). Allerdings tritt die Tradition nicht im Singular auf. Konkurrierende Traditionen treffen mit unterschiedlichem Gabenangebot auf die Gegenwart. Die Gaben selbst sind Produkte von Kanonisierungen, die rivalisierende Gruppen vorgenommen haben. Bestimmte Traditionslinien können unterbrochen, andere revitalisiert werden. Epochale

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Siegfried Wiedenhofer führt hier Blaise Pascals Gegenüberstellung von Traditionswissen und Erfahrungswissen in dessen Préface sur le traité du vide von 1647 an und verweist auf einen Brief Galileo Galileis von 1615, in dem »le ragioni« den »nude autorità« vorgezogen werden. (Wiedenhofer 1990, 627-628).

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

Umbrüche vollziehen sich entweder als Negation des Wertes der Tradition oder als Anknüpfung an andere ›verschüttete‹, inoffizielle Traditionslinien. D.h. eine Kultur schöpft nie nur aus einer Tradition, lässt neben ›klassischen‹ unklassische Elemente zu. Tradition ist keine fixierte Größe, zumal dann nicht, wenn sie Synkretismen und Transformationen als kulturkonstitutive Verfahren transportiert. Kanonisierungen, Dekanonisierungen und Rekanonisierungen bearbeiten das Erbe-Material, das sich nie als einheitliches, abgeschlossenes darbietet. Das Tradierte kann zu Destabilisierungen führen (wie im Falle der zu verarbeitenden Schuldenlast), es kann als ein Potential der Transgression fungieren, indem es ein bestehendes Normengefüge aufbricht.6 Und es kann zum Bearbeitungsgegenstand der Gegenwart werden, um den sich wiederum konkurrierende oder antagonistische Gruppen bemühen. Tradition bildet sich in unterschiedlichen Facetten heraus, wird konstruiert (Hobsbawm, Ranger 1983) und immer wieder als verlässliche Repräsentation einer Vergangenheit bezweifelt. Die militante Auseinandersetzung mit der Tradition bedient sich bestimmter Zerstörungsrituale, die sich in erster Linie auf jene Elemente richten, die von der jeweiligen, antagonistisch agierenden Gegenwart in Symbolen verdichtet und als Garanten kultureller Identität verstanden werden.7 Eine Kultur, die sich als transgressiv, Epochenschwellen überschreitend versteht und Synkretismen im Tradierten akzeptiert, steht einer Kultur, die sich über Schwellen versteht und puristische Ideale verfolgt, gegenüber. Die Negierung der Tradition als Gabe – die Bezweiflung ihrer Legitimität – führt zur Hypostasierung von Innovation und Originalität, zum Konzept der Voraussetzungslosigkeit und der Konstruktion einer antezedenzlosen origo, unbeschwert vom Geschenk der Vorgänger (ohne Begabung durch die Vergangenheit – ›bez-darnost‹). Die Futuristen erscheinen als vaterlose Gesellen, ohne origo, oder sich selbst origo, keine andere Urheberschaft und Vaterschaft duldend. Aus kulturökonomischer Sicht, wie sie Boris Groys entwickelt, stellt sich die Traditionsfrage freilich anders dar: Die Abwertung der bestehenden kulturellen Werte ist ein notwendiger Aspekt des innovativen Gestus – genauso wie die Aufwertung des Profanen. Jede einzelne Innovation folgt aber darüber hinaus der ökonomischen Logik der Kultur selbst. In diesem Sinne ist jede Innovation eine Verkörperung dieser Logik, die die entsprechen kulturellen Kriterien erfüllen soll. Falls eine Innovation erfolgreich wird, d.h. falls sie diese Logik konsequent umsetzt, wird sie in die kulturellen Archive aufgenommen. Das bedeutet aber, dass der Platz in diesen Archiven nicht durch die eigene Kraft der Innovation erworben wird, sondern durch die Fähigkeit, die Logik der Kultur fortzusetzen. Wenn die Innovation bestimmte kulturelle Werte abwertet, tut es diesen Werten keinen Abbruch. (Groys 1992, 63)

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Kulturbestimmend kann auch die Auseinandersetzung darüber sein, welche Traditionslinie zur dominierenden wird und demzufolge die offizielle Geltung für ihre Normen und Symbole beanspruchen kann. Das betrifft auch die Zerstörung entsprechender Identitätssymbole fremdnationaler Tradition: die Zerstörung von Sakralbauten, Bibliotheken etc. (Bogdanovic 1992). Dieser Vergleich bezieht sich allerdings ausschließlich auf die Struktur des Rituals, nicht auf dessen Motivation.

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Strategien der Einverleibung

Groys’ Betonung des kulturökonomischen Aspekts dieses Vorgangs lässt zweierlei vermuten, zum einen dass die Kultur letztlich nichts verschwendet, zum andern, dass sie sich eine origo-lose Innovation nicht leisten kann. Aus kulturökonomischer Perspektive erweisen sich die revolutionären Versuche, eine Art Voraussetzungslosigkeit zu postulieren, als blind gegenüber dieser Gesetzmäßigkeit. Es kann in der Kultur kein vaterloses Ersterzeugertum geben. Oder anders: Eingebunden in eine Gabenkette, sind die Versuche, diese zu sprengen, folgenlos. Noch der antezedenzloseste Versuch etwas zu tun, zu schaffen, herzustellen, zu schreiben, bleibt mit Vergangenem, Übergebenem ›begabt‹. Die programmatischen Ausbrüche der Futuristen, die den Kulturhelden, namentlich den Dichtern gelten, sind nur dort erfolgreich, wo es um die Rolle des Experiments (das keiner Vorgabe bedarf) geht, etwa im Sprachexperiment, aber auch hier liegen rein strukturell Formen vorangegangener Innovationsphasen (Innovationstraditionen) vor. Es geht im folgenden, ohne die verzweigten Inanspruchnahmen des Traditionsbegriffs zu verfolgen8 , lediglich darum, den beiden kulturideologischen Strategien nachzugehen, die von der auf die Gabe zentrierten Gedächtniskultur einerseits (die Metaphorik des Opfers eingeschlossen) und von der die Gabe zurückweisenden Vergessenskultur entwickelt worden sind. Beide bestimmen die sogenannte Erbediskussion im Kulturkampf vor und nach der Oktoberrevolution. (Erbe erweist sich dabei als eine spezifische Interpretation von Tradition). Die Koexistenz oder der Wechsel dieser Strategien auf verschiedenen Etappen der kulturellen Entwicklung lässt sich als Mechanismus von Annahme und Ablehnung, Sakralisierung und Profanierung, Bewahrung der Gaben im ›goldenen Fundus‹ (золотой фонд) der Kultur und als Abwurf der Lasten vom ›Dampfer der Gegenwart‹ (сбрасывание с парохода современности) beschreiben. Es zeigt sich, dass die kulturelle Erbediskussion nicht nur generell personen- d.h. autorenorientiert ist, sondern dass das Verhältnis zur Tradition sich auch im Verhältnis eines (Gegenwarts-)Autors zu einem Autor der Vergangenheit darstellt und realisiert. Und es drängt sich der Eindruck auf, dass es für die sich kontrovers auslegende russische Tradition immer ein bestimmter Autor, ein bestimmter Dichter der Vergangenheit ist, der als Gebender, als Schenkender rezipiert wird und dessen Gabe zelebriert und gleichsam verzehrt wird: Puškin. Nicht nur die Erbediskussion ist puškinzentriert, auch die Gaben der Dichtung selbst sind aus der Sicht der Empfänger Puškin geschuldet. Der unterschiedliche Umgang mit dem Puškin-Vermächtnis kann an Nabokovs Aneignungsbegehren einerseits und dem Wiederholungsbegehren der Akmeisten andererseits gezeigt werden, ebenso wie er in den Verweigerungsgesten der Futuristen, namentlich Majakovskijs, präsent bleibt. Auch der Fall, dass ein Gegenwartsdichter die Dichtung als solche verkörpert, d.h. auch ihre Vergangenheit, und zwar gegenüber um einiges jüngeren Gegenwartsautoren, wie es sich im Briefwechsel Rilke-Cvetaeva-Pasternak abzeichnet, gehört in den Geben-Schenken-Empfangen-Danken Kontext – wobei hier der Briefwechsel selbst diese Konstellation von Geben und Empfangen ermöglicht und in nuce vorführt. Dass sich 8

Der Traditionsbegriff gewinnt in Geschichte, Sozialwissenschaft, Philosophie, Religionswissenschaft u.a. im Kontext der jeweiligen theoretischen Position seine Konturen. (Religion in Geschichte und Gegenwart 1962)

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

Korrespondenz auch zum Austragen gegensätzlicher, ja konträrer Standpunkte gerade in der Traditionsfrage eignet, lässt sich am Briefwechsel Ivanov-Geršenzon zeigen – der jeweilige Brief ist hier nicht nur Gabe, sondern auch Provokation.

6.2

Die Gabe als Erbe

Die Debatte um das Erbe wird exemplarisch während der Kulturrevolution geführt, d.h. sie macht diese erst eigentlich aus. Der vor der Revolution einsetzenden Demontage von im 19. Jahrhundert kanonisierten Autoren, die mit einer totalen Absage an das Erbe zusammengeht, begegnet die postrevolutionäre restaurative Phase mit dem Versuch, die Paradigmen des 19. Jahrhunderts zu restituieren. Es geht um die Reinterpretation des Erbes in seinen zwei Traditionslinien, die klassische und unklassische Repräsentanten umfasst. Wie das Erbe neu zu lesen sei, zeigen Lenins Aufsätze über Tolstoj. Das Erbe erscheint nicht als ein geronnenes Ensemble, vielmehr bewegt es sich zwischen Reduktion und Amplifikation, zwischen kulturrepräsentativem und kulturrepressivem Einsatz, zwischen Einschluss und Ausschluss. D.h. das Erbe trägt die Spuren der Auseinandersetzungen um Kanon und Nicht-Kanon, Kanon von oben, und Kanon von unten (Assmann 1987, 12-16). Das Konzept des klassischen Erbes, das aus der Kulturrevolution hervorgegangen profiliert sich in der Auseinandersetzung mit dem Kulturnihilismus und dem Anspruch auf totales Neuerertum, wie es die revolutionäre Avantgarde vertritt. Die Kunst der Revolution, die Revolution der Kunst, propagiert die Zerstörung des Erbes, die Infragestellung des Klassischen, jeglicher Klassizität. Dagegen treten die Erbeverfechter auf. Der prominente Erbeverfechter Maksim Gor’kij formuliert, noch bevor die Debatte ihre Schärfe erlangt hat, seine hernach vielzitierte Position: Fast jedes Buch eines neuen Autors ist innerlich mit den ihm vorangegangenen Werken verbunden, und in jedem Buch gibt es Elemente des Alten. Anders kann es auch nicht sein, denn der Prozeß der Entwicklung des Geistes ist eine ununterbrochene Linie, und alle Schriftsteller sind dem Gesetz der literarischen Vererbung unterworfen (Gor’kij 1911/12). Eine solche Formulierung war zu einem späteren Zeitpunkt der ideologisch zugespitzten Debatte zwar brauchbar, aber aufgrund ihres undialektischen Status auch als »vormarxistisch« und »unscharf« kritisierbar (Kowalski, Lomidse 1982, 14, 1911/12), während Jurij Tynjanovs Evolutionstheorie und das Konzept der Ablösung der Systeme ebenso wie dasjenige der Relation von Zentrum und Peripherie als Beitrag zur Diskussion um die »Dialektik von Tradition und Neuleistung, von Kontinuität und Diskontinuität im literarischen Prozeß« verstanden werden konnte. (Kowalski, Lomidse, 15). Mit dem Begriff der Dialektik wird der Widerspruch beschwichtigt, den Anatolij Lunačarskij 1918 in seinem Artikel Ložka protivojadija in Iskusstvo kommuny zwischen dem Schutz der Kunstschätze, um den sich alle staatlichen und Parteiinstitutionen bemühen9 und der Ver9

Im Sinne der Leninschen Werte, die als »schöpferische Bewahrung, kritische Aneignung und Weiterführung aller kulturellen Werte, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte geschaffen hat« verstanden werden (Kowalski, Lomidse, 12)

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Strategien der Einverleibung

kündung in demselben Organ sieht, »daß die gesamten künstlerischen Werte von Adam bis Majakovskij einen Haufen Gerümpel darstelle, der zu zerstören sei.« (Lunačarskij 1918, zit.n. Kowalski, 13)10 In Nyotha Thuns Darstellung ist »Der Streit um das Erbe – radikaler Bruch oder kritische Aneignung« (Thun 1982, 55) und wird immer wieder auf Ambivalenzen in den ideo-poetologischen Positionen hingewiesen. Majakovskij erscheint als Schlüsselfigur der Ambivalenz. Sein »Aufruhr gegen die Klassik«, seine Attacken gegen »jeden musealen Glanz« habe schon damals nicht bedeutet, dass er das Werk Puškins nicht beachtet hätte. Thun verweist auf Pavel Bessalko, der ein Diktum Majakovskijs paraphrasiert: »des Nachts lese er Puškin, bei Tage aber beschimpfe er ihn« (zit.n. Thun, 56) (Das erinnert an das Gebaren der Jurodivye, die tagsüber schimpfliche, provozierende Handlungen vorführen, des Nachts aber beten). Majakovskij, so heißt es in einer Majakovskijs Haltung erläuternden Pressenotiz 1918, sei bereit, »Chrysanthemen am Grab Puschkins niederzulegen. Sollten jedoch die Toten aus den Gräbern steigen und das Kunstschaffen unserer Zeit beeinflussen wollen, so müsse man ihnen erklären, daß für sie unter den Lebenden kein Platz ist« (Majakovskij 1959, Bd. 12, 453). Majakovskij lässt keine kulturellen Revenants zu. Anders als Chesterton hält er nichts von der Demokratie der Toten. Die Rede von den Chrysanthemen, die er bereit sei, am Grabe Puškins niederzulegen, hat etwas Beschwichtigendes, die (schlafenden) Toten Nicht-Weckendes.11 In Thuns Darstellung ist es Jurij Tynjanov, der in Archaisty i novatory die grundsätzliche Frage von Tradition und Innovation theoretisch gefasst und damit eine feste Position im Erbestreit bezogen habe. »Literarisches Erbe war daher für ihn ebenso wie das Bild eines Dichters immer etwas Dynamisches, nicht auf einen festen Punkt Festzulegendes.« Von daher sei Tynjanovs Befürchtung einer Erstarrung Puškins durch die Errichtung seines Denkmals verständlich. (Thun, 81)12 Der Klassik-Abbau, wie er im futuristischen Manifest von 1912 (Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack) proklamiert wird, versteht sich als Katharsis von klassischen Verkrustungen und als Abrücken von den Deponien klassischen Kulturguts. Der futuristische Ikonoklasmus ist nicht nur ein Zerschmettern der Gaben der Vorgänger, sondern auch das der eigenen Hervorbringungen, die nicht zur Gabe gedeihen können (sollen), da sie nach ›Gebrauch zu zerstören‹ sind: »Прочитав разорви«. Archivierung und Musealisierung, Bereitung eines poetischen Gabentischs sind damit (zumindest programmatisch) verhindert (das gilt solange wie die neuen Dichter nicht zu Heroen gedeihen, und etwa Majakovskij nicht zum imposanten Denkmal geworden ist.13 ) Die Nachfolgeverweigerung ist zugleich versuchte Spurenbeseitigung, Löschung der Spur, sled, in nasledstvo

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Werner Mittenzwei hat die nämliche Problematik in der Poetik und poetischen Ideologie Brechts dargestellt (Mittenzwei 1976). Lunačarskij hat in seinen späteren Arbeiten diesen Widerspruch überbrückende Positionen formuliert (Peters 1980, 154-160) Bekanntlich setzt Majakovskij in den Jubilejnye stichi andere Akzente. Im Stile der Zeit wird in der Darstellung auch wiederholt auf die Relevanz des leninistisch-marxistischen Erbeverständnisses hingewiesen, mit dem die prominenten Positionen in Einklang gebracht werden. Der DDR-Band Erbe und Erben vereint auf dem Schutzumschlag die Selbstporträtköpfe von Puškin und Majakovskij (Kowalski, Lomidse 1982).

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

und nasledie (mit den Konnotationen Erbe und Vermächtnis). Die Vertilgung der Spuren misslingt allerdings. Den totalen Bruch, das das ganz Neue ermöglichen würde, wird es nicht geben. Die tabula rasa der Kulturrevolution wird schnell wieder gedeckt. Die postrevolutionäre Restauration, die die Bedürfnisse einer zerklüfteten Kultur zu befriedigen versucht, die ihre Kontinuität stets durch die Identifikation mit Kultfiguren zu sichern vermocht hat, lässt den Dichterkult wieder zu und begünstigt eine Museumsgläubigkeit (die Verehrung der Dichterwohnungen und der darin gehüteten Gegenstände). Und so entsteht der imperative zolotoj fond der Kultur, die Schatzkammer mit ihren zeitlosen Glanzstücken. Die Bewegung schlägt von der tabula rasa zum thesaurus zurück. Die Tradition wird zum Geschenk, erscheint als ›Begabung‹ der Gegenwart, ist Vermächtnis, Auftrag, Verpflichtung zu Schutz, Aufbewahrung und Pflege.14 (Die Gabe als Aufgabe zur Weitergabe der Gabe.) Und – noch einmal – das andere Extrem: der Ikonoklasmus als Vernichtung der Gaben der Tradition, der sich als Inversion des affirmierenden ihr dargebrachten Opfers in ein destruktives zur Geltung bringt. Bei weitem radikaler als der (ohnehin nur programmatische) Ikonoklasmus der Futuristen, der am Anfang dieses Erbestreits steht, gibt sich derjenige, den Vladimir Sorokin in einer von der Erbediskussion weitgehend unbehelligten Nach-Zeit gewissermaßen endgültig und unwiderruflich durchführt. In der Verkehrung des Gedenkrituals in ein Gegenritual, wie sie Der Obelisk vor Augen führt, wird eine Opferhandlung ›vollzogen‹. Sorokin tritt mit dieser Umstülpung nationaler Gedenkkultur (einschließlich ihrer Hypokrisie und ihres Zwangscharakters) als radikaler Traditionsvertilger auf den Plan. Die Perversion des Gedenkkultes findet ihre Steigerung in der Abschlachtung der exakt rekonstruierten Erzähltradition, die ebenfalls als nationales Erbe erscheint, so in Roman. Es ist, als werde die eigene Tradition in ihren zentralen Identifikationssymbolen angegriffen, so als handle es sich bei letzteren um diejenigen einer feindlichen Kultur. Im Sorokinschen Gegenritual, das sich der Greuel- und der Obszönitätsgroteske (scheinbar)15 antezedenzlos bedient, wird die Opferung trotz des Schockmoments, das diese begleitet, zugleich wie eine Reinigung von falschen – oder gefälschten – Gaben exerziert.16  – was die Interpretation, zumindest einiger Texte Sorokins, als Para-Allegorie nahelegt.17

6.3

Personalisierung der Tradition

Als nahezu ikonodulisch ließen sich dagegen Praktiken bezeichnen, die gleichsam außerhalb eines Kontroversen zulassenden Diskussionskontextes dem verehrenden Gedenken eines Dichters gelten, in dem die Tradition gleichsam geronnen ist. Das Ge14 15 16 17

Die Führungen durch Moskauer und Petersburger Dichterdomizile hatten und haben verbal und gestisch einen nachgerade rituellen Charakter. Die exkremental-sexuellen ebenso wie die Gewalt-Phantasmen lassen sich, wenn auch nicht umstandslos, in einer ›Tradition‹ der Ästhetik der Hässlichkeit verorten (Lachmann 2004). Die empörte und für den Autor folgenreiche Reaktion auf den ikonoklastischen Eingriff in die heile Welt der Texte revoziert Topoi der Erbediskussion. Weitergehende und andere Aspekte zur Geltung bringende Interpretationen werden in Arbeiten von Igor Smirnov, Sylvia Sasse u.a. vorgelegt (Smirnov 1999, 2005; Sasse 2003).

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Strategien der Einverleibung

denken wird als kommemoratives Ritual vollzogen, das gleich einer Opferhandlung bestimmter Symbole und des ›Chronotops‹ des Außergewöhnlichen bedarf. Zu Ritualen dieser Art gehört die reaktualisierende Zelebrierung der Sterbestunde Puškins in seiner zum Museum erhobenen Petersburger Wohnung, die alljährlich unter beträchtlicher Beteiligung einer tatsächlich trauernden Menge in und vor seinem Haus, auch bei erheblichen Kältegraden, wiederholt wird. Dazu gehört die Denkmalsverehrung (durch Blumengaben), die den Dichter entrückt und gleichzeitig als sichtbares und berührbares Zeichen heranrückt. Die Denkmäler sind erstarrte, zum Anschauen bestimmte Stellvertreter kultureller Vergangenheit und zugleich durch finanziellen Aufwand ermöglichte Dankesgaben, in denen die Gegenwart sich den toten Dichtern zu nähern versucht. Das Heranrücken der Vergangenheit gewinnt als Gedächtnishandlung eine magische Dimension. Die Kultfigur verlässt den Bereich der Bildung und wird zur Identifikationsgestalt. Analog wird mit seinem Werk verfahren, es wird durch Auswendiglernen (vor allem des Eugen Onegin) ›einverleibt‹, es wird intimer Besitz der Lesenden. Die Kultkritik deckt den sakralen Charakter dieses Tuns auf (die pagane Version der Ikonenverehrung) und versucht, die ›Realität‹ der Verehrten als Autoren aus kritischer Distanz wiederzugewinnen18

6.4

Inkorporation

Weitergehender als dieser Umgang mit Puškin erscheint der Versuch, ihn im eigenen Schreiben zu reinkarnieren, wie es Vladimir Nabokov in einer Art erklärter literarischer Doppelgängerei und eines durch ihn selbst legitimierten Erbeantritts unternimmt (Lachmann 2003). Das Verschmelzen mit dem Anderen, mit dem vorangegangenen Autor, vollzieht sich als unio mystica der Texte. Nähe, ja Intimität wird auf Grund einer identitätsstiftenden Ähnlichkeit, einer Assimilation, einer Reanimierung der vererbten oder usurpierten Gabe hergestellt und die Erbe-Aneignung durch die Konstruktion von Verwandtschaft legitimiert. Mit der Inbesitznahme des ›poetogenetischen Materials‹ ebenso wie mit seinem übermächtigen Kommentar zu Eugen Onegin usurpiert Nabokov das Original, inkorporiert den Vorgänger. Es ist weniger die Annahme einer von Puškin gereichten Gabe als eine Art Aquisition des Erbes, die mit dem Anspruch zusammengeht, als später Doppelgänger die Nachfolge anzutreten – und dies im zweiten Abschnitt eines eigenen gewaltigen, abgeschlossenen Oeuvres und in einer anderen Sprache. Puškin selbst, zieht man sein Vermächtnis-Gedicht Exegi monumentum heran, hat sich als Gebenden verstanden: Mit der Gabe seiner poetischen Sprachkultur beschenkt er die Nachwelt, die kulturkundigen Slaven ebenso wie die ›Kulturlosen‹, die noch illiteraten Völker Sibiriens, denen erst die Zukunft sein Werk erschließen wird, zumindest legen das die Strophen drei

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Diese Rolle kann die Literaturwissenschaft übernehmen. Nyota Thun weist auf Tynjanovs Analyse der unkritischen Inbesitznahme Puškins in der Rezeptionsgeschichte seines Werkes hin (Thun 1982, 53-55).

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

und vier nahe, in denen auch die Erwartung zukünftiger Dankbarkeit der so Beschenkten mitschwingt19 : Слух обо мне пройдет по всей Руси великой, И назовет меня всяк сущий в ней язык, И гордый внук славян, и финн, и ныне дикий Тунгус, и друг степей калмык. И долго буду тем любезен я народу, Что чувства добрые я лирой пробуждал, Что в мой жестокий век восславил я свободу И милость к падшим призывал.   (Mein Ruf dringt bis ans End’ der russischen Gefilde Und hallt von jedem Stamm, der sie bewohnt, zurück: Mich nennt der Slave stolz und auch der heut noch wilde Tunguse, Finne und Kalmück. Und lange wird vom Volk mir Liebe noch erwiesen, Weil mein Gesang erweckt Gefühle echt und tief, Weil ich in grauser Zeit die Freiheit kühn gepriesen Und Gnade für Gestürzte rief.) (Übers. v. R. D. Keil, 1981)

6.5

Revokation

Die dem Puškin-Erbe geltende Aneignungsgeste der Akmeisten, in der auch die »Sehnsucht nach der Weltkultur« zum Ausdruck gelangt, ist keine der Inkorporation, vielmehr vollzieht sie sich als Hingabe über Distanz, als ein im Imaginären sich bewegendes Wiederholungsbegehren. Das dem akmeistischen Kulturverständnis zugrundeliegende Konzept der Kontinutität und des Fließens, in dem Akkumulation kultureller Erfahrung und deren bruchlose Weiterführung, Gedächtnis und Antizipation zusammengehen, schließt den Gedanken eines Neubeginns ohne Antezedenz aus. Diskontinuität und Bruch, wie sie der Futurismus reflektiert, sind im Fluss, bzw. in der Dauer eines kulturellen Erfahrungskontinuums aufgehoben, dessen Teleologie in einer nicht einholbaren Offenheit und Unerfülltheit liegen. Der Vergangenheitshorizont wird ständig in den Zukunftshorizont eingeschmolzen. Das schreibende Eintreten in die kulturelle Zeit bedeutet, die vergangenen Kultur zu revozieren und ihre Schichtungen synkretisierend zu durchschreiten. Es ist ein palimpsestisches Schreiben, das sich als Erinnerungshandlung den vergangenen Texten zuwendet. Der schreibend-erinnernde Kontakt mit der Kultur, der in der Sehnsucht nach der Weltkultur, ›toska po mirovoj kul’ture‹, gründet, wird als Dialog erfahren und gestaltet, als Dialog mit den Vor-Dichtern: Puškin, Dante, Homer und als Dialog mit den Nachkommenden. Die Vergangenheit als Tradition wird als werdende begriffen, als Sinn, der weder ganz da war, noch sich in

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Vgl. Kap.8

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Strategien der Einverleibung

der Gegenwart erfüllt, sondern sich in die Zukunft einfügt, als Sinn im Aufschub. Der Aufschub verhindert den Tod der Kultur, und es ist das erinnernde Schreiben, das den Aufschub garantiert (Lachmann 1990, 354-403). Das Neue, dessen eine Zeit bedarf, kann aus der Vergangenheit geschöpft werden: Поэзия – плуг, взрывающий время так, что глубинные слои времени, его чернозем оказываются сверху. Но бывают такие эпохи, когда человечество, не довольствуясь сегодняшним днем, тоскуя по глубинным слоям времени, как пахарь, жаждет целины времен. (Mandel’štam, Slovo i kultura, 224).   Die Poesie ist ein Pflug, der die Zeit umgräbt, dass ihre Tiefenschichten, ihr Schwarzerde, nach oben treten. Es gibt Zeiten, da die Menschheit, unzufrieden mit dem heutigen Tag/…/nach Neuland dürstet. An die Stelle der sich daraus ergebenden Fortschrittsskepsis und -kritik: Никакого »лучше«, никакого прогресса в литературе быть не может (O prirode slova, 242). (Es kann kein Besseres, keinen Fortschritt in der Literatur geben), tritt nachhaltig eine andere Lust: »глубокая радость повторения (Slovo i kul’tura, 225). (Die tiefe Lust der Wiederholung). In diesen Kontext gehört die Revokation der Dichter, vor allen Dantes und Puškins, die Mandel’štam und Achmatova zelebrieren. Eine nicht mehr chronologische Zeit wird abgeschritten, die die übereinandergelagerten Schichten transparent hält. Der bei Dante entdeckte synkretistische Zugang zur kulturellen Erfahrung taucht in Achmatovas »zweistufigen Reminiszenzen« (Mejlach, Toporov 1972, 29-75) auf und motiviert eine Dantes und eigene Texte betreffende Verflechtungstechnik. In der Wiederholung der schon gesetzten Kulturzeichen verbirgt sich zugleich eine Nostalgie nach dem Unvollendeten, dem Unabgeschlossenen, die Mandel’štam in immer anderen Wendungen formuliert: »Я хочу снова Овидия, Пушкина, Катулла« (Slovo i kul’tura, 224), (Ich will noch einmal Ovid, Puškin, Catull.) Neben dem nostalgischen gewinnt das Erinnern einen projektiven Zug, so als handle es sich um ein Summieren, das die Bilanz noch nicht freigibt. Der Dialog mit den abwesenden Dichtern wird mit den Anwesenden (die Lyrik-Dialoge zwischen Achmatova und Mandel’štam) wiederholt, in den Korrespondenz-Gedichten und deren Querverweisen, Wechselzitaten, Repliken, und er wird mit dem Gesprächspartner der Zukunft begonnen, der noch offen und unbestimmt ist. In der Wiederholungslust bleibt der Zwang, den das Vergangene ausübt, gleichwohl spürbar; das Insistieren der Vordichter ist unabweisbar: »И снова скальд чужую песню сложит ⁄ И как свою происнесет« (»Ja ne slychal rasskazov Ossiana«, 1914) (Und wieder komponiert der Skalde eine fremdes Lied/Und trägt es vor wie sein eigenes) heißt es bei Mandel’štam und noch deutlicher bei Achmatova: »От странной лирики, где каждый шаг секрет ⁄… ⁄ По–видимому, мне спасенья нет« (Achmatova, Poema bez geroja, 1944). (Vor fremder Lyrik, wo jeder Schritt Geheimnis ist/…/Gibt es für mich, so scheint es, keine Rettung.) Und so ist es auch das Gedächtnis der Vorläufer, das das akmeistische affiziert. Auf Puškins Vospominanija v Carskom sele antwortet Achmatova in »Vozvraščenie«: »Царскосельский воздух ⁄ Был создан чтобы песни повторять«. (Die Luft von Carskoe Selo war/Geschaffen, um Gedichte zu wiederholen.) Das Einschmelzen der Puškinstimme in ihre eigenen Texte lässt das Palimpsest als Schreib-

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

Paradigma hervortreten. In Mandel’štams Bessonnica-Gedicht ist es das Andrängen der im Konzept des Schwarzen Meeres verdichteten und aufgehobenen Tradition: »И море черное ,витийствуя шумит ⁄ И с тяжким грохотом подходит к изголовью«, (Und das Schwarze Meer lärmt in tönender Rede/Und drängt mit schwerem Tosen zum Kopfende (meines Bettes)), das die Unausweichlichkeit des Sich-Zurückwendens und der Aufnahme der schon verklungenen und doch nie verklingenden Dichterstimmen anzeigt. Das Gedächtnisbewusstsein lässt jedes Zeichen in seiner intertextuellen Spannung und Verstrebung wahrnehmen. Die Wiederbenutzung der gesetzten Zeichen führt bei den Akmeisten zu einer pointiert intertextuellen Poetik (Ronen 1973, Timenčik 1981), welche Verfahren der Partizipation privilegiert: Zitat, Allusion, Replik, Anagramm, Syllepse, Verfahren der Assimilation und Transformation. Der imaginäre Dialog mit Vergangenheit und Zukunft wird zum Ort, an dem die Akmeisten zugleich als Empfangende und Gebende erscheinen.

6.6

Korrespondenz

Wenn ein Dichter als der Dichter, ja als die Dichtung schlechthin verabsolutiert wird, wie dies im Falle Rainer Maria Rilkes im Verlaufe seiner brieflichen Begegnung mit Boris Pasternak und Marina Cvetaeva geschehen ist, erscheint die Tradition des Dichtens, die in diesem Entwurf auch Orpheus und Puškin einschließt, als durch eine einzige Person in praesentia, quasi ohne zeitliche Tiefendimension, verkörpert. Zweifellos ist es aber die Dreieckskorrespondenz selbst, die zum Ort wird, an dem Rilke als Repräsentant der poetischen Tradition und damit auch als Gebender erst eigentlich hergestellt wird (Rilke, Zwetajewa, Pasternak 1983). Die über Grenzen (Schweiz-Frankreich-DeutschlandRussland) hinweggereichten Briefe werden als Geschenke, für die man Dank schuldet, aber auch als Texte verstanden, die zu intensiver, oft misslingender Auslegung zwingen. Was diesen Briefwechsel jedoch durchgehend prägt, sind die Motive des SichSchenkens und Beschenktwerdens20 . Der viermonatige enthusiastische, streckenweise ekstatische Briefwechsel (der an den Stil der Freundesbriefe der Empfindsamkeit erinnert) ist ein Tauschgeschäft, das wechselseitige Verehrung, panegyrische Zuwendung, Liebeserklärungen einschließt, und dessen Verzweigungen (Pasternak-Cvetaeva, Pasternak-Rilke, Cvetaeva-Rilke) Variationen zulässt, die aus Missverständnissen, Verstimmungen und temporärem Rückzug entstehen. Zugleich aber fördert es durch die zunehmende Intimisierung der Hinund Her-Gaben (in der wechselseitigen Kommentierung gerade entstandener oder älterer Werke, im Begehren, sich mit dem jeweils anderen zu verbinden) eine Art ErotoPoetik. Dazu gehört das Ein-Schreiben des Namens des/r anderen in den eigenen Text,

20

Schamma Schahadats eingehende, Konstruktion und Stilistik berücksichtigende Interpretation der Korrespondenzen Čadaev-Panova, Geršenzon-Ivanov und Pasternak-Cvetaeva-Rilke, die auch den Gabe-Aspekt impliziert, arbeitet die Schwankungen im Verhältnis der jeweils Schreibenden und Empfangenden heraus, zeigt die Prozesse der Intimisierung/Distanzierung und die Gewaltausübung durch den Zwang zur Beantwortung wie durch epistolarisches Schweigen. (Schahadat 2005)

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Strategien der Einverleibung

z.B. der Name MARINA, den Pasternak als Akrostichon in Leutnant Schmidt einschließt und ausstellt, oder Rilkes Zueignung eines Gedichts an Cvetaeva (von dem diese ausgeht, dass es nicht veröffentlicht wurde). Das Motiv des Sich-Schenkens oder Verschenkens taucht wiederholt in den Briefen Cvetaevas auf. Im Schlusssatz des Briefes vom 26. Mai 1926 an Pasternak heißt es: »Hast Du bemerkt, daß ich mich Dir stückweise schenke?« (154). Und im Nachsatz zum Brief vom 14. Juni 1926 an Rilke schreibt sie: »Der Boris hat Dich mir geschenkt. Und, kaum erhalten, will ich Dich für mich allein haben.« (174). Das Dank-Motiv, stärker bei Pasternak ausgeprägt, deutet mit Nachdruck auf das Empfangene, die Gabe des Dichterwortes. So im Brief vom 12. April 1926 an Rilke: »Bisher war ich Ihnen einen grenzenlosen Dank schuldig für die breiten, dauernden und bodenlosen Wohltaten Ihrer Dichtung. Jetzt danke ich Ihnen für die plötzliche und gesammelte Wohltat, die in mein Schicksal eingriff« (76). An späterer Stelle: »Und jetzt bin ich wie wiedergeboren« (ein Grund ist Rilke). Der erste Rilke-Brief an Pasternak wird von Pasternak zusammen mit Autographen seines Vaters, der Achmatova und Tizians als Vermächtnis verwahrt, als etwas, das er das ›samoe dorogoe‹ nennt. (Asadowskij 1983, 129) Diese Bewegungen zwischen Schenken und Empfangen, Danken und Erwidern bilden zwei Beziehungen ab, diejenige zwischen zwei generationsgleichen Dichtern und diejenige zwischen zwei Dichtergenerationen. Könnte letztere nicht stellvertretend für einen imaginären Tauschhandel zwischen weit auseinanderliegenden Generationen stehen? Vergleicht man die ungemein pathosgeladene, nahezu weihevolle Verehrung, die dem Opus des ›Dichterfürsten‹ Rilke entgegengebracht wird, und die Bewahrung seiner Briefe als Testament mit dem Verzehr Puškins durch Nabokov und mit der melancholisch-imaginären Evokation Puškins durch Achmatova und Mandel’štam, so zeichnet sich zu diesen zunächst eine Differenz ab. Bei letzteren, trotz unterschiedlicher Annäherung an das Objekt der Begierde, spielt die zeitliche Differenz das Moment des Gedächtnisses ein. Die Annahme der Gabe ist zugleich ein kommemorativer Akt. Das Dreieck, das ›Trio poetical‹, dagegen partizipiert an derselben Zeit. Die aktuelle Berührung zwischen den Leben der Korrespondierenden tritt im, wenn auch ungleichen, Tausch der Briefe deutlich hervor. Pasternak schreibt dramatisch von einem »Eingriff« Rilkes in sein Leben. Aber auch Rilke gibt sich stark affiziert vom Zuspruch, von der Huld der Jüngeren, die ihm dargebracht wird – gegenseitige gleichzeitige Affektation. Erst als der Ältere noch im Jahr des Briefwechsels aus der gemeinsamen Gegenwart heraustritt, wird die »grenzenlose Dankesschuld« in das Gedenken an den Gebenden einbezogen und einige Jahre später, in Pasternaks Ochrannaja gramota, autobiographisch ›vergegenständlicht‹, d.h. narrativ entfaltet, und ausdrücklich als Gabe erinnert.21 Erst als toter Dichter erscheint Rilke aus zeitlicher Distanz als Vorläufer und sein poetisches Werk als Vermächtnis.

21

Zu Pasternak-Interpretation (vgl. Smirnov 1999).

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

6.7

Generalisierung der Tradition

Der Begriff der Vorfahren, predki, der in den Diskussionen der 20er Jahre wiederholt auftaucht, wird auch von Autoren, die nicht direkt in die Debatten eingegriffen haben, aufgenommen. So etwa von Evgenij Zamjatin in einem George Herbert Wells gewidmeten Essay, in dem es um dessen ›Herkunft‹ geht: »Genealogičeskoe drevo Uellsa«: Для аристократии феодальной и для аристократии духа – гениев и талантов – основы знатности полярно противоположны. Слава аристократа феодального в том, чтобы быть звеном в цепи предков как можно более длинной, слава аристократа духа в том, чтобы не иметь предков – или иметь их как можно меньше. Если художник – сам себе предок, если он имеет только потомков – входит в историю гением;если предков у него мало и родство с ними отдаленное – он входит в историю, как талант. (Zamjatin 1973, 203).   Der Stammbaum Wells’: Für die feudale Aristokratie und die Aristokratie des Geistes – der Genies und Talente – sind die Grundlagen der Bedeutsamkeit entgegengesetzt. Der Ruhm des Feudalaristokraten besteht darin, ein Glied in einer möglichst langen Kette der Vorfahren zu sein, der Ruhm des Geistesaristokraten besteht darin, keine Vorfahren, oder so wenig wie möglich zu haben. Wenn der Künstler sich selbst Vorfahre ist, wenn er nur Nachfahren hat, geht er in die Geschichte als Genie ein, hat er wenige Vorfahren und seine Verwandtschaft mit ihnen ist entfernt, dann geht er als Talent in die Geschichte ein. Die Vorstellung des Künstlers, der nur dann als (Original-)Genie gelten kann, wenn er sein eigener Vorfahre ist, korrespondiert dem futuristischen Konzept des Schaffens ohne Antezedenz. 1920 entspinnt sich der Briefwechsel zwischen Vjaceslav Ivanov und Michail Geršenzon (Ivanov 1921), der die Grundsatzfrage nach der Rolle der Tradition im Kontext einer bedrohten Kultur in epistolarischer Gabe und Gegengabe verhandelt. (Schahadat 2005; Thun-Hohenstein 2000). Es geht darin, auch wenn die Akzente anders gesetzt und die ideologischen Prämissen anderer Natur als in der Erbediskussion sind, um den kul’t predkov, der hingebungsvoll betrieben oder in einem Befreiungsakt abgelehnt werden muss. Die Gaben- und Opfermetaphorik durchzieht den gesamten die gegensätzlichen Positionen kompakt vortragenden Briefwechsel der aus ihren Winkeln sich zu- und entgegen-schreibenden Zimmerpartner.22 Geršenzon erweist sich als kompromissloser Kritiker dieses Kults und als Verfechter einer Position totaler Emanzipation vom akkumulierten Wissen. Er konstatiert: … в последнее время мне тягостны как досадное бремя, как слишком тяжелая, слишком душная одежда, все умственные достояния человечества, все накоп-

22

Schahadat bezieht den Gabe-Aspekt stärker auf das sich zwischen den ungleich motivierten und gestimmten Korrespondenten entstehende Verhältnis, das Ivanov als dialogisches zu oktroyieren versucht. (Schahadat 2005)

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Strategien der Einverleibung

ленное веками и закрепленное богатство постижений, знаний и ценностей. (II, 385) … alle geistigen Errungenschaften der Menschheit, aller im Laufe der Jahrhunderte gesammelte und befestigte Reichtum an Einsichten, Kenntnissen und Werten ist mir in letzter Zeit lästig, wie ein verdrießliches Joch, wie eine allzu schwere, allzu warme Kleidung (7). Er weiß von einem anderen Glück: Мне кажется: какое бы счастье кинуться в Лету, чтобы бесследно смылась с души память о всех религиях и философских системах, обо всех знаниях, искусствах, поэзии, и выйти на берег нагим, как первый человек. (II, 385)   … welch großes Glück wäre es doch, sich in die Lethe zu stürzen, um die Erinnerung an alle Religionen und philosophischen Systeme, an alle Kenntnisse, Künste, Poesie spurlos von der Seele wegzuspülen, nackt, wie der erste Mensch, das Ufer zu betreten. (7). Ivanov diagnostiziert Geršenzons Überdruss am Kulturerbe als Fehlwahrnehmung: И то умонастроение какое вами в настоящее время так мучительно владеет,– обостренное чувство непомерной тяготы влекомого нами культурного наследия,– существенно проистекает из переживания культуры не как живой сокровищницы даров, но как системы тончайших принуждений. (III, 386).   Und jene Geistesstimmung, welche sie zur Zeit so qualvoll beherrscht – das verschärfte Gefühl des auf uns lastenden Kulturerbes – geht wesentlich hervor aus dem Erlebnis der Kultur nicht als einer lebendigen Schatzkammer von Gaben, sondern als eines Systems feinster Nötigungen (9). Geršenzon wiederholt seinen Wunsch nach Freiheit, Unbeschwertheit und weist implizit auf den Widerspruch von Erfahrung und Tradition hin: »Это знание не я добыл в живом опыте; оно общее и чужое, от пращуров и предков« (IV, 388). (Nicht ich habe dieses Wissen in lebendiger Erfahrung erworben: es ist ein allgemeines und fremdes, von den Urvätern und Vorfahren herkommendes. (12)) Er verstärkt das Argument mit Metaphern der Fessel und der Last, wobei bei ihm der Aspekt des in der Tradition akkumulierten Wissens (der Theorien, abstrakten Systeme, philosophischen Spekulationen) deutlicher hervortritt als der der künstlerischen Produkte: Несметные знания, как миллионы неразрываемых нитей, опутали меня кругом, все безликие, все непреложные, неизбежные до ужаса. (IV, 388).   Unzählbare Kenntnisse haben mich wie Millionen unzerreißbarer Fäden umstrickt, samt und sonders unpersönlich, unabänderlich, bis zum Entsetzen unvermeidlich (12). Er beklagt den »всего этого груза накопленных умственных богатств.« (IV, 388). (Den Ballast angesammelter intellektueller Reichtümer (13)) und träumt von einer an-

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

deren Kultur und einem Schaffen »не замуравливающие каждое познание в догмат, не высушивающие всякое благо в мумию и всякую ценность в фетиш« (IV, 390). (die nicht jede Erkenntnis in ein Dogma einmauern, nicht, jedes Gut zu einer Mumie und jeden Wert zu einem Fetisch austrocknen lassen (16)). Das Lastende wird betont, die Bürde der Tradition: »Культурное наследие давит на личность тяжестью 60 атмосфер«. (IV, 390), (das ›Kulturerbe‹ drückt auf die Persönlichkeit mit 60 ›Atmosphären‹ (17). Es scheint, als sehe Geršenzon schärfer als Ivanov den Konflikt, der zwischen der Hingabe an die Gaben der Vergangenheit, der Unterwerfung unter ihre Autorität und dem vernunftgelenkten, sondierenden Blick auf sie für jede aktuelle Kultur besteht. Ivanovs Repliken sind von einem Kulturpathos durchdrungen, das dem Gedächtnis, der Gedächtnishandlung, dem Opfer gilt. Есть в ней и нечто воистину священное: она есть память не только о земном и внешнем лике отцов, но и о достигнутых ими посвящениях. Живая, вечная память, не умирающая в тех, кто приобщаются этим посвящениям! Ибо последние были даны через отцов для их отдаленнейших потомков, и ни одна иота новых когда-то письмен, врезанных на скрижалях единого человеческого духа, не прейдет. (VII, 395).   In der Kultur ist auch etwas wahrhaft Geheiligtes: sie ist die Erinnerung nicht nur an die irdische und äußere Gestalt der Väter, sondern auch an die von ihnen errungenen Weihen Eine lebendige, ewige Erinnerung, die in denen, die dieser Weihe n teilhaftig werden, nicht stirbt! Denn diese sind von den Vätern für unsere fernsten Nachkommen gegeben worden, und kein Jota der einst neuen, den Tafeln des einen menschlichen Geistes eingeprägten Schriftzeichen wird vergehen. (27). Und schließlich kategorisch: »Память – начало динамическое; забвение – усталость и перерыв движения, (VII, 396). (Die Erinnerung ist ein dynamisches Prinzip, das Vergessen ist Müdigkeit und Unterbrechung der Bewegung (27). … и так, беспечные и любознательные, как чужеземцы, будем проходить мимо бесчисленных алтарей и кумиров монументальной культуры, частию лежащих в запустении, частию обновленных и заново украшенных, своенравно останавливаясь и жертвуя на забытых местах, если увидим тут незримые людям неувядающие цветы, выросшие из древней могилы. (VII, 397)   … und so werden wir, sorglos und wißbegierig, wie Ausländer, an den zahllosen Altären und Götterbildern einer monumentalen Kultur, die zum Teil in Verödung liegen, zum Teil erneuert und neu ausgeschmückt sind, vorübergehen und an den vergessenen Orten nach eigenem Wunsche stehen bleiben und Opfer darbringen, wenn wir dort unverwelkliche, den Menschen unsichtbare Blumen erspähen, die der altertümlichen Grabstätte entsprossen. (4.Juli 1920) Geršenzon verwirft die Gaben als »ценностей-фетишей« »ценности-вампиры« (VIII, 399) ›Wert-Fetische‹ und ›Wert-Vampyre‹ (27). Ivanov geht es nicht nur um den Kult der Vorfahren, kul’t predkov, und nicht nur um das Dankopfer, das ihnen für die Annahme der Gaben gebracht werden soll, sondern – Fedorov zitierend – um ihre Restitution: »Культура – культ предков, и, конечно, – она смутно сознает это даже

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теперь, – воскрешение отцов.« (XI, 412). (Die Kultur ist Kultus der Vorfahren und natürlich/…/Auferweckung der Väter‹ (58). Ivanov entwirft eine Kultur der Revenants23 , die Geršenzon ebenso ablehnt wie Majakovskij dies in seinem eher poetologisch gefärbten Diktum tut. Ivanov äußert sich später gegenüber dem französischen Herausgeber der Korrespondenz, Charles Du Bos, pointiert über diesen Briefwechsel, der vom »Gegensatz zwischen der Heilskraft des ›thesaurus‹ und dem Wahn der ›tabula rasa‹« gehandelt habe (64)24 . Thesaurus und tabula rasa sind die zentralen Metaphern, die wie die Abbreviatur der beiden gegensätzlichen Kulturkonzepte zu lesen sind: Gedächtniskultur versus Vergessenskultur. Der griechische thesaurus, dem sich die Metapher und deren Tradition verdankt, ist ein Schatzhaus, in dem kostbare Gaben gehäuft werden, aber auch Güter, die die Polis bei Bedarf nutzen kann. Der Thesaurus erscheint als Vorratskammer, aus der die Gegenwartskultur sich speisen kann (Groys’ Ökonomiekonzept ließe sich hier anschließen). Und: der Thesaurus ist der Ort, an dem alle Wörter einer Sprache ver- und gesammelt sind. Die Tafel mit den eingeprägten Schriftzeichen, von der Ivanov spricht, ist eine weitere Metapher für Speicherung und Bewahrung und lässt die Vorstellung des Palimpsestischen zu: Die Tafeln, in die die Gaben der Vergangenheit eingetragen sind, haben viele übereinandergelagerte Schichten. Die tabula rasa dagegen ist die Tafel, deren Zeichen ausradiert, deren Einritzungen eingeebnet und deren Schichtungen getilgt sind. Natürlich impliziert die Bezeichnung für die antike, meist aus Wachs gefertigte Schreibtafel eine je neue Beschriftung nach der Löschung der alten Zeichen.25 Ebenso wie die Konzeption akkumulierter Fülle und einer memoria, die dieser entspricht, hat die des Vernichtens und der oblivio alternierend Konjunktur. So etwa beherrscht ein radikales tabula-rasa- Begehren Descartes’ Discours de la méthode, in dem die Argumentation für die Tilgung des Vorwissens exemplarisch entwickelt und das Konzept einer antezedenzlosen Wissenschaft, die alle bisherigen widersprüchlichen, divergierenden Meinungen, »opinions«, über die Welt ausstreicht, formuliert wird: »se défaire

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Chestertons Diktum »We are all revenants; all living Christians are dead pagans walking around« passt dagegen zur Position Ivanovs. (Chesterton, 256) Franziska Thun-Hohenstein weist in ihrer Interpretation des Briefwechsels und der Darstellung seiner Rezeption auf Ernst Robert Curtius hin und führt aus: »Die Ivanovsche Engführung von Kultur und Gedächtnis trifft sich im Kern mit Curtius’ Insistieren auf der Aufgabe, in der Kultur die Funktion der Kontinuität zu sehen. In diesem Sinne bezieht sich Curtius im Epilog von Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) erneut auf den Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln.« Andererseits weist sie auf eine die Metaphern des thesaurus und der tabula rasa modifizierende Formulierung Curtius’ hin: »Viel muß vergessen werden, wenn Wesentliches gewahrt werden soll. Das ist die relative Wahrheit der tabula rasa. Ihre Gegenidee, das »Schatzhaus« (thesaurus) hat sich ebenfalls gewandelt. […] Wir brauchen kein Magazin der Tradition, sondern ein Haus, in dem wir atmen können […]«. (Thun-Hohenstein 2000). Dieses Zitat aus Curtius’ opus grande, das ein Weg rücken von der Radikalität der beiden konträren Positionen der Briefpartner anzeigt, erinnert an die Bilanzierungen im Erbestreit. Diskontinuität wird durch Kontinuität, Kontinuität durch Diskontinuität beschwichtigt. Antik und mittelalterlich wird tabula rasa auch als Metapher für die Seele als noch Unbeschriftetes benutzt: die Seele empfängt erst durch Erfahrung ihre Einzeichnungen. Mit der philosophischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts wird die Metapher in die allgemeine Lexik aufgenommen

6. Die Gabe der Tradition – Die Tradition als Gabe

de toutes les opinions qu’on a recues (Descartes 1982, 15), und »¸¸ôter/…/toutes les opinions« (13).26 Geršenzon hätte sich auf Descartes’ Argument beziehen können. Aber auch Malevičs Beschwörung des Nichts in seiner Theorie der gegenstandslosen Welt wird in einer tabula rasa-Intonation vorgetragen, die den Geršenzonschen Entlastungswunsch, der sich auf Wissenselemente bezieht, mit dem Evakuationsbegehren, das sich auf Bilder bezieht, als Konzept vorwegnimmt. »die weiße/d.h. die bilderlose/Welt der suprematistischen Gegenstandslosigkeit als Manifestation des befreiten Nichts« (Malevič, 194). »Alles verschwand/in der suprematistischen Kunst/, und nicht das geringste Element blieb zurück, das an Gegenstände oder deren Abbildung erinnerte« (255). Malevič geht es um die Reinigung des Bewusstseins, um die Reduktion des Verschiedenen und die Auflösung von Kondensierung und Akkumulation: »Das Gestrige abstreifen heißt, die Ebene des Lebens vom Eklektizismus befreien. Darum muss unser Bewusstsein entgegenständlicht werden, erst dann wird es nicht mehr verschiedene Stadien der Entwicklung in einer Sache vereinigen« (269). In Aage Hansen-Löves Interpretation erscheint die Konzeption Malevics als Komponente der »Endspiele und Nullformen der russischen Avantgarde« (2005, 700-748). Während Geršenzon die Bürde des Tradierten abwerfen will, um frei und voraussetzungslos zu denken (wie Descartes), und Majakovskij die auferstehenden Dichter als Hindernis für neues Schaffen zurückdrängt, stellt sich den Akmeisten Kultur immer als etwas Untilgbares dar und wird die Tradition, das Weitergegebene, als ständig in der Schwebe gehaltene Gabe erfahren, die es als Vermächtnis zu bewahren und als Verheißung zu realisieren gilt.

Bibliographie Asadowskij, Konstantin, Pasternak, Jewgenij, Pasternak, Jelena (Hg.), Rainer Maria RilkeMarina Zwetajewa- Boris Pasternak, übers. v. Heddy Pross-Werth, Frankfurt a.M. 1983. Assmann, Aleida und Jan, »Kanon und Zensur als literatursoziologische Kategorien«, in: Assmann, A., Assmann, J. (Hgg.), Kanon und Zensur, München 1987, 7-27. Barner, Wilfried, »Über das Negieren von Tradition«, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, Poetik und Hermeneutik XII, München 1987, 3-52. Bogdanović, Bogdan, Die Stadt und der Tod, Klagenfurt 1992. Descartes, René, Oeuvres de Descartes, hg. v. Charles Adam, Paris 1982. Dolinin, Alexander, »Eugene Onegin«, in: V. E. Alexandrov (Hg.), The Garland Companion to Vladimir Nabokov, New York, London 1995, 116-128. Galling, Kurs (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Tübingen 1962. Gor’kij, Maksim, Materialy i issledovanija, Bd. 1, Leningrad 1934, 75. Zit. nach Michael Wegner, »Tradition und Neubeginn: Maxim Gorki«, in: V. H. Richter (Hg.), Schriften und literarisches Erbe. Zum Traditionsverhältnis sozialistischer Autoren, Berlin, Weimar 1976, 27-28. 26

Allerdings nimmt Descartes Moral und Glaubenswahrheiten vom Denken des Neuanfangs ohne Vor-Gedachtes aus.

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Strategien der Einverleibung

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7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

Aleksandr Puškins Versroman Eugen Onegin (1833) überwindet Schwellen der Gattungsund Stilkonvention und wird im Zuge seiner Kanonisierung selbst zu einem Schwellentext, einem Text des Einschnitts und der Innovation, der die russische Literatur in ein Vorher und ein Nachher teilt. In der zeitgenössischen Literaturkritik erhielt er das Etiquett »Enzyklopädie der russischen Gesellschaft«, das in der Interpretationsgeschichte den rein literarischen Enzyklopädismus des Textes freilich verdeckte. Eugen Onegin ist ein hoch komplexer Text der Selbstkommentierung, der Metatextualität, des Zitierens anderer Texte und der Parodie, in dem die vorromantische und romantische europäische Literatur zugleich verarbeitet und dekomponiert wird. Der Kanonisierungsvorgang, aus dem Aleksandr Puškin als Klassiker hervorgegangen ist, und die Beanspruchung seines ›Erbes‹ durch die nachfolgenden Dichtergenerationen spielen für das russische kulturelle Selbstverständnis eine entscheidende Rolle. Eine besondere Position nimmt hierbei Vladimir Nabokov ein, der mit seinem in der Emigration entstandenen Werk die Puškin-Nachfolge reklamiert und sich damit selbst, als dessen literarischer Doppelgänger, in den Kanonisierungsvorgang einschließt.

7.1 1999 wurde der zweihundertste Geburtstag Puškins und der einhundertste Nabokovs begangen. Der eine ein Nationaldichter, dessen Porträt, auf Riesenplakate kopiert, die Moskauer Hauptstraße, die Tverskaja, weithin sichtbar feierlich und erheiternd zugleich überspannte, der andere ein Autor, der nach langer literarischer Abwesenheit offiziell in die russische Literatur eingekehrt ist. Puškin, der Dichter aller, dessen Verse man auswendig hersagen kann, Nabokov, Autor der Gebildeten und der Schriftsteller. Anlässlich der Jahrhundertfeiern wurden beide, der vollendete und der beginnende Klassiker, auf Symposien und in zahllosen Festreden gefeiert, Sammelbände sind erschienen. Nabokovs Werke, die russischen Übersetzungen seiner englischen Romane eingeschlossen, werden in Russland publiziert; der Wiederaufbau des legendären Landgutes Vyra wird vorangetrieben. In New York hat man sich zur Einrichtung eines Museums bzw. Archivs entschlossen, das auch dem Lepidopterologen gewidmet ist.

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Strategien der Einverleibung

Während Nabokov-Feierlichkeiten in Russland noch ohne Antezedens sind, verfügen die Puškin-Feierlichkeiten über eine ritualisierte Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert war die kulturelle Präsenz des Dichters nicht nur literarisch durch die Eugen Onegin-Epigonen, sondern auch musikalisch und ikonisch verbürgt. Eine Mode der Vertonung seiner Romanzen bildete sich heraus; einige seiner Werke ließen sich, dank der Erfolge von Tschaikowskis Eugen Onegin und Pique Dame und Mussorgskijs Boris Godunov, auch als Opern feiern, ein Umstand, den Nabokov insbesondere, was Tschaikowski betrifft, missbilligte. Puškins »Ich habe Sie geliebt« (»Ja Vas ljubil«), ein ›post-erotisches‹ Gedicht, erfuhr eine achtzigmalige Vertonung, zuletzt durch eine Pop-Gruppe in Halle/Saale.

Abb. 1 (links): Erste bekannte Büste nach dem Duelltod Puškins, 1837, von I.P. Vitali; Abb. 2 (rechts): Puškin-Denkmal von A. M. Opékouchine, nach F.-X. Coquin, Le monument de Pouchkine à Moscou

M.P. Alekseev, Stichotvorenie Puškina »Ja pamjatnik sebe vozdvig«. Leningrad 1967, Frontispiece (Abb. 1); L’Universalité de Pouchkine, Paris 2000, S. 411 (Abb. 2)

Kurz nach Puškins Duelltod (1837) wurde die erste seiner Büsten aufgestellt. (Abb. 1) Nach einer komplizierten Vorgeschichte mit Ausschreibung, Auswahl eines Entwurfs und dessen Annahme durch den Zaren kam es 1880 in Moskau zur feierlichen Enthüllung des von A. M. Opekušin entworfenen Standbildes, bei der Intelligenzia und Volk gleichermaßen zugegen war. (Abb. 2) Es war das erste Monument,1 das durch eine nationale Subskription ohne Beteiligung offizieller Autoritäten errichtet wurde. Die Ekphrasis dieses Monuments ist ein eloquenter Beleg für die bis ins Jahr 2000 fortdauernde Puškinophilie. François-Xavier Coquin beschreibt die Statue: 1

Zur Bedeutung Puškins im Rahmen des russischen Denkmalkults vgl. die Untersuchung von Zaal Andronikashvili (2017, 136-180).

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

Et Pouchkine était apparu aux regards,/…/seul, debout, la tête légèrement inclinée, la main droite glissée dans son gilet, son chapeau dans la main gauche, en costume de son temps, sur lequel était jeté le manteau qu’il affectionnait,/…/Remarquablement expressive, la tête rebelle, à la chevelure abondante et bouclée, tout comme les favoris qui lui encadraient le visage, attirait/.,/le regard : tout à la fois pensif et sérieux, avec une pointe de mélancolie et de tristesse, son visage exprimait plus encore/…/la méditation du poète, à l’écoute de ses voix intérieures, immobilisé un bref instant dans sa marche, comme s’il cherchait à retenir l’inspiration. C’était là un Pouchkine souverain et sûr de lui, muri par les épreuves, qui, – sa mission accompli – semblait sur le point de se retirer, dans une pose dont la noblesse n’avait rien de théatral. Coquin sieht im Standbild eine Apotheose, die der Wortlaut seiner Ekphrasis reproduziert (Coquin 2000: 410-412). In der Folge zogen Denkmäler – der Dichter sitzend, stehend, in entspannter Pose oder feierlich – in alle russischen Städte ein. Das 20. Jahrhundert setzte diese Tradition fort. In nachrevolutionärer Zeit gerieten Lenin- und Puškindenkmäler, was die Prominenz des Ortes, an dem sie aufgestellt, und die Frequenz ihrer Aufstellung betraf, in Konkurrenz. Das zur Sowjetzeit in Leningrad vor dem Russischen Museum errichtete Puškin-Standbild mit wegweisend ausgestrecktem rechten Arm und wehendem Mantelschoss scheint eine von Lenindenkmälern bekannte Geste zu wiederholen. Aber es waren die Porträts russischer Maler des 19. Jahrhunderts, die das Puškin-›Bild‹ geprägt haben.

Abb. 3 (links): Puškin-Denkmal von A. Bezljudnyj, 1957; Abb. 4 (rechts): Puškin-Porträt von O.A. Kiprenskij 1827

E. Kassina, Leningrad, Moskau 1981 (Abb. 3); Tretjakov-Galerie, Postkarte (Abb.4)

     

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Auch er selbst hat mit zahlreichen Selbstdarstellungen, in denen er die Spuren der urgroßväterlich ererbten afrikanischen Gesichtszüge hervorzuheben oder zu kaschieren wusste, zu diesem Bild beigetragen. Eine nachhaltig eindrucksvolle ist die mit seinem Schreibutensil – Federkiel und Feder nutzend – verfertigte Zeichnung, ein mit den eigenen Produktionsmitteln hergestelltes Selbstbildnis.

Abb. 5: Selbstporträt, mit der Schreibfeder gezeichnet

T. G. Cjavlovskaja, Risunki Puškina, Moaskau 1980, S. 377 (Abb. 5)

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

Nabokovs Bild hingegen ist von Photographien geprägt, die ihn in allen Lebensphasen – mit und ohne Familie – in durch häufige Publizierung in den ihm gewidmeten biographischen Werken charakteristisch gewordenen Posen dokumentieren.2 (Abb. 6, 7) Vor dem Hotel in Montreuil, in dem er Jahre gelebt und gearbeitet hat, steht eine Nabokov auf einem Stuhl festsetzende Skulptur.

Abb. 6 (links): Der achtjährige Vladimir Nabokov auf der Veranda des Landgutes Wyra; Abb. 7 (rechts): Nabokov auf der Schmetterlingsjagd in der Umgebung von Montreux 1970

»du«, Die Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 6, Juni 1966, S. 31 (Abb. 6); Historisches Lexikon der Schweiz. Foto: H. Tappe (Abb. 7)

7.2 Wie lassen sich die beiden Autoren zusammensehen? Nabokov selbst hat an Analogien und Parallelismen gearbeitet, die eine Verwandtschaft versprechen. Sein auf der »Puškin-Waage sich messendes Werk« (eine Zeile aus »Neokončennyj černovik«, 1931, ›Unbeendeter Entwurf‹) ist motivisch, thematisch, stilistisch und verfahrensmäßig von Puškin durchwirkt. Hundert Jahre nach dessen Krim-Besuch verfasst Nabokov ein »Krim« betiteltes Gedicht, in dem Puškin plötzlich neben dem lyrischen Ich auftaucht und es lächelnd anschaut: »Vdrug Puškin vstal so mnoju rjadom/I jasno ulybnulsja mne«. Es gibt Übereinstimmungen in den Biographien Puškin und Nabokovs Vater – der Duelltod des einen, die Erschießung durch einen Terroristen im Fall des anderen. Später arbeitet Nabokov Korrespondenzen zwischen seiner eigenen und Puškins Biographie heraus, die er allusiv und selbstmystifikatorisch in seinen Werken zur Geltung bringt. So auch in seinem Dichtung-und-Wahrheit-Meisterwerk, Speak, Memory. An Autobiography Revisited (1967). Es gibt merkwürdige Entsprechungen angesichts der evidenten Obsessionen der beiden Autoren für bestimmte Tätigkeiten, Objekte und Instrumente: das Duell bei dem 2

Photomaterial bei Boyd 1990, 1991; Nosik 1995; Boyd, Pyle 2000; Zeitschrift du 1996.

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Strategien der Einverleibung

einen, das Schachspiel bei dem anderen; entsprechend verteilt sind die Duellpistolen und das Schachbrett, für Nabokov gilt darüber hinaus das Schmetterlingsnetz als Jagdinstrument. Die (literarische) Fetischisierung weiblicher Füße (nožki) bei Puškin lässt sich nicht unbillig mit Nabokovs (literarischer) Fixierung auf ›Nymphen‹ vergleichen. Mit den Anspielungen auf die beiden gemeinsame Stadt, das verlorene Paradies Petersburg, stellt Nabokov auch eine lebensweltliche Nähe zu Puškin her. Das Landgut Michajlovskoe, auf das er wiederholt aus der Hauptstadt verbannt, und das zum Klausurort für die Niederschrift vieler seiner Werke wurde, liegt nur wenige Kilometer von Nabokovs nostalgisch beschriebenem Landgut Vyra entfernt, auf dem er eine autobiographisch gepriesene Kindheit verbrachte und zu dem er nie mehr zurückkehren sollte. Auch die Skandale stellen Verbindungen zwischen den beiden Autoren her: Die verheimlichten und immer wieder auftauchenden Gerüchte um Affären des ersteren und den wahren Hintergrund des Duells, dem er zum Opfer fiel – der Roman von Serena Vitale, Il bottone di Puškin, 1995, (Puschkins Knopf) berichtet davon – und der Skandal, den Lolita hervorrief (Nossik 1979, 371-381). Stärker noch ist die (Selbst-)Bindung Nabokovs an Puškin in zwei seiner Arbeiten, der englischen Übersetzung von Eugen Onegin und dem zweitausend Seiten umfassenden Kommentar dazu. An beiden hat Nabokov länger als an irgendeinem seiner anderen Werke gearbeitet, beide entstanden in zeitlicher Parallele zu seinen englischen Romanen. Nabokov hat Puškin zum Phänomen des Anfangs der modernen russischen Literatur erklärt, Valerija Narbikova sieht Nabokov als Phänomen ihres Endes (Narbikova 1996, 28). Während Nabokovs Äußerung die Vorstellung einer Schwelle zwischen Konvention und Innovation suggeriert, liegt in derjenigen Narbikovas der Hinweis auf eine Transzendierung des Endes, d.h. auf eine Schwelle zwischen Moderne und Postmoderne. Die Schwellenmetapher konnotiert in beiden Zuschreibungen Anfang/Ende einer ›Epoche‹ und hat für beide Autoren in Bezug auf die Zäsuren, die ihr Werk in die Literaturgeschichte eingetragen hat, eine nicht nur figurative Plausibilität. Doch Schwelle lässt mit Benjamin einerseits und Bachtin andererseits auch anders pointierende Überlegungen zu. »Die Schwelle ist ganz stark von der Grenze zu scheiden«, heißt es in Benjamins Passagenwerk (Benjamin 1983, 618) und weiter: »Schwelle ist wie eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Wort ›schwellen‹.« Das Schwellenmoment entzieht sich der Messbarkeit und der Fixierung auf einen Ort, es ist beunruhigend durch seine potentielle Offenheit für alles und in seiner Aggressivität in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft. Im Schwellenmoment sind die vertrauten Parameter der Entwicklung suspendiert. Bachtins Chronotop-Begriff (Bachtin 1987) dagegen nimmt das Zwischen, das Transitorische auf, in dem sich ein Zeit-Raum des Danach ankündigt, das dem flüchtigen Verweilen folgt. Die Schwelle wird aber auch als Zeit-Raum des Wandels, der Metamorphose fassbar. Es scheint als trügen Puškin und Nabokov als Sprachschöpfer, Wortspieler, Stilisierer, Parodisten, Artisten der Intertext-Kunst, die das europäische literarische ›Erbe‹ aufgesogen, vertilgt und einem gewaltigen Metabolismus unterzogen haben, zu dieser Metamorphose der Literatur bei, ja als vollzöge sich die Metamorphose in ihrem Werk.

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

7.3 Um das Werk dieser Beiden zu den Schwellentexten zählen und sie selbst als Schwellenautoren qualifizieren zu können, bedarf es allerdings ihrer ›Heimholung‹ aus dem Chronotop der Exzentrik, bedarf es der ›Verortung‹ ihres Werks, der Einsicht in den durch dieses verursachten und vollzogenen Wandel. Solches geschieht in den Nationalkulturen, die sich ihren ›exorbitanten‹ Autoren zuwenden, indem sie diese zu Subjekten eines Kanonisierungsvorgangs machen. Schwellentexte werden erst in diesem Vorgang als solche erkannt und etabliert. So wie Nabokov am Anfang seiner Kanonisierung steht, ist Puškins Kanonisierung, die über etliche Stufen (seine Musealisierung eingeschlossen) erfolgt ist, beendet. Im Falle des letzteren ist der Kanonisierungsvorgang mit dem Konzept des Klassischen verknüpft, das in der russischen Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Gegenstand kontrovers geführter Diskussionen wird. Nicht nur für die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts sind die Entscheidungen darüber, was als klassisch zu gelten habe, von Bedeutung, sondern auch für die nachrevolutionären Kulturdebatten, die um die Frage nach dem klassischen Erbe kreisen. Die Frage danach, was als kulturelles Erbe gelten könne, ist in ihrer beunruhigenden Unentscheidbarkeit Bestandteil russischen kulturellen Selbstverständnisses, des offiziellen wie des inoffiziellen, und wird bis in die Gegenwart immer wieder neu gestellt. Sie ist belastet von den spektakulären Diskrepanzen in der Darstellung derjenigen Autoren, die es zu beerben gilt. Es sind Diskrepanzen, die durch die konträren Interpretationen der zeitgenössischen Kritik entstanden sind und von den nachfolgenden Rezeptionsschüben vertieft und verschärft wurden. So auch das zwieschlächtige Bild Puškins, das diesen einmal als Vollender der klassizistischen Literatur des 18. Jahrhunderts, d.h. als Konservativen, einmal als Romantiker, also Neuerer, versteht. Die Kanonisierung erscheint als Kampf um die Etablierung einer Lesart, an dem Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik ebenso beteiligt sind wie die jeweils neu auftretenden Autoren als Leser ihrer Vorgänger. Mit Puškin scheinen die Auseinandersetzungen zwischen Archaisten und Sentimentalisten (mit den uneindeutigen Zuweisungen von klassisch und romantisch) in einem Autor zu koinzidieren. Er revidiert die ästhetischen Dogmen, sowohl die des Sentimentalismus wie die des Archaismus. In der Erprobung der alten in neuen Formen wird er zum archaisierenden Neuerer. Als solcher gelangt er vom Sentimentalismus über den Archaismus der jüngeren Generation zur Romantik und überschreitet die Schwelle zum Realismus. Damit ist Puškin in einer vergleichsweise kurzen Schaffenszeit durch alle literarischen Konventionen hindurchgezogen und hat die jeweiligen Formen perfektioniert. Formbeherrschung, Prägnanz, Konzisheit sind in der Folge die Prädikate, die seine Dichtung erhält. Da die Fäden aller relevanten Strömungen der Zeit in ihm zusammenlaufen, hat Puškin namentlich den Titel eines Klassikers eingebracht.3

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Jurij Tynjanov sieht in Puškin den Neuerer, der archaisierende Neigungen hat. In seiner Monographie Archaisten und Neuerer (Tynjanov 1929), deren zentrale Figur er ist, wird mit dieser Opposition ein Modell vorgeschlagen, mit dem nicht nur die Erbediskussion der zwanziger Jahre neue

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7.4 Aber es kommt noch ein anderes hinzu, damit die gesamte Kultur, auch derjenige Teil von ihr, der eine polemische Distanz zu den Institutionen bewahrt, sich auf das Klassische eines Autors einlassen kann. In Puškins Fall ist es die Ambivalenz, ja Polyvalenz (seiner Persönlichkeit und seines Schaffens): Er wird zum Hauptagenten eines Mythos des Klassischen, der immer dann erzählt wird, wenn es um die Reinterpretation der Kultur geht. Auch die epochemachenden Puškin-Reden arbeiten an diesem Mythos. Die Rede Dostoevskijs ist ein eklatantes Beispiel: Dostoevskij versucht 1880 auf einer Gedenkfeier den Dichter zu einem singulären Exponenten des Dichtertums zu erklären und ihn zum ›Über-Klassiker‹ zu erheben. Wie keiner vor ihm, so heißt es, sei Puškin (vor allem mit seinem Eugen Onegin) zum Schriftsteller des Volkes geworden (Volk als eine Art mystische Kommunikationsgemeinschaft), ohne ihn gebe es keine Hoffnung auf die zukünftige Bestimmung Russlands in der europäischen Völkerfamilie. Von allen Genies der Weltliteratur sei es allein Puškin gewesen, der die Fähigkeit bewiesen habe, »sich ganz und gar in eine fremde Nationalität zu verkörpern« (perevoploščat’sja vpolne v čužuju nacional‘nost‘). Diese wunderbare Fähigkeit zur vollkommenen Metamorphose mache ihn zu einer unwiederholbaren Erscheinung. Er habe damit eine noch verborgene Kraft des russischen Volkes prophetisch erkannt, die im Streben zur Allweltlichkeit/Allwelt (vsemirnost‘) und Allmenschheit/(vsečelovečnost‘) bestehe.4 Das Konzept des Klassischen gerät, typologisch gesehen, in Konkurrenz zu dem des Avantgardistischen. Dieser funktionale Binarismus reflektiert die konträren Tendenzen einer Kultur zu Konsistenzbildung und Archivierung einerseits, zu Projekten, Brüchen und Utopien anderseits. Das Insistieren auf dem Exemplarischen weist den dabei zugrunde gelegten Klassikbegriff als national orientierten, als ›klassischen‹ Klassikbegriff also, aus (das Exemplarische als Gewähr für die Gipfelleistungen der eigenen Kultur, identitätsbildend, Konsistenz und Kontinuität bewahrend. Klassik lässt sich ohne Gegenbegriff, bzw. Gegenbegriffe nicht fassen, es ist ja gerade das Wechselspiel zwischen den Antipoden, das die Gewichtungen eines Kulturmodells hinsichtlich der kulturellen Praxis, die es zulässt, bestimmt. Der Ort, an dem sich dies artikuliert, sind die Metatexte: die Ästhetiken, Literaturkritiken, Literaturgeschichten. Die Bildung von Binäroppositionen in diesen Metatexten ist, ob sie nun Klassik und Avantgarde, Klassik und Dekadenz, Klassik und Trivialkultur konfrontiert, deskriptiv und modellierend zugleich. Klassikkonzepte und Konzepte der Klassikkritik zusammen ermöglichen es, den Ausgrenzungsprozess zu verstehen, der die Grundlage der Kanonisierung ist, in der das Klassische zu einer totalisierenden Wertinstanz wird. Der Klassik-Kanon ist funktional gesehen konsensbedürftig (auch wenn es sich um den Konsens einer kleinen Gruppe handelt, die ihre Wertvorstellungen durch Oktroi durchsetzt) und muß seine

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Konturen gewinnt, sondern auch die hundert Jahre zurückliegenden Richtungskämpfe des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts neu interpretiert werden können. Dostoevskijs Interpretation steht in ihrer Zeit ebenfalls als ein singulärer Akt der Hervorhebung eines Dichters, aber sie ist wirkungsmächtig. Im Kontext des Wiedererstarkens slavophiler Kräfte in der Sowjetunion wurde sie zum Ausgangstext für eine Prophetie genommen, die den messianischen Gedanken für Russland erneut in Anspruch nimmt.

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

Ausschlussverfahren, seien sie ideologisch oder ästhetisch, legitimieren. Für die russische Literaturgeschichtsschreibung gilt, dass sie im Spannungsfeld von offizieller und inoffizieller Kultur operiert. Was die Zensur (oder zensuräquivalente Auswahlprozesse) durchlässt, ist klassischer Kanon, ein ›Kanon von oben‹. Der ›Kanon von unten‹ dagegen speichert auch das Ausgegrenzte. Das Ausgeschlossene meldet sich im Gegenkanon zu Wort, ebenso wie die durch disziplinierende Lesarten verkürzten und vereindeutigten Texte ein unruhiges semantisches Potential sind, das immer wieder neue Deutungsschübe provoziert. Auch die zensierten Werke oder Werkteile sind letztlich nicht löschbar. Die Geschichte der aus Zensurgründen nicht publizierten oder kurz nach Publikation aus dem Verkehr gezogenen Texte wäre, gäbe es sie, parallel zu lesen zur offiziellen Geschichte der publizierten – oder der Autoren, die wie Nabokov, als Schriftsteller der Emigration ausgegrenzt, bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts ein kryptisches literarisches Dasein in Russland führen mussten.

7.5 Der Kult der Dichter – der Gegenheiligen – wird von Riten begleitet, die an den Gedächtnistagen vollzogen werden. Dazu gehört die einem re-enactment gleichkommende Zelebrierung der Sterbestunde Puškins in seiner zum Museum erhobenen Petersburger Wohnung, die alljährlich unter großer Beteiligung einer tatsächlich trauernden Bevölkerung (in und vor dem Haus) wiederholt wird. Dazu gehört die Denkmalserrichtung (und deren Verehrung durch frischen Blumenschmuck), die den Dichter entrückt und gleichzeitig als sichtbares, berührbares Zeichen heranrückt. Die Denkmäler sind Dokumente erstarrter, geronnener, zum Anschauen bestimmter Kultur, und sie sind magische Präsenz. Auch die erwähnten rituellen Gedächtnisfeiern sind von dieser Ambivalenz geprägt. Das Heranrücken der Vergangenheit gewinnt als Gedächtnishandlung eine magische Dimension, in der die Bildungszeremonie aufgehoben scheint. Die Kultfigur verlässt den Bereich der Bildung, womit die Verehrung unkontrollierbar wird und wird zur Identifikationsfigur. Der Kult selbst stockt. Die Figur, der er gilt, kann nur über eine Entmusealisierung wieder an Lebendigkeit gewinnen. Und diese gelingt in ihrer neuen Beanspruchung durch die nachgeborenen Dichter. Aleksandr Blok glückt eine solche Revitalisierung in seiner Rede von 1921, in der er Puškin als Inspirationsquelle reklamiert, als Leitfigur und Vorläufer. Das Exemplarisch-Entrückte, das tote Kapital des Klassischen, wird damit verdrängt durch das Konzept der Filiation. Auch dieses ist ein Topos der russischen Literatur, allerdings nicht so sehr ihrer Geschichtsschreiber als vielmehr ihrer Agenten selbst. Die reklamierten Vaterschaften gelten vor allem für den Kanon von unten, den von den Dichtern etablierten. (Chlebnikov und die Oberiuten werden Väter für die Neoavantgarde). Diese Berufung auf die Väter kreuzt sich mit der Klassiker-Debatte, ja sie stellt ein alternatives Paradigma der Traditionsverarbeitung dar. Sie ist ein Weiter- und Wiederschreiben eines Autors, das gerade dessen zuletzt verbürgte Klassizität aufhebt. Damit wird die Öffnung eines für geschlossen gehaltenen, exemplarischen Werks, seine Entkanonisierung (d.h. die Lösung aus den Fesseln des institutionellen Kanons) bewirkt. Es kommt zu Grenzüberschreitungen in ein vergangenes Werk, zu Verschmelzungsprozessen, zu literarischer Doppelgängerei.

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Auch in dieser Hinsicht ist es wieder Puškin, der von den Späteren konsumiert und restituiert wird: von Anna Achmatova, Osip Mandel’štam, Marina Cvetaeva, Boris Pasternak – in ihren poetischen und essayistischen Texten. Aber auch institutionell und offiziell geht er heil aus der Klassiker-Diskussion hervor, seine Rolle als Prototyp des Klassischen wird bestätigt. Die ›Klassifizierung‹ eines Autors, die elevatio zur Kultfigur, geschieht nach dem Puškinmuster. Majakovskij, der Kultgegner, wird zur neuen Kultfigur in den zwanziger Jahren. Die hohe Zeit der Puškin-Ära erhält ihr Pendant in der hohen Zeit der Revolutionsliteratur. Es ist die reduktionistische Lektüre, die die Autoren eines komplexen und durchaus vieldeutigen Oeuvres zu eindeutigen ›Heroen‹ stilisiert.

7.6 Aber es gibt auch Ansätze zu einer Puškin-Demontage, etwa die des Dissidenten Andrej Sinjawski (Abram Terz), der während der Lagerhaft in seinen Spaziergängen mit Puschkin (Sinjawski 1977) einen spielerischen, frivolen und genialen Dichter entwirft, in dem keine Spur eines slavophil interpretierbaren Klassikers zu erkennen ist. Die Demontage, die Daniil Charms, Vertreter der absurden Poetik der Oberiuten, Ende der zwanziger Jahre in Form von Anekdoten: »Aus dem Leben Puschkins«! versucht, ist freilich um eine Nuance der Ambivalenz reicher. Seine Burleskisierung macht durch die Schicht der Klassik-Destruktion den Klassiker doch wieder sichtbar: Bekanntlich bekam Puschkin nie einen richtigen Bart. Puschkin litt sehr darunter und beneidete Zacharyn, der, im Gegensatz zu ihm, einen prächtigen Bart hatte. »Bei ihm wächst er und bei mir nicht«, beklagte sich Puschkin oft, auf Zacharyn zeigend. – Und immer hatte er recht.   Oder: Puschkin hatte vier Söhne, und alle vier waren Idioten. Einer von ihnen konnte nicht einmal richtig auf dem Stuhl sitzen und fiel immerzu herunter. Puschkin selbst konnte auch nicht richtig auf dem Stuhl sitzen. Einmal kam es also zu folgendem Blödsinn: Man sitzt zu Tisch, und am Ende des Tisches fällt ständig Puschkin vom Stuhl, am andern Ende – sein Sohn. Nicht auszuhalten. (Charms 1984, 221) 1997, zwei Jahre vor dem großen Jubiläum, erscheint der Dichter, in ein gestreiftes Hemd gekleidet, auf dem Deckblatt der Satirezeitschrift »Ogonek« mit dem Untertitel: »Puškin, Pervyj iz Mit’kov«, womit er zum Anführer einer Petersburger Malergruppe ernannt wird, die sich einem stilisierten Primitivismus verschrieben hat. Der Autor des Eugen Onegin als Mit’ka, d.h. Simpel.

7.7 Was aber hat es mit dem Text auf sich, der wie kaum ein anderer russischer dichterischer Text Bildungs- und Volksgut zugleich geworden ist? Und der bis heute zu immer

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

neuen Lektüren auffordert, die aus noch uninterpretierten Details oder bisher unbeachteten semantischen Konstellationen gänzlich neue Interpretationsangebote entwickeln. Formalistische, strukturalistische, psychoanalytische, dekonstruktivistische und schlicht ›realistische‹ Lektüren halten sich die Waage. Komposition, Strophik, Genre, Sujetfügung, Charaktere, Gesellschaftsporträtierung, Polysemie (die verborgenen erotischen oder poetologischen Bedeutungen), die Frage der Auto- oder Heteroreferenzialität des Textes u.ä. sind Gegenstände dieser Lektüren. Puškin nennt Eugen Onegin im Untertitel einen »Roman v stichach« (Roman in Versen) (Puschkin 1980), wobei er sich zweifellos der Tatsache bewusst ist, dass es sich um eine Zwittergattung handelt. Er selbst hat den Versroman an anderer Stelle als »mon nouveau poème« (Sobranie sočinenij, t. XIII, 81) bezeichnet, womit er nicht nur eines seiner neuen Werke, sondern die Neuheit der Form meint. Deren Hervorbringung hat ihm große poetische Mühe bereitet. In einem Brief an seinen Dichterfreund P. A. Vjazemskij 1823 vermerkt er: »und nun schreibe ich nicht einen Roman, sondern einen Roman in Versen – ein teuflischer Unterschied«. (t. XIII, 73) Mit dem Romanhaften verbindet sich im Genrebewusstsein der Puškinzeit die Abenteuerprosa des 18. Jahrhunderts zum einen und die noch nicht aus der Mode geratene Prosa der Empfindsamkeit; beide Prosatraditionen haben stilistische Spezifika und solche der Heldenkonzeption entwickelt; und sie haben unterschiedliche Ansprüche in Bezug auf die ›Authentizität‹ ihrer Darstellung erhoben. Die in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts kontrovers geführte Diskussion zur Romanpoetik gibt Auskunft über entsprechende Konzepte. Das Versmäßige wiederum knüpft einerseits an die hohe Versdichtung des Klassizismus an, das Heldenepos und das heroikomische Epos, beide Formen gelten zumindest für das fortschrittliche Lager der Literaten und Kritiker als veraltet, und lässt sich andererseits mit einer durchaus noch anschlussfähigen Spielart des Epos in Verbindung bringen, dem (subjektiven) byronistischen Poem. Puškin, der poetologisch hellwache Dichter, kondensiert, destilliert aus den veralteten wie den modischen Formen ein hochkomplexes »poème«, das im Text selbst den Titel »roman« erhält, einmal an einer markanten Stelle in Koalition mit dem Attribut »svobodnyj« (frei). Freiheit und Bindung werden im Versroman zusammengeführt. In der Komposition der Strophe wird die Bindung durch Regelbeachtung manifest. Der Bindung durch das Schema zum Trotz entwickelt die Strophe eine Eigenschaft, auf die der Verstheoretiker Boris Tomaševskij (auch ein der formalistischen Schule zugehörender Forscher) hingewiesen hat: Das Strophische (strofičnost‘) erlaubt Puškin, sowohl einen ungezwungenen Erzählton aufrechtzuerhalten als auch lyrische Abschweifungen einzubauen, da jede Strophe ein kleines Kapitel darstellt, ein kleines in sich geschlossenes Gedicht. Das ermöglicht den schnellen Übergang von Thema zu Thema und lässt zu, vom Sujet wegzugleiten (Tomaševskij 1958, 466). Das heißt, dem Schema widerspricht – oder versagt sich – das narrative Moment, das nur durch Brüche und Digressionen in Erscheinung tritt. Auch der Sujetstrang, den man für den zentralen halten könnte (Tatjanas erfolgloses Werben um Onegin, ihre Heirat mit einem ungeliebten Mann; Onegins zur Unzeit sich einstellende Leidenschaft, der sie sich versagt, und zuvor Onegins Duell mit Lenskij, seinem Tatjanas

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Schwester Olga liebenden Freund, den er aus Übermut eifersüchtig macht und im Zweikampf erschießt) wird nicht einsinnig entfaltet, sondern über weite Strecken dezentriert. Gesellschaftsschilderungen, Räsonnements und die literarische Szene betreffende Exkurse übernehmen mit kurzweiligen Pointierungen die Stelle dieses dezentrierten Sujets. Dazu kommt »die Abfolge semantisch-stilistischer Brüche«, die »keinen fokusartigen Blickpunkt schafft, sondern einen zerstreuten, vielgestaltigen« herstellt (Lotman 1972, 390). Und dennoch, Dezentrierung, stilistische Zerstreuung und Abschweifung sind in den größeren Zusammenhang der Strophik eingebunden, die nicht nur mit einem komplexen Reimschema aufwartet, sondern männliche und weibliche Reime semantisch pointiert einsetzt, das im Reimen zusammengeführte Wortmaterial mit überraschenden Konnotationen ausstattet. Mit Erika Grebers Analyse kann man der komplexen Strophengestalt folgen, deren Novität Puškin bewusst war. Er spielt einerseits mit der Tasso-Oktave, die er merklich überschreitet, und andererseits mit dem Sonett, dessen Quartett-Terzett-Ordnung er verlässt, oder anders gewendet, es ist die Kombination aus Shakespeare-Sonett und petrarkistischem Sonett (Greber 2002, 554-626). Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn für eine bestimmte Richtung in der Puškinforschung die Strophe im Mittelpunkt des analytischen Interesses steht. Die Strophe übernimmt die Rolle des Sujets. Auch in den das Strophen-Komponieren selbstbezüglich zur Schau stellenden Zeilen: »Byt‘ možet, v Lete ne potonet/Strofa, slagaemaja mnoj« (2. XL, 34) (Es mag sein, dass in der Lethe nicht untergeht/Die Strophe, die von mir gefügte) macht Puškin die Strophe, das aus Strophen gefügte Gesamtwerk, zum Thema seines Unsterblichkeitswunsches. Holt Meyer (Meyer 1998, 42) hat in diesem Zusammenhang auf eine Textvariante hingewiesen, in der Puškin das Horazische ›Exegi monumentum‹ zitiert: »I etot junyj stich nebrežnyj/Pereživet moj vek mjatežnyj/Mogu l‘ voskliknut‘ (o druz’ja)-/Exegi monumentum ja« (BPSS VI, 300) (Und dieser junge (neue) Vers/Wird mein aufrührerisches Jahrhundert überleben/So kann ich, o Freunde, ausrufen/Exegi monumentum) in der die Verbindung von lateinisch und russisch, besonders im Reim »o druz’ja … Exegi monumentum ja« (ich) aufhorchen lässt. Die Selbstglorifizierung als der russische Poet, den das gesamte Imperium, die noch nicht alphabetisierten Völker Sibiriens eingeschlossen, für immer ins kulturelle Gedächtnis aufnehmen soll, erhält in Puškins Todesjahr ihre bündige Gestalt in einem seiner meist zitierten Gedichte: »Ja pamjatnik sebe vozdvig nerukotvornyj« (Ich habe mir ein Denkmal errichtet/Nicht von Menschenhand gemacht), das als Titel das HorazMotto trägt. Der Einprägsamkeit dieses Gedichts und der Beschwörung des Gedächtnisses der Nachkommenden für die von ihm erfundene Strophenform widersprechen die konkurrierende Neigung zum Vergessen, zur Spurenbeseitigung ebenso wie die absichtsvolle Zusammenhanglosigkeit, die seinen Versroman auszeichnet (Meyer 1998, 45). Der Verzicht auf Verknüpfung der narrativen Komponenten, den Puškin mit den eigenen Text kommentierenden Ausdrücken wie »bessvjaznyj«, »nesvjaznyj«, »nesvjazannyj« (verbindungslos, unverbunden) bekundet, ist ein weiterer Aspekt des Gleitens und Schweifens und betont die Freiheit des Romans, die an seinem Ende deutlich hervortritt. Gleichwohl ist es eine metrifizierte Freiheit, aber eben auch ein Metrum, das sich die Freiheit der Originalität nimmt. Mit Ausnahme dreier Textstücke (eines Volksliedes und zweier Briefe), die an semantisch bedeutsamen Stellen die Struktur gleich-

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sam zur Disposition stellen, gliedert die Strophenkonstruktion den gesamten Text, der acht Kapitel und ein erst später publiziertes Zusatzkapitel, »Onegins Reise«, umfasst. Der Versroman in dieser metrischen Gestalt hat nicht nur zu gelegentlichen Imitationen, sondern zu einer regelrechten epigonalen Strophenerzeugung geführt. Damit entstand, was in neueren Darstellungen als Onegin-Text der russischen Literatur bezeichnet wird (Postoutenko 1998), ein Text, an dem viele Autoren des 19. und 20.Jahrhunderts mit- und weitergeschrieben haben. Dafür gibt es im Text selbst, neben der Attraktivität der Strophengestalt und des Reimschemas, auch strukturelle Gründe: Puškin operiert mit provozierenden Leerstellen. Das sind Null-Strophen mit exakt weitergezählten römischen Ziffern, nicht zu Ende geführte Strophen, deren Füllung durch das Schema vorgegeben ist. Das Aphoristisch-Fragmentarische, das Spielerisch-Beliebige, die kalkulierte Offenheit fordern zur Füllung, zum Weiterschreiben auf. XXXIX. XL. XLI. ……………………………… ……………………………… ……………………………… Die der Strophenordnung nicht unterworfenen Textstücke sind »Das Lied der Mädchen«, eine Volksliedstilisierung, und die Briefe der asynchronen Liebeskontrahenten, Tatjana und Onegin, die an die ältere Konvention des Briefromans gemahnen, ohne diese aufzunehmen. Semantisch konstitutiv hingegen ist, dass die narrativen Objekte, die als Sprechende und Handelnde beschrieben und in ihren jeweiligen Gemütslagen kommentiert werden, selbst zu Schreibern werden, deren Erzeugnisse vom Erzähler/Autor zitiert werden (Murašov 1998, 173-186). Der Brief, in dem Tatjana um die Liebe Onegins wirbt, ist in der Verletzung gesellschaftlich sanktionierter Umgangsformen ein Skandalon. (Beiden Briefen gilt das ungeminderte Interesse der auf die Charakterologie Puškins setzenden Interpreten: Tatjana- und Oneginbilder werden entworfen, das moralische Rüstzeug der phasenverschoben Liebenden diskutiert und ihre Handlungsweise begutachtet). Der Erzähler, der Tatjanas Sprachkompetenz des Russischen bezweifelt (entsprechend den in der Provinz herrschenden Bildungsverhältnissen, ist das Russische Alltagssprache, das Französische Schriftsprache) und überdies die Meinung vertritt, dass das Russische Liebesbekenntnisse dieser Art lexikalisch nicht zu bewältigen verstehe, behauptet gegenüber dem Leser, der Brief sei französisch abgefasst. Gleichwohl ›transkribiert‹ er ihn auf Russisch. D.h. der Erzähler tritt als Übersetzer eines Textes auf, dessen Originalversion unterschlagen wird. Diese Textmystifikation hat zu mancherlei Spekulation angeregt (Kujundžić 1991, 29-40; Proskurin 1999, 164) Die Formeln der Empfindsamkeit, die Tatjanas Brief bestimmen (den Puškin ursprünglich, um einen Ton der Aufrichtigkeit zu erhalten, ganz in Prosa stilisieren wollte), verweisen auf französische Quellen, Rousseaus Nouvelle Héloise in erster Linie. Die empfindsamen Topoi des Briefes rücken Tatjana in die Reihe ihrer literarischen Liebesleidgenossinnen, Clarissa, Julie, Delphine. Onegins Brief hingegen hat eine stilistisch andere Ausrichtung, lässt keine französische Quelle vermuten, anders als Tatjana, die »čužoj vostorg, čužuju grust« (3. X, 10) (fremde Lust und fremdes Leid) zu verkörpert, scheint Onegin zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen ›entliterarisiert‹. Sein Brief wird vom Erzähler abfällig als kindisch und krankhaft bezeichnet.

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7.8 Puškin hat in Eugen Onegin eine Reihe von Verfahren eingeführt, die den weiteren Gang der russischen Literatur nachhaltig geprägt haben: Zitat, Parodie und Selbstkommentar sowie Verfahren, die das Schreiben selbst zum Gegenstand haben. (Diese Verfahren haben ihrerseits eine auf Sternes Tristram Shandy und The Sentimental Journey zurückgehende Tradition, auf die sich Puškin ausdrücklich bezieht. Puškins Zwittergenre, ist in seiner mehrstöckigen Parodistik, die Lebensformen, Literaturbetrieb, Poetologien, konventionelle Sujets, Figurenkonstellationen, Stilhaltungen einkreist, zugleich ein von einer breiten Leserschaft konsumierbarer Text, dessen Strophen auswendig gewusst werden. Das parodistische Moment steht dabei allerdings nicht im Vordergrund. Dieses haben erstmals die russischen Formalisten systematisch untersucht – sowohl Jurij Tynjanov als auch – geradezu programmatisch – Viktor Šklovskij mit seiner Arbeit über Sternes Tristram Shandy als Paradigma des parodistischen Romans, ja des Romans schlechthin. Šklovskij hat den Begriff »sternianstvo«, Sternerei, eingeführt – das dem im Englischen üblichen »shandyism« entspricht –, um das Ensemble von Verfahren zu bestimmen, die hierzu gehören (Šklovskij 1921). In Puškins Fall, so die weitergehende Parodieanalyse, handelt es sich nicht um eine einfache, sondern eine »doppelte Parodie«, die einer Leserschaft gilt, die mit dem Genre Parodie bereits vertraut ist. Es ist die Zwittergestalt des Textes, die eben diese Leserschaft ebenso wenig wie die Interpreten zur Ruhe kommen lässt. Oleg Proskurins Puškin-Analyse insistiert auf der ›poezija‹ als der Essenz des Romans v stichach und verwirft Versuche, das Romaneske bzw. Epische zu privilegieren. Sein Blick gilt dem Schicksal der poetischen Genres, die in Evgenij Onegin sowohl zitiert wie auch ›widerlegt‹ werden und distanziert sich von Bachtins Versuch, die ›Zweistimmigkeit‹ des Textes auf die Dominanz des Romanwortes zu beziehen. (Proskurin 1999, 140-196) ebenso wie von Nabokovs Idee, das Porträt der Ol’ga mit der Roman-Topik zu verbinden: »the conventional rhetorical figures of similar description of the European novel of his time (Nabokov II, 1975, 277, Proskurin 1999, 408). Die zeitgenössische Kritik, in erster Linie die des gesellschaftskritisch orientierten Vissarion Belinskij hat allerdings zunächst einen anderen Akzent gesetzt: Belinskij etiquettiert den Versroman folgenreich als »Enzyklopädie des russischen Lebens« der 20er Jahre, wobei er sich auf Puškins Beschreibungen der Petersburger Aristokratie, des Landadels, der Gesellschaftsformen – Duell, Bälle – und der Mode beruft, auf die Rolle authentischer Volkstradition im Versroman hinweist und die Schilderung »russischer Charaktere« hervorhebt. »Wir sehen in Eugen Onegin ein poetisch vermitteltes Bild der Gesellschaft in einem der interessantesten Momente ihrer Entwicklung. Von daher ist Eugen Onegin ein historisches Poem/…/, obgleich keine einzige historische Figur sich unter den Protagonisten befindet« (Belinskij 1955: VII:432). Die Stimme Belinskijs ist trotz der divergierenden Wege, die die nachfolgende Puškin-Kritik und Puškin-Forschung eingeschlagen haben, keineswegs verstummt. Es gibt weiterhin Lektüren, die auf der Faktizität und Historizität des Textes insistieren und dabei auf Puškins prononciertes Interesse für das Historische, seinen historischen unvollendeten Roman Der Mohr Peters I und seine Hochschätzung Walter Scotts hinweisen. »Eugene Onegin depicts a panorama of contemporary life« (Evdokimova 1999, 142). Auch

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diese Lektüre hat ihre Berechtigung und wird durch Jurij Lotmans Onegin-Kommentar (Lotman 1980) insofern gestützt, als hier die lebensweltlichen Subtexte des Romans ermittelt werden. Lotman rekonstruiert anhand historischer Texte die Gepflogenheiten der Petersburger und Moskauer westlich orientierten Aristokratie, die sich von denen des Landadels krass unterscheiden. Sein Augenmerk gilt den Konventionen, die für gesellschaftliche Veranstaltungen, insbesondere den Ball, Geltung haben, und geht den Umständen nach, die zur Einführung des Duells und zu dessen Stellung im russischen Ehrenkodex geführt haben. Die so vermittelten Kenntnisse sind für das Verständnis des Romans unabdingbar. Doch Lotmans Kommentar lädt zu keiner eindimensionalen Lektüre ein, vielmehr verschafft er Einblick in die Transpositionsverfahren, besonders die Strategien semantischer Aufladung, die Puškin anwendet, um Polysemien zu erzeugen, in denen die konkreten Ausgangsdaten ihre Konturen verlieren. Was das Sujet selbst angeht, bleibt auch Šklovskijs Diktum bestehen: Istinnyj sjužet ›Evgenija Onegina‹ eto ne istorija Onegina i Tatjany, a igra s etoj fabuloj«. (Šklovskij 1923, 211) (Das eigentliche Sujet von ›Eugen Onegin‹ ist nicht die Geschichte Onegins und Tatjanas, sondern das Spiel mi dieser Fabel) In Eugen Onegin ist Puškin zweifellos als Literat, nicht als Historiker am Werk. Tatjana, die Leserin empfindsamer Romane, Lenskij, der romantische Schwärmer, Onegin, der Petersburger Dandy, der Bentham und Adam Smith liest und Kant zur Seite legt, sind literarische Helden, die durch ihre Lektüren charakterisiert werden, ebenso wie die erzählte Handlung literarische Quellen verarbeitet und eine literarische Enzyklopädie Gestalt gewinnen kann. Entscheidend dabei ist, dass der Autor/Erzähler diese literarische Fundierung stets selbst zur Sprache bringt. D.h. er kommentiert seinen Text. Damit entsteht im Text ein Text über den Text. Die Metatextualität überlagert die Enzyklopädie des russischen Lebens und lässt die literarische pointiert hervortreten. Den von Belinskij eher metaphorisch gebrauchten Enzyklopädie-Begriff könnte man (im Sinne der französischen Enzyklopädisten) dennoch aufrechterhalten, da die encyclopédie-Idee für Puškin wegweisend war, auch wenn er das principe encyclopédiste in ein parodistisches Verfahren verkehrt. Im 3. Kapitel, das den literarischen Hintergrund von Tatjanas Liebesphantasien vorführt, figurieren die Helden und Heldinnen der Empfindsamkeit und Romantik: Goethes Werther, Rousseaus Julie, Sophie und Gothic-NovelSchreiber, Empfindsame und Romantiker sind hier versammelt: Hume-Rousseau; Mably, Helvetius-Locke-Fontenelle, Horaz-Cicero-Lukrez, Maturin, Chateaubriand. In der aufgenommenen Version figuriert namentlich Byron: »I lorda Bajrona portret« (7. XIX, 11) (Das Bildnis Byrons an der Wand), »Pevca Gjaura i Žuana« (7. XXII, 5) (Des Sängers des Giaurs und Don Juans). Die aus den verworfenen Versionen bekannte Bibliothek ist auf in Andeutung gehaltene Werke des 19. Jahrhunderts reduziert: »Da s nim esce dvatri romana,/V kotorych otrazilsja vek,/I sovremennyj celovek/Izobrazen dovol’no verno (S ego beznravstvennoj dusoj,/Sebjaljubivyj i suchoj« (7. XXII, 6-11) (So auch zwei, drei von den Romanen,/In denen spiegelt sich die Zeit,/Und worin auch der Mensch von heut/Recht wahr gemalt ist nach dem Leben/Mit seiner Seele Unmoral,/Die, eigensüchtig, dürr und kahl). Hinter der Nichtnennung sind Benjamin Constants Adolphe, der eine zentrale Rolle im Entwurf des Helden für Puškin gespielt hat, und Chateaubriands René vermutet worden (Lotman 1980, 320). Nach der Zurückweisung durch Tatjana wird Onegin wieder zum Leser, wahllos liest er Gibbon, Rousseau, Manzoni, Herder,

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Chamfort, Madame de Stael, Bichat, Tissot, Bayle und Fontenelle, er wird zum Leser der Journale, in denen sein Schöpfer, Puškin, verurteilt wird, und vertieft sich in den Text, dessen Held er ist: Он меж печатными строками ? Читал духовными глазами/Другие строки. В них-то он/Был совершенно углюблен,/То были тайные преданья/Сердечной, темной старины,/.Ни с чем не связанные сны,/Угрозы, толки, предсказянья,/Иль длинный сказки вздор живой,/Иль письма девы молодой. (8. XXXVI, 5-14)   Er ließ, statt auf gedruckten Zeilen,/Sein innres Auge nun verweilen/Auf andren Zeilen. Dort hinein/Versenkt sich tief sein ganzes Sein,/Von dort aus dunklen Herzensreichen/Uralt-geheime Kunde drang,/ohne Zusammenhang,/Einflüstrung, Drohung, Zukunftszeichen,/Bald Märchen, lang und wirr, doch tief,/Bald eines jungen Mädchens Brief. Nachgerade jedes Kapitel wird durch Nennung von Autoren oder Werktitel zum Bestandteil der Enzyklopädie. Die Erwähnung russischer Autoren hat immer eine poetologische Implikation – Kritik oder Zustimmung. Puškin markiert oder verschleiert seine Intertexte, Sub- und Prätexte. Ihre Hervorhebung gehört ebenso zur semantischen Ausstattung seines Textes wie ihre Kaschierung. Trotz der literarischen Orchestrierung mit Autoren-, Werk- und Heldennamen wird hier eine Liebesleid-Geschichte erzählt (die der sentimentalistisch gestimmte Teil der russischen Leserschaft für das eigentliche Sujet des Romans hält). Gleichwohl ist es schwer, in der Darstellung Tatjanas sowohl als Leserin empfindsamer englischer Romane wie auch als Schreiberin des empfindsamen Briefes Puškins demontierenden Zug zu überlesen. Allerdings ist ihm auch anderes zu Tatjana eingefallen: er versetzt sie in eine Traumszenerie, in der er allegorisch-groteske, mit erotisch-sexuellen Assoziationen ausgestattete Phantasmen auftreten lässt. (Letzteren gilt das unermüdliche Interesse der psychoanalytisch gestimmten Puškinforscher). Und er rückt Tatjana in eine Volksbrauchstradition, in der nicht nur das Wahrsagen und magische Handlungen eine Rolle spielen, sondern auch das konventionsverletzende Liebeswerben um den spröden Onegin seine Begründung findet. Dieser Tradition zufolge ist Tatjanas Auserwählter der ihr vom Schicksal Bestimmte, einer der vom Schicksal gleichsam verurteilt ist (suženyj), ihr zu gehören. Dieses Element der Volkstradition wird im zweiten Teil wieder aufgenommen, als Onegin wie ein zur Liebe Verurteilter agiert und nun seinerseits die Konvention zu verlassen versucht. Tatjana ist aber nicht nur aus diesen beiden Traditionen, der empfindsamen und der ›folkloristischen‹, herzuleiten, sondern sie gewinnt eine weitere Dimension. Und zwar wiederum als Leserin, aber als eine, die in der Begegnung mit Werken anderen intellektuellen und ästhetischen Zuschnitts den Sentimentalismus als Herzensmode zu durchschauen beginnt. In der verlassenen Bibliothek Onegins vertieft sie sich in die Lektüre seiner Bücher: »I ej otkrylsja mir inoj« (7. XXI, 14) (eine andere Welt eröffnet sich ihr), offenbar ist sie in den Lesegenuss der von Puškin in der akzeptierten Variante verschwiegenen Bücher gekommen. Sie erahnt, literarisch unterwiesen, das Literarische, die ›Unsubstanz‹, ihres Liebesobjekts:

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Что ж он? Ужели подражанье,/Ничтожный призрак, иль еще/Москвич в Гарольдовом плаще,/Чужих причуд истолкованье,/Слов модных полный лексикон?/Уж не пародия ли он? (7. XXIV, 9-14)   Was ist er nun?/Imitation nur,/Ein Moskauer in Harolds Plaid,/Ein leerer Wahn, ein Interpret/Von angelesener Konfusion nur,/Ein Modewörter-Dictionnär?/Vielleicht nur Parodie, nicht mehr? Diese Emanzipation vom Empfindsamen hat Tatjana vielen der ihr nachfolgenden Romanheldinnen voraus. Auch Lenskij, der vom Studium in Göttingen zurückgekehrte romantisierende Poet und Verliebte mit schulterlangen schwarzen Locken, ist ›durchliterarisiert‹. Wenn Lenskij in dem Duell, zu dem er Onegin, seinen vermeintlichen Rivalen und Verletzter seiner Ehre, gefordert hat, seinen Tod findet, so ist dies zugleich romantisches Relikt und Verabschiedung der Romantik. Ironisch legt Puškin deren Spuren frei, wenn er Lenskij vor dem Duell Schiller lesen lässt, der in Russland in romantischem Kontext rezipiert wurde. (Proskurin 1999, 172-129) Das romantikskeptische Dandytum Onegins, für dessen Verfassung der englische »spleen« mit russisch »chandra«, Grille, und der französische »ennui« mit »skuka«, Langeweile, übersetzt werden, und die unromantischen mondänen Beschäftigungen des Dandys, denen der Erzähler mit sarkastischer Sympathie begegnet, gewinnen die Oberhand. Statt der Philosophie des deutschen Idealismus, die er wenig attraktiv findet, beschäftigt sich Onegin mit Werken zur Ökonomie und Gesellschaftstheorie (auch dies macht ihn zum Anti-Romantiker). Erst ab etwa 1810 orientierten sich die russischen Stutzer am englischen Dandy (Lotman 1980, 124), was Haartracht – »ostrižen po poslednej mode« (Gestutzt nach der neuesten Mode) und Kleidung »Kak dandy londonskij odet« (Wie ein Londoner Dandy gekleidet) einschloss. Puškin führt »dandy« als Neologismus ein, wie zuvor die Bezeichnungen für bestimmte Gemütslagen und im weiteren Verlauf solche für westliche Kleidungsstücke, von denen er behauptet, dass das Russische dafür keine Worte habe: »No pantalony, frak, zilet/Vsech etich slov na russkom net« 1. XXVI, 7-8. (Doch Beinkleider, Frack, Gilet/Dafür noch hat das Russische kein Wort). Onegin scheitert aber gerade als Dandy – mit seiner Londoner Kleidung, seinen französischen Parfüms und der Sammlung erlesener Kämme, weil auch spleen und ennui (vorerst) literarisch am Ende sind. Doch gilt hier auch ein Gegenprinzip, das weder auf die Wirklichkeit (der Dinge, der Gesellschaft) noch auf Ökonomie setzt und die Dandy-Theatralik der Selbststilisierungen aufhebt: es ist das das des Traums. Traum, Schlaf, Traumähnliches, Wachträume, sinnierendes Dämmern, schlaftrunkenes Aufwachen und andere mit dem Hellwachsein kontrastierende Zustände durchziehen den Text und werden in einer Lexik hervorgebracht, die ›eigentlich‹, konnotativ oder figurativ eingesetzt ist. Bereits im 1. Kapitel ist die Rede von »tvočceskie sny« (1. LV, 4) (schöpferischen Träumen), denen die Entstehung des Romans zu verdanken sei, was im letzten Kapitel wieder aufgenommen wird, wo es heißt, dass ihm die Gestalten Tatjanas und Onegins »v smutnom sne« (8. L, 10) (in wirrem Traum) erschienen seien. Nicht nur der elaborierte Traum der Tatjana, sondern auch die Begegnung Onegins mit Tatjana als Dame der Gesellschaft im 8. Kapitel, die wie die Inversion des frühen Traums der Verliebten inszeniert ist, gehört in diesen

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Zusammenhang. Das Schweben zwischen Schlaf und Schlaflosigkeit Lenskijs und das verspätete Aufwachen aus dem Tiefschlaf Onegins vor der entscheidenden Duell-Szene, Lesen als Träumen der Tatjana in ihrer empfindsamen Lektüre-Phase, die Nähe des Traums zu Melancholie und süßer Langeweile, die Lust am dämmernden Vergessen erscheinen als semantisch und strukturell bedeutsame Momente. Iouri Tchoumakov vertritt zugespitzt die These, dass der Traum, der die Instanzen zu vertauschen erlaubt, die Substitutionen (Protagonist-Erzähler/Autor), Transpositionen und Metamorphosen des gesamten Versromans legitimiere. »Ainsi tout ce qui se passe dans Eugène Onéguine obéit-il aux règles tacites et informulées du rêve« (Tchoumakov 2000, 164). Damit ließen sich die Zerstreuungs- und Digressionsverfahren auf die Regeln dieser Traumlogik zurückführen.5 Neben der komplexen Strophik sind es die Polysemien, in denen Puškin seine Meisterschaft beweist. In Passagen mit alludierendem Charakter, in Zitaten und Stilisierungen führt er sie vor. Semantisch konstitutiv ist unter anderem die Namengebung, die mehrfache literarische Bezüge aufweist. Da gibt es zunächst die Flussnamenspur: ›Onegin‹ lässt sich als Parallelbildung zu ›Pečorin‹, dem Namen des problematischen Helden aus Lermontovs Held unserer Zeit lesen. Da ›Pečorin‹ etymologisch den Flussnamen Pečora assoziiert, ließe sich ›Onegin‹ auf den Namen des Flusses Onega zurückführen. Eine hydronymische Motivierung weist auch der Name von Onegins Widerpart ›Lenskij‹ auf, der nach Pečora und Onega an einen weiteren Fluss erinnert, an die Lena. Die Flussetymologie-Spur wird auch durch den Namen eines der Duell-Sekundanten bestätigt, der ›Zaretskij‹, d.h. ›Jenseits-des-Flusses‹ lautet. Allerdings passt Lenskij nicht ganz in das Pečorin-Onegin-Schema. Vielmehr wäre die analoge Bildung diejenige gewesen, die es zum Namen des Parteiführers gebracht hat, ›Lenin‹. Aber Puškins Duellanten heißen nicht Onegin und Lenin, sondern Onegin und Lenskij. Und genau in dem ›skij‹ liegt der Unterschied, der in die Doppelgängerei des Freundespaares eine diese destabilisierende Differenz einträgt. Denn Lenskij reimt sich auf »gettingenskij«, göttingerisch, ein Attribut, das den gelehrten Poeten vom Dandy entfernt. »gettingeskij« ist vom Tonfall des Erzählers geprägt, der in vielen Attribuierungen sympathetischen Spott mitschwingen lässt und damit auch Sprachrohr seines Protagonisten wird – bis auf die Stellen, wo dieser sein Gesprächspartner wird. Dort nämlich kommt eine weitere Doppelgängerei zum Zuge: diejenige zwischen Onegin und seinem Erzählermedium. Zwischen Distanz und Nähe, Dissens und Konsens arrangiert Puškin ein Spiel, das auch seine eigene Stimme hörbar und seine persona sichtbar macht – seine Position zu Gesellschaft und Kulturbetrieb waren seinen Zeitgenossen ebenso bekannt wie seine Neigung zu Selbststilisierung, etwa als Dandy, und zu Verkleidungen. Puškins Name endet im Übrigen auch auf ›in‹, erlaubt freilich keine Fluss-Assoziation. Hingegen korrespondieren sein Vorname, Alexander, und derjenige Onegins, Eugen, bezüglich ihrer griechischen Herkunft – Alexandros und Eugenios. Eugen-Evgenij hat ebenfalls eine literarische ins 18. Jahrhundert zurückgehende Vorgeschichte, in der der Name eine satirisch gezeichnete, negative Figur benennt. Hydronymisch motivierte Familiennamen sind in der russischen Onomastik unüblich, sie tauchen als künstliche Namen in der Komödie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts auf (Lotman 1980, 112-117). 5

Vgl. Kap.19

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

›Lenskij‹ war Puškin aus der Komödie »Pritvornaja nevernost‘« (Vorgetäuschte Untreue) des Zeitgenossen Griboedov bekannt, ›Onegin‹ verweist auf die zu Puškins Zeit hochgeschätzte, einflussreiche und traditionsbildende Komödie »Ne ljubo-ne slušaj, a lgat‘ ne mešaj« (Hör’ nicht hin, wenn du nicht willst, aber stör’ nicht beim Lügen) von Fürst Šachavskoj, in der ein Onegin als Streitrichter fungiert, der aber nie leibhaftig auf der Bühne erscheint, sondern lediglich als Abwesender, Schriftstücke Verfassender zitiert wird. ›Onegin‹ ist somit Zitat eines literarisch verbürgten Namens. Auch dies hat seine poetologische Pointe, da Šachavskoj literaturideologisch zum Lager der Archaisten gehörte und sich in polemischem Kontakt mit der Gegengruppe, der Puškin nahestand, befand. Puškins ›Onegin‹-Zitat deutet mithin die Wendung zu einer zunächst verworfenen älteren Tradition an. Die onomastische Poetik Puškins, zitierend, alludierend, wird in der Untersuchung von Holt Meyer zum Gegenstand einer dekonstruktivistischen Neulektüre des Textes (Meyer 1999, 335-366) Poetologisch pointiert ist auch das Spiel, das Puškin um den duellversessenen Romantiker Lenskij (meta-)textuell arrangiert, ein Spiel, das zwei zeitgenössischen Dichtern, Kjuchelbeker und Jazykov, gilt, und das zugleich ein Spiel mit erotischen Konnotationen ist. Erst kürzlich wurde diese Stelle gänzlich neu interpretiert und die komplexe, implizite, sehr vermittelte, aber stellenweise auch durchaus transparente Anspielungsartistik Puškins detailliert ans Licht gebracht (Proskurin 2000, 229-259): Не мадригалы Ленский пишет ? В альбоме Ольги молодой,/Его перо любовью дышет,/Не хладно блещет остротой. (4. XXXI, 1-4) (Nicht Madrigale schreibt Lenskij/Ins Album der jungen Olga,/Seine Feder atmet Liebe,/und glänzt nicht mit kaltem Witz). Während »pero«, Feder, nicht nur mit Verweis auf französische erotische Dichtung seine phallische Konnotation erhält, sondern auch auf russische, z.T. zensierte, erotische Volkstradition zurückgeht, werden zugleich poetische Doktrinen des Dichterfreundes Kjuchel’beker kontrafaktisch umgesetzt, die archaisierende Tendenzen, (Ode statt Elegie, hochgestimmtes Gefühl statt kalter Pointen, Volkstümlich-Reines statt Künstlich-Literarisches) recht widersprüchlich durchzusetzen versuchen. Puškin ist mit jeder Zeile doppelzüngig, Autor seines Textes, Polemiker und Parodist mit Blick auf seine, dennoch hochgeschätzten, dichtenden Zeitgenossen, mit Blick auf Konventionen des Stils und der Gattung. Für Proskurin besteht kein Zweifel daran, dass gerade der Versroman durchwegs zweistufig konstruiert ist, sein Terminus dvuplannost‘ ist der leitende Meta-Begriff in seiner eindringlichen Analyse, die das Konzept der Dominanz des »Lyrischen« konsequent verfolgt. (Proskurin 1999, 148)

7.9 Die Parodie der Parodie, von der oben die Rede war, öffnet das Genre für immer weitere Drehungen der Spirale, in die alle Meinungen über Welt und Gesellschaft hineingezogen werden und entgleiten. Parodieparodie und Elegisches können sich in dieser Spiralbewegung verbünden. Die ludistische Orchestrierung des Textes mit den epigrammatischen Pointen, Zitaten und Abschweifungen verhindert nämlich keineswegs, dass ein Ton von (verspielter) Melancholie sich nachdrücklich Gehör verschafft: Es sind Elegien auf die Damenfüßchen, die für Amouren, Bälle, Reiten und Ballett stehen bzw.

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laufen, tanzen, trippeln, in Steigbügel steigen. Es sind die »nožki«, deren Reiz als ebenso vergänglich erscheint wie der begehrliche Blick, der auf sie fällt. Tatjanas Brief und Onegins Jahre später verfasste, die Inversion seiner ursprünglichen Haltung anzeigende Replik, bilden, aus der Sequenz herausgenommen, einen Chiasmus. Der Chiasmus hat keinen klaren Zeitindex, deutet auf kein Telos, sondern ist die arabeske Figur der Vergeblichkeit. Weggleiten und Abschweifen sind Grundbewegungen des gesamten Textes, in dem Ornamente der Ruhelosigkeit entstehen und eine Semantik des Unsteten beibehalten wird. Das Schweifen und Gleiten ist in diesem Chiasmus gleichsam stillgestellt. Den Ton der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit, des ruhelosen Schweifens nimmt besonders das separat publizierte Kapitel ›Onegins Reise‹ auf. Der Dandy ist ein einsamer, zielloser Wanderer, ein transformierter Melmoth the Wanderer, geworden (Meyer 1995). Es ist eine Reise durch das russische Reich, die er antritt, von Sibirien bis an die Westgrenze, vom Schwarzen Meer ans Nordmeer – der Kaukasus, die Krim, die Vielvölker-Stadt Odessa sind besonders hervorgehobene Orte – auf der ihn sein Autor und Doppelgänger in Gedanken begleitet und leibhaftig trifft: der Erzähler wird zum Ich der Rede, ist Onegin. Die stark romantische Geste des ReiseKapitels mit der Fusion von Held und Erzähler und dem Motiv der Abwendung von der Gesellschaft, der ziellosen Einsamkeit überdeckt nur scheinbar die Parodien, Sarkasmen, den ironischen Duktus der acht Kapitel. Vielmehr gehört sie auch in die ›Weite‹ des strophisch gebändigten ›freien Romans‹ mit seinen melancholischen Abbrüchen, seiner Verbindung von epigrammatischem und ›elegischem Witz‹.

7.10 Die oben skizzierte Kanonisierungsgeschichte ist allerdings unvollständig, denn es gab noch eine russlandexterne literarische Szenerie: nämlich die der russischen Emigration. Die Puškin-Rezeption der 20er und 30er Jahre von Seiten der russischen Emigrationsschriftsteller in Paris war merkwürdig negativ. Puškin wurde wegen Formvollendung und Inhaltsarmut – und womöglich, weil er von der sowjetischen Literaturgeschichtschreibung vereinnahmt worden war, abgelehnt. Dieser Tendenz tritt nun Vladimir Nabokov, damals noch unbekannter Schriftsteller im Berliner Exil, vehement entgegen. Auf zweifache Weise arbeitet er an Puškins Kanonisierung als Autor der Weltliteratur: zum einen als dessen Übersetzer und Interpret, zum andern, indem er Puškin als Person und Dichter zu seinem lebenslangen Leitbild macht. 1937 hält er in Paris vor einer skeptischen und interessierten Zuhörerschaft, zu der auch James Joyce sich gesellte (Moynahan 1995, 433-444), eine glänzende französisch verfasste Rede mit dem Titel »Pouchkine, ou le vrai et le vraisemblable«, die poetologischen Problemen galt, insonderheit solchen der Übersetzung lyrischer Texte und der spezifischen Schwierigkeit, Puškin ins Französische zu transponieren, um eine adäquate Rezeption zu ermöglichen. »Das Leben eines Dichters«, sagt er in der Rede, sei das »Pastiche aus seinen Werken« (Nabokov 1937), – ein Diktum, das ein Umschalten von Leben in Kunst und umgekehrt in Puškins und in seinem Fall, einschließlich der Selbststilisierungen und Mystifikationen, als folgerichtig erscheinen mag.

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

Nabokov selbst gilt als unrussisch, als Ausländer in der eigenen Literatur (Cetlin 1997, 218). Die Emigrationskritik anerkennt Meisterschaft, Genialität, verurteilt Kälte, Snobismus, Zynismus, Ästhetizismus. Es ist die schockierende Neuheit im Stil, in der Personenkonzeption, in der Sujetfügung, die irritieren. »So hat noch niemand auf russisch geschrieben«, heißt es in einer Besprechung (Ivanov 1997, 215), womit auch gemeint war, dass noch niemand so zu schreiben gewagt hat. Dasselbe hatte man im 19. Jahrhundert gegen (oder für) Puškin ins Feld geführt. »Sirin«, Nabokovs Pseudonym der 20er Berliner Jahre, provoziert aber auch die Gegenposition, die das Russische in seinen Werken herausstellt. Eine Interpretationslinie, die auch bezüglich seiner englischen Werke beibehalten wird und in Lolita oder Ada or Ardour gerade die russischen Implikationen heraus-kommentiert. Alfred Appel The annotated Lolita (1970) ist das Beispiel für einen (im übrigen unverzichtbaren) Kommentar, der die Kenntnisse eines Russisten voraussetzt, um die poetischen Distortionen, Kryptogrammatismen aufzudecken, in denen russische Literatur, russische Nabokov-Kindheit – oft nostalgisch – sich verbergen. Die Kontroverse zum Thema Nabokov als ›unrussischer‹, Nabokov als zutiefst ›russischer‹ Autor scheint beendet. Andrej Bitov deutet das Ende einer weitergehenden an: »Die Spaltung in der russischen Kultur in sowjetische und Emigrantenkultur ist in ihm überwunden, ist überführt ins universale Phänomen der Kontinuität« (Bitov 1996, 45). Allerdings ist damit die Kanonfrage nicht gelöst. Vielmehr gibt Nabokov der Literaturwissenschaft Einordungsprobleme auf: ist er Symbolist, Avantgardist, Neorealist, Postmodernist? (Medarić 1997, 54-56). Das Spiel mit Autorschaft, Demiurgie, Metatextualität, die Verfahren der Zersplitterung einer Textstruktur in andere überraschende Zusammenhänge, die Rolle des Widerspiels mimetischer und transmimetischer Verfahren, Detailbeschreibungslust, die den Konkreta gilt, und Phantastik, die das Unwahrscheinliche, Groteske und Paradoxe einkalkuliert, provozieren unentschiedene Lektüren. Das zuvor von den Symbolisten und Akmeisten reklamierte Puškin-Erbe wird von Nabokov nachdrücklich beansprucht: sein Gesamtwerk partizipiert motivisch, thematisch, stilistisch am dessen Vermächtnis. Den semantischen Raum des Schwellentextes Eugen Onegin scheint er nie verlassen zu haben. Wie Puškin, der in seinem Werk als »Puškin«, »Aleksandr« oder »Ich« erscheint, lässt Nabokov in zahlreichen Anagrammen, wie etwa Vivian Darkbloom oder Adam von Librikov (er breitet die fast unerschöpflichen Möglichkeiten, aus seinem Namen andere zu generieren, aus) in seinen Werken auf sich schließen. Die Themen: Autorschaft, schreibender Held, Doppelgängerei, Mystifikation, Nachruhm, Unsterblichkeit, das Jenseitige verbinden ihn ebenso mit dem Vorläufer wie seine Formexperimente. Der Versdichtung und Prosakommentar verbindende Text Pale Fire (aus einem nichtvollendeten russischen Roman 1959 entstanden) erscheint in mancherlei Hinsicht als formales und semantisches Äquivalent zu Puškins Roman in Versen und Nabokovs Kommentar dazu (Davydov 1995, 484). Nabokovs Held Kinbote, dessen megalomanischer Kommentar zu den vier Cantos des fiktiven Poeten John Shade als Selbstdarstellung eines geringeren, ja lächerlichen Poeten, dessen homoerotische Neigungen kaum verhohlen zur Geltung kommen, ironisch stilisiert wird, ist gleichwohl ein ingeniöser Schreiber, der in gewaltigen Abschweifungen eine phantastische russisch-europäische Historiographie entwirft. Pale Fire ist zudem ein Verschlüs-

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selungstext, in dem ästhetische Ansichten und eine beißend groteske Schilderung amerikanischer Verhaltensweisen und Geschmacksspezifika durchaus den Autor Nabokov verraten, der zugleich in Shade sein anderes, unnahbares poetisches Double entwirft. Nabokov bzw. Kinbote ist ein spitzfindiger Verschlüsseler, der in seinen Selbstkommentaren als irreführender und triumphierender poeta doctus auftritt. Für diesen Text wie für viele andere ist die fiktionale Verstellung zugleich die Verstellung der Fiktion, die sich durch die Indirektheit der Allusionstechnik und die provokante Rahmung seriöser Äußerungen durch Sarkasmen zur Geltung bringt. Alle diese Verfahren lassen sich in einer Puškintradition verorten. Nabokovs Kommentar zu seiner englischen Übersetzung von Puškins Eugen Onegin (beides zu dessen 165. Geburtstag erschienen), ebenfalls ein megalomanischer Text, ist neben Lolita sein umstrittenstes Werk. Der Kommentator usurpiert, wie Kinbote, die Stelle des Originals. Es ist ein hoch gelehrter, z.T. glänzend recherchierter Kommentar, detailbesessen, pedantisch, gespickt mit Kuriosa und Langatmigkeiten, aber auch mit pointierten Belletrismen. Nabokov ist Übererfüller des Genres ›Kommentar‹ und zugleich Übertreter seiner Regeln. Es kommt zu einer literarischen unio im Kommentar mit dem Kommentierten. Puškin ein für allemal in die ›Weltliteratur‹ zu integrieren, ist das Ziel, das Nabokov vermittels des Kommentars und der Übersetzung zu erreichen sucht. Erneut wird Eugen Onegin zum Schwellentext. Auch Puškins Biographie betreffende Details unterzieht Nabokov historischer Prüfung. Im Kommentar zur L Strophe des 1. Kapitels aus Onegin, wo es heißt »Pod nebom Afriki moej« (Unter dem Himmel meines Afrika), geht er Puškins afrikanischer Herkunft nach und korrigiert Annahmen bezüglich der abessinischen Abstammung seines Urgroßvaters mütterlicherseits, der in Peters I Diensten stand, indem er sie mit plausibler Erklärung in Zentralafrika ansetzt (Davydov 1995, 496) Er lässt sich sogar einfallen, den französischen Wortlaut des Tatjana-Briefes zu ›rekonstruieren‹, d.h. einen Wortlaut, den es nie gegeben hat, und zwar in Prosa (der ursprünglichen Idee Puškins folgend), zumal die französische Prosa hier besser klinge als die englischen Jamben. Um das zu erreichen, nutzt er Strophen aus den französischen Übertragungen des TatjanaBriefs, dessen sprachliche Fassung der französischen Idiomatik verwandt sei und ohnehin eher französisches Sprach-Denken repräsentiere; dies gelingt ihm, indem er sich einiger Zeilen aus französischen Übersetzungen, diese kombinierend, bedient. (Louis Viardot-Turgenev u.a.) (2, 387-389)

7.11 Nabokov will Puškin nicht nur in die europäische Literatur integrieren, sondern sie auch den amerikanischen Lesern, die Dostoevskij-orientiert sind, als das eigentliche russische literarische Erbe präsentieren. Dabei verfolgt er eine doppelte Strategie der Information des amerikanischen Lesers: zum einen liefert er detaillierte Erklärungen russischer Idiome, Bräuche, Begriffe, Namen, historischer und kultureller Fakten, die in Puškins Quasi-Gesellschaftsenzyklopädie figurieren; zum andern verweist er wie ein intertextueller Detektiv auf die literarischen Quellen dieser Lebens-und Gesellschaftsschilderung, wobei ihm in erster Linie an der Identifizierung der westlichen gelegen ist.

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

Hier kann Lotmans oben genannter Kommentar als Korrektiv gelten. Lotman stellt die russischen Intertexte heraus und neigt dazu, dem kulturellen und historischen Kontext eine Lebenssubstanz zurückzuverleihen, die Nabokov literarisiert hat. Nabokovs Onegin-Kommentar gilt der Struktur des Gesamtwerks, der Strophik, Metrik, dem Reim. Er schreibt den Text in einen europäischen Kontext von Schreibweisen ein und sieht dessen Russizität in der Sprache. Puškin, der Erneuerer der russischen Sprache, hat in Nabokov seinen Doppelgänger, der nicht nur dem Russischen eine neue Prägung, einen, wie die positive Kritik sagt, ungehörten Klang, sondern auch dem Englischen ungeahnte Nuancen (Edmund Wilson) verliehen hat. Dem Russischen eine neue, abweichende Expressivität verleihen, es ausdifferenzieren, das semantische Potential steigern, ihm eine Qualität des Spielerischen, der Andeutung, des Flüchtigen geben, seine phonischen, rhythmischen Eigenschaften exponieren, war durchaus sein Ziel. Nabokovs literale, bis ins phonisch-alludierende Detail unerbittlich präzise 1 zu 1 Übersetzung, die als unlesbar, »unreadable« (Steiner, Wilson) gilt, ist zugleich eine merkwürdige Mimikri. Es geht ihm um die englische Reproduktion der OneginStrophe, also jener vierzehnzeiligen in jambischen Tetrametern gehaltenen Strophe mit regelmäßigem Reim, die er, der Übersetzer ins Russische und Englische und stets Verfechter der freien Übersetzung – hier als freie für unmöglich hält. Jede gereimte, äquimetrische Übersetzung hätte das Original zerstört, hätte einen »schwachen Byron« ergeben. Die Unterschiede in Prosodie, Reimbeständen, metrischen Konventionen etc. zwischen dem Russischen und dem Englischen seien nicht zu überbrücken.6 ). Das Spiel, das Puškins Sprache mit Norm und Abweichung spielt, versucht Nabokov durch den Einsatz von englischen Archaismen und Poetismen nachzuspielen. Für die russischen Gallizismen und Altrussizismen sucht er Äquivalente, die starke Übertreibungen darstellen (da viele Gallizismen schon zu Puškins Zeit assimiliert waren). Für das von Puškin gewählte Substantiv »nega«, englisch »tenderness«, setzt er »mollitude« und »dulcitude«, um der Bedeutungsgeschichte von »nega« nachzuspüren, (eine Lehnübersetzung aus dem Französischen zwar, aber durch das russische Adjektiv »nežnyj«, zärtlich, völlig integriert) (Dolinin 1995, 120). Neben den Beispielen für die »unreadability« der Übersetzung, die Dolinin zur Beurteilung des Gesamtergebnisses als »half-defeat« Nabokovs bestimmt haben, stellt er die in hohem Maße gelungenen Stücke dieser ambitionierten Unternehmung heraus, die in der Übertragung nicht nur der semantischen, sondern auch der lautlichen Elemente so perfekt sind, dass er sie als »clones« bezeichnet. (Dolinin 1995, 121-123) Nabokov interessiert die Abweichung, die Störung. Die sperrige Übersetzung zwingt, das Russische darunter und dahinter wahrzunehmen, d.h. das Englische wird unenglisch gemacht, um die Sprache des Originals als etwas Fremdes wahrzunehmen. Im Nachwort zur amerikanischen Ausgabe von Lolita (1958) äußert sich Nabokov zur Zweisprachigkeitsproblematik. Er schreibt von seinem erzwungenen Verzicht auf eine ihm unendliche gefügige, reiche, durch nichts restringierte russische Muttersprache (er nennt diesen Verzicht »ličnaja moja tragedija«, meine persönliche Tragödie), und davon, dass er sich einer nur zweitrangigen Variante des Englischen habe zuwenden 6

Der Nabokovforscher Alexander Dolinin hat die Spezifika der Nabokovschen Übersetzungsleistung analysiert (Dolinin 1995, 117-130

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können, das auf »den hintersinnigen Spiegel, die schwarzsamtene Fersenkappe, die mitverstandenen Assoziationen und Traditionen« nicht habe zurückgreifen können, deren sich die »hiesigen Trickkünstler mit flatternden Rockschößen so zauberhaft bedienen, um das Erbe der Väter auf ihre Weise zu überwinden« (Nabokov 1958, 89). Dass ihm das nun allerdings doch noch gelungen ist, bezeugen die Kritiker seiner Werke. Und natürlich wusste er es auch selbst. Nabokovs Onegin-Kommentar ist zugleich ein diktatorisches close reading, in dem der Kommentator die Rolle des einzigen wahren Puškin-Interpreten in Anspruch nimmt, der die Polysemien, die Assoziationsstrategien zu entschlüsseln vermag. Dieser mit Abschweifungen, Einschüben, Interpolationen, nostalgischen Rückblicken gesättigte Kommentar gleicht sich der Onegin-Struktur an. Auch in anderen Werken ist der Versuch dieser literarischen Doppelgängerei deutlich (Stark 1997, 772-782). Dar (Die Gabe), The Gift, der letzte russisch geschriebene Roman, (1937 in Berlin entstanden) enthält ganze in jambischen Tetrametern verfasste Abschnitte und suggeriert damit eine Genreverwandtschaft mit Puškins Romanexperiment. Das Motiv der Antizipation der noch unklaren Kontur des noch nicht geschriebenen Romans hat Parallelen zu dem des »magischen Kristalls« aus dem 8. Kapitel des Eugen Onegin. Das Ende von Die Gabe interpretiert das Ende von Eugen Onegin: Прощай же, книга!//С колен поднимется Евгений, – но удаляется поэт,/продленный призрак бытия синеет за чертой страницы, как завтрашние облака, и не кончается строка. (Nabokov 1952, 411)   Eugen erhebt sich von den Knien, – doch es entfernt sich der Poet./…/das säumige Trugbild des Seins schimmert blau hinter der Kontur der Seite, Morgenwolken gleich, und die Zeile hat kein Ende. Es ist eine Passage, die auch die Zeilen zurückruft, mit denen Puškin in seinem Roman die von ihm komponierte Strophe dem Vergessen entreißen will: »Byt‘ možet, v Lete ne potonet/Strofa, slagaemaja mnoj«. Die Gabe ist durch denselben Enzyklopädismus und das metafiktionale Moment bestimmt wie Eugen Onegin. »The Gift’s central character is Russian literature« lautet Nabokovs Kommentar zur englischen Übersetzung seines Romans. »Not since Evgenii Onegin has a major Russian novel contained such a profusion of literary discussion, allusions and writers’ characteristics« heißt es in dem ersten kritischen Artikel zum Roman (Karlinsky 1979, 286). Das Enzyklopädische im Sinne der impliziten oder expliziten Revokation der literarischen Tradition in eine literarische Gegenwart bestimmt Die Gabe ebenso wie Pale Fire oder Ada or Ardour. Im Schreiben alles Erfahrene und Gelesene wachhalten – darin steckt ein auch andernorts deutlich hervortretender Unsterblichkeitswunsch. Das Metatextuelle, Metafiktionale, Autoreferentielle, das ironisch auf den Schreibvorgang, die Fiktionalität, Beliebigkeit des Einfalls verweist, pendelt das verschwiegen Pathetische dieser Revokationsgeste aus. Die Anzahl der alludierten, stilisierten, parodierten, invertierten fremden Texte ist ebenso umfangreich wie die Methoden ihrer Amalgamierung facettenreich. In einem seiner letzten russisch geschriebenen Romane Otčajanie (Die Verzweiflung) (1936), von ihm selbst als Despair ins Englische übertragen, bündelt Nabokov seine The-

7. Die Puškin-Nabokov-Doppelgängerei

men: Schreiben, Autorschaft, Doppelgängerei, Mystifikation. (Smirnov 2000). Despair steht beispielhaft für den intertextuellen Artismus, der die russische und die sowjetische Literatur der 20er und 30er Jahre in Allusionen und Kryptogrammen verarbeitet, und er steht für das Mystifikations- und Autorschaftsthema. Es ist ein Text, der zu postmoderner Lektüre geradezu auffordert und die Schwellenmetaphorik ein weiteres Mal beanspruchen könnte. Nabokov lässt den Protagonisten von Despair, den Schreiber und Verbrecher Hermann Karlovič, wie übrigens die meisten seiner Helden, eine unbezwingliche Hybris ausstrahlen. Hermann, dessen Name den des Haupthelden German aus Puškins phantastischer Novelle Pique Dame rekapituliert (auch dieser zugleich Verbrecher und Schreiber), kündet von seinem »schöpferischen Triumph« und beschwört die »Unfehlbarkeit des Schreibers«. Triumph und Unfehlbarkeit des Nabokovschen Schreibers (sein alter ego) wiederholen den Anspruch, den Puškin in seinem Vermächtnisgedicht »Ja pamjatnik sebe vozdvig nerukotvornyj« (Ich habe mir ein Denkmal errichtet, nicht von Menschenhand gemacht) – das eine Um- und Neuschrift des horazischen »Exegi monumentum« darstellt – für die nachkommenden Generationen formuliert hat. Die Doppelgängerei von Erzähler/Autor und Held, das literarisch Enzyklopädische, die frequente Selbstbespiegelung des Textes, die Puškin vorgeführt hat, werden von Nabokov, dem nachgeborenen Doppelgänger, nach- und weitergeschrieben

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8. Heine in russischen Versionen

Es ist gewiss ein Sonderfall in der Geschichte der europäischen Literatur, dass ein deutscher Dichter in eine anderssprachige Literatur geradezu einverleibt wurde, zumindest zeitweise. Russische Autoren der Romantik, des Realismus, des Symbolismus, der Avantgarde und des Sozialistischen Realismus haben jeweils andere Facetten des Heineschen Werks in ihren Übertragungen hervortreten lassen, wobei Heines Kunst der Überschreitung von Stil- und Gattungsgrenzen, Sarkasmus und Ironie in eine von Puškin und seinem Kreis bestimmte Literaturszene integriert werden konnten. Puškin, der Stil- und Gattungsgrenzen überschreitende Erneuerer der russischen Literatur, Autor von Liebesgedichten, eines Romans in Versen, pointierter Gesellschaftskritiker, ein Wortspieler, Gotteslästerer und Spötter, lässt sich nicht von ungefähr als ein ›Verwandter‹ Heines sehen. Man könnte hier vom Phänomen einer ›Konkurrenz‹ zwischen einem eigenen, einheimischen russischen Autor und einem fremden, übersetzten Autor sprechen, deren Rezeption quasi parallel verlief. Heines Bruder Maximilian, der als Militärarzt in Russland Karriere machte, in höheren russischen Kreisen verkehrte und auch die Literatur zur Kenntnis genommen hat, schreibt seinem Bruder Heinrich 1830 aus Moldawien, »Es giebt im Russischen einen Dichter, Puschkin, der außerordentliche Aehnlichkeit mit Dir hat. Seine Werke sind wirklich ungemein schön geschrieben und ganz originell. – Er ist Deiner Beachtung werth.« (HSA XXIV, 67) (Stelzner 2004, Liedtke, 2011, 73-85) Im Folgenden geht es zum einen darum, diese Ähnlichkeit als eine poetisch-poetologische Verwandtschaft zu verstehen, zum andern um die Skizzierung einiger Aspekte der russischen HeineRezeption, die sich nicht so sehr aus der Geschichte der Übersetzungen seines Werks als vielmehr aus deren analytischer und kritischer Behandlung ergeben. Der Literaturwissenschaftler Jurij Tynjanov widmet der Beziehung zwischen Heine und Tjutčev und dem spezifischen Übersetzungsstil des letzteren eine große Studie, die ich im Weiteren heranziehen werde. Auch auf die Essays der Symbolisten Innokentij Annenskij und Aleksandr Blok, die sich als glänzende Kritiker der Übersetzungsmanie des 19. Jahrhunderts und als scharfsinnige Interpreten von Heines Werk erweisen, werde ich mich beziehen. Puškin gehört zwar nicht zu den Übersetzern Heines, aber seine Neugier für dessen Werk hat er nicht verhehlt. Im Zentrum seines Interesses für Heine stand allerdings nicht die Lyrik, sondern die Publizistik. Seine Bekanntschaft mit dem

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schwedischen Diplomaten Gustav Nordin kam ihm bei dem Wunsch zugute, in Paris erschienene Schriften Heines über dessen Vermittlung zu erhalten. Nordin hat ihm offenbar dessen »De la France« zukommen lassen, wovon ein in der Königlichen Bibliothek Stockholm erhaltener Brief Puškins an Nordin mit folgendem Wortlaut zeugt: Monsieur, recevoir mes très sincères remerciements pour votre aimable contre-bande. Me pardonnerez-vous de vous importuner encore? Il me seroit bien nécessaire d’avoir l’ouvrage sur l’Allemagne de ce mauvais sujet de Heine. Oserai-je espérer que vous aurez la bonté de le faire prendre aussi? Agréez, Monsieur, l’assurance de ma haute considération. A. Pouchkine1 Mit »mauvais sujet« nimmt Puškin ein in westeuropäischen und russischen Kreisen kursierendes, die Reputation Heines betreffendes Epitheton (ironisch) auf. Die Bezeichnung der Sendung als »contrebande«, die Puškin hier mit »aimable« verbindet, galt offenbar generell für ausländische verbotene Schriften. Auch der als österreichischer Botschafter in Petersburg weilende Graf Karl Ludwig Ficquelmont, der Puškin 1835 den 2. und 3. Band der Heineschen Werke schickt (darunter die Reisebilder), bezeichnet diese als contrebande.2 Puškins lebhaftes Interesse für Heines Publizistik war durch seine Arbeit an einer Geschichte Peters I. und seinem Plan, die Geschichte Pugačevs zu schreiben, motiviert. In seinem Essay »O dvorjanstve« (»Über die Aristokratie«) betonte er die ›revolutionäre‹ Rolle Peters I. und bezeichnet ihn als Robespierre und Napoleon in einer Person. (Puškin, t. 2, 205) Im zweiten Band der Werke Heines, die sich wie die anderen erwähnten Werke in Puškins Bibliothek befinden, wurde Puškins Abschrift eines Passus gefunden, der ihm in der französischen Ausgabe der »Reisebilder«, der »Tableaux de yoyage«, aufgefallen war und seiner Einschätzung der Rolle Peters I. für die Entwicklung des Freiheitsgedankens in Russland entsprach. Es sind die Sätze, die Heine im Kapitel »Reise von München nach Genua« einem russischen (eigentlich livländischen) Reisenden auf dem Schlachtfeld von Marengo in den Mund legt und unkommentiert lässt: La libération de l’Europe viendra de la Russie, car c’est là seulement que le préjugé de l’arsistocratie n’existe absolument pas. Ailleurs ont croit à ll’aristocratie, les uns pour la dédaigner, les autres pour la hair, les troisièmes pour en tirer profit, vanité etc. – En Russie rien de tout celà. On n`y croit pas, violà tout. (Najdič, Puškin, t. VIII, 531) Puškin war von Heines Aristokratie-Begriff fasziniert (der im Vorwort zur französischen Ausgabe zum Ausdruck kommt) und bedurfte deshalb so dringend (›bien nécessaire‹ eines Exemplars von »De l’Allemagne« (vom Erscheinen dieser Schrift in »L’Europe littéraire« (1833) und in »Revue des Deux Mondes« (1834) hatte er Kenntnis erlangt). Heines politische Publizistik wurde auch in Russland zweifellos kontrovers diskutiert.

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Zitiert nach: E. E. Najdič, »Pis’mo Puškina k Gustavu Nordinu«, in: A. Puškin: Issledovanija i materialy, t. II, 217-223. Najdič, »Pis’mo Puškina k Gustavu Nordinu«, in: A. Puškin: Issledovanija i materialy, t. II, 222. – Alle Werke Heines wurden der Zensur unterworfen. »De l’Allemagne« wurde 1835 verboten, der Zensor schrieb dazu: »der Autor läßt seinem Scharfsinn (ostroumie) freien Lauf und spottet über wichtige und heilige Dinge«. (Ebd., 222).

8. Heine in russischen Versionen

Puškin hat sich aber offenbar nicht den von liberalen Positionen aus vertretenen skeptischen Einschätzungen angeschlossen. Die Auffassung Petr Čaadaevs, des Autors jenes französisch geschriebenen »Philosophischen Briefes«, der 1836 mit seiner grundstürzenden Kritik am aktuellen Zustand der russischen Gesellschaft nicht nur in Ungnade fiel, sondern für verrückt erklärt wurde, teilt er nicht. Čaadaev vergleicht in einem Brief an A. I. Turgenev Heine mit dem politischen Abenteurer Giuseppe Fieschi (Najdič, Puškin, t. II, 222) Puškin wurden vermutlich gänzlich andere Eindrücke von der Person und ›weltanschaulichen‹ Einstellung Heines durch den Grafen P. B. Kozlovskij vermittelt, der mit Heine in Paris engen Kontakt pflegte. Während sich die genannten publizistischen und Prosa-Schriften Heines in Puškins Bibliothek befanden, gibt es keine Informationen über Exemplare seiner Lyrik, Epik und dichterischen Prosa. Dennoch ist davon auszugehen, dass er Kenntnis davon erhalten hat. Puškins literarischer Weggenosse, Evgenij Baratynskij, empfängt in den 20er Jahren eine Reihe von Heinegedichten aus Deutschland und wird zu deren begeistertem Leser und damit auch eine Vermittlungsinstanz für Heines Lyrik im Kreis um Puškin. Zur Zeit dieser beginnenden Heine-Rezeption ist Puškin bereits ein gefeierter Dichter (seine ersten Gedichte stammen aus den Lyzeums-Jahren 1813-1817). Mit dem romantischen Epos Ruslan und Ljudmila und dem ersten Kapitel von Eugen Onegin, vor allem aber mit seiner Liebeslyrik hat er die literarische Szene der 20er Jahre zu erobern begonnen.3 Die von ihm und seinen Mitstreitern (der sog. Plejade) getragene literarische Situation ist geprägt von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern klassisch-klassizistischer Formen und den Parteigängern von Wandlung und Innovation, von der Kritik an der konservativen Romantik und dem Aufkommen realistischer Prosa, wobei die in England, Frankreich und Deutschland geführte Debatte durchaus zur Kenntnis genommen wird. Die erste Heine-Übersetzung erscheint 1827 in »Die Nördliche Lyra« (»Severnaja lira«): es ist Fedor Tjutčevs »Fichtenbaum«-Übertragung; 1832 werden die Heines Briefe über die Pariser Gemäldeausstellung zusammen mit Börnes Pariser Briefen als repräsentativ für die fortschrittlichsten Tendenzen in der deutschen Literatur in »Der Europäer« (Evropeec) publiziert; ein Abschnitt aus der »Harzreise« erscheint, und die »Romantische Schule« wird gelesen. Die im Laufe der 30er Jahre virulente deutsche Kritik an Heines Schriften teilt Züge mit derjenigen am unbotmäßigen Puškin. Die russische Zensur der Heineschen Schriften, von der die Rede war, zeigt eine ungemeine Sensibilität für Unzulässiges. Die Verbote der Heineschen Schriften in Russland machen diese in der Tat zu einer Art Schmuggelware (›contrebande‹). Andererseits hat das Verbot, wie in Russland bis in die Zeit der Dissidenten üblich, zu inoffizieller Verbreitung geführt. Ab 1838 setzt die Flut der Übersetzungen von Heines lyrischem Werk ein; in allen führenden Literaturzeitschriften werden Übersetzungen publiziert. Der Dichter des »Buchs der Lieder« hält Einzug in die russische Literatur, an dem sich neben Fedor Tjutčev auch Dichter wie

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Zu Lebens- und Werkgeschichte Reinhard Lauer (2006). Erste französische Übersetzungen erscheinen 1823, es sind Auszüge aus Ruslan und Ljudmila, 1826 wird »Bachčisarajskij fontan« (»Die Fontäne von Bachtschisarai«) übersetzt. Bekannter werden die Prosaübersetzungen, die Prosper Mérimé in den 30er Jahren vorlegt. Trotz enthusiastischer Beurteilung des »Génie de Pouchkine« hält sich der Topos der Unübersetzbarkeit: »Pouchkine intraduisible«.

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Michail Lermontov, Evgenij Baratynskij, Afanasij Fet, Apollon Majkov, Apollon Grigor’ev, Michail Michajlov beteiligen, wobei die Bevorzugung von Gedichten mit ungebrochenem lyrischen Duktus auffällt. Dass Heine auch als Person Anstoß erregt, als gottloser Spötter, Zerstörer überkommener Formen, dass sein spielerischer Tonfall, seine Gesellschaftskritik missfallen und seine politischen Positionen zwiespältig beurteilt werden, erscheint als Echo auf die deutsche Diskussion, – mit russlandspezifischen Argumenten. Heine – ein gefährlicher Autor. Die 20er Jahre sind eine Zeit des Umbruchs und der Formreflexion, es geht um Fragen des Stils, der Sprachebene, der Gattung. Die literarischen Polemiken werden in rivalisierenden Zeitschriften ausgetragen, wobei die Kunst der Parodie auf die Produkte der Gegner eine Zuspitzung erfährt. Puškin, nach sechsjähriger Unterbrechung die dominierende Figur im Kreis der progressiven Literaten, revidiert die ästhetischen Dogmen, führt die bestehenden Formen zum Höhepunkt und arbeitet zugleich an deren Unterminierung. Zwischen Anpassung und Auflehnung erscheint er als poeta ludens, Meister der hohen Ode, der poésie fugitive, der frivolen Dichtung, des romantischen Epos, der romantischen Tragödie, der realistischen Erzählung, seiner Gesellschaftsschicht verhaftet bis zum Duelltod, zugleich Freiheitsdichter und Exponent russischen Dichtertums und Abkömmling eines afrikanischen Vorfahren. Die widersprüchliche Aufnahme seines Werks durch die Zeitgenossen und in der Rezeptionsgeschichte antwortet auf die ungewöhnlich schnelle und vielgestaltige Entwicklung seines Werks. Allerdings tritt in den 60er Jahren eine poetische Krise ein: Puškin und seine Plejade scheinen zu verblassen, die Goldene Epoche der russischen Dichtung wird als beendet empfunden; es ist eine Zeit, in der die Heine-Rezeption aufblüht. In den 70er Jahren wird Puškin nachdrücklich ins kulturelle Bewusstsein (zurück)gerückt. 1880 erklärt ihn Dostoevskij in seiner epochemachenden Rede zum ›Nationaldichter‹ und erhebt ihn zu einem singulären Exponenten des Dichtertums und zu einer Art ›Über-Klassiker‹. Ein Puškin-Gedächtniskult setzt ein, der an frühere mnemonische Gesten anknüpfen kann. Kurz nach Puškins Duelltod 1837 wurde die erste seiner Büsten aufgestellt, 1880 unter großer Beteiligung von Volk und Intelligencija sein erstes Standbild in Moskau enthüllt.4 Die Nobilitierung Puškins als Nationaldichter tut der Heine-Rezeption keinen Abbruch. Beide, Puškin und Heine, werden in immer neuen Schüben, die je andere Facetten ihres Werks hervortreten lassen, rezipiert. (Gordon 1973-1983; Levinton 1958)

8.1

Heine-Puškin

Heine-Texte lassen sich an unterschiedliche Werke Puškins vergleichend anschließen. Für Puškin ebenso wie für Heine gilt ein gespaltenes Verhältnis zur Romantik, deren poetische Spuren sich mit Verfahren ironischer Brechung bis hin zur Tilgung des Romantischen treffen. Der wegen seiner obszönen, blasphemischen »Gavriliada« (ein Maria-Verkündigungspoem, in dem Gottvater als Verführer auftritt) als Gotteslästerer

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Vgl. Kap. 8.

8. Heine in russischen Versionen

verrufene Puškin und der wegen seiner Verstöße gegen die guten Sitten und die Religion gescholtene Heine haben nicht nur hierin, sondern auch in der ›sozialen Frage‹ Gemeinsames. Puškin hat mit seiner Freiheitsode »Vol’nost’« (»Freiheit«, 1817) und seinem poetischen Aufruf zur Aufhebung der Leibeigenschaft in dem elegische und revolutionäre Töne anschlagenden Gedicht »Derevnja« (»Das Dorf«, 1819) seine Haltung gegenüber dem zaristischen System bekundet – was ihm 1820 eine vierjährige Strafversetzung in den Kaukasus und anschließend eine zweijährige Verbannung auf sein Familiengut Michajlovskoe eingebracht hat. (Lauer 2006, 98 ff). Puškin steht den politisch Aktiven nahe, die den Dekabristenaufstand von 1825 vorbereiten (wenngleich er in ihre Geheimpläne nicht eingeweiht war).5 Heines Nähe zum ›Jungen Deutschland‹ ebenso wie die in den erwähnten publizistischen Schriften formulierten sozialkritischen Thesen6 (die in seinem Werk allerdings einen gewichtigeren Platz einnehmen als die Zarismuskritik im Werk Puškins) ließen sich als Vergleich heranziehen. Beide Autoren trifft aber auch Kritik von Vertretern radikaler Positionen, die der (beiden unterstellten) ›Unterwerfung‹ unter die herrschende Ordnung galt: Die Kritik am ›imperialen‹ Puškin, der sich, von Nikolaus I. 1826 begnadigt, dessen persönlicher Zensur unterstellt, weist Parallelen mit der Kritik an Heines als servil bezeichnetem Brief auf, einem Brief an den Bundestag, in dem er um die Aufhebung des ihn schwer treffenden Publikationsverbots ersucht. Die Heinesche Publizistik kann angeschlossen werden an die von Puškin und anderen entwickelten Genres, an die polemisch angelegte Literaturkritik mit boshaften Pointen, an die poetologische Streitschrift.7 Zweifellos ist hier die Nähe zu Herzens kritischen und autobiographischen Texten stärker als zu Puškin. Herzen hat »Die Romantische Schule« (russische Kurzausgabe in »Teleskop«, 1834, und vermutlich die Vollfassung in »Europe littéraire«) gelesen. Wie Heine übt Herzen Kritik am Despotismus, wobei er keinen Unterschied zulassen will zwischen Zarismus und französischem Monarchismus. Mit Heine und Bakunin teilt Herzen das Interesse für die polnische Befreiungspolitik. Aber Herzen ist politisch bei weitem radikaler und trennt sich weltanschaulich von Heine wegen dessen Börnekritik. Trotz der ideologischen und kulturpolitischen Unterschiede fällt eine stilistische und genremäßige Ähnlichkeit ins Auge (Sarkasmus, satirische Beschreibungen, eine Leichtigkeit im Tonfall), und es verwundert wenig, dass einige ins Deutsche übersetzte Werke Herzens in Heines Verlag Hoffmann und Campe erschienen sind. In der hochgestimmten Auffassung des Dichtertums jedoch gibt es zweifellos eine Nähe zwischen Heine und Puškin: Puškins Idee des Dichters als Prophet, Heines Idee des Dichters als Apostel. »Prorok« (»Der Prophet«, 1826) schließt mit den Zeilen: Как труп в пустыне я лежал,/И бога глас ко мне воззвал:/»Восстань, пророк, и виждь, и внемли,/Исполни волею моей,/И, обходя моря и земли,/Глаголом жги сердца людей« (Puškin II, 338) 5 6 7

Zur Darstellung der verwickelten Umstände, die die Beendigung der Verbannung just kurz nach dem Dekabristenaufstand zur Folge hatten vgl. E. Vacuro (1998). Die relevanten Texte zusammengestellt und kommentiert von Erika Windfuhr (1974, 39-59). Jurij Tynjanov hat 1929 die Genese des Genres Essay für die russische Literatur in Puškins Texten aufgedeckt (1967, 228-291).

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Ein Leichnam, lag ich ausgestreckt,/bis Gottes Stimme mich erweckt:/zieh aus, Prophet, von Ort zu Orte,/schau und vernimm mich allerwärts,/und wirf mit deinem Flammenworte/den Brand in jedes Menschenherz. (Goetz 1981) Auch die Schmähung des Publikumsgeschmacks und des Urteils der Zeitgenossen lässt beide als verwandte poetische Geister erscheinen. In den »Hebräischen Melodien« spricht Yehuda ben Halevy von der Gnade der Dichtkunst: Solchen Dichter von der Gnade Gottes nennen wir Genie: Unverantwortlicher König Des Gedankenreiches ist er. Nur dem Gotte steht er Rede, Nicht dem Volke – In der Kunst, Wie im Leben kann das Volk Töten uns, doch niemals richten. – (DHA III, 135) Hier anschließbar sind die Zeilen in Puškins Sonett »Poetu« (»An den Dichter«, 1830) (III, 174): »Ty car’, živi odin« (»Du bist Zar, lebe allein«) und »Ty sam svoj vysšij sud« (»Du bist dir selbst dein höchstes Gericht«) ebenso wie das der Verachtung der Menge gewidmete Gedicht »Poet i tolpa« (»Der Dichter und die Menge«, 1828) (Puškin III, 174, 87), das zudem die ungeheure Distanz zwischen dem schöpferischen Genie und dem poetischen Unverstand zu spüren gibt. Die Selbstglorifizierung als der russische Poet, den das gesamte Reich, die noch nicht alphabetisierten Völker Sibiriens eingeschlossen, für immer ins kulturelle Gedächtnis aufnehmen soll, erhält in Puškins Todesjahr ihre bündige Gestalt in einem seiner meist zitierten Gedichte »Exegi monument«: »Ja pamjatnik sebe vozdvig nerukotvornyj« (»Ich habe mir ein Denkmal errichtet/Nicht von Menschenhand gemacht«). Die Selbstglorifizierung Heines steht dem nicht nach. Sein nonchalantes: Häng dich, Freiligrath, daß du Nicht ergrübelt hast das Gleichniß Von dem schwarzen Hermelin, der gespickt mit goldnen Schwänzchen. (DHA IV, 240) lässt sich hier ebenso anführen wie das apodiktische: Ich bin ein deutscher Dichter, Bekannt im deutschen Land; Nennt man die besten Namen, So wird auch der mein’ge genannt. (DHA I, 222) Auch war der Boden bereitet für die Rezeption von Heines Witz durch die epigrammatische Bosheit der Puškinschen Polemiken, die leichtfüßige Kultivierung des Scharfsinns, des acumen, der Wortspiele, vor allem in Puškins früher Lyrik der 10er und hernach der 20er Jahre, an die sich die Form-Reflexion anschließt, die Puškin ebenso umtreibt wie Heine. Form-Reflexion meint das Gespür für den Wandel in der Lyrik, die Sensibilität für Verschiebungen, für die Fragwürdigkeit der sogenannten ›hohen Literatur‹. Beiden Dichtern gemeinsam ist ein stilistischer Gestus der ›Mischung‹ von Sprachen, Stilen, Gattungen und des Zusammenführens entgegengesetzter poetischer Prinzipien, die Verbindung einer entwickelten Verskultur mit volkssprachlichen Formen. Heine und Puškin hegen das nämliche Interesse für Liedhaftes: »Loreley«, die liedhafte Ballade, einerseits und »Rusalka«, die erzählerische Ballade, andererseits. Die Loreley hoch über dem Fluss lockt vom Felsen herunter, die Rusalka lockt aus dem Wasser aufsteigend,

8. Heine in russischen Versionen

beide Verlockungen führen zum Verderb im Wasser. Die eine, die Sirene, kämmt ihr goldenes, die andere, die Nixe, ihr tropfnasses Haar.8 Auch der Wandel in der Liebeskonzeption, der von der Romantik wegführt, erscheint als Vergleichsmoment. Puškin wechselt von der Tändelei und dem Frivolen zur Liebesreflexion und zur Resignation. Das belegt sein ›posterotisches‹ Gedicht »Ja vas ljubil«, das mit Heines »Ich grolle nicht« den Tonfall teilt (allerdings abweichend von Heine gänzlich auf Bildlichkeit verzichtet): Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht, Ewig verlor’nes Lieb, ich grolle nicht. Wie du auch stralst in Diamantenpracht, Es fällt kein Stral in deines Herzens Nacht. Das weiß ich längst. Ich sah dich ja im Traum, Und sah die Nacht in deines Herzens Raum, Und sah die Schlang, die dir am Herzen frißt, – – Ich sah, mein Lieb, wie sehr du elend bist. (DHA I, 150)   Ich liebte Sie Ich liebte Sie: Vielleicht ist dieses Feuer In meinem Herzen noch nicht ganz verglüht; Doch Ihre Ruh’ ist mir vor allem teuer; Durch nichts betrüben will ich Ihr Gemüt. Ich liebte Sie, stumm, hoff nungslos und schmerzlich, In aller Qual, die solche Liebe gibt; Ich liebte Sie so wahrhaft und so herzlich, Gott geb’, dass Sie ein andrer je so liebt. (Gerhardt 1981)   Я вас любил лювовь ещё, быть может, В душе моей угасла не совсем Но пусть она вас больше не тервожит Я не хочу печалить вас ничем. Я вас люубил безмолвно, безнадежно Но пусть она вас больше не тревожит; Я не хочу печалить вас ничем. Я вас любил безмолвно, безнадежно, То робостью, то ревностью томим; Я вас любил так искренно, так нежно, Как дай вам Бог любимой быть другим. Etliche für Puškin typische Verfahren erweisen sich für die Russifizierung Heines gelegentlich als nützlich: die von ihm geschaffene Verssprache, Metrik, Reimstruktur, Strophik, sein ironischer Tonfall, die plötzlichen parodistischen Wendungen, die Pointenbildung, die komischen Reime. Daneben aber sind hauptsächlich zwei Übersetzungs-

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Puškins »Rusalka«, eine Transformation von A. Žukovskijs Ballade »Rybak«, aber keine Parodie des Vorgängertextes, enthält jedoch parodistische Momente (O. Proskurov 1999, 383); das parodistische Moment von Heines »Loreley« ergibt sich wohl erst aus der Unzahl der Wiederholungen als Lied.

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modi zu verfolgen, pedantische Wiedergabe zum einen, freie Übertragung zum andern, wobei im letzteren Fall theoretische bzw. poetologische Konzepte bezüglich der Motivik, des Stils, das heißt der Sprachebene, vor allem der Metrik, Reimtechnik und Tonalität ihre Rolle spielen. Allerdings ist es Puškins Eugen Onegin, dessen Komposition und Stilistik dazu einladen, Beziehungen zu verschiedenen Werken Heines herzustellen, etwa zu den »Memoiren des Herren von Schnabelewopski«, zu Deutschland. Ein Wintermärchen, zu »Die Harzreise« und zu »Atta Troll«. Puškin nennt Eugen Onegin im Untertitel einen »Roman in Versen«, womit er ein Genre einführt, das Freiheit gewährt und doch durch eine streng komponierte Strophik gebunden ist. Ebenso wenig wie ein Versroman der Gattungskonvention entsprach, entsprach der innovative (raffinierte) Vierzehnzeiler Puškins den Gepflogenheiten der Reimkunst. Die Artifizialität der Versstruktur ist Heines Sache nicht. Er hat sich in Strophik und Metrik, von einigen Ausnahmen abgesehen, an die Vierzeiligkeit gehalten und Daktylus und Trochäus privilegiert, meist sind nur die zweiten und vierten Zeilen durch Reime verbunden. Das sind Verfahren, die Karl Immermann in seiner Rezension der ›Reisebilder‹ als monoton bezeichnete, nicht ohne zugleich das rhythmische Moment lobend hervorzuheben. (zit.n. Kortländer 2009, 114ff.) Die Strophenstruktur hindert Puškin nicht daran, sowohl einen ungezwungenen Erzählton aufrechtzuerhalten als auch lyrische Abschweifungen einzubauen. Das ermöglicht den schnellen Übergang von Thema zu Thema und lässt zu, vom Sujet wegzugleiten. Gesellschaftsschilderungen, Räsonnements und die literarische Szene betreffende Exkurse übernehmen mit kurzweiligen Pointierungen die Stelle des ›dezentrierten‹ Sujets.9 Den Verzicht auf die Verknüpfung der narrativen Komponenten kommentiert Puškin mit Attributen wie ›bessvjazny‹, ›nesvjaznyj‹, ›nesvjazannyj‹ (›verbindungslos‹, ›unverbunden‹). Auch hier sind die Parallelen zu Heines Umgang mit dem Sujet und seinem Votum für dichterische Freiheit offenkundig. In den Parerga zu »Atta Troll« heißt es: »Doch in Versen, doch im Liede Blüht uns längst die höchste Freyheit.« (DHA IV, 216) Bei allem Reichtum sujetartiger Strukturen spielt das Sujet als kompositioneller Zwang keine Rolle. Das lässt auch Unabgeschlossenes zu wie im »Rabbi von Bacherach« und in den »Memoiren des Herren von Schnabelewopski«. Vom aufgehobenen Zwang eines durchgehenden Sujets her erklärt sich Heines Bevorzugung eines aufs Minimum reduzierten Sujets (wie in den Reisetexten und Briefen), das Raum lässt für Digressionen und wie ein »Spiel mit dem Sujet« wirkt. (Tynjanov 1967, 58) Sein Kommentar zur Komposition der »Harzreise« als »Lappenwerk« passt zu Puškins Selbstbeschreibung »unverbunden«, »zusammenhanglos«. Während für Heines Lappenwerk die Einklammerung durch die »subjektive Perspektive« erfolgt, wie Bernd Kortländer feststellt (2009, 140), wird sie bei Puškin durch seine innovative Strophe erzielt. Von dieser erhoffte er, dass sie ihn als seine Erfindung überleben möge.10 Die Kritik an Eugen Onegin ist vergleichbar der zwiespältigen Aufnahme von »Schnabelewopski«, dem Missverstehen der Heineschen Form- und Stilwahl. Auch die von Manfred Windfuhr 9 10

Vgl. Kap. 8 Sie ging als Onegin-Strophe in die Verskunst ein und ist weiterhin in Gebrauch, selbst bei englisch schreibenden Dichtern der Gegenwart, so Seth (1986); Burgin (1988).

8. Heine in russischen Versionen

vorgeschlagene gattungsmäßige Einordnung des »Schnabelewopski« in die Tradition des Schelmenromans, für den das Reihungsprinzip der Episoden und Abenteuer konstitutiv ist, veranlasst zu einem Vergleich mit Puškins Versepos. Dasselbe gilt für Windfuhrs These, dass »das Schelmenhafte das Mittel ist, um pantheistisch-immanentistische Vorstellungen auszusprechen«.11 Auch aus Puškins Versroman wird Weltanschauliches destilliert. Onegin ist allerdings kein Pikaro, er repräsentiert den modischen Typ des Dandy, seine Abenteuer: das Duell, das Liebesdrama, die Ballbesuche werden als Episoden gereiht. Jedoch werden die Gesellschaftssatire, die Duell- und Liebeshandlung letztlich von Reflexionen abgelöst. Das separat publizierte Kapitel »Putešestvie Onegina« (»Onegins Reise«) erzählt von der endlosen Wanderung des gescheiterten, melancholisch gestimmten Dandys durchs russische Riesenreich. Der Auszug in die Welt, der beim Pikaro am Anfang steht, bildet hier den Schluss. Bezüglich der Verfahren der Gattungsüberschreitung, Stilmischung, der Rolle der Volksdichtung, der metrischen Experimente sei Deutschland. Ein Wintermärchen herangezogen.12 Heines Versepos, das sich allerdings nicht als Roman in Versen gibt, spielt mit einer Variante der aus dem Mittelalter stammenden Vagantenstrophe. Er lockert die Abweichungen gestattende Strophe durch Stilbrüche, setzt das Enjambement so ein, dass ein Prosaton entstehen und ein Rhythmuswechsel eintreten kann. Sprachebenen werden gemischt, »bewusst falsche, dilettantische, altertümlich oder gezwungen wirkende Reime« (Kommentar 110) dienen der satirischen Grundtendenz und zielen auf komische Effekte. Ein narrativ konsequentes Sujet gibt es auch hier nicht, vielmehr ist es die Reihung der einzelnen Stationen, die durch die Strophik gestaltet wird. Heines Kritik an der reaktionären Seite der Romantik versagt sich aber keineswegs ungebrochenen romantischen Motiven wie Doppelgängerei, Traumbildern, Phantastik. Auch Puškin, der Romantik-Skeptiker, lässt Träume, phantastische Bilder sein Verswerk durchwandern. Der Autor/Erzähler nimmt am Ende des 8. Kapitels Abschied von seinem Leser, dem er in seinen »nebrežnych stichach« (8. XLIX, 5) (achtlosen Versen) Unterhaltung wünscht. Auch seinem Geschöpf, dem »sputnik strannyj« (8. L. 1), (dem seltsamen Gefährten), Onegin, und seinem Versroman, den er »malyj trud« (8. L. 4), (kleine Mühe) nennt, sagt er »prosti« (leb wohl). Gerade in den letzten beiden, häufig interpretierten Strophen wird der selbstreflexive, poetologische Ton noch einmal deutlich: Промчалось много, много дней С тех пор, как юная Татьяна И сней Онегин в смутном сне Явился впервые мне – И даль свободноого романа Я сквозь магический кристал

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Manfred Windfuhr, Kommentar zu »Aus den Memoiren des Herren v. Schnabelewopski«, DHA V, 781ff. Ich halte mich hier an den Kommentar von Kruse, Liedtke, Tilch (2010), der auch auf den Anspielungsreichtum des Heineschen Textes eingeht, wozu es ebenfalls ein Pendant in Puškins Versroma gibt.

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Еще не ясно различал (8. L, 8-14) Wie viele Tage flohn schon fort,/ Seit mir das junge Bild Tatjanens/ Mit dem Onegins traumhaft blind/ Zum erstenmal erschienen sind –/ Die Freiheitsweite des Romanes/ Sah ich im Zauberglasvisier/ Recht unklar damals nur vor mir. (Keil) Die Entstehung des Textes aus dem Traum, ein Motiv aus dem Anfang des Romans, verbindet sich mit dem der Wahrsagerei, die sich des magischen Kristalls bedient, in dem der Dichter die ›Weite des freien Romans‹ noch unscharf erkennt. Der Autor ist ein Träumer und Zauberer, dem ein Werk des nur durch die metrische Gestalt gebändigten Schweifens gelungen ist. Ein romantisch-melancholisches Ende, das durch eine in der allerletzten Strophe anklingende Apostrophe noch eine weitere ebenfalls häufig und kontrovers gelesene Konnotation erhält. Sie betrifft den Abschied von den Freunden, denen er einst Zeilen des Onegin vorgelesen hat, und von denen einige nicht mehr leben. Es sind die nach dem fehlgeschlagenen Dekabristenaufstand von 1825 Hingerichteten. Die Lesung dieser Passage hat politische oder poetologische und beide vereinende Modi hervorgebracht. Diese letzte Strophe ist ein semantisches Palimpsest, deren Abschiedsgeste alles offen lässt: Блажен, кто праздник Жизни рано Оставил, не допив до дна Бокала полного вина, Кто не дочел Ее романа И вдруг умел расстаться с ним, Как я с Онегиным моим. (8. LI, 9-14)   Glückselig, wer, solang noch dauert, Das Fest des Lebens, es verläßt, Den Kelch nicht austrinkt bis zum Rest, Aufs Ende des Romans nicht lauert, Und Abschied nehmen kann im Nu, Wie ich es von Onegin tu. (Keil) Die Faszination der Romantik und die gleichzeitige Abkehr von ihr gelten für beide Autoren. Puškin spielt mit der Strophennorm, indem er sie unterläuft, sie als bloßes Schema vorstellt, ohne sie mit Zeilen zu füllen – diese Aufgabe überlässt er den Lesenden. Spielformen dieser Art lassen eine stilistische Verwandtschaft mit Heines Verfahren erkennen, dazu gehören auch die Strategien des Zitats, des Selbstkommentars, der Thematisierung des Schreibens im Text selbst – Puškin beruft sich dabei auf Sterne, den

8. Heine in russischen Versionen

auch Heine als Vorläufer nennt. Mit Blick auf Heine tritt das Vers-Epische stärker hervor – oder anders: die Heine-Rezeption in der Puškin-Ära lässt Parallelen hervortreten, die sich stärker auf die ›romanesken‹ Elemente als auf die Versgestalt beziehen. Я думал уж о форме плана, И как героя назову; Покаместь моегео романа Я кончил первую главу: Пересмотрел все это строго; Протоворечий очень много, Но их исправить не хочу; Цензуре долг свой заплачу, И журналистам на съеденье Плоды трудов моих отдам: Иди же к невским берегам, Новорожденное творенье, И заслужи мне славы дань: Кривые толки, шум и брань! (1, LX)   Schon dacht ich an die Form des Planes Und wie ich wohl den Helden nenn; Doch vorerst lasst mich des Romanes Kapitel eins beenden denn; Hab alles strengstens durchgesehen; Viel Widersprüche blieben stehen, Doch ändern mag ich jetzt nichts mehr; Bald fällt der Zensor drüber her, Ich überlass den Zeitungstoren Die Früchte meiner Müh zum Fraß: So geh denn zur Neva fürbaß, Du Werk, das eben erst geboren, Verdien mir dort des Ruhms Tribut: Fehldeutung, Missgunst, Lärm und Wut (1, LX). (Keil) Im Vorwort zu Deutschland. Ein Wintermärchen kommentiert Heine ausführlich die Entstehung des Textes und im Caput XXVI des Versepos geht es um die Zensur: […] Da kommt der Hoffmann auch Mit seiner Censorscheere! Die Scheere klirrt in seiner Hand, Es rückt der wilde Geselle Dir auf den Leib – Er schneidet in’s Fleisch – Es war die beste Stelle. (DHA IV, 154) Ein Selbstkommentar ist auch die Berufung auf Aristophanes, seinen poetischen Vater in Caput XXVII:

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Im letzten Capitel hab’ ich versucht Ein bischen nachzuahmen Den Schluß der Vögel, die sind gewiß Das beste von Vaters Dramen. (DHA IV, 156) Bei beiden Dichtern gibt es Spielformen, vor allem im Bereich des Reims, der parodistisch zur Disposition gestellt wird. Bei Puškin: Lenskij-gettingenskij Mensch-göttingensch Svete-Gete.......... Licht-Goethe Vsjo-Russo.......... froh-Rousseau (2, VI)   I vot uže treščat morozy … Schon knirscht der Frost; mit Sturmestosen I serebrjatsja sred´polej…. Macht er die Felder silberhell (čitatel´ ždet už rifmy rozy ,(Der Leser wartet schon auf Rosen; Na, vot voz´mi ee skorej!) Da ist der Reim, na, schnapp ihn schnell!) (4, XLII) Für Heines Reimpersiflage mögen folgende Beispiele stehen: Terzetten – retten Nase – Ekstase Sylphiden – Seelenfrieden Bettes – Porträtes Der hier pointiert ausgestellte Umgang mit dem Reim trifft sich an anderer Stelle mit dem Motiv der »Zwecklosigkeit«, der Nichtgebundenheit des Werks durch einen Zweck (sei er weltanschaulich, moralisch, politisch), was das Ideal der unbedingten Autorschaft, des freien Dichtertums bestätigt. In »Atta Troll« heißt es: Traum der Sommernacht! Phantastisch Zwecklos ist mein Lied. Ja, zwecklos Wie die Liebe, wie das Leben, Wie der Schöpfer samt der Schöpfung! (DHA IV, 17) Das Heinesche »Nur der eignen Lust gehorchend« gilt auch für Puškin, der seine Erzählung »Domik v Kolomne« (»Das Häuschen in Kolomna«) als zwecklos bezeichnet und an deren Ende er den Leser verspottet, der nach einem Zweck sucht. Neben die hier skizzierte Beobachtung einer poetisch-poetologischen Verwandtschaft zwischen den beiden (wenn auch durch Nation, Schichtenzugehörigkeit, Herkunft voneinander getrennten) Dichtern tritt das Erstaunen darüber, dass es zu keinerlei Kontakt (im Sinne einer artikulierten Anteilnahme am Werk des andern) zwischen ihnen gekommen ist. Zwar gibt es Berichte darüber, dass sich Werke von Puškin in Heines Bibliothek befanden, in deutscher Übersetzung, sogar ein Bestellzettel für eine Hamburger Leihbibliothek ist im Archiv des Heinrich-Heine-Instituts erhalten (vgl. HSA XXIII K, 29) aber es sind keinerlei Äußerungen darüber überliefert, ob er sie gelesen hat und welcher Art sein Lektüreeindruck war. Puškin, der sich Werke Heines in französischer Übersetzung hat kommen lassen, hat zu deren Rezeption keine schriftlichen Kommentare ab-

8. Heine in russischen Versionen

gegeben. Es ist – so könnte man spekulieren – als verhindere diese typologische Nähe explizite Stellungnahmen.

8.2

Heine-Tjutčev

Ganz anders nun die Aufnahme Heines durch Autoren, die ihrer Bewunderung für sein Werk dadurch Ausdruck verliehen, dass sie es sich durch Übersetzungen anzueignen versuchten. Es waren dies vorwiegend Dichter mit eigener poetischer Orientierung, die von Heines Sprachkunst fasziniert waren. Das gilt insbesondere für Fedor Tjutčev, Heines ersten Übersetzer und vertrauten Freund aus den Münchner Tagen. Er übersetzte das »Fichtenbaum«-Gedicht noch bevor er Heine persönlich kennen lernte, und es ist unklar, ob Heine von dieser Übersetzung wusste. Heine nahm Tjutčev als geistreichen, philosophisch gebildeten russischen Diplomaten wahr, er wusste nicht, dass es sich um einen bedeutenden Dichter handelte. Die Datierung der Tjutčev-Übertragungen ist wegen Falsch- und Nichtdatierung unzuverlässig, zumal etliche russische Versionen von Heine-Texten ohne Vermerk, dass es sich um Übertragungen handelt, publiziert wurden (in den 30er Jahren, und später in den 50er Jahren). Tjutčev galt in seiner Zeit als der große Unbekannte, man sprach vom Geheimnis Tjutčev. (Müller 2003) Jurij Tynjanov, dem Vertreter der russischen formalen Schule, Theoretiker, Prosaschriftsteller und Übersetzer Heines verdanken wir eine große Studie zu Tjutčev und Heine, in der den formalen Prozessen der Übertragung nachgegangen wird.13 Tynjanov verfolgt, Heine und Tjutčev vergleichend, poetische Strategien der Lautwiederholung, des Rhythmus und der Metrik. Oft entdeckt er neben demselben Thema, derselben Syntax und Lautung ein metrisches Schema, das die beiden Autoren trennt. Es wird deutlich, wie die Poetik Heines mit derjenigen Tjutčevs in Konflikt, aber auch in nächste Berührung gerät. Tjutčev, Erbe der russischen Romantik (in ihrer bereits kritischen Phase) und für eine Seite der Heine-Lyrik vorbereitet, ist auch ein Erneuerer der klassizistischen russischen Oden-Tradition des 18. Jahrhunderts, er ist ein ›Archaisierer‹, wie Tynjanov ihn in seinem bahnbrechenden Werk Archaisty i novatory (Archaisten und Neuerer) nennt, und macht sich mit dieser zweifachen poetischen Ausrichtung ans Übersetzungswerk. Das »Fichtenbaum«-Gedicht trägt bei Tjutčev die Überschrift »S čužoj storony. Iz Gejne« (»Von einem fremden Land. Aus Heine«) (Tjutčev 1957, 76), womit dem Gedicht ein eigenes lyrisches Thema gegeben wird. Tjutčev bedient sich, um der Vorlage zu folgen, eines für die russische Dichtung ungewöhnlichen Metrums, das von dem zeitgenössischen Verstheoretiker Dubenskij in der Zeitschrift »Atenej« (»Athenäum«) von 1828 analysiert wird – was die Aufmerksamkeit des russischen Ohrs für die Lautseite

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Das bislang unveröffentlichte Werk, eine nicht abgeschlossene zwischen 1917 und 1920 entstandene Qualifikationsarbeit Tynjanovs (die neben dem analytischen Teil einen ersten rein biographischen, das Verhältnis Heine-Tjutčev in Deutschland betreffenden Teil umfasst), wurde von A. P. Čudakov erstmalig nach dem Manuskript mit ausführlichem Kommentar publiziert. Mir war diese Publikation nur online zugänglich. Allerdings gibt es in »Archaisty i novatory« mehrere Kapitel, die dem Verhältnis Puškin-Tjutčev, Tjutčev-Heine gelten.

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Strategien der Einverleibung

von Dichtung belegt. Das Metrum ist eine Art Dolnik14 auf der Grundlage des kanonischen vier- und dreifüßigen Amphibrachus (das heißt nur die Zahl der betonten Silben ›gilt‹, die unbetonten schwanken zwischen 0 und 2). Insbesondere die zweite Zeile stellt das Metrum heraus, die daktylisch ist. »Kedr« (»Zeder«, hier für »Fichtenbaum«) wird dadurch hervorgehoben. Na severe mračnom, na dikoj skale Kedr odinokij pod snegom beleet. I sladko zasnul on v inistoj mgle, I son ego v´juga leleet.   Pro junuju pal´mu vse snitsja emu, Čto v dal´nych predelach Vostoka Pod plamennym nebom, na znojnom cholmu Stoit i cvetet odinoka […] wörtlich: Im finsterem Norden, auf wildem Felsen Eine einsame Zeder (männlich) weißt unter dem Schnee. Und süß schlummert er im raureifen Nebel Und seinen Schlaf umhegt der Sturmwind.   Eine junge Palme träumt ihm Die in den fernen Gefilden des Ostens Unter flammendem Himmel, auf glühendem Hügel Steht und einsam gedeiht […] (Das kanonische Metrum wird durch die daktylische Zeile durchbrochen.) Das Kolorit der Heine-Zeile »Auf brennender Felsenwand« (DHA I, 165) ist zwar erhalten in »Pod plamennom nebom, na znojnom cholmu«, jedoch führt die Variante »Pod mirnoj lazur’ju, na svetlom cholmu« (»Unter stillem Lazur, auf lichtem Hügel«) vom Original weg, ebenso wie die Epitheta (finster, rauhreif, süß, jung) und die Wendungen »weißt unter dem Schnee«, »Schlaf umhegt« und andere den Lakonismus Heines verfehlen. Heines »Fichtenbaum«, so Tynjanov, gibt für Tjutčev nur eine Vorlage ab, die das lyrische Thema »Aus der Fremde« ausfaltet und dabei das Metrum der Vorlage zu bewahren versucht. Tjutčev hat Heines Texte häufig wie Prätexte, Folien benutzt, als lyrischen Ausgangspunkt, ohne deutlich zu machen, dass es sich um eine Übertragung handelt. Oft heißt es, wie im diesem Fall: »Iz Gejne« (»Aus Heine«).15 Berühmt wurde das »Fichtenbaum«-Gedicht hernach durch Michail Lermontovs Übersetzung, wobei

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»Dolnik« ist ein russischer versologischer Begriff, der in der allgemeinen Verslehre figuriert. Gordon (1973-1983, 62) zitiert in diesem Zusammenhang Efim Etkinds Einschätzung der Eigenständigkeit der Tjutčev-Übertragungen. Etkind spricht von »Transformation«, die Tjutčev gegenüber dem Original durch Tonalität und Stil geschaffen habe, sodass man von einem »eigenen Gedicht« sprechen müsse.

8. Heine in russischen Versionen

eine bedeutsame Abweichung von Heine eine ganze lyrische Tradition hervorrief. Lermontov setzt an die Stelle des Motivs der Trennung und Sehnsucht zweier Liebender das Motiv der Einsamkeit. Nicht sehnt sich der männliche Baum nach dem weiblichen, vielmehr leiden zwei weibliche Bäume in ihrer jeweiligen Einsamkeit. Fichte ist wie im Deutschen auch russisch weiblich ebenso wie Palme. Heine hat durch ›Baum‹ hier eine Maskulinisierung hergestellt, die das Russische so nicht erlaubt. Die poetische Suche der Übersetzer nach einem Baum mit männlicher Endung hat zu anderen Schlüssen geführt. »Kedr« war eine Option, die sich neben »dub« (»Eiche«), dank der Tjutčev-Übersetzung, durchgesetzt hat. Alle folgenden Übertragungen verlassen sich auf die Männlichkeit der russischen Zeder. Aber das Einsamkeitsmotiv, abgesehen davon, dass diese Lermontov-Übertragung stilistisch, klanglich, rhythmisch, metrisch eines der schönsten romantischen russischen Gedichte ist, hat dem Einsamkeitstopos zu einer besonderen Popularität verholfen. Im Internet findet man einen Link zu »odinočesto« (»Einsamkeit«), als Verfasser werden Lermontov, Heine, Fet und Autoren bis ins 20. Jahrhundert aufgeführt, was die Unerschöpflichkeit des Motivs belegt. Die Lermontovsche Sprachkunst hat vermocht, aus Heine den Lyriker zu destillieren, der in Russland traditionsbildend wurde. Das sei hier nur kurz angemerkt, da aus dem aufschlussreichen Beitrag von Alexander Nitzberg hervorgeht, dass Lermontov Heine nicht nur übersetzt, sondern auch gegen ihn anschreibt und ihn zu übertrumpfen versucht, was ihm, wie die Analyse belegt, in zwei Fällen durchaus gelingt. (Nitzberg 2011, 41-53) Tynjanovs Beobachtungen aufnehmend, gilt im Folgenden Heines »In der Fremde I« besonderes Augenmerk: »Es treibt Dich fort von Ort zu Ort«. Tjutčev nennt das Gedicht »Iz Gejne« (»Aus Heine«) und beginnt mit folgender Zeile: »Iz kraja v kraj, iz grada v grad« (Tjutčev 134) (»Von Land zu Land, von Stadt zu Stadt«). Thematisch, syntaktisch, phonetisch stimmen die Strukturen überein, aber dennoch gibt es erhebliche semantische Unterschiede. Zunächst fällt ins Auge, dass Tjutčev Heines dreistrophiges Gedicht siebenstrophig wiedergibt. Da es eine von Albert Dorn angefertigte deutsche Rück-Übertragung von Tjutčevs ›Replik‹ auf Heine gibt zitiere ich zur Illustration die jeweiligen ersten beiden Strophen und die russischen in Umschrift: Heine Es treibt dich fort von Ort zu Ort Du weißt nicht mahl warum; Im Winde klingt ein sanftes Wort, Schaust dich verwundert um.   Die Liebe, die dahinten blieb, Sie ruft dich sanft zurück: O komm zurück, ich hab’ dich lieb, Du bist mein einz’ges Glück! (DHA II, 71)   Tjutčev Von Land zu Land, von Stadt zu Stadt Das Schicksal weht uns seine Bahn Ob es mißfällt, ob es behagt, Was gilt es ihm? Voran, voran!

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Vertrauten Klang uns trug der Wind: Der Liebe letztes Lebewohl… Viel Tränen einst geflossen sind, Nun vor uns Nebel, ungewisses Los! (Doron)   Tjutčev Iz kraja v kra, iz grada v grad Sud’ba, kak vichr’, ljudej metet, I rad li ty, ili ne rad, Čto nuždy ej? Vpered, vpered!   Znakomyj zvuk nam vetr prines: Ljubvi poslednee prosti… Za nami mnogo, mnogo slez, Tuman bezvestnost´ vperedi! Man vergleiche »Es treibt dich fort von Ort zu Ort« mit »Iz kraja v kraj, iz grada v grad« (wobei die Lautfolge s-tr-rt rt-rt als -kr-kr gr-gr wiedergegeben wird), hier gilt es, die Lautqualität der Wiederholungen zu beachten. Trotz anderer Wortwahl bleibt die Sinnausrichtung in dieser Anfangszeile dieselbe, dazu kommt die syntaktische Entsprechung »von Ort zu Ort« – »iz kraja v kraj« mit der klaren Zäsur nach dem zweiten Jambus. In beiden Gedichten (Heine – Tjutčev) fällt dasselbe Enjambement auf, das die letzte Zeile zerteilt, danach folgt »fort, nur fort!«, das mit der Laut-Entsprechung »vpered, vpered« (phonetisch: »wperjot, wperjot«) wiedergegeben wird. Eine weitere Besonderheit in dieser Version besteht in Folgendem: Während bei Heine ein intimer lyrischer Ton vorherrscht, verändert Tjutčev durch die Einführung des unpersönlichen »my« (»wir«) die Färbung des gesamten Gedichts. Schon die erste Strophe zeigt die Wegbewegung vom rein lyrischen Thema, geht über die Grenzen der Lyrik hinaus und erhält den Charakter einer von einem Chor getragenen dramatischen Handlung. Der Chor beginnt (die ersten beiden Strophen), der Chorführer stimmt ein (die drei folgenden Strophen), dem antwortet der Chor (die beiden letzten Strophen). Tynjanovs poetisches Ohr lauscht den Unterschieden in Laut, Versstruktur, Rhythmus nach, sieht die semantischen Verschiebungen, die Entstehung neuer Zusammenhänge – statt intimer Liebessemantik wird hier die Schicksalsthematik mit antikisierender Interpretation siebenstrophig ausgefaltet, ohne an poetischer Präzision zu verlieren. Trotz Tjutčevs Bemühen, ein Analogon der metrischen und klanglichen Besonderheiten Heines zu schaffen, ist der Unterschied, der die beiden Gedichte thematisch, kompositionell und rhythmisch trennt, so groß, dass man »Iz kraja v kraj« noch weniger als die anderen Übertragungen zu den sogenannten Übersetzungen zählen kann. Das lapidare »O komm zurück, ich hab dich lieb,/du bist mein einz’ges Glück« wird in drei Strophen ausgeführt. Statt lexikalischer Schlichtheit tritt Pathos auf, werden rhetorische Wendungen eingebracht. Rhetorisches gilt auch für Tjutčevs Version von »Der Schiffbrüchige« (»Korablekrušenie«, wörtlich »Der Schiffbruch«).

8. Heine in russischen Versionen

Heine Schweigt, Ihr Wogen und Möven! Vorüber ist Alles, Glück und Hoffnung, Hoffnung und Liebe! Ich liege am Boden, Ein öder, schiffbrüchiger Mann, Und drücke mein glühendes Antlitz In den feuchten Sand. (DHA I, 402)   Tjutčev Schweigt still, ihr Vögel, rauscht nicht, Wogen, Alles verlorn – das Glück und alle Hoffnung, Die Hoffnung und die Liebe! Hier allein, Vom Sturm an öden Küstenstrich verschlagen, Lieg hingestreckt ich, glühenden Gesichts Im feuchten Sand des Meeresgrunds ich grabe. (Dorn)   Tjutčev Molčite, pticy, ne šumite, volny, Vse, vse pogiblo- sčast’e i nadežda, Nadežda I ljubov’!…Ja zdes’ odin, Na dikij breg zabrošennyj grozoju, Ležu prostert – rdejuščim licom Syroj pesok morskoj pučiny roju! Tynjanov zeigt, wie hier Heines lapidares »In den feuchten Sand« in der letzten Zeile amplifikatorisch ausgedehnt wird. Was macht Tjutčev? Immer wieder wird sein Versuch deutlich, Entsprechungen zu Heine zu schaffen, wobei die eigene russische lyrische Tradition, und zwar die ältere Tradition, seine Sprache maßgeblich bestimmt. So auch die Wiedergabe von Heines: Und aus dem süßen, blassen Antlitz; Groß und gewaltig, stralt ein Auge, Wie eine schwarze Sonne. O, du schwarze Sonne, wie oft […](DHA I, 402) Bei Tjutčev als: Und aus dem lieblich-blassen Angesicht Das flammend-aufgerißne Auge Leuchtet wie eine schwarze Sonne! Oh, eine flammend-schwarze Sonne. Hier klingt Gavrila Deržavin mit, der große Odendichter des 18. Jahrhunderts. Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, ein Analogon herzustellen und zugleich der eigenen stilistischen (lexikalischen) Tradition zu entsprechen, tritt deutlich hervor. Es ist zweifellos bemerkenswert, dass Tjutčev, der archaisierende Tendenzen mit Romantismen verbindet und als ein philosophierender Dichter rezipiert wird, just Heine-Gedichte

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Strategien der Einverleibung

übersetzt, die ihm eigentlich gegen den poetischen Strich gehen, etwa wenn er sich Gedichten wie »Liebste sollst mir heute sagen«, oder »In welche soll ich mich verlieben« zuwendet. Tynjanovs analytischer Blick auf Heines Technik lässt Strategien sehen, die der Heine-Forschung vertraut sind, doch gilt es, auf das frühe Entstehungsdatum seiner Studie hinzuweisen. Bemerkenswert erscheinen mir Beobachtungen zu Heines Umgang mit dem Genre. So heißt es, dass Heine sich der kanonischen Genres ausschließlich als eines stilistischen Mittels bediene. In den »Fresco Sonetten« werde die strenge Sonettform durch eine ihr beigemischte und nicht entsprechende düstere phantastische Thematik völlig verändert. Wenn sich Heine der Ballade annimmt, könne man nicht wissen, ob das Gedicht auch als Ballade endet. So etwa beginne »Der Apollogott« mit einem streng kanonischen Balladen Teil, der im zweiten Teil durch die Einführung von auf Fremdwörter angelegten Reimen gestört und im dritten Teil durch jargonnahe Prosaismen abgelöst werde. Zwischen dem Einsatz des Phantastischen einerseits und des Realen andererseits sieht Tynjanov keine Grenze, da es Heine ausschließlich um die Funktion gehe. Folglich hätten die realen Details, die er in seine Verse einbringt, lediglich stilistische Bedeutung, so in »An Jenny«. Ebenso trete Phantastisches nur dann auf, wenn es diese Rolle zu spielen hat, z.B. als Witz (im Original deutsch), der durch eine oxymorale Vermischung mit Realem entstehe (die Erscheinung des Doktor Ascher) oder wenn das Phantastische als Motivierung (russisch »motivirovka«, hier als formalistischer Kernbegriff gemeint) unerwarteter Zusammenstellungen fungiere. Aber nicht nur der kanonischen Form und deren Durchbrechung, sondern auch den verbalen Verfahren Heines gilt Tynjanovs Augenmerk, darunter auch dem die Übersetzung erschwerenden Epitheton und dessen semantischer Funktion, die jener des romantischen Epithetons entgegengesetzt sei. Heines Epitheton, dessen Einsatz er als hervorragendes Element seines Stils betrachtet, bestehe im widersprüchlichen Spiel mit dem zu Bezeichnenden und verzichte, anders als das romantische, auf eine Einbettung im Realen. Hier betont Tynjanov wie auch an anderer Stelle den Aspekt des Spiels, der Suspendierung konkreter Bedeutung und zitiert »Die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine« (DHA I, 136) oder »Riesenmährchen, todtschlaglaunig« (DHA I, 364); »Schönste Sonne unter den Mädchen, Schönstes Mädchen unter der Sonne« (DHA I, 264). Tynjanov hebt zum einen den musikalischen Effekt, zum andern den Chiasmus hervor. Im »Buch der Lieder« stellt er Epitheta aus der Volksliedtradition heraus; im Zyklus »Die Nordsee« dagegen trifft er auf homerische Epitheta wie »gedankenbekümmert«, »glührote Streifen«, »wiegenliedharmonisches Singen«, »die Well’n wuthschäumend« (DHA I, 358f., 379). Der mehrfach von Tynjanov betonte Begriff »verbales Spiel« bedeutet den Höhepunkt des Umgangs mit Sprache, wobei es sowohl um grammatische Ordnung als auch um Abweichungen von der Regel geht. Sprache ist nicht nur Vehikel, sondern Gegenstand der poetischen Reflexion. Bezüglich Heine macht Tynjanov deutlich, dass es nicht das Thema ist, welches ein Verfahren erzwingt, sondern dass sich das Verfahren ein Thema sucht – eine rein formalistische Argumentation. Die Substanz der Übersetzungen besteht für Tynjanov, den Muttersprachler, nicht in der Thematik, sondern in der Wahl der Sprachebene, in Metrik und Lautgestalt, vor allem aber im Rhythmus, den er als »konstruktiven Faktor des Verses« bezeichnet (Tynjanov 1924).

8. Heine in russischen Versionen

Die verfahrensbezogene Analyse Tynjanovs eröffnet zweifellos neue Perspektiven sowohl auf Heine wie auf Tjutčev. Nochmals: Tjutčev hat seine Gedichte nur selten und zögerlich als Übersetzungen bezeichnet. Man kann hier von Versionen, Variationen, ja Fehl-Lesungen in einem positiven Sinn sprechen. Heines Gedichte werden bezüglich ihrer Metrik und Reimstruktur bearbeitet, ihre Themen werden interpretiert. Daher ist es im Falle Tjutčevs besonders schwierig, von Übersetzung oder Übertragung zu sprechen, eher wäre die allerdings ebenfalls ungenaue Bezeichnung ›NachDichtung‹ heranzuziehen. Von Plagiat kann man zweifelsohne nicht sprechen, eher von einer vertrackten Intertextualität, aus der ein Text eigener Prägung hervorgeht. Im Russischen gibt es den hilfreichen Begriff des »pereosmyslenie« (wörtlich »Umsinnung«), der so etwas wie Sinntransformation bedeutet. Bei Tjutčev ist es ein Weiterschreiben, wie im siebenstrophigen Gedicht, das einem dreistrophigen folgt. Ein Weiterschreiben, aber auch ein Umschreiben, das ein Angleichen an die bestehende Tradition ebenso anstrebt wie den Versuch, dem fremden Text seine Idiomatik zu belassen. Die Differenz, die Tjutčev einbringt, lässt die Besonderheit des Originals ebenso goutieren wie sie das Potential der russischen Verskunst bekundet. Tynjanov, der eine Art Vorformulierung für ›Intertextualität‹ liefert, hat in der Tjutčev-Studie Entlehnung (zaimstvovanie) von Einfluss (vlijanie) unterschieden. Einfluss versteht er als Übertragung eines kompositionellen Verfahrens (priem), unabhängig von der Thematik oder dem Sujet, aus der Kunst eines anderen oder aus fremder Literatur in das eigene Werk; Entlehnung erscheint dabei als Spezialfall des Einflusses, und zwar als Übertragung eines thematisch bereits eingebetteten Verfahrens oder als Übertragung eines thematischen oder verbalen Elements, das bereits bearbeitet ist. Ebenso verhält es sich bei Entlehnungen aus fremdnationaler Literatur. Ein Fragment künstlerischen Schaffens, aus seiner Mitte gerissen und aus seiner nationalen Tradition gelöst, spielt in dem neuen Zusammenhang, in den es eintritt, eine völlig andere Rolle, gewinnt durch den Verlust seiner ursprünglichen Färbung eine andere, die das neue Milieu vermittelt. An anderer Stelle vermerkt Tynjanov den Unterschied zwischen ›Tradition‹, die er als national begreift, und der Genese eines Werks, die durch Berührung mit eigener und fremdnationaler Literatur entsteht. Tynjanov schließt seine vergleichende Analyse mit den Worten ab: So hat die fremde Kunst Tjutčev als Vorwand gedient, Werke zu schaffen, deren Tradition auf russischem Boden bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht. Und weiter: Er stilisierte, indem er genetisch auf die deutsche Romantik und auf die alten Dershawinschen Formen zurückgung und ihnen neues Leben – vor dem Hintergrund Puškins – verlieh. (Tynjanov 123-134) Neben Tjutčev sind seit den 30er Jahren auch andere Übersetzer, zumeist selbst anerkannte Dichter, aufgetreten, um sich des Heineschen Werks zu ›bemächtigen‹. (Ritz 1981) Für viele Übersetzungen gilt, dass sie die ironische Brechung im »Buch der Lieder« durch eine triviale Romantisierung überspielen oder untergraben, die nicht nur Heines Poetik widersprach, sondern auch das Niveau der zeitgenössischen russischen Literatur zu ignorieren schien. Auf diese Weise wurde einer Heine-Mode der Weg gebahnt, die einzig durch das Aufgebot von zum Teil glänzenden Heineparodien gezügelt

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Strategien der Einverleibung

werden konnte. Letztere galten nicht dem Heineschen Werk, sondern den poetischen Verzerrungen, denen es zum Opfer gefallen war. Die parodistischen Texte und die sie begleitenden Karikaturen gewähren Einblick in eine ungemein lebendige Literaturszene, die ein spezifisches Genre produziert hat: eben die Heineparodie.16

8.3

Annenskij-Heine

Während die Parodie die eine Antwort auf den falsch, nämlich seicht, gelesenen Heine war, besinnen sich die Dichter der Jahrhundertwende auf die formalen Qualitäten der Heineschen Dichtkunst, allerdings nicht ohne die Übersetzergenerationen der 50er bis 90er Jahre entsprechenden Bewertungen unterzogen zu haben. Dabei spielt der Topos der Unübersetzbarkeit ebenso seine Rolle wie die Überzeugung, dass gerade die russischen Dichter ein besonderes Verhältnis zu Heine hätten. So etwa schreibt der symbolistische Dichter Innokentij Annenskij (1856-1909) in seinem großen Essay »Genrich Gejne i my« (2006) (Annenskij1979) (»Heinrich Heine und wir«): »Wenn es ein Volk gibt, das Heine vom Geist her nahe ist, dann gewiss das russische.« Insbesondere in den 60er und Anfang der 70er Jahre habe man Heine in Russland mehr geliebt als die eigenen Dichter. Es ist die Zeit nach dem Ende der sogenannten »Goldenen Epoche«, die von der Puškinschen Plejade geprägt war. Es lohnt sich hier, Annenskijs ausführliche Ansichten auszugsweise zu referieren und damit zugleich auf die Herausbildung eines spezifischen, der Heine-Interpretation in Russland gewidmeten Diskurses zu verweisen, der sich neben dem rein literaturwissenschaftlichen etabliert hat. Annenskij, selbst Übersetzer einiger Heine-Texte (Dehnel, Kazakowa 2006, 49, 143, 109, 125), reflektiert die formale und »weltanschauliche« Seite des Heineschen Werks und zeigt die Momente auf, die an Russisches anschließbar sind. Dazu gehört Heines undogmatisches Verhältnis zur Religion (mit Verweis auf »Disputation«). Sogar seine Gotteslästerei, heißt es, sei Zeichen für sein religiöses Interesse. Er habe in den Religionen das Feuerwerk, das Gedankenspiel geliebt, in der Religion selbst das Pathos, kein rhetorisches, sondern ein echtes, so in »Den Pilgern von Kevlaar«. Der religiösen Ekstase habe er sich ganz hingegeben, einer Ekstase, »die kristallklar und frei sein musste wie ein regenbogenfarbener Wasserfall in einer staubigen Stadt in ihrer Mittagshitze.« Eben einen solchen Eindruck hinterlasse »Frieden« aus dem ersten Zyklus der »Nordsee«, wo ein Christus sich dem Dichter als heißer Sonnentag auf den Wellen der Nordsee gezeigt habe. Annenskij suggeriert des Weiteren: Nicht nur habe Russland Heine auf eine besondere Weise begriffen, sondern man habe seine ›Wahrheit‹ besser vorausgesehen als irgendein anderes Volk. Die Gründe dafür: Den Russen sei das Unglückhafte und Leidende nahe, das sie in Heine sahen, auch die Abneigung gegenüber allem Abgeschlossenen, Erstarrten, allgemein Anerkannten, das für Russland gelte, habe diese Nähe zu Heine ermöglicht. Doch was Heine in besonderem Maße russisch mache, sei sein Verhältnis zu ›Heimat‹. Annenskij nennt es eine 16

Reinhard Lauer hat in seinem Artikel (2004, 59-94) nicht nur Rezeptionsetappen des Heineschen Werks dargestellt, sondern auch der Heineparodie besondere analytische Aufmerksamkeit gewidmet und diese erstmalig als Genre profiliert.

8. Heine in russischen Versionen

wilde Liebe, in der das ästhetische Prinzip durchbreche. Annenskijs Tonfall wird ruhiger in seinem Resümee der Heine-Übersetzungen des 19. Jahrhunderts, wobei auch unterschiedliche Übersetzungstheorien zur Sprache kommen. Er betont die Qualität solcher Übersetzer wie Tjutčev, Lermontov, Apollon Majkov, Afanasij Fet und Aleksej Tolstoj. Kritisch verweist er auf den Modus einer Heine-Verfälschung durch Bevorzugung einer zu lieblichen, leicht eingängigen, einem Walzer von Lanner vergleichbaren Manier. Er hebt Petr Vejnberg (Weinberg) hervor, den ersten großen Herausgeber Heines, der sich als »Heine aus Tambov« in die russische Literaturszene einzugliedern versuchte.17 Die Russifizierung Heines in den Übersetzungen kommentiert er mit ironischer Distanz, doch wesentlich ist ihm ein anderes. Seinen hochgestimmten Tonfall wieder aufnehmend, ruft er aus: »Wer kann sagen, dass er nie einige Seiten aus Heine durchlebt habe und zwar ganzheitlich, seelisch.« Und schließt daran an: »Die Angriffe auf Heine sind uns Russen unverständlich und wir leiden mit daran, da in ihnen auch das Pessimistische des Antisemitismus mitschwingt.« Doch Annenskij geht es auch um Formales. Er verweist auf die Gleichheit der Bilder, die einige Heinesche Symbole bestimmen, auf die von Farbigkeit durchdrungene Poesie, die hierin der Lyrik der alten Hebräer ähnele – »diese Rosen, Lilien, Veilchen, Fichten, Palmen, Nachtigallen.« Das allerdings habe die Kritik zur Genüge festgestellt, doch dürfe man nicht vergessen, dass in der Lyrik, insbesondere einer so musikalischen wie der Heines, häufig gerade »der Zusammenklang, die Melodik oder die rhythmische Färbung bestimmend sei, nicht sosehr dieses oder jenes Symbol« – ein Aspekt, der späteren Analysen vorgreift. Heines »Liebe für die Märchenwelt des deutschen Waldes, der bacchischen Nixen, der trügerischen Elfen und berechnenden Gnome« sieht Annenskij in »Waldeinsamkeit«, aus den »Lamentationen«, wo »das Zauberreich der bunten und ungeordneten Wirklichkeit der Moose und Farne in Form einer eigengearteten nur träumerisch zu fangenden Illusion« erstehe. Annenskij verfolgt bewundernd den von Heine hergestellten schnellen Wechsel der Bilder und der Stationen, denen sie sich verdanken: Ägypten, Siam, Hastings, Versailles, Kohlengrube, Palästina, Jardin Mabille. Abschließend ist die Rede von der »alptraumhaften Vielfalt, der reichen und schlaflosen, nachgerade nervösen Phantasie Heines, die ihr Gegenstück in seiner beißenden ›Ironie‹ finde.« Annenskij hat 2009 in »Kniga Otraženij« einen Heine gewidmeten Text unter dem Titel »Geijne prikovannyj« (Heine gefesselt) veröffentlicht, der nicht von ungefähr mit der Nachstellung des Attributs an die nämliche Konstruktion in »Prometej prikovannyj« (Prometheus gefesselt) gemahnt. Dieser dem ›Genie‹ Heine und seinem Werk gewidmete, umfangreiche Essay gehört mit seiner sowohl analytischen wie empathischen Seite wesentlich in die sich herausbildende Tradition eines HeineDiskurses.

8.4

Blok-Heine

Auch Aleksandr Blok hat aus symbolistischer Perspektive ein Heine-Bild entworfen, dem wiederum Tynjanov in einer 1917-1918 entstandenen, allerdings nicht abgeschlos17

Lauer entwirft die komische Szenerie der zahlreichen Heine-Adepten und erhofften Reinkarnationen, die sich in allen Teilen des Riesenreiches als »Heine« zu Worte melden.

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Strategien der Einverleibung

senen und nach ihrer Erstpublikation18 nicht wieder aufgelegten Studie nachgegangen ist. Der Hinweis auf letztere ist Omri Ronen zu verdanken, der den Literaturwissenschaftler Tynjanov anlässlich der ›Tynjanov-Lesungen‹ in einem Vortrag neu ins Bewusstsein zu rücken versucht,19 indem er dessen poetologische Ausrichtung und Rolle bei der Theoriebildung der Formalisten akzentuiert und sich gegen die »Falschlesung« wendet, die Tynjanov durch die »Neoformalisten« widerfahren sei. Er verweist nachdrücklich auf bestimmte formale Entdeckungen Tynjanovs, die Folgen für die Begrifflichkeit und analytische Methode hatten. So etwa das Konzept der Sukzessivität der eine Dichtung ausmachenden Elemente, das jenem der Simultaneität, des Synchronen entgegengesetzt sei. Er erläutert, die Wahrnehmung prosodischer, suprasegmentaler phonologischer Merkmale ergebe sich nur in der Aufeinanderfolge, denn nur in der Aufeinanderfolge unterscheide man die betonte von der unbetonten Silbe, die Länge von der Kürze. Es geht um die Realisierung der semantischen Struktur des poetischen Textes, die in der formalen sukzessiven Geordnetheit zutage tritt, eine Beobachtung, die Tynjanov in seinen Heine-Tjutčev- und Heine-Blok-Analysen bestätigt findet. Omri Ronen sieht in der Arbeit zwei konkurrierende Blickweisen, eine literaturhistorische, die es Tynjanov erlaubt, Blok als Schüler Heines erscheinen zu lassen, und eine typologische, in der Heine und Blok als poetologische und poetische Opponenten auftreten. Gerade den letzten Punkt belegt Ronen mit einem Zitat aus Tynjanovs Text, das ich hier in Übersetzung anführe: Blok und Heine repräsentieren zwei Pole der Poesie. Der eine schafft seine Kunst nach dem Merkmal der Emotionalität, der andere nach dem Merkmal des reinen Wortes. Die primitiv-emotionale musikalische Form, deren Urbild die Romanze sei und das literarische, sprachliche Ornament, dessen beste Vorform die Arabeske ist./[…]/Und wenn Heine für immer Beispiel und Vorbild der sich selbstgenügenden Sprachkunst ist und sein Zeichen über der neuen Poesie steht, so erscheint Blok als Beispiel eines großen Künstlers in der untergeordneten Art der Poesie, der emotionalen. Es ist bemerkenswert, wie Tynjanov hier die beiden Autoren quasi unterschiedslos, als seien sie Zeitgenossen und gehörten zur selben nationalen Tradition, bezüglich ihrer Poetik diskutiert. Es geht ihm dabei um die Profilierung zweier entgegengesetzter poetischer Prinzipien, die die russische Dichtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmen und deren eines als von Heine repräsentiert gesehen wird. Tynjanov konstruiert einen Gegensatz zwischen der emotional-expressiven Innerlichkeitslyrik Bloks und einer Lyrik des Wortes, die sich selbst genügt und zu einer Art Selbstreflexion tendiert. Heine wird für Tynjanov der Parteigänger einer postsymbolistischen, stark formbezogenen Dichtung. »Den Stoff gänzlich in die Form absorbieren,« wie es Immermann

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»Blok i Gejne« (Blok und Heine)) wurde in dem Sammelband »Ob Aleksandre Bloke« (Über Aleksandr Blok)) 1921 veröffentlicht. Lediglich der Blok betreffende Teil wurde in den Tynjanov-Band »Archaisten und Neuerer« aufgenommen. Omri Ronen hat diese Arbeit nicht nur kommentiert, sondern auch ausführlich daraus zitiert. Sein Vortrag, der mir nur online zugänglich war, hat mir grundlegende Einsichten in die bipolare Argumentation Tynjanovs und daraus sich ergebende Folgerungen erlaubt.

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in der erwähnten Besprechung von Heines »Harzreise« formuliert, klingt wie die Vorwegnahme eines Diktums von Tynjanov, der Heine mit Mozart vergleicht – für ihn die Verkörperung der reinen Form. Doch ist die Gegenüberstellung nicht ganz zutreffend. Denn Blok ist Heine näher, als Tynjanov einräumt. Zum einen hat er sich als Übersetzer auch formal mit Heines Texten beschäftigt (zu seinen Übersetzungen gehört »Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen«) (Dehnel, Kazakova 139, 143, 147) und die Zyklenbildung seiner Gedichte auf Heines »Buch der Lieder« bezogen, das er wie einen Roman in Versen zu lesen vorschlug, zum andern hat er Heine zum Gegenstand einiger Texte zur Literatur gemacht. So in »Herzen und Heine«, »Ironie«, besonders aber in seinem 1919 erschienen Essay »Heine in Rußland«. In diesem Text hat er alle russischen HeineÜbersetzungen einer vernichtenden Kritik unterzogen (Blok Bd.6, 1962, 115-128), wobei er durchaus formal(istisch)e Kriterien benutzt. Trotz der lebhaften Übersetzungstätigkeit und der vielen Publikationen im 19. Jahrhundert wage er zu sagen, die russische Sprache kenne den wirklichen Heine noch nicht. Das künstlerische Bild Heines sei versunken und die »liberale Legende« über Heine habe Platz gegriffen und sein Bild gänzlich verstellt. Die Übersetzungen des 19. Jahrhunderts hält er für Verfälschungen, die einen (dafür steht Michail Michajlov) ignorierten in romantisierender Manier jene Unerbittlichkeit und scharfe Einfachheit, die Heine charakterisieren, die andern (dafür steht Apollon Grigor’ev) outrierten Heines lapidare Ironie, hätten untragbare Prosaismen und inakzeptable Neologismen in Umlauf gebracht, aber zumindest so etwas wie ein Puškineskes Formverständnis bewiesen. Heine wird hier nochmals als der große deutsche Dichter herausgestellt, es heißt, nahezu apodiktisch: »Wir alle sind von der provokatorischen Ironie Heines durchdrungen.« (Blok, Mierau 1978 Bd.2, 152-157) Und es wird dazu aufgerufen, nunmehr das Russische diesem Werk tatsächlich zu öffnen. Blok verwirft vehement die Fehldeutung Heines als Verfechter des Liberalismus und geht so weit, ihn als Antihumanisten zu bezeichnen, um die ästhetische Seite herauszustellen. Die humanistische Zivilisation des 19. Jahrhunderts sei am Ende, es sei eine Zeit des Umbruchs: das zoon politikon werde zum reinen Künstler (Blok benutzt den Ausdruck »Artist«). Dies ermögliche einen neuen Blick auf das 19. Jahrhundert, eben auch auf Heine. Heftig klingt auch sein Diktum in ›Herzen und Heine‹: ›Hier ist nicht der Platz, sich darüber auszulassen, wie in den Hirnen der Liberalen das Antlitz Heines allmählich verzerrt wurde.‹ (Blok 1962, 385-387) Nochmals: nicht der ethische, nicht der politische, nicht der humanistische, sondern der Artist Heine müsse nun endlich in die russische Sprache Eingang finden. Es ist just Tynjanov, der 1932 und 1934 neue Übersetzungen der Lyrik und des Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen vorlegt, die der Forderung Bloks nahekommen, das heißt die Blok hätte als Beginn einer tatsächlichen Einführung Heines in die russische Sprache begrüßen können.20 Bloks Text über Heine hat sein Pendant in einer Rede, die er anlässlich einer Puškin-Feier zum 84. Todestag

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Zudem hat Tynjanov im letzten Abschnitt seines geistreichen Heine-Porträts ganz im Sinne Bloks argumentiert: »Es ist die Aufgabe des Übersetzers, Heine nicht in den gewohnten, durch ihre Monotonie einlullenden metrischen Systemen zu bringen, sondern zu versuchen, eine Entsprechung zu seinen Intonations- und metrischen Systemen zu schaffen. Ich bin davon überzeugt, daß dies in unserer Zeit nicht eine Sache der Dichter ist, denen ihr Werk, ihre Systeme am wichtigsten sind, sondern die Sache des Übersetzers.« (Tynjanow 1982, 102).

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Strategien der Einverleibung

des Dichters über »Die Bestimmung des Dichters« 1921 gehalten hat. Sie setzt ein mit den Worten: Unsere Erinnerung wahrt seit frühester Kindheit einen heiteren Namen: Puškin. Dieser Name, dieser Klang erfüllt viele Tage unseres Lebens. Da sind die düsteren Namen von Imperatoren, Feldherren, Mordwaffenerfindern, Folterknechten und Märtyrern des Lebens. Und daneben dieser anmutige Name: Puškin. (Blok 1962, 394-404) Auch hier liegt der Akzent auf der Form, auf dem Artistischen. Es geht Blok um die Rolle Puškins als Sprachschöpfer, die ungeheure Macht der Poesie (nicht der Weltanschauung). »Puškin – Poet« heißt es emphatisch. »Poet, das ist eine unveränderliche Größe, selbst wenn die Sprache, die Verfahren veraltet sein mögen, das Wesen des dichterischen Werks bleibt bestehen.« Puškin ist nicht Dichter, weil er Verse schreibt, sondern er schreibt in Versen. So werden in Bloks Poetologie Puškin und Heine als die Dichter der autonomen Form miteinander verbunden. Im Falle der versuchten Einverleibung Heines in die russische Literatur mit ihrer eigenen Tradition, wird die Berührung von eigen und fremd deutlich und ihre Fraglichkeit ist Thema immer neuer Betrachtungen geworden, in denen die Übertragungs-Übersetzungs-Nachdichtungsergebnisse von kritischen Muttersprachlern sondiert werden. Nur durch deren Kommentare wird auch dem Nichtmuttersprachler verständlich, dass in den Assimilierungsversuchen das Andere erhalten bleiben, dass der fremde Text, Heine, wie in einem Palimpsest im darüber gelegten durchschimmern muss. Der Versuch, Heine mit Analogien gerecht zu werden, das heißt seine Poetik zu verstehen und dialogisch auf sie zu antworten, führt zu Um-Setzungen von einer Tonart in die andere, einer Lautgestalt in die andere auf der Schwelle zwischen der eigenen Tradition von Metren und Rhythmen und der fremden Form, deren Andersheit als das Neue, Aufstörende spürbar bleibt. Die Überlegungen zur Transposition der Metren und rhythmischen Struktur, um Analoga herzustellen, berühren sich mit solchen, die dem Text-Text-Kontakt im Allgemeinen, also der Intertextualität gelten. Transposition erscheint als eine Art unklaren Echos in einer andern Sprache. Allein Heines Name widersetzt sich einer echten Russifizierung, man kann aus ›H‹ ein ›G‹ machen, was ja auch den Vornamen betrifft, Genrich Gejne, aber Gejne kann man nicht flektieren (bei Schiller und anderen deutschen Geistern lässt sich das bewerkstelligen), doch lässt sich von Gejne durchaus ein Adjektiv ableiten: gejnevskij, heinisch. Somit wird Heine, zumindest in Adjektivform, morphologisch eingegliedert – ein wenig heimisch. Heines Integration in die russische Literatur, ja in das russische kulturelle Gedächtnis ist partiell und exemplarisch zugleich, eine Einverleibung, die dem ursprünglichen Fremdkörper noch etlichen eigenen Spielraum belässt.

Nachtrag Zum Frühwerk von Boris Pasternak gehört die Erzählung »Der Strich des Apelles. Il tratto di Apelle« (1915), in der Heine als der »Dichter aus Westfalen« mit dem Zug nach Ferrara fährt und dort in eine erotische Verwicklung gerät. Der schnell entflammten Dame gelingt ein Porträt Heines, das der Porträtierte selbst als »Strich des Apelles« bezeichnet – ein gelungener Strich des Pasternak:

8. Heine in russischen Versionen

– Ich höre Ihnen zu, Signora. – Viel lieber würde ich Ihnen zuhören, Signor. Sie scheinen sehr klug zu sein und auch ein wenig sarkastisch. Gleichwohl scheuen Sie Banalitäten nicht. Seltsam, aber eigentlich kein Widerspruch. Ihr theatralisches Pathos… – Entschuldigen Sie, Signora. Pathos – das heißt auf griechisch soviel wie Leidenschaft und bedeutet auf italienisch einen ätherischen Kuss, Bisweilen drängen sich…ätherische…auf… – Schon wieder! Lassen Sie das, es ist ganz unerträglich! In Ihnen steckt ein Geheimnis; erklären Sie sich. Und hören Sie zu, lieber Herr Heine, bitte, seien Sie mir nicht gram. Abgesehen davon sind Sie trotz allem – ob Sie mich für diese Vertraulichkeit tadeln werden? –, sind Sie eben doch – mit Ihrer kindlichen Natur – etwas ganz Ungewöhnliches. Nein, das ist nicht das richtige Wort – ein Dichter sind Sie. Doch, doch, fragt sich bloss, warum ich nicht gleich draufgekommen bin, ein Blick genügt – man sieht es Ihnen an. Sie sind ein Taugenichts, von Gott gewählt und vom Schicksal verwöhnt. […] Wie klarsichtig Sie sind! Mit einem Strich, mit dem Strich des Apelles mein ganzes Wesen wiederzugeben und die Situation so ganz und gar zu erfassen! (Pasternak, Ingold 1990, 16)

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Strategien der Einverleibung

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9. Dostoevskijs Passionen und die Affektenlehre

9.1 Die Rhetorik, die das Anthropologicum der Gefühle und Leidenschaften, deren Äußerung und Unterdrückung bearbeitet, hat in der Affektenlehre in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen einen Katalog vorgelegt, der nicht nur in variierenden Listen die Namen der Affekte aufführt, sondern die Verfahren ihrer Erzeugung nennt, sowie die Stiltypen, in denen die Affekte in den oratorischen und poetischen Gattungen mit unterschiedlicher Stärke realisiert werden sollen. Die Beobachtung affektischer Symptome, die von verschiedenen den Menschen betreffenden Disziplinen seit der Antike betrieben wird, geht in die Formulierung der Regeln mit ein. Indem diese (spontanen) Äußerungsformen benannt, definiert und in gewisser Weise systematisiert werden, erhalten sie den Status wiederholbarer, nach bestimmten Mustern einsetzbarer Formen; sie werden zu Stilformen des Gefühls, der Leidenschaft. Der Rhetorik und auch der Poetik, die sich die Affektenlehre zu eigen macht, geht es aber nicht nur um Verfahren der Darstellbarkeit der Affekte, sondern auch um deren Wirkung. D.h. das zugrunde liegende rhetorische Konzept ist zweifach ausgerichtet: es betrifft zum einen die Darstellung der Affekte durch agierende Personen (in Rede und Handlung), bzw. deren stimmliche und gestische Realisierung durch den Rhetor, und es betrifft zum andern die Wirkung, die das Exerzieren der Affekte beim Rezipienten erreicht, also das appellative Potential. Die Affektenlehre verfolgt mithin einen Produktions- und einen Rezeptionsaspekt, eine Darstellungs- und eine Wirkungsästhetik. Die Appellstruktur der Affektdarstellung steht im Mittelpunkt dieser Lehre. Oder genereller: die appellativen, auf Persuasion und Beeinflussung gerichteten Verfahren, die aufrühren, rühren, bestürzen, erschüttern, schockieren sollen, gründen in einer Lehre von den Affekten, die auf menschliche Grundstimmungen zurückgehen. In den Redegattungen ist es die Aufgabe des Rhetors, in den poetischen Gattungen Epos und Drama diejenige des Erzählers oder Schauspielers, diese Stimmungen beim Hörer und Zuschauer zu evozieren. Dabei ist der verbal und gestisch inszenierte Selbstausdruck auf Reaktion ausgerichtet und bringt eine Art Affektdialog, eine sympathetische Beziehung zwischen Agenten und Rezipienten hervor. Der später eingeführte, nicht zur

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rhetorischen Terminologie gehörende Begriff der Empathie (die Gräzisierung von ›Mitfühlen‹, ›Einfühlung‹) betont die Rolle der durch Affektdarstellung Herausgeforderten. Das Regelwerk der Affektenlehre ist in Traktaten der Rhetorik, aber auch der Poetik überliefert und hat eine konsistente, nicht abreißende Tradition erlebt, wie sie entsprechende Texte (europaweit, Russland eingeschlossen) bis ins 18. Jahrhundert belegen, wo sich andere Disziplinen der Affekte annehmen, etwa die Erfahrungsseelenlehre. Das Wissen, das in der Lehre der Erzeugung und Wirkung transportiert wird, ist dabei ebenso wenig verloren gegangen wie die Kenntnis der unterschiedlichen Auslegungen der Affekte, ihrer variierenden Terminologien und Systematiken. Bereits in der Antike lassen sich gegenläufige Richtungen ausmachen: Neben der Lehre, die Aristoteles in seiner Rhetorik und seiner Poetik entwickelt und der er in der Schrift De anima nachgeht, hat sich die stoische Lehre entwickelt, der es weniger um Ausdruck als um Unterdrückung oder zumindest Zügelung der Affekte zu tun ist, und die moralische Vorstellungen bezüglich ihres Werts und Unwerts formuliert; Vorstellungen, die im christlichen Kontext (die bösen Leidenschaften) wieder aufgenommen werden. Die Anweisungen zum Einsatz der Affekte und jene zu ihrer Mäßigung konkurrieren also in der Geschichte der Affektenlehre. Ihre epochengebundene Auslegung, besonders in Renaissance- und Barocktraktaten, lässt die beiden Tendenzen zutage treten. Mahnungen zur Mäßigung verweisen häufig auf vom Epochenstil provozierte Übertreibungen, wie eben im Barock und anderen nicht-klassischen Perioden. Der Rhetorikforscher Heinrich Plett hat in seinem Buch Rhetorik der Affekte (München1983) insbesondere die englischen Traktate der Renaissance und des Barock untersucht und diese Richtungen herausgearbeitet.

9.2 Die Berührung von rein rhetorischen Begriffen mit solchen der Moral, der Psychologie und der Physiologie, die dabei deutlich wird, verweist auch hierin auf einen bereits in der Antike bestehenden Kontakt zwischen den Disziplinen, die dem anthropologischen Faktum der Affekte, Leidenschaften und leidenschaftlichen Gefühle gewidmet sind, also dem, was als Seelenvermögen, facultas animi, bezeichnet wird. Physiologisch orientierte Psychologie, die Temperamentenlehre, die Lehre von den Körpersäften und den Organen als Trägern der Affekte (etwa die Galle, das Herz, die Milz) und die Ethik mit ihrer Bewertung der verderblichen und der zulässigen Affekte gehen mithin zusammen. Plett zitiert aus dem Traktat des niederländischen, vielfach rezipierten Rhetorikers Gerardus Vossius, Rhetorice contracta von 1621, der die Disziplinen auseinanderhält, die sich mit den Leidenschaften beschäftigen. Da heißt es: Die Physik betrachtet die Leidenschaften allein unter dem Blickwinkel ihrer natürlichen Beschaffenheit und Ursache; die Ethik daraufhin, wieweit sie der Tugend fähig sind; die Rhetorik aber benutzt sie zur Persuasio, indem sie genaue Regeln zu ihrer Erregung und Besänftigung aufstellt (zit.n. Plett, 1983, 30). Die Affekte seien nicht schädlich, so lange sie nicht der Vernunft widersprechen, ist ein Hauptargument der Maßhaltetheoretiker. Immer wieder tauchen in den Traktaten mo-

9. Dostoevskijs Passionen und die Affektenlehre

difizierte Systematisierungen auf, wobei deutlich wird, wie stark die antiken Systeme nachwirken. Dazu kommen dann (mittelalterlich-christlich) die Kataloge der Tugenden und Laster, so dass sich häufig Überschneidungen in der Terminologie ergeben. Als Quellen für die rhetorische Triade der Funktionen »lehren, bewegen, erfreuen« (docere, movere, delectare) standen den Traktatisten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts die in der aristotelischen Tradition stehenden Abhandlungen Ciceros, De oratore, und Quintilians, Institutio oratoria, und für den Pathos-Begriff insbesondere das II. Buch der aristotelischen Rhetorik (II-XI, 1378a-88b) zur Verfügung (Plett 25-47). Für die Einflussnahme der Affektrhetorik auf die Theorie der Wirkung in den Poetiken war zunächst Horaz’ Ars poetica die Hauptquelle, dann ab dem 15. Jahrhundert die aristotelische Poetik, in der die Rolle der Affekte in den diegetischen Genres behandelt und die kathartische Wirkung von Furcht und Schrecken (phobos und eleos) in der Tragödie hervorgehoben wird (Fuhrmann 1973) Was in der Lehrtradition auffällt, ist der immer wieder angestellte Versuch, Systeme zu errichten, in denen die Begriffe für affektische Äußerungen, ihre Wirkung, ihre Rolle in der Rede oder im poetischen Text sowie ihre stilistische Verarbeitung aufeinander bezogen und Wertungen vorgenommen werden. Sehen wir uns die Systematiken kurz an: In Abhängigkeit von den drei Redegenres treten die Affekte in folgenden Zusammenstellungen auf: In der Beratungsrede (genus deliberativum) sind Affekte wie Furcht, Vertrauen, Scham, Unverschämtheit zulässig, in der Gerichtsrede (genus iudiciale) Zorn, Milde, Liebe, Hass, Feindschaft, Entrüstung, Neid, Mitleid, Wetteifer, Verachtung; in der Lob- bzw. Festrede (genus demonstrativum): Freude und Dankbarkeit. Aber auch affektische Gegensatzpaare, wie sie für die Stoiker gelten, werden genannt, etwa: Zorn-Milde; Mitleid-Verachtung. Allerdings unterscheidet die Rhetorik – entsprechend den Funktionen der Redegattungen – sanftere und heftigere Affektstufen: ethe und pathe. Ethos bezeichnet den von mäßigen, maßvollen Affekten beherrschten Charakter, während Pathos wilde, hinreißende, erschütternde, entsetzende Seelenbewegung hervorrufen soll. Bei Cicero wird eine deutliche Distinktion gemacht zwischen Ethos als vermittelndem, temperiertem, menschlich-verbindlichem, also Nähe herstellendem Affekt wie Milde, Frömmigkeit, Liebenswürdigkeit, Freimütigkeit und Pathos als ungezähmt, das temperiert Menschliche brüskierend, wie Liebe, Hass, Zorn, Neid, heftiges Mitleiden, Hoffnung, Angst, die in ihrer Heftigkeit ›abstoßend‹ sein können, grenzüberschreitend, in fremde Psychen eindringend. Während mit Ethos die humanitas schon gegeben ist, muss Pathos in schwierigen Situationen der Bewährung humanitas in einem höheren Sinn erwerben, was das admirabile hervorruft. Diese Affektinterpretation steht wiederum im Kontext der stoischen Tugendlehre. Es ist eine Lehre der Emotionserzeugung, d.h. der Herstellung einer emotionalen Affinität zwischen Redner und Hörer, einer durch die Beachtung des decorum regulierten Annäherung. (Plett 48) Die unterschiedlichen Affektstufen werden in unterschiedlichen Stilstufen (genera dicendi) realisiert, vom niedrigen über den mittleren zum hohen Stil (genus subtile, genus medium oder temperatum, genus grande, grave). Bei dem letzteren dürfen die Emotionen des Zuhörers nicht nur angerührt, sondern sie müssen von Grund auf erschüttert werden, d.h. aus der Trias der Funktionen docere, movere, delectare wird das movere privilegiert: Diese Betonung des movere wird als Beginn des »übersteigerten Pathos des

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Barock« (Plett 28) gewertet, mit dem die anima sensitiva des Menschen stärker hervortritt und eine neue Art von Psychologisierung der Affekte sich herausbildet.

9.3 Diese dem persuasiven Affektausdruck gewidmete Redefunktion wird auch in einer russischen Rhetorik des beginnenden 18. Jahrhunderts, die an derselben aristotelischciceronianischen Tradition teilhat, als in besonderem Maße affektbezogen aufgeführt. Für Feofan Prokopovič, Autor einer einflussreichen Ars Rhetorica von 1706 und Verfasser von politisierten Predigten im Sinne der Reformen Peters des Großen, besteht das Redeziel mithilfe der Affekte darin, die Geister auf die stärkste Weise zu bewegen (maxime ad commovendos animos). (Lachmann 1982, 54) Auch das Verhältnis von Affektstufen und Affektklassen wird in den Systematiken geordnet: Die Affektklasse mit abgeminderter Affektstufe umfasst z.B: amor, desiderium, cupiditas, cura, sollicitudo, spes, confidentia, aemulatio, laetitia, und ioci sive facetiae. Letztere gehören zum Affekt des risus. Als abgeminderte Affektstufe gilt hier das erwähnte ethos, das mit der Redefunktion des delectare zusammengeht. Die zweite Klasse: odium, ira, dolor, commiseratio, consolatio, terror, metus, desperatio, inivia, pudor, verecundia – repräsentiert die heftige Stufe des Pathos mit der Redefunktion des movere. Nun geht es weiter: Die Affektdarstellung muss sich an einem bestimmten Stil, an bestimmten Tropen und Figuren orientieren. So etwa verlangt der Affekt des Schmerzes (dolor) Figuren des Vergleichs, die aus traurigen Dingen abgeleitet sind (similitudines a rebus tristibus ductae) heißt es etwa in der erwähnten Rhetorik von Feofan Prokopovič. Es entstehen Diskussionen über die Anzahl und Anordnung der Affekte. Da gibt es einmal eine Einteilung in ursprüngliche Affekte wie Liebe und Hass und abgeleitete, die gemischt sind. Daneben gilt die Nennung der klassischen Affekte: Liebe, Trost, Freude, Hoffnung, Mitleid, oder die ciceronianische Vierergruppe: Freude, Hoffnung, Schmerz und Furcht (gaudium, spes, metus und dolor). Das Ganze ergibt ein Entsprechungssystem, das den Regeln der Angemessenheit unterworfen ist. Decorum bzw. aptum ist das Schlüsselwort für dieses Zusammenspiel von Affektklasse, Affektstufe, Redegattung, Redefunktion, Stilart, Tropen und Figuren, das zudem die Disposition des jeweiligen Publikums zu berücksichtigen hat. Plett weist auf englische Renaissancerhetoriken hin, in denen »dem Redner eingeschärft wird, auf die psychische Konstitution des Publikums, Art und Umfang der Affekte und den geeigneten Anlaß zu ihrer Auslösung zu achten. Ohne die Beachtung des aptum ist eine Rede unwirksam«. (Plett 26) Aber auch damit sind die Kataloge und Listen der Zuordnungen nicht abgeschlossen. Es werden spezifische Verfahren aufgerufen, welche die sprachliche Inszenierung gemütsbewegter Rede und die Erregung korrespondierender Emotionen zu realisieren haben. Genannt werden Anakoluth, Aposiopese, Ellipse, Abbreviatur, Allusion, Exclamatio, Schweigen u.a. Als Intensivierung der Aposiopese, des Abbruchs eines begonnenen Satzes, wird eigens die Affekt-Aposiopese genannt. Auf dieses Verfahren ist der Redner angewiesen, wenn der von ihm vorgeführte Affekt vom Publikum offen-

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sichtlich nicht geteilt wird. Aber er kann die Aposiopese auch gezielt einsetzen. Das geschieht, wenn eine das Heilige tangierende Botschaft nicht in ihrer Gänze ausgeführt wird; das Schamgefühl verletzende Mitteilungen werden dagegen mithilfe von Allusionen vorsichtig vermittelt. Auch um einen Gegenstand bedeutender erscheinen zu lassen, das Unaussprechliche zur Geltung kommen zu lassen, wird mit Abbruch, plötzlichem Verstummen gearbeitet. Gegensätzliche Verfahren sind die Vergegenwärtigungsaffekte, die vor allem durch eine Figur realisiert werden, die in den Traktaten als hypotyposis oder enargeia (das lateinische Äquivalent lautet evidentia) bezeichnet wird und eine Art Voraugenführung eines erschreckenden, schockierenden Ereignisses meint. Es ist das Verfahren einer »lebhaft detaillierten Schilderung eines Gesamtgegenstandes durch Aufzählung sinnfälliger Einzelheiten«, wie Heinrich Lausberg in seinem Handbuch der literarischen Rhetorik formuliert, ein Verfahren, »das an die Vorstellungskraft appelliert«. (1973, Par. 810) – Fuhrmanns Begriff der Vergegenwärtigung in seiner Longin-Interpretation bezieht sich auf den nämlichen Vorgang (1973, 177).

9.4 In allen Phasen der Lehre und ihrer Auslegung ist der Topos der Affektbeherrschung präsent. Zunächst bei Aristoteles, der sich mit der Zügelung, genauer: Kontrollierung der Affekte beschäftigt und dafür den Begriff Metriopathie (Politik 1254b) eingeführt hat; hernach in der ciceronianischen Version der Lehre. In der christlichen Tradition ist es insonderheit Augustinus, der in den Affekten eine Krankheit (morbus) am Werke sieht oder eine Verwirrung der Seele (perturbatio animi)1 befürchtet, zugleich aber den göttlichen Beistand zu ihrer Bewältigung aufruft. Das gilt auch für die asketische Tradition, die sich dem Kampf mit den bösen Leidenschaften stellt, die als tyrannisch, als Fessel des Geistes und der Seele geächtet werden. In den verschiedenen Lehrmeinungen spielen die anderen Seelenvermögen wie Wille und Vernunft eine vermittelnde Rolle, die dann zur Geltung kommt, wenn verderbliche Affekte zur Bedrohung werden. Wenn Affekt als Wahn auftritt, zum Wahn wird, muss die Vernunft den Kampf mit ihm aufnehmen. In diesem Zusammenhang zitiert Reinhart Meyer-Kalkus in Wollust und Grausamkeit ein Diktum von Andreas Gryphius, der die »menschlichen Affekte als ›Betriegereyen des Herzens‹« verwirft. Meyer-Kalkus kommentiert: »Der Affekt als Wahn und damit als Produkt von Trugbildern, optischen Täuschungen, perspektivischen Deformationen, verzerrten Proportionen und irrtümlichen Evidenzen – das ist eine für alle Zweige der Affektenlehre des 17. Jahrhunderts offenbar höchst aktuelle Anschauung.« (1986, 69) Andererseits ist es gerade dieses Potential (Schein-Trug, Dissimulation und Simulation gehören dazu), das als wesentlicher Bestandteil barocker Verfahren, bzw. des barocken Concettismus auftritt. Auch hier spielt die Rezeption antiker Konzepte ihre Rolle. Ein tiefgreifender Affekt, den Redner, Schauspieler, handelnde Person in den

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Augustinus, Civitas Dei XIX 21.27. Reinhart Meyer-Kalkus hat in seiner Monographie Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von ›Agrippina‹ (1986) die Position des Augustinus (42, 445, 51f, 219f) in der Tradition der Affektverwerfung dargestellt. Ich beziehe mich auf seine Angabe.

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diegetischen Gattungen hervorrufen will, aber den auch das Geschehen als solches, das erzählte und das ausagierte, oder ein ungewöhnlicher Gedanke, eine überraschende Beweisführung erzeugen kann, ist das Staunen, die Verwunderung (thaumaston, Poet. 1460a). Aristoteles hat sich in einer Art Wirkungstheorie damit beschäftigt. Quintilian nimmt diesen Aspekt auf: der Redner erregt nach eigener Willkür den Affekt des Staunens. Ohne dass der Zuhörer es merkt, wird er »planvoll in seinem Affekt gefangen« (Matuschek 1991, 31). Diesen das Publikum übertölpelnden und entmündigenden Kunstgriff umschreibt Quintilian wie folgt: »Nicht nur mit starken, sondern auch mit blitzenden (glänzenden) Waffen muss gekämpft werden« (»nec fortibus modo, sed etiam fulgentibus armis proeliatur«, Inst. or., VIII, 3,2). Nach Aristoteles nehmen das Staunen und die Reaktion der Verwunderung in dem Maße ab, in dem Einsichten in die Gründe des Staunenswerten, Verwunderlichen erlangt sind. Das heißt, der Affekt des Staunens ist ein zu überwindender. Ziel ist also, zumal wenn es um das wissenschaftliche Interesse am Verwunderlichen der Welt geht, den Gleichmut der »Verwunderungslosigkeit« (Matuschek 1991) (athaumastia) zu erlangen. Das aristotelische Konzept der Überwindung des Verwunderlichen (thaumaston) durch die athaumastia richtet sich gegen das von Plato vertretene, wonach die Erkenntnis als Steigerung des Staunens verstanden und das Sich-Verwundern (thaumazein) in ein Entzücken, ein Außer-sich-Geraten, einen Zustand der Manie weitergetrieben wird (ekplexis). Die aristotelische athaumastia tritt damit der platonischen ekplexis entgegen. Staunen über das Verwunderliche, Bewunderung des Ungewöhnlichen kann in Bestürzung, Entsetzen, Widerwillen etc. umschlagen. Genau um diese beim Rezipienten hervorzurufenden Affekte geht es auch in der Barockrhetorik. Nur aus vernunftkritischer Sicht, die für die stoische Auslegung gilt, erscheint der Affekt (gleich welcher Artung) als Verstellung des klaren Blicks auf die Wirklichkeit, der adäquaten Wahrnehmung der Welt und der richtigen Einschätzung der Dinge, denn für den Stoiker hat Affekt etwas mit rationaler Verdunkelung zu tun. Die Klugheit (prudentia) muss dagegen aufgeboten werden, damit die Vernunft (recta ratio) wiederhergestellt werden kann. (Meyer-Kalkus 78) In Summa: Die ethischen und rhetorischen, die wirkungsästhetischen und die therapeutischen Aspekte der Affektenlehre kommen in den zwei Traditionen, der aristotelischen und der stoischen, in den unterschiedlichen Phasen ihrer Auslegung immer wieder zu Geltung, wobei die Systeme variieren, in denen die Leidenschaften gesammelt werden. Grund- oder Elementaraffekte werden von abgeleiteten unterschieden. Die Affektbezeichnungen überschneiden sich mit denen der Tugend- und Lasterkataloge. Die physiologisch-medizinischen Annahmen, die in der Temperamentenlehre und der Humores-Lehre formuliert wurden, sind mit der Antike in die anthropologischen Theorien eingegangen. Seit dem 18. Jahrhundert wird das Menschenbild von der Seelenkunde mitbestimmt, die sich nunmehr der Affekte annimmt.

9.5 Bevor ich zur Problematik der Affekte bei Dostoevskij komme, möchte ich in Erinnerung rufen, dass Russland an der rhetorisch-poetischen Lehre seit Beginn des 17. Jahr-

9. Dostoevskijs Passionen und die Affektenlehre

hunderts Anteil erhalten hat, und zwar durch die Übernahme des Lehrprogramms, das von polnischen Jesuiten vertreten wurde. Dieses Lehrprogramm wurde zunächst für die Kiever Geistliche Akademie, hernach für die Slavisch-Griechisch-Lateinische Akademie in Moskau verbindlich, wo die Disziplinen Rhetorik und Poetik im Rahmen der septem artes liberales gepflegt wurden. Der Beginn der modernen weltlichen Literatur in Russland ist ohne die Rolle der Rhetorik nicht zu denken (Lachmann 1994). Kenntnisse dieser Tradition sind bei allen Autoren des 19. Jahrhunderts vorauszusetzen, auch wenn sie keine rhetorischen Traktate studiert und keine Rhetorikklassen besucht haben. Am Beispiel Dostoevskijs lässt sich eine modernisierte Affektrhetorik aufzeigen, deren einzelne Verfahren in starker Bündelung auftreten. Dostoevskij bedient sich dabei eines im 19. Jahrhundert aktuellen Diskurses, der zwei spektakulären psychosomatischen Phänomenen gilt: der Hysterie und der Epilepsie. Ab 1776 war der Begriff Nervosität bzw. Neurose Bezeichnung für beide Phänomene, wobei es auch einen eher kolloquialen Gebrauch des Begriffs gab, der im 19. Jahrhundert als die Krankheit der Epoche bezeichnet wurde. Dostoevskij kannte den wissenschaftlichen Diskurs, die Tradition der mit der Rhetorik verbundenen Erfahrungsseelenkunde (die Werke von Karl Philipp Moritz und Carl Gustaf Carus) ebenso wie den umgangssprachlichen Gebrauch der Begriffe. Die Psychologie der Hysterie, wie sie in den 80er Jahren theoretische Gestalt erhielt (indem sie ältere Konzepte verabschiedete), war Dostoevskij in Vorstufen vermutlich bekannt, aber umgekehrt sind es die Psychologen, die auf seine literarische Gestaltung der Hysterie verweisen. Indem er in manchen Punkten die Diagnosen von Jean Martin Charcot und dessen Schüler Sigmund Freud vorwegnahm, kann man Dostoevskij in dieser Hinsicht als avantgardistisch bezeichnen. Das geht vor allem aus Freuds Lektüre der Brüder Karamazov hervor, der den Text auf doppelte Weise liest, zum einen als Vorläufer der Psychoanalyse, zum andern als deren Objekt. (Etkind 1993) Das psychoanalytische Seelenbild im literarischen Text und das literarische Seelenbild der Psychoanalyse korrespondieren. Im Folgenden geht es allerdings in erster Linie um die Annahme, dass Dostoevskij den Diskurs der Neurose (d.h. den der Hysterie und der Epilepsie) als Superdiskurs über den der Affekte legt. Bei Dostoevskij werden die Affekte hysterisch interpretiert, oder anders: die Hysterie erweist sich als spezifische Darstellungsform der Affekte. In den semantischen Bereich Hysterie ordnen sich Begriffe wie Wut, Wahn, Tobsucht, Ekstase, extreme Anspannung und eben Nervosität ein, Begriffe, die jene bizarren Verhaltensformen, Gefühlsausbrüche, Gedankenspiralen und abnormen Handlungen bezeichnen, um die es bei Dostoevskij geht. Was ihn interessiert, sind die Phänomene der Exzentrik und die ›Botschaft‹ (religiös oder erotisch), auf die sie verweisen, aber auch und besonders die Rhetorik ihrer Repräsentation. Hysterisch (isteričeskij), Hysterie (isterika) lassen sich als Häufigkeitsvokabeln im Lexikon Dostoevskijs ausmachen. Ihre Reduktion auf rein psychologische Befunde, wie es manche Interpretationen nahe legen, greift zu kurz. Hysterie ist zentraler Motor der Sujetfügung, der Personenkonstellation, Modell der Stilistik etc. Die abrupten Bewegungen, das Hinstürzen, die unerwarteten, d.h. schockierenden Äußerungen, die Lachanfälle, lauten Ausrufe, die verzweifelte Ungeduld, das sich der Kontrolle entziehende Impulsive, das die Normen gemäßigten, das Decorum wahrenden Verhaltens und Sprechens verletzt, werden im Text selbst vom unbeteiligten (stellenweise mitein-

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bezogenen) Erzähler und von den sich gegenseitig beobachtenden Personen als hysterisch bzw. als Hysterie bezeichnet. Hysterie ist ein Schlüsselwort nicht nur des Erzählers, sondern auch der erzählten Personen. Dies schafft eine Atmosphäre allgemeiner Hysterizität. Ganze Szenen sind in diesem Sinne angelegt, wobei das theatralische Moment betont wird. Dies gilt besonders für die berühmten Skandalszenen mit bestürzenden Eröffnungen, Geheimnisenthüllungen, Wutausbrüchen und Anfällen in einem privaten durch das Eindringen ungeladener Personen quasi öffentlich werdenden Raum, dem Salon, aber auch für die erregenden ekstatisch geladenen Gesprächspausen, die jäh durch einen neu anhebenden Disput über Gott, Russland, Selbstmord oder abscheuliche Vergehen abgelöst werden. Dostoevskij weitet das semantische Feld der Hysterie und intensiviert zugleich deren expressive Seite. Sein Roman Besy (Die Dämonen) ist ein affektgesättigter Text. Gehäuft treten Strategien auf, die die Eruption der Gefühle, die Provokation spekulativer Gedankengänge, die Extravaganz des Verhaltens der Figuren als extrovertierte, auf Reaktion angelegte erscheinen lassen. Dazu gehören gestische und verbale Äußerungen: Die Figuren stolpern, stürzen herein, fallen, trippeln, hinken, stoßen an Möbelstücke, gleiten auf dem Parkett aus, sie befinden sich in Zuständen der Raserei, Wut, des Fieberwahns, der Verzückung, der Angst, oder im Rausch (v upoenii) etc. Spezielle Sprechmanieren sind für diese Figuren charakteristisch: Schnellreden (skorogovorka), d.h. überhastetes, sich überschlagendes Sprechen, überlaut und kreischend, oder in höchster Erregung vorgebrachte Sätze. Solche stimmlich-sprachlichen Äußerungsformen werden als Flüstern, Schreien, Stammeln, als Reden gleichsam im Wahn, mit erbleichenden Lippen, in Verwirrung, zwischen Entsetzen und Entzückung bezeichnet. Auch das Stottern und plötzliche Verstummen gehört in eine Stilistik des Sprechverhaltens, für das Dostoevskij dem Erzähler eine eigene Beschreibungssprache zur Verfügung stellt. Zudem werden Modalitäten im Tonfall benannt: ironisch-provokant, empörend frech, unterwürfig, gestelzt, hochmütig, herablassend, flehend. Bestimmte Tropen und Figuren treten hier hervor: neben Oxymoron und Paradox, die die Appellfunktion in den Argumentationen der Figuren unterstreichen, ist es die Trope der Hyperbel, die die Reden bestimmt. Die Hyperbel erscheint als eine Art Hysterie des Stils. Zur Stilistik der Hysterie gehören demnach auch hyperbolische Beschreibungen: ihr ganzer Körper erzitterte vor Schrecken; wahnsinnige Begeisterung verzerrte ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit; mit weit aufgerissenen Augen; in höchster Exaltation; er ist von einem konvulsivischen Weinen erfasst etc.2 Auch die Handlungs- und Gefühlsmotive sind hysterisiert: Liebe-Hass, Vertrauen-Misstrauen, Glaube-Ungläubigkeit. Dabei kann ein Element sogleich in sein Gegenteil kippen. Alle Figuren, auch die Nebenfiguren, sind hysterisiert. Die Selbstausstellung, Selbstentblößung, die Grenzen des Intimen auf ein Extimes hin überschreitend, gehören dazu ebenso wie die als Neurotiker vorgestellten Akteure, deren Krankheit, wie erwähnt, die des 19. Jahrhunderts ist, nämlich Nervosität. Letztere lässt keine Balance in der Selbstäußerung zu; immer geht es um das Extreme, das die Ekstase, die Manie, die unfassbare Übertreibung (Hyperbel)

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Ich zitiere hier gebündelt aus verschiedenen Romanen Dostoevskijs, insbesondere aus Besy (Die Dämonen), Idiot (Der Idiot), Brat’ja Karamazovy (Die Brüder Karamasow).

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hervorbringt. Hysterie ist hier stets verbunden mit erschütternden Erlebnissen, die Bestürzung hervorrufen – textintern bei den Mitanwesenden und textextern bei den Rezipienten. Nochmals: Der Affekt erscheint in Gestalt der Hysterie, die Hysterie erklärt die Affekte. Neben den echten Affekten geht es um die unechten. Auch das ist eine Nuance der Hysterie-Auslegung bei Dostoevskij. Hysterie kann als reine Verstellung (pritvorstvo), als Unaufrichtigkeit (neiskrennost’) entlarvt werden. Damit wird das Moment der Vorund Darstellung, der Inszenierung, hervorgehoben. Ein zentrales Thema bei Dostoevskij ist die Authentizität des Gefühls, der Rede, der Handlung; Authentizität, der man nie sicher sein kann. Wieder ist es die Hysterie, die dieses Doppelspiel illustriert. Der problematische Selbstbezug einzelner Figuren bei Dostoevskij und der nicht minder problematische Kontakt zwischen den dargestellten Personen wird über diese hysterisierte Affektrhetorik vermittelt. Die Spezifik, mit der Dostoevskij die in der Rhetorik etablierten (beschriebenen und benannten) Verfahren für die Darstellung oder besser Vermittlung der mehrschichtigen, diffusen, nicht eindeutig benennbaren Emotionen seiner komplex strukturierten Figuren einsetzt, legt nahe, in dieser Behandlung der tradierten Rhetorik neue Facetten zu sehen, aber auch, im hysterischen Diskurs die antik beglaubigten Affektstufen und Affektklassen wiederzuerkennen.

9.6 Auch bei Dostoevskij gibt es, zumindest im Frühwerk; die sanftere, mildere Affektstufe des Ethos, die eine gemäßigte Nähe und zugleich Distanz zwischen den agierenden Figuren zulässt und entsprechende Signale an den Leser schickt. Im Frühwerk Arme Leute (Bednye ljudi) wird in mittlerer Stillage ein Ton des Zärtlichen, Mitleidigen, leise Klagenden angeschlagen, der in die Affekttradition des Ethos passt. Es kommt zur einer Sentimentalisierung der Affekte, die eine Stillage des Intimen ermöglicht. Oder anders: Ein aus dem eher öffentlichen Bereich zurückgezogenes Pathos, ein Intim-Pathos also, tritt an die Stelle der reglementierten offiziellen Affektäußerung. Aber schon hier lässt es Dostoevskij nicht beim Maßvollen. Vielmehr wirkt sein Stil nahezu hypertroph in der Entfaltung eines Vokabulars, das das Zärtliche und Mitleidige durch Diminutiva und ein weit ausholendes semantisches Feld verwandter Begriffe obsessiv vorführt. Die Stilistik der Empfindsamkeit, die den Affektbereich des Intimen absteckt (Austausch von Gefühlen verwandter Seelen), rührt den Leser zu empathischen Reaktionen. (Lachmann 2006, 13-24). Eine von der Affektenlehre nicht vorgesehene, gleichwohl aber aus ihrer Tradition stammende Emotionalisierung der Sprache ist wirkungsästhetisch auf Stimmung ausgerichtet. Das Rührend-Melancholische des Tonfalls der beiden Briefschreiber in Arme Leute, die sich auf eine detaillierte Schilderung ihrer Seelenzustände kaprizieren, geht über den Ethos-Aspekt der sentimentalistischen Tradition hinaus (wie sie für Dostoevskijs Vorläufer in dieser Stillage, Karamzin und die Karamzinisten, gilt). Hier geht es dezidiert nicht mehr nur um das Rührende, sondern um Erschütterung, um Affektausstellung. Der verdeckte oder offene Selbstausdruck der meist pathologisch markierten Figuren verlässt mithin die sanftere Affektstufe.

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Der hysterisierte Affekt unterscheidet sich von den deutlichen, monovalenten Affekten der heftigeren Stufe wie Liebe, Hass, Neid, Wut, Eifersucht, Neugier, Trauer etc. Die Affekte der Hysterie sind komplex, uneindeutig, widersprüchlich, zwiegesichtig, ein Oberflächenaffekt verdeckt einen geheimen Affekt, der von den anderen Figuren und vom Leser erahnt werden muss. Symptome, wie sie die Hysterie hervortreibt, verweisen (so die psychologische Umschreibung) auf ein nicht ganz zur vollen Artikulation im Bewusstsein Gelangtes. Dostoevskijs Hysterikerinnen und Hysteriker verschleiern im exzentrischen Auftritt einen geheimen, nicht bewusst gemachten Kummer (neosoznannaja skorb’). Dies kann man als eine Verschiebung bestimmter Aspekte der Affektenlehre bezeichnen, die damit auch das Reglement der klassischen Lehre mit ihren terminologisierten Affektbezeichnungen als Folie erkennen lässt. Eben gegen dieses tradierte Reglement wird hier verstoßen: Die Uneindeutigkeit, das Gemischte, das in der nach außen getragenen Vehemenz etwas anderes Meinende oder die Übereinanderlagerung der Gefühle sind solche Verstöße. Dostoevskij entwickelt eine spezifische Diktion, um die Erregungszustände, in denen sich viele seiner Figuren in Permanenz befinden, zu beschreiben. Die Heftigkeit der Enthüllungen, Bekenntnisse, Selbstdarstellungen gehört in diesen Kontext ebenso wie die hektische Entfaltung paradoxer oder schockierender Gedankengänge. Das Problem der Theodizee oder Fragen des Freien Willens und des Rechts auf Selbstmord sind häufige Themen, ebenso wie Beschuldigungen, Bekenntnisse und Beichten. Dabei geht es meist um deren Publizierung, Zurschaustellung. So etwa Raskolnikovs versuchte Beichte vor dem Volk in Prestuplenie i nakazanie (Schuld und Sühne) oder Stavrogins Beichte des Kindesmissbrauchs vor dem Starzen und Beichtiger Tichon in Besy. Hysterie (isterika) gehört einerseits zum Inventar der Charakteristika außergewöhnlichen, spektakulären Verhaltens und der überaus heftigen Gemütsbewegung, zum andern bezeichnet Hysterie auch den (echten) pathologischen Fall, dessen Beschreibung wiederum eine starke leserappellative Funktion übernimmt. In Bratja Karamozovy interpretiert eine Augenzeugin, die Chochlakova, die Hysterie als schwere Krankheit. истерика Катерины Ивановны кончилась обмороком, затем наступила ужасная, страшная слабость, она легла, завела глазами и стала бредить. Теперь жар, послали за Герценштубе. (BK 267) Der hysterische Anfall Katerina Ivanovnas hatte mit einer Ohnmacht geendet, darauf war »eine beängstigende, eine unglaubliche Schwäche« über sie gekommen, sie hatte sich hingelegt, die Augen geschlossen und zu phantasieren begonnen »Jetzt hat sie hohes Fieber, ich habe nach Herzenstube [dem Arzt] geschickt«. (BK 344) Obwohl der medizinische, physiologische Aspekt benannt wird, wird die Dramatik der Szene durch heftige seelische Erschütterungen, unerhörte Erlebnisse, drohende Katastrophen plausibel gemacht. Auch hier ist Empathie als Wirkung beim Leser garantiert. Seelenbewegungen können sich in Weinkrämpfen äußern, die sich in Hysterie steigern, deren Grund, so der Erzähler, in einem verborgenen Leid liegen. Hysterie erscheint hier als Symptom bzw. als Ersatzaffekt. Affekte dieser Motivation werden vom Erzähler nicht zensiert, wohl aber der Affekt der Bosheit, des Bösen, der als ohne Gefühlsäußerung, als quasi apathisch, ja als bar jeder Lustempfindung geschildert wird.

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So der Erzähler über die empörenden Handlungen Stavrogins. Der Verlust der Passion wird hier geradezu bedauert. Dass Dostoevskij isterika auch in einem komischen Sinn verwendet, passt zum sanfteren Ethos des risus, der vor allem für die humoristischen Texte Dostoevskijs charakteristisch ist. (»Ha, ha, ha, die Dame warf sich vor Lachen auf dem Divan von einer Seite zur andern. Mein Gott, ich bekomme gleich einen hysterischen Anfall! Er ist so komisch!« (Übers. RL) »Ха, ха, ха, ха, ха! – Дама металась из стороны в сторону на диване от смеха. – Боже мой, со мной сделается истерика! Ох, какой смешной! …. кхи, кхи, кхи! Смешной« heißt es in Die fremde Frau oder der Ehemann unter dem Bett. (t. 1. 628) Dieser wie auch die anderen komischen Texte Dostoevskijs verlangen die Empathie des Lachens, ja des Lachanfalls. Nun lassen sich die Stilistika, deren sich Dostoevkij bei der Voraugenstellung der Exzentrik von Rede- und Verhaltensweisen bedient, durchaus auch mit Michail Bachtins Konzept der ›Karnevalisierung‹ beschreiben: Hysterisches und Karnevaleskes spiegeln sich, kommentieren einander. Oder: die Hysterie, besonders bezüglich ihres theatralischen Charakters und ihrer Verkehrung des als Norm Akzeptierten – hat etwas Karnevaleskes, wie umgekehrt das Karnevaleske einen hysterischen Zug hat. Bachtin allerdings hat sich mit der Hysterie-Topik nicht beschäftigt, charakterisiert die Schreibweise Dostoevskijs ohne Berücksichtigung des Psycho-Diskurses des 19. Jahrhunderts und lässt die Affektrhetorik außer Acht, da es ihm um den Anschluss an eine ältere Tradition geht, nämlich an die der Menippea. (Lachmann 2006, 148-169)3 Allerdings ist in den noch zu behandelnden Fazetten der Hysterie die karnevaleske Verletzung des Dekorum im Bachtinschen Sinne zu berücksichtigen, vor allem wenn Formen der Extrovertiertheit, des Zurschaugestelltseins in einer Lexik der Zuspitzung, Hochspannung vorgeführt werden. Die von der Hysterie Heimgesuchten erdulden das hinterrücks Niederstürzen, Grimassen Schneiden, Schreien, Schluchzen, die entstellte Sprechmanier, doch obwohl das ihnen Geschehende eine Art momentaner (unbewusster) Selbstaussdruck ist, führt es nicht zu Selbstkommentaren.

9.7 Anders verhält es sich bei der von Dostoevskij quasi als Gegenstück eingesetzten Abnormität – der Epilepsie. Auch hier ließen sich zunächst medizinische und psychologische Erläuterungen anführen, aber es geht wie bei der Hysterie um den affektrhetorischen Aspekt. Der Epileptiker, der den Anfall kommen fühlt, kommentiert dessen bedrohliches Herannahen. Nach dem Anfall, der ihn in einen Zustand der Euphorie versetzt hat, spricht er von unbeschreiblicher Glückseligkeit. Die dem Erzähler überlassene Beschreibung des epileptischen Vorgangs mit seinen somatischen Zügen: Verrenkung, Grimasse, Schaum vor dem Mund, Stürzen etc. bedient sich einer Sprache, die neben der Beobachtung eines sachlichen Tonfalls Affekte des Entsetzens und Erschreckens 3

Auch Aspekte des Jurodstvo gehören in diesen Kontext, Katerina Ivanovna nennt Aljoša einen kleinen Jurodivyj; Der Idiot, wird von Rogožin als Jurodivyj bezeichnet. Dazu Börtness (1995, 18-34); Szilárd (1982, 80-107).

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nicht unterdrückt. Gerade diese Stellen rühren bei Leesenden zu einer Reaktion der Empathie, des Ein- und Mitfühlens. Die explosive Geladenheit der Atmosphäre, die eine Katastrophe (nämlich den Sturz) ankündigt, wird vom Erzähler, der den Epileptiker und die übrigen Anwesenden beobachtet, suggestiv vermittelt. Es entsteht das beunruhigende Bild extremer Erschütterungen, ekstatischer und erniedrigender Erfahrungen des Epileptikers. Die zweifellos subjektiven Selbstbeschreibungen, die Dostoevskij seine EpilepsieHelden äußern lässt, haben eine die objektivierende Psychoanalyse offenbar vorwegnehmende Bedeutung – so etwa Freuds Epilepsie-Analyse von 1928 am Beispiel der Brüder Karamazov. Wie die Hysterie erscheint demnach die Epilepsie als Hyperbel des Selbstausdrucks der agierenden Figuren, die der Erzähler im Modus der Beschreibung einsetzt, wobei das Verfahren der enargeia, der Voraugenführung, Dostoevskij nachhaltig zu gelingen scheint. Einige Beispiele: Он задумался между прочим о том, что в эпилептическом состоянии его была одна степень почти пред самым припадком/…/, когда вдруг, среди грусти, душевного мрака, давления, мгновениями как бы воспламенялся его мозг, и с необыкновенным порывом напрягались разом все жизненные силы его. (Idiot, 256.)   Er dachte unter anderem auch daran, daß in seinem früheren epileptischen Zustand kurz vor jedem Anfall/…/ganz plötzlich mitten in der Traurigkeit, der inneren Finsternis, des Bedrücktseins und der Qual, sein Gehirn sich für Augenblicke gleichsam blitzartig erhellte und alle seine Lebenskräfte sich mit einem Schlage krampfhaft anspannten. (347) Nach dem Anfall heißt es: он все-таки дошел, на конец, до чрезвычайно парадоксального вывода: что-же в том, что это болезнь./…/что это напряжение ненормальное, если самый результат, если минута ощущения/…/ оказывается в высшей степени гармонией, красотой? (Ebd.)   Und doch, trotz alledem, kam er zu guter Letzt zu einer überaus paradoxen Schlußfolgerung: ›Was ist denn dabei, daß es Krankheit ist/…/wenn das Resultat, wenn der Augenblick dieser Empfindung/…/sich als höchste Stufe der Harmonie, der Schönheit erweist. (Idiot 348) Der Erzähler kommentiert den Anfall sachlich und lässt eine genaue Beschreibung, die Voraugenführung bzw. Vergegenwärtigung folgen: В это мгновение вдруг чрезвычайно искажается лицо, особенно взгляд. Конвульсии и судороги овладевают всем телом и всеми чертами лица. Страшный, невообразимый и ни на что не похожий вопль вырывается из груди; в этом вопле вдруг исчезает как бы всё человеческое. (Idiot 366)

9. Dostoevskijs Passionen und die Affektenlehre

Bekanntlich kommen solche Anfälle ganz plötzlich, das Gesicht verzerrt sich, namentlich der Blick ist entstellt, Krämpfe und Zuckungen erfassen den ganzen Körper und alle Gesichtszüge zucken. Ein entsetzlicher, mit nichts zu vergleichender Schrei entringt sich der Brust: in diesem Schrei verschwindet gleichsam alles Menschliche. (Idiot 362) Myškin spricht im Hause der Epančins von seiner Krankheit, die dazu geführt habe, dass er anders spricht, sich anders bewegt, eigentlich nicht zu dieser Gesellschaft passt. »У меня слова другие, а не соответственные мысли.« (Idiot 387) (»meine Worte sind andere, sie entsprechen nicht meinen Gedanken.« (Idiot 527)) Er entzieht seine Krankheit damit medizinischer Definition. Myškins Epilepsie behält den Aspekt der heiligen Krankheit bei, der in ihrer vor-analytischen Phase eine Rolle gespielt hat. Myškin befindet sich quasi zwischen hyperbolischem Selbstausdruck und der Erfahrung des Erhabenen. Die Anfälle des zum Vatermord verführten Smerdjakov in Die Brüder Karamazov dagegen sind primitiv, elementar, ohne höhere Empfindungen. Vor dem Mord am alten Karamazov erscheinen sie als Verstellung (ein absichtlich herbeigeführter Sturz soll die Tat verschleiern). Es ist, als wolle Dostoevskij isterika, epilepsija oder nervoznost’ nicht auf einen psychiatrischen oder medizinischen Befund reduzieren. Vielmehr geht es immer wieder um Leidenschaft (strast’). Die Leidenschaft in Gestalt hysterischer und epileptischer Anfälle überschreitet die tradierte Anthropologie, indem auf etwas anderes, eigentlich Unbenennbares verwiesen wird. Dostoevskij lässt dies als das Unentzifferbare erscheinen, das außerhalb des Zugriffs von Diagnosen und Therapien zu liegen scheint. Am deutlichsten tritt dies am Phänomen der Ekstase zutage, das mit einigen der spektakulären Anfälle verknüpft ist. Die Ekstase ereignet sich als Überhöhung der Affekte, als Verlassen des Bereichs der bestimmbaren, benennbaren Leidenschaften. Ekstatische Zustände gehen dem epileptischen Anfall direkt voraus. In Die Dämonen begleiten sie die hysterischen Stürze, die Nervenzusammenbrüche, sie treten aber auch in den hochgeschraubten Räsonnements Kirillovs über die Natur des Menschen oder in Šatovs hoffnungslosem Versuch auf, seinen Glauben an einen Schöpfergott wiederzufinden. Es scheint, als provozierten die Protagonisten selbst eine Art ritueller Ekstase oder als fielen sie ihr unversehens zum Opfer. Nachgerade alle Personen in Die Dämonen erleben Ekstatisches (Stepan Trofimovič der Extrem-Nervöse, Varvara Petrovna, die Exaltierte, Marija, die hinkende Gottesnärrin in ihrer überspannten Erregung, Pjotr Verchovenskij in seinen exzentrischen homoerotischen Bekenntnissen, Stavrogin in den Exzessen seiner verstörenden Handlungen). Ekstase (ekstaz) – an anderer Stelle auch isstuplenie,4 wörtlich: Heraustreten – bezeichnet einen Zustand außerhalb des Selbst im Sinne einer mystischen Begeisterung, Entrückung oder Verzückung. Ekstase verwirrt die semantischen Bezüge, bedeutet das Ausscheren aus Raum und Zeit, aus dem Chronotop des Geltenden, der Kausalität. Es sind die Epileptiker, die hierfür eine Sprache finden: die Ekstase transportiert den Leidenden in eine irreale Sphäre, bzw. in ein Anders-Seiendes (inobytijnost’), wo er Momente unsagbaren Glücks erlebt. Während weniger Sekunden dieser Euphorie nimmt er an etwas Endgültigem teil: »Затем вдруг как бы что-то разверзлось пред ним:

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Zur Frequenz und ›beweglichen‹ Semantik von isstuplenie, Lachmann (2006, 148-169).

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необычайный внутренний свет озарил его душу.« (Idiot 266) (»Dann war es ihm plötzlich, als täte sich etwas vor ihm auf: unbeschreibliches, nie dagewesenes Licht erstrahlte in seinem Innern und erhellte seine Seele.« (Idiot 361)) Mit Ausdrücken wie »Harmonie« und »inneres Licht« zitiert Dostoevskij die Sprache der Mystik. Der Erzähler als Augenzeuge kommentiert dies so: »Вид человека в падучей производит решительный и невыносимый ужас, имеющий в себе даже нечто мистическое« (Idiot 266) (»… in vielen ruft der Anblick eines Menschen im epileptischen Anfall entschieden unerträgliches Entsetzen hervor, ein Entsetzen, dem sogar etwas Mystisches anhaftet.« (Idiot 362)) In Die Dämonen äußert Kirillov, der Stürmer gegen das All (vselenskij buntar’) »Есть секунды, их всего зараз приходится пять или шесть, и вы вдруг чувствуете присутствие вечной гармонии … Ее ли более пяти секунд- то душа не выдержит и должна исчезнуть. В эти пять секунд я проживаю жизнь и за них отдам всю жизнь, потому что стоит.« (Besy 614)5 ) (»Es gibt Sekunden, fünf oder sechs, und man fühlt plötzlich die Anwesenheit ewiger Harmonie, einer gänzlich unerreichbaren./…/Länger als diese fünf Sekunden hält das die Seele nicht aus und muss verlöschen.« (Dämonen 867f.)) Myškin sagt »мне как-то становится понятно необычайное слово и о том, что времени больше не будет.« (Idiot 257) (»In diesem Augenblick glaube ich jenes Wort zu verstehen, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll.« (Idiot 349)) Diese und vergleichbare Äußerungen gehören in die Sprache der Mystik als einer Sprache der Nichtvermittelbarkeit des Erlebens, sind Elemente der paradoxen Sprache des Unsagbaren. Die religiöse Konnotation des Epileptischen hat in einer spezifischen Form weiblicher Hysterie ihr Pendant, im Schrei-Krampfanfall, Klikušestvo, der mit religiöser Entzückung verbunden ist. Aljoša Karamazov erinnert sich an eine Szene mit seiner Mutter: … он запомнил/…/пред образом на коленях рыдающую как в истерике, со взвизгиваниями и вскрикиваниями, мать свою, схватившую его в обе руки, обнявшую крепко до боли/…/(БК 26).   Er entsann sich/…/vor dem Heiligenbild kniet seine Mutter, die ›Klikuscha‹, die laut schluchzt wie in Hysterie und Schmerzensschreie ausstößt, sie zieht ihn zu sich heran, umarmt ihn so fest, dass es ihn schmerzt. (BK 31) Der Erzähler weiß mehr: С несчастною с самого детства запуганною молодою женщиной произошло вроде какой-то нервной женской болезни, встречаемой чаще всего в простонародье у деревенских баб, именуемых за эту болезнь клиикушами. От этой болезни со страшными истереическими припадками, больная временами даже теряла рассудок. (BK 20)

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In der Terminologie Klejmans lässt sich die Erfahrung Kirillovs als »raumzeitliche Verschiebung« bezeichnen, wobei der kosmische Aspekt, »вселенский хронотоп« betont wird. (Кlejman, 1985, 33)

9. Dostoevskijs Passionen und die Affektenlehre

Die Unglückliche, von Kindheit an so verschüchterte, junge Frau, verfiel einem nervösen Frauenleiden, das man wohl sonst am häufigsten im einfachen Volk antrifft, bei den Bäuerinnen, die dann Klikusi genannt werden. Von dieser Krankheit mit schrecklichen hysterischen Anfällen verlor die Kranke manchmal den Verstand. (23) Während der Erzählung seines Vaters über die Anfälle der Mutter, der Klikuša, geschieht Seltsames, alle Beunruhigendes mit ihm: Aljoša vollzieht das vom Vater gеrade Beschriebene nach: Алеша вдруг вскочил из-за стола, точь-в-точь как по рассказу мать его, всплеснул руками, потом закрыл ими лицо, упал как подкошенный на стул и так и затрясся вдруг весь от истерического припадка внезапных, сотрясающих и не слышных слез. Необычайное сходство с матерью особенно поразило старика. (BK 175)   Aljoscha sprang plötzlich auf, krampfte die Hände zusammen, bedeckte dann mit ihnen das Gesicht und fiel wie vom Blitz getroffen zurück auf den Stuhl; er erbebte plötzlich von einem hysterischen Anfall erschütternder Tränen und schluchzte lautlos. Die ungewöhnliche Ähnlichkeit mit der Mutter frappierte den Alten ganz besonders. (225) In seinem Anfall erscheint die Hysterie mit dem Klikušestvo verbunden zu sein, da letzteres als Äquivalent religiöser, von extremer Entrückung bestimmter Hysterie verstanden werden kann. D.h. hysterische Anomalien lassen sich auch in diesem ›volkstümlichen‹ Ausnahmezustand feststellen: das Aufschreien, Kreischen, Stürze, die heftigen Bewegungen, Sofija Ivanovna presst ihren Sohn bis zur Schmerzgrenze an sich. (взвизгивания, вскрикивания, жесты, она обнимала сына »крепко до боли«) gehören dazu. Die Parallelisierung der Hysterie ›normaler‹ weiblicher Protagonisten mit dem Klikušestvo erlaubt, die ›russische‹ Krankheit mit jener zu verbinden, die, wenn auch zu einer modischen Krankheit verändert und Gegenstand spezifischer Untersuchungen des 19. Jahrhunderts, letztendlich auf die Antike verweist: Im Russischen entspricht dem griechischen »epilepsia« die Umschreibung des Klikušestvo mit Worten wie »fallende Krankheit, »падучaя болезнь« (Fallsucht). Dostoevskij hat nicht eigens auf diesen Zusammenhang hingewiesen, aber er lässt konnotativ zu, das ›gewählter‹ klingende ›epilepsija‹ mit der »padučaja bolezn‹« (das Hysterische mit dem Epileptischen) in Verbindung zu bringen. Аuch die übrigen Hysteriefällen (gendermäßig eher auf das weibliche Personal beschränkt) lassen den Entrückungszustand, den die ›großen‹ Epileptiker (Myškin, Kirillov) erfahren, nur erahnen, aber auch hier ist Kern des Ausstands eine seelische Sensation. Die religiös-kognitive Erfahrung im hysterischen oder epileptischen Anfall wird als Aufstieg in die ewige Harmonie (večnaja garmonija) empfunden, der Rückfall ins normale Maß ist Qual und Ende der Hoch-Zeit. Indem Dostoevskij in den pathologischen, besser pathetischen Zuständen, das Physiologische und Psychogenetische einem letztlich unbeschreibbaren, außerkörperlichen Erleben unterordnet, erhalten die Affekte über das Spektakuläre ihrer hysterischen oder epileptischen Repräsentation hinaus etwas Eschatologisches. Als seien es die Affekte, in ihrer Extremgestalt, die gänzlich andere

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Zustände verrieten. Und das hieße, wir hätten es hier mit einer anderen Anthropologie der Affekte zu tun.

9.8 Noch einmal zurück zur Decorumfrage: die Verletzung des aptum, also der Angemessenheitsregel, erscheint als zentraler Stilzug im hyperbolisch-hysterisch-epileptischen Diskurs Dostoevskijs. Dazu gehören die Beschreibungen des physischen und des seelischen Exhibitionismus einiger Figuren und der Hinweis auf die Reaktion der an den Episoden als Zuschauer und Ohrenzeugen Teilhabenden. Die hysterischen und epileptischen Anfälle werden als Spektakel dargestellt. Nicht von ungefähr ist für Myškin der Gedanke, dass ihm öffentlich ein Anfall heimsuchen werde, unerträglich. Die Reaktion des ›Publikums‹ (besonders des weiblichen) auf diese faszinierenden und abstoßenden Vorgänge ist zwiespältig. Indirekt in das exzentrsiche Geschehen der Selbstentblößung und Selbstentstellung hineingezogen, reagiert es mitfühlend oder voyeuristisch. Der Erzähler kommentiert sarkastisch nach der Beschreibung einer solchen Szene: Да, полагаю, что наши зрительниц дамы остались довольны: зрелище было богатое« (10, 203) (Ja, ich nehme an, dass unsere Damen-Zuschauerinnen zufrieden sind, das Schauspiel war reich) Die Affektenlehre hat gerade in ihrer Funktion als Lehre die Regeln der Angemessenheit formuliert. Schrecken und Furcht (eleos und phobos), die grenzüberschreitend sein können, werden im Kathartischen aufgefangen. Katharsis allerdings ist keineswegs die Pointe der Dostojevskijschen Affekt-Ausbrüche, ebenso wenig, wie es zu Affekttherapien kommt. Das Ziel der Psychagogie, die Reinigung von den Leidenschaften (ton pathematon katharsis), als eine allgemeine Lust (oikeia hedone) vorzuführen, die der aus der Erregung der Affekte befreite Rezipient erfährt, wird hier offenbar nicht angestrebt. Auch die von den Affekten Heimgesuchten mit ihren exorbitanten Erfahrungen gehen unter. In Die Dämonen kommt fast das gesamte Figurenensemble zu Tode durch Mord, Selbstmord oder Krankheit. Weder Aristoteles’ Metriopathie noch stoische Zügelung gehört in diesen Kontext. Es ist klar, dass für Dostoevskij das Ideal temperierter emotionaler Berührung weder zwischen den dargestellten Personen noch zwischen seinem Text und den Rezipienten eine Rolle spielt. Affektstilistisch könnte man in diesem Zusammenhang von einer eher barocken Tradition bzw. einer zum Barocken neigenden Darstellung sprechen. Zu Dostoevskijs poetologischer Terminologie gehört zwar nicht der Begriff Barock, wohl aber ein spezifisches Konzept des Phantastischen (fantastičeskoe). Dieses bedeutet in seiner Romanpoetik eine Wahrscheinlichkeits- und Angemessenheitsregeln verletzende Geschehensstruktur, die sich gerade im Skandal verdichtet. Diese entspricht einem auf formale Diskrepanzen zielenden Darstellungstyp, der nicht auf Präzision, sondern auf ein gewisses Unmaß des Stils setzt. In Dostoevskijs Realismusvariante fungiert das Phantastische als zentrales Moment eines Wirklichkeitsentwurfs, in dessen Dienst weniger die Kompositionskonventionen der Realisten stehen als vielmehr ein formales Prinzip, das Strukturen der Eskalation, der Abbrüche, der Retardation hervorbringt. Die Begrif-

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fe phantastisch, Exaltation und Ekstase erscheinen, häufig in Kombination, an zentralen Stellen der kommentierenden und der erzählenden Texte Dostoevskijs. Die ästhetische Opposition zwischen der Redefunktion des movere und der des delectare erscheint bei Dostoevskij in der Gegenüberstellung von Spannung, die durch Erschütterung hervorgerufen wird, und dem Künstlerischen, dem Formvollendeten, das durch delectatio erzeugt wird. Dostoevskij bekennt sich unumwunden zum movere, zur Spannung. Mehr noch: zur Hochspannung, auf die mit Erschütterung, Widerwillen, Abscheu oder Empathie reagiert werden kann. Die Affektenlehre hat hier zweifellos eine extreme Auslegung erfahren.

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10.1 Bei diesem erst in der Moderne gebräuchlich gewordenen Begriff1 die ursprüngliche Wortbedeutung zu befragen, mag etwas Aufschluss geben über ein ›Phänomen‹ des Selbst- und Fremdbezugs, in dem das Moment des Regelhaften, Wiederholbaren mit dem des Spontanen konkurriert und das des Sagbaren mit dem des Unsagbaren. Intimus, innerst, tiefst, vertrautest, ist der Superlativ zu interior, innerer, geheimer, vertrauter. Inter als Komparativ zu in bedeutet die Steigerung von ›in‹, aber auch ›zwischen‹.2 Das Intime in der ersten Bedeutung lässt sich als Bezeichnung für dasjenige heranziehen, was das Individuum in Bezug auf Psyche und Körper als sein ›Eigenes‹, seinen persönlichen Bereich empfindet. Dazu mag Unterschiedliches gehören, z.B. Gefühle, Gedanken, Träume, Selbstreflexion, die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Wobei der Körper selbst eine Art Zwiespalt darstellt zwischen seinen verborgenen und seinen (kultur- und epochenspezifisch) zeigbaren, ›öffentlichen‹ Teilen.3 Derselbe Zwiespalt gilt für die Psyche, die ihren Innenraum mit seinen unmitteilbaren Gedanken und Gefühlen verwaltet und zugleich die mitteilbaren in Sprache zu übersetzten sucht. Auch hier gelten Normen bezüglich dessen, was geäußert werden kann – Normen, die übertreten werden. Das Intime in seiner zweiten Bedeutung erlaubt, das darin enthaltene inter als eine die verbale und gestische Kommunikation zwischen zwei (oder mehreren) Individuen bestimmende Beziehung zu interpretieren, die sich symmetrisch (den Aspekt der Re-

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In vormodernen Gesellschaften ist Intimität etwas Mitverstandenes, Begriffsloses. Die Moderne hat den Begriff, was zur »Publizität des Intimen« führt (Luckmann 1976, 50). Die lat. Verhältnisse sind freilich komplizierter. Das Lexikon gibt inter als Komparativ zu in an, beide sind keine Adjektive, so dass interior und intimus als Adjektive Steigerungsformen einer Präposition sind. Der Komparativ interior enthält nicht die Bedeutung von ›zwischen‹. Inter dagegen wird mit ›zwischen‹ (zweien und mehreren), mit ›unter‹ und ›in‹, ein Reziprozitätsverhältnis bezeichnend und mit einer zeitlichen Konnotation erklärt. In der medizinischen Fachsprache bedeutet intima die ›innerste Haut der Gefäße‹.

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ziprozität einschließend) oder asymmetrisch gestalten kann.4 Asymmetrisch können Kontakte mit Nicht-Vertrauten und Vertrauten verlaufen. Im ersten Fall werden entsprechenden Funktionsträgem Mitteilungen gemacht, die zunächst keiner Antwort, nur des Zuhörens, der Registrierung bedürfen, etwa bei Beichte (Hahn 1982) oder Schuldgeständnis. Beichtiger und Gerichtsperson, die in die jeweiligen rhetorischen Praktiken eingeweiht sind (Gerichtsrhetorik, Beichtrhetorik), sind auf einer anderen Ebene als der eines reziprok verlaufenden Gesprächs zu reagieren gehalten. Im zweiten asymmetrischen Fall geht es um das Anvertrauen eines Geheimnisses, Gedankens, Gefühls, eines Traumerlebnisses – zu Themen des rein Persönlichen, des Weltanschaulichen (Politischen, Religiösen), des Erotischen. Dies wird dann zur Grenzüberschreitung, wenn Vertraulichkeit aufgezwungen, Nähe erzwungen, eine andere Person unwillentlich ins Vertrauen gezogen wird und fremde Intimität teilen soll. Ebenso asymmetrisch ist der umgekehrte Fall: Wird das Intime als Zone des Ausschlusses empfunden (Intimsphäre), als das Eigene, Unveräußerliche, das zum personalen Besitz gehört, als unantastbarer Raum, erscheint dessen Betreten als Angriff. Das Betreten des intimen Raums kommt dem Einbrechen in ein secretum gleich. Secretum bedeutet sowohl abgeschlossener, einsamer Ort als auch das dort bewahrte Geheimnis. Um das secretum preiszugeben, muss sein Ort zum öffentlichen werden; um es zu schützen, bedarf es der Diskretion. Diskret wiederum umfasst Konnotationen wie abgetrennt, abgesondert, verschwiegen, zurückhaltend; umgekehrt meint indiskret (indiscretus im Sinne von ungetrennt, ununterschieden) die Abtrennung aufzugeben und eine Übertretung zu begehen. Indiskretionen fungieren als Ingredienz bestimmter Kommunikationssituationen.5 (Ein juristischer Tatbestand ist der des ›Indiskretionsdelikts‹: die öffentliche Behauptung oder Mitteilung herabsetzender Tatsachen aus dem Familien- oder Privatleben eines anderen).6

10.2 Es gilt auf die Epochenspezifik und Kulturabhängigkeit in der inhaltlichen Bestimmung der Intimität hinzuweisen, aber auch auf deren Universalität. Einerseits erscheint Intimität als »eine intersubjektive, eigentlich vorgesellschaftliche Weise der Exklusivität«, die die »Ungleichbehandlung« und »Diskriminierung« anderer einschließt, womit sie »das Monopol der gesellschaftlichen Regelung menschlicher Beziehungen« bedroht und

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Der mit den genannten Begriffen nicht erfassbare Bereich der ›religiösen Intimität‹ (mystische Erfahrungen, unio mystica, Gebetssituation) bleibt hier ausgespart. Vgl. Untersuchungen von Gesprächsanalytikern zum Klatsch. Auch aus intim schöpft die Gerichtssprache: intimieren in der Bedeutung ›amtlich zufertigen‹, ›gerichtlich kundtun‹ ist gebräuchlich. Während Intimität eine kurze Vorgeschichte hat, gilt dies keineswegs für ›privat‹ und das Antonym ›öffentlich‹ (von Moos 2004). Die Semiologie des lateinischen Begriffspaares privatus – publicus hat eine andere historische Karriere als intimus durchlaufen. Nationalsprachliche Differenzierungen seit dem 18. Jahrhundert verteilen unterschiedliche Konnotationen, wobei hauptsächlich englische und deutsche Auslegungen von ›privat‹ für die Semantik des Intimen als tauglich erscheinen. Komplizierter ist die begriffliche Angelegenheit von ›öffentlich‹, besonders im Deutschen (von Moos 2004, 55-64).

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sich außerhalb des Einflusses von Institutionen stellt, andererseits aber werden ihre »Inhalte weitgehend in kulturellen Traditionen festgelegt« (Luckmann 1976, 51). Auch die ›Äußerungsformen‹ von Intimität lassen sich aus dieser Perspektive betrachten. Neben kodierter Formen bedienen sich die Sprachen der Intimität auch ›spontaner‹ Formen des Selbstausdrucks, bzw. des Ausdrucks egozentrierter und heterozentrierter intimer (erotischer, peinlicher, feindseliger etc.) Gefühle, die im geschützten Raum des Alleinseins oder der Zwei- und Mehrsamkeit, der sog. Privatsphäre,7 geäußert werden. Die verbale und gestische Formen prägenden und regulierenden Instanzen sind von einer ›Alltagsrhetorik‹ geprägt, die sowohl für die Etablierung bestimmter narrativer Verfahren beim Austausch von intimen Traumerlebnissen und memorativen Berichten (Kindheit, Krieg, Krankheiten, traumatische Erlebnisse) als auch für den Einsatz von Affekten und entsprechenden Topoi in der Konsens-Intimität (Austausch von Liebeserklärungen) und in der Dissens-Intimität (das Streitgespräch hat dem genus iudiciale vergleichbare Züge: ein ›Tatbestand‹ wird aus zwei gegensätzlichen Perspektiven behandelt) verantwortlich ist. Während die Intimität der Zweisamkeit intersubjektiver, verständlicher, im sprachlichen und gestischen Kode vorfindlicher Äußerungsformen bedarf (die eine Spontaneität in der Kombinatorik nicht ausschließt), ist die egozentrische Intimität (den lateinischen Superlativ durch einen deutschen steigernd: das Intimste) von einem subjektiven ›Kode‹ bestimmt, der in stärkerem Maß als die Zweisamkeitsintimität vorgesellschaftlich, institutionslos, ja vorsprachlich (zumindest vor-syntaktisch) ist – was deren Verbalisierung in entsprechenden Genres freilich nicht nur nicht ausschließt, sondern provoziert. Bei den verbalen und gestischen Intimität schaffenden Formen sind bezüglich ihrer Funktion gebilligte, erwünschte von erzwungenen, gefürchteten, eine Lust- Intimität von einer Horror-Intimität zu unterscheiden. Neben der Intimität positiver Berührungsgestik kann auch die Gestik negativer Berührung (Foltern, Vergewaltigen) als eine Form der Intimität betrachtet werden. Letztere scheint kontextabhängig vereinbarten Praktiken zu folgen, die von spontanen Greuel-Erfindungen noch überboten werden. Offenbar geht es um eine pervertierte Intimitätssteigerung durch Schmerzzufügung und sexuelle Erniedrigung, die eine den Voyeurismus einschließende Extremnähe zum Opfer herstellt. Die jüngsten Berichte von Opfern machen deutlich, dass die sexuelle Misshandlung als die unerträglichste Folter, als Verletzung ihrer gesellschaftlich tabuisierten Intimsphäre erfahren wird, was die Verbalisierung dieser Erfahrung selbst wieder zu einer Tabu Verletzung machen kann. Die Sprache der Folteropfer ist – falls das Schweigen nicht überwiegt – auf eine Alltagsrhetorik angewiesen, die eine Terminolo-

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Letztere hat sich durch die Ausklammerung des Persönlichen aus der Anonymität moderner spezialisierter Institutionen zu einem Ort entwickelt, der das Intime ermöglicht, ohne jedoch gegenüber Angriffen von außen – z.B. in totalitären Systemen – geschützt zu sein. Die Verletzung dieser Sphäre kann allerdings auch in nichttotalitären Systemen durch Angriffe von außen erfolgen (anonyme Anrufe, Lauschangriffe durch technisch entwickelte Ohren, wie sie nicht nur in Spionageund Mafiafilmen Vorkommen, oder SPAM. Gegen letztere, die die Intimität des Computers bedroht, wird die sog. fire-wall eingesetzt).

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gie für das Erlittene bereitstellt und medienabhängig eine Balance zwischen Information und Appell ermöglicht.8

10.3 In der Literatur werden die Äußerung des Intimen, besonders die Körper- und Seelenexhibition, die Herstellung von Intimität und deren Verletzung in einen spezifischen, sich unterschiedlicher stilistischer und narrativer Verfahren bedienenden Diskurs verdichtet. Gegenstand können sowohl Regelfälle als Übertretungsfälle sein. Für jeden Fall muss eine Sprache mobilisiert werden, die sich entweder auf die vor- oder außerliterarische Sprache bezieht (sie zitiert oder bearbeitet) oder diese in der Herausbildung einer ›Kunstsprache‹ mitprägt. In jedem Fall aber geht es in der Literatur um die ›Formulierung‹, die Repräsentation – also die Realisierung eines Paradox. Denn der literarische Diskurs erlaubt sich unumwunden, Intimität darzustellen, als verbale und gestische Äußerungsform in Szene zu setzen. Das Paradox der Intimitätsdarstellung ließe sich durch das Antonym von intimus beschwichtigen. Das Antonym zu Intimus erscheint als extimus (mit analogen Verhältnissen bezüglich der Steigerungsstufe).9 Der literarische Diskurs gestaltet Intimität letztlich immer als extrovertierte, als Extimität, d.h. als Zurschaustellung – sowohl im Selbstbezug wie in der Beziehung zu anderen Personen. Allerdings gibt es Gradunterschiede in der literarischen Konstruktion von Intimität: von der Empfindsamkeit mit ihrer Rührungsrhetorik bis zu Formen der Selbstentblößung, die Bestürzung auslösen und durch Exzentrik und Hypertrophie die Grenzen des Dekorum überschreiten. Es stellt sich die Frage nach der Formentradition, die der Literatur vorgearbeitet hat, die der Literatur implizit ist oder die von ihr weiterentwickelt wird. Dabei gilt es noch einmal zu betonen, dass nicht nur der Begriff der Intimität, sondern auch dessen Bezeichnung bis ins 19. Jahrhundert keine Rolle gespielt haben, wohl aber eine Semantik, in deren Feld Nähe, Vertrautheit, Freundschaft, Zuneigung, Liebe, Feindschaft, Abneigung, geheimes Eingeständnis, Selbstzweifel etc. gehören. Die Frage bezieht sich auf die prägende Funktion von bestimmten Genres, die gerade diese Beziehungen zu anderen und zu sich selbst thematisieren und verbal darstellen. Es ist Michail Bachtin, der mit seiner Analyse der menippeischen Satire, der Bekundung ihrer Tradition bis in neuere Zeit und dem Rekurs auf den sokratischen Dialog solche Formen benannt hat.

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Vgl. die intimen Berichte von Kriegsveteranen einem Fernseh-Interviewer gegenüber vor einem (womöglich) Millionenpublikum über Kriegstraumata, wie sie die populär gewordene Gattung der historisch orientierten authentische Überlebende einbeziehenden Sensations-Reportagen über den zweiten Weltkrieg vorführt. Kriegsteilnehmer treten auf, die (so scheint es in einigen Fällen) nach Jahren des Schweigens zu sprechen beginnen und sich quasi ungeübt einer Sprache der Unmittelbarkeit bedienen, die die zeitliche Distanz zwischen Erleben und Berichten zu überbrücken versucht, während in anderen Fällen durch Wiederholung eine Rhetorik der Darstellung eingeübt ist. Die Äußerungs- bzw. Erzählformen reichen von kühlen Lageberichten mit erschreckenden Erinnerungsdetails, über Nachdenklichkeit, Trauer und Erschütterung bis hin zur Sentimentalität. Während ›privat‹ in ›öffentlich‹ seinen Gegenbegriff hat, ist das Gegensatzpaar intim vs. extim nicht etabliert, ja gänzlich ungebräuchlich.

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Bachtin geht es um die durch Wort-Widerwort, Argument-Gegenargument hergestellte verbale Berührung, die durch Tausch (Austausch) und wechselseitige Partizipation bestimmt ist; also um Redeintimität. Nicht nur Bachtins Konzept des dialogischen Wortes als eines Wortes, in dem zwei Stimmen sich berühren oder verschmelzen, sondern auch rhetorische, von ihm hervorgehobene Kategorien, mit denen Kommunikationsformen des sog. Sokratischen Dialogs beschrieben werden, wie Synkrisis und Anakrisis, verweisen auf Nähe und Kontakt. In Diatribe, Soliloquium und Symposium als dia- oder polylogisch angelegten Genres, die auf einen Innenraum bezogen sind und sich in einem ›Zwischen‹ realisieren, (d.h. die Realisierung von in und inter) geht Bachtin Verfahren unterschiedlicher rhetorischer Intimität nach: In der Diatribe dem Dialog mit einem abwesenden Partner; im Soliloquium dem Dialog mit sich selbst; im Symposium dem Polylog, an dem viele mit (»правом на особую вольность, непринужденность и фамильярность, на особую откровенность, на эксцентричность, на амбивалентность« (Bachtin 1979, 138) teilnehmen. Dieses Recht schließt Verfahren der Überschreitung ästhetischer und moralischer Angemessenheit ein, wie sie Bachtin in seiner Karnevalstheorie ausführt. (Dazu gehören im Kontext der Familiarisierung die Äußerung von Anzüglichkeiten, indezente Anspielungen, Indiskretionen und – im Kontext der Exzentrik – Skandale, Enthüllungen, Exzesse der dargestellten Personen, die ihr (Inneres nach außen kehren, bzw. ihre Seele auf offener Bühne ausbreiten u.ä.). Die mit der Darstellung des Intimen in den genannten Erscheinungsformen verbundenen appellativen Strategien, die aufrühren, rühren, bestürzen, erschüttern, schockieren sollen, lassen vor allem in den diegetischen Genres auf die Mitwirkung der Rhetorik schließen. Die Rhetorik als Regelwerk bietet eine Affektenlehre, die in der oratorischen, auf Öffentlichkeit gerichteten Praxis ihre verbale und gestische Realisierung findet (Plett 1975). Die Lehre von den Affekten, den Gemütsbewegungen (strasti) bezieht sich auf die Grundstimmungen, die der Redner verbal und gestisch aus- und vorführen soll, um das Publikum zu beeindrucken, wobei der inszenierte Selbstausdruck auf Respons angewiesen ist.

10.4 Die Appellfunktion verbindet sich mit dem auf reine Persuasion zielenden Moment. Der in den drei Redegattungen vorexerzierte Einsatz der sogenannten sanfteren und heftigen Affekte, ethe und pathe, sind im Kontext der Wirkungsbezogenheit neben der Handlung, pragma, die eigentlichen Gegenstände der Rhetorik, die durch die beiden persuasiven Redefunktionen delectare, conciliare und movere, concitare vermittelt werden, (während das pragma vom probare, docere verwaltet wird). Die unterschiedenen Affektstufen werden in unterschiedlichen genera dicendi, Stilstufen also, realisiert, vom genus subtile, über das genus medium oder temperatum bis zum genus grande, grave. Letztere sind emotional eingesetzte Funktionen gegenüber einer sachlich eingesetzten Funktion. Ethos bezeichnet (mit metonymischer Verschiebung) den von gemäßigten Affekten bestimmten Charakter, während Pathos wilde, erschütternde, hinreißende, entsetzende Seelenbewegung hervorrufen soll (Dockhorn 1968, 56). Bei Cicero wird eine deutliche Distinktion

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gemacht zwischen Ethos als vermittelndem, temperiertem, menschlich-verbindlichem, also Nähe herstellendem Affekt wie Milde, Frömmigkeit, Liebenswürdigkeit, Freimütigkeit, und Pathos als ungezähmt, das temperiert-Menschliche brüskierend, wie Liebe, Hass, Zorn, Neid, heftiges Mitleiden, Hoffnung, Angst, die in ihrer Heftigkeit ›abstoßend‹ sein können, bzw. die Grenze, die die Nähe impliziert und zu beachten gebietet, überschreiten und in den emotional affizierbaren Intimbereich fremder (oder vertrauter) Psychen eindringen. Während im Sinne der ciceronianischen Lehre mit Ethos die humanitas bereits gegeben ist, verlangt Pathos, in schwierigen Situationen der Bewährung, humanitas in einem höheren Sinne zu erwerben, was das admirabile hervorruft. – Diese Affektinterpretation steht im Kontext der stoischen Tugendlehre. Es ist dies eine Lehre der Emotionserzeugung, das heißt der Herstellung einer emotionalen Affinität zwischen Redner und Hörer, einer durch die Beachtung des decorum regulierten Annäherung der beiden Instanzen. Die sprachliche Inszenierung gemütsbewegter Rede, die die Erregung korrespondierender Emotionen bezweckt, bedient sich bestimmter Figuren. Anakoluth, Aposiopese, Ellipse, Abbreviatur, Allusion, Exclamatio, Schweigen, Enthymema u.a. gehören dazu. Als Intensivierung der Aposiopese, des Abbruchs eines begonnenen Satzes, wird eigens die Affekt-Aposiopese genannt: Das bedeutet den Abbruch der Rede in dem Augenblick, wenn der vom Redner vorgeführte Affekt, vom Publikum nicht geteilt wird und der sich so Verausgabende als lächerlich erscheint. Daneben gibt es so etwas wie die berechnete Aposiopese: eine das Hohe (das Heilige) tangierende oder Unangenehmes transportierende Mitteilung wird nicht zur Gänze ausgeführt; das Schamgefühl verletzende Inhalte werden umschrieben oder durch Allusion vermittelt. Ähnlich verfährt die emphatische Aposiopese. Um den Gegenstand bedeutender oder schrecklicher erscheinen zu lassen, das Unaussprechliche daran zur Sprache zu bringen, wird das Sprechen darüber unterbrochen oder zurückgehalten. Der Sprecher zieht Neugier auf sich, erzeugt Spannung (Lausberg 1973). Auch amplificatio und hypotyposis als Vergegenwärtigungsaffekt (Plett 1975, 26, 52) gehören dazu. Die Rhetoriker setzen in ihren Traktaten unterschiedliche Akzente und bieten verschiedene Typologien an (Plett 1975). Die Erregung von Emotionen ist zweifellos eine der rhetorischen Funktionen, die die Literatur (in ihren unterschiedlichen Genres) einsetzt, einmal um innertextlich den meist problematischen Selbstbezug einer Person und die nicht minder problematischen Kontakte zwischen den dargestellten Personen zu explizieren, zum andern um extratextuell den Kontakt zwischen Autor/Erzähler, dargestellter Person und Leser herzustellen. Dies gilt nicht nur für die westeuropäische, sondern auch für die russische Literatur nach ihrem Anschluss an die rhetorische Tradition und deren Adaptation (Lachmann 1994).

10.5 Es ist aber erst eigentlich die Sentimentalisierung der Affekte, die eine Stillage des Intimen ermöglicht. Oder anders: Der Sentimentalismus führt in allen europäischen Literaturen eine Sprache ein und vor, die unter dem Aspekt der Intimität gesehen werden kann. Intime Genres eigener Art, die im Sentimentalismus Karriere machen, sind

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der Freundschaftsbrief, der Briefroman und das Tagebuch. (Die Genres haben Tradition, bilden aber im Sentimentalismus pointiert ihre Möglichkeiten aus). Hier gälte es nun, eine noch nicht systematisch erfasste Rhetorik der Rührung zur Beschreibung etlicher Verfahren heranzuziehen.10 D.h. eine Nuancen differenzierende Rhetorik des Mitgefühls (im Sinne der Sympathie), des Einfühlens (im Sinne der Empathie), eines aus dem öffentlichen Bereich zurückgezogenen Pathos, eines Intim-Pathos also, das an die Stelle der reglementierten offiziellen Affektäußerung getreten ist. Dem ersten Blick fällt eine ausgeprägte Topik auf, die sich auch stilistisch niederschlägt und bezüglich des Aspekts der Spontaneität/Nicht-Spontaneität Schlüsse zulässt. Zunächst aber ist wichtig festzuhalten, dass die literarisch überlieferte Intimität des Sentimentalismus, die Rede der Empfindsamkeit, sich nicht als Rede über Körperbefindlichkeit, sondern als Rede über Seelenbefindlichkeit äußert (wobei Lebensumstände eine dezente Rolle spielen). Im russischen Kontext formiert sich eine Rhetorik der Empfindsamkeit durch die Privilegierung einer mittleren Stilschicht, die Qualitäten wie das Zärtliche und das Leichte (nežnoe, legkoe) anstelle des Lauttönenden (gromkoe) und einer offiziösen Panegyrik (mit ihrem entpersönlichten Pathos) zulässt und eine etablierte Liebestopik mit erstarrter Metaphorik ablöst. Die Verarbeitung anakreontischer Motive in der Rokokoversdichtung, die hier als stilistische Vorstufe gewertet werden kann, verdrängt das Erhabene durch das Niedliche und Zierliche. Hier kann der neue Stil (novyj slog) des Sentimentalismus anknüpfen, der einen Sprecher mit »fühlender Seele« kultiviert. Eine von der Affektenlehre nicht vorgesehene, gleichwohl aber aus ihrer Tradition stammende Emotionalisierung der Sprache ist wirkungsästhetisch auf »Stimmung« ausgerichtet. Als rhetorische Prozedur lässt sich gerade auch die Entrhetorisiemng der Topik bezeichnen, die deren Intimisierung bedeutet: es geht um das, was Karamzin als »das Interessante für die Seele« (interesnoe dlja duši) bezeichnet, das einem empfindsamen Leser (čuvstvitel’nyj) gilt. Der sentimentale Text verlangt nach dem Lesekontakt der Nähe, nach empfindsamer Lektüre. Solche Nähe lässt etliches zu: »Gedanken über die Einsamkeit« (Mysli ob uedinenii), das »wehmütige Dunkel seelischer Empfindungen« (unylyj mrak duševnych čuvstv). Gram, Klage, Kummer (skorb’, tuga, žalost’), und produziert einen Gefühlskult, in dem die süße Erinnerung (vospominanie) des Grams und das Gramvoll-Süße als sentimentales Oxymoron einen neuen Topos entwirft, den locus melancholicus. Die empfindsame Konstruktion der Welt bedeutet auch die ›Personalisierung‹ des Autors, der nur als persona den Kontakt mit dem Lesenden herstellen kann. D.h. die Intimisierung des Leseaktes wird durch die Personalisierung des Autors/Erzählers bewirkt. Der Zusammenbruch dieses Stilgebarens, Karamzinismus genannt, der durch die Stilkritik Puškins und Gogol’s mitbetrieben wird, bedeutet allerdings nicht das Verschwinden der intimen Stilistik. Ein kontrovers beurteiltes Beispiel für deren Fortleben bei Dostoevskij ist dessen Erstlingswerk, Bednye ljudi. Hier bedient sich Dostoevskij einer von Kritikern

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Caroline Torra-Mattenklott stellt mit ihrer Untersuchung die erste auch aus der Perspektive der Rhetorik argumentierende Darstellung der Rührung als ästhetische Kategorie dar, die aufgrund eines Kantschen Verdikts »bis heute zur obskuren Vorgeschichte der ästhetischen Erfahrung« gehört (Torra-Mattenklott 2002, 11).

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als geschmacklos und hysterisch qualifizierten Empfindsamkeitsstilistik, in der das Rührend-Melancholische, die detaillierte Schilderung von Seelenzuständen, eine Art psychologisierter Sentimentalismus, den Sprech- bzw. Schreibhabitus der beiden Protagonisten bestimmen, die ausschließlich epistolarischen Kontakt pflegen. Es ist als ob die Möglichkeiten einer Gefühlsästhetik, die der Karamzinismus vorbereitet hat, trotz dessen Degenerierung ergriffen werden, und zwar, um einen Rede-Modus zu etablieren, der durch die Mobilisierung einer mittleren Affektstufe, also mit rhetorischer Rückendeckung, Gefühlsäußerungen legitimiert, die bislang unformulierbar waren. Die Kritik mit ihrem Vorwurf der Geschmacklosigkeit und Hysterie reagiert auf den Verstoß gegen einen nüchternen auf Objektivität setzenden Beschreibungsstil, wie ihn der Realismus privilegiert. Die Empfindsamkeitsrhetorik des Karamzinismus nutzt den Ethos-Aspekt der Affektenlehre – es geht um die Erzeugung von Rührung; der Postsentimentalismus Dostoevskijs nutzt den Pathos-Aspekt, es geht um Erschütterung. Die Transformation des Rührenden, trogatel’noe, in Affekte der perturbatio und in die extreme Affekt-Ausstellung durch die dargestellten Personen selbst wird erst möglich durch den psychologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, der die ältere rhetorische Seelenund Charakterlehre ablöst. Der verdeckte oder offene Selbstausdruck der meist pathologisch markierten Figuren, der sich auf einen anderen, auf andere bezieht, wird von einer psychologisierenden Rhetorik verwaltet. Hier geht es nicht mehr um Hass, Liebe, Neid, Zorn etc., sondern um Verdecktes, Nicht-Bewusstgewordenes (wie es bei Dostostevskij heißt, neosoznannaja skorb’), das sich in Ersatzsymptomen äußert – falls man hysterische und epileptische Anfälle so interpretieren kann. Diese sind auf Voyeure oder auf Zuhörer, die den Bericht über einen Anfall zur Kenntnis nehmen, angewiesen. Das Lesepublikum bleibt in beiden Fällen dasselbe.

10.6 Bei Dostoevskij aber wird die erste Stufe zur weiteren Eskalierung von Selbstäußerungen genommen, deren Affektpotenzierung in den Romanen erreicht wird.11 Das Diskrete wird hier ständig durch das Indiskrete durchkreuzt (die Indiskretionen fungieren geradezu als Motor der Sujetfügung). Während die Briefpartner in Bednye ljudi sich noch in einem Secretum befinden und ihr jeweiliges Secretum nur den Briefen anvertrauen, die nur einen Leser, eine Leserin haben, werden nunmehr Räume auch anderen zugänglich gemacht oder von anderen okkupiert. Es ist also, wie gesagt, erst eigentlich die Sentimentalisierung der Affekte, die eine Stillage des Intimen ermöglicht, wie es die genannten Genres, Briefroman, Freundschaftsbrief in der Kultivierung einer dialogischen Kommunikation (die Dritte ausschließt) belegen können. Anders das literarische Tagebuch, das – als Selbstgespräch getarnt – auf Angemessenheitsregeln keine Rücksicht nimmt und dem Selbstausdruck von Wünschen, Begierden, dem Bekennen intimer Verfehlungen jede Lizenz einräumt. 11

Dostoevskij greift im Grunde auf eine vor dem Sentimentalismus entwickelte Affektrhetorik zurück, die aber die stilistische Phase des Sentimentalismus durchlaufen hat.

10. Die Rhetorik der Rührung

Hier wird die sanfte Affektstufe verlassen und eine scheinbar unkontrollierte, spontane innere Rede notiert. Auch das Genre der literarischen Beichte lässt sich anführen, das durch den Topos des Authentischen und der Aufrichtigkeit gebunden ist. Aber gerade dieser Topos erweist sich als problematisch. So etwa ließe sich der Umgang Karamzins mit der Aufrichtigkeit, iskrennost’, in seiner Beichte, Ispoved’, interpretieren. Denn ihm geht es in der Parodie des Genres auch um die Inversion des Topos. In Dostoevskijs Zapiski iz podpolja wird das Aufrichtigkeitsthema wieder aufgenommen und mit Seitenblick auf das Moment der sincèreté in Rousseaus Confessions durchexerziert. Aufrichtigkeit im Intimen erweist sich als Heuchelei. (Es scheint, als sei gerade die Rhetorik das Hindernis für die intime Aufrichtigkeit). Dostoevskij entwickelt die Beichte als eine Art Gerichtsrede, in der als Paradoxalist sich stilisierende Schreiber der Zapiski als ein von immenser Hybris getriebener Selbstentblößer und Selbstankläger auftritt, der im Spiel mit der iskrennost’/neiskrennost’ die verbalen Gesten der Selbstentblößung und Selbstanklage zugleich wieder in Frage stellt. Die Wiederaufnahme der Affektäußerungen in ihrer stärkeren Form ist für die großen Romane Dostoevskijs charakteristisch, in denen Annäherung und Distanzierung sich ständig kreuzen, und die Extimität im erwähnten Sinn die Intimität ablöst. Da die wirkungsästhetische Ausrichtung hier konstitutiv ist, lassen sich zwei weitere im Kontext der Affektenlehre diskutierte Begriffe heranziehen, die den Aspekt der persuasiven Kraft noch einmal verdeutlichen: energeia und enargeia. Diese in den rhetorischen Handbüchern häufig kontaminierten Begriffe lassen sich jedoch auf eine Weise differenzieren, dass ersterer »eher die Dynamisierung des Stils durch pathetisch-anschauliche Verlebendigung der Darstellung«, der zweite »eher die sinnliche Evidenz einer detaillierten) Beschreibung bezeichnet«, womit einerseits »affektische«, andererseits »ekphrastische« Figuren verbunden sind (Plett 183).12 Beide Figurenarten erscheinen bei Dostoevskij verstärkt in der Konstruktion der von Seelen-Ekphrasis mit AffektVorführung bestimmten Skandalszenen. Die Grenzen des Sekreten werden in den Skandalszenen spektakulär überschritten. Der häufig für solche Szenen gewählte Raum, der Salon, ist zwar noch kein öffentlicher Raum, aber wie Festsaal oder Räume, in denen Gelage oder Zusammenkünfte stattfinden, Raum einer Fast-Öffentlichkeit oder Raum, den sich die Öffentlichkeit aneignet. Der Salon von Varvara Petrovna Stavrogina ist ein solcher Raum, in den spannungssteigend in kalkulierter Folge immer mehr Personen eindringen, eben so wie der Raum in Idiot, in dem Nastas’ja Filippovna ihren Geburtstag begeht, von Rogozin und seinem Gefolge eingenommen wird. Das, was in den genannten Räumen an Geheimnispreisgabe, Anzüglichkeiten, Provokationen, hysterischen Anfällen stattfindet, kann jederzeit auch die Schwelle nach außen überschreiten. Das ist die Eskalation der Intimitätspublizierung, Intimitätsinflation. Dostoevskij konstruiert Szenen von Annäherung und Zurückweisung, Familiarisierung und Empörung. In Besy, wo die Auftritte von Hysterikerinnen, Epileptikern, Selbstmordverliebten und Extrovertierem erzählt werden, ist diese Nähe-Ferne-

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Die Begriffsgeschichte und Interpretation der Begriffe aus literaturwissenschaftlicher Perspektive – von Aristoteles bis Baumgarten – liefert Torra-Mattenklott (157-196).

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Bewegung konstitutiv für die Sujetfügung. Die Grenzüberschreitungen sind gelegentlich exorbitant. Dostoevskij lässt also Anlässe wie Geburtstage oder Trauerfeiern, Feste, Zusammenkünfte, Gesprächssituationen aus dem Ruder laufen (Lachmann 1990, 254-279). Diese Ambivalentisierung gesellschaftlich normierter Situationen (lässt den Skandal zur strukturellen und semantischen Schaltstelle werden, die die Trennungslinie aufhebt. Neben Handlungen wie Ohrbeißen, Naseziehen, Ohrfeige (Stavrogin), Bewegungen wie Hinstürzen, etwas Kostbares Umstoßen, Stolpern etc. (»ona upala vsem bokom na kreslo«, 195, »sudorožnoe dviženie«, »ona stuknulas’ na kover zatylkom«, 220) setzt Dostoevskij die Sprache der Beleidigung, Enthüllung, Lüge, Anstößigkeit, Anzüglichkeit ein und entwickelt eine Typologie von Redehabitus, die dem normativ kontrollierten verbalen Gestus nicht entsprechen. Dazu gehören skorogovorka, Flüstern, Schreien, Stammeln, »das Reden im Rausch«, v upoenii, »wie wahnsinnig«, bešeno, neistovo, »mit erbleichenden Lippen«, poblednevšimi gubami, in »Verwirrung«, smjatenie, zwischen »Entsetzen und Entzückung«, ispug i vostorg, »in heftiger Exaltation«, v silnejšej ėkzaltacii. Diese verbalen und körperlichen Gesten werden vom Erzähler so vermittelt, dass Wirkungen wie Nähe durch Sympathie, Distanz durch kritische Kommentierung, Zurückweisung oder peinliches Berührtsein entstehen, die als Reaktionen der dargestellten Personen fungieren und zugleich ein lesendes Publikum erreichen. Die Reaktion der Zensur auf das 10. Kapitel von Besy illustriert die vom Text ausgehende, Ablehnung provozierende Wirkung. Im Publikationsverbot wiederholt der Zensor gegenüber Dostoevskij die Einstellung Tichons zu Stavrogin. Des letzteren hemmungslose und zugleich überhebliche Selbstentblößung im Zwiegespräch motiviert den Beichtiger dazu, die vorbereitete Publizierung des Dokuments »schändlicher« Intimität zu verhindern.13 Daneben gibt es bei Dostoevskij die stilleren, weniger spektakulären, intensiven Zweiergespräche über die letzten Dinge: Gott, Tod, Selbstmord – Intimität des Glaubens, der religiösen Überzeugung (Kirillov-Stavrogin). Die von Dostoevskij entwickelte wirkungsästhetisch ausgerichtete Variante literarischer Intimität-Extimität, bzw. deren Rezeptionsgeschichte zeigt, wie die innertextliche Herstellung von Nähe und Distanz im Kontakt zwischen Text und Lesenden wiederholt werden kann. Texte, die sich extensiv einer Rhetorik der beschriebenen Art bedienen, verfügen zweifellos über ein aggressives Potential.14 Gegen den Sog, den der Text ausübt, gegen das Eindringen des Textes in die Gedanken- und Gefühlswelt der Lesenden kann ein kritischer Widerstand mobilisiert werden. Andererseits gibt es eine Leserbereitschaft, Kontakt mit dem Text aufzunehmen, Sich-Einzulesen, sich mit dem Helden und dessen ›Gefühlswelt‹ zu identifizieren. Der Begriff der Empathie gilt für diesen Lesemodus, der kein Antonym entwickelt hat.15 Empathie erscheint als Intimität, die sich Lesende gegenüber Texten erlauben, die sich Extimität erlauben.

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Vgl. Kap.10 Die Texte Vladimir Sorokins stellen hier einen Extremfall dar (Sylvia Sasse 2003). Vielleicht ließe sich Apathie als Antonym verstehen: apathisches Lesen.

10. Die Rhetorik der Rührung

Bibliographie Bachtin, Michail, Problemy poetiki Dostoevskogo, Moskau 1979. Bergmann, Jörg. R., Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion, Berlin, New York 1987. Dockhorn, Klaus, Macht und Wirkung der Rhetorik, Bad Homburg 1968. Hahn, Alois, »Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (34) Opladen 1982, 407-434. Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a.M. 1990 (Kap. »Die karnevaleske Schreibweise. Dostoevskijs Gegenfeste«, 254-279). Lachmann, Renate, Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München1994. Lausberg, Heinrich, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1973. Luckmann, Thomas, »Kulturkreis und Wandel der Intimsphäre«, in: Verlust der Intimität, hg. v. Johannes Schlemmer, München 1976, 42-54. Moos, Peter von, ›Öffentlich‹ und ›privat‹ im Mittelalter. Zu einem Problem der historischen Begriffsbildung, Heidelberg 2004. Plett, Heinrich F., Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance, Tübingen 1975. Sasse, Sylvia, Texte in Aktion, Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München 2003. Torra-Mattenklott, Caroline, Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002.

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11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

Abb. 1: Die Brücke über die Drina in Višegrad

Julian Nitzsche

               

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Abb. 2: Die Brücke über die Neretva in Mostar

Der Bau der beiden Brücken fällt ins 16. Jahrhundert, beide gelten als hervorragende Beispiele der Baukunst des 16. Jahrhunderts. Schöpfer der zwischen 1556 und 1566 errichteten Bogenbrücke über die Neretva ist Mimar (Baumeister) Hajrudin; der Entwurf der zwischen 1571 und 1577/78 auf elf Pfeilern über die Drina erbauten Brücke geht auf Mimar Sinan zurück.1 Die genannten Baumeister wirkten im Auftrag der Hohen Pforte, zu einer Zeit, da eine Verbindung zwischen Orient und Okzident als dringlich erschien. D.h. der Brückenbau galt der Regulierung der politischen Verhältnisse, die sich zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert aus den osmanischen Feldzügen ergeben hatten. Die Eroberung Konstantinopels 1453 und die zehn Jahre später erfolgte Einnahme Bosniens legten die Machtverhältnisse auf dem Balkan auf Jahrhunderte fest. Es ist der nämliche Zeitraum, in dem weitere Ereignisse zu bedeutsamen Veränderungen in diesem Gebiet geführt haben: die Sepharden ließen sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 im osmanischen Herrschaftsbereich nieder (sowohl in Anatolien als auch auf der Balkanhalbinsel, zunächst in Thessaloniki, dann in Sarajevo und kleineren bosnischen Städten), um sich dem dort geltenden Nicht-Muslimen gegenüber toleranten Gesetz zu unterstellen. Bereits im 13 Jahrhundert hatten die Franziskaner begonnen, Klöster zu bauen und den Katholizismus der in Bosnien lebenden Kroaten zu festigen,2 während ein Teil der bosnischen Bevölkerung sich allmählich und zahlenmäßig anwachsend den Glaubensregeln des Islam anpasste.3 Die Zahl der Übertritte zum Islam nahm in der 1

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Sinan gilt als einer der bedeutendsten osmanischen Architekten des 16. Jahrhunderts: er war Schöpfer der Selimiye Moschee in Edirne, der Suleiman Mosche in Istanbul, deren Kuppelstruktur auf die genaue Kenntnis der Hagia Sophia schließen lässt, und wirkte auch als Erbauer mondäner Gebäude (Serails, Bäder). Das erste Franziskanerkloster wurde in Srebrenica, der damals an Silberminen reichen und als Handelsmittelpunkt bekannten Stadt im Osten Bosniens, erbaut. Die Franziskanerprovinz erhielt die Bezeichnung Bosna Argentina, Bosna Srebrena. Die während des Bosnienkrieges (1992-1995) erschienene Geschichte von Noel Malcolm, Bosnia. A Short History (1994) geht auf diese Ereignisse ein und sucht Klärung gerade in Bezug auf die Islamisierungsvorgänge. Die Islamisierung, oft als erzwungene Massenkonversion missverstan-

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

Folge stetig zu, und es entwickelte sich ein ›separiertes Zusammenleben‹ von Christen und Muslimen in den Dörfern und Städten Bosniens, in denen auch die kleinen jüdischen Gemeinden Fuß fassen konnten. Mit der Annexion Bosniens durch Österreich 1878, die das Ende der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan bedeutete, kam es zu einschneidenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen. Auch im Jugoslawien unter Tito hat Bosnien-Herzegowina insofern folgenreiche Änderungen erfahren, als die muslimischen Bosnier zur eigenen Nationalität erklärt wurden. Doch bis zu den Balkankriegen der 90er Jahre war die Koexistenz der Religionsgruppen, wenn auch von Spannungen und Krisen bestimmt, nicht in ihrem Kern gestört. Das Schicksal, das die Brücken heimsuchte, spiegelte diese Ereignisse in zeitlichem Abstand wider. Ein Pfeiler der Brücke über die Drina wurde 1914 beim Abzug des österreichisch-ungarischen Heeres gesprengt, was die Bogenstruktur auseinander riss. Die Zerstörung der Brücke von Mostar, die 1993 von kroatischer Seite erfolgte und die Verbindung zum muslimischen Teil der Bevölkerung jäh unterbrach, wurde nach dem serbischen Granatenbeschuss, dem viele Moscheen und kroatische Städte zum Opfer fielen, als einer der Höhepunkte der militärischen Auseinandersetzungen wahrgenommen. Im Werk zweier Autoren wird der verhängnisvolle Verlauf der Geschichte von Bosnien-Herzegowina verfolgt. In seinem 1945 erschienenen historischen Roman Die Brücke über die Drina erzählt Ivo Andrić von Vorgängen, die zum Attentat von Sarajevo und zum Ausbruch des ersten Weltkriegs geführt haben; letztere haben Unruhen auf dem Balkan ausgelöst und politische Umschwünge herbeigeführt, die zum Desaster der 90er Jahre beigetragen haben. Bogdan Bogdanović publizierte zu Beginn des Balkankriegs architekturhistorische Essays mit brisanten Thesen zu der vor seinen Augen sich vollziehenden Städtezerstörung und verfasste ein Epitaph auf den »Tod« der Brücke von Mostar. Da die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach dem DaytonAbkommen von 1995 nicht wesentlich geklärt worden sind und von einer friedlichen Gelassenheit im Zusammenleben von Bosniaken, Serben und Kroaten in BosnienHerzegowina kaum die Rede sein kann, ist der Blick zurück auf einen historischen Roman und auf mit den Geschehnissen fast zeitgleich entstandene Texte aufschlussreich. Sowohl Andrić als auch Bogdanović vermitteln in ihren erzählerischen einerseits und essayistischen Analysen andererseits ein Verständnis dafür, wie sich in diesem Gebiet nach langsamem Zusammenwachsen Konflikte ergaben, die schließlich zu explosionsartiger Konfrontation und kriegerischer Auseinandersetzung geführt haben. den, spielte für die Abgrenzungsideologie der serbischen von der bosnischen Volksgruppe eine zentrale Rolle. Bosnische Muslime werden von serbischen Christen als Vertürkte (poturice, turčini) bezeichnet, so als seien sie Mitglieder einer anderen Ethnie und Mitschuldige am Untergang des mittelalterlichen Serbiens. Malcolm kann plausibel machen, dass nicht Zwang von türkischer Seite und nicht vornehmlich bestimmte Privilegien (die auch die nicht konvertierten Christen in Anspruch nehmen konnten), sondern dass eher eine gewisse religiöse Ungebundenheit in einem zunächst weder von Rom noch von Byzanz nachhaltig betreuten und kirchlich organisierten Gebiet dazu angetan war, eine Bereitschaft zum Übertritt in den Islam, in eine festere Bindung, zu fördern.

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11.1 In Andrićs knapp vierhundert Jahre schilderndem Roman erscheint die Geschichte Bosniens als in der Stadtgeschichte Višegrads verkörpert so wie diese in der Geschichte der Drina-Brücke.4 Die Brücke steht für die Geschichte, der sie ihre Entstehung verdankt, für die Geschichte, die sie mitgestaltet, ist Opfer der Geschichte, die zu ihrer Versehrung geführt hat. (Abb. 1) Zu Beginn seines Romans stellt Andrić die Brücke in ihrer landschaftlichen Einrahmung und in Wechselwirkung mit ihr dar: An dieser Stelle, wo die Drina mit dem ganzen Gewicht ihrer Wassermassen, grün und schäumend, aus dem scheinbar geschlossenen Massiv der schwarzen und steilen Berge hervorbricht, steht eine große, gleichmäßig geschnittene Brücke aus Stein mit elf gespannten Bögen. Von dieser Brücke aus erstreckt sich fächerförmig, wie von einer Grundlinie aus, das ganze wellige Tal mit der Stadt Višegrad und ihrer Umgebung, mit den in die hügelige Landschaft eingebetteten Weilern, bedeckt von Äckern, Weideflächen und Pflaumengärten, durchzogen von Feldrainen und Zäunen und durchsetzt von Wäldchen und spärlichen Nadelbaumgruppen. So, vom fernen Horizont aus betrachtet scheint es, als ergösse sich aus den breiten Bögen der weißen Brücke nicht nur die grüne Drina, sondern auch diese ganze milde und zahme Gegend mit allem, was auf ihr ist, und mit dem südlichen Himmel über ihr. (7-8)

11.2 In der Überbrückung der Drina, die die Stadt mit Dorf und Hinterland, Bosnien mit Istanbul, Okzident mit Orient verbinden sollte, wurde der Graben zwischen den Glaubensgemeinschaften mit ihren unterschiedenen kulturellen Praktiken sichtbar gemacht und zugleich die Möglichkeit zu dessen Überwindung architektonisch demonstriert. Andrić erzählt, wie erst durch die Planung und den Bau der Brücke das noch weitgehend unreflektierte Neben- und Gegeneinander orientalischer und okzidentaler Lebensformen zum Gegenstand bewusster Reaktionen – Annäherungen und Abgrenzungen – auf den jeweils anderen wird und die Vorstellungen von fremd und eigen fortan bestimmt werden. Denn die Fremdheit zwischen den (nunmehr) zwei Volksgruppen, die derselben Ethnie entstammten, dieselbe Sprache sprachen, ihre Herkunft aus demselben geographischen Raum behaupten konnten, war Folge der Islamisierung, mit der nicht nur eine andere Glaubenstradition, sondern auch andere Alltagsrituale Einzug gehalten haben, die die Konvertierten von den orthodoxen Christen zu trennen begannen. Die Entscheidung zum Brückenbau geht auf Mehmedpaša Sokoli einen hohen osmanischen Würdenträger zurück, dessen Schicksal für die Sphären, die er zu verbinden suchte, typisch war.5 Aus bäuerlich serbischem Milieu, dem Dorf Sokolovići in der Nähe von Višegrad, stammend wurde er als Heranwachsender in der regelmäßig als Blutzoll 4 5

Zitate nach Die Brücke über die Drina. Eine Chronik aus Višegrad, (2015). Die Brücke trägt offiziell den Namen Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke, serbokroatisch Most Mehmed-Paše Sokolovića, türkisch Sokullu Mehmet Pasa Köprüsü.

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

durchgeführten »Knabenlese« nach Anatolien verschleppt, wo er erzogen wurde und eine Karriere begann, die ihn zu einem der höchsten Würdenträger an der Hohen Pforte machte. Als Großwesir und Schwiegersohn des Sultans verfügte er über eine Machtfülle, die ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Er wurde, Opfer einer Intrige, von einem Derwisch ermordet. Der Mehmedpaša ›inkarnierte‹ die beiden Kulturen, Sprachen, Religionen und die Geschichte, die diese in einen zwiespältigen Kontakt brachte. Zu seinen den Balkan verändernden Maßnahmen gehörte zweifellos die Entscheidung zur Erbauung der Drina-Brücke, mit der er den Spalt zwischen Bosnien und Serbien und über Serbien hinaus mit den übrigen Teilen des türkischen Reiches zu schließen versuchte und damit nicht nur eine nostalgische, sondern auch pragmatische Antwort auf historisch entstandene Verhältnisse gab. Die Brücke erscheint somit auch als Vermächtnis eines von einem kulturell gespaltenen Schicksal Geprägten, der in dieser Doppelprägung den Typ eines neuen Menschen auf dem Balkan darstellte.6 Im Tod wurde er gleichsam wieder zurückverwandelt und in sein angestammtes Milieu zurückversetzt: «/er/glich mehr einem alten zu Tode geprügelten Bauern aus Sokolovići als einem gestürzten Würdenträger, der noch bis vor einigen Minuten das Türkische Reich gelenkt hatte.« (96)

11.3 »Es gibt keine zufälligen Bauwerke« (20) heißt es programmatisch im Anfangskapitel des Romans. Der Brückenbau war »zu guter Stunde, an rechter Stelle errichtet und glücklich ausgeführt worden.« In Andrićs Roman wird die Entstehungsgeschichte der von Mimar Sinan entworfenen Brücke als ein langsamer in einzelne Etappen gegliederter Prozess geschildert, der nach Plänen sich vollzog, die der auf beiden Seiten beobachtenden Bevölkerung ebenso ungewohnt, ja rätselhaft waren wie die eingesetzten Gerätschaften, die Materialien und die angewandten architektonischen Techniken. Am Baugeschehen waren Akteure unterschiedlicher Provenienz beteiligt: die osmanischen Befehlshaber, von denen die einen mit äußerster Brutalität, die anderen mit Milde die Ausführung des Wesir-Plans durchzusetzen versuchten; Muslime und Christen (die christliche Rajah) trugen gemeinsam die Last der Fronarbeit; der für die Ausführung des Brückenbaus verantwortliche Architekt, Antonije, war ein aus Griechenland stammender »Vertürkter«; ein einst nach Dalmatien verbrachter Afrikaner, der schwarze »Arapin«, wurde ebenfalls zur Arbeit herangezogen.7 Mit dem Bericht über den Bauverlauf mit seinen

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Aus bosnischem Milieu im Zuge der Knabenlese nach Anatolien verbrachte Knaben konnten als zu Janitscharen Ausgebildete hohe Ränge erwerben und als militärische Befehlshaber in dem Gebiet, aus dem sie ursprünglich stammten, fungiere, so z.B. Michail Konstantinović aus Srebrenica. (Lachmann, 2010). In der Gegend um das dalmatinische Ulcinj trifft man auf Nachkommen der im 16. Jahrhundert ›importierten‹ Schwarzen, die eine gesellschaftlich integrierte, kroatisch sprechende Gruppe darstellen.

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Zwischen- und Unglücksfällen wird das schwierige und zugleich wunderbare Hervortreten der Brückengestalt vor Augen geführt, die künftige Quelle »oft verwickelter und geheimnisvoller Dramen und Geschichten« (20). Die Brücke, ein Werk der Kultur gegenüber einer gewaltigen sie umringenden Natur, verband die Landseite von den Bergen her mit der kasaba, der städtischen Seite, und wurde nicht nur zum Gegenstand der Erzählungen, sondern auch zum Erfahrungsort für die Kinder und Heranwachsenden diesseits und jenseits des Flusses: Sie kennen alle meisterhaft gearbeiteten Rundungen und Vertiefungen wie auch alle Erzählungen und Legenden, die mit der Entstehung und dem Bau der Brücke verknüpft sind, in denen h wundersam und unentwirrbar Phantasie und Wirklichkeit, Wachsein und Traum verflechten. (11) Zur Hervorhebung von Wachsein und Traum, zu der die Brücke anregte, trat ihre genaue Beschreibung, eine architektonische Ekphrasis, in welcher der Erzähler alle architektonischen Elemente zu erfassen suchte, die für die Verständigung über die Brücke und für das einvernehmliche Leben mit und auf ihr wesentlich waren: Die Brücke ist etwa zweihundertfünfzig Schritte lang, und rund zehn Schritte breit, außer in der Mitte, wo sie sich zu zwei völlig gleichen Balkonen, zu beiden Seiten der Fahrbahn erweitert und so doppelte Breite erhält. Dieser Teil der Brücke heißt Kapija. Dort sind nämlich auf dem mittleren Pfeiler, der sich nach oben verbreitert, auf beiden Seiten Vorsprünge angebracht, so dass auf diesem Pfeiler, links und rechts der Fahrbahn, je ein Balkon ruht, kühn und harmonisch aus der Gradlinigkeit der Brücke hinausgeschoben in den Raum über dem brausenden, grünen Wasser in der Tiefe. Die Balkone sind etwa fünf Schritte lang und ebenso breit, umschlossen von einer steinernen Brüstung, wie auch die ganze Brücke in ihrer Länge, aber sonst offen und ohne Dach. Der rechte Balkon, wenn man aus der Stadt kommt, heißt das Sofa. Er ist um zwei Stufen angehoben und von Sitzbänken eingefasst, denen die Brüstung als Lehne dient. Stufen, Sitze und Brüstung sind aus dem gleichen hellen Stein, wie aus einem Guss. Der linke Balkon, gegenüber dem Sofa, ist genauso, nur leer und ohne Sitze. In der Mitte seiner Brüstung erhebt sich eine Mauer bis über Manneshöhe; darin ist in ihrem oberen Teil eine Platte aus weißem Marmor eingelassen und darauf eine reiche türkische Inschrift – ein Tarih – mit einem Chronogramm eingraviert, die in dreizehn Versen den Namen dessen nennt, der die Brücke erbaute, und das Jahr, in dem sie erbaut wurde. Aus dem unteren Teil der Mauer fließt ein Brunnen: ein dünner Wasserstrahl aus dem Maul eines steinernen Drachen. Auf diesem Balkon hat sich der Kaffeeverkäufer mit seinen Kupferkännchen, Kaffeeschälchen, einem immer glühenden Kohlebecken und einem Jungen niedergelassen, der den Gästen auf dem Sofa gegenüber den Kaffee bringt. Das ist die Kapija. (9-10).

11.4 Die Drina, um deren Entschärfung als Grenzfluss und Trennlinie es in der Überbrückung des Wassers ging, tritt nach der zitierten Anfangsbeschreibung als Natur gegen-

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

über der Architektur zurück. Der Fluss wird nur dann erwähnt, wenn er sich als Gewalt, als Beunruhigung kundtut. Überschwemmungen werden als periodisch wiederkehrende Heimsuchungen erlebt, wenn die zu beiden Seiten des plötzlich ausbrechenden Flusses gelegenen Häuser zu Schaden kommen. Überschwemmung (poplava) spielt in den Erzählungen durchaus eine Rolle – vor allem als ein immer wieder zu erinnerndes Ereignis –, aber deren zentraler Gegenstand bleibt die Brücke. Andrić setzt einen dies vermittelnden Erzähler ein, der die mit dem Bau der Brücke und ihrer vielfältigen Auslegung verbundenen Erzählungen nach-und wiedererzählt und die narrativen Genres verlebendigt, in denen die Dramen und Geschichten erste Gestalt gefunden haben: das Heldenlied, die Liebesballade, die volkstümliche Chronistik. Der Erzähler verfügt über die unterschiedlichen Stimmen, die den Erzähltraditionen gerecht werden, die für den Raum, den die Brücke beherrscht, bestimmend sind. Doch ist der Erzähler nicht nur Vermittler oder Medium, sondern auch Beobachter und Kommentator der Erzählstile und der in den benachbarten und doch unterschiedlichen Milieus üblichen Erzählvorgänge. Er führt eine im Erzählen entstehende und sich im Erzählen bewahrende Welt vor, deren Sprache ein Vokabular privilegiert, das Verben für erzählen, berichten, Gerüchte weitergeben, munkeln, scherzen, raunen bereithält, die sich mit denen für erinnern, im Gedächtnis behalten, treffen und verbinden. In einer Art narratologischen Analyse gelingt dem Erzähler auch, die Erzählgewohnheiten zu charakterisieren, die überlieferte und aktuelle mit dem Brückengeschehen verbundene Themen zum Gegenstand haben. Die Lust am Erzählen hält die Menschen von den beiden Seiten des Flusses, die sich auf der Brücke begegnen, zusammen, eine hedonistische Beschäftigung, in der Legenden und konkrete Erfahrung sich berühren. Das »Vergnügen (die Lust) des Erzählens« heißt es im Text (prijatnost od pričanja). Die Brücke ist Ort der Geschehnisse und zugleich Ort, an dem sie in eine erzählerische Form transformiert werden, an der die christliche ebenso wie die muslimische Seite, aber auch die sephardischen und nach Einzug der Österreicher die aschkenasischen Juden Anteil haben. Nachdrücklich wird auf die Verflechtung des Schicksals der Brücke mit dem der Menschen verwiesen, die ihrer Entstehung beiwohnen, um sie hernach in Besitz zu nehmen und zum unverzichtbaren Bestandteil ihres Lebens zu machen: Ihre Geschicke sind so miteinander verflochten, dass sie sich getrennt nicht vorstellen lassen und nicht ausgedrückt werden können. Daher ist die Erzählung vom Werden und Geschick der Brücke gleichzeitig auch eine Erzählung vom Leben der Stadt und ihrer Menschen, von Generation zu Generation, ebenso wie sich durch alle Erzählungen über die Stadt die Linie der steinernen Brücke hindurchzieht, der Brücke auf elf Bögen, mit der Kapija als Krone in der Mitte. (21) Im Gewebe der Erzählwelt erscheint die Brücke als Chronotop, der ihren unsteten Parametern ihre je andere Raum- und Zeit-Gestalt verleiht. Und dies hat Konsequenzen für die narrative Rhetorik, in deren dispositio kurze, und das heißt schnelle, zeitraffende, Passagen, neben ausholenden, detailorientierten, langsamen stehen. Beide, brevitas und amplificatio, fungieren im Dienst einer ordnende Pointen setzenden Bewältigung einer gewaltigen, gleichsam aufgestauten Stoffmasse. Für die sich der historiographischen Erfassung entziehenden ›Vergangenheiten‹ setzt Andrić die erwähnten Genres ein.

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Die Geschichte des Mädchens, das sich von der Brücke in die Flut der Drina stürzt, weil sie sich einem ihr nicht ebenbürtigen Mann von der andern Seite der Brücke nicht antrauen lassen will, rekapituliert Elemente der volksliedartigen Ballade. Anders die Schilderung der oben erwähnten Knabenlese, des die bestehende christlich-serbische Ordnung in regelmäßigen Abständen aufstörenden Ereignisses, das hier die Jahreszahl 1516 trägt. In der Schilderung des Schrecken verbreitenden Einzugs der osmanischen Soldaten auf der Suche nach für den Janitscharendienst geeigneten männlichen Kindern und des vom Wehklagen der Mütter begleiteten gewaltsamen Fortführens ihrer Söhne in eine ferne Fremde sind Elemente der mündlichen Volksüberlieferung enthalten, wie sie für das betroffene Milieu Geltung erlangt haben. (Lachmann 2010) Zur volkstümlichen Erzählüberlieferung gehören auch die Mythen, in erster Linie die das Brückenschicksal betreffenden. Die aus Stein errichtete Brücke hat ein (statisch bedingtes) verborgenes Inneres, eine Höhlung, die mythischer Füllung bedarf. Gerade das den Blicken Entzogene wird zum raunenden Speicher von Volksmythen. Der Erzähler schildert in der Geschichte vom »Arapin«, der bei der Brückenarbeit einem Unfall zum Opfer fällt, die nahe Berührung des dereinst nach Dalmatien verbrachten Afrikaners mit den Muslimen, die den oberen Teil seines zerspaltenen Körpers feierlich zu Grabe tragen, während der untere vom Steinblock festgehalten wird, der auf den Brückenpfeiler herabgesenkt wurde. Für das Grabmal, das Meister Antonije ihm errichten lässt, verwendet man den nämlichen weißen Stein, aus dem die Brücke gefertigt wird. Zum Brückenbau gehört die Gründungslegende von der Einmauerung eines Lebendigen, das dem Gelingen des Werks dargebracht werden muss. Der gespaltene »Arapin« ist ein Teil davon. Eine andere Variante, der eine psychologisierende Lesart unterlegt wird, erzählt von der ihre toten Zwillinge suchenden wahnsinnigen Mutter, die den Einmauerungsmythos ›realisiert‹, indem sie die in einer dunklen Nische der Brücke imaginierten Kinder nährt. – Aber die Kraft der Legende wirkt auch in der unbeschwerten Phantasie des Volkes, d.h. in der der Kinder weiter, die das Geheimnis eines verborgenen Eingemauerten bewahrt.

11.5 Andrić schafft, wie oben angedeutet, einen Erzählfluss, in dem die Brückengeschichten langsam, fast gemächlich erzählt werden, der jedoch in kalkulierten Abständen von knappen, auf Pointen zielenden Passagen skandiert wird. So etwa die Schockeffekte einsetzende Schilderung der Exekution des Brückengegners und Saboteurs Radisav, die letztlich die Rekonstruktion einer mündlichen Überlieferung ist, in der der Name Radisav für einen mythisch gewordenen Helden steht. Dessen Nennung appelliert an die in diesem Raum gewachsene epische Gemeinschaft. Die präzise Nacherzählung der Grausamkeitsprozedur stellt die Folterung des nach raffiniertem Versteckspiel gefangenen Schädlings, der die am Tage dem Brückenwerk gezollte Fronarbeit nächtens zunichte gemacht hat, beklemmend vor Augen: die innere Organe schonende und damit qualverlängernde Durchbohrung des Leibes, die Aufrichtung des Pfahls mit dem noch Lebenden. Es wird berichtet, wie die Schaulustigen im hoch auf der Brücke und

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

weithin sichtbar aufgestellten Holz, das der »cigan« Merdžan8  – kunstvoll die Anweisungen befolgend – durch den Körper getrieben hat, Kreuzessymbolik und Christusallusion erkennen wollen, und dass Radisav durch jene, die sich ergriffen bekreuzigen, für alle (Brücken-)Zeit zum Märtyrerheiligen erhoben wird. In dieser Episode ist unschwer der den Brückenbau betreffende Grundkonflikt zu erkennen, der in der Bipolarität von zwei Erzähltraditionen zum Ausdruck gelangt. Denn die Geschichte von Radisav, dem serbisch-mythisch überhöhten Helden, der den Brückenbau hintertreibt, hat eine Gegengeschichte, die der muslimisch orientierten Erzähltradition angehört, die ihre Gegenhelden hat. Parallelismen zwischen den beiden Versionen der epischen Tradition, besonders was die Helden angeht, sind unüberlesbar. Diese doppelt besetzte epische Überlieferung lässt die Gegenläufigkeit oder Konfrontation als Komplementarität verstehen. Der Held der Gegengeschichte, Šeh-Turhanija, versucht, den Übergang über die Brücke zu den Ungläubigen mit allen Mitteln zu verhindern. Beide Helden sind von dem nämlichen Motiv Getriebene. Beide sind Puristen und Vermischungsgegner, Inkarnationen des schwelenden, aber immer wieder beschwichtigten Konflikts. Der Erzähler vermerkt zum antagonistischen Wechselverhältnis von Christen und Muslimen: In diesem großen und seltsamen Kampf, der in Bosnien jahrhundertelang zwischen den beiden Religionen und, unter dem Deckmantel der Religion, um das Land, die Macht und die eigene Lebensauffassung und Weltordnung geführt wurde, hatten die Gegner einander nicht nur die Frauen, Pferde, und Waffen, sondern auch die Lieder abgenommen. Und mancher Vers ging auf diese Art wie eine wertvolle Beute vom einen zum andern über. (123) Gerade eine Passage dieser Art, die im wechselseitigen Beutemachen die Kostbarkeit der Lieder-Beute betont, lässt Vorgänge der Berührung, der wechselseitigen Anziehung und Amalgamierung hervortreten, die jene der Abstoßung und Abgrenzung zu überdecken scheinen. Als ein für alle Gruppen geltendes Kollektivsymbol, das deren Verneiner ausschließt, verhilft die Brücke zu einem Selbstverständnis, das auch die Normen des Umgangs miteinander prägt. Es sind die christlichen, muslimischen und jüdischen Würdenträger, die die Normen repräsentieren und eine pragmatische Übereinkunft herstellen. Es entsteht eine die Brücke betreffende Topik, sich verfestigende Redewendungen bilden sich heraus, bestimmte Argumente Aussehen und Alter des Bauwerks betreffend werden in den Gesprächen verlautbart. Die Brücke behält auch dann diesen affirmativen Status, wenn radikale, die Stadt und ihre Umgebung betreffende Kontroversen ausbrechen und der sens commun diesbezüglich auseinander bricht. Andrićs Chronist entwickelt, notierend-erzählend und von Episode zu Episode weiter schreitend, das Bild wachsenden symbolischen Potentials, in dem die Vergangenheit erhalten ist und die Gegenwart abrufbar wird. Es ist ein erinnerndes Erzählen, das nicht nur Thema, sondern die dominierende semantische Struktur des Textes ist. In der manifesten Narration werden die sedimentierten Schichten des Erzählmassivs in lebendige Rede transformiert. 8

In Andrićs Roman erscheinen die als »cigani« (Zigeuner) Bezeichneten als »Exzentriker«, als keiner der genannten Gruppen Zugehörige.

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11.6 Das Erzählen, das sich als erinnerndes Vergegenwärtigen von bereits Erzähltem erweist, denn alles, was als Geschehnis erzählt wird, ist ein schon Erzähltes und vielfach Erinnertes, nähert die Religionsgruppen einander an, ja schafft so etwas wie eine Gruppenidentität. Die Geschichten werden aus den Häusern auf die Brücke getragen und von der Brücke in die Häuser. Das Bauwerk bietet einen Raum des Austauschs, der das Verweilen erlaubt und des Verweilens, ja des Aufenthalts auf ihr bedarf, aber auch als Ort der Passagen und des jähen Wechsels. Das Interesse des Erzählers gilt den Akteuren auf der Brücke, die ihre Differenzen ausagieren oder ihre ›In-Differenzen‹ vorführen: durch Kaffeetrinken, Rauchen, Erzählen und gemeinsames Sprechen über dieselben alle Gruppen gleichermaßen betreffenden Themen. Aber es geht hier – und das macht die Andrić’sche Brückensymbolik deutlich – nicht um die Darstellung einer ›Multikultur‹, sondern um die Beschreibung eines eigen gearteten kulturellen Raums, dessen Vielgestaltigkeit aus einer Jahrhunderte zusammenbindenden historischen Konstellation hervorgegangen ist. Es ist (war) eine Vielheit, die die Erfahrung der Spaltungen ebenso gespeichert hat wie diejenige sympathetischer gegenseitiger Duldung. Als Kenner der historischen Quellen, entwirft Andrić kein Bild ungetrübter idyllischer Koexistenz, vielmehr lässt er die Religionsgruppen in Abkehr von und Berührung mit dem Anderen in Erscheinung treten: der Hodscha – der Pope; der muslimische Landbesitzer – der jüdische Händler. Neben das erinnernde Erzählen, das einvernehmliche Verweilen treten die immer neu zu beurteilenden Ereignisse, die der Brücke ihr konkretes historisches Gesicht verleihen. Auf der Brücke wird Gericht gehalten, werden Urteile gefällt und Exekutionen durchgeführt, kommt es zu schicksalhaften Vorkommnissen, die die Brücken-Bewohner in Erstaunen und Verwirrung versetzen. Gerade die Vollstreckung von Todesurteilen, deren Augenzeugen sie sind, veranlasst dazu, Wandel und Veränderung zur Kenntnis zu nehmen. Die Schaulust wird durch Henker-Opferszenen befriedigt. Diese haben ihre eigene Stilgeschichte, die das Geschehen auf dem Richtplatz durch Varietät der Folterinstrumente und Hinrichtungszeremonien prägt. Der serbische Aufstand (pobuna), der wie eine Naturgewalt, der Überschwemmung (poplava) vergleichbar, die Stadt (in zeitlichen Abständen immer wieder aufflammend) bedrohte, wurde vom türkischen Militär blutig niedergeschlagen. Verdächtige oder Schuldige wurden ergriffen und auf die Kapija gebracht. Dort wurden ihnen die hitzigen oder auch einfach unglücklichen Köpfe abgeschlagen und auf Pfähle gespießt, die man um das Blockhaus aufgestellt hatte, während ihre Leichen von der Brücke in die Drina geworfen wurden, wenn sich niemand fand, um die enthauptete Leiche abzukaufen und zu bestatten. (127) Die Brücke als Richtplatz wird nach Exekutionen von Muslimen und Christen für einige Zeit gemieden. Nach Szenen brutalen Geschehens gelingen Passagen, die den der Brücke-Idyllik geltenden euphorischen Tonfall wieder aufnehmen: Nie konnte man die wunderbaren, außergewöhnlichen Schönheiten der Kapija besser empfinden als an solchen Sommertagen, zu dieser Stunde. Man saß dort wie auf einer

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

Zauberschaukel: gleichzeitig geht man auf der Erde, schwamm auf dem Wasser, flog durch den Raum und war dennoch fest und sicher verbunden mit der Stadt und seinem weißen Häuschen, dort am Ufer mit seinem Garten und den Pflaumenbäumen ringsum. (136)

11.7 Andrić geht es bei der Wiedergabe genregebundener Rede auch um deren sprachliche Gestalt, die sich entsprechend der Berührungs- und Mischungsszenerie entwickelt hat. Im Vordergrund der Fremdbeimischung stehen die Turzismen, denen er am Ende seines Romans (was auch die deutsche Übersetzung übernommen hat) ein Glossar widmet. Andrićs Interesse gilt dem merkwürdigen Einschmelzungsprozess von türkischen Ausdrücken. Bereits im Werktitel taucht ein aus dem Türkischen entlehntes und assimiliertes Wort auf, das Brücke bedeutet: Na Drini ćuprija. Die Bezeichnung ćuprija von türkisch köprü, erhält im laufenden Text auch sein serbisches und kroatisches Äquivalent most. Zwei aus sehr unterschiedlichen Sprachmilieus stammende Ausdrücke stehen für die Brücke und repräsentieren Doppelung und Parallelität. Auch die Sänger serbischer Heldenlieder haben Turzismen aufgenommen. Das von Turzismen durchwirkte Idiom hat, was Religion, Riten und bestimmte abstrakte Begriffe (häufig mit Verwaltungsfragen verbunden), bei den Kindern für Spiele und für ganze davon geprägte Redewendungen insbesondere die Redegewohnheit der zum Islam Übergetretenen erfasst, aber auch die orthodoxen Serben und die alteingesessenen Juden, die Sepharden, haben an diesem exotischen Vokabular Anteil. Die Bedeutung der Turzismen für die Gesprächsführung der Sepharden wird pointiert in der Wechselrede zwischen Santo Papo, einem der reichsten und Mächtigsten Juden der Stadt, und Ibro Čemalović, einem muslimischen Bauern aus, vorgeführt, die einem zwischen Rechnungsteller und Schuldner üblichen Brauch zu folgen scheint, wonach die eigentliche Sache nicht erwähnt wird. In dieser sprachlichen Konstellation spielt auch das Ladino über die Generationen hinweg eine konstitutive Rolle, das die sephardischen Juden zusammen mit ihrer spanischen Vorgeschichte und ihrer biblischen Erzähltradition9 nach Bosnien gebracht und neben dem erworbenen südslawischen Idiom ihrer neuen Heimat bewahrt haben.10. Am Sabbath pflegen sie »in Festtagskleidung an der Drina zu spazieren, meist aber saßen sie auf der Kapija und führten laute und lebhafte Gespräche in altspanischer Sprache, wobei sie nur die Kraftausdrücke auf Serbisch aussprachen.« (205) Das Jiddisch der askenasischen Juden wird nicht eigens vorgestellt, gleichwohl erfährt man von der Mühe der aus Mittel- und Osteuropa Hinzugekommenen, sich die Sprache der neuen Umgebung anzueignen, einige haben sie nie erlernt. Mit der Schilderung des Einzugs der Österreicher in die Kasaba (assimilierter Turzismus für Stadt) tritt an die Stelle des genregebundenen Erzählens die Bericht-

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Die aus Spanien mitgeführte sog. Haggadah von Sarajevo (die vor der Zerstörung der Bibliothek 1992 in Sicherheit gebracht werden konnte, repräsentiert diese Tradition. Zur Aufnahme der Sephardim nach ihrer Vertreibung aus Spanien in Bosnien und die ihnen von osmanischer Seite gewährten Privilegien vgl. Malcolm, 1994, 107-119.

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erstattung über historische Vorgänge und deren Interpretation. Mitteilungen über Szenen der Konfrontation zwischen der bosnischen und der von der fremden Militärmacht gebrachten Kultur erhalten eine leicht ironische Färbung: So etwa die Szene des unspektakulären, unzeremoniösen, ja harmlosen, dafür aber unfreundlich-kalten Auftritts der Annektierer in Gestalt eines verbissenen österreichischen Offiziers in unschöner Uniform, dem die lokalen Würdenträger, der Pope Nikola, der Hodscha Mula Ibrahim, der Muderis Husein-efendija – Leiter der muslimischen Schule und Višegrader Stadtschreiber in einem- und der Rabbiner David Levi, enttäuscht und erleichtert zugleich, auf der Brücke entgegentreten, wo sie knappe Anweisungen entgegennehmen. Die umfangreiche das Brückenvolk begrüßende und zur aktiven Unterstützung der Monarchie aufrufende, Erleichterungen und Änderungen ankündigende Proklamation (Proglas) Kaiser Franz Josephs wird mit Befremden zur Kenntnis genommen, abgerissen und in die Drina geworfen. An der unmittelbar unter der Gründungstafel angebrachten Mitteilung von der Ermordung des Erzherzogs ziehen die Brückenüberquerer ohne Anteilnahme vorbei. Erzählt wird von der Enthauptung der im Zusammenhang mit dem Attentat auf den Thronfolger verdächtigten (allerdings vermutlich harmlosen, wie der Erzähler suggeriert) Serben, die auf dem Marktplatz, neben der Brücke von den Österreichern vollzogen wird. Die Brücke, ist aber nicht nur Richtplatz, sondern wird Gegenstand von Reparatur und Umbau. Der Erzähler berichtet vom Verlegen einer Wasserleitung und von Elektrifizierung. Die Brücke wird zum Markierungsfeld, auf dem die architektonischen Herrschaftszeichen einander abwechseln. Doch jedes Zeichen, das die ›ursprüngliche‹ Gestalt, die eine Idealgestalt ist, verändert, verübt einen Anschlag auf ihre zeitlose Schönheit.

11.8 Mit der Annexion Bosniens durch die Österreicher hielten neue Werte Einzug, die alle in Bosnien an einer Mischkultur Partizipierenden betrafen. Im Vordergrund stand dabei die Ahnung einer neuen Bedrohung, die die gelebte Doppelheit oder Vielheit und das diesen Raum verbindende gemeinsame Gedächtnis heimzusuchen begann. Bislang unbekannte Antagonismen entstanden, wie der zwischen alt und neu, Bewahrung und Fortschritt (der Bau der Eisenbahn, die Einführung moderner Geldwirtschaft). Die Österreicher traten mit gänzlich neuen, unbekannten Ordnungsvorschriften auf, griffen in die Verwaltung ein, führten einen anderen Lebensrhythmus ein, repräsentierten ein Moment, dessen Fremdheit für diesen Bereich, der eine andere Fremdheit in langem Zusammenleben sich zu eigen gemacht hat, schwer assimilierbar schien. Die »süße Stille der türkischen Zeiten« (296) wurde durch Aktivitäten unterschiedlichster Art abgelöst, zugleich aber brach eine, auch Prosperität ermöglichende, Periode an, die jedoch nicht von Dauer war. Nach dem Abzug der österreichischen Soldaten wurde das besetzte Gebiet Heimstatt für aus der k.-u.-k.-Monarchie übersiedelte Beamte, Bedienstete, Handwerker und deren Familien. Tschechen, Polen, Kroaten, Ungarn und Deutschen zogen ein. Die Brücke nahm neue Besucher auf, unter denen nunmehr, zunächst als Skandal empfunden, Frauen auftauchten, die sich ungeniert darauf aufhielten. Die Brücke war bislang

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eine Männerbrücke, Frauen, muslimische und christliche, passierten sie lediglich, und Bäuerinnen durften darauf ihre Waren feilbieten. Anderes aber tangierte die Brücke in ihrer historisch gewachsenen Rolle weit mehr: die Eisenbahnverbindung mit Sarajevo, die den Verkehr mit dem Westen außer Acht ließ, und die Verschiebung der türkischen Grenze bis weit in den Osten, isolierten Višegrad und entzogen der Brücke ihr ursprüngliche Aufgabe: Die große steinerne Brücke die nach dem Plan und frommen Ratschluss des Wesirs aus Sokolovići als eines der Kettenglieder des Reiches die beiden Teile des Territoriums hatte verbinden und ›für die Liebe Gottes‹ den Übergang vom Westen in den Osten und umgekehrt hatte erleichtern sollen, war nun wirklich von Ost und West gleichermaßen abgeschnitten und wie ein gestrandetes Schiff oder eine verödete heilige Stätte sich selbst überlassen. (344) Nach dem Verlust ihrer Funktion, zwischen Orient und Okzident zu vermitteln, wurde die Brücke zum Austragungsort von Konflikten, die aus der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation sich aufdrängten, womit eine gänzlich neue Art der Kommunikation das Leben auf ihr prägte. Die Erzählungen und Scherze, wie sie – so der Erzähler – besonders in Krisensituationen aufgeblüht waren, oft mit beschwichtigender Absicht und die ängstigenden Beschwerden der Realität überdeckend, verstummten. Das Erzählen selbst war als Form der Verständigung – und der Unterhaltung – erschöpft. Das Ende des Erzählens kündigte sich szenisch durch die Dialogduelle an, die auf der Brücke von einer neuen Generation vor dem Hintergrund der österreichischen Annexion ausgetragen wurden. Kontroverse Vorstellungen von Machtverhältnissen, Sozialstruktur, nationaler Identität zerstörten die tradierten Erzählfolien. Die Geschichtenerzähler wurden von den Debattierenden abgelöst, die ein Gesprächsklima der Unruhe, der Anspannung schufen. Es waren die mündig gewordenen Jugendlichen, die die Sprache der Argumentation, die Stilistik der Pointe beherrschten, und denen es nicht mehr um Einvernehmlichkeit, sondern um Auseinandersetzung ging. Sie machten die Brücke zum Forum, auf dem das zukünftige Schicksal Bosniens und Serbiens Gegenstand war. Andrić geht es um die Vielstimmigkeit der Streitgespräche, an denen die studierten und unstudierten Intellektuellen, serbischer, bosnischer, jüdischer und österreichischer Provenienz beteiligt sind. Die Jugend, nunmehr weniger durch Glaubensgruppenzugehörigkeit als durch Bildung gesondert, übernimmt von der Brücke aus – die Ort der Begegnung bleibt – die Aufgabe der Zeitkritik. Die an den Universitäten der k.-u.-k.Monarchie ausgebildeten Mediziner, Juristen, Naturwissenschaftler kennen nicht nur die brennenden Fragen der Tagespolitik, sondern beziehen dezidierte, zukünftige Entwicklungen im Blick behaltende Positionen. Man weiß von der Parteienbildung in Sarajevo, es sind muslimische und serbische Glaubensparteien einerseits- und Nationalitätsparteien andererseits, denen nationalistisch-serbische und internationalistischmarxistische oder konservative Argumente gelten. Die Parteienbildung spiegelt die unaufhaltsam fortschreitende und sich verschärfende Aufteilung der Gemeinschaft, ihre Spaltung in zwei Gruppen, die in Višegrad die Häuser voneinander trennt. Und dennoch:

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Alles schien wie ein erregendes und neues Spiel auf dieser uralten Brücke, die im Mondschein der Julinächte weiß glänzte, sauber, jung und unveränderlich, vollendet schön und stark, stärker denn alles, was die Zeit bringen und die Menschen erdenken und tun können. (325) Doch das Spiel endete ungut. Der Krieg hatte begonnen und Stadt und Brücke hineingezogen. Gefährdung ging für sie sowohl von serbischer wie von österreichischer Seite aus. Eine serbische Gebirgsbatterie setzte die Brücke stunden- ja tagelangem Beschuss aus, dem sie standhielt. Wie verurteilt, aber im Wesen noch immer unberührt und unversehrt, stand die Brücke zwischen zwei kriegführenden Welten. (470) Das letzte Kapitel ist dem Untergang der Brücke gewidmet. Das österreichisch-ungarische Militär obsiegte; die an geheimer Stelle in einem der Pfeiler versteckte Sprengladung wurde gezündet. Es folgte die Sprengung des siebten Brückenpfeilers, eine Lücke zwischen dem sechsten und dem achten Pfeiler tat sich auf. Das Ende der Brücke wird aus der Perspektive des muslimischen BrückenEnthusiasten und Bewahrers ihrer Unversehrtheit, des Alihodža, geschildert: Dort unten war auch die zerstörte Brücke, furchtbar und grausam in der Mitte zerschnitten. Er brauchte sich nicht umzuwenden – und er hätte sich auch um nichts in der Welt umgedreht –, um das ganze Bild zu sehen; der Pfeiler, wie ein gewaltiger Baumstumpf, glatt abgeschnitten und in tausend Trümmern über die Umgebung verstreut, die Bögen links und rechts des Pfeilers jäh unterbrochen. Zwischen ihnen gähnte eine Leere von etwa fünfzehn Metern. Und die abgebrochenen Seiten der getrennten Bögen strebten schmerzlich zueinander. (478) In erlebter Rede folgt die Brückenmeditation Alihodžas, in der das kulturelle Selbstverständnis stellvertretend für den gesamten Raum enthalten ist und dessen Ende vorausgesagt wird: So viele Jahre hatte er mitangesehen, wie sie sich dauernd an der Brücke zu schaffen gemacht hatten lassen: sie hatten sie gepflegt, gereinigt, die Fundamente ausgebessert, die Wasserleitung verlegt, elektrisches Licht auf ihr angebracht, und dann hatten sie sie eines Tages in die Luft gesprengt, als wäre sie ein Fels in den Bergen und kein Vermächtnis, keine Stiftung und keine Schönheit. Jetzt sah man, wer sie waren und worauf sie ausgingen. Er hatte das schon immer gewusst, aber jetzt, jetzt konnte es auch der letzte Narr sehen. An das Festeste und Dauerhafteste hatten sie gerührt und von dem genommen, was Gottes war. Und wer wusste, wo das noch enden würde. Nun hatte auch die Brücke Wesirs begonnen, wie eine Perlenkette zu zerreißen, und wenn es einmal begonnen hatte, konnte niemand mehr Einhalt tun. (479) Die diesen Abschnitt prägende Melancholie erwächst aus dem Wissen um den unaufhaltsamen Zusammenbruch des kulturellen Raums als Gedächtnisraums und aus der Ahnung, dass seine Erschütterung sich erzählender Beschwichtigung entzieht. Und doch hatte sich über weite Strecken der Brücken-Biographie das Erzählen als Therapeuticum bewährt.

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

Die Sprengung der Brücke hatte auch den auf ihr Debattierenden den Ort entzogen. Der Dissens allerdings, was in Ansätzen berichtet wird, hatte sich verschärft, der Antagonismus war in Gewaltbereitschaft umgeschlagen.

11.9 Der Dissens scheint auch die Rezeption des Romans und damit die Beurteilung des Autors zu bestimmen. Dies gilt für die Rezeption aus ›jugoslawischer‹ Zeit einerseits, die im Autor den einstigen Aufständischen feiert, und für den in den 90er Jahren gegen ihn erhobenen Vorwurf, die islamische Welt und das türkische Erbe Bosniens verachtend beschrieben zu haben, andererseits. Der Vorwurf verdichtete sich zu einer wütenden Reaktion, die zur Demontage seiner Büste führte, die neben denen berühmter Bosnier einen Gedächtnisplatz in Sarajevo beanspruchen durfte. Andrić hat in seinem Roman vermieden, Partei zu ergreifen, vielmehr hat er mit derselben Tristesse alle religiös gebundenen und ethnisch unterschiedenen Gruppen in seine Untergangsprognose einbezogen. Und es ist ihm meisterhaft gelungen, die bosnische Welt in ihrer eigenen im Erzählen sich manifestierenden Sprachgestalt zu erfassen. Die Büste ist inzwischen wieder remontiert worden – was nicht zuletzt auf Eingaben gemäßigter Bosnier zurückzuführen ist. Die Drina (lateinisch Drinus), historischer Grenzfluss zwischen dem oströmischen und dem weströmischen Reich, zwischen Orthodoxie und Katholizismus und seit dem 15. Jahrhundert zwischen Bosniaken und Serben ist nach vierhundert Jahre währender Überbrückung im Bosnienkrieg wieder zu einem Wasserweg der Spaltung geworden: Bosnien-Herzegowina mit seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung liegt links, das orthodoxe Serbien rechts der Drina. Über die bosnisch-serbischen Kriegshandlungen, über die sich an diesem Fluss ereignenden Massaker, denen zahlreiche Muslime aus und um Višegrad zum Opfer fielen, hat der in Deutschland lebende Višegrader Saša Stanišić einen karnevalesk-düsteren Roman verfasst, in dem er Andrić als Reiter über den Fluss auftreten lässt.11 Die Brücke ist nach der von Andrić geschilderten Pfeilersprengung von 1914 und nach den Schäden im zweiten Weltkrieg wieder hergestellt worden. 2007 erfolgte die Aufnahme in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO.

11.10 Titos Jugoslawien hat Andrić bis 1975 miterlebt. An einer Diskussion zur Frage, was das ›Bosnische‹ sei, das viele Intellektuelle zu jener Zeit, verstärkt aber nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens, als sich der Sonderstatus Bosniens herausbildete, beschäftigte, hat er sich nicht beteiligt. Versuche der Selbstbeschreibung und Selbstbestimmung, wie sie noch vor den Ereignissen der 90er Jahre unternommen wurden, griffen auf Konzep-

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Wie der Soldat das Grammofon repariert, München 2006.

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te wie Vermischung, Poly-oder Plurikulturalismus und Symbiose zurück. Andrić hätte sie nicht zu den seinen gemacht, wohl aber die Skepsis, die ihnen in der Folge galten. Anders Bogdan Bogdanović, der Architekturtheoretiker, Urbanismusphilosoph, der diese Konzepte nachgerade überhöhend interpretiert zu einer Zeit, da er ihr völliges Zunichtewerden beschreiben musste12. Zusammenleben im urbanen Raum ist durch die von serbischer Seite erfolgte Verheerung der Städte gestört, ja, wie er konstatiert, unmöglich geworden. Sein Versuch, das Zerstörungsgeschehen zu verstehen, geht von einer Idealvorstellung des Urbanen aus, die nicht nur die Duldung des Heterogenen, sondern dessen Pflege meint. Bogdanović, der sich in einigen Arbeiten mit der Geschichte der Städtegenese, der Krise der Städte und deren Demontage beschäftigt hat, wobei Städtegründungen der Antike im Vordergrund stehen, führt die Zerstörung städtischen Raums und städtischer Architektur auf eine plötzlich ausgebrochene antiurbanistische Hysterie auf Seiten der Landbevölkerung zurück. Er sieht sie als Ergebnis einer Kulturverneinung, die die Verachtung eines urbanistisch geordneten Raumes, einschließe. Es ist dieser urbanistisch geordnete Raum, den die Barockstadt Vukovar mit ihrer Architektur, ihrer Verwaltung und der Koexistenz heterogener Gruppen repräsentiert, der die Aggression der Landbevölkerung hervorgerufen habe. Diese These entwickelt er in Die Stadt und der Tod,13 einem einflussreichen und weit rezipierten Essay, der nach der Vernichtung dieser kroatischen Stadt und vor dem Beschuss der Altstadt von Dubrovnik und der Sprengung der Brücke von Mostar geschrieben wurde. In dem Essay Architektur der Erinnerung14 betont er den Aspekt der Heterogenität, der für die »gereifte« Stadt bestimmend sei. Dies bedeutet eine von allen akzeptierte Pluralität der Lebensformen, das von Antagonismen freie Miteinander der Sprachen, Religionen und Lebensstile. Wiederholt taucht in seinem Text das nachgerade pathosgeladene Bild auf, das Synagoge, Kirche (orthodoxe und katholische) und Moschee in einem Blick vereint. Es ist Sarajevo, das Bogdanović als Stadt entwirft, die wie keine andere als Inkarnation seines urbanistischen Ideals erscheint: Sarajevo ist nicht irgendeine Stadt dieser Welt. Es ist ein großartiges urbanologisches, architektonisches, anthropologisches Denkmal. Es ist schwer, wenn nicht sogar unmöglich, es mit irgendeiner anderen Stadt zu vergleichen. Sarajevo ist eine paradigmatische Stadt, ein lebendiger Beweis, dass man gemeinsam leben, denken, fühlen kann und konnte, und das in sehr ineinander verschränkten kulturellen Codes. (Architektur, 120) Aus Türmen und Kuppeln, aus Kreuzen und Halbmonden entsteht eben jener Synkretismus, der der ethnischen Säuberung zum Opfer fällt, mit der Vernichtung der architektonischen Male setzt sie ein.

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Als Bürgermeister von Belgrad (von 1982-1986, namhafter Architekt, Erbauer von Mahnmalen, hat er sich mit Stadtgeschichte beschäftigt und Essays über die griechische Polis, ihren Untergang und die hellenistische Stadt und ihre heterogene Kultur verfasst. Übers. v. K. D. Olof, Klagenfurt 1993. Übers. v. K. D. Olof, Klagenfurt 1994.

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

In Bogdanovićs Rhetorik trifft dieses vielfach formulierte Lob des Synkretistischen mit der Klage über dessen Verlust zusammen, ebenso wie die Ekphrasis der Schönheiten der Architektur mit der Empörung über deren Zerstörung. Der Tod der Stadt, den er beobachtet, markiert für ihn einen Wendepunkt in der Geschichte der Zivilisation, für den das dezivilisatorische Gebaren der »Kriegshelden oder Kriegsverbrecher, Kriminelle(n) und Mafiosi« steht, das die »unsterbliche Schönheit der Städte verhöhnt und seinen Glauben daran Lügen straft.« (Stadt und der Tod, 15) Krise und Dekadenz der griechischen Stadt, so führt er in Architektur der Erinnerung aus, sei nicht das letzte Wort in der antiken urbanen Kultur, denn es trete die hellenistische auf den Plan. Der Akzent liege dabei nicht allein auf der neuen großen Dimension, sondern auf »polykulturell«, »mehrsprachig«, »kosmopolitisch«, auf »durchmischten Traditionen und Erinnerungen«. Nur für die verlorene Vergangenheit ließen sich solche Attribute auf die Städte Bosniens anwenden. Die Katastrophe werde durch kein »neues Alexandrien«, keine »neue alexandrinische Bibliothek« rückgängig gemacht. Seine Idee eines »Neuen Alexandriens« ist nur mehr »vergebliche, verzweifelte Schwärmerei«, die der Schmerz um die geplante Zerspaltung des heterogenen ›Einen‹ in eine Dreizahl von ›monogenen‹ Elementen begleitet. In dem Essay Alexandrien ist uns nicht beschieden setzt er die Teilung Berlins mit derjenigen Sarajevos in Vergleich und lässt eine Art Abgesang auf die einzigartige urbanistische Semantik der Stadt folgen: Aber falls es ihm (Karadžić, R.L.) gelingt, seine ethnisch gereinigte Fiktion der Teilung gewaltsam, also blutig, sehr blutig, durchzuführen, dann wird, zum Unterschied zu Berlin, die Grundformel Sarajevos für immer zerrissen und vernichtet sein. Diese Formel aber ist, das wissen wir, sehr edel. Bis zum Krieg hat sie in hohem Maße die Multikulturalität gefördert und ermöglicht, die Multi-Religiosität, die Durchdringung, aber auch die Autonomie der Sitten und Bräuche, persönliche Freundschaften und sich kreuzende Familienbindungen. Diese Formel war wie ein alchimistischer Weisheitsalgorithmus in die Psychomatik der Stadt eingewebt, in die urbanen Räume, in die Erinnerungen, in die menschlichen Schicksale, in die menschlichen Charaktere, in die Sprache der Straße, in spezifische Tropen, in den Humor. Der Algorithmus der Toleranz und Harmonie verband auch die Architekturformen der vier Zivilisationskreise zu einem in Jahrhunderten geformten kohärenten Stilrezitativ./…/Und jetzt soll all das, durch die Präpotenz eines Wilden, definitiv im Chaos der Nichtexistenz untergehen. (Ebd.,119-120). Auch hier liegt die Pointe seiner Klage in einem urbanistischen Argument: das, was geschieht, trägt »die Kennzeichen einer antiurbanistischen Revolution« (122), d.h. er verknüpft die Vernichtung des Multikulturellen mit der Zerstörung des Städtischen. Das von Bogdanović beschworene »Multi«, »Pluri«, »Synkretistische« spielt in Diskussionen, die eine Selbstbestimmung des Bosnischen zum Thema haben, keine konstitutive Rolle. Vielmehr geht es um die skeptische Befragung dieser versöhnlich wirkenden Charakterisierung eines Zusammenlebens in diesem Raum.

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11.11 Die bosnische Literaturwissenschaftlerin Nirman Moranjak-Bamburać, die ihre Thesen zu diesem Punkt formulierte, als Sarajevo unter Beschuss lag15 , verwirft das »multi«, das sich in Bosnien der Präzisierung entziehe, zugunsten einer Vorstellung, die sie als »Durchlässigkeit« bezeichnet; Durchlässigkeit zwischen den Sphären des Alphabets, der Sprache, der literarischen Formen, besonders aber der narrativen Verbreitung religiöser Traditionen. (Moranjak 2001, 5-42) Bedeutsam erscheint auch ihre Betonung einer Revision der zu eng verstandenen Opposition zwischen zwei Gliedern, wie orthodox/häretisch; katholisch/orthodox; christlich/muslimisch; europäisch/orientalisch. Nur auf bestimmten Ebenen der Kultur seien klar konturierte Oppositionen relevant. Konstitutiv – aufs Ganze gesehen – erscheine dagegen das Moment des Ambibzw. Polyvalenten, das sich aus dem Zusammen- (und Gegeneinander)wirken der verschiedenen kulturellen Elemente ergibt. Moranjak verweist dabei auf die Frequenz von Umschreibungen, die in vielen literarischen Texten der Charakterisierung des Bosnischen gelten: ›Nicht-Raum‹, ›Nirgendwo‹, ›Ort der Kreuzungen‹. Miranda Jakiša nimmt in Bosnientexte die Problematik auf und analysiert die Versuche, sich dem ›Phänomen‹ Bosnien, bzw. der »zu Europa gehörenden kulturellen imago« zu nähern, wie sie insbesondere Schriftsteller unternehmen. (Jakiša 2009) Diese Versuche wirken wie Umkreisungen, die auf Bestimmungen, die zur Topik der konventionellen Selbstbeschreibung gehören, verzichten und eher wie Experimente mit unklaren indefiniten Periphrasen sich ausmachen. So etwa erscheint die Vorstellung, Bosnien als in einem von der Opposition Orient-Okzident betroffenen, quasi festgelegten Raum zu begreifen, mit dieser eindeutigen Zweigliedrigkeit als verkürzt. Es geht eher um »Uneindeutigkeit« um ein »Dazwischen«, letztlich um das Eingeständnis scheiternder Selbstbestimmungen in einem Raum, der sich kultureller Eingrenzung entzieht. Wenn Bogdan Bogdanović die »kulturelle Synthese« ohne diese von Skepsis getragenen Nicht-Bestimmungen preist, schließt er Spannungen, heftige Krisen nicht aus. Gerade der architektonische Blick auf die Nachbarschaft von Synagoge, Moschee und christliche Kirchen erfasst die Differenzen, die ästhetische Spannung unterschiedlicher Baustile. Aber in dieser Spannung sieht er auch das, was er die »Ver-wicklungen« nennt, in denen sich Anziehung und Abstoßung, Teilnahme am jeweils anderen und Indifferenz manifestieren. Die Ereignisse der 90er Jahre zwingen Bogdanović zu einem Verzicht auf seine dem idealen Bosnien gewidmeten Vorstellungen, ja nötigen ihn zu einem Klagetext. Den »unwiderruflichen Tod« der Stadt Mostar, nachdem man »ihr erstes und letztes Wort«, die Brücke, »entrissen hatte«, verkündet er, als am 12. November 1993 die Nachricht von ihrer Zerstörung eintraf. Es ist ein Epitaph, den er daraufhin formuliert: Der schlanke steinerne Schatten, die Replik des himmlischen Regenbogens, Meisterwerk des Baumeisters Hajrudin, eine der schönsten und edelsten architektonischen

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Nirman Moranjak-Bamburać hat während der Belagerung Sarajevos zwei Jahre an der Universität Konstanz unterrichtet und ihre Thesen zur Diskussion gestellt.

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

Allegorien ist dahingegangen auf den Grund des Flusses, der Stadt, geboren im Zeichen der Brücke, entrissen wurde ihr erstes und letztes Wort, und ihr Tod ist, so fürchte ich, unwiderruflich. (139) (Abb. 2) Dem Granatenbeschuss der Ein-Bogen-Brücke durch kroatische Artillerie am 9. November 1993, der zu ihrem Einsturz und Absturz in den Fluss führte, zu dessen Überwölbung sie zwischen 1556 und 1566 von dem osmanischen Architekten Mimar Hajrudin – einem Schüler Sinans – auf Geheiß des Sultans Süleyman I. errichtet worden war, ist eine weniger strategisch als kulturantagonistisch ausgerichtete Entscheidung vorausgegangen. Die Brücke wurde in ihrer Zerstörung zum Symbol geplanter und gewollter endgültiger Entmischung.

11.12 Dass das Rekonstrukt am 15. Juli 2005 in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufgenommen worden ist, erscheint als Versuch einer ›Wiedergutmachung‹. Wiedergutmachung gegenüber der Geschichte, die wie eine Kroaten und Bosniaken gleichermaßen und gemeinsam betreffende nachträglich konstruiert wird. Dieses nunmehr zum »Symbol für das friedliche Zusammenleben« dekretierte wiedererrichtete Bauwerk war in seiner Originalgestalt aus der Sicht der kroatischen Bevölkerung der Stadt zutiefst als Fremdkörper wahrgenommen worden, als Einbruch des Muslimischen in ihren Bezirk. Der am Ufer der Neretva entstandene belebte Streifen mit den Kupfer oder Leder bearbeitenden Handwerkern in ihren Werkstätten, den kleinen Cafés mit ihren runden auf Holzgestellen ruhenden gehämmerten Messingtischen gehörte nicht zur kroatischen Tradition eben so wenig wie die Türkischer Kaffee (turska kava)-Kultur eine kroatische war oder ist. Mostar verfügte wohl nicht über den synkretistischen Charme Sarajevos, war stärker antagonistisch geprägt. Zu welcher ›Volksgruppe‹ die beherzten Jünglinge zählten, die gegen Entgelt oder aus purer Lust den Sprung von der Alten Brücke (Stari most) in die dreißig Meter tiefer fließende, smaragdfarbene, der Adria zustrebende Neretva vollführten, lässt sich nicht entscheiden. Der Brückensprung hat eine bis in die Anfänge der Brücke zurückgehende Geschichte, erste schriftliche Information liefert eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1664. Es ist, als ob die Springer die hoch aufragende Brücke mit dem Fluss zu versöhnen suchten, indem sie die Distanz zwischen Bauwerk und Natur sowohl darstellten als auch überwanden. Die Sprengung des Stari most beschädigte auch die Geschichte der durch sie gewachsenen Stadt, in deren Namen, most, Brücke, enthalten ist (nach der Bezeichnung für den Brückenwächter mostar). Der barbarische Akt, der zur Zerstörung dieses einzigartigen Bauwerks führte, dessen Konstruktion zehn Jahre und dessen Destruktion zwanzig Minuten gedauert hat, lässt sich nicht auf Bogdanovićs Formel vom Angriff des »bäuerlichen, unzivilisierten« Bevölkerungsteils auf das Urbane zurückführen. Denn die Angreifer waren Bewohner desselben städtischen Raumes, wenn auch abgegrenzt im eigenen Bezirk. Ihr Vernichtungswille war gegen jenen Bezirk gerichtet, den es als Fremdkörper, als »türkisches« Relikt, zu eliminieren galt: auch die Karađoz-Beg-Moschee unweit der Brücke mit Medresa und Šadrvan (Brunnen) wurde ge-

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troffen. Es ging also gerade um die Zerstörung der Geschichte, an der keinerlei Anteil erwünscht war und die nicht als eine gemeinsame erfahren wurde, einer fremden Geschichte also, die sich durch sichtbare Zeichen, ihre architektonischen Male, kundtat. Bis zur Unkenntlichkeit mussten diese entstellt werden. Waren die Schönheit der weißschimmernden Brücke, die Eleganz ihres elliptischen Bogens, der von weither sichtbar mit den aus demselben Stein gefügten, turmartig gestaffelten Gebäuden mit kleinen Fenstern und Fensterschlitzen hoch über dem Fluss verschmilzt, der Grund für die Aggression? War es die nicht einheimische architektonische Gestalt, die der ästhetischen Konzeption eines osmanischen Meisters des 16. Jahrhunderts entstammte, die im 20. Jahrhundert diese plötzlich aufflammende Wut entfachen konnte? Bogdanović hat diese Frage bezüglich Mostars nicht gestellt aber an anderer Stelle darauf geantwortet: Die Exzesse der oktroyierten Erinnerung, wenn auch für sich allein genommen traurig, wären nicht zugleich tragisch, würden sie nicht eine negative Behandlung der Fakten fördern, die Geringschätzung realer Erinnerung, fremder und auch eigener, bis hin zum Versuch ihrer physischen Ausmerzung. […] Es handelt sich nicht nur um vernichtete Museen, niedergebrannte Bibliotheken und Archive, sondern auch um das Auslöschen edler Sedimente architektonischer Formen und intrinsischer Ausdrucksweisen. (Die Stadt und der Tod, 42-44) Die Reaktion der muslimischen Bevölkerung, was den Erfolg der Wiedererrichtung der Brücke durch türkische Ingenieure und mithilfe türkischer Arbeiter angeht, ist zwiespältig. Einige Faktoren seien nicht berücksichtigt worden: der Pflasterboden auf der Brücke entspreche nicht dem vorherigen, heißt es unter anderem. Der Neu-Bau wird ›herausgefordert‹, er muss bis ins Detail treu sein, so als könnte die eingesetzte handwerkliche Kunst denselben mnemonischen Raum wieder herstellen. Der dem Rekonstrukt bei der Einweihung zugesprochene hohe Wert als Versöhnungszeichen verdeckt die Geschichte des Original-Bauwerks, um das Faktum seiner Zerstörung vergessen zu machen – es ist weder Zeuge noch Erbe der Geschichte, es lässt lediglich auf das Original schließen. Die Sprünge in die Neretva erfolgen nunmehr von der neuen Brücke, als habe es nie eine alte gegeben. Und es finden sich wieder Schaulustige ein, die den hier jährlich stattfindenden Wettkämpfen beiwohnen, den Springern Applaus spenden und Tribut zollen. Die Springer gehören einer anderen Generation an, das Geschick des Stari most tangiert sie wenig, zumal das Rekonstrukt auch als Absprungbasis seine Aufgabe erfüllt.

Bibliographie Andrić, Ivo, Die Brücke über die Drina, übers. von Ernst E. Jonas, überarb. von Katharina Wolf- Grießhaber, Nachwort v. Karl-Markus Gauß, München 2015. Andrić, Ivo, Na Drini ćuprija, Belgrad 1955. Bogdanović, Bogdan, Die Stadt und der Tod, übers. v. K.D. Olof, Klagenfurt 1993. —Architektur der Erinnerung, übers. v. K-D. Olof, Klagenfurt 1994. Jakiša, Miranda, Bosnientexte. Ivo Andrić, Meša Selimović, Dževad Karahasan, Frankfurt/M et al. 2009.

11. Trauer um Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina – Andrić, Bogdanović

Malcolm, Noel, Bosnia. A Short History, London-New York 1994. Moranjak-Bamburać, Nirman, »On the Problem of Cultural Syncretism in Bosnia and Herzegovina«, in: Bosnien-Herzegovina. Interkultureller Synkretismus, Wien 2001, 5-42. Stanišić, Saša, Wie der Soldat das Grammpfon repariert, München 2006.

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12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

12.1 In der Baseler Dissertatio medica. De nostalgia oder Heimwehe von Johannes Hofer von 1688, taucht ein neuer Terminus auf. Hofer hat ihn, nosomania und philopatridomania als Varianten verwerfend, für das krankmachende Heimweh schweizerischer Söldner in der Fremde und Jugendliche fern der Heimat geprägt. Für eine starke Emotion war damit eine Bezeichnung gefunden und ein Gegenstand der Reflexion und aus Hofers Sicht der Medizin geworden, die er mit Krankheitssymptomen verbunden sah; diese wurden fortan sein Untersuchungsobjekt. Der Zusatz »oder Heimwehe«, der im Titel der Dissertation auftaucht, ist sowohl Übersetzung von Noσταλγία als auch die (eigentlich überholte) Bezeichnung, die bislang einer genaueren Bestimmung entbehrte und als Name für eine Gefühlsrealität keinen hohen Rang beanspruchen konnte. Hofer erläutert seine gräzisierende Neuschöpfung, das »compositum«, und macht deutlich, dass algos für den von ihm beobachteten pathologischen Aspekt des Phänomens in der Kombination mit nostos der Fachterminus in einer medizinischen Abhandlung sein sollte. »Ut Adeo ex vi vocis Noσταλγία designare possit tristem animum ex reditus in patriam ardenti desiderio oriundum.« Hofer behandelt Nostalgie als »morbus«, wobei nicht nur physische, sondern auch psychische Momente für ihn eine Rolle spielen. An etlichen Stellen seiner Abhandlung wird Nostalgie als Affekt bezeichnet, was in »ardenti desiderio« bereits angedeutet ist. In Kapitel V heißt es: »ex dictis haud difficulter conjicitur, subjecta hujus Affectus imprimis juvenes esse atque Adolesentes exteras in Regionem missos.« Man ist versucht, hier an die Tradition der Affektenlehre zu denken, die das Übermaß an Affektäußerung als krankhaft tadelt und Zügelung empfiehlt. In seiner Beobachtung psychischer Vorgänge wird er auf einen Zustand aufmerksam, den er »imaginatio laesa« nennt. In Kapitel III heißt es dazu: »Nostalgia autem, quantum quidem ego in rei obscuritate percipere possum, est symptoma imaginationis laesae.« Nostalgie als Symptom einer lädierten (verletzten) Einbildungskraft – an anderer Stelle ist auch von »perturbatum animum« die Rede. Oder gilt eher umgekehrt: Die Verwirrung entsteht durch die Nostalgie, die Heimkehr-Sucht? – Hofer versichert, dass das ›Übel‹, das auch das Gehirn und die Organe betreffe, heilbar sei, wenn das rechte Heilmittel zur Stelle ist.

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So in Kap XI: »sanabile malum est, si remedium debitum adhiberi potest.« Seine Beobachtung der Nostalgiker lässt Hofer vermuten, dass insbesondere Personen, die zur Melancholie neigen, Nostalgie entwickeln – womit der Affekt in die Nachbarschaft eines der Temperamente gerät und dessen anthropologische Fundierung bestätigt. Die Koalition von Heimweh und Schwermut ließe sich als (volkssprachliche) Entsprechung anführen. Auf patria als Gegenstand der Nostalgie wird in Hofers Abhandlung frequent und mit solcher Eindringlichkeit hingewiesen, dass die Vaterland-Süchtigen wie von einer positiven Aura umgeben erscheinen: aus Liebe zur Schweiz nämlich sind sie erkrankt, und sie werden gesund, sobald sie die Heimat erreichen: das remedium debitum ist die Rückkehr ins verlassene Land. Was ist die Nostalgie nun eigentlich? Stellt man die Frage an Hofers Dissertatio, so ergibt sich das Bild einer Passion, die auf ein Objekt gerichtet ist: den abwesenden vertrauten Ort. Von der verlorenen Zeit, von ›schöner‹ Vergangenheit, ist hier noch keine Rede. Die Karriere seines Neologismus konnte Hofer kaum vorausahnen, weder dessen Integration in die Alltags-Lexik vieler Sprachen noch dessen Poetisierungspotential ebenso wenig wie den Bedeutungszuwachs, den die mit der Bezeichnung nobilitierte Emotion erfahren hat. Medizin und Psychologie haben sich des Phänomens auf umfassende Weise angenommen. Medizinische Untersuchungen (Organe konnten angegriffen sein) gingen weit über Hofers Ansätze hinaus; auch die Psychologie des 19. Jahrhunderts hat den Begriff noch ernst genommen. Dass davon Befallene sterben können, war medizinische Einsicht. Aus psychologischer Sicht wurde das Gedächtnis wichtig – im Grunde war es bereits mit Heimweh verbunden, wurde aber nicht eigens isoliert als Fähigkeit, Assoziationen mit dem Verlassenen herzustellen. Zum Verlassenen gehörten nun auch Personen (die Eltern zunächst), aber auch das eigene Selbst der Kindheit, dem sich der Erwachsene nostalgisch zuwendet. Jean Starobinski hat in einem konzisen Aufsatz, Forschungsrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts berücksichtigend, die »Idee« Nostalgie von Hofer bis zu ihrem Verschwinden als wissenschaftlicher Terminus Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgt. (Starobinski 1966) Der aus den medizinischen und psychologischen Handbüchern verschwundene Terminus existiert als Modewort weiter und zwar für ein Gefühl, dem Romantismen beigemischt sind. Das davon überwucherte pathologische Moment taucht jedoch in einem anderen Begriff wieder auf, der – zumindest wenn es um Verlustschmerz geht – hier erwähnenswert ist: Trauma. Vielleicht war es just der Verlustschmerz, der zu einer spezifischen Belebung des Wortes geführt hat, die durch die Kombination mit einem Kürzel für ein zusammengebrochenes Staatsgebilde, möglich wurde. In Dubravka Ugrešićs Texten wird aus der Kombination von Jugo und Nostalgie, der vermutlich eher locker im sprachlichen Umgang der Emigranten kursierte, ein Begriff mit semantischer ›Ausstrahlung‹, der nicht nur einen Chronotop des Abwesenden und des Vergangenen benennt, sondern auch zum Gegenstand ironischer Reflexion avanciert.

12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

12.2 Jugoslawien lebt weiter, es hat nicht aufgehört zu existieren – Jugoslawien ist vergangen, hat aufgehört zu existieren. Jergović, der das Land zu Lesungen kurzfristig verlässt, steht für das erste, Ugrešić, die das Land (endgültig) verlassen hat und nur zu Besuchen naher Verwandter zurückkehrt, für letzteres: ein Blick von innen, ein Blick von außen auf eine gemeinsam geteilte Jugoslawien-Geschichte. Ugrešić hält inne, nimmt sich mit schonungslosem Rückblick das Leben in der TitoZeit vor, verfolgt mit Abscheu den abrupten Sinneswandel ihrer Zeitgenossen: die Erfahrung von Anfeindungen wegen ihrer Nationalismuskritik drängt sie letztlich, das Land ihrer Kindheit, Jugend, ihrer akademischen und schriftstellerischen Laufbahn zu verlassen. Jugoslawien hat für sie aufgehört zu existieren. Jergović, der, wie er mitteilt, vierundzwanzig Jahre Tito-Jugoslawien erlebt hat, sieht sich mit der nämlichen Situation konfrontiert; er bleibt und wird zum Störenfried und Tabubrecher, der unliebsame Themen anrührt und an einem Jugoslawien festhält, das Mythos-Charakter annimmt. Meine kulturelle Identität ist zutiefst jugoslawisch. Daran hat der Krieg nichts geändert. Staaten sind auswechselbar, es sind Verwaltungseinheiten, wie Banken oder das Postbüro. Aber sie werden von den kulturellen Räumen überlebt. Auch wenn sich viele Menschen von Jugoslawien abgewandt haben und reine Serben oder Kroaten sein wollen, ist doch vieles jugoslawisch geblieben. Selbst die Nachgeborenen wachsen in einer Welt auf, die eben nicht rein kroatisch, serbisch oder bosnisch ist. (Ernst 2012) Diese Äußerung als Antwort auf die im NZZ-Interview von Andreas Ernst gestellte Frage: »Gibt es weiterhin eine ›jugoslawische Kultur‹«, liest sich wie eine überwundene Jugonostalgie oder wie eine Aufforderung zu deren Überwindung – oder aber als Versuch einer Nostalgie-Verdrängung? Der Krieg der 90er Jahre scheint an Jergovićs Jugoslawentum nichts geändert zu haben, während er für Ugrešić alles geändert, das ihr vertraute Land bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat; Lebensstil, Moral, Politik, Alltagssprache sind aus ihrer Sicht davon erfasst worden. Es sind in der Tat gegensätzliche Weisen mit Zerfall und Zusammenbruch umzugehen. Jergović sieht (und erlebt persönlich), was sich geändert hat; zwar gleicht seine Analyse der Verformungen im Tenor derjenigen Ugrešićs – er geißelt den Hass, sie die Lüge – aber er lässt sich nicht beirren, zieht andere Schlüsse, so als habe das heftige Beharren auf einer Gemeinsamkeit (die offenbar niemand mehr will) eine kathartische Wirkung. Er reklamiert den Fortbestand einer gemeinsamen Sprache: »Meine Sprache nennt man hier Kroatisch, 400 Kilometer östlich heisst sie Serbisch und anderswo Bosnisch oder Montenegrinisch. Aber es war schon vor hundert, zweihundert Jahren dieselbe Sprache.« (Ernst 2012) Diese, serbokroatisch, ist zweifellos die Sprache seiner Lyrik und seiner Prosawerke. Als 2007 sein Roman Ruta Tannenbaum von einer auch international besetzten Jury im bosnischen Tuzla, wo es um die Prämierung des besten Romans des Jahres 2006 ging, wozu serbische, kroatische, bosnische und montenegrinische Autoren und Autorinnen ihre Arbeiten vorgelegt hatten, als bester Roman ausgezeichnet wurde, war es vor allem die Sprache (neben Komposition, Erzählweise und dem riskanten Thema der kroatischen Judenverfolgung), der diese zu verdanken

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war. Auf die Frage des Interviewers, ob es seiner Meinung nach weiter eine jugoslawische Literatur gebe, antwortet er: »Ja, und in diesem Sinne bin ich ein jugoslawischer Schriftsteller und kann nichts anderes sein und will nichts anderes sein.« Scharf lehnt er ein im Zuge des Interesses an den Balkankriegen entstandenes »Genre« ab, das die Trivialisierung der »Balkantragödie« betreibe. Während er die eine Sprache (in den Hypostasen serbisch, kroatisch, bosnisch, montenegrinisch) im eigenen Schreiben als eine einzige zu dokumentieren versucht, kann er hinsichtlich des sozialen Moments – Koexistenz von Kroaten, Serben, Bosniaken – nur auf eine Zukunft verweisen, in der eine neue Generation die Zersplitterung für obsolet halten wird. Weil er an die Reparatur der eingetretenen Situation glaubt, erlebt er den Verlust dieser Koexistenz offenbar nicht als heftigen Schmerz. »Aber wir haben nie harmonisch zusammengelebt und selten in einem geordneten Staat. Unser Verhältnis war immer eng, ambivalent, mit wechselnden Phasen von Liebe und Hass.« So im Interview.

12.3 Anders reagierten Vertreter der älteren Generation, denen an der Interpretation des Geschehens gelegen war, ohne die Neigung zu fatalistischer Einschätzung zu verbergen. Dazu zählen die Stimmen der beiden im vorangegangenen Kapitel bereits zitierten Bogdan Bogdanović und Nirman Moranjak-Bamburać, die in diesem Zusammenhang nochmals gehört werden sollten. In seinem idyllisierenden Bild der Stadt Sarajevo spricht Bogdanović von den ›ineinander verschränkten Codes‹, die das Zusammenleben bestimmten, was zugleich die Frage einschließt, ob ihre Entflechtung die für die komplexen Vorgänge von Annäherung und Abstoßung verantwortlichen Strukturen freilegen könnte. Moranjak versucht, eine Antwort darauf zu geben, indem sie deren Entstehen als von agonal ausgerichteten Strömungen, offen zutage tretenden und kryptischen, bestimmt sieht. Sie vermeint hier die Chance des Synkretismusbegriffs zu sehen, der bosnische Selbstbeschreibung (das Wissen um Antagonismen und das heftige Wirken der Opposition von eigen und fremd einerseits und das Wissen um eine fundamentale Interdependenz zum andern) und eine Außenbeschreibung verbindet, die die semantischen Vorgänge von Abschottung und Berührung auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen berücksichtigen kann. Moranjak räumt das Wirken der eigenfremd-Opposition zwar ein, sieht aber als dominant »a fascinating ›permeability‹ of the semantic space« (Moranjak-Bamburać 2001, 13). Von der Katastrophe her gesehen, erhält ihre Analyse nostalgische Züge, wirkt wie eine Beschwörung. Doch wird die Katastrophe nicht eigentlich geschildert: wir erfahren nicht, was zum Zusammenbruch des Multi, des antagonistischen Miteinanders geführt hat. Die Analyse Moranjaks deckt das in Bosnien ›exemplarisch‹ zutage tretende Konfliktpotential auf, das gleichwohl für Jugoslawien stehen kann, dessen Koexistenz-Strukturen von demselben Muster geprägt sind. Beide, Bogdanović und Moranjak, konstatieren den Status einer kulturellen Semantik, deren Verlust in der Analyse Moranjaks mitgedacht werden muss, während er Bogdanović zu seiner großen Klage gedrängt hat.

12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

12.4 Jergović warnt in dem genannten Interview davor, Bosnien als repräsentativ für ganz Jugoslawien zu sehen, wenn er sagt: Bosnien hatte eine eigene Identität, deren Basis die dreifache Konfession von Islam, Orthodoxie und Katholizismus war. Das war auch der Grund, weshalb man die iberischen Juden im 16. Jahrhundert so problemlos integrierte. Es gab nie ein Ghetto in Sarajevo. Seit dem Krieg und dem Daytoner Friedensabkommen ist das vorbei. Aus Bosnien wurde ein zusammengesetzter Staat gemacht. (Ernst 2012) Sein Blick zurück sieht keine idyllische Vergangenheit, eher eine Tradition von Gemeinsamkeiten und Entfernungen von einander, die allerdings durch den Krieg und das Dayton-Abkommen verletzt worden ist. Das betrifft zwar in erster Linie Bosnien, aber das erzwungene und verordnete Auseinanderdriften der sich gegenseitig tolerierenden religiösen und quasi-ethnischen sozialen Räume erscheint als Modell für den Zerfall Jugoslawiens in Einzelstaaten, bzw. staatsähnliche Gebilde. Aber als wolle er diesen plötzlichen Zusammenbruch einer antagonistischen Symbiose nicht als Faktum gelten lassen, das Jugoslawien ein Ende bereitet hätte, beharrt er auf dessen Fortbestand. Sein kolossaler Familienroman Rod (Die Sippe) lässt das 20. Jahrhundert, in dem er die Biographien seiner Familienmitglieder entfaltet, als ein Kontinuum erscheinen, das die politischen und sozialen Veränderungen nicht als Einschnitte, Umwälzungen, Katastrophen, sondern als Wandlungen oder temporäre Störungen erscheinen lässt (das Attentat von 1914, Judenverfolgung, Ustascha-Terror, Partisanen, Tito, die Kriege der 90er). Der historische Raum, das Gewachsensein bringt alle Diskontinuitäten zum Verschwinden, ebnet sie ein. Die verzweigte und sich verzweigende Familie des Romans, repräsentiert durch den Großvater, den Deutschen, Švabo, durch Eltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, mit Leben im k.u.k besetzten, bzw. annektierten Landesteil, dann im Königreich Jugoslawien, zuletzt in Tito-Jugoslawien. Die unerhörte Geschichte meiner Familie, wie der Titel der deutschen Übersetzung lautet, ist die Geschichte Jugoslawiens, in die die Zugereisten, die kuferaši, gehören, die hineingeheiratet, Berufe ergriffen haben (der Großvater wird Eisenbahner, eine symbolische, die Landesteile verbindende Tätigkeit), Schulen besucht und studiert haben. Der Modus Biographie erlaubt, jedes erzählte Leben mit einem sjuzetosloženie (Sujetfügung) auszustatten das das Erleben von Räumen (Banat, Bosnien, Dalmatien, Kroatien, Bulgarien), von Städten (Dubrovnik und Sarajevo, Zagreb, Graz und Wien), von Bildungsstätten (das berühmte, seine Namen wechselnde Gymnasium von Sarajevo, das, wenn auch nur kurz, Gavrilo Princip, Ivo Andrić und Jergović besucht haben), sozialen Veränderungen (die Ankunft der Aschkenase, der Aufstieg Pavelićs, die deutschen Besatzer, die Partisanen) motiviert. Jede Biographie ergibt eine Mikrohistorie, deren Erzählung mit dem fiktiven Tod des ›Autors‹ ins Genre des Phantastischen wechselt. Dass diese deutschstämmige Familie, beginnend mit dem Stammvater, dem Švabo Karl Stubler, niemals in Deutschland leben wollte – dort »leben andere Leute« – lässt das Jugoslawentum dieser ›Schwaben‹ in dieser Zweideutigkeit von Herkunftsort und Schicksalsort erscheinen, die, wie die curriculae vitae offenbaren, von der Vieldeutigkeit über-

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trumpft wird, die die kreuz und quer heiratenden Glieder der Stubleri exemplarisch vorführen. Jergović, der ›serbokroatisch‹ schreibende Autor, der ›neue Ivo Andrić‹, ist im Land geblieben, das er nur zu Lesungen im Ausland verlässt. Er ist geblieben trotz Anfeindungen, die sein Jugoslawien-Konzept und sein Beharren auf der Gemeinsamkeit der Sprache betreffen. In einem dem Roman vorgeschalteten Text (ursprünglich ein öffentlicher Vortrag) schildert er nicht nur die Entwicklung des Hasses als eines nach dem Krieg ausgebrochenen, die sozialen Verhältnisse bestimmenden Phänomens, sondern auch die auf einem Filmfestival in Istrien stattfindende ihn schmerzlich betreffende Begegnung mit Intellektuellen, Regisseuren, Schriftstellerkollegen und dem Kulturminister, der (großspurig) Malraux genannt wird. Jergović, der 1993 aus dem belagerten Sarajevo nach Zagreb gekommen ist und dort als Schriftsteller lebt, wird hier zum Außenseiter und vor der elitären Gruppe ehrenrührig beschimpft: Der Kulturminister wendet sich an ihn mit den Worten: »Hau ab, bosnisches Dreckstück, geh hin, wo Du herkommst, damit nicht wir Dich zurückschicken müssen«, »Marš, smeće jedno bosansko, idi tamo odakle si i došao, da te mi ne bi tamo vraćali.« (Jergović 2013, 20) Die Kollegen – peinlich berührt – erheben keinen Protest, lassen ihn schutzlos stehen. Das Textstück macht deutlich, dass Jergović trotz dieser Erfahrung den Hass letztlich nicht als Symptom des Endes von Jugoslawien sehen will. Im Interview heißt es weiter: »Jugoslawien gab es kulturell schon lange vor 1918, vor der Staatsgründung. Der katholische, orthodoxe und muslimische Einfluss und Zusammenfluss ist älter und hat die Identitäten vermischt. Durch diesen Austausch wuchs der jugoslawische Raum.« (Ernst 2012) Jugoslawien als ›Ideologie‹ ist kein nostalgischer Gegenstand.

12.5 Anders der Tenor der Texte von Dubravka Ugrešić. Ihr gespaltener Blick auf den Jugoslawien-Komplex kommt in den kurz nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates Titos entstandenen Texten zum Ausdruck und prägt auch die später im Exil geschriebenen. In Amsterdam, nach kurzer Lehrtätigkeit am dortigen Slavischen Seminar, entstehen ihre autobiographischen Essays und autobiographisch unterfütterten Romane, in denen Mnemonisches mit Deskriptivem und Analytischem sich verbindet. Gerade im Analytischen zeigt Ugrešić ihre Kompetenz als ehemalige Zagreber Literaturwissenschaftlerin, die, vertraut mit den Methoden des Strukturalismus und der Kultursemiotik, den Zeichensystemen zuleibe rückt, die sich quasi unter ihren Augen verändert haben. Ihre Texte enthalten knappe Berichte über ›erlittene‹ Auseinandersetzungen mit Personen der Nachbarschaft, die ihre unpatriotische, unkroatische Haltung mit Drohungen quittierte und sie durch den abrupten Wandel in den verbalen und gestischen Umgangsformen geradezu verschreckte. Sie fühlte sich persönlich bedroht, öffentlicher Beleidigung ausgesetzt (man beschimpfte sie als serbische Hure), von ihren dem neuen System angepassten Schriftsteller-Kollegen verlassen – und ging nach Amsterdam. Die Perspektive, die sie von dort nach dem Bruch mit ihrer bisherigen Heimat entwickelte, machte sie zu einer erbarmungslosen Kritikerin von Verhaltensweisen, Kommunikationsformen und den hilflosen Versuchen, nach der

12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

Auflösung Jugoslawiens so etwas wie eine schlüssige Gegen-Ideologie zu entwickeln. Das zentrale Konzept, das sie hierfür findet, ist »kultura laži«, Kultur der Lüge. Die Lüge erscheint als Denk- und Handlungsweisen bestimmende Strategie. Sie dominiert, so ihre Feststellung in Texten aus den Jahren 1994-95, öffentliche wie private Rede, ist der Motor, der die Verdrehung und Verzerrung der Fakten herbeiführt – der Fakten des Krieges, der Kriegsverbrechen auf beiden oder allen Seiten. Es ist die Lüge, die die neue politische Situation vorbereitet hat, sie ist die Voraussetzung für die sogenannten patriotischen Aktionen. Doch es ist noch komplizierter mit der Lüge, denn sie ist kein exklusives Merkmal der Post-Jugo-Zeit, sondern hat ihre Vor-Geschichte im Tito-Sozialismus. Jugoslawische und postjugoslawische Ideologien werden als Lügenkonstrukte oder ScheinÜberzeugungen entlarvt. Der jugoslawische modus vivendi erweist sich als gigantisches Simulakrum, abgesichert durch die Pseudologie der politischen Führer und ihrer Anhänger. (Als Opfer erscheinen die echten Gläubigen des alten Systems und die Dissidenten). Die Träger oder Konstrukteure des neuen Systems verurteilen das alte als betrügerisch und kriminell, ohne auf die Konstruktion neuer Lügen zu verzichten. Die schnellen Wendehälse nehmen die neuen Losungen an, wechseln lediglich ihr ideologisches Objekt; die überzeugten Anhänger des alten Systems bleiben auf der Strecke. Ugrešić konstatiert: eine Hypokrisie wird von einer anderen abgelöst. Es bedarf einer Zustimmungsreaktion, die die Lügenordnung bestätigt. Wenn sie ausbleibt, kommt es zu Sanktionen. Die ideologisch gestützten Lügen verfügen über ein gewaltiges Verblendungspotential. Wenn die Übereinstimmung von Vorstellung und Ding (die aristotelische homoiosis/adaequatio) eine der Definitionen von Wahrheit ist, so lässt sich von den beiden anderen Wahrheitsdefinitionen: der Kohärenzdefinition (Übereinstimmung auf der Ausdrucksebene) und der Konsensdefinition (Übereinkunft bezüglich eines Wahrheitsbegriffs) sagen, dass sie auf die Lüge ebenso zutreffen. Das Lügenargument stützt sich auf eine Art Folgerichtigkeit, deren Referenz zwar ausgeblendet ist, aber suggeriert wird. Hannah Arendt konstatiert in Wahrheit und Politik: »Die menschengemachte Wirklichkeit könnte auch eine andere sein, deshalb lässt sie sich auch anders (falsch) darstellen.« (Arendt 2006, 10) Die Lügendiktatur ruiniert die Sprache, führt zu einer ›Entwirklichung‹, zu einer Emanzipation der Sprache von der Wahrheitsbindung. Harald Weinrich plädiert in seiner Linguistik der Lüge dafür, die verderbten Wörter aus der Sprache auszustoßen. (Weinrich 1966) Ugrešić verfolgt keine kathartischen Absichten, vielmehr sind es die konkreten Verursachungen des Falschen, der zweiten Wirklichkeit/Unwirklichkeit, denen sie nachgeht, um nachdrücklich und katastrophistisch das Verharren in der Kultur der Lüge als eine Gefangenschaft auf Lebenszeit anzuprangern. Als alarmierend registriert sie die Abnahme der Systemkritiker, das Verstummen der Dissidenten. Ugrešićs Appelle an die Verantwortung der Intellektuellen (Dozenten, Schriftsteller) bleiben echolos. Und so ist sie es, die die Verantwortung für die Reportagen über den rücksichtslos alles erfassenden kroatischen Nationalismus übernimmt. Und sie ist es, die den Krieg aus einer bedingungslosen Genderperspektive sieht, als einen von Männern angezettelten und durchgeführten. Der ungeheuer schnelle Wandel, das Wendehalsige, erschüttert sie. Wie konnte es sein, dass ihre Zeitgenossen sich von der gemeinsam geteilten Vergangenheit so umstandslos abwandten, ohne nach den Gründen ihres Zusammenbruchs zu fragen. Denn:

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es ging tatsächlich um den Zusammenbruch der Vergangenheit. Bei ihr ist diese Vergangenheit auch mit angenehmen Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in diesem einstigen Land verbunden. Hier wird ihr Verlustschmerz deutlich hörbar, so als sei es unwiderruflich gelungen, sie ihrer Jugend zu berauben. Deshalb wohl hat sie das Foto mit den drei unbekannten Frauen behalten, die in dem ihr aus der Kindheit vertrauten Flüsschen baden, sie, die Unbekannten, stehen für alle, die je dort waren; sie verkörpern alle dort möglich gewesenen Ereignisse und Stimmungen. (Beganović 2007) In Textstellen dieser Art tritt Jugonostalgie als ›Hintergrundgefühl‹ leicht verschleiert hervor, während andernorts selbstironische Schnörkel das emotionale Moment zu löschen versuchen. In Zabranjeno čitanje (Lesen verboten) heißt es: »Rodila sam se u zemlji koja više ne postoji, u Jugoslaviji, točno godinu dana nakon što je Tito rekao svoje historijsko NE Staljinu (tako su nas barem učili).« (Ugrešić 2001, 68) (»Ich wurde in einem Land geboren, das nicht mehr besteht, in Jugoslawien, genau ein Jahr nachdem Tito sein historisches Nein Stalin gegenüber ausgesprochen hat [Jedenfalls hat man uns das so beigebracht].«) Wenn sie das sagt, will sie – könnte man fragen – damit einen Verrat an der jugoslawischen Utopie andeuten, einer Utopie, an die sie selber einmal glauben wollte? Wohl kaum, denn ihr Umgang mit Begriff und Emotion hat verschiedene Facetten, Rückkehrwahn gehört nicht dazu. Sie weiß von der selektiven Erinnerung, von der Verklärung der Vergangenheit, die Tito-Jugoslawien als ›Goldenes Zeitalter‹ erscheinen lässt, in der Ordnung, Frieden, Menschlichkeit, Zusammenhalt Geltung hatten. Es geht ihr darum, genau diese Beschränkung der Rückschau zu durchbrechen, indem sie das Sentimentale darin aufdeckt und sich dem unerträglich Negativen zuwendet, das im präzisen, gnadenlosen Blick zurück zu Tage tritt. Während der Begriff Jugonostalgie hier eher wie ein Instrument der Analyse erscheint, gewinnt er an anderer Stelle eine durchaus umgangssprachliche Note, etwa wenn sie ihre Erzählerin in Ministarstvo boli (Das Ministerium der Schmerzen) über den Freund Goran berichten lässt: »Gorana je često znala zgrabiti jugonostalgija« (Ugrešić 2004, 25), dass Goran oft »Anfälle von Jugonostalgie« habe und sich dann Bekannte aus früherer Zeit in die Emigrantenwohnung einlade. Eine Stelle dieser Art macht deutlich, dass hier die ›konkrete‹ Emotion gemeint ist und dass diese Anfälle von Nostalgie ihr Remedium im Nachspielen einer Lebensweise, eines Umgangstons, in der Art wie man isst, trinkt und miteinander redet, finden sollen. Dass diese Facette von Nostalgie ebenfalls ihre Rolle spielt, wird auch in der Schilderung eines dramatischen Augenblicks deutlich, der durch das unmotivierte Vortragen eines Partisanenlieds entstanden ist (eines aus Schulbüchern allen bekanntes, bereits durch häufiges Absingen zur Parodie gewordenen Liedes, das ein Verbrechen der Deutschen an Schulkindern zum Gegenstand hat). Nach dessen Vortrag heißt es: Sve je bilo i mučno i krivo. Uroš je tužno promašio metu. Slušali smo ga bez riječi, ne za to što smo ostali potreseni stihovima ili Uroševom izvedbom, nego samin Urošem. Uroš je probio zaštitni balon koji se stvorio oko nas, I topla para kolektivne nostalgije nestala je. (Ugrešić 2004, 100)    

12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

Alles war peinlich und falsch. Uroš hatte sein Ziel jämmerlich verfehlt. Wir hörten ihm wortlos zu, nicht weil uns die Verse oder ihre Interpretation erschüttert hatten, sondern Uroš selbst. Uroš hatte die uns umgebende Schutzhülle zerstört und der warme Dampf der kollektiven Nostalgie war entwichen. (Ugrešić 2005, 98)1

12.6 Der stilistische Modus dieser von emotionaler Empörung und analytischer Distanznahme gleichermaßen gezeichneten Texte, die mit Verfahren des postmodernen ›Meta‹ zu operieren wissen (Metatextualität, Metalepsis, Text im Text), ist durchwegs satirisch, allerdings ohne befreienden humoristischen Unterton. Bachtins Kategorien sind keineswegs anwendbar, es fehlt das Ambivalent-Versöhnliche, das der Autorin, bzw. ihrer Erzählerin angesichts einer heillosen Situation nicht gelingen kann, d.h. einer Situation, die sie als ›Nicht-Realität‹ bezeichnet: »Na bivšem jugoslavenskom teritoriju više nema realnosti« (Ugrešić 1993, 108) (»Auf dem ehemaligen jugoslawischen Territorium gibt es keine Realität mehr« [Ugrešić 1995, 129]), heißt es in dem Essay »Kultura laži« (»Kultur der Lüge«). Ihr zentrales Anliegen ist ›aufzuklären‹, d.h. die Mechanismen aufzudecken, die zu den Veränderungen geführt haben, die das nunmehr die Führung übernehmende Diskurs- und Zeichensystem ergriffen haben. Ihre Analyse betrifft indexikalische, ikonische und symbolische Zeichen – vornehmlich auf Verbales und Bildliches verweisend: die Umbenennung der Straßen und Plätze (wobei ja häufig auch deren historische ursprüngliche Benennung zu Tage tritt (Trg Republike heißt nun wieder Jelačićev Trg) und das Auswechseln der Führer-Porträts in Geschäften, Restaurants und in öffentlichen Gebäuden. Anstelle des Porträt-Fotos von Tito (oft als Partisanenkommandant oder als Staatspräsident in Uniform) figuriere nunmehr dasjenige von Tuđman, ebenfalls in Uniform, prächtig, selbst entworfen. (Sie schreibt das Anfang der 90er Jahre). Die Ablösung der Konterfeis erscheint ebenfalls als verbaler Akt, es geht um die Ablösung der Namen. Die Veränderung der Sprache aber ist, was sie zutiefst beunruhigt: Ugrešić fühlt sich verlassen von der Sprache, die sie als ihre Muttersprache sprechen gelernt hat und deren Sprecher (anders als sie) die Spuren, die die letzten fünfzig Jahre in ihr hinterlassen haben, rigoros tilgen. Hier notiert sie die schmerzvollen Prozeduren der Reinigung, deren rücksichtslose Anwendung einmal mehr den blinden Nationalismus zum Ausdruck gebracht hat. Die Kroatisierung des Kroatischen als Projekt einer Kampagne, die den Serbismen auflauert. Die Reinigungsstrategien haben zu absurden Innovationen geführt, zu künstlichen Bildungen, zur Beseitigung von verunreinigenden Elementen aus umgangssprachlichen Wendungen, an deren Stelle neue gereinigte Sprüche treten. (Allerdings hat es bereits zuvor – in der Tito-Epoche – Reinigungsversuche gegeben und

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Danko Rabrenović schildert in seinem im Plauderton gehaltenen Bericht Der Balkanizer. Ein Jugo in Deutschland (2015) just Situationen dieser Art. Auf der Suche nach dem Eigenen Verlorenen trifft man auf das Falsche, auf eine Pseudo Folklore Jugo Rock-Band, oder auf Burek, der den falschen Geschmack hat, auch hier geht es um das Kollektive der Emotion.

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zwar von Seiten einiger kroatischer, sprachideologisch rühriger Linguisten. Vertreter puristischer Ideale wurden häufig aus ihren Ämtern entfernt.) Post-Jugoslawien, ein zerbrochenes Ganzes, ist mit einem »post-modernen Chaos« (128) konfrontiert, wie sie formuliert. Damit meint sie die geradezu phantastische Orientierungslosigkeit, die hilflosen Versuche, Standpunkte zu deklarieren, und sie meint den Griff zu Vokabularien älterer und jüngerer ideologischer Positionen, die den neuen Nationalismus weder zu stützen noch zu unterlaufen vermögen, ein Patchwork von Begriffen, Wendungen, Losungen, die dazu dienen sollen, die eingetretene Situation zu definieren. Sie spricht hier von »Citati iz muzeja totalitarnih režima, citati iz razbijenog jugo-projekta, citati iz ropotarnice fašizma, citati iz nacionalne povijesti (koja svakim danom postaje davnija i slavnija!), citati iz evropskog sna (sna o Evropi), citati iz prašnjavih etno-muzeja.« (Ugrešić 1993, 137) (»von Zitaten aus dem Museum der totalitären Regime, Zitaten aus dem zerschlagenen Jugo-Projekt, Zitaten aus der österreichischungarischen kulturhistorischen Rumpelkammer, Zitaten aus der kroatischen Geschichte [die täglich älter und rumreicher wird!], Zitaten aus dem europäischen Traum [Träume über Europa], Zitaten aus den staubigen Ethno-Museen.« Ugrešić 1995 145) Offizielle Politik ist »aus Zitaten zusammengeflickt«. Es entsteht eine Art »postmoderne diktature, u kojoj će građani koji izraze sumnju biti proglašeni narodnim neprijateljima […]« (ebd. 138) (»Eine postmoderne Diktatur, in der die Zweifler zu Volksfeinden werden.« ebd. 146, schreibt sie 1993 im Essay »Popravka pipe u tri sekvence). Sie weiß: Der Staatsmythos der neuen Republiken wird den Blick auf das Jugoslawentum endgültig verstellen (zumal Titos Jugoslawen-Idee, der neuen kroatischen Ideologie entsprechend, als Hauptgrund für den Krieg verstanden wird). Deshalb auch gilt die Jugo-Nostalgie, sei es als Haltung, Einstellung oder Lebensgefühl, als in hohem Grade verwerflich. Jugo-Nostalgie ist auf der Seite der (aus ihrer Sicht) Gedächtnislosen ein neues Schimpfwort. Jugo-Nostalgie wird als Verhinderung des Neuen, als kraftlos und larmoyant verurteilt. In Ugrešićs Bewertung dieser Ablehnung, einer von vielen geteilten Einstellung zur Vergangenheit, wird eine weitere Facette des Begriffs sichtbar, die den plurivoken Charakter ihrer Auffassung betont: denn die ironisch gebrochene Nostalgie trägt hier doch noch kämpferische Züge. Sie speist sich aus der Energie eines Rückblicks auf etwas, das ganz auszuradieren sie nicht bereit ist, denn darin steckt das »naški«, »naš jezik«, was für alle im serbokroatischen Sprachraum Sprechenden Geltung hatte. Das Exil als Lebensform, das die neue Etappe ihres selbstgewählten neuen Lebensabschnitts bestimmten soll, erscheint als Utopie, mit der sie die Jugoslawen-Utopie für sich persönlich zu überwinden versucht. Ihre Haltung gegenüber der postjugoslawischen Situation ist radikale Skepsis: »Čemu služe novorođene države?« (Ugrešić 2001) (»Welchem Zweck dienen neugeborene Staaten?«) heißt es in Zabranjeno čitanje. Nur das Exil, so scheint es, ist Ausweg und Heilung: »Egzil je san o transformaciji.« (ebd., 148) (»Das Exil ist der Traum von der Transformation«). Exil ist Thema von Ministarstvo boli mit dem vom Namen eines Amsterdamer Sado-Maso-Instituts, Ministry of Pain, wo einige ihrer Studenten arbeiten, inspirierten Titel, der den Traum von der Transformation im Exil als sado-masochistischen erscheinen lässt. Im Roman wird die Vermittlung der Exilsituation mit der Beschreibung des Amsterdamer Instituts für Slavistik, der Kollegen und Studierenden verbunden, die aus

12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

der Perspektive einer ungemein genau Beobachtenden erfolgt, die ein anderes Leben sowohl erhofft wie befürchtet. Der Rhythmus der Stadt interessiert sie, und wie die Menschen sich darin bewegen: sie erstellt einen Katalog von Gesehenem im Stile Kiš’s, aber gemessener, weniger katalog-selbstbezogen. Vor der ersten Unterrichtsstunde gibt es so etwas wie ein plötzliches einvernehmliches gegenseitiges Erkennen: das sind die Unsrigen, wir sind die unsrigen, naši (fast wie ein Zitat aus Dostoevskijs Dämonen; ein Kapitel trägt dort den Titel »Naši«). Ugrešić entwirft eine eingeschworene Gruppe; es sind Außenstehende, was die Umgebung angeht, Innenstehende, was die eigene Gruppe angeht – im Versuch, Darüberstehende zu werden. Sie wiederholt die Worte des Schülers Selim: »Naši hodaju po gradu ko po džungli, svi isprepadati« (Ugrešić 2004, 21) (»Die Unsrigen gehen durch die Stadt wie durch einen Dschungel, voller Angst«). Es entsteht so etwas wie eine Simulation jugoslawischer Unterrichtsverhältnisse: die Erzählerin wird, wie die Lehrerinnen jener Zeit, als »drugarica« (Genossin), angesprochen, sie nennt ihre Studenten des Serbokroatischen, bzw. der Literaturen des ehemaligen Jugoslawiens, die zwischen 20 und 30 alt sind, »đaci« (Schüler). Diesen đaci aus Kroatien, Serbien, Bosnien, Montenegro stellt sie die Aufgabe, Autobiographien zu verfassen, und verlangt, dass dies auf englisch zu geschehen habe. Die Studierenden sind jünger, haben aber die Kriegssituation miterlebt und kennen die Geschichten ihrer Eltern aus der Jugo-Zeit. Leiderfahrung, so meint sie, sei leichter in einer Fremdsprache als in der eigenen zu schreiben. Als Autorin des Ministarstvo Boli hält sie sich allerdings an das Kroatische, mit gelegentlicher kajkavischer Dialektfärbung und entgeht somit der Schwierigkeit der neuen Sprachsituation, die sie an anderer Stelle ausführlich darstellt: kroatisch, serbisch, bosnisch, montenegrinisch. Der Zerfall der Sprachgemeinschaft, d.h. des für Titojugoslawien über lexikalische und geringe syntaktische Differenzen hinweg geltende Serbokroatisch wird offenbar von allen ihren Studierenden gleichermaßen als verhängnisvoll erfahren. Nur in Amsterdam können sie unzensiert »naški«, in unserer Sprache, reden. Ugrešić lässt ihre Ich-Erzählerin (ihre und der Studierenden Erfahrungen im Blick) sagen: »Zemlja iz koje smo došli bila je naša zajednička trauma.« (Ugrešić 2004, 63) (»Das Land, aus dem wir kamen, war unser gemeinsames Trauma«.) In jeder autobiographischen Aufzeichnung wird eine Verlustgeschichte mitgeschrieben und das Entgleiten des früheren gemeinsamen Idioms in seiner Vielstimmigkeit zum Thema. Das Exil hat eine Sprachsituation herbeigeführt, in der das »naš jezik« zerfallen und eine Gereiztheit wegen dialektaler Besonderheiten, Aussprachegewohnheiten, eine allgemeine Unduldsamkeit gegenüber dem Sprechmodus der jeweils anderen entstanden ist: »Selima je iritirala Bobanova ekavica, bilo je to više nego očito. Kada bi Boban govorio, Selim je kolutao očima, puhao u zrak, zakašljavao se.« (Ugrešić 1997, 47) (»Selim ging Bobans serbisch-ekavische Aussprache offensichtlich auf die Nerven. Wenn Bona sprach, verdrehte Selim die Augen, schnaufte, räusperte sich.« (Ugrešić 1998, 47). Ugrešić beobachtet ein Sprechverhalten, in dem sie merkwürdige Verfallserscheinungen registriert: »govore kao da napola gutaju riječi, kao da izbacuju iz sebe poluglasove« (ebd., 10), (»als verschluckten sie halbe Wörter, als stießen sie Halblaute aus.« [Ugrešić 1998, 12]). Ein fast logopädischer Blick gilt diesen Sprechenden, die »svaku najjednostavniju misao obilato podupire grimasama i tonovima (Ugrešić 1997, 10) (mit

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»Gesten und Grimassen die einfachsten Gedanken« [Ugrešić 1998, 12]) begleiten, oder sie nehmen Zuflucht zu einer Vermengung von »južnosrpskim govorom, zatim nekim imitacijom zagrebačke kajkavštine, onda bi otezala kao Bosanci, a onda bezrazložno podizala tonove na krivim mjestima, kao autistična djeca.« (Ugrešić 1997, 47) (»südserbischer Rede, Zagreber Mundart, bosnischem Akzent und autistischer Kindersprache.« [Ugrešić 1998, 40]) Das hier auf diese verquere Weise in seiner Vielfalt vorgestellte »Jugoslawische« Idiom ist problematisch geworden. Das gilt nicht nur für die Exil-Situation, vielmehr werden auch die einschneidenden Sprachveränderungen, die durch puristische Maßnahmen eingetreten sind und die rigorose Entflechtung der sich berührenden Sprachvarianten herbeigeführt haben, als traumatische Erfahrung geschildert.

12.7 Der Sprachverlust bedeutet sowohl die »Entmenschlichung« der Sprache, wie Vladimir Biti in seinem Ugrešić gewidmeten Artikel von 2007 konstatiert, als auch die Entsprachlichung der Sprache, deren Reinigung nicht nur das Lexikon, sondern auch die Gegenstände erfasste, die sie zu benennen pflegte. Die Verlustklage betrifft die Löschung des versprachlichten Jugo-Gedächtnisses, die Verleugnung des gemeinsam Gelebten und Gesprochenen. In Muzej bezuvjetne predaje (Das Museum der bedingungslosen Kapitulation) lässt Ugrešić ihre Erzählerin sagen: »Ali ako je zemlja nestala, nestat će i kolektivno pamćenje. Ako su nestali predmeti koji su nas okruživali, nestat će i sjećanje na svakidašnjicu koju smo živjeli. Sjećanje na bivšu zemlju je zabranjeno.« (Ugrešić 1997, 306) (»Wenn das Land verschwunden ist, verschwindet auch das kollektive Gedächtnis. Wenn die Gegenstände verschwunden sind, die uns umgeben haben, vergessen wir auch den Alltag, den wir lebten. Die Erinnerung an das ehemalige Land ist verboten.« [Ugrešić 1998, 291-292]) Der Einfall, ihre Studenten und Studentinnen Autobiographien schreiben zu lassen, ist als Verfahren zu lesen, das den eigenen autobiographischen Text kommentiert. Sie reproduziert die biographischen Entwürfe ihrer Studenten, um die Struktur, den Tonfall der eigenen aufzudecken. Die Stilisierung der wie Hausaufgaben abgelieferten Lebensbeschreibungen verlangt von ihr, die die Texte als Zitate der Erzählerin in den Mund legt, unterschiedliche Lexika, Stilisierung in unterschiedlicher Richtung. Es sind Sprünge aus einem Aspekt des Genres in einen anderen. Letztlich geht es um das Genre Autobiographie, das sie mit diesem Verfahren auch in seiner mnemonischen Leistung vorführt. Die verschiedenen Erinnerungsstile ihrer Studentengruppe, zwischen naiv und fast routiniert, subjektiv-gefühlsbetont und informativ, mit dem Versuch, eine objektive Position gegenüber dem Erlebten und Erfahrenen einzunehmen, lässt sie nebeneinander stehen. Die Lebensbeschreibung ihrer bosnischen Studentin Meliha, die in einem detaillierten Rezept zur Herstellung des Bosanski lonac besteht und völlig auf den Einbezug der eigenen Person verzichtet, zeigt: wie die Abbreviatur und Kondensierung eines Elements erlebten Lebens ein ganzes Panorama entwerfen kann. Da die autobiographischen Skizzen der Studierenden in Das Ministerium der Schmerzen abgedruckt sind, ist auf deren Fiktivität zu schließen, allerdings einer auf Faktischem basierenden. Entscheidend bleibt hier die Funktion des Verfahrens, das keinesfalls selbstbezüglich

12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

ist. Eine besondere Rolle spielt das Referat der Lebensbeschreibung des sog. Schwiegervaters, Papa genannt, der Gefangener auf Goli Otok war. Auch hier ist der Entwurf eines fiktiven Leidenswegs, der neben der Qual als Gewaltopfer auch die Zeit danach als geächteter ehemaliger Partisan zum Gegenstand hat, jederzeit durch Faktisches zu belegen. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein graphisch hervorgehobener Absatz über ihren veränderten literarischen Geschmack. Abkehr von der Selbstbezüglichkeit des Literarischen, von Artismen, von den Wortspielen um ihrer selbst willen. Abkehr von der Poetik, die ihr aus dem Zagreber Studium, besonders des russischen Formalismus vertraut war. Die Zweckgerichtetheit scheint dem entgegen gesetzt und eben just auf die Autobiographie in ihrem Verständnis zuzutreffen. Vladimir Biti hat in seinem umfangreichen Begriffskompendium Literatur- und Kulturtheorie den Anspruch der Autobiographie auf Wahrhaftigkeit betont, »in dem sie sich für die Identität von Autor und Erzähler, bzw. zumindest für die autorenseitige Absicherung der Erzähleraussage verbürgt«. (Biti 2001, 77-80) Aber er bleibt nicht bei dieser basalen Bestimmung. Biti diskutiert das Genre betreffende Thesen. Die Autobiographie als Ablösung des Romans einerseits, als in Wechselbeziehung mit anderen Erzählgenres stehend andererseits oder als ein authentisches Genre der Frauenprosa, als ein Schreibmodus der »Rückkehr zu sich selbst«. In vielen Ansätzen, die auch in Bitis Buch Doba svjedočenja eine Rolle spielen, geht es gerade nicht um die Bestätigung dieser Koalition von Autor und Ich-Erzähler, vielmehr um das komplexe Maskenspiel, dem sich das autobiographische Ich unterwirft, um nicht als authentisches entlarvt zu werden. Das Maskenspiel im Falle Ugrešićs ist sehr transparent, weil die in der Amsterdamer Slavistik als Lektorin für Serbokroatisch lehrende Tanja Lučić und das belegbare Faktum einer solchen Tätigkeit an diesem Ort samt dem vorangegangenen Lebensweg für Dubravka Ugrešić gilt. Es geht nicht um Strategien der Entfremdung zwischen Ich-Erzählerin und Autorin, es geht nicht um ein Sich-Verbergen, ein Verschwinden hinter einer Erzählerinnen-Figur, zumal sie in einigen Texten auf diese Figur gänzlich verzichtet. Die erinnernde Rekonstruktion ihrer Vergangenheit als Kind, Studentin, Dozentin in Zagreb vermittelt in jeder sprachlichen Wendung, in jeder eigenwilligen Schilderung von beiläufigen oder wesentlichen Details ihrer Umgebung eine eindringliche Verlässlichkeit. Die Schreiberin/Sprecherin ist die Autorin Dubravka Ugrešić, ihre Streifzüge der Erinnerung und ihre Bekundungen von Abscheu und Ekel angesichts eines heillosen Zustands der Dinge sind autobiographisch, auch wenn die Verwischung der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion bekundet wird – nachgerade ein erfolgloser Versuch, die Wahrheit loszuwerden. Das Autobiographische wird hier einerseits wie ein historisches Medium, bzw. als Medium der Berichterstattung eingesetzt, verbürgt durch eine Zeitzeugin, andererseits wird es als Podium genutzt, scharfe Analysen aus stark moralisch ausgerichteter Perspektive zu liefern. Gerade das Angebot, alles von ihr Geschriebene für Ausgedachtes halten zu dürfen, einschließlich des Ortes, von dem aus erzählt wird, das sie in Muzej bezuvjetne predaje (Museum der bedingungslosen Kapitulation) den Lesenden macht, bestätigt ihren unbedingten Wahrheitsanspruch. Ugrešić beharrt auf einem Wertesystem, zu dem es für sie keine Alternative geben kann und hofft sich in diesem Punkt in Übereinstimmung mit ihren Lesern, um de-

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ren Aufklärung und Einstimmung es ihr geht. Sie ist besessen vom Thema, d.h. der Tatsache, die Thema geworden ist: »Migration«. Sie schreibt: »izbjeglice iz Slavonije, Hrvati, kretale su se prema Zagrebu, prema Istri, prema moru. Izbjeglice iz Bosne prema jugu, u Hrvatsku, ili prema istoku, u Srbiju. Hrvatski Srbi tiho su curili iz Hrvatske, sve dok ih, kasnije, nisu masovno protjerali. Mađari iz Vojvodine tiho su se odlijevali u Mađarsku. I Srbi će poslije krenuti za njima. Albanci s Kosova, i oni će krenuti« (Ugrešić 1997, 22)   »die kroatischen Flüchtlinge aus Slawonien machten sich auf nach Zagreb, nach Istrien, zum Meer. Die Flüchtlinge aus Bosnien nach Süden, nach Kroatien, oder nach Osten, nach Serbien. Die kroatischen Serben wanderten leise aus Kroatien ab, bis sie später in Massen vertrieben wurden. Die Ungarn aus der Vojvodina wanderten still nach Ungarn aus. Später sollten ihnen Serben folgen. Die Albaner aus dem Kosovo.« – Ugrešić 1998, 23 Dann lässt sie die Erzählerin sagen: »Bili smo posvuda. Mnogi su na vrijeme pobjegli na bolja mjesta. […] Evropa je vrvjela bivšim Jugosima.« (Ugrešić 1997, 24) (»Wir waren überall. Viele flohen rechtzeitig an bessere Orte […] Europa wimmelte von ehemaligen Jugos.« [ Ugrešić 1998, ebd.]) Sie teilt dies der außerjugoslawischen Leserschaft mit, um die Gebiete namentlich anzuführen, sie ins geographische Gedächtnis zu rufen. Darin liegt Pathos, aber auch der Versuch, ein soziologisches Interesse für die Verschiebungen auf dem Balkan zu wecken. Auch geht es ihr darum, Aufmerksamkeit auf die Gräueltaten zu lenken, von denen sie Kenntnis erlangt hat. Als kritische, ja missgünstige Beobachterin des europäischen und amerikanischen Buchmarktes und der sich dort abzeichnenden Trends äußert sie ihre Verbitterung über eine Literatur der Perversion, der extremen Grausamkeit, eine Literatur des ausgedachten, des fiktiven Bösen inmitten des realen Bösen, das niemand wahrnehme. Sie verweist dabei auf die publizierten Selbstaussagen zweier paramilitärischer »Soldaten«, eines kroatischen und eines serbischen, deren nachgerade offenherzige und selbstzufriedene Beschreibungen ihrer Folter-Methoden sie zutiefst erschüttert haben. Ein Kapitel von Ministarstvo boli ist einem Besuch (einem vermutlich faktischen Besuch) des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag gewidmet, um einer Sitzung des Tribunals beizuwohnen, auf der die Verhandlung des Falles des Vaters von Uroš auf der Tagesordnung steht; jenes Uroš, der das Partisanenlied zur Unzeit vortrug und der aus Scham wegen der Taten seines Vaters Selbstmord begangen hat. (Hier folgt eine Liste von Selbstmorden aus Scham während der Balkanereignisse und in deren Folge, die die Aufzählung von verpassten Gelegenheiten umfasst, bei denen das erwartete »Ich bin schuldig« hätte gesprochen werden müssen.) (Zu ›Scham‹ Biti 2007, 301f.) Die Sitzung des Haager Tribunals hat nichts Klärendes noch tröstet es mit der Aussicht auf »Gerechtigkeit«. Die Details der Untaten des Angeklagten sind abscheulich, ein Urteilsspruch wird aufgeschoben. (Die Ich-Erzählerin zieht es vor, im Den Haager Museum [Mauritshuis] Vermeers ›Mädchen mit dem Perlenohrgehänge‹ anzuschauen, woraus sich Abschweifungen von eher unterhaltsamer oder allegorischer Art ergeben.) Der Wechsel zwischen Berichtston, der neutral und präzis sich ausnimmt, Anklage, die meist emo-

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tional geprägt ist, und einem Duktus der Verfremdung, der ein plötzliches Abrücken vom Faktischen erlaubt – eine Art negativer Poetisierung – prägt Ugrešićs Stil. Kultura laži, Ministarstvo boli, Zabranjeno čitanje und Muzej bezuvjetne predaje sind genrespezifisch zweifellos anders gepolt und doch vom Anspruch her komplementär zu den kulturologischen Betrachtungen Bogdanovićs zu lesende Texte. Bei Bogdanović ist die Trauer wegen der endgültigen Zersplitterung einer über Jahrhunderte gewachsenen Koexistenz und einer gleichgestimmten Gedächtnistradition in einem Diskurs der Melancholie aufgehoben, der auf nichts Weiteres sinnt. Ugrešić versucht der durch verfälschende Sichtweisen begonnenen Zersetzung des Vergangenen entgegenzuwirken, indem sie die Falsifikationen beim Namen nennt und – als Jugo-Archäologin – auf dem »es ist so gewesen« beharrt.

12.8 Der Verzicht auf Kontinuität im Erzählen, auf einen »linearen Erzählmodus«, auf den Davor Beganović als ein durchgängiges Verfahren hinweist, lässt »die Vergangenheit in einer sprunghaften Abwechslung von Ereignissen, Umständen und mikroskopisch genauen Beobachtungen« in Erscheinung treten (Beganović 2007, 153). Es entsteht ein Gedächtnis, das Svetlana Boym als »A memory, composed of both official symbols and multiple fragments and splinters of the past« beschreibt. (Boym 2001, 52)

12.9 Auch in der »Arbeit am Gedächtnis« unterscheiden sich Ugrešić und Jergović voneinander. Die (programmatische) Kontinuität in Jergovićs Erzählen entwickelt eine Dynamik, die historische Distanzen zu löschen vermag. Ein Erzählfluss, der nichts unberührt lässt, alle Ereignisse, Einschnitte in Lebensläufe, Umschwünge, die Kriegsereignisse, die Reaktionen darauf, einschließt, schafft einen gewaltigen mnemonischen Raum, in dem Nostalgie von der Memoria quasi verschlungen wird. Der Historiograph der Sippe und ihrer Verstrickung in ethnische, religiöse, politische Balkanismen findet die Rettung aus seinem Text im Phantasma seines Todes – just in Sarajevo, der Stadt seiner Kindheit und Jugend, die er in Erinnerungskaskaden vor Augen führt, als Stadt, die zu einer Art Angelpunkt der verzettelten Lebensläufe seiner Verwandten wurde, und für den dort geborenen, in ein Dorf bei Zagreb weggezogenen Erzähler weiterhin ist. Davor Beganović bezeichnet diese Erzählstrategie als »die intime Geographie der Stadt«: »Jergovićev pripovjedač, vodeći nas sigurnom rukom kroz mjesta koja su obilježila život njega i njegove obitelji u Sarajevu, ispisuje intimnu geografiju toga grada«. (Beganović 2007) Die Stadt ersteht in der Konkretheit ihrer Gebäude, Kirchen, Moscheen und Plätze, den Namen ihrer Straßen, jede Benennung ist getragen von einem ›emotionalen‹ Interesse an der Geschichte ihrer Entstehung: »Mejtaš, opis mjesta, Sepetarevac, Zatikuša, zaboravljeni sokak, Ulica Maršala Tita, san i sjećanje« heißen Kapitel in Inventarna knjiga. Die Spuren von Bombardement und Belagerung wirken wie darin versunken. Das Phantasma des plötzlichen Todes im Hotelzimmer, dann auch als

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Traum berichtet, ist vom Wissen um das Sterben der Mutter durchdrungen, deren Tod sein Phantasma vorwegnimmt. Sarajevo, dem Sterben verwandt, ist der Ort, an dem sich sterben lässt; mit dem Besuch der Friedhöfe tauchen wieder die Verstorbenen der Sippe mit ihren Lebensgeschichten auf. Es ist, als ob sich das Erzählen nie wird davon freimachen können – vom Rod in Gefangenschaft gehalten. Das gilt auch für das den Abschluss bildende Foto-Kapitel Povijest, fotografije, in dem der Erzählmodus durch die Bindung an ein konkretes, dem Leser präsentiertes Foto ekphrastische Züge annimmt. (Jandl 2018, 199-230) Die hier dingfest gemachten Abbildungen der Verwandten, naher und ferner, erscheinen als ›Vergegenständlichung‹ aller Bilder, in die Jergović die Geschichten des Rod, beginnend mit dem Großvater, dem Švabo, komprimiert hat (eine ans Ende gesetzte mise-en-abyme).

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12. Jugonostalgie – Jergović, Ugrešić

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13. Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur

Neben einer üppigen Rede- und Schriftkultur, insbesondere in Homiletik und Hagiographie, entwickelt sich in Russland vom 11.-15. Jahrhundert eine rigorose Schweigeaskese. Diese Dualität von Schweigen und Reden in demselben kulturell-religiösen Raum lässt sich schwerlich als Opposition zwischen der in vielen Punkten abweichenden Mönchkultur und der offiziellen Kirchenkultur darstellen. Denn die Hagiographen und Prediger machen in etlichen Fällen gerade die Asketen und Hesychasten zu ihren heiligen Helden, womit diese nahezu einen kanonischen Status erlangen. Es ist der asketische Lebensstil der Schweiger, dem der rhetorische Aufwand in Vita und Homilie gilt. Die Paradoxie zwischen Schweigen und Schreiben bzw. Sprechen darüber wird verschärft oder erst als solche deutlich, wenn die Hesychasten selbst – als Lehrer ihrer Praxis – in ihren auf probare und movere angelegten Unterweisungen aus dem Schweigen heraustreten.

13.1 Hesychasmus (von gr. hesychia, Ruhe, Stille, Einsamkeit) bezeichnet eine frühchristliche Praxis der kontemplativen Versenkung und Abgeschiedenheit. Zentral in dieser Praxis ist das als Rückzug aus der Sprache, d.h. aus der Sprache der Welt, verstandene Schweigen. Das Schweigen der Hesychasten richtet sich an niemanden, ist nicht auf Wahrnehmung durch andere angelegt, mit andern Worten, es ist nicht demonstrativ, vielmehr ist es eine Gott gewidmete Verzichthandlung. Dennoch hat die Schweigeaskese der Weltverächter eine spektakuläre Seite, die die Welt provoziert, darüber zu sprechen1 . Die Schweigeaskese erfährt ihre erste Ausprägung in der sog. palästinisch-sinaitischen Tradition des 4.-5. Jahrhunderts, wird im 12. Jahrhundert auf dem Athos neu

1

Peter Fuchs formuliert zugespitzt: »Als ex-orbitante Ereignisse haben diese Eskapaden kommunikative Folgen. Wüstenväter und Säulenheilige können kommunikativ nicht ignoriert werden. Sie werden zu thematischen Zentren religiöser Kommunikation.«(1989, 31)

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Verborgenes und Manifestes

belebt und gehört seit dem 14. Jahrhundert (nach früheren Anfängen) zum Inventar religiöser Übungen russischer Frömmigkeit. (Hagemeister 2009, 77-98). Neben der ostkirchlichen Tradition hat sich mit der Regula Sancti Benedicti und der Klostergründung Brunos von Köln in der Chartreuse, d.h. mit der Regel des Guigo von Chastel eine monastische Schweige-Tradition der Westkirche entwickelt. In der monastischen ebenso wie in der anachoretischen Tradition geht es um Selbstbeherrschung, Vergessen des früheren, welthaften Lebens, wird vor der Verunreinigung des Heiligen durch unnütze Worte gewarnt. Mireille Schnyder sieht in ihrer wegweisenden Monographie »Topographie des Schweigens« (Schnyder 2003) die »asketische Redeabstinenz« mit Bezug auf Gregor d. Gr. und Ps.-Augustinus als Reaktion auf eine Gefährdung durch Sprache in geistlicher Didaxe, wo die multiloquitas als Facette der superbia gilt. Sie zitiert aus dem gregorianischen Regulae pastoralis liber: Aquam quippe dimittere est linguam in fluxum eloquii relaxare und aus Pseudo-Augustinus’ De silentio: Verbositas enim quid aliud est, quam semen quod fructum non facit. Wenn »das flüssige Reden als Beginn einer Überschwemmung« gefürchtet und »der Wortreichtum als unfruchtbarer Samen«2 getadelt wird, eröffnet das Schweigen einen Raum des Maßes, in den nur die notwendigen verbalen Zeichen Eintritt erhalten. In der ostkirchlichen wie in der westkirchlichen Tradition schließt die hesychastische Praxis den Verzicht auf weltliches Handeln und den Versuch einer Leidenschaftslosigkeit, apatheia, ein, deren Einhaltung durch die nüchterne Wachsamkeit, nepsis, garantiert werden muss. Der Aspekt der Wachsamkeit tritt auch in der Regula Benedicti im Kapitel De taciturnitate in einprägsamen Formulierungen hervor: Faciamus quod ait Propheta: Dixi: custodians vias meas, ut non delinquam in lingua mea. Posui ori custodiam, obmutui et humiliatus sum et silui a bonis. His ostendit Propheta, si a bonis eloquiis interdum propter taciturnitatem debet tacere, quanto magis a malis verbis propter poenam peccati debet cessare.   Tun wir, was der Prophet sagt: Ich sprach, ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Vor meinen Mund stellte ich eine Wache. Ich wurde stumm, demütig und schwieg vom Guten. Damit zeigt der Prophet, dass man der Schweigsamkeit halber mitunter sogar von guter Rede lassen muß; um so mehr muß man dann die Strafe für Sünde wegen bösen Redens vermeiden.3 Die entsprechende Regel in den Consuetudines Cartusiae (zw. 1121 und 1128) des Guigo von Chastel lautet: Praecipue studium et propositum nostrum est silentio et solitudini cellae vacare. In den Elementa. Praecipua Ordinis monastici von 1880 (des Benediktiners Maurus Wolter OSB (1825-1890), auf den sich Peter Fuchs in »Reden und Schweigen« bezieht, heißt es in der deutschen Fassung »Grundlagen des Benediktinischen Mönchtums« (Beuron 1955):

2 3

Ich übernehme das Zitat und dessen deutsche Paraphrase von Schnyder (2003, 160). Zitiert und übersetzt von P. Fuchs 1989, 36.

13. Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur

»Mit allem Eifer musst Du daher die Welt fliehen, der du den Rücken gekehrt hast, und den verderblichen Verkehr mit ihr meiden […] Heilig und unverletzbar sei dir die Umfriedung (Klausur) des Klosters, nicht allein die äußere, vielmehr die innere, geistige, nämlich das Stillschweigen, jenes deutliche Kennzeichen der klösterlichen Zucht«. Bezüglich der Praxis besteht zwischen den anachoretischen und den monastisch eingebundenen Schweigeasketen ein schwer zu fassender Unterschied. Wichtiger allerdings erscheint der Unterschied zwischen nüchterner und ekstatisch-mystischer Schweigepraxis. Letztere wird von den Kartäusern abgelehnt, während sie bei den russischen Asketen konstitutiver Bestandteil der spirituellen Übung ist. Dies gilt insbesondere für den Starzen Nil Sorskij, der im 15. Jahrhundert in Russland die Hesychasmus-Bewegung erneuert hat, wobei er an die ältere, ägyptisch-sinaitische Tradition der Wüstenväter anknüpft, aber auch einige Aspekte aus der Lehre und Praxis der byzantinischen Kirchenväter aufnimmt4 . Bei Nil Sorskij ist Weltflucht zugleich Sprachflucht, Flucht vor Handlung, vor Leidenschaft, Planung und Sorge um Tagesgeschäfte. In seiner einen konkreten, wenn auch zunächst nur potentiellen Schüler direkt ansprechenden Anleitung beruft er sich auf Isaak den Syrer (Syriacus): »Um das wahre Schweigen zu erlangen, musst du dich aus der Sicht der Welt entfernen, jede Art von Gespräch meiden.« »Gespräche mit andern beunruhigen, verwirren unsere Seele.« Und noch eindringlicher: »Bewahre dich vor jeder Berührung mit anderen […] deine Freunde sollen deine Zelle nie betreten […] es sei denn, sie sind genauso fortgeschritten im mystischen Gebet wie du.« Aus verbaler Berührung mit anderen entsteht Beunruhigung. Wieder ist es die nepsis, die als Wächterin fungieren soll. Die Frequenz der Erwähnung dieser Instanz lässt auf eine ›neptische‹ Regelung des Tages- und Nachtverlaufs schließen. Nil folgt dem hesychastischen Lehrer Evagrius Ponticus (346-399), der in De oratione im Stile der palästinischsinaitischen Tradition die Leerung der Gedanken von Bildern und Vorstellungen, die apostasis noimaton, verlangt. Johannes Climacus (325-399) bezeichnet diese gedankliche Übung mit Termini wie apothesis noimaton oder amerimnia, was Sorglosigkeit im Sinne einer Abstinenz von jeglicher Sorge um weltliche Belange bedeutet. Bei Ps.- Dionysios Areopagita ist von einer Kreisbewegung die Rede, die der echte Hesychast im Schweigen erlebt: »Der Geist kehrt in sich selbst zurück und wird eins mit sich selbst«. Bei Basileos d. Gr. (gest. 379) heißt es: »Der Geist ist nicht mehr in äußeren Dingen zerstreut, er schweift nicht mit den Sinnen durch die Welt. Er kehrt zu sich selbst zurück und steigt durch sich selbst zu Gott empor«5 . Leerung von allem, was das spirituelle Überleben behindern könnte, einerseits und Sammlung des dafür Notwendigen andererseits machen die Rückkehr ins Selbst möglich. In dieser Vorstellung erscheint das bis zur apothesis noimaton gelebte Leben als von Zer-Streuung, von Entäußerung des Geistes bestimmt – ein Vorgang, der rückgängig gemacht werden muss. Auch Nil Sorskij hält an dieser Vorstellung fest, wenn er die 4

5

Vgl. die grundlegenden Studien von G. Maloney, Russian Hesychasm. The Spirituality of Nil Sorskij, The Hague, Paris 1973 und F. von Lilienfeld, Nil Sorskij und seine Schriften: die Krise der Tradition im Russland Ivans III., Halle, Wittenberg 1963; I. Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen. Die spirituellen Meister der russisch-orthodoxen Kirche, (2004), Hagemeister (2009) Alle Zitate nach Maloney(1973, 112).

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»schweigende [Wegwendung] von jedem Gedanken« (молчаще от всякого момысла) empfiehlt oder vorschreibt, so als habe der Gedanke selbst bereits Lautqualität (lärmende Gedanken). Die totale Fixierung auf Gott (das Göttliche) und das Streben nach der Vereinigung, dem Einswerden, henosis, schließen theologische Reflexion ebenso aus wie Versuche allegorischer Schriftauslegung. Verstand, Intellekt, Sprache sind keine vermittelnden Instanzen mehr, denn es geht um eine mystisch erfahrene Unmittelbarkeit, wo der Verstand, nous sein Recht verliert, Zwischen dem Göttlichen und dem Hesychasten gibt es nichts – weder zu reden noch zu denken. Das Vertreiben und Löschen von Bildern/Vorstellungen der früheren, nunmehr verlassenen Welt ist ein Exerzitium, das auch im westlichen Mönchtum empfohlen wird. (Coleman 1991, 207-227) Nil nennt dies eine »spirituelle Praxis« (делание мысленое), die den Körper verändert. Der Körper hat quasi kein Außen mehr. Die Abwesenheit des körperlichen Körpers wird durch die Füllung seines Innenraums kompensiert, der aus Herz-Seele besteht. (Die physischen Innereien sind für dieses mystische Körperkonzept inexistent.) Die Zelle des Anachoreten (auch »Wüste« genannt), die die absolute Einsamkeit vorschreibt und gewährt, lässt das Körper-Innere ebenfalls als Zelle, als Gebetszelle, erscheinen. Die Klausur wird quasi nach innen verlegt, was einer Verdoppelung der Klausur gleichkommt. Aber es gibt auch eine Überhöhung der Klausur: das belegen Bilder der Bewegung nach innen, der Rückkehr ins Innere, in den Herz- oder Seelenraum, in dem sich der Hesychast aufhält und den er nur verlässt, wenn ihm ekstatische Zustände eine Bewegung nach oben gestatten. Auch die der Übung geltende Beschreibungssprache wird von den semantischen Feldern ›innen‹ und ›oben‹ beherrscht. Das Schweigen ist ein Exzess, das Austreten aus der von der Sprache garantierten Ordnung – oder das ekstatische Aufsuchen einer sprachlichen Heterotopie. Ob die Hesychia eine Art Auto-Kommunikation ermöglicht oder bewirkt, ist eine Frage, die nur vorläufig mit der Vermutung beantwortet werden kann, dass das exklusive Gebet in der Wüsten-Zelle keine Gemeinschaft zulässt. Es besteht also eine Opposition zwischen der Inoffizialität des nicht-gesprochenen Gebets und dem offiziellen kanonischen Gebet, das nicht nur, dem Ritus folgend, Ort und Zeit beachtet, sondern auch die Gemeinschaft und eine hörbare Realisierung verlangt. Das Unmittelbar-zu-Gott-Sein dagegen verzichtet auf die Vermittler-Rolle der Kirche und damit auch auf Verständigung und Auslegung. Das Exerzitium der Sprachabtötung, der Bilderlöschung und der forcierten Nichtanteilnahme an den Dingen der Welt führt zu jener inneren Leere, die die Visionen und ekstatischen Erfahrungen ermöglicht. Das Schweigen als Zustand erreichen heißt auch, sich im Ungegliederten, in gewisser Weise Ungeformten, ja durch nichts Akzentuierten einzurichten. Noch einmal zurück zur generellen Problematik des Schweigens: Es ist zwischen dem »nicht in einen sprachlichen Kontext eingebundenen (Schweigen)« und dem »beredten Schweigen« (Schnyder 2003, 70) zu unterscheiden, das sich nicht nur in unterschiedlichen Formen realisiert, sondern auch mit unterschiedlichen Funktionen auftritt – folglich auch beschrieben werden kann. Mit letzterem ist das Schweigen als Pause gemeint, das als Intervall, als Innehalten den Zeitraum der Rede, des Sprechens organisiert und ›rhetorisch‹ eingesetzt wird. Besonders das verharrende Gedankensammeln vor der Rede, das Unterbrechen der Rede oder die emphatische Auslassung, auch das

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feierliche Innehalten nach der Rede sind von der Rhetorik benannte und beschriebene Verfahren: Anakoluth, Aposiopese, Ellipse, Abbreviatur, Allusion, Exclamatio, Enthymema. Auslassungen und Andeutungen beziehen sich auf das (unsagbare) Heilige, das Intime, das Schreckliche, das Erhabene etc. Heinrich Lausberg (1973)unterscheidet im Bereich der Aposiopese die Affekt-Aposiopese, die berechnete Aposiopese, die religiöse Aposiopese, die den Publikumsgeschmack berücksichtigende Aposiopese und die emphatische Aposiopese, die den ausgesparten Gegenstand größer, furchtbarer, unaussprechbar erscheinen lässt. Es geht hier um eine rhetorisch gesteuerte Affektunterdrückung. Sie hat das Ziel der Affektsteigerung, die in der Regel zu Verfahren des genus sublime gehört. Rituell motiviert, aber nicht rhetorisch ausgerichtet, sind Schweigegebote bezüglich des Heiligen Namens, des Redens an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten. (Das Gebot/Verbot betrifft z.B. die Aussprache des Tetragrammatons, das Reden (Flüstern, Lachen) bei zeremoniellen kirchlichen (Gottesdienst, Grabrede) oder weltlichen (Theateraufführung, Konzert, Festrede) Anlässen. Auch das mythisch fundierte Schweigen gehört in eine Typologie des Schweigens ebenso wie das Schweigegebot der Priester und Ärzte, das Schweigen von durch ein Gelübde Gebundenen und das Verschweigen des Erlittenen der Gewaltopfer6 . Nicht als rhetorisch, aber als linguistisch qualifizierbar erscheint das emotionale Schweigen, das einem Verstummen unter Schock, aus Angst, oder Ehrfurcht gleichkommt, ebenso wie das mehr oder weniger gelenkte Schweigen, das von einem Sprecher ausgeht, Adressaten gilt und eine referenzielle oder autoreferennzielle Ausrichtung erkennen lässt. Gian Paolo Caprettini hat in »Per una tipologia del silenzio«. (1989, 35-57) diesbezüglich überzeugend eine sprachfunktionale Bestimmung vorgeschlagen, die auf Roman Jakobsons Sprachfunktionen Bezug nimmt. Wie steht es nun mit der Beschreibbarkeit des hesychastischen Schweigens im Kontext der genannten unterschiedlichen Schweigetypen? Einem rhetorischen Zugang scheint es sich nicht zu erschließen, da der Rückzug aus der Rhetorik vernünftiger Kommunikation ein dem Ewigen zugewandtes Schweigen anstrebt, das auch aus der zeitlichen Sprache auszuscheren versucht. Die Kommunikationsverweigerung erweist sich als ein excessus lingualis, eine alienatio linguae7 .

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Susanne Gödde hat in: »Unsagbares sagen. Ästhetische und rituelle Aspekte des Schweigens in der griechischen Tragödie: Ödipus, Orest« (2005, 255-284), das Schweigen antiker Tragödienhelden, die zu Schuldigen wurden, untersucht. Die Vater-, Mutter-Mörder, die Inzestverbrecher dürfen das Wort für ihr Verbrechen nicht aussprechen, wie im Falle von Ödipus oder Orest. Zum Verbot, die heiligen Namen auszusprechen, vgl. auch Bogdanov (2002, 146). Michel De Certeau hat in »Le silence de l’absolu« (1979, 525-546) auf das Schweigen der Namenlosen im ägyptischen Kloster des 4.Jahrhunderts hingewiesen – mit deren überlieferter Vita die Geschichte der »saloi«, der »jurodivye« und der »fous pour le Christ« anhebt. Die demütig ihre vom Abbas entdeckte Vervollkommnung Leugnende weist seine Worte, »segne mich« als Echo zurück. »Elle ne parle done pas qu’en lui faisant 1'écho, restant elle-même silencieuse dans les mots de lui qu’elle redit«. -Vgl. Kap. 16.

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13.2 Nun stellt sich allerdings die Frage, ob das hesychastische Schweigen tatsächlich außersprachlich ist, wenn man ein konstitutives Element der hesychastischen Übung mit einbezieht: das Gebet, Es kommt hier allerdings nur ein einziges in Frage: das Jesusgebet oder Herzensgebet, dessen Besonderheit nicht nur in seiner Kürze, sondern auch in der Notwendigkeit besteht, ohne Unterlass gebetet zu werden. Das Beten in Permanenz geht auf eine Stelle aus Paulus’ 1. Thessalonicherbrief, Kap. 5, Vers 17 zurück, wo es heißt: »Betet ohne Unterlaß«. Diese allgemeine Aufforderung an die Gläubigen bezieht sich nun allerdings nicht auf das besondere Jesusgebet. Die Jesusgebet-Beter berufen sich daher auf eine andere Quelle, nämlich eine Stelle aus dem Markus-Evangelium (10,47). Markus lässt den blinden Bettler Bartimäus aus Jericho ausrufen: »Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner« und berichtet von der darauf erfolgenden Wunderheilung durch Jesus, die mit dem lapidaren Satz: »Dein Glaube hat dir geholfen« abgeschlossen wird. Wenn dies tatsächlich der Beginn des Jesusgebets ist, dann ist die semantische Konstellation merkwürdig. Ein Blinder wird durch das Jesusgebet sehend, sein Gebrechen wird geheilt. Die Sehenden hingegen werden durch das Jesusgebet sprachlos, sie erwerben ein Gebrechen, indem sie auf die göttliche Gabe der Sprache verzichten. Das Gebrechen der Stummheit wird an anderer Stelle als Vorzug des wahrhaft Gläubigen gepriesen. Denn das Defizit führt näher zu Gott. Die Stummen werden ohne Einschränkung als selig bezeichnet. Dagegen steht die Wunderheilung des Stummen, die bei Markus mit dem Heilungswort: »epheta, tue dich auf« referiert wird. Die Hesychasten dagegen schließen den Mund. Das innerlich gesprochene Jesusgebet ist reine Anrufung. Es enthält weder Worte der Verherrlichung noch solche der Bekundung von Glaubensinhalten in Bezug auf das göttliche Wesen (Gottessohnschaft, Dreifaltigkeit) oder die Erlösungstat Christi etc. Die reine innere Anrufung, d.h. der Gebetsappell, lässt sich schwerlich mit der imitatio des predigenden, wandernden und wunderheilenden Christus zusammen sehen, wie sie für die Apostel und ihre Nachfolger im Stil der Apostelgeschichte gilt8 . Die Gebetspraxis dieses Typs reicht bis in die Zeit des frühen östlichen Mönchtums zurück. Dort wurden kurze Bibelzitate, häufig auch Psalmverse meditativ wiederholt, teilweise gemurmelt, teilweise innerlich gesprochen. Statt der Bibelzitate wurde in einer späteren Phase der Gebetsübung der Name »Jesus« rezitiert. Die Form »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner« ist bereits für das 6. Jahrhundert belegt. Die zweite große Phase in der Geschichte des Jesusgebets ist mit dem im 12. Jahrhundert auf dem Berg Athos praktizierten Hesychasmus verbunden. Hernach spielt es seine Rolle mit dessen Wiederaufleben bei den russischen Anachoreten des 15. Jahrhunderts.9

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Man könnte hier von einem anderen imitatio Christi-Typ sprechen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Russland ein Pilger-Erlebnis-Buch, in dem das Jesusgebet zitiert wird, veröffentlicht, dessen Übersetzung in viele Sprachen zur Verbreitung des Gebets beitrug. In Deutschland wurde das Buch unter dem Titel Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers bekannt (Jungclausen, R. von Walter 1974). Es gibt eine analoge Praxis bei den Kartäusern. Bei den Benediktinern werden Psalmen (repetitiv) gebetet, deren Funktion derjenigen des Jesusgebets vergleichbar ist. Die benediktinische Praxis verlangt zum einen Schweigsamkeit und inneres

13. Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur

Es gibt keinen einheitlichen Gebetstext. Mögliche Formulierungen sind: »Herr Jesus Christus«, »Jesus Christus«, »Jesus«, »Christus Jesus«. Nach der Anrufung des Namens Jesu kann eine Erbarmungsbitte angeschlossen werden. Etwa: »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner«; »Herr Jesus Christus, (du) Sohn Gottes, erbarme dich meiner«; »Herr Jesus Christus, (du) Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir (Sünder)«. Das Exerzitium umfasst folgende Schritte: der Gebetstext wird mehrmals laut gesprochen oder zumindest mit den Lippen geformt: zunächst dreitausendmal (anhand einer Knotenschnur), dann sechs- bis zwölftausendmal und schließlich sooft wie möglich. Im zweiten Schritt wird das Gebet zum inneren Gebet. Nun kann bewusst auf die Atmung beim Gebet geachtet werden, wobei beim Einatmen etwa »Herr Jesus Christus« und beim Ausatmen »erbarme dich meiner« gebetet werden kann. Danach wird der Rhythmus des Herzschlags in das Beten miteinbezogen. Beim ersten Herzschlag wird »Herr«, beim zweiten »Jesus«, beim dritten »Christus« usw. gebetet. In der dritten Phase schließlich ist das Gebet so sehr verinnerlicht, dass es gleichsam automatisch mit jedem Atemzug oder Herzschlag gebetet wird. Gregor Sinaiticus (1255-1346) formuliert die Anweisung: In der Frühe säe deinen Samen, d.h. bete, und lass deine Hand am Abend nicht sinken, d.h. unterbrich dein ständiges Gebet nicht. Du könntest sonst Gefahr laufen, die Stunde der Erhörung zu versäumen. Setze dich am Morgen auf einen niedrigen Schemel in halbgebeugter Haltung. In dieser Stellung lass deinen Atem gleichsam in dein Herz strömen, und halte ihn dort fest. Während du mühsam gebeugt bleibst, rufe trotz lebhafter Schmerzen in Brust, Schultern und Nacken ohne Unterlass in dein Gemüt hinein: ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner‹. […] Durch den göttlichen Namen wirst du alle Gedanken vertreiben und deine unsichtbaren Feinde nach den Worten des hl. Johannes von der Leiter mit Peitschen schlagen10 . Atem- und Herzschlagrhythmen regulieren das Gebet, so wie dieses die Rhythmen reguliert. Der Rückzug aus der Sprache, d.h. der artikulierten äußeren Sprache, mündet in ein Gebets-Automaton. Die Hesychasten haben diese Erfahrung wiederholt beschrieben. Das Jesusgebet hat sich also verselbständigt und folglich den Hesychasten entmündigt. Dieser braucht weder mündlich zu rezitieren noch die Übung der Ver-Innerung durchzuführen, da das Gebet, die Nennung-Atmung des Namens Jesu, ungezählte Male repetiert, die äußere Sprache zum Verstummen gebracht hat. Der so Betende, sprachlos, gedankenlos und aller Bilder ledig, zerstört die sprachliche memoria, betreibt eine ars oblivionalis. Wer ist der Adressat, wenn die Gebetsformel einen ekstatischen Zustand bewirken soll, in dem die Kommunikation durch die henosis abgelöst wird? Die Hesychia (im ekstatischen Höhepunkt) wird als Gegenwart erfahren, in der der Betende und der Angerufene nicht mehr kommunizieren, denn die Atem-Gebetshandlung bedarf keiner

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Gebet, zum andern gilt die winterliche Ordnung der Vigilien, die vorsieht, dass dreimal der Vers »Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob verkündet« gebetet werde. Kleine Philokalie. Betrachtungen der Mönchsväter über das Herzensgebet (Dietz, Smolitsch, Baumotte, (1997, 34f.)

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Verständigung, keiner Kommunikation mehr. Vielmehr geht es, wie die Belehrungen nahe legen, um den Versuch, mit Hilfe des Jesus-Gebets der Energien Gottes teilhaftig zu werden oder das Tabor-Licht zu erblicken, d.h. die Verklärung Jesu nachzuerleben. Nicht um Erkenntnis geht es – das Wesen Gottes bleibt verborgen. Die Unterscheidung, die Gregorios Palamas, Athosmönch (später Erzbischof von Thessalonike) (1296/97−1359) zwischen dem Wesen Gottes und den von Gott ausgehenden ewigen Energien getroffen hat, schließt die Unterscheidung zwischen apophatischer Theologie und mystischer Annäherung an das Göttliche ein. Die Apophatik betrifft das Wesen, während die dem Menschen zugewandte (veräußerte) Seite Gottes energetisch ist und durch Atem, Herzrhythmus und das damit in Wechselbeziehung stehende Automaton des Innengebetes empfangen werden kann. Der Empfang der Energien führt zur Ekstase. Die Deutungen dieser ekstatischen Vorgänge haben zum sog. Hesychasmusstreit geführt, dessen zentrale Argumente Michael Hagemeister auslegt. Es ging dabei »um die Frage, inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet, wie das Schauen von Licht, aber auch die Empfindung von Wärme und Wohlgeruch, als Begegnung mit der Realität Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen, also als Einbildungen oder gar Inspirationen dämonischer Mächte). Palamas löst die Frage, indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstellungen das unzugängliche, ewige »Wesen« (οὐσία) Gottes von seiner in der geschaffenen Welt, d.h. in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen »Wirkkraft« oder »Energie« (ἐνέργεια) unterscheidet, nicht aber trennt.«/…/»Als höchstes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen Energien mit der göttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes, wie sie den Jüngern Jesu bei dessen Verklärung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις) widerfährt.« (Hagemeister 2009, 77-98) Der palamitische Hesychasmus wurde im Westen insbesondere von dem Mönch Barlaam aus Kalabrien, (ca. 1290– 1348) bezüglich der Lichtvisionen und der sich dem Menschen mitteilenden Energien mit einer »in der Tradition der abendländischen rationalistischen Scholastik« (2009, 78) stehenden Argumentation (als häretisch) zurückgewiesen. Die Unerkennbarkeit Gottes einerseits und die Synergie-›Lehre‹ der Palamisten andererseits erwiesen sich als unvereinbar.11 Nil Sorskij blieb vom Hesychasmusstreit unberührt: das ekstatische Verlassen des Körpers wird als energetischer Vorgang beschrieben, das geistige Gebet (умная молитва), das Herzens- oder Jesusgebet, führt in den Zustand der Ekstase (изступление), die nach den Stufen der Reinigung und Lichtvision (photismos) zur Vereinung (henosis) gesteigert wird: Nil nennt dies das »Gemeinsein« (приобщаться) mit dem Göttlichen im Sinne einer Kommunion, nicht einer Kommunikation. D.h., das Schweigen erweist sich im Jesusgebet (Reduktionsform eines Gebets) als innere Rede, wobei das Herz als ›sprechendes Organ‹ erscheint. Das Beten des Jesusgebets lässt das Schweigen als ›inneres Sprechen‹ erscheinen. Der russische Psycholinguist Lev Vygotskij hat sich in Denken und Sprechen (1977, 203) mit der »Bedeutung der inneren Rede für das Denken« (es geht ihm in Auseinanderset-

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»Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schärfste ab. Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an. Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenüber dem Westen« (Hagemeister 2009, 89)

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zung mit Jean Piaget um die Sprach- und Denkgenese beim Kind) beschäftigt, wobei er von einer strukturellen und funktionalen Differenz zwischen innerer und äußerer Rede ausgeht und einen Zwischenbegriff, den der »egozentrischen Rede«, einführt, der die Passage von äußerer in innere Rede fassen soll. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass Vygotskij auf den Nichtzusammenfall von innerer Rede und Denken in folgendem Fall aufmerksam macht: das innere Aufsagen eines auswendig gelernten Gedichts habe nichts mit Denken zu tun. Der Rückzug der Schweiger in die innere Rede, die im Aufsagen einer Gebetsformel besteht, hätte demnach nichts mit Denken (im Sinne einer intellektuellen Tätigkeit) gemein. Vygotskij sieht die egozentrische Rede in einem Übergangsstadium zum Denken, wobei Denken im Sinne einer »planenden Operation, der Lösung einer neuen Aufgabe« verstanden wird. D.h., die egozentrische Rede ist bereits innere Rede bezüglich ihrer Funktion, sie ist auf dem Wege nach innen (wobei sie, rein physiologisch, noch äußere Rede ist). Die Rede wird zur inneren, weil sich ihre Funktion ändert. Die Denk-Funktion der inneren Rede ist mithin dann suspendiert, wenn sie durch das als automatisches Gebet ›realisierte‹ Schweigen ersetzt wird. Der Rückzug der Schweiger aus der Sprache schließt erklärtermaßen den Verzicht auf Denken (theologisches, logisches, philosophisches) ein. Gregorios Palamas hat die Kritik Barlaams des Kalabresen an der Schweigepraxis mit der Verurteilung der streitenden Philosophie, der Bildung, des äußeren Wissens nachdrücklich zurückgewiesen. Hieran mag sich ein weiterer Aspekt anknüpfen lassen: das Nicht-Buchstabenbezogene der inneren Rede. Die Abwesenheit der Schrift- bzw. Buch-Metaphorik ist zweifellos auffällig. Wenn das wahre Wissen im inneren Wort erfahren wird, kann der Ort der Grammatik, der das Wissen speichernden Buchstaben verlassen werden. Mireille Schnyder verweist auf die Gebetstheologie des Anselm von Canterbury und formuliert in der Interpretation seiner diesbezüglichen Kritik der äußeren Sprache, dass es geradezu um »die Zerstörung des Buchstabens« gehe. (Schnyder 2003, 63, Bogdanov 2002, 163) Was ebenfalls in dieser nach innen schauenden (nicht-analytischen) Theologie fehlt, ist die Buch-Topik. Es geht beim Beten weder um die Lesbarkeit der Welt noch um die Entzifferung des Schöpfungsplans. Der ostkirchliche Hesychasmus mit seiner anti-intellektualistischen Ausrichtung und dem ausgeprägten Spiritualismus lässt theologisch-christologische Spekulationen nicht zu, das betrifft auch die »sprachtheologische« Seite des Schweigens, die Mireille Schnyder herausstellt Weder das Konzept des inkarnierten Logos noch die Vorstellung eines schweigenden Schöpfergottes noch diejenige eines unkörperlichen Schöpferwortes, die Augustinus in einer komplexen Argumentation entwickelt (Confessiones, XI, 6,8), haben ein Pendant in der auf Exerzitium und Introversion ausgerichteten Sprachlosigkeit. Gegen die Bewegung im Zeichenfluss, die durch Worte, die Gedanken transportieren, hervorgerufen wird, wird die Monotonie des ›immobilen‹ Jesusgebets gesetzt. Dieses besteht, wie bereits vorgeführt, aus der denkbar schlichtesten, ornamentlosesten Aneinanderfügung von eine Formel konstituierenden Elementen. Man kann es umstandslos als a-rhetorisch bezeichnen. Es stellt sich allerdings die Frage nach seiner sprachlichen Verfasstheit, genauer: nach der Rolle der Sprachfunktionen. Hier ließe sich das an Karl Bühlers Funktionen-Triade anschließende sechsgliedrige Modell von Jakobson heranziehen, indem man es nicht wie Caprettini für die Funktionsanalyse des Schweigens, sondern für diejenige der ›inneren Rede‹ einsetzt. Jakobson hat

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zwar nicht die innere Rede, sondern die äußere, artikulierte Rede mit seinem Funktionsmodell differenziert, doch kann man an bestimmte Aspekte seiner Terminologie und Definitionen anknüpfen. So etwa an seine Unterscheidung von »innerer Wortform« und »äußerer Wortform« (Jakobson 1921). Neben äußerer und innerer Form führt er als drittes Element »Bedeutung oder Inhalt« an, was er unter Berufung auf Husserl als »dinglichen Bezug« bezeichnet. Die Ausblendung des dinglichen Bezugs, d.h. der Referenz, bei gleichzeitiger Aktualisierung der inneren und äußeren Form ergibt seine frühe Poetizitätsbestimmung: poetische Sprache ist Äußerung mit Einstellung auf den Ausdruck. Die Einstellung auf den Ausdruck als Einstellung auf die Sprachlichkeit der Sprache meint deren Selbstzwecklichkeit (samocel’nost’). Um diese Selbstzwecklichkeit, die den dinglichen Bezug ausgeblendet hat, zu bestimmen, führt Jakobson den Begriff der »negativen inneren Form« (otricatel’naja vnutrennjaja forma) ein. Die negative innere Form vermittelt nicht den Laut an die Bedeutung, sie funktioniert als Ort der Bedeutungssuspension, als Rückverweis auf den Laut, im Sinne der Einstellung auf den Ausdruck. Dies ließe sich auf die ›innere Lautung‹ des Jesus-Gebets übertragen. Durch die möglichst unzähligen Wiederholungen der wenigen Worte (mindestens 12000 Mal) verschmelzen Signifikant und Signifikat: es kommt so zu einer Sinnentleerung (einer mystischen Sinnleere) oder zu Referenzlosigkeit und Selbstbezüglichkeit. Aber noch ein weiteres ließe sich anführen: In Bezug auf die sog. sinnüberschreitende Sprache (zaumnyj jazyk) des Futuristen Velimir Chlebnikov spricht Jakobson vom »Verlust der Gegenständlichkeit«, hernach der inneren und der äußeren Form. »Die poetische Sprache strebt als zu einer Grenze dem lautlichen, genauer, dem euphonischen Wort, der sinnüberschreitenden Rede zu«. Hiermit wäre auch das sinnüberschreitende Gebet in seiner verinnerlichten Euphonie erfassbar. Aber auch das Funktionsmodell des späteren Jakobson, das die Triade von Bühler komplettiert, lässt zu, Aspekte einzelner Funktionen auf das innere Sprechen zu übertragen. Etwa folgendermaßen: die Einstellung auf den Referenten (Kontext) korreliert mit der referentiellen oder denotativen Funktion, die Einstellung auf den Sender korreliert mit der emotiven oder expressiven Funktion; die Einstellung auf den Empfänger korreliert mit der konativen Funktion; die Einstellung auf den Kontakt, (aber – abweichend von Bronislaw Malinowski – als Eröffnung und Aufrechterhaltung des Kontakts) korreliert mit der phatischen Funktion; die Einstellung auf den Kode mit der metasprachlichen und die Einstellung auf die Botschaft (den Ausdruck, das sprachliche Zeichen) mit der poetischen Funktion. Die konative Funktion, die ihren reinsten grammatischen Ausdruck im Vokativ und Imperativ findet (die Bühlersche Appellfunktion) scheint der inneren Anrufung »Jesus« am besten zu entsprechen, auch wenn das lautlos geschieht, während die referentiell-denotative Funktion ebenso wie die metasprachliche als ausgeblendet erscheint. Es ist die Frage, ob die emotiv-expressive eine Rolle spielt, da es ja um die Selbstaufgabe des betenden Ich geht, das freilich phatisch den Kontakt mit dem Göttlichen herzustellen versucht. Schließt man mystik-skeptisch diese Funktion aus, kommt man wieder auf die des Selbstbezugs zurück, in der das sprachliche Zeichen wie bei der poetischen Funktion zum Gegenstand wird. Es wird deutlich, der Versuch, eine Funktionsanalyse des inneren Sprechens als eines durch eine repetitiv eingesetzte unkomplexe (ungemein eintönige) Wortfolge bestimmten Schweigens vorzunehmen, bleibt problematisch – oder sogar unmöglich: George Steiner spricht in »Sprache und Schweigen« von

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der grundsätzlichen Nichtübersetzbarkeit des Schweigens in Sprache, der Sprache in Schweigen (Steiner 1973, 94).

13.3 Fragen dieser Art stellen sich nicht bei der Lektüre der Texte, die überaus wortreich und rhetorisch reguliert über den Hesychasmus verfasst worden sind, auch von den Hesychasten selbst. Hierbei geht es um das Paradox des Redens über das Schweigen und des Schreibens über die Schweiger und Beter. Was in den Vordergrund tritt, sind die Rhetorik der Unterweisung (durch den Meister, den Starec), die Beschreibung der ekstatischen Erfahrung und die Rhetorik der hagiographischen Texte, deren Helden die Schweiger sind. Dabei aber wird stets von einem Unsagbaren, einem ineffabile, ›gesprochen‹. Dieses tritt doppelt auf: Die Hesychasten vermögen den Ausnahmezustand der energetischen Erhöhung nicht zu beschreiben, und die Hagiographen vermögen die Askeseleistungen der heiligmäßig Schweigenden nicht zu beschreiben (und beide tun es doch). Bemerkenswert im Kontext der Paradoxie ist die schriftliche Fixierung des Hesychasmus durch die Sammlung der Schriften der frühchristlichen und mittelalterlichen Hesychasten-Theoretiker und Praktiker, der sog. ΦΙΛΟΚΑΛΙΑ. Die Sammlung kam auf dem Berg Athos Mitte des 18. Jahrhundert zu Stande, die erste Publikation erfolgte 1782 in Venedig. Danach wurde eine kirchenslavische Übersetzung durch den Archimandriten Paisij Veličkovskij hergestellt, die 1793 in Sankt Petersburg mit dem Titel »Dobrotoljubie«, Tugendliebe, im Druck erschien12 . Die zur mystischen Erfahrung führende asketische Praxis wird wortreich empfohlen, vorgeschrieben und beschrieben. Für den Schweige-Lehrer und -Praktiker Nil Sorskij sind hierbei zwei Genres wichtig: die Regula und der didaktische Brief. Seine Regula, der sog. Ustav, ist ein umfangreiches, sprachlich ausgefeiltes Werk, das zum Lesen und zur Nachfolge bestimmt ist, d.h. Adressaten hat, die zur Herstellung von Nichtkommunikation angeleitet werden. Es legt eine Art Verhaltensgrammatik fest, eine Grammatik der Ver-Innerung, wobei die Genauigkeit der Anweisung und die Aufzählung der einzelnen Schritte der Askeseübung kennzeichnend sind. Die Unterweisungen sind pointiert kommunikativ und beruhen auf einer Beziehung zwischen dem Starzen und dem Schüler, bzw. stellen eine solche erst her. In den Unterweisungen werden mögliche Fragen antizipiert und Probleme des Versagens behandelt. (Sie haben, soweit man das den

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1877 entstand auf dem Athos im russischen Pantelejmon-Kloster eine 5-bändige Ausgabe in der russischen Übersetzung von Theophan dem Klausner (Feofan Zatvornik). Die hesychastischen Übungen sind mit diesen Ausgaben nachlesbar geworden und haben eine neue Jesusgebetswelle in Russland bewirkt, die bisher nicht abgeebbt ist. Eine 11-bändige französische Ausgabe mit dem Titel »Philocalie des Pères Neptiques« wurde in der Abbaye de Bellefontaine ab 1979 bis in die 80er Jahre publiziert. Die deutschsprachige Ausgabe: Kleine Philokalie ist eine Anthologie von Auszügen aus Werken, Sprüchen (Apophthegmen), Belehrungen von ursprünglich 26, später 38 asketischen orthodoxen Schriftstellern (Altvätern, Wüstenvätern) aus dem 4. bis 15. Jahrhundert. Bedeutende Autoren der Philokalie sind Gregor der Sinait, Symeon der Neue Theologe, Johannes von Damaskus, Makarius der Große von Ägypten, Isaak und Ephraim die Syrer, Evagrius Ponticus, Johannes Klimakos, Gregorios Palamas.

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schriftlichen Texten ansehen kann, stellenweise eine mündliche Struktur, wobei das Kirchenslavische durch das volkssprachliche Idiom des Russischen ersetzt wird13 .) Nimmt man die Opposition zwischen Immanenz und Transzendenz auf, die Peter Fuchs für die Beschreibung der Paradoxie der »nicht transzendierbaren Diesseitigkeit der Jenseitigkeit« einführt (Fuchs 1989, 26), so ließe sich für Nil Sorskij sagen, dass er die Paradoxie unterläuft, indem er die hesychastischen Rigoren mildert und notwendige irdische Kommunikation ausdrücklich zulässt. Damit wird die Selbstgerichtetheit des Schweigens für kurze Zeit aufhebbar und spiegelt sich im Antipoden Rede. Das Scheitern der hesychastischen Askese, die »Immanentisierung der Transzendenz«, wird bei Nil Sorskij immer mitgedacht. Eine weitere Paradoxie, in der die genannte pointiert zum Ausdruck kommt, besteht in dem scheinbaren Zwang, die Erfahrung ekstatischer Zustände zur Sprache zu bringen. Nil Sorskij ist sich bei der Beschreibung seiner erlebten Ekstasen des Gedankens bewusst, dass diese letztendlich in den Bereich des Unsagbaren gehören. Mit den Worten des Ps.-Dionysios versucht er, das Paradox zu entschärfen: »Will man von etwas sprechen, wie erhaben und über alles Verstehen es ist, so muss man ihm irgend einen Namen geben.«(Maloney 1973, 142). Das Doppelspiel, das ein so verstandenes ineffabile erlaubt, wird in Nils Beschreibungen deutlich. Im Ustav, ein über Isaac den Syrer vermitteltes Zitat aus der Lehre des Evagrius aufnehmend, spricht er über das in der Ekstase entstehende absolute Schweigen, wenn das Gebet dem Betenden nicht mehr gehört: Wenn die Menschen so ein unsagbares (ineffabile) Entzücken empfinden, schneidet dieser Zustand alles stimmliche Gebet vom Munde ab; die Zunge, das Herz, der Wächter aller Gedanken, und der Geist, der Ernährer der Gefühle, werden zum Schweigen gebracht samt den Gedanken, die gewöhnlich herumschwirren wie flatternde Vögel; nun ist es nicht mehr der Gedanke, der das Gebet beherrscht, sondern es selbst wird von einer andern Kraft regiert; es ist in geheimer Gefangenschaft und findet sich in Verwirrung [eher: Verwunderung, RL], denn es verweilt auf unsagbaren Dingen (ineffabile) und weiß nicht, wo es ist. (Maloney 1973, 142). Hier lässt die Beschreibung darauf schließen, dass Ekstase das Verstummen und Löschen der Gedanken und Vorstellungen bewirkt und die Verselbständigung des Gebets die Berührung mit dem ineffabile herbeiführt. Wenn der Ekstatiker das mystische Ereignis sprachlich vermittelt und sich dabei eines Stils der höchsten Affektstufe bedient, tritt dem Leser solcher Beschreibung die Sagbarkeit des Unsagbaren provokativ entgegen. So bei Nil Sorski, der Isaak den Syrer rekapituliert: Wenn die Seele diese spirituelle Tätigkeit auf sich nimmt und sich Gott unterwirft und durch direkte Verbindung sich ihm, der Göttlichkeit annähert, ist sie in ihrer Bewegung von einem starken Licht erhellt und erfährt ein Glücksgefühl wie dasjenige, das uns im Jenseits erwartet. Dann erwärmt eine unbeschreibliche Süße das Herz, der ganze

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Die funktionale Differenzierung der Diglossie Kirchenslavisch-Russisch spielt bei der Beurteilung der Texte eine zentrale Rolle, grundlegend dazu Boris Uspenskij, »Diglossija i dvujazyčie v istorii russkogo literaturnogo jazyka« (1983, 81-126).

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Körper wird von Schwingungen erfaßt und man vergisst nicht nur jede Leidenschaft, sondern auch das Leben selbst und denkt, dass das himmlische Königreich nur aus diesem ekstatischen Zustand besteht. Er erfährt, dass die Liebe Gottes süßer ist als das Leben und die Kenntnis von Gott süßer als Honig. (Maloney 1973, 142) An anderer Stelle nimmt er die Ekphrasis Simeons des Neuen Theologen auf: Ich sehe ein Licht, das nicht von dieser Welt ist. In meiner Zelle sitzend sehe ich in mir den Schöpfer der Welt. Ich spreche mit ihm, ich liebe ihn und nähre mich von diesem einen göttlichen Bild. In der Vereinigung mit ihm werde ich in den Himmel gehoben. Wo ist der Körper. Ich weiß es nicht, denn Gott hat mich in sein Wesen empfangen und verbirgt mich in seiner Umarmung und ich bin im Himmel und gleichzeitig in meinem Herzen, ER wird mir sichtbar. Der Herrscher der Welt erscheint mir ähnlich wie den Engeln, aber für mich vorteilhafter, denn für sie ist er unsichtbar und unnahbar, während er mir sichtbar ist und sich mit meinem Wesen vereint. Dies ist der Zustand, den der Hl. Paulus beschrieb, wenn er sagte: ›was das Auge nicht gesehen, das Ohr nicht gehört hat‹. Indem ich in dem Zustand verharre, habe ich keinen Wunsch, meine Zelle zu verlassen, sondern ich wünsche mich in einem tiefen Loch zu verbergen und hier, entfernt von der obigen [irdischen] Welt, würde ich auf meinen unsterblichen Herrn und Schöpfer schauen. (Maloney 1973, 142) Das Verbergen in der Tiefe (dem Pendant zum ›oben‹) entspricht der Weltflucht, der Apotaxis, die Fuchs im Sinne einer Bewegung weg von der Ordnung versteht (1989, 16). Für den Ekstatiker geht es nicht, wie Fuchs meint, »um die unmögliche Überschreitung eines Horizontes im Horizont, um die (weltlichen Sinn negierende) aktuale Unendlichkeit im Endlichen« oder um das Problem »Ortloses im Örtlichen, Zeitloses im Zeitlichen, Unendliches im Endlichen ansiedeln zu müssen« (1989, 76), denn die in der Schweigeaskese erwirkte Ekstase wird selbst als Paradox, bzw. das Paradox als Ekstase, erlebt. Im ›ekstatischen Chronotop‹ (absolute Gegenwart, absoluter Ort) ist das Paradox aufgehoben. Die Rückkehr ins Nicht-Ekstatische ist eine Rückkehr aus dem Anderen. Erst die Rückkehr lässt auch das Paradox seine beunruhigende nach Worten verlangende Kraft wieder gewinnen. Nil Sorskij vermag das Paradox des Sprechens über das Unaussprechliche besonders dann zu mildern, wenn er die für die hesychastische Tätigkeit benutzten Begriffe als nicht der menschlichen Sprache entlehnt, sondern als aus göttlicher Gnade stammend bezeichnet: Begriffe wie »geistige Tätigkeit«, »spirituelle Übung«, »Herzensgebet«, »Den Geist in Schweigen halten«, »den Geist im Herzen frei von Bildern halten«. Er sichert seine Sprache gewissermaßen durch die göttliche Sprachautorität ab. Das ineffabile nennt er beim Namen (несказуемое, невыразимое). Das Wort ineffabile im Falle des Ekstatikers, der im Schreiben darüber eine Distanz zum Erleben herstellt, ist der letztgültige Signifikant, den die (irdische) Spracht; zur Verfügung stellen kann. (Oder anders: Man kann sagen, dass man etwas nicht sagen kann. D.h., das Unsagbare ist ein Wort der Sagbarkeit.) Aber das Paradox lässt sich auch aus anderer Perspektive beleuchten. Bruno Lauretano hat in »II linguaggio silenzioso« zwei Ebenen des Schweigens unterschieden, die des Nicht-Sprechens und die des Unsagbaren, die er dennoch sich verknüpfen sieht:

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»e l’esame del silenzio come non dire si intesse con quello dell’indicibile« (1989, 405-423). Es entsteht eine Koalition des Nicht-Sprechens mit dem Unsagbaren. Daran könnte man anknüpfen: Das Nicht-Sprechen erscheint als eine Demonstration des Unsagbaren. D.h., das Schweigen ist demnach Teil der apophatischen Tradition. Und damit ergibt sich die Möglichkeit, die Funktion des Jesusgebets zu bestimmen: es steht für das ineffabile. Das permanente, sinnfreie Beten ist die Annäherung an das Unsagbare. Auch das Paradox: das Unaussprechliche (also eigentlich zu Verschweigende), das gleichwohl in die Sprache drängt, stockt in den sich verschränkenden Ebenen. Prediger und Hagiographen haben ebenfalls mit dem Paradox zu tun. Die Prediger übersetzen die ewigen Wahrheiten in zeitliche Worte. Der Zweifel an der Sprache und ihrer Ausdruckskraft (und Wahrheitsfähigkeit) geht zusammen mit einem gewaltigen rhetorischen Aufwand, ornatus difficilis. Die Sprache kann nicht und muss doch die das entzogene Göttliche betreffenden Glaubenswahrheiten aussprechen. Zunächst ist die Opposition zu beachten, die zwischen dem monastischen bzw. anachoretischen Schweigen und der Kommunikationsstruktur der auf Reden (Verkündigung, Lehre) angelegten Kirche in dem nämlichen religiös-kulturellen Raum besteht. Mireille Schnyder formuliert das folgendermaßen: »Denn die Antithese Kloster/Welt –’silentium’/’clamor’, die den Rahmen monastischer Sprachreflexion bestimmte, wurde in der verstärkt geforderten Predigtarbeit durch das in der Welt verkündete geistliche Wort gebrochen.« (2003, 91) Dieselbe Opposition gilt für den orthodoxen Raum: Redelosigkeit, Wortlosigkeit (безмолвие) vs. lautstimmiger, lauttönender Gottesdienst (громогласие, громогласное служение). (Bogdanov 2002)

13.4 Das monastisch-anachoretische Schweigen ist selbstbezogen, un-sozial, die Predigt dagegen, die zugleich Gotteslob Exegese und Menschenmission ist, ist auf Rezeption ausgerichtet. Während die Hesychasmus-Tradition in Russland erst im 15. Jahrhundert auch als Text (Ustav) lesbar ist, gibt es eine ins 12. Jahrhundert zurückreichende Predigttradition, die in Abschriften überliefert ist. Die Predigt hat in Russland im 12. Jahrhundert mit Kirill von Turov einen Höhepunkt erreicht. Kirills Predigten zeugen vom Nachwirken der byzantinischen homiletischen Rhetorik. Doch erweist sich Kirill als Meister bestimmter Verfahren, die diese Tradition überhöhen: er setzt amplificatio, zugespitzte Antithetik, glaubensrelevante Paradoxa pointenbezogen ein. Aus der Verbindung einer hohen, den ornatus difficilis privilegierenden Stilebene mit einer Sprachinstrumentierung, die Dialogformen, Wechselgespräch als rhetorische Figuren in der Predigt umfasst, entsteht eine Persuasivkraft, die als Appell an die Gläubigen, als kommunikative Hinwendung an die Hörer funktioniert. Ingunn Lunde hat in ihrer Untersuchung den homiletischen Stil Kirills wie folgt charakterisiert: »Turov’s use of direct speech is one of the most conspicuous features of his sermons. The insertion of monologues, dialogues, eulogies, laments, or other forms of direct speech is not unknown in the homiletic genre. But the extent to which this device is employed in Kirill’s writings is remarkable.« (Lunde 2001, 161) Das Verfahren wird an homiletischen Texten aufgezeigt, in denen Kirill aus

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den Evangelien zitiert und seine Zitate an den Stellen ausweitet (»extended speech«), wo Ansätze zu einem Dialog dazu motivieren. Etwa die Szene zwischen Jesus und dem Gelähmten, der geheilt wird. Kirill lässt den Gelähmten in einer langen an den Heiler gewandten Rede seine Gebrechen in aller Ausführlichkeit vortragen und erteilt hernach Jesus das Wort zu einer langen Antwortrede, die mehr als die Paraphrase der Bibelworte, vielmehr deren Auslegung, ist14 . Wo immer Jesus laut Evangelientext mit einer Person in Kontakt tritt, inszeniert Kirill eine Art Wechselrede, die den Eindruck dramatischer Mündlichkeit erzeugt.

13.5 Die Hagiographie als zweites Beispiel für eine elaborierte Wortkultur ist mit ihren hervorragenden Vertretern ins 14. und 15. Jahrhundert zu datieren. (Allerdings hat die Vitenliteratur in Russland insgesamt ältere Wurzeln.) Die beredten Hagiographen kleiden das, was sie für unsagbar und unbeschreibbar halten, in eine Tropen-Flut und führen die Sagbarkeit des Unsagbaren rhetorisch vor. So wird die Klage über die Armut der Sprache zum Topos, ohne den kein hagiographischer Text auskommt, d.h. ein Modus rhetorisch vorgeführten sprachlichen Unvermögens entsteht, der gleichwohl das UnSagbare bewältigt, indem die Sprache bewältigt wird. Die Hyperbel oder die Hyperoche stellt dabei das adäquate Reden in den Schatten. Die Hyperbel ist der Versuch, die Sprache zu überlisten, ihr Steigerungsnuancen zu entlocken, die das ineffabile einzufangen vermögen. In der »Vita des HL Stefan«, des Bischofs von Perm, eines Sibirien-Missionars, sagt der Hagiograph Epifanij Premudryj15 über seinen Glaubenshelden: »es fällt mir schwer, Dich zu preisen, und es gebricht mir an Worten, denn ich bekenne, dass die Worte nicht ausreichen, zu arm, wirklich zu arm und außerdem noch ungeschlacht sind. Dennoch vernimm, ehrwürdiger Mann, als stummer Vater von den Lippen eines stammelnden Kindes« (104). Weiter heißt es: »unsichtbar auf vernünftigen Flügeln des Herzens« will ich dich lobpreisen, nicht auf »feinfühligen Papyrusblättern«. Eine Rhetorik der Synonyma, Pleonasmen, Neologismen, expressiven Epitheta soll den Eindruck der Unzulänglichkeit der Sprache vermitteln. Konkrete Bedeutungen schwinden dabei, d.h. die Kataphatik des Wortschwalls soll die Apophatik demonstrieren. Derselbe Hagiograph, Epifanij Premudryj, kompensiert die Armut der Sprache in seiner »Vita des Sergij von Radonež«16 mit verlangsamtem Erzählen und dem Verfahren der enumeratio: »Wer kann«, ruft Epifanij aus, »seine Einsamkeit, immerwährenden Gebete, […] schildern: seine warmen Tränen, sein Weinen der Seele, Seufzer des Herzens, das allnächtliche Wachen, seine ernste Gesänge, ununterbrochene Andacht, das Stehen, ohne sich niederzusetzen, das fleißige Vorlesen, die häufigen Kniefälle,

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Lunde zitiert den Originaltext und fügt englische Übersetzungen bei (2001, 173ff.) Žitie sv. Stefana, episkopa Permskogo, napisannoe Epifaniem Premudrym, Petersburg 1897. Die deutsche Übersetzung der Vitenzitate entnehme ich der deutschen Version des Werkes von D. S. Lichatschow, Der Mensch in der altrussischen Literatur (1975). Die Legenden des heiligen Sergij von Radonež, Nachdruck der Ausgabe von Tichonravov (Müller 1967.

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den Hunger, den Durst, das Schlafen auf der Erde, die geistige Armut, den Mangel an allem«. Dazu Aufzählung: »die Feldzüge der Teufel, die sichtbaren und unsichtbaren Kämpfe, das Ringen, die Bedrohung durch Dämonen, die diabolischen Erscheinungen, die Schrecken der Einöde, das Erwarten von ungeahnten Nöten, das Auftauchen wilder Tiere, und wütenden Angriffe«17 . Dies ist eine schier kataphatische enumeratio. Ein eindrückliches Beispiel für die rhetorisch vorgeführte Unmöglichkeit, den rechten Ausdruck zu finden, liefert die Vita des als heiligmäßig verehrten Zaren Dmitrij Ivanovič (Donskoj): Wie soll ich Dich nennen? Du hast wie ein Engel gelebt, obwohl du von Fleisch und Blut bist? Soll ich dich Mensch nennen? Aber du hast ein Werk vollbracht, das übermenschliches Vermögen hinausgeht. Nenne ich dich den Ersterschaffenen? Doch jener übertrat ja Gottes Gebot, nachdem er es angenommen hatte; Du aber hast dein heiliges Taufgelübde erfüllt. Soll ich dich Seth nennen? Jenen nannten die Menschen wegen seiner Weisheit einen Gott. Du aber hast deine Reinheit bewahrt und dich als Knecht Gottes erweisen und warst doch der Herrscher des russischen Reiches, indem du Gottes Thron verwaltet hast. Vergleiche ich dich mit Enoch? […] Bezeichne ich dich als Noah? […] Soll ich dich Abraham nennen? Soll ich dich als Isaak preisen? Soll ich dich als Israel besingen? […] Soll ich dich für einen Joseph erklären? […] Soll ich dich Moses nennen? Dann entschließt sich der Viten-Schreiber zu einer Metaphern- bzw. Periphrasen- Flut: Er war eine Ruhestätte für jene, die nach Gottes Gebot arbeiten, eine Posaune für die Schlafenden, ein friedlicher Wojewode, ein Siegerkranz, ein Rettungsanker für die Schwimmenden, ein Hort des Reichtums, eine Waffe gegen die Feinde, ein flammendes Schwert, eine unzerstörbare Mauer, ein Netz für jene, die Böses sinnen, eine sichere Leiter, ein Spiegel des Lebens, ein demütiger Sinn, eine Windstille und ein Daunenbett für die Vernunft18 . Die Sprache fängt das sich ihr Entziehende ein, indem sie das Unbeschreibbare in Ekphrasis, das ineffabile in eine Geschichte, die Apophatik in Kataphatik überführt.

13.6 Die Koexistenz von Schweigen und Reden, das sich über Paradoxa legitimiert, in demselben religiös-kulturellen Raum ist zweifellos kein russisches Sonderphänomen, gleichwohl ist die Renaissance des Hesychasmus im 15. Jahrhundert und die sich daraus ergebende Tradition, die jene der offiziellen Kirche zugeneigten Mönchsorden zu heftiger Kritik provoziert hat, ein Spezifikum der religiösen Kontroversen in 17 18

Das deutsche Zitat stammt aus D. Tschižewskij, Abriss der altrussischen Literatur (1986, 119). Zitiert nach Lichatschow, Der Mensch (1975, 125f.) In der Hagiographie sind sowohl die fingierten Reden der heiligen Helden als auch die fingierten Gespräche (mit Heiden, Zauberern, dem Teufel) stärker von der russischen Volkssprache als vom Kirchenslavischen geprägt, wodurch der Effekt von Mündlichkeit entsteht. Insbesondere der Verzicht, auf Abstrakta und bestimmte morphologische Charakteristika lässt eine Volkssprachlichkeit durchscheinen. Rein kirchenslavisch sind die Bibelzitate, Zitate aus den Kirchenvätern.

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Russland. Das Schweigemotiv hat sich im Übrigen verselbständigt und ist aus dem religiösen Rahmen herausgetreten. In literarischen Texten ist eine thematische Linie auszumachen, die aus dem Schweigen kommt und das Schweigen ›weiterschreibt‹ Schweigen erscheint als die authentische Rede: das Ausgelassene, Mitzuverstehende (unter Zensurbedingungen: das Nichtpublizierte). Es gibt eine Schweigelyrik seit der Romantik, mit Höhepunkten im Symbolismus und Akmeismus. (Bogdanov 2002) Eine Schlussüberlegung zum Schweigen sei noch angefügt: Der Sprachskepsis der hesychastischen Mystiker ließe sich folgendes Argument unterstellen: Christus ist das fleischgewordene Wort, aber die Rede über ihn ist verfälschend. Das Jesusgebet steht für das wahre inkarnierte Wort, nur dieses kann an Christus gerichtet werden. Es ist das einzige Wort (die einzigen Wörter), das alle anderen verdrängt. Man könnte hier analog zum Ikonoklasmus von Logoklasmus sprechen: Die Zerstörung der falschen Bilder – die Zerstörung der falschen Worte. Das Jesusgebet-Wort wäre in Analogie zur vera ikon, der eikon acheiropoietos zu sehen. Das nicht von Menschenhand gemachte Bild, der Abdruck des Antlitzes im Tuch (Bild-Abbild-Homologie) ist dem Wort vergleichbar, in dem Jesus, das fleischgewordene Wort, bis zur Gänze ausgedrückt ist. Die Dreistufigkeit des Erlernens und die Dreiteiligkeit im inneren Aufsagen: Herr Jesus-Christus (in der kompakten Form) wiederholt die Trinität; das dreigeteilte Jesusgebet erscheint als eine Art mise en abyme. Dazu kommt, dass auch das ikonoklastische Moment Bestandteil der Gebetspraxis ist. Denn das zum inneren Sehen verhelfende Schweigen, das die Lichtvision (photismos) ermöglicht, ist auch ein Resultat des Verzichts/Verbots des äußeren Sehens, des Bilderverbots. Frances Yates hat in »The Art of Memory« (1966) den Begriff »inner iconoclasm« eingeführt, womit sie eine Löschung der inneren Bilder meint, die der Calvinismus (gegen den Katholizismus gewendet) dem Gläubigen abverlangt. Janet Coleman geht in ihrer Studie »Das Bleichen des Gedächtnisses« der Bilderlöschung als monastischer Askese-Übung im Orden des Hl. Bernhard nach. Sie arbeitet heraus, dass es sich dabei um eine Mnemotechnik der Überdeckung weltlicher durch religiöse Erinnerungen handelt. Die Hesychasten sind radikaler: Alle inneren Bilder, auch die religiösen, guten, müssen vertilgt werden, damit die Leere entsteht, die die Lichtvision vorbereitet. Das hesychastische innere Sehen ist immer eines der Vorstellungslosigkeit, der Licht-Leere. Das leere Licht repräsentiert die Fülle entsprechend der oxymoralen Logik der Mystik, die auch das Sprachproblem bestimmt.

Bibliographie Baumotte, M. (Hg.), Kleine Philokalie. Betrachtungen der Mönchsväter über das Herzensgebet, übers. von M. Dietz, eingeleitet von I. Smolitsch, Zürich, Düsseldorf 1997. Bogdanov, Konstantin, Očerki po antropologii molčanija (Skizzen zur Anthropologie des Schweigens), St. Petersburg 2002. Caprettini, Gian Paolo, »Per una tipologia del silenzio«, in: M. Baldini, S. Zucal (Hg.), Le forme del silenzio i della parola, Brescia 1989, 35-57. Coleman, Janet, »Das Bleichen des Gedächtnisses. St. Bernhards monastische Mnemotechnik«, übers. von R. Helmstetter, in: A. Haverkamp, R. Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst, Frankfurt a.M. 1991, 207-227.

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14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

Der Hesychasmus, jene frühchristliche Praxis der kontemplativen Versenkung und Schweigeaskese, die in der palästinisch-sinaitischen Tradition ihre erste Ausprägung erlangte, im 12. Jahrhundert auf dem Athos neu ›belebt‹ wurde und seit dem 14. Jahrhundert (nach früheren Anfängen) zum Inventar religiöser Übungen russischer Frömmigkeit gehört, hat nicht zuletzt auch die Literatur infiziert. Schweigen, Verstummen, Stille, Leere, Einsamkeit erscheinen leitgedanklich in vielen Texten Gogol’s – semantische Nuancen, die das griechische hesychia enthält. Sergej Gončarov geht in Tvorčestvo Gogolja v religiozno-mističeskom kontekste (1997) und in seinem Artikel »The Metaphysics of Silence in Gogol’s Early Fiction« (1999) auf die Tradition des Asketismus ein und interpretiert das Schweigen von den frühesten bis zu den letzten Werken Gogol’s in einer von Grigorij Skovoroda und Vasilij Žukovskij geprägten mystischen Tradition. Aage Hansen-Löve hat in seiner ausgreifenden Studie »›Gogol’. Zur Poetik der Nullund Leerstelle« (1997, 183-303) den Leere- und Nichts-Komplex in der Poetik Gogol’s in einer der Apophatik geltenden Argumentation polyperspektivisch ausgefaltet und in seiner ›nosologischen‹ Spekulation aufs Hesychastische verwiesen. Sowohl in Gogol’s Sprachbehandlung des Verstummens und der Aphasie als auch in seiner Bild-Poetik der nature morte lässt sich ein hesychia-Moment ausmachen, das in den von Skovoroda und der älteren hesychastischen Tradition bestimmten Kontext gehört. Um diese beiden Punkte wird es im Folgenden gehen.

14.1 Ende des 18. Jahrhunderts erschienen nahezu zeitgleich die Schriften Skovorodas und die Philokalia, in der die für den Hesychasmus verbindlichen (Lehre und Praxis betreffenden) Texte der Kirchenväter versammelt sind1 . G. M. Prochorov weist auf die Über1

Es sind die für diese Übung Autorität besitzenden Texte der Kirchenväter, die Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Athos-Mönch Nikodemus in der Philokalia zusammengetragen wurden. Die erste Publikation der Sammlung erfolgte 1782 in Venedig, eine kirchenslavische Übersetzung durch den Archimandriten Paisij Veličkovskij erschien 1793 in Sankt Petersburg mit dem Titel Dobrotoljubie, Tugendliebe, (im Druck).

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Verborgenes und Manifestes

setzungen von Schriften der byzantinischen Kirchenväter ins Slavische (v slavjanskij jazyk) hin, in denen er eine diesen gemeinsame Lehre betont, die in der den Schweigezustand vorbereitenden Bekämpfung der »strasti«2 , Leidenschaften, besteht: »Der Hesychasmus ist unzertrennlich mit der Theorie der Leidenschaften verbunden. (1999, 44-58) Prochorov zählt Schriften auf, in denen letzteres titelgebend ist: »О священном и преполобоном и тела и души безмолвии« (Über das heilige und wohlgefällige Schweigen des Körpers und der Seele), »О многословии и молчании«; (Über die Geschwätzigkeit und das Schweigen), »О молчании и безмолвии и о житии тихом« (Über das Schweigen und Stummsein und über das stille Leben) u.a.3 Bei Nil Sorskij ist die Schweige-Askese nicht nur Welt-, sondern auch Sprach-Flucht.4 Im Athos-Hesychasmus des 12. Jahrhunderts spielt das (bereits für das 6. Jahrhundert belegte) Jesusgebet eine konstitutive Rolle, ebenso wie im 15. Jahrhundert in der Versenkungspraxis der russischen Anachoreten. Jesusgebet und Hesychasmus scheinen einander zu bedingen.5 Das Gebet, das in der durch eine besondere Atemtechnik6 ermöglichte ›innere‹ Nennung des Namens Jesu (eingliedrige Fassung) besteht, lässt die artikulierende Sprache verstummen.7

14.2 Das philosophische Werk Grigorij Skovorodas ist, wie Gončarov und vor ihm Dmitrij Tschižewskij nahelegen, in dieser Tradition verankert. Skovoroda, der Ende des 18. Jahrhunderts auf die Aufklärung gewissermaßen verzichtet, wird von Tschižewskij im Kontext barocker mystischer Philosophie interpretiert und quasi neu entdeckt (1974, 1941). 2 3

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In der Liste der neun strasti: »tščeslavie, gordost‘, unynie, pečal‘, gnev, srebroljubie, blud, črevoobjadenie« gibt es Parallelen zum ›Lasterkatalog‹. Eine zeitgenössische Definition der Askese gibt V. A. Kotel’nikov (1999, 31-35) Er ist der Meinung, dass nach dem erzwungenen Zusammenbruch der Klosterkultur, die Askesekultur sich erhalten habe. Er unterscheidet zwei, aber eng miteinander verbundene Seiten des Askese, eine, die in die Tiefen der menschlichen Natur eingeht, wo der Prozess der Vergöttlichung, Theosis beginne, und die zweite, die zur Gotteserkenntnis und Kommunikation mit Gott führe, (33). Zum Wirken von Nil Sorskij vgl. M. Toucas-Bouteau, Nil Sorskij e il monastero di Kirill di Beloosero, (1999, 71-95). Prochorov verweist auf die Verlagerung des Hesychasmus von Zentralrussland in den Norden. Als vehementer Vertreter der Hesychamus-Praxis und ihrer Bedeutung für die religiöse Wiederauferstehung Russlands als Erbe der byzantinischen Orthodoxie ist Prochorov allerdings eher bekennender als analytischer Interpret. Die Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Otkrovennye rasskazy strannika duchovnomu svoemu otcu wurden in viele Sprachen übersetzt und trugen zur nachgerade weltweiten Verbreitung des darin zitierten Jesusgebets bei. In 13. Auflage erschien die deutsche Fassung Aufrichtige Erzählungen eines Pilgers. (Jungclausen 2006) Um diese Atemtechnik geht es in Hansen-Löves Hinweis auf die Möglichkeit, hier der Nase Aufmerksamkeit zu zollen: »Die Nase ist einmal das Organ, mit dem Gerüche, also auch der diabolische Gestank wahrgenommen werden (slyšat’ zapach), es ist aber auch das Austrittsorgan für den Atem, das Pneuma und den Lebensgeist – man denke an die hesychastische Gebetstechnik« (207). So interpretiert; erscheint die Nase als hesychastisches ›Zentralorgan‹, denn die anderen Wahrnehmungsorgane sind zur Apathie verurteilt, nur die Nase ist aktiv. Vgl. Kap Schweigen und Reden.

14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

Skovoroda war in Vergessenheit geraten und auch die ukrainischen Romantiker, mit gelegentlichem Hang zu mystischen Konzepten, kannten ihn wohl nicht. Durch die Neuinterpretation der Schriften Skovorodas fällt auch auf Gogol ein barock-mystisches Licht. Skovoroda wird in seinem unsystematischen, in Gedankenfiguren des Paradox, der Antithese, des Oxymoron und des Kreises gefangenen Philosophieren gezeigt, wobei ein eigentümliches Gedankengebäude entsteht, das sich einer Symbolik verdankt, die aus einem »Rückzug ins Vorbegriffliche« hervorgegangen zu sein scheint. Skovoroda wird in den genannten Arbeiten nicht nur als mystischer Schriftsteller, sondern auch als Dichter dargestellt und aufgrund der Analyse seiner Verstechnik als Reformator der ukrainischen Verskunst bezeichnet. Skovoroda gehört »zu der überräumlichen und überzeitlichen Einheit der antithetischen Denker./…/In der Wirklichkeit wird von ihm jeweils das gesucht und herausgehoben, das polar-gegensätzlich, widerspruchsvoll, miteinander unvereinbar, unversöhnlich ist.« (Tschižewskij,1974 34) Tschižewskij geht davon aus, dass Skovoroda das aus der areopagitischen Tradition stammende Antithese-Denken, das in die ›europäische‹ Mystik Eingang gefunden hat, seiner Lektüre deutscher Mystiker verdanke. Es sind folgende Beispiele aus Skovoroda, mit denen Tschižewskij den antithetischen Duktus, den »antinomischen Stil« in Skovorodas Schreiben belegen kann: »in dieser ganzen Welt sind zwei Welten, die eine Welt bilden: die sichtbare und die unsichtbare Welt, die lebendige und die tote, die ganze und die zerstörbare. Die eine Welt ist Gewand, die andre – Körper, diese – Schatten, jene – Baum, diese – Materie, jene – Hypostase.« Dazu gehören auch die oxymoral zugespitzten Formeln: »Die Welt in der Welt ist die Ewigkeit in der Vergänglichkeit, Leben im Tode, Auferstehung im Schlafe, Licht in der Finsternis« (35). Lidija Sofronova hat in ihrer Monographie Tri mira Grigorija Skovorody (2002), an Tschižewskij anschließend, diese oxymorale Struktur mit weiteren Beispielen belegt: »В немощах – сила, в тлени – нетление, а в мелочи есть величие« (1, 2, 14)8 . (In der Schwäche ist Kraft, in der Verwesung Unverweslichkeit, im Geringen ist Größe.) Und weiter: »стареющая молодость, младенческое долголетие, конец безконечный« (alternde Jugend, jugendliche Langlebigkeit), »сладко грусть терплю« (11, 1, 89) (süß erleide ich eine Traurigkeit), »всякое щастие есть нещасное« (1, 1, 132) (jedes Glück ist unglücklich) und konstatiert: »Мир Сковороды оказывается насыщенным антитетичностью./…/Жизнь человека Сковорода описывает как движение между антитезами…Человек мечется между множеством противоположностей«. (108) (Die Welt Skovorodas ist von Antithetik bestimmt/…/Skovoroda beschreibt das Leben eines Menschen als Bewegung zwischen Antithesen. Der Mensch bewegt sich zwischen einer Vielzahl von Gegensätzen hin und her). Sofronova stellt zudem heraus, dass Skovorodas Oppositionen ein hierarchisches System bilden, das auf der Opposition heilig-weltlich gründet. Semantisch virulent ist insbesondere die Antithese Äußeres-Inneres, die die Antithese als VergänglichesUnvergängliches umschließt: »Слово, имя, знак, путь, след, нога, копыто, термин есть то тленныи ворота, ведущии к нетления источнику« (1, 1, 119) (Wort, Name, Zeichen, Weg, Spur, Fuß, Huf, Terminus sind die verweslichen Tore, die zum unverweslichen Ursprung hinführen), das bedeutet die radikale Verdinglichung abstrakter 8

Sofronova zitiert nach der Ausgabe G. S. Skovoroda, Sočinenija v dvuch tomach, hg. v. V. I. Šinkaruk.

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Verborgenes und Manifestes

Begriffe, d.h. Zeichen und Huf, Terminus und Fuß geraten auf dieselbe Ebene konkreter Materialität und ihrer Verweslichkeit. Alle genannten Elemente lassen sich unter die Kategorie Zeichen subsummieren: Zeichen stehen für das Vergängliche, Äußere, Irdische, für das Sichtbare (als Hülle und Maske), während die Bedeutung unvergänglich, unverweslich ist. »Kann denn das Vergängliche immer, d.h. ewig stehen?« fragt Skovoroda und fährt fort: »Es vergeht nichts an dir, weil Gott keine Verderbnis kennt«;/…/»Wie soll man nicht zittern, wenn man sieht, dass alles Vergängliche allaugenblicklich geboren wird und stirbt«./…/»Diese Welt vergeht…Vergeht allaugenblicklich. Trotzdem aber sehen wir in ihr all das, was auch schon früher war. Selbstverständlich liegt darin ein Geheimnis«.9 Die dem Paradox und der Antithese eigene Zweigliedrigkeit liegt auch den Konzepten von Dualität und Doppelt-Sein zugrunde, deren gemeinsamer Ort für Skovoroda die von Teufel und Gott gleichermaßen heimgesuchte Seele ist, die in dieser doppelten Besetztheit nicht neutral sein kann: »Нет здесь неутралства по двойному роду людей, вспомните евангельское распутие: путь узкий и пространный, десный и левый« (1, 1. 299) (es gibt keine Neutralität in der Doppelnatur der Menschen, erinnert euch an den Scheideweg im Evangelium: der enge und der breite Weg, der rechte und der linke). Diese ›Einsicht‹ führt zu einer bemerkenswerten Äußerung Skovorodas, die alle Phänomene in doppelter Gestalt zu sehen auffordert: »Два хлеба, два домы, две одежды, два рода всего есть, всего есть по двое, затем, что есть два человека в человеке одном, и два отца – небесный и земный, и два миры – первородный и временный, и две натуры – божественная и телесная, во всем – на всем« (1, 1, 353) (Zwei Brote, zwei Häuser, zwei Kleidungen, zwei Arten von allem, alles ist zu zweit, daher: zwei Menschen in einem Menschen, zwei Väter – der himmliche und der irdische, und zwei Welten – die ursprüngliche und die zeitliche, und zwei Naturen – die göttliche und die körperliche, in allem- auf allem). Da er »neutralstvo« ausschließt, verweist Skovoroda hier auf die Entscheidung, die die innere Zweispurigkeit verlangt. Allerdings gibt es Versöhnungsfiguren, die das Dilemma der Spaltung zu überwinden versprechen, in diesem Sinne etwa funktioniert die »Kreisfigur«. Tschižewskij widmet einen Abschnitt seiner Monographie dem »Kreis« in Skovorodas Schriften. Von Cusanus’ »Gott als unendlichem Kreis«, Jakob Böhmes »Gott als Rad«, über Comenius’ Welt als Systems sich bewegender Kreise und Räder, zu Skovorodas Kreissymbolik und weiter zu Hegels Kreiskonzept (45) wird der merkwürdigen Faszination dieser Gedankenfigur nachgegangen. Bei Skovoroda bedeutet Kreis: Wiederkehr, Rückkehr, den Versuch, die formale Antithetik durch ein erlösendes Moment zu überwinden. Tschižewskij zitiert Kernsentenzen aus Skovorodas Eschatologie: »Der Anfang endet, indem er anfängt, und fängt an, indem er endet, verdirbt, indem er gebiert, gebiert, indem er verdirbt, durch die Gegensätze das Gegensätzliche heilend und

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Tschižewskij verweist hier auf das Unverständnis der Interpreten, die mit solchen Sentenzen nichts anzufangen wussten, und stellt eine konzeptuelle Ähnlichkeit zwischen diesen Paradoxa und einigen Texten des Angelus Silesius und anderer deutscher Mystik-Dichter her. Zur Rezeption von Jakob Böhme ist anzumerken, dass sein Weg zu Christo Anfang des 18. Jahrhunderts ins Kirchenslavische übersetzt und eine zeitlang für eine Schrift Skovorodas gehalten wurde, vgl. Galina A. Time, (2012, 187-197).

14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

durch das Feindliche allweise das Feindliche unterstützend«./…/»Der erste und der letzte Punkt ist dasselbe, und wo die Bewegung angefangen hat, da endet sie auch. Alles kehrt zurück zu seinem anfanglosen Ende wie in einem Ring – und zum anfanglosen Anfang«. (43) Und dennoch ist es das Denken der Zweigliedrigkeit, der Doppelung,10 das Skovorodas Symbolik beherrscht, wie es in der Verschränkung oder Wechselbeziehung von (wahrer) Welt und Nicht-Welt (dva miry, dvoemirie) zutage tritt: »Die ganze Schattenwelt, bis zu ihrer letzten Linie, von der Weintraube bis zur Brennnessel, vom Faden bis zum Riemen erhält ihr Dasein von der höheren (Welt) … Jede Erscheinung ist ein Bild, und jedes Bild ist ein Leib, ist Schatten, Götze und Nichts …« (47). Dass zum Nichts des Äußeren die Leere gehört, formuliert er in folgendem Gedanken: »Думаю, что как внешность есть пуста, так и мера ея« (1, 1, 167) (Ich denke, so wie das Äußere leer ist, ist auch sein Maß.)

14.3 Ende des 18. Jahrhunderts sind Gedankenmotive wie Nichts, Leere, Unsagbarkeit, Schweigen aus dem religiösen Rahmen, bzw. aus dem Rahmen religiöser Schriften herausgetreten. Es sind nunmehr literarische Texte, in denen eine thematische Linie auszumachen ist, die diese Motive ›weiterschreibt‹. Seit der Romantik kann man von einer Schweigelyrik sprechen, von einer ›hesychastischen Poesie‹, mit Höhepunkten im Symbolismus und Akmeismus. Romantischer Exponent hesychastischer Poesie mit starker Nachwirkung ist Žukovskij, dessen nachgerade programmatisches Gedicht »Nevyrazimoe« (1819) der Naturschönheit gilt, die hier quasi für das höchste Gut, das namenlos Entzogene, steht – Übersetzung des невыразимое (Unausdrückbaren) aus dem theologisch indizierten Raum in den der romantischen Naturmystik. Der Topos der Sprachdefizienz, des verfälschenden Sprechens bleibt derselbe, ebenso das Paradox des lyrischen Wortflusses, der sich über das Unausdrückbare ergießt.11 10

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Auch in diesem Punk erscheint Belyj als »Erbe« Skovorodas. Die Antithesen видимостьневидимость, явное – тайное, внешнее – внутреннее erscheinen als deutliche SkovorodaRepliken, wobei das javnoe alle negativen Züge der Wirklichkeit, einschließlich ihrer мнимость, versammelt. Die Nicht-Realität der realen Welt – eine Idee Belyjs – fällt mit der мнимость der äußeren Welt zusammen – einer Idee Skovorodas. Bei Belyj verkörpert sich die Nichtrealität bekanntlich im Bild Petersburgs als призрак oder мозговая игра. Die Mystik Skovorodas und die Esoterik, die Belyj aus Rudolf Steiners Lehren schöpft, lässt die Analogie geheimer Körper-ätherischer Körper zu; es ist die Übersetzung einer Mystik in eine andere (ein in der Mystik Skovorodas vorweggenommener Symbolismus, oder das Symbolistische im Denken Skovorodas, wie es in der Mystik der Simfonii Belyjs zum Ausdruck kommt). Als programmatisch erscheint auch Tjutčevs kategorisches Gedicht »Silentium« (1830), das seine semantische und seine Affekt-Struktur durch den wiederholten Imperativ »molči« (schweig) erhält. Dieser Imperativ korrespondiert den übrigen, einen quasi hesychastischen Lebensgang beschwörenden, belehrenden Imperativen – dem überwiegenden Modus, in dem sich das Verb hier bewegt – zu einen Selbstbezug aufrufend, der den Anderen ausschließt. Die oft aus diesem Gedichtzusammenhang herauszitierte Zeile: Mysl’ izrečennaja est’ lož’ (Ein Gedanke, ausgespro-

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Verborgenes und Manifestes

Gončarov verfolgt das Eindringen einer molčanie (Schweigen) und tišina (Stille) verbindenen Lexik in Prosa und Dichtung des russischen Sentimentalismus, die mit einer Rezeption deutscher romantischer Naturmystik zusammengeht. Žukovskij erscheint als Repräsentant einer mystisch inspirierten Lyrik, die dem Entwurf einer im Schweigen verharrenden »metaphysischen Landschaft« gilt: »it was Žukovskij, who became the true bard of metaphysical silence by striving to attain the presence of God in what he called the »inexpressible«, or »the glorious silence of nature«. »Only silence speaks comprehensibly« (Gončarov, 150). Die »innere Sprache der Seele«, der hier allein Geltung zugesprochen wird, erscheint wie eine Transformation des Jesusgebets. Der Dichter des »nezrimoe« und »nevyrazimoe« ist nicht nur von der deutschen romantischen Naturmystik, sondern auch von einer Koalition des revitalisierten russischen Hesychasmus mit westlicher Theosophie, einem Verschmelzen zweier mystischer Traditionen geprägt (die letztendlich aus derselben Quelle stammen): »Именно Жуковский стал найболее последователъным певцом метафизической тишины и безмолвия, соединяя с ними ключевые мотивы гностико-неоплатонической и православно-исихатской традиции« (Gerade Žukovskij wurde zum konsequentesten Sänger einer metaphysischen Stille und eines Nicht-Sprechens, was er mit den Schlüsselmotiven der gnostisch-neoplatonischen und orthodox-hesychastischen Tradition verband)(14). Worum es jedoch Gončarov letztlich geht, ist die These, dass Žukovskij die apophatische Theologie in die Dichtung eingeführt hat, das Konzept des »gegenwärtigen, aber unsichtbaren Gottes«. Mit der Literarisierung des Apophatischen und der Aufnahme des Schweigemotivs in die Dichtung wird Žukovskij, der Barde der Apophatik, in Gončarovs Interpretation zu einer der Quellen für Gogols Poetik. Die Frequenz einer tišina, molčanie (Stille, Schweigen) betonenden Lexik, der er in Hans Küchelgarten und Večera na chutore bliz’ Dikan’ki (Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka) nachgeht, betrachtet Gončarov als deutlichen poetologischen Anschluss an Žukovskij. Neben der Abhängigkeit von dessen ›Metaphysik‹ sieht Gončarov in Tvorčestvo Gogolja v religiozno-mističeskom kontekste (Das Schaffen Gogol’s im religiös-mystischen Kontext) Gogol’ unter dem Einfluss der russischen Mystik, deren Blüte Ende des 18. Jahrhunderts er mit der Erstausgabe des Dobrotoljubie sowie dem gleichzeitigen Auftreten der Schriften Skovorodas verbindet.12

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chen, ist Lüge) verstärkt den apophatischen Tonfall, wobei mysl’ vielfach lesbar ist- als die innere Gefühls-Wahrheit, die durch das Aussprechen Verfälschung erfährt, Sprechen als Lügen; oder mysl’ als der (einzig mögliche) Gott gewidmete Gedanke, dessen Äußerung sich verbietet. Den Weltenraum erfüllendes Schweigen ist Gegenstand von Tjutčevs »Est’ nekij čas, v noči, vsemirnogo molčanija«. (Es gibt einen Augenblick, in der Nacht, eines weltumfassenden Schweigens). Das kosmische Schweigen Tjutčevs erinnert an das oben genannte Moment schöpfungstheologischer Mystik: der Schweiger und Schöpfergott spricht sein Schöpfungswort in das schweigende All. Konstantin Bogdanov verweist auf ein Wackenroder-Gedicht als Inspiration für Tjutčev (Bogdanov 1998, 14). Gončarov bezeichnet das Dobrotoljubie als »Anthologie östlich-orthodoxer Mystik«, in der tišina und molčanie als zentrale Momente für den »vnutrennij čelovek« (den inneren Menschen) eine Rolle spielen, ohne hier ausführlicher auf die ältere hesychastische Tradition einzugehen. – Allerdings wird auch, wie bei Tschižewskij, der Rolle der freimaurerischen Übersetzungsarbeit gedacht, der die Kenntnis westeuropäischer Mystik (Böhme, Saint-Martin, Pordage) zu verdanken sei.

14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

14.4 Das große hesychastisch-apophatische Gedankengeflecht, die Apotheose von Leere und Nichts, der Entwurf der Welt als Schattengebilde, das Paradox vom Sprechen über das Unaussprechliche, die kataphatisch ausgebreitete Fülle von Bildern, die das Entzogene preisgeben, die Wortspiellust, der Skovoroda trotz Bekenntnis zu einem kargen Stil erliegt, scheinen eine Art Vorhof für Gogol’s Poetik zu bilden. Doch lässt sich nicht belegen (weder Gončarov noch Tschižewskij erwähnt eine solche Möglichkeit), dass Gogol’ von Skovorodas verstreuten philosophisch mystischen Schriften oder seiner Dichtung Kenntnis erhalten haben könnte. Was aber trotzdem als typologische Verwandtschaft oder (nicht bewusste) Nachfolge bezüglich Lebensführung oder Lebenskonzept verstanden werden kann, ist die Selbstbezeichnung Gogols als Mönch, seine ›Flucht‹ aus Russland in eine von ihm so genannte Einsamkeit, sein Fremdsein in der Welt, sein Lebenskonzept als Wanderer13 , sein Rückzug aus dem Leben/Schreiben, das an die Verwirklichung der hesychastischen Tugenden der nepsis, apatheia, amerimnia und apostasis noimaton gemahnt. Während es Tschižewskij in »Neizvestnyj Gogol’« (1965)14 eher um die Einordnung Gogol’s in die intellektuell-religiöse Szene der Zeit geht, gilt Gončarovs Untersuchung der These, dass das Schweigen bei Gogol’ als die Symbolisierung einer Vernichtung des Metaphysischen fungiere: »silence symbolizes the annihilation of the metaphysical realm« (149). Diese Annihilierung geschehe durch die Übertragung der metaphysischen Konzepte auf die materielle Welt, wodurch »numbing, petrification« und letztlich »dead silence« entstehe, was Gončarov mit Verweis auf die eindrückliche (omnipräsente) Lexik von Stille, Schweigen, Quasi-Totsein in »Soročinskaja jarmarka« belegt. Immer wieder stößt Gončarov auf die Übertragung der mystischen Konzepte auf die empirische Welt, die durch deren wortwörtliche Interpretation (also ›Materialisierung‹) geschehe: »Gogol once again interprets the mystical topoi and images literally by transferring them to the empirical realms.« (157). Dem lässt sich entgegenhalten, dass die Ambivalenz der beiden die Gogolsche Prosa prägenden Gedankenmotive, Schweigen und Leere, unüberlesbar ist und das ›Metaphysische‹ im Sinne Gončarovs keineswegs gelöscht ist: Leere beherrscht das Äußere, Irdische, die Welt ist ›spektakulär‹ leer, so wie ihre Wesen. Jedoch ist es die asketisch 13

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Belyj hat (Gogol’ im Blick?) nach der Lektüre von Skovoroda-Schriften und einer diesen darstellenden Lebensbeschreibung (V. Ern, Moskau 1912) just diese Seinsweise als Mönch, Einsiedler und Wanderer als idealen Modus des Aufenthalts in der Welt gesehen. Am Ende von Peterburg lässt er seinen Helden Nikolaj Ableuchov nach der Wiederkehr aus Palästina Skovoroda lesen. Ableuchov hat die Wanderschaft hinter sich und lebt nunmehr einsiedlerisch, mönchisch, selbstreflexiv – womit der Roman ein hesychastisches happy end verheißt: » … жил одиноко он; никого к себе он не звал; ни у кого не бывал; видели его в церкви; говорят, что в самое последнее время он читал философа Скожороду.«, in: Krizisy kul’tury i avtory. Na granice epoch v literature i filosofii, hg. v. S. Gončarov, Nadežda Grigor’eva, Šamma Šahadat, Sankt Peterburg 2013, 20-34. Tschižewskij verfolgt in »Neizvestnyj Gogol’« zudem nachprüfbarere Einflüsse: Die Rolle der deutschen nach Russland emigrierten Pietisten mit ihrem Glauben an ein baldiges Weltende, die Rolle des Mystikers Jung-Stilling, dessen Werke in Russland durch die Freimaurer verbreitet wurden, Gogol’s Kenntnis der in Russland der Zeit bekannten Imitatio Christi von Thomas a Kempis; zudem verweist er auf Gogols Exzerpte aus Schriften der Kirchenväter, d.h. auf dessen Berührung mit Texten der hesychastischen Tradition.

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erworbene Leere allein, die, wenn alles Weltliche sich verflüchtigt hat, das Jenseitige verheißt. Auch das Schweigen hat diese Zwielichtigkeit; zum einen hat es einen eindrücklichen dämonischen Zug (Vajskopf 1993), zum andern aber wirkt es in der Verneinung von Sprache, im recessus, eschatologisch – ganz im Sinne der Para-Dogmatik der hesychastischen Lehre. Gogol’s Texte umspielen den Rückzug mit einer verbalen Einkleidung der Negativität, einer Rhetorik, die mit den Verfahren der semantischen Annihilierung und Minus-Bestimmung auf verbaler Präsenz insistiert. Zwei in der Gegenläufigkeit sich ergänzende Strategien kommen dabei zum Einsatz: Hypertrophie und Hypotrophie. In beiden Fällen geht es um das Bemühen, die Unverlässlichkeit des Wortzeichens (mit dem Index der Verwerflichkeit) sowohl zu nutzen als auch preiszugeben. Hypertrophie äußert sich in einem üppigen, Beschreibungen investierenden imaginarium, Wortspiel, Phantasmen; Hypotrophie in Verstummen, Stottern, Aphasie – Anakoluth, Aposiopese, Apokope. – Zweifellos haben die hyper- und hypo-Verfahren einen barocken Index.15 Diese gespaltene Einkleidung der Negativität motiviert die Sprünge von abwesend zu anwesend, von Phantasma zu »Echtbild«, von Bestätigen zu Leugnen. Negative Rhetorik findet ihren Ausdruck in Dissimulation und Trug, bzw. in der Verbindung von Pseudologie und Apophatik. In seinem Artikel »The Truth as Lie in Gogol’s Poetics« (1999, 35-54) geht Jurij Lotman der Lüge als verschwiegener Wahrheit nach, wobei weniger die Frage der Verfahren als die der inventio im Vordergrund steht. In Harald Weinrichs Linguistik der Lüge erscheint bereits das tropische und figürliche Sprechen als pseudologisches: »Sprachliche Lügen aber sind, wenn man die Dinge genau nimmt, die meisten rhetorischen Figuren wie Euphemismen, Hyperbeln, Ellipsen, Amphibolien, Höflichkeitsformeln, Ironie, Tabuwörter, Anthropomorphismen« (1966, 12). (Es geht um die Unsagbarkeit der Wahrheit und die Sagbarkeit der Lüge – eine Zuspitzung des Paradoxons: Sprechen übers Unsagbare, das sich als Lüge erweist, aber in dem Sinne, indem Weinrich sagt: Jeder Lügensatz verdeckt einen Wahrheitssatz.) Lotman sieht Gogol’ als Lügner im Sinne eines Erfinders, eines Schöpfers einer anderen Version der Realität, als Autor einer phantastischen Welt, einer »als ob Realität«.16 »Reality for Gogol’ is always one of the many thousands of possibilities which life has randomly pulled out of the infinite space of its potentialities.« (36) Er stellt den verfremdenden (wie zum ersten Mal die Dinge sehenden) Blick Gogols aufs »Normale« heraus, den er in der Transformation von allem sieht: »everything is either funny and absurd, or incomprehensible and terrifying« (37), was verhindere, dass sich ein »fundamental meaning« einstellt. Hier in dieser letzten Arbeit von Lotman wird das für Gogols poetisch-religiöses Selbstverständnis zentrale Problem des Kreativen in den Mittelpunkt gestellt, das in der Figur des Lügners und/oder des schöpferischen Teufels seinen Ausdruck findet:

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Gabriel Shapiro hat in der Nachfolge Tschižewskijs überzeugend Gogols enthusiastisches Interesse für barocke Architektur, seine Geschmacksaffinität zum Barocken und seine Kenntnis barocker Literatur, ukrainischer, russischer und westeuropäischer belegen können. In Nikolai Gogol’ and the Baroque Cultural Heritage (1993). Lotman erwähnt keinerlei Abhängigkeit der Gogol’schen Poetik vom Barock, verweist jedoch allgemein auf Verfahren des 18. Jahrhunderts.

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/…/the Gogolian figure of the liar is not destructive but constructive. He does not destroy the world that already exists, but creates a new one by telling lies. This lying is a creative act and, therefore, it is never a trick that has been planned in advance, it always constitutes a creative improvisation. (50) Als Beispiel gilt hier die Figur des der Trughaftigkeit seines Erscheinungsbildes nicht bewussten Chlestakov. Lotman erweitert dieses interpretatorische Konzept: The Gogolian cheat acts in an imaginary world, where ›everything is a cheat, everything is a dream‹. Creative work in this imaginary world is subject to the fundamental law of the devil’s world: it does not exist, but seems to. The deception in this case is indeed creative work, but it is the creative work of the devil – that is, imaginary, only seeming to be. It is a pseudo-work that creates a pseudo-world, and it can come to pass only by means of the disappearance of the real world. (51) Der Schöpferteufel ist Gogol’s Doppelgänger. Lotman stellt dieses Werk, in dem »reality acquires a fantastic inauthenticity« (52) mit seinen Verfahren der Simulation und Dissimulation, der Erfindung und kreativen Transformation, der Nicht-Abbildung, der Nicht-Schilderung des Lebens den von einem Predigerton bestimmten Schriften gegenüber, die (unkreativ) die bekannten Wahrheiten verkünden, und sieht hierin die »ambiguity in which Gogol all his life tried to find a point of balance« (53).17 Das grotesk-phantastische Element in Gogol’s Texten (von den Zwängen der Mimesis befreit) – »fantastic inauthenticity« – hat einen doppelten Fokus, indem es nicht nur Trugbild, sondern auch das geheimnisvolle Bild von etwas ist, das ein Jenseits verspricht. Zwischen trügerischer Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wird die Stadt in »Nevskij Prospekt« Gegenstand einer explodierenden Bilderflut, deren groteske und arabeske Formen eine Unfassbarkeit und Unbestimmbarkeit zu rahmen scheinen. Letztere schließt die Unverlässlichkeit eines sichtbaren Zeichens ein, das als Verkörperung des Unsichtbaren figurieren soll. Diese Rolle übernimmt in seiner Poetik das Phantasma, ein Pseudo-Sem, das an einer anderen, verdeckten Semantik teilzuhaben scheint. In seinem Theater der Phantasmen figuriert der Teufel/Dämon als ein mit Trugbeleuchtung operierender Schöpfer einer Phantasmagorie, fantasmagorija, und als Puppenspieler, der auf einer Schaubühne, vystavka, Kleidungsstücke und Körperattribute, als Substitute ihrer Träger, vorführt. Das Pathos des Trugbildes und des Betrugs fügt sich in Gogol’s barockmystisches Konzept der Welt als Schein und Verstellung. »О, не верьте этому Невскому проспекту! …. Всё обман, всё мечта, всё не то, чем кажется!« (SS III, 43.) (O, glauben Sie ihm nicht, diesem Newski-Prospekt. … Alles ist Schwindel, alles Schimäre, alles nicht das, was es scheint!)18 (147) Die hyperbolische Geste, die dies zu kompensieren sucht, ist eine der Überrepräsentation und des kataphatischen Redehabitus. Piskarev, die einzige in dieser Erzählung mit einer Geschichte und Psyche ausgestattete ›Person‹, sieht 17

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Lotman sieht Gogol’ als von seiner eigenen Kreation erschreckt. Die Frage des 19. Jahrhunderts, wer ist schuld, habe er auf sich bezogen, nicht Gott der Schöpfer, sondern er der andere Schöpfer, habe die Schuld zu tragen. Bei Lotman wie bei Gončarov fällt diese Verbindung von poetologischer Argumentation mit dem Einbezug Gogol’scher Etho-Poetik auf. Gogol’, N., Meistererzählungen, ausgewählt und übers. v. S. v. Radecki, Zürich 1966.

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einen die Welt in Unsinnsteile zerstückelnden Dämon am Werke: »Какой-то демон искрошил весь мир на множество разных кусков и все эти куски без смысла, без толку смешал вместе.« (SS III, 21), (ihm schien, als ob irgendein Dämon die ganze Welt in tausend Stücke zerbrochen und nun alle diese Stücke hier ohne Sinn und Verstand durcheinander geworfen hätte.) (115) dem er seine Suche nach einer heilen anderen Welt (fatalerweise von einer Trug-Frau verkörpert) entgegensetzt. Sein diesem Trug-Objekt geltender Traum wirkt wie eine von bezumie bestimmte, im Opiumrausch (Ekstase-Äquivalent) unternommene Annäherung an das Unerreichbare oder wie der furor poeticus eines Melancholikers. (Das Phantastische in beiden seiner Funktionen als Trugzeichen für das Unsagbare und als infinite Annäherung an es, funktioniert wie ein gespaltenes Zeichen, das Gegenwart und Abwesenheit gleichzeitig bezeichnet, Lüge und Wahrheit, Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit.) Piskarevs scheiternder Traum mit dem Gothic-Novel-Ende (Selbstmord, blutiges Messer) hat ein Gegenstück, das von einer sich in Nichts auflösenden, eine Leere umspielenden Komik zeugt. (Der Fall ins Leere ist ein Lachanfall). Hier kann man an Gončarovs These von der Zerstörung des Metaphysischen anknüpfend sagen, dass weder der pathetische Zusammenbruch Piskarevs auf der Suche nach dem ewig Entzogenen noch die mit »Schiller« und »Hoffmann« gegebenen Parodien ein Jenseitiges verheißen. Und dennoch: In Verfolgung der hesychastischen Spur ließe sich die Annihilierung semantischer Konsolidierungen in Gogols Paralogismen als Ermöglichung einer kathartischen Reaktion verstehen, die mit der mystischen Geste der Reinigung zusammenzusehen ist. Die buffoneske Simulation von Sinn und dessen Bestätigung als Unsinn erzeugen just die Leere, die der Versenkung vorausgeht. Die Ambivalenz bleibt freilich bestehen: Die Rhetorik der Negativität mit ihren Verfahren der semantischen Nullbildung und der Minusdetermination gilt verbaler Präsenz. Die Null ist die negative Klimax einer Folge von Sätzen, die bestimmt sind, einen Punkt zu erreichen, den sie permanent verfehlen – Resultat der negativen Rhetorik, die HansenLöve in zwei Verfahren Gogol’s sieht: der »negativen Kataphatik«, und der »apophatischen Null-Rede«. Von den von »barocken Allegoresen« bestimmten Erzählungen, wie Vij, Taras Bul’ba und Strašnaja mest’, unterscheiden sich die Petersburger Erzählungen, wo die »barocke negative Kataphatik und ihre den Teufel, das diabolische ›Weibsbild‹ und die ScheinWelt thematisierende Rede mit der leeren Rhetorik des apophatischen Typs interferiert, die einen paradoxalen Diskurs des Unaussprechlichen produziert.« (Hansen-Löve, 188) Das Phantasma als bildgesättigte Fülle, wie sie der Nevskij Prospekt bietet, verkehrt sich in »Der Mantel« in ihr Gegenteil. Hier entschwindet die Stadt als belebter Ort in dem Augenblick, da Akakij Akakievič von Räubern überfallen und seines Mantels beraubt wird, und erscheint als leerer Ort (192), als Wüstenei (pustynja). Die Wüste als das Andere der Stadt wird zu ihrer Minus-Repräsentation. Dies ist die Antizipation der deskriptiven Vernichtungsgeste, mit der Belyj die Stadt zur »Nullität«, zur »Null in höchster Potenz«, erklärt und die sie bevölkernden Gestalten zu Schatten macht. Das simulacrum wird zur Figur des zero. Für Gogol’s Semantik der Doppelung und Inversion, der Antithetik von Trugsein und Wahrsein steht auch der doppelte Stadtentwurf: – das Simulakrum Petersburg/das Echtbild Rom (Lachmann 2002, 238-269), das dem Doppelungskonzept Skovorodas, sei-

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nen »dva miry« entspricht. Der Begriff der »negativen Allegorie«, den Tschižewskij (einen Aspekt von Benjamins Allegorie-Begriff aufnehmend) in seiner Analyse von Comenius Labyrinth der Welt (1983, 1-24) einführt, referiert auf die Entleerung von Sinn, d.h. auf das »mystische Ausleeren«; das bei Skovoroda die Vorstufe zur Selbstannihilierung und Deifikation bedeutet, und schließlich auf Gogols »Groteske«, die als Manifestation negativer Allegorie apostrophiert wird. Gogols melancholisches Pathos der Unsinnskapriolen scheint eine kathartische Reaktion zu bewirken, wobei allerdings jene Geste, die eine Deifikation versprechen würde, ausbleibt. Vielmehr geht es um eine Trivialisierung von höher rangierenden Gedankenfiguren, die auf Niederrangiges bezogen werden – eine Deeskalation des sprachlichen Strebens nach dem Unaussprechlichen, d.h. das genus sublime wird in das genus humile verkehrt, in dem das Materielle, die niedrigen Dinge, die Trug-Dinge, als Zeichen ihre Rolle spielen. »Jedes Phänomen ist ein Bild, und jedes Bild ist ein Körper, ein Schatten, ein Idol, und Nichts« ist die Formel, die Skovoroda für die allegorische Funktion der negativen Materie findet. Gogol’ insistiert auf der Körperlichkeit der Dinge und zugleich auf einer Semantik, die die Dinge (in ihrem Sosein) nicht zu bestätigen scheint.

14.5 Das hesychastische Moment äußert sich nicht nur in der apophatischen Rede, sondern auch als verbale Strategie in der Unterbrechung des Wortflusses und dessen Markierung als mangelhaft: Stottern, Aphasie19 , Anakoluth, Aposiopese. Beide, die Eloquenz der Hypertrophie und ihr asketisches hypotrophes Gegenstück, repräsentieren das doppelte Wirken, das der Artikulation und der Nicht-Artikulation des ineffabile gilt. Die Leere hat bei Gogol’ immer eine Stimme, sogar da, wo er sich der Aphasie als Verfahren bedient, bleibt er »phatisch«, ja durch die Auslassungen geradezu »emphatisch«. Heinrich Lausberg bezieht sich auf die nämliche Unausgewogenheit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, die für Gogol’ gilt, wenn er von emphasis spricht, die er sowohl als detractio verborum wie auch als adiectio verborum bestimmt. (Lausberg 1960, Par. 298, 578, 905-906) Hesychastische Elemente prägen nicht nur die Inszenierung sprachlichen Rückzugs wie Stottern, Verstummen und Schweigen, sondern auch das ambivalente Imaginarium von Garten-, Innenraum-, Gesichts- und Gemälde-Beschreibung, das sich am Genre des Still-Lebens/der nature-morte, orientiert. Dem Still-Leben, insbesondere dem barocken, ist ein melancholischer (Wagner-Egelhaff 1994, 94), auf vanitas und Vergänglichkeit weisender Allegorie-Status eigen; der die Materialität der stillgestellten Dinge, der Totenköpfe auf Schreibtischen, Stundengläser und halb nieder gebrannten Kerzen mit Blick auf ihre Flüchtigkeit, Nichtigkeit durchlässig macht und das »stille Leben« als nature morte preiszugeben scheint. Eine der Unterarten des Genres, das in klassischen und grotesken/arabesken Varianten auftritt (Cavalli-Björkman, Bo Nilsson, 1995, 66-100) sind Früchte und Gemüse, Blumen, Ensembles auf einem Tisch, Geschirr, 19

Gogol’ versagt dem Schönschreiber Akakij Akakievič die Gabe der schönen Rede. Zur Apophatik als vjakan’e in »Der Mantel« (Lachmann, 2002, 202).

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Töpfe, Gläser, Flaschen. Das Arrangement von Küchenutensilien und Speisen auf dem Tisch, das lustvoll-monotone Sprechen über das zu Essende oder als zu Essende in Aussicht Gestellte, die Aufzählungen von bereits genossenen Gerichten in »Starosvetskie pomeščiki« (Altväterliche Gutsbesitzer) repräsentieren nature-morte Kompositionen; sogar das Tisch-Tuch mit den darauf platzierten Tellern und Gefäßen erinnern an das banquet pièce, ein Subgenre in der niederländischen Still-Leben Tradition.20 Die vom Motiv der Speisen bestimmten Gespräche der todesnahen Bukoliker in ihrer Behausung mit den »singenden Türen« (jede der singenden Türen schlägt einen anderen wehmutsvollen Ton an) erscheint als eine Verkehrung des apophatischen Moments: das Essbare ist sagbar. Auch der Unbestimmtheitsfloskeln oder den Gegenstand verfremdende Bildlichkeit nutzende Beschreibungsstil wird hier aufgegeben: die Speisen erscheinen recht exakt in ihrer Beschaffenheit – Größe, Reifegrad, Geschmack –, ihr Aufbewahrungsort wird angegeben, der über ihre Haltbarkeit Auskunft gibt, doch, von Todesahnung durchdrungen, sind sie schon Teil der nature morte. После этого Афанасий Иванович возвращался в покои и говорил, приблизившись к Пульхерии Ивановне: »А что, Пульхерия Ивановна, может быть, пора закусить чего-нибудь.« »Чего же бы теперь, Афанасий Иванович, закусить? Разве коржиков с салом, или пирожков с маком, или, может быть, рыжиков соленых?«Пожалуй, хоть и рыжиков, или пирожков«, отвечал Афанасий Иванович, и на столе вдруг являлась скатерть с пирожками и рыжиками. За час до обеда Афанасий Иванович закушивал снова, выпивал старинную серебряную чарку водки, заедал грибками, разными сушеными рыбками и прочим. Обедать садились в двенадцать часов. Кроме блюд и соусников, на столе стояло множество горшечков с замазанными крышками, чтобы не могло выдыхаться какое-нибудь аппетитное изделие старинной вкусной кухни.« (Sobranie sočinenij II, 17)   Hierauf kehrte Afanaßij Iwanowitsch ins Haus zurück und sagte zu Pulcheira Iwanowna: »Wie meinen Sie, Pulcheria Iwanowna, wäre es nicht Zeit, irgendein klein wenig zu essen?« »Was könnte man denn jetzt wohl essen, Afanaßij Iwanowitsch? Sagen wir etwas Plätzchen mit Schmalz, oder Mohnpastetchen, oder vielleicht auch gesalzene Brätlinge?« »Na schön, sagen wir also Brätlinge oder Pastetchen«, versetzte Afanaßij Iwanowitsch – und auf dem Tisch erschien plötzlich ein Tischtuch mit Brätlingen und auch Pastetchen darauf. Eine Stunde vor dem Mittagessen nahm Afanaßij Iwanowitsch wiederum etwas zu sich: er trank einen alten Silberbecher voll Schnaps aus und nahm einen Imbiß von verschieden Pilzchen, allerhand getrockneten Fischen und ähnlichem. Zum Mittagessen setzte man sich um zwölf Uhr. Außer den Schüsseln und Saucenschalen gab es auf dem Tisch noch eine Menge kleiner Näpfchen, deren Deckelchen sorgsam verklebt waren, damit nur ja kein Erzeugnis dieser alten schmackhaften Kü-

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Das sog. Outbijtjes, im 17. Jahrhundert häufig auftretendes Motiv, z.B. bei Pieter Claesz, »Imbiss mit Schweinerippenstück und Käsekorb«, 1625.

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che sein Aroma verliere. Bei Tisch drehte sich die Unterhaltung gewöhnlich um Dinge, die dem Essen innig nahestanden. (67f.) In Mertvye duši (Die Toten Seelen) wird Pljuškins Garten Gegenstand einer außergewöhnlichen, ja vielleicht, wie Vladimir Toporov (1993) vorschlägt, einzigartigen Landschaftsbeschreibung: Старый, обширный, тянувшийся позади дома сад, выходивший за село и потом пропадавший в поле, заросший и заглохлый, казалось, один освежал эту обширную деревню и один был вполне живописен в своем картинном опустении.   Der alte weitläufige Garten, der sich hinter dem Hause ausdehnte, sich über das Dorf hinaus erstreckte und sich dann verwildert und verunkrautet im Feld verlor, gab offenbar als einziger diesem großen Dorf etwas Frische, und er als einziger war in seiner malerischen Verwahrlosung reizvoll.21 (144)

14.6 Die zitierte Passage weist auf einen bestimmten Typ des Genres, für den die Verknüpfung von Natur und Kunst gilt. Die Beschreibung der Irregularitäten des Gartens, die Betonung des Wechsels von Ordnung und Unordnung verweisen auf den antiklassischen Typ des Genres: »облаками и неправильными, трепетолистными куполами лежали на небесном горизонте соединенные вершины разросшихся на свободе дерев. (grüne Wolken und wie unregelmäßige Kuppeln mit zitternden Blättern hoben sich die ineinander verflochtenen Wipfel frei und ungehindert hoch gewachsenen Bäume gegen den Himmel ab) oder »перепутавшиеся и скрестившиеся листья и сучья« (miteinander verschlungene und sich kreuzenden Blätter und Zweige) (145). Schmuckelemente, wie sie der manieristischen Variante der nature morte eignen, stellt der Hopfen her, dessen Verschlingungslinie die Beschreibung folgt: Хмель, глушивший внизу кусты бузины, рябины и лесного орешника и пробежавший потом по верхушке всего частокола, взбегал наконец вверх и обвивал до половины сломленную березу. Достигнув середины ее, он оттуда свешивался вниз и начинал уже цеплять вершины других дерев или же висел на воздухе, завязавши кольцами свои тонкие, цепкие крючья, легко колеблемые воздуxoм«.   Wilder Hopfen, der unter sich Holunder, Ebereschen und Haselnußbüsche erstickte und sich dann den Zaun entlangrankte, kletterte schließlich in die Höhe und hatte die abgebrochene Birke bis zur Hälfte umschlungen. In der Mitte angekommen, hing er von da aus wieder herab und begann die Wipfel anderer Bäume zu umklammern oder hing frei in der Luft, wobei seine feinen klebrigen Haken, leicht vom Winde geschaukelt, sich in Ringe schlossen. (145)

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Gogol, Nikolai, Gesammelte Werke, Bd. 2 Die Toten Seelen, übers. v. Wolfgang Kasack, Stuttgart 1988.

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Genrebestimmend ist die Wechselbeziehung von Natur und Kunst: die Verwandlung von Natur in Kunst, wenn ein »kolossal’nyj stvol« (gewaltiger Baumstamm) zu einer »mramornaja kolonna« (Marmorsäule) wird: »Белый колоссальный ствол березы, лишенный верхушки, отломленной бурею или грозою, подымался из этой зеленой гущи и круглился на воздухе, как правильная мраморная, сверкающая колонна« (Der gewaltige weiße Stamm einer Birke, deren Krone bei einem Sturm oder Gewitter abgebrochen war, ragte aus diesem grünen Dickicht rund in die Luft empor wie eine ebenmäßige, leuchtende marmorne Säule;) und von Kunst in Natur, wenn letztere selbst Hand anlegt: Словом, всё было как-то пустынно-хорошо, как не выдумать ни природе, ни искусству, но как бывает только тогда, когда они соединятся вместе, когда по нагроможденному, часто без толку, труду человека пройдет окончательным резцом своим природа, облегчит тяжелые массы, уничтожит грубоощутительную правильность и нищенские прорехи, сквозь которые проглядывает нескрытый, нагой план, и даст чудную теплоту всему, что создалось в хладе размеренной чистоты и опрятности. (SS 132-133)   Mit einem Wort, alles war von einer wilden Schönheit, wie sie weder Natur noch Kunst erdenken können, wie sie nur dann vorkommt, wenn sich beide vereinen, wenn über das, was der Mensch mit seiner oft sinnlosen Arbeit angehäuft hat, die Natur zum Abschluß mit ihrem Meißel hinüberfährt, die schweren Massen leichter macht, die grob wirkende Regelmäßigkeit zerstört und die ärmlichen Löcher stopft, durch die der unverhohlene nackte Plan hindurchschaut und allem eine wohltuende Wärme verleiht, was in der Kühle berechnender Sauberkeit und Ordnung entstanden ist. (145f.) Das »kartinnoe opustenie« (malerische Ödnis), das »pustynno-chorošo« (öd-schön), aber auch die völlige Abwesenheit von Lauten (kein Tier ist zu hören) verleihen dem Garten-Still-Leben just jene das Motiv der tišina und des molčanie prägende ›Stimmung‹.22 Das Innere des Hauses, das Čičikov betritt, bestürzt ihn zunächst wegen seiner Unordnung, »poražen predstavšim besporjadkom«: »На одном столе стоял даже сломанный стул, и рядом с ним часы с остановившимся маятником, к которому паук уже приладил паутину«, (Auf einem Tisch stand sogar ein zerbrochener Stuhl und daneben eine Uhr mit stehengebliebenem Pendel, an dem eine Spine bereits ein Netz aufgehängt hatte.) die an eine alte Ordnung stößt: »Тут же стоял прислоненный боком к стене шкаф с старинным серебром, графинчикам н китайским фарфором.« (Da stand auch, eine Seite gegen die Wand gelehnt, ein Schrank mit altem Silber, Karaffen und chinesischem Porzellan). (147) – beides verbunden durch Zeichen des Alters und Stillstands. Des Weiteren aber bietet der Raum eine StillLeben-Szenerie: das bizarre Ensemble von auf Tisch und Boden des Raums verstreuten

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Toporov hat die Unregelmäßigkeiten des Gartens rearrangiert und eine wohlgeordnete ›Zeichen Reihe‹ hergestellt, deren Beherrscher Pljuškin ist, den Toporov zu einer Person mit einer definitiven ästhetischen Orientierung gedeihen lässt (1993, 135) und ihn damit als menschliches Wesen ›rehabilitiert‹.

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und zusammengehäuften Gegenständen, das den Eindruck einer Kunstkammer besonderer Art vermittelt oder den eines ›still gestellten‹ Flohmarktes. Pljuškin, der das in seinem Anwesen und Dorf Weggeworfene oder abhanden Gekommene, sammelt, ist der Schöpfer dieser Gegenwelt von Dingen – die von keinem Zweck bestimmt, gewissermaßen leer sind. Gerade in der Aufzählung der meloči, der toten Lustobjekte des abstrusen Sammlers, tritt diese Leere hervor; sie lässt im Grunde keine allegorische Sinngebung zu. Mit der Schilderung der auf Pljuškins Schreibtisch zusammengeratenen disparaten Objekte liefert Gogol’ eine weitere Variante des Genres, eine »Still-Melancholie« (Egelhaff, 94) mit komischen Tönen: На бюре выложенном перламутною мозаикой, которая местами уже выпала и оставила после себя один желтенькие желобки, наполненные клеем, лежало множество всякой всячины: куча исписанных мелко бумажек, накрытых мраморным позеленевшим прессом с яичком наверху, какая-то старинная книга в кожаном переплете с красным обрезом, лимон, весь высохший, ростом не более лесного ореха, отломленная ручка кресел, рюмка с какою-то жидкостью и тремя мухами, накрытая письмом, кусочек сургучика, кусочек где-то поднятой тряпки, два пера, запачканные чернилами, высохшие, как в чахотке, зубочистка, совершенно пожелтевшая, которою хозяин, может быть, ковырял и зубах своих еще до нашествия па Москву французов. (SS 134-135)   Auf einem mit einem Perlmuttmosaik ausgelegten Schreibtisch, das an manchen Stellen schon herausgefallen war und die gelblichen, mit Leim gefüllten Löcher sehen ließ, lag eine Menge verschiedenster Dinge: ein Haufen kleinbeschriebener Blätter, von einem grünangelaufenen Briefbeschwerer mit einem Marmorei obendrauf zusammengehalten, ein uraltes Buch im Ledereinband mit roteingefärbtem Schnitt, eine restlos vertrockenete Zitrone, die nicht mehr größer als eine Haselnuß war, eine abgebrochene Sessellehne, ein Schnapsglas mit irgendeiner Flüssigkeit und drei Fliegen, das mit einem Brief bedeckt war, ein Stückchen Siegellack, ein Stückchen eines irgendwo aufgelesenen Lappens, zwei mit Tinte besudelte Federn, die ausgetrocknet waren, als hätten sie die Schwindsucht, ein vollständig vergilbter Zahnstocher, mit dem der Hausherr in seinen Zähnen vielleicht noch vor dem Einmarsch der Franzosen in Moskau herumgestochert hatte. (147f.) Die zerbrochene Mosaikplatte, der Stoß Blätter mit Briefbeschwerer, das alte Buch in Lederbindung, die Zitrone, Siegellack, Schreibfedern, ein kleines Weinglas sind durchaus Elemente eines Schreibtisch-Still-Lebens, aber Gogol’ variiert das Genre, und macht es zu einer »vsjakaja vsjačina«, zu der ein vom Boden aufgehobener Fetzen, eine Zahnbürste und bestimmte Attribute gehören: die drei Fliegen im Glas23 , die wie schwindsüchtig ausgetrockneten Federn, die vergilbte Zahnbürste, deren letzter Gebrauch in die Zeit der französischen Invasion fällt. Die Zitrone, die seit dem 16. Jahrhundert in

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Zu den Fliegen vgl. Hansen-Löve (238), der hier das Diabolische und den Aspekt des Nichts hervorhebt.

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Dessert- oder Frühstücksstilleben24 u.a. als Symbol für Leben – auftaucht, assoziiert, zu Nussgröße vertrocknet, den (allerdings komisch getönten) Vanitasgedanken, der mit »faulem Obst« verbunden wird. (Die Ekphrasis des Schreibtisch-Ensembles lässt ein Bild entstehen, das wie die Vorwegnahme von pop-art. Still-Leben wirkt.) – Wie den Garten könnte man sich auch die »kuča« Pljuškins ›gerahmt‹ vorstellen, und Gogol’s Beschreibung im letzten Fall als die Ekphrasis eines Trompe l’oeil-Bildes.) Hansen-Löve interpretiert die »kuča« (Haufen): »In der negativen Kataphatik des barocken Diskurses dient dieselbe Ansammlung von Details, bzw. ›partes‹ darüber hinaus aber einer Anhäufungs- und Akkumulationstechnik, deren Ziel die Klage über das Durcheinander der Welt, um ihre Unordnung und destruktive Chaotik dient.« (194) und: »Eine poetische Apophatik der Akkumulation der ›meloči‹ dagegen feiert das Zufallsprinzip der spielerisch durcheinander gewürfelten ›Teile‹, entdiabolisiert die Kombinatorik, indem es sie der teuflischen Intriganz entzieht und dem literarischen AutorDemiurgen unterstellt.« (195) Ich sehe im Schreibtisch-Bild weniger die Klage über das Durcheinander der Welt als vielmehr die Mortifizierug, die Still-Stellung der (quasi gegenstandslos gewordenen) Gegenstände, die nature morte in einem leblosen Raum: »никак бы нельзая было сказать, чтобы в комнате сей обитало живое существо« (SS, 135) In keinem Fall hätte man sagen können, daß in diesem Zimmer ein menschliches Wesen wohnte … (148) Ein weiteres Moment, womöglich das aussagekräftigste in diesem Porträt eines Kuriositäten-Kabinetts, ist die Ekphrasis eines Still-Leben-Gemäldes auf einer der Wände des Raums, in den Pljuškin seinen Besucher führt. Ohne (zunächst) ersichtlichen Grund (die Zusammenstellung der Bilder erscheint als »bestolkovo«, unsinnig) hängt es direkt neben einer vergilbten, in einen Mahagoni-Rahmen gefassten, eine Schlacht darstellenden Gravüre: По стенам навешано было весьма тесно и бестолково несколько картин: длинный пожелтевший гравюр какого-то сражения, с огромными барабанами, кричащими солдатами в треугольных шляпах и тонущими конями, без стекла, вставленный в раму красного дерева с тоненькими бронзовыми полосками и бронзовыми же кружками по углам. В ряд с ними занимала полстены огромная почерневшая картина, писанная масляными красками, изображавшая цветы, фрукты, разрезанный арбуз, кабанью морду и висевшую головою вниз утку. (SS, 135)   An den Wänden hingen sehr eng und in sinnlosem Durcheinander einiger Bilder: ein alter vergilbter Stich einer Schlacht mit gewaltigen Trommeln, schreienden Soldaten in Dreispitzen und zusammenbrechenden Pferden, er steckte in einem glaslosen Mahagonirahmen mit feinen Bronzeeinlagen und Bronzeverzierungen an den Ecken. Gleich daneben nahm ein riesiges Ölbild, das schwarz geworden war und eigentlich Blumen, Früchte, eine aufgeschnittene Melone, den Kopf nach unten hängende Ente darstellte, die halbe Wand ein. (148)

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Sybille Ebert-Schifferer verweist in Die Geschichte des Stilllebens (1998) auf das Zitronen-Stillleben von Willem Kalf (1660); die Zitrone in »Trompe l’Oeil mit Frühstück und Pokalen« von Cornelius Gijsbrechts (1672).

14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

Beim Entwurf dieses gewaltigen, die halbe Wand einnehmenden, schwärzlich verfärbten Ölgemäldes hat Gogol’ offenbar eine fürs 18. Jahrhundert typische nature morte vor Augen gehabt25 ; sie erscheint in Bezug auf das bereits Geschilderte als mise-en abyme. Jedes der hier versammelten Elemente, die Blumen, die Früchte, die aufgeschnittene Wassermelone, das Ebermaul und die Ente mit herabhängendem Kopf wirkt wie ein Zitat aus entsprechenden Exemplaren des Genres. Die ›Unsinnigkeit‹ der Nachbarschaft von Gravüre und Ölgemälde lässt sich als die kalkulierte Konfrontation einer Handlung, Geschehen und Lärm suggerierenden Bilderzählung mit einem Handlungslosigkeit apostrophierenden Still-Leben verstehen, (auch die Apraxie ist ja ein Moment der hesychastischen Übung), das dem Genre entsprechend stumm ist. Der in dieser knappen Ekphrasis hervortretende Zug zum Still-Leben prägt auch Gogol’s Metamorphosen der Gesichter seiner Figuren in Tierisches, Pflanzliches oder in Gegenstände. Pljuškin, dessen Geschlecht und Stellung im Hause für Čicikov anfangs nicht eindeutig war, (»ključnica« oder »ključnik«, tatsächlich aber doch »barin«) ist nicht nur durch ein ungewöhnlich geformtes Kinn gekennzeichnet, sondern auch durch Augen, die zu Mäusen werden. Das Bild der Augen-Mäuse mit Schnäutzchen und Geruchssinn, das sich Gogol’ hier einfallen lässt, wird genüsslich ausgebaut: … маленькие глазки еще не потухнули и бегали из-под высоко выросших бровей, как мыши, когда, высунувши из темных нор остренькие морды, насторожа уши и моргая усом, они высматривают, не затаился ли где кот или шалун мальчишка, и нюхают подозрительно самый воздух.« (136)   … die kleinen Äugelchen hatten noch nichts Mattes und huschten unter den buschigen Brauen hin und her wie Mäuse, wenn sie, ihre spitzen Schnäuzchen aus den dunklen Löchern gesteckt, die Ohren gespitzt, die Barthaare zitternd, prüfend Аusschau halten, ob nicht irgendwo ein Kater oder Lauselümmel versteckt ist, und dabei mißtrauisch herumschnüffeln. (149)

14.7 Die Metamorphosen – Stepan Ivanovič in »Ivan Fedorovič Špon’ka i ego tetuška« (Ivan Fedorowitsch und seine Tante) erscheint als »vetrjanaja mel’nica« (Windmühle), Šponkas Tante als »kolokol’nja« (Glockenturm), die ihn im Albtraum heimsuchende, sich vervielfachende Ehefrau hat ein »gusinoe lico« (Gänsegesicht)und verwandelt sich letzlich in eine »šerstjanaja materija« (Wollmaterie), deren weibliche Qualität fraglich ist; in »Soročinskaja jarmarka« (Jahrmarkt von Sorotschinzy) schauen »svinye ryla« (Schweinerüssel) aus den Fenstern – und die Reduktion auf Körperteile oder Kleidungsstücke wie in Nevskij Prospekt löschen nicht nur das Antlitzhafte26 eines Gesichts, sondern bewirken eine Dehumanisierung der Figur. Dies ist eine Sicht auf Gogols Personal, die 25 26

Zur Rolle der Bildenden Kunst im Schaffen Gogols vgl. Susi Kotzinger, Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradition (1994). Das Verschwinden des Antlitzhaften führt zum bezlikoe, das für den Teufel steht (Tschižewskij, Gogol’-Studien, 70).

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Toporov, dessen Menschlichkeit restituierend, nicht gelten lässt. Toporovs Ausstattung der Figuren mit Psyche, Biographie, Identität und Persönlichkeit, eine essentialistische Wendung in der Gogol-Forschung, überdeckt, wie mir scheint, die barocke Anthropologie in der Skovoroda-Tradition als das Gogols Menschenentwürfe bestimmende Moment. Die Gogols Texte bevölkernden Figuren erscheinen vielmehr als parabolische Konstrukte, als »leere Dinge« (Putney, 73-84) die als »phantasmagorisch« (Chlestakov) und als »дрянь, прах, вздор, грязь« (Dreck, Staub. Unsinn, Schmutz) beschimpft werden; Čičikov nennt sie »несуществуюущими« (nicht Existierende) und vermeint, es sei von ihnen nur ein mit den Sinnen nicht wahrnehmbarer Laut übrig geblieben »один неосязаемый чувствами звук.« (SS V, 119) Metaphorisiert als Obst, Gemüse – à la Arcimboldo, – als Tier oder als Gegenstand unterschiedlicher Gestalt erscheinen Gogols ›Charaktere‹ als Teile eines übergroßen nature morte-Arrangements, oder eher noch, an ein Subgenre der nature morte erinnernd, als ein auf der Weltbühne installiertes tableau vivant (mort), wie in der stummen Szene, die den Revisor beschließt. Gogol’ ist konsequent im Entwerfen seines Vakuums. Hansen-Löve hat die semantische Fülle der »pustota« (Leere), die Polysemantik ihrer Konnotationen im Kontext der Nos-Analyse erschöpfend vorgeführt. Die hesychastische Tradition, in der die Gogol’sche Poetik hier gesehen werden soll, lässt die Leere wie eine schmerzhafte Annäherung an das Unsagbare wirken, wie sie in Popriščins klagendem Ausruf sich äußert, einer Art Aposiopese, die das Ende von »Zapiski sumasšedšego« (Aufzeichnungen eines Wahnsinnig n) markiert: ničego, ničego, molčanie (nichts, nichts, Schweigen). Die Vorahnung des Todes in »Starosvetskie pomeščiki« (Altväterliche Gutsbesitzer) ist die Erfahrung einer unheimlichen Stille, ein horror vacui ist zu spüren, hervorgerufen von einer Stimme, die nah und fern zugleich ist, den Namen des Erzählers aufrufend – in einem Moment, vom dem es heißt: »тишина была мёртвая« (die Stille war tödlich) – und eine schreckliche Wüste im Herzen verursachend »страшную сердечную пустыню«, (SS II, 32). Doch hat das Apophatische bei Gogol’ keine theologische, sondern eine religiöspoetische Konnotation, so dass »die Einführung der negativen Theologie in die Literatur«, wie sie Gončarov für Žukovskij postuliert, für Gogol’ so nicht zutrifft. Es ist vor allem die Stilistik der Unbestimmtheit, der Verweigerung definiter Beschreibung, der Unschlüssigkeit, die sich andeutende Sinnkonturen verwischt, welche der Apophatik diesen poetischen Charme verleiht. Die Annäherung an ein in mancherlei (Nicht-)Gestalt auftretendes ineffabile, wird durch die hyper- und hypo-Verfahren einer zweispurigen Rhetorik erreicht, mit Verfahren wie Hyperbel, Synekdoche, Wiederholung, Paradox, Oxymoron, Aposiopese und Anakoluth. Kataphatische Bilderflut und Rückzug in eine Lexik des Schweigens/der Stille und in Figuren der Unbestimmbarkeit machen die Dynamik dieser Rhetorik aus. Das »птица не птица«, »гражданин не гражданин«, (Vogel nicht Vogel, Bürger nicht Bürger) das den um seine Nase gebrachten Kovalev, also den Beschnittenen un-definiert, bedeutet auch – auf die Unklarheiten, Undefinierbarkeiten, verlorenen Identitäten bezogen – das Fehlen des das Ganze, das Bestimmbare, Definierbare ausmachenden Hauptteils – aber genau darum geht es: den von Kovalev beklagten vollkommen leeren Ort, »совершенно пустое место«, als Ort des recessus aus der Sprache zu verstehen. »Als ›fehlendes Glied‹ ist die negative, bzw. absente Nase die Verkörperung des

14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

apophatischen Paradoxons, genauer: eben jenes apophatischen Diskurses, der mit allen möglichen rhetorischen Figuren die Null-Referenz im Zuge ihrer »via negationis« anstrebt.« (Hansen-Löve, 183) In Andrej Belyjs Tvorčestvo Gogolja (Das Werk Gogol’s)(1934) erscheint die Hyperbel als das Gogol’s Poetik – die Unbestimmtheit einschließende – dominierende Verfahren: Фигура неопределенности формой позитивного знания того, что есть предмет неузнания, – тоже повторный ход; называю его фигурой фикции; он создает фикцию отрицательной реальности опровержением двух гипербол без данного между ними предмета гипербол; фигура фикции – третий тип замаскированной гиперболы« (256)   Die Unbestimmtheitsfigur als Form des Wissens von etwas, das Gegenstand des Nichtwissens ist, ebenfalls ein Wiederholungsverfahren, ich nenne es Figur der Fiktion, es erzeugt die Fiktion negativer Realität durch die Widerlegung zweier Hyperbeln ohne den zwischen ihnen gegebenen Gegenstand der Hyperbeln – der dritte Typ der maskierten Hyperbel. Dies ist eine Definition, die sich auf Beispiele wie: »ни громко, ни тихо«, »ни много, ни мало« (nicht laut, nicht leise, nicht viel, nicht wenig) (Revizor) bezieht. Die figura fikcii, erweist sich hier wie auch in der Indefinition eines Tages als »не то ясный, не то мрачный« (nicht hell, nicht düster) oder von Menschen als »несколъко то, несколъко то« (ein bisschen so, ein bisschen so) als eine auf Symmetrie basierende Struktur, deren scheinbare Ordnung keine Referenz hat.27 Belyj deckt das Hyperbolische in der ›Konstruktion‹ der zwischen ne/ne, ni/ni entstandenen Lücke auf, der emphatischen Unterdrückung positiver Bestimmung. Es ist die Auslassung, die als hyperbolische Schaffung einer Fiktion erscheint, der Fiktion negativer Realität. Tschižewskij, der hier Belyjs Definition nicht aufnimmt, bezeichnet die »to ne to« oder »to ne se« (nicht dies, nicht das) als an Skovorodas Antithetik anschließbare Oxymora, die wie eine Parodie auf die (mystische) coincidentia oppositorum funktionieren. Neben der Konstruktion der Lücke funktioniert die Hyperbel im rhetorischen Verfahrenskontext als Übertreibungsvergleich, der die groteske Intensivierung in der Darstellung eines Objekts bewirkt: dessen maßlose Überhöhung oder maßlose Abwertung. Zu den Hyper-Verfahren gehört auch die Hyperoche, die aus dem Feld der Unentscheidbarkeit und des Vergleich herausführt. Die Hyperoche (Tschižewskij, 1966, 83) trifft auf etwas, das sich wegen seiner Dissimilarität (es fällt aus dem Rahmen vergleichbarer Dinge) als quasi Einzigartiges herausstellt. Formeln des Noch-Nie-Gesehenen, Nie-DaGewesenen kommentieren diese Sonderstellung der Dinge, deren Nichtbenennung sie entschwinden lässt. Indem sie die Gleichung ineffabile-in(de)scribile vorführt – Ohnmacht des Sprechens als Ohnmacht des Schreibens angesichts des Entzogenen – erscheint die Hyperoche nachgerade als das Verfahren poetischer Apophatik.

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Diese »weder-noch«, oder bestätigenden/nichtbestätigenden Sätze sind Beispiele der Stilistik apophatischer Rede, die Jacques Derrida rekapituliert, so als zitiere er aus Gogol’ und Belyj, »How to avoid Speaking; Denials (1989, 3-70.

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14.8 Einen unerwarteten Akzent erhält das Hyperbolische in Kapitel XXXI der Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami, (Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden), in dem Gogol’ als Analytiker und Interpret der Anfänge der russischen Dichtung das Wort ergreift, wobei zunächst Lomonosovs Verskunst, insbesondere seine Odendichtung, Gegenstand ist: »Ломоносов стоит впереди наших поэтов, как вступленье впереди книги. Его поэзия — начинающийся рассвет.« Lomonosov steht vor allen anderen Dichtern wie eine Einführung am Beginn des Buches. Seine Poesie ist die anbrechende Morgendämmerung.28 (334) Einen Abschnitt seiner Geschichte von den Anfängen russischer Dichtung widmet Gogol’ hernach der Würdigung Deržavins. In Deržavin sieht er den schöpferischen Poeten: »У него выступило уже творчество. У него есть что-то еще более исполинское и парящее, нежели у Ломоносова« (SS VI 372), (Bei ihm wird bereits das schöpferische Element deutlich. Er besitzt noch etwas Gigantischeres und Hochfliegenderes als Lomonossow) (336) zugleich äußert er sich verwundert über dessen stilistisches Gehabe: »Недоумевает ум решить, откуда взялся в нем этот гиперболический размах его речи« (Der Verstand zögert zu entscheiden, woher bei ihm dieser hyperbolische Schwung der Rede kommt.) (336) und verweist auf der Suche nach stilistischen Quellen des Hyperbolischen keineswegs auf die ihm geläufige rhetorische Tradition (die hier zweifellos barocke Züge trägt), sondern gibt Deržavins »razmach reči« eine archaische, mit der Folklore verbundene Note und erinnert an dessen tatarische Herkunft – gewissermaßen eine fremde Genese des Hyperbolischen nahelegend: Остаток ли это нашего сказочного русского богатырства, которое в виде какого-то темного пророчества носится до сих пор над нашею землею, прообразуя что-то высшее, нас ожидающее, или же это навеялось на него отдаленным татарским его происхождением, степями, где бродят бедные останки орд, распаляющие свое воображенье рассказами о богатырях в несколько верст вышиною, живущих по тысяче лет на свете, — что бы то ни было, но это свойство в Державине изумительно. Иногда Бог весть как издалека забирает он слова и выраженья затем именно, чтобы стать ближе к своему предмету. Дико, громадно все.   Ist es ein Nachklang des Reckentums in unseren russischen Volksmärchen, das wie eine dunkle Prophetie bis in unsere Tage über unsrem Lande liegt als Urbild von etwas Höherem, das uns erwartet, oder überkam ihn diese Empfindung als ein Erbteil aus seiner weit zurückliegenden tatarischen Herkunft, aus den Steppen, in denen die armseligen Überreste der Horden umherstreifen und ihre Einbildungskraft an den Erzählungen von gigantischen Helden entzünden, die viele Werst in die Höhe ragten und tausend Jahre auf Erden lebten –, was es auch sei, diese Eigenschaft Derschawins ist erstaunlich. Manchmal holt er seine Worte und Wendungen von Gott weiß woher, und nur, um seinem Gegenstand näher zu kommen. Wild, gewaltig ist alles. (336)

28

Gogol, Nikolai, Gesammelte Werke, Bd. 4 Essays und Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden, übers. v. Irmgard Lorenz, Stuttgart 1981.

14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

Ohne diese stilistische Filiation (ernsthaft) weiter zu verfolgen, findet Gogol’ enthusiastische Vokabeln für Deržavins poetische Begabung und erklärt ihn nach der Lektüre von »Vodopad« (Wasserfall), zum »pevec veličja« (Sänger der Größe). Besonders eine der Strophen aus dem Gedicht wird in diesem Sinne charakterisiert: Все у него крупно. Слог у него так крупен, как ни у кого из наших поэтов. Разъяв анатомическим ножом, увидишь, что это происходит от необыкновенного соединения самых высоких слов с самыми низкими и простыми, на что бы никто не отважился, кроме Державина. Кто бы посмел, кроме его, выразиться так, как выразился он в одном месте о том же своем величественном муже, в ту минуту, когда он все уже исполнил, что нужно на земле: Крутя, задумавшись, усы. Кто, кроме Державина, осмелился бы соединить такое дело, каково ожиданье смерти, с таким ничтожным действием, каково крученье усов? (SS, t. VI, 373)   Alles ist bei Derschawin gewaltig. Sein Stil kraftvoll, wie bei keinem unserer Dichter. Zerlegt man ihn mit dem Skalpell des Anatomen, so stellt sich heraus, daß diese Wirkung von der ungewöhnlichen Verbindung der erhabensten Worte mit den allerniedrigsten und einfachsten herrührt, wie es keiner außer Derschawin wagte. Wer sonst hätte so sich auszudrücken angemaßt, wie er es an einer Stelle von eben diesem seinem hoheitsvollen Manne tut, und zwar in dem Augenblick, da dieser alles, was auf Erden zu vollbringen war, verrichtet hat:   »Derweil des Todes gastlich Kommen er nun harrt, Streicht zwirbelnd er versonnen seinen Bart.« Wer außer Derschawin hätte das Erwarten des Todes mit einer so trivialen Handlung wie dem Zwirbeln eines Bartes zu verbinden gewagt. (338) Mit der Betonung dieser wagemutigen Rhetorik scheint Gogol’ sein eigenes Spiel mit dem Wechsel zwischen genus sublime und genus humile zu rekapitulieren, das Hohe und das Nichtige: Todeserwartung und Bartzwirbeln. Das Deržavin geltende Diktum »Недоумевает ум решить, откуда взялся в нем этот гиперболический размах его речи« (Der Verstand zögert zu entscheiden, woher bei ihm dieser hyperbolische Schwung der Rede kommt.) hat Gogol’ auch seinen eigenen Interpreten hinterlassen.

Nachtrag Auflösung, Verschwinden, Verstummen, Schweigen, Stillstellen lassen sich als »Gogol’Spuren« über etliche Zwischenstufen bis in Vladimir Kazakovs Ošibka živych (Fehler der Lebenden) verfolgen. Die Myškin-Paraphrase in der Figur Istlen’ev, des Verweslings, nimmt auch das Sprechverhalten auf: Istlen’ev (der Kalligraph) ist ein Stotterer, Schweiger, Verstummer. »Molčanie«, »robkoe zaikanie« (schüchternes Stottern) – das sind die Wendungen, mit denen eine ungemein konsistente, durch ein differenziertes Wortfeld gestaltete Aphasie-Beschreibung aus Dostoevskijs Idiot weitergeschrieben wird, die ihrerseits auf Gogol’s Stilisierung dieses Typs von Nicht-Eloquenz antwortet.

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Auch Chlebnikovs (nach »boltun« gebildeter) Neologismus »molčun«, Schweigling, gehört in Kazakovs Schweigepoetik. Der Titel des Romans wird zur kryptischen Antwort auf die Frage nach der Identität: Ošibka živych dementiert die Feststellung, ein О, bzw. eine Null, bleibe sich, auf den Kopf gestellt, gleich: das Identische ist nicht identisch, О ist nicht O. Auch dies gehört in den Gogol’-Kontext. Hansen-Löve hat die Interpretation der O-Frequenz in Gogol’s Namen mit derjenigen der »Null« verbunden (229-233).

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14. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik

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15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

15.1 Nach dem Ende der Christenverfolgung musste der Selbstheilung Suchende sein eigener Verfolger (so in Vita Martiniani) und Peiniger werden. Dies führte zur Entwicklung masochistischer Exerzitien, wie sie die Styliten, Asketen, Anachoreten und Christusnarren durchführten. Bei letzteren handelt es sich um ein hagiographisch nachdrücklich beschriebenes Glaubensheldentum, das als neuer Modus der Passio-Mimesis auftritt. Für seine Entstehung werden zwei Gründe angeführt: 1. Die Ablösung des frühchristlichen Märtyrertums durch ein selbstauferlegtes Martyrium, das nicht zum Tode durch Foltern oder Hinrichtung führt, sondern Formen extremer Entsagung, Selbsterniedrigung sucht und durch massive Normverletzungen Bestrafung und Demütigung erheischt, und 2. Der Protest gegen das regulative Christentum (wobei der Versuch nicht-institutionalisierter Beziehungen zu Gott die Glaubenshelden in die Nähe häretischer Bewegungen brachte). (Melville 1996, 155-186) Die Spezifik dieses, Formen des Asketentums radikalisierenden, Selbstheiligungsmodus besteht in der Simulation von Narrheit, der Strategien der Selbstverleugnung, Dissimulation sozialer Herkunft und die Absage an Eigen- und Familienname vorausgehen. Der sich Vervollkommnende mimt den Narren um Christi willen: er wird ein σαλός ὐποκριυόμενος, σαλός προποιοῦμενος; er nimmt die Maske des Narrentums, ličinu jurodstva, wie die russische Entsprechung lautet. Die Selbstheilung beruht auf der völligen, irreversiblen Metamorphose der Primäridentität und der Entwicklung einer Symbolik und Symptomatik, in denen sich Sekundäridentität manifestiert. Der Heiligungs-Typus Christusnarr ist ein ostkirchliches, aus Syrien, Antiochien und Ägypten (4. Jh.) stammendes Phänomen, das sich in Byzanz (5. – 8. Jh. und 9. – 12. Jh.), hernach nachhaltig in Russland (13. – 20. Jh.) im offiziellen kirchlichen Leben – ungeachtet der heterodoxen Elemente –, vor allem aber in der Volksfrömmigkeit Geltung verschafft hat. (Ivanov 1994) Die Christusnarren rekrutieren sich zunächst aus dem koinobitischen und anachoretischen Mönchtum, hernach aus dem Laienmilieu (häufig aus reichen Kaufmannsfamilien); der Ort, an dem ihre Selbstentsagung durch simulierte Narrheit vorgeführt wird, ist die Stadt. Das lateinische Christentum, an derselben frühchristlichen Tradition partizipierend, bildet eigene Formen des Christusnarren-

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Verborgenes und Manifestes

tums heraus, die zum einen mit der monastischen Bindung ihrer Vertreter, zum andern mit der stärkeren Betonung der mystischen Tradition zusammenhängen. Legenden berichten von Vorformen des Narrentum, die sich im klösterlichen Bereich entwickelt haben, dies gilt vor allem für die auch im Westen rezipierte Vita der sog. hl. Isidora aus Ägypten (4. Jh.),1 die in die Vitae Patrum aufgenommen wurde.2 Der Höhepunkt des byzantinischen Christusnarrentums, das an die frühchristliche Tradition anknüpft, liegt zwischen dem 6. und 10. Jahrhundert und wird als Reaktion auf einen Verfall des Konzepts der Heiligkeit, des ›Heiligen Menschen‹, interpretiert, bzw. auf eine allgemeine religiöse Gleichgültigkeit, die durch asketische und närrische Provokation beantwortet wird. Als hervorragende Repräsentanten gelten Simeon von Emesa (6. Jh.) und Andreas von Byzanz (10. Jh.). Die Forschung weist auf eine Lücke in der Tradition vom Ende des 7. bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts hin, die zum einen mit dem Kampf der institutionalisierten Kirche gegen das Christusnarrentum (vgl. die trullische Synode von 692), zum andern mit der arabischen Eroberung von Syrien, Palästina und Ägypten in Zusammenhang gesehen wird. Letzteres hat Formen des Märtyrertums ›ermöglicht‹, die das Christusnarrentum überflüssig machten. Auch der Bilderstreit hat auf Seiten der Ikonoklasten wie der Ikonodulen Opfer gefordert. Dennoch, die Tradition ist nicht zur Gänze abgebrochen: Simeon und Andreas sind Gegenstand kultischer Verehrung geworden. Durch den Auftritt neuer (nennenswerter) saloi haben sie allerdings keine Konkurrenz erhalten. Die Einstellung der Theologen zur außerinstitutionellen Frömmigkeit wird zunehmend skeptischer: Die Verehrung von Simeon und Andreas wird zwar aufrechterhalten, aber es gibt keinerlei Ermutigung, diesen Weg der Selbstverleugnung einzuschlagen, ja er unterliegt, wie Ivanov vermutet, wegen seines Gefährdungspotentials dem Verbot. Cezary Wodziński radikalisiert diesen Aspekt, indem er dem Gottesnarrentum eine Explosivkraft zuschreibt, die stärker als alle von der Kirche verfolgten Häresien die Fundamente erschüttern konnte; gerade die ungeplante, fast unwissentliche Überschreitung institutioneller Grenzen vermochte eine heftigere Unruhe zu erregen als organisierter Widerstand. Zum Niedergang der byzantinischen Tradition des Gottesnarrentums haben noch andere Faktoren beigetragen. Als allgemein verbreitete Erscheinung in den Städten des Imperiums genießt es einerseits Verehrung, andererseits stößt das aufsässige Verhalten der Narren nicht nur auf Ablehnung, sondern auch auf Missverständnis. Aus einer Quelle des 11. Jahrhunderts geht hervor, dass die Simulationsformen offenbar nicht mehr interpretiert werden konnten: Der Christusnarr wird als tatsächlicher Narr, d.h. Geisteskranker gesehen und verliert damit seine Aura des Heiligen, oder er wird als Scharlatan, Mime, Gaukler oder Zauberer beschimpft, womit er seine Unberührbar-

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Die in einigen Versionen der Vita Namenlose erhält in der Migne-Ausgabe den Namen Isidora. Ausführlich Certeau (1979, 525-546). Ivanov der sich ausführlich mit der frühchristlichen Tradition beschäftigt, nennt syrische, karschuni, arabische, äthiopische und altgeorgische Varianten der Vita und verweist auf andere Beispiele für diesen Verhaltenstyp. (1994, 35) Bei der ägyptischen Klosterfrau werden die simulierte Torheit, die echte Demut, das Verhehlen der Frömmigkeit und der erreichten Stufe der Heiligung hervorgehoben. Die Dissimulation der Tugendhaftigkeit gilt auch für einen anderen verwandten Typ: den unbekannten Diener Gottes. Wenn der Tugendhafte ›entdeckt‹ wird, entkommt er der Verehrung durch Flucht.

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

keitsprivilegien einbüßt. (Der Betrugsverdacht ist ein die Geschichte der Narren in Christo begleitendes Motiv.)

15.2 Das russische Christusnarrentum, jurodstvo, beginnt mit dem durch die türkische Eroberung von Byzanz herbeigeführten Ende des byzantinischen Reichs. Es tritt damit das Erbe des byzantinischen Christusnarrentums an, was durch den Kontakt mit byzantinischen Askesemodellen und die Lektüre der ins Altkirchenslavische übersetzten Viten ermöglicht wurde. Im russischen Selbstverständnis gilt das Jurodstvo als eigene, die spezifische russische Religiosität zum Ausdruck bringende Form der Heiligung. Der erste russische kanonisierte Christusnarr, jurodivyj, ist ein Mönch des 11. Jahrhunderts aus dem Kiever Höhlenkloster, Isaakij Pečerskij, ein Klosternarr nach dem Beispiel der ägyptischen Isidora. Der erste städtische Christurnarr gehört in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, ein aus Westeuropa stammender Kaufmannssohn, der den Namen Prokop von Ustjug erhielt. Der Höhepunkt des Jurodstvo liegt im 15. – 16. Jahrhundert, was die große Anzahl an Kanonisierungen belegt. Die tatsächliche Anzahl russischer kanonisierter und nicht-kanonisierter Christusnarren ist unbekannt. (Allgemeine Kanonisierungen wurden durch den Metropoliten, lokale durch den Eparchen vorgenommen, die Kanonisierungskriterien unterscheiden sich von den in der Westkirche aufgestellten). Die Zunahme an Narrengestalten wurde im 17. – 18. Jahrhundert als Stadtplage empfunden. Mit der Herrschaft Peters I. kommt es zu Repressionen und zur Vertreibung aus den Städten (Pančenko 1991, 85-95) Die Stellung der Christusnarren wird durch das Aufkommen von Pseudonarren geschwächt, das die Unterscheidung zwischen dem authentischen Narrheitsimulanten und dem Falsifikat erschwert und zur Entwertung des Status der Heiligkeit führt. (Die spektakuläre Entlarvung eines Pseudonarren im 19. Jahrhundert durch den Ethnographen Ivan Pryžov (1865) hat ihren Niederschlag in der Literatur gefunden: neben christusnärrische Züge tragenden Figuren tritt die Figur des Fälschers.) Dennoch hat sich das Jurodstvo weiterhin als verehrungswürdige Institution erhalten. Die im 18. Jahrhundert lebende, vielfach beschriebene Närrin Xenia von Petersburg wurde 1988, im Milleniumsjahr der Christianisierung Russlands, feierlich kanonisiert. Die schwächer markierten Grenzen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie, zwischen offizieller Kirche und Volkskirche haben dazu beigetragen, die Duldung des Jurodstvo in Russland für so lange Zeit zu ermöglichen. Die Narrenvita hat einen spezifischen Typ der Hagiographie hervorgebracht, mit eigener narrativer Struktur und Topik, was bezüglich der Annahme der Faktizität für die dem Christusnarrentum des Ostens gewidmete Forschung ein Problem darstellt.3 Nichtsdestoweniger bleibt die Narrenvita die Hauptquelle, die durch Reiseberichte er-

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Viktor Živov (1996) weist auf die methodologische Problematik hin, die in der Lektüre der Vita als Dokument bestehe und die Diskrepanz zwischen autonomer literarischer Struktur und dem ›tatsächlichen Lebenslauf‹ ignoriere.

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Verborgenes und Manifestes

gänzt wird.4 Zudem hat sich in Russland eine Tradition herausgebildet, die bis ins 20. Jahrhundert Beobachter gefunden hat und seit dem 18. Jahrhundert von ›aufgeklärten‹ Zeitgenossen, also posthagiographisch, kritisch beschrieben worden ist. Die Helden der hagiographischen Texte sind historische Personen, deren Kanonisierung dokumentiert ist. Das gilt vor allem für die berühmten Christusnarren, den Syrer Simeon von Emesa, den Griechen Andreas von Konstantinopel (Salos) und für eine große Anzahl russischer Christusnarren, die als Heilige verehrt werden (Prokop von Ustjug, Prokop von Vjatka, Vasilij von Moskau, Michail Klopskij, Izidor von Novgorod u.a.).

15.3 Die Vita des Simeon (ca. 520 – 590), in zahlreichen Redaktionen überliefert – die bekannteste Version stammt von Leontios von Neapel (7. Jh.) – gilt als erste Narrenvita (Deroche 1995) und etabliert mit ihrer Topik ein eigenes hagiographisches Modell, dem alle späteren Viten folgten. Populärer noch wurde die Andreas-Vita, in 90 Redaktionen überliefert (de Matons 1970, 277-328), deren kirchenslavische Version seit dem 12. Jahrhundert den Stil russischer Viten prägte. Es gilt, die literarische Topik auch als Niederschlag einer lebensweltlichen Topik zu verstehen, da die Christusnarren Viten lesen, Vorläufer wählen und ihnen nachzueifern suchen – worüber wiederum die Viten berichten. Die Hagiographen stellen die Chistusnarren als Weltverbesserer, zuweilen als Beschützer Bedrängter und als unerschrockene Tadler der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit dar, vor allem aber als Weltverspotter: ἐμπαιξω τω κοσμω (russisch rugat’sja miru). Zugleich wird der Gang in die Welt (die Stadt) als ein ›Sterben für die Welt‹ bezeichnet: Die Ent-Weltlichung vollzieht sich als Ver-Weltlichung. Es gibt weder eine Theorie noch eine theologische Absicherung des Christusnarrentums, die sich auf Bibelstellen beruft. Vielmehr lässt sich die Christusnarretei als Fortsetzung der paulinischen Weisheits/Torheits-Dialektik und als deren Transposition in eine spirituelle Lebenspraxis bezeichnen, für die der erste Korintherbrief erst nachpaulinisch als eine in den Hagiographien topisch gewordene Legitimation herangezogen werden konnte. Das Paradoxon der paulinischen Dikta wird zu einer Leitfigur des Christusnarrentums, die nicht nur die Selbstheilungsintention und den angenommenen, sich gestisch, mimisch, verhaltensmäßig und physisch äußernden Habitus prägt, sondern auch die Reaktion der mit dem Phänomen konfrontierten Menge. Es geht um die Opposition μωρία–σοφία (stultitia-sapientia) und deren Inversion in folgenden Paulusbriefen: 1 Kor 1, 18-25 (hat Gott nicht die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht); 2 Kor 1-6 (nicht eine Weisheit dieser Welt); 1 Kor 3, 18-20 (denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott); 1 Kor 4, 9-13 (10: Wir sind Narren um Christi willen, stulti propter Christum, μωροὶ διὰ Χριστόν). 2 Kor 11, 23-27 berichtet von erlittener Pein und Erniedrigung, was der Christusnarr als Askeseanweisung auslegt, ebenso wie er Röm.12, 2 (und stellet Euch 4

Hierzu Berichte westlicher Reisender aus dem 16. und 17. Jh. wie Herberstein, Horsey und Fletcher (Pančenko 1991).

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

nicht dieser Welt gleich) als Aufruf zur Nichtanpassung, zum skandalösen Verhalten annimmt. Der von Paulus benutzte Begriff μωρία (μωρός) – der bereits in der Septuaginta (Jer 5,21) als griechisches Synonym für den hebräischen Begriff salach gebraucht wird, erhält im griechisch-byzantinischen Lexikon ein Synonym, das aber zunächst wie ja auch moros rein negativ konnotiert ist, nämlich salos, verwirrt – die Etymologie ist unklar, wahrscheinlich spielt das syrische sakla oder sela (abstoßen, ekeln) eine Rolle. Auch die Bezeichnung der Anachoreten als saloi ist rein pejorativ, da sie als Häretiker oder Besessene, Sünder gelten: σάλος και ἁιρετικός, σαλος καί ἁμαρτωλός. Das byzantinische theologische und hagiographische Schrifttum (seit dem 12. Jh.) gebraucht die Begriffe μωρία und σαλότητα als Synonyma für die Bezeichnung einer spezifischen Heiligkeitsform, bzw. eines Wegs, Heiligkeit zu erringen und prägt die Formel σάλος ὑποκρινόμενος oder σαλός προσοποιοῦμενος (der den Narren Heuchelnde, bzw. Spielende). In den hagiographischen Texten tauchen auch Begriffe wie ιδιότης oder ἀγράμματος auf. Der altrussische Terminus jurodivyj (zunächst urod, Missgestalteter, dann jurod, Verrückter, Besessener, Geistesschwacher) erfährt eine analoge Resemantisierung ins Positive: jurodivyj radi Christa (διὰ Χριστόν und nimmt direkten Bezug auf das paulinische Diktum. (Vgl. das kirchenslavische Wörterbuch von Grigorij Djačenko, 1899: »Ein Mensch, der einen Sonderweg der Rettung gewählt hat, dem Rat des Hl. Paulus folgend, der sich rein äußerlich als geistesschwach ausgibt, in Wirklichkeit aber von echter Weisheit erfüllt ist«.)5 Der erste Korintherbrief ist ein doppelt gepolter Text – ein dialektisches Spiel mit den Begriffen Torheit und Weisheit –, in dem die Opposition Torheit-Weisheit in Bezug auf das Alte Testament (Verurteilung der Torheit) zum einen invertiert, zum andern durch Perspektiven relativiert wird: Das Kreuz als Torheit in den Augen der Weisheit der Welt, und die Weisheit der Welt als Torheit in den Augen der Weisheit der Christen. Jedes Element der Opposition wird verdoppelt. Die mittelalterliche Theologie habe stets mit den beiden Weisheiten und den beiden Torheiten argumentiert, konstatiert JeanMarie Fritz, der in seiner Untersuchung –’Le discours du fou au Moyen-Age”6 die binäre Struktur im theologischen Diskurs über die Narrheit herausstellt und den Begriff der duplex stultitia hervorhebt (sündiger Tor, unschuldiger Tor). Der stultus, insipiens gelte als blasphemisch, weil er seine Herkunft von Gott verleugnet. Jedoch gehöre stultitia, insipientia nicht in den Lasterkatalog; die Opposition zur virtus der prudentia sei eine Konstruktion, die dem überlieferten virtutes-vitia-Katalog nicht entspreche.7 Auch die alttestamentliche Wertung der Torheit ist nicht einhellig. Neben der salomonischen Verwerfung gibt es durchaus vorpaulinisch zu nennende Narrheit indizie5 6

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Johannes Chysostomos benutzt als erster das Oxymoron moras sophias. Fritz untersucht den medizinischen, theologischen und juridischen ›discours‹: fou entspricht stultus-fatuus im Römischen Recht. Für den mittelalterlichen Juristen ist la folie ein Zeichen der Absenz, Abwesenheit von Verstand und Willen, der fou kann entmündigt werden; ein anderer kann über den furiosus verfügen (Zwölftafelgesetz). Für die Medizin ist la folie die Erkrankung des forsené, dervé, rein physisch: Melancholie, Mania, Phrenesis gelten daher als heilbar (durch Ernährungsbeeinflussung, Medizinen und operative Eingriffe) Zur Opposition stultitia naturalis/amentia vs insipientia/stultitia peccatoris vgl. Peter von Moos, Attentio est quaedam sollicitudo, 2001, 91-127.

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Verborgenes und Manifestes

rende Momente, die sich auf Wirkung und Gebaren der Propheten beziehen. Der Prophet wird als Verrückter, meshugga, bezeichnet; für Isaja gilt die göttliche Weisung, sich merkwürdig zu kleiden und ein sonderbares Schauspiel zu sein. Diese Narrheit gehört in das Bedeutungsfeld: entrückt, von heiligem Wahn ergriffen, das den tatsächlichen Wahnsinn ausschließt. Anders ist die Einschätzung des predigenden Jesus durch die Pharisäer (Mk. 3,21) sowie die des predigenden Paulus und des predigenden Franz von Assisi, die die Zuschreibung tatsächlichen Wahnsinns nahelegt. Nicht nur die Unterscheidung zwischen angenommenem (gespieltem) und angeborenem (tatsächlichem) Wahn (furor, mania, phrenesis) ist für die Beurteilung der Narrheit unabdingbar, sondern auch die Abgrenzung von der sancta simplicitas, die weder mit Verstellung noch mit angeborener Geistesarmut (simplicitas) etwas gemein hat, sondern die dezidierte Ablehnung der artes liberales, besonders der dialectica, bedeutet.8 Entscheidend ist die sich aus der Torheit/Weisheit ergebende Narrenlogik, d.h. die Paralogik des Paradoxons, der Inversion und des Oxymorons, die einem provokativen Irrationalismus gleichkommt. Dieser ist im Rahmen der apophatischen Orthodoxie (nach dem Konzil von Chalzedon) zu verstehen.

15.4

Entwicklung im Westen

Fritz konstatiert, dass das lateinische Mittelalter keine Theologie der Torheit Christi oder Torheit des Kreuzes entwickelt habe ebenso wenig wie eine Spiritualität des Gottesnarren. Selbst für die Zisterzienser und später für Franz von Assisi sei die stultitia eine Figur der ›humilité‹ und der ›simplicité‹ unter anderen, aber keine Kardinalfigur. Das Christusnarrentum sei als Lebensform der Frömmigkeit zurückgewiesen worden. »Ce refus marque bien une ligne de partage entre l’Occident et l’Orient, puisque, dans le christianisme oriental, le fou de Dieu a sa place« (187). Bis auf die in die Vitae Patrum aufgenommene Vita der ägyptischen Isidora und jene des Simeon von Emesa9 sei die hagiographische Literatur im lateinischen Westen nicht bekannt gewesen. Der Gottesnarr gehöre in die Ostkirche, sogar die zwei großen Erzählungen, die die ›littérature d’oil‹ ihm widme: ›Le Miracle d’un escommenié‹ von Gautier de Coincy und die 10. Erzählung aus der ›Vie des Pères‹ mit dem Titel ›Fou‹ zeigen einen anderen Weg des Christusnarren als er für die östliche Tradition gelte. Es geht in der Legende um drei ägyptische Priester, die sich aus der Welt zurückziehen wollen: Dieudonné geht nach Antiochien, Boniface nach Jerusalem, Félix in den Westen, um Gottesnarr zu werden. Er trägt das Gottesnarrentum nach Besançon, wo er von der Menge gequält wird. Die Erzählung unterstreicht die Opposition zwischen denen, die quälen, und denen, die ihn achten, zwischen innen und außen, zwischen Sein und Schein. Es geht um Verfolgtsein hinieden um der jenseitigen Seligkeit wegen etc. Aber die Geschichte endet mit dem Rückzug des Félix ins Kloster nach Cîteaux. Das Narrentum im Westen sei nur ein Übergang, die folie allein genüge nicht – so die Folgerung

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Zum Begriff der simplicitas vgl. auch Achim Wesjohann, (1999, 107-167). Fritz zitiert die französische Ausgabe von A. J. Festugière, Paris 1974.

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

von Fritz. Weder von weltlich-kirchlicher noch monastischer Seite werde das Christusnarrentum anerkannt. Die Orden halten diese Form von Askese für marginal und verfehlt.10 Die geringe Anzahl hagiographischer Texte gebe diese Einschätzung wieder. Nur lokal lasse sich die Verehrung von Christusnarren ausmachen: Saint Salaun en Bretagne oder Saint Florentin en Lorraine (14. Jh.). Die wichtigsten romanischen Viten, die Narrheitsmomente zum Thema haben, seien ›La vie de Saint Grégoire‹ und ›La vie de Saint Jehan Paulus‹, in denen die sauvagerie und isolation zu Bußzwecken hervorgehoben werden. (315) In der Darstellung von Muriel Laharie erhält das katholische Chistusnarrentum anders als bei Fritz ein eigenes Gewicht. Sie entwickelt den folie-Begriff, den sie bis in die Feudalzeit in seinen unterschiedlichen semantischen Nuancierungen verfolgt, aus dem Psalm 52: Dixit insipiens in corde suo non est Deus – einem Ausspruch, der dem heidnischen König von Assyrien in den Mund gelegt wird. Gottesleugnung ist Narretei. Dies gilt in der Folge für alle Atheisten und anachronistisch aus christlicher Sicht auch für die die Gottheit Christi leugnenden Juden. Laharie führt eine große Anzahl von Illuminationen an, die weitgehend stereotypisch eine Figur zeigen, deren dürftige Bekleidung (oder Nacktheit), keulenartiger Wanderstab und an den Mund geführter Stein (oder Käse), diese als Narren ausweisen. Der Blick des Narren ist nach oben gerichtet und trifft auf das Angesicht Gottes. Ob der Narr, Auge in Auge mit Gott, hier noch Leugner ist oder bereits ein Gottesnarr, bleibt unklar. Zumindest lassen einige Illuminationen den Schluss zu, dass hier ein simple, ein naïf (81), nicht ein böser Leugner gemeint ist. »Le fou qui fait face à Dieu n’est pas un fou ordinaire, mais un fou de Dieu« (60). Auffällig ist die Inversionskarriere von Psalm 52 in diesen Darstellungen: der leugnende Narr wird zum fou de Dieu. Laharie ermöglicht mit der Unterscheidung von diabolisation, moralisation und sanctification der folie (23) die jeweils zeittypischen und vom Wissensstand abhängigen folie-Interpretationen zu fassen, wobei übernatürliche (diabolische oder göttliche) Kräfte angeführt oder natürliche Gründe geltend gemacht werden. Narrheit als Anomalie verweist auf die Pathologie des Wahnsinns im Kontext der antiken humores-Lehre. Der Zusammenhang zwischen moralischer, physiologischer und mentaler Unordnung gilt solange, bis die Narrheit in Christo sich auf spektakuläre Weise emanzipiert. Dies vollzieht sich in monastischem Milieu aufgrund einer neu verstandenen Christusnachfolge. Der spekulativen Theologie der folie pour Christ gilt die interpretative Aufmerksamkeit von Laharie. Für die sanctification de la folie stehen die Paulus-Briefe anders als für die ostkirchliche Entwicklung nicht an erster Stelle, vielmehr nimmt diese das Konzept der Liebespassion für Gott ein. Allerdings spielt auch die Wiederaufnahme der frühchristlichen Tradition, Askese und Eremitenwesen, eine für die monastische Lebenspraxis entscheidende Rolle. Laharie nennt den hl. Romuald (951-1027), der in der Vita des Petrus Damiani als fol en Christ bezeichnet werde (90), er ist

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Fritz führt die Verdammung der Narrheit Vortäuschenden durch den Orden hauptsächlich auf die vagabondage zurück, die zur negativen Einschätzung der 4. Kategorie der Mönche, der gyrovagi (die von Kloster zu Kloster wandern) geführt hat, die gemäß der Benediktiner-Regel nach den positiv beurteilten Koinobiten und Anachoreten und nach den ebenfalls negativ gesehenen sarabaitae (die der Welt dienen) als letzte rangiert; sie gelten als hypocrites. (315)

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Eremit, Mönch und Gründer einer Einsiedelei in der Toskana, und den hl. Bruno (10301101), den Gründer des sowohl koinobitischen wie eremitischen Kartäuserordens, auch dieser einer der »passionnés de l’amour de Dieu« (divino amore ferventes, 90). Der Unterschied zu den östlichen Christusnarren wird hier gewissermaßen institutionell sichtbar: die Jurodivye sind nicht monastisch gebunden, verstehen sich als Gemeinschaft meidende Einzelgänger im urbanen Raum. Laharies fous en Dieu sind Klostergründer und Eremiten. Auch Robert von Arbrissel (gegen 1045-1116), dessen extreme Befolgung des Armutsgebots nicht nur zu seinem Rückzug in den Wald von Craon, sondern auch zur vollständigen Verwahrlosung seines Äußeren geführt hat, wird hernach Gründer der Abtei von Fontevrault (91). John Saward, den auch Laharie zitiert, weist auf einen interessanten, nicht ganz geklärten Umstand hin, der eine Verbindung zwischen orientalem und okzidentalem Christusnarrentum nahelegt. Saward berichtet von den irischen gelta (die auch Objekt von Sagas wurden), die wild lebend, in Lumpen gekleidet, seltsame Nahrung zu sich nehmend in Erregungszustände und Delirien verfielen, die sie als Gottesgeschenk betrachteten. Saward nennt den König Suibne (7. Jh.), Sankt Moling und Sankt Cuimine. Nomadisierende irische Mönche könnten eine Verbindung zwischen dem orientalischen und okzidentalen Bereich hergestellt haben. (Saward 1980) Laharie weist in diesem Zusammenhang auf Fälle von Stylitentum (Saint Walfroy in den Ardennen, 6. Jh.) und auf die Sainte Ulphe (8. Jh.) hin, von der es heiße, »elle simulait la folie«. (89) Das Stylitentum – nicht identisch mit dem Christusnarrentum – gehört in die östliche Tradition, die Simulation ist gewiss ein Hinweis auf die göttliche Narretei. In Laharies Darstellung der mit den Zisterziensern verbundenen neuen Blüte der folie en Dieu tritt die mystische Perspektive immer stärker hervor. Wilhelm von Saint-Thierry (gegen 1089-1148) steht für eine Spiritualität, in der es zur »identité de la sainte folie et de la mystique« kommt, wie sie pointiert formuliert. (93) In Wilhelms Schriften ›Enigma fidei‹ und ›Speculum fidei‹ verfolgt Laharie eben jene Argumentationen, die darauf zielen, die Entwicklung der sainte folie aus der folie de la croix zu begründen (93). Fritz dagegen sieht in der mystischen eine marginale Entwicklung, die dem Einfluß der negativen rein östlich geprägten Theologie geschuldet sei: Le seul territoire du discours théologique à accepter la stultitia est celui, marginal, de la théologie dyonisienne et de ses prolongements latins jusqu’à Nicolas de Cuse par l’intermédiare de Jean Scot Erigène. Dans cette théologie négative, théologie du Dieu inconnaissable et incompréhensible, la sagesse divine se définit comme ›irrationnelle, insensée et folle‹ (irrationalem et mente carentem et stultam sapientiam).11 Mais, là encore, ce discours est grec, non latin, et relève de ce que Dom Déchent a appelé, à la suite de Guillaume de Saint-Thierry, l’orientale lumen; et l’on connaît toutes les résistances qu’il suscitera. (189f.) In Laharies Untersuchung erscheint die Verschmelzung von Narrheit und Mystik nun gerade als das Spezifikum der westlichen Entwicklung.12 11 12

Fritz(1992, 189f), zitiert aus Johannes Scotus Eriugena, De Divinis Nominibus, VII (PL 122), c.1153 B-C. Die spekulationsgeschichtlich mit der negativen Theologie verbundene Mystik entwickelt sich bekanntlich im Westen, bevor sie über die Rezeption des Barockmystikers Jakob Böhme in Russland

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

Auch die Beurteilung des Franz von Assisi (1182-1226), des spektakulärsten Vertreters eines Christusnarrentums, der in den dem Jurodstvo gewidmeten Darstellungen13 immer wieder als dessen einzige westliche Entsprechung genannt wird (hauptsächlich wegen der Topik: plötzliche Abkehr von der Familie und dem angestammtem Milieu, das Ablegen des Vaternamens, Barfüßigkeit, unorthodoxes Verhalten gegenüber weltlichen und kirchlichen Institutionen), ist keineswegs einheitlich. Fritz sieht in Franziskus weder einen Simeon von Emesa noch einen Felix von Besançon (316). Er habe nichts von einem Exzentriker und suche eher die humilité als die humiliation. Dennoch räumt Fritz das Vorhandensein von folie-Momenten ein und lässt nicht unerwähnt, dass Franziskus eben wegen seiner Verhaltensformen in den Augen der Menge, in der Nachfolge von Petrus Valdes, als Narr erschienen sei, ja sich selbst so genannt habe: Dixit mihi Dominus quid volebat me esse unum novellum pazzum in hoc mundo: et noluit nos ducere per aliam viam quam per istam scientiam. Sed per vestram scientiam er sapientiam Deus vos confundet (so im ›Speculum perfectionis‹, Ende 13./Anfang 14. Jh.).14 Laharie wiederum unterstreicht die Exzentrik des Franziskus, der den Aufruf des hl. Bernhard (1090-1153), ein »jongleur de Dieu« zu werden, aufnimmt. Bernhard, der sich selbst nicht mehr explizit auf die folie beruft, sieht im Spielen des Jongleurs, eines der verachtetsten Glieder der Gesellschaft, die Möglichkeit zur heilbringenden Selbsterniedrigung. Laharie vermutet in der Abkehr des Franziskus und der Franziskaner von der Weltlichkeit der Welt die Extremform von Selbstentsagung, ja Selbstentleerung: »se vider de soi-meme pour se remplir de Dieu« (94). Franziskus’ durch Askese errungene mystische Annäherung an Christus, die seine Stigmatisierung bekundet, habe ihn zu einem alter Christus gemacht, als der er in der Folge verehrt wird (100). Dieser mystische Vorgang, der auch für andere Glaubenspraktiker gilt, wird in christologischen (spekulativen) Texten mit den Begriffen excessus mentalis, alienatio mentis, elevatio mentis, raptus bezeichnet. Eine schriftliche Niederlegung der raptus-Zustände findet bei Franz von Assisi allerdings nicht statt, er ist weder spekulativer Denker noch Theologe.15 Dies unterscheidet ihn von den Mystiktheoretikern und nähert ihn auch in diesem Punkt den textlosen Jurodivye an. Wie für die zisterziensischen Verfechter und Praktiker einer folie du Christ gilt für die Franziskaner, dass sie mit der folie auch institutionelle Ziele verfolgt haben: Franziskus wird zum Gründer eines Ordens. Trotz der Wildheit und provokativen Anstößigkeit ihres Auftritts (Franziskus veranlasst den Bruder Rufin eine Kirche in Assisi nackt zu

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weiterwirkt. Ein anderer Aspekt negativer – apophatischer – Theologie spielt allerdings durchaus eine Rolle für das russische Gottesnarrentum: das Schweigen, s.u. Die mir bekannten Jurodstvo-Studien haben die Forschung zur mittelalterlichen folie mit Ausnahme der Studien zu Franz von Assisi nicht zur Kenntnis genommen. Zitiert nach Fritz (317). – Petrus Valdes, aus reichem Lyonnaiser Kaufmannsmilieu stammend, wird seinerseits als ein ›Nachfolger‹ dargestellt. Nach der Lektüre der Vita des Alexius habe er seine Heimat verlassen. Die Lektüre der Alexius-Vita ist auch für das östliche Narrentum von großer Bedeutung. – Zu Franz von Assisi vgl. den Beitrag von Achim Wesjohann, »ut…stultus vel fatuus putaretur. ›Fehltritte‹ früher Franziskaner« (2000, 203-234), der die folie-Züge des Franziskus und seiner Nacheiferer stärker betont und deren soziale Funktionen analysiert. Zur Bildungseinstellung des Franziskus Wesjohann (137ff.).

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betreten; er und seine Nachfolger tanzen auf den Straßen) bilden die Franziskaner-fous eine Gemeinschaft, die sich ein ordo gegeben und diesem verpflichtet hat. Die Verfolgung der mystischen Dimension wird zum zentralen Punkt in der folieDarstellung von Laharie,16 wobei jedoch das pazzia-Element, das bei den Franziskanern eine konstitutive Rolle spielt, so etwa bei Jacopone da Todi (1230-130), der die santa pazzia rühmt, keineswegs ausgespart bleibt. Die Einbeziehung eines anderen Franziskaners (3.Orden) in den folie-Kontext – sowohl bei Fritz als auch bei Laharie, der bei letzterer geradezu als einer der Höhepunkte franziskanischer Spiritualität erscheint, verdient kritische Aufmerksamkeit. Es handelt sich um den Katalanen Raimundus Lullus (1232/33-1316), der aufgrund zweier von ihm verfasster Texte als Gottesnarr vorgeführt wird: ›Le Livre d’Evast et de Blaquerne‹ und ›Le Livre de l’Ami et de l’Aimé‹. In der Raimundus Lullus gewidmeten Forschung wird einer folie an keiner Stelle Erwähnung getan. Dass sein Missionskonzept, das er für nordafrikanische Juden und Mohammedaner entwickelt hatte, auf der absoluten Geltung der Zahl drei beruhte, was die Trinität als unumstößliche Wahrheit für Andersgläubige zwingend einsichtig machen sollte, wurde zwar als eine ins Extrem getriebene Gedankenfigur gesehen, nicht aber als die Idee eines fou. Lullus, dessen epochale Leistung in der Ablösung der aus der Antike ererbten Mnemotechnik durch ein neues System des Speicherns und Merkens gesehen wird17 und dessen Ars Magna und Ars Brevis und der darin entwickelten ars combinatoria als Grundlagen für das System- und Vernetzungsdenken der Moderne gewürdigt werden, als fou pour le Christ zu sehen, wirft auf den das abendländische Denken so stark beeinflussenden Lullismus ein anderes Licht. Nun wird in beiden Monographien, der von Jean Marie Fritz (1992, 318ff.) und der von Muriel Laharie (1991, 95, 122), Lulls folie en Dieu aus der Identifikation des Protagonisten mit dem Autor konstruiert (was die Namensgleichheit von Held und Verfasser suggeriert). Aus der folie des Helden ›Raymond‹ auf diejenige des Autors zu schließen, ist zwar zulässig, aber nicht zwingend. Blickt man nun noch einmal auf die intellektuelle Tätigkeit Lulls mit ihren traditionsbildenden Folgen, dann stellt sich mit Fug die Frage, wie sich folie und Ars Magna in Beziehung setzen oder versöhnen lassen, eine Frage, die sich weder die Wissenschaftstheoretiker des Lullismus noch die folie-Historiker, da sie sich offenbar auf verschiedenen Wegen befinden, stellen. Raimundus Lullus, Ramon Llull, Raymond Lulle, repräsentiert womöglich einen spezifischen Typ von fou en Dieu, einen spekulativen Denker, der von einer Zahlenfigur ausgehend, einen allerdings scheiternden Trinitätsbeweis antritt. (Die mit seinen triadischen Dogmen konfrontierten Andersgläubigen sollen ihn mit Steinen beworfen und verhöhnt haben.) Seine Idee der 16 17

Für die deutsche Mystikforschung ist allerdings die Verbindung einer Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg u.a. mit dem Christusnarrentum m.W. eher ungewöhnlich. Es ist die Begriffsnotierung von Raimundus Lullus, die Frances Yates (1966) als Umwälzung in der Geschichte der Mnemotechnik hervorhebt. Sie weist darauf hin, dass Lull die klassischen mnemonischen Traditionen auf zweifache Weise aufgegeben hat: zum einen, indem er einen algebraischen »wissenschaftlich abstrakten« Weg einschlagen habe, zum andern durch die Einführung eines Bewegungsmoments in die Gedächtnisstatik. Yates setzt die großen mittelalterlichen Schemata, die das gesamte Wissen in »static parts« präsentieren, von diesen algebraischen Aufzeichnungen ab, die sie charakterisiert als »breaking up static schemata into new combinations on its revolving wheels«. (176)

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

Speicherung und damit Erinnerbarkeit von Wissen einerseits und dessen nach einem bestimmten Regelsatz funktionierender Generierung andererseits verdankt sich einer präzedenzlosen, die Grenzen etablierten Disziplindenkens überschreitenden Fähigkeit zu Abstraktion und Systematik. Sein gesamter spekulativer Aufwand, die GottesnamenKombinatorik, die Erfindung der rotierenden Scheiben entspringen einer trinitätstheologischen Spekulation,18 die in ihrer Rigorosität und systemorientierten Folgerichtigkeit ›wahnhafte‹ Züge trägt. In seinem kabbalistisch gefärbten Gottesbeweis-Furor erscheint er tatsächlich als ein fou pour Dieu – was den Siegeszug seiner Artes (mit Höhepunkten in der Renaissance, im Barock, in der Romantik) bis hin in die Ära der Rechner nicht aufgehalten hat. Lässt man die Idee eines ›Wissenschaftsnarren um Gottes willen‹ zu, dann repräsentiert Lullus tatsächlich eine Besonderheit in der folie-Geschichte. Seine literarischen Texte wären dann als Ergänzung im rein Spirituellen zu lesen. Fritz und Laharie weisen noch auf einen anderen Fall der folie-Darstellung hin: die weltliche Literatur.19 In der romanischen Literatur haben sich Formen erhalten, in denen das christologische Moment durch das des Dienstes an der Dame gänzlich abgelöst ist. Fritz nutzt dies für sein Argument der Abwesenheit, bzw. marginalen Bedeutung des (religiösen) Narrentums im Westen: Le fou pour l’amour de Dieu, rejeté ou du moins marginalisé par l’Eglise, car trop proche du bouffon ou de l’homme de théatre qu’elle a toujours condamnés, car hypocrites, dans tous les sens du terme, rencontre ainsi le fou pour l’amour de la Dame que met en scène la littérature. (319) Und pointierter : Le plus authentique salos occidental n’est peut-être pas Félix de la Vie des Pères, mais Tristan. Son geste de la folie simulée pour la Dame est à l’image de celui des plus grands fous de Dieu (322). Fritz schließt rigoros: »le salos restera une figure orientale« (1992, 373).20

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Alle Künste (artes) Lulls basieren auf den Namen Gottes oder den göttlichen Attributen, die als Dignitates Dei bezeichnet werden. An die Stelle der Zehnerzahl der Sefirot ist aus Trinitätsgründen die Neun getreten. Die Neun garantiert die Grundlage für die Formen der Ars, die durch die Buchstaben B-K bezeichnet werden. B-K, ein Alphabet im Alphabet, stellt eine universale Formel dar, die auf alle Seinsebenen anwendbar ist. Lulls Gottesnamen und seine Buchstabenmystik sind im spanisch-kabbalistischen Kontext der Sefirot und der hebräischen Alphabet-Meditationen zu sehen. Seine Ars ist als signifikanter Bestandteil in die christliche Kabbala der Renaissance und des Barock eingegangen (Idel 1988, 170-174). Schon Pico della Mirandola nennt die Ars Raimundi eine zweite Kabbalah (Conclusiones, Genf 1973, Rom 1486). Hierfür gibt es in der östlichen Tradition, die keine Minneliteratur entwickelt hat, ebenfalls keine Entsprechung. Ivanov vertritt im Schlusskapitel seines Buches (1994), ohne Rekurs auf Fritz, die These, dass das Gottesnarrentum im Westen keine echte Analogie habe und zwar aufgrund anders gearteter Konzepte der Heiligkeit, der Demut, der Reue und der sozialen Askese-Bedingungen.

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Das russische Phänomen

Die ›Biographie‹ der ›orientalen‹ Christusnarren beginnt in den Hagiographien erst nach der conversio, von deren Beweggründen man nichts erfährt. Gleichwohl gehört das Verlassen der Familie, Eltern, Frau, Kinder zur Initial-Topik der Vita. Ein einzigartiges Dokument ist ein Abschiedsbrief mit Tröstungen und Rechtfertigungsargumenten für das rücksichtslose Streben nach Selbstvervollkommnung und Heiligung/Heilung, das ein russischer Christusnarr im 17. Jahrhundert hinterlassen hat.21 Die Primärsozialisation bleibt weitgehend im Dunkel, es gibt lediglich Vermutungen über die Herkunft: Der Christusnarr kommt von »irgendwo«. In der ersten einem russischen Hagiographen zugeschriebenen Vita, der des Prokop von Ustjug (Ustjužskij), wird die ausländische Herkunft eigens hervorgehoben. Prokop komme aus westlichen Landen, lateinischer Zunge, stamme von deutscher Erde. Hier wird sogar ein conversioMotiv angeführt: Als Handelsmann habe ihn in Novgorod die Pracht der orthodoxen Liturgie so überwältigt, dass er in Russland blieb, orthodox wurde und sich dem Beispiel der Christusnarren folgend, das Flickenhemd anlegte, barfüßig umherging, sich als Narr ausgab, die Hässlichkeit pflegte – um der Schönheit der Liturgie willen. Der Hagiograph vermerkt ein Gebet des Sterbenden, in dem er Gott preist, dass er ihm eingegeben habe, sein unreines Land und den unreinen Glauben seiner Heimat zu verlassen. Dieser Topos orthodoxer Propaganda wiederholt sich in anderen Viten, deren Narrenhelden ebenfalls aus dem Westen aufbrechend im Osten in den Narrenstand traten.22 Sie erscheinen als spirituelle Migranten. In den meisten Fällen wird die Fremdheit (auch die russischen Narren kommen immer aus entfernten Landesteilen) nicht spezifiziert und durch den Vermerk: »unbekannt, woher er kam, unbekannt, wer er war«, gesteigert. Hagiographen berichten von der an einen Jurodivyj gerichteten Frage des Metropoliten Feodosij: »Wer bist Du?«, die der Befragte mit dem Echo der Frage beantwortet habe. (Auch dies ein Sprechverzicht, der dem Schweigen gleichkommt (Certeau 1979) Der Fremde wird ein Hiesiger, der jedoch seinen Gast- und Pilgerstatus behält. Pilgern bedeutet nicht, einen heiligen Ort 21

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Zit. nach Pančenko (171-180): »Abschnitt aus einem längeren belehrenden Brief, genannt: Abschrift eines Briefes, den der Bürger von Galič Stefan Trofimovič Nečaev, der Christusnarr, seiner Mutter Evdokija und seiner Frau Akilina zum Troste schrieb, als er den Weg des heiligen Narren einschlug/…/Seht auch, wie wenig ich mich um weltliche Dinge und häusliche Angelegenheiten sorgte. Wäre mir diese Welt teuer mit ihren eitlen Annehmlichkeiten, würde ich mich bemühen, wie es andere Menschen tun […] Seht doch, ich gehe in ein fremdes und unbekanntes Land und verlasse dich, meine leibliche Mutter, und meine liebe Frau, Familie und Sippe und all die Schönheit dieser Welt. Ich verlasse dies alles um Christi willen. Doch weine ich nicht, obwohl es mir, wie ihr wisst, euretwegen leid tut. Aber Christus ist mir lieber als alles andere.« So auch Isidor von Rostov, von dem berichtet wird, er sei lateinischer Zunge, aus deutschen Landen, erzogen in berühmter und reicher Familie. Voller Hass sich abwendend von dem Gott missfallenden lateinischen Glauben, habe er sich dem wahren christlichen Glauben zugewandt. In einer anderen Version wird Isidor als aus Brandenburg stammend und mit dem Großmeister des Kreuzritterordens verwandt bezeichnet. Der Westeuropäer ging in orthodoxe Lande, um Christusnarr zu werden, oder anders: der Christusnarr musste aus der Fremde kommen. Die Fremdheit steht im Vordergrund: der Westen, das Lateinische, das Deutsche (oder das Feindliche im Falle der Verwandtschaft mit dem Großmeister). (Wodziński 2000, 227.)

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

aufsuchen, sondern sich auf Wanderschaft begeben »um Gottes willen« nach dem nie zu findenden heiligen Ort, der »wirklichen Heimat«; die russische Bezeichnung für diesen ziellosen Ortswechsel stranstvovat’ (pilgern) leitet sich von strannyj, fremd, seltsam ab (vgl. die byzantinische Entsprechung: ξενιτεια δια Өεον). In einigen Darstellungen werden die Jurodivye mit den religiösen stranniki, Wanderern, in engem Zusammenhang gesehen, was das Aufbruch- und Unruhemotiv verdeutlicht, das das Verlassen des angestammten Milieus und den Ortswechsel, den die Viten betonen, begleitet. Das stranstovanie (vgl. das von der Benediktinerregel verurteilte Vagabundieren) ist eine Lösungs-, Ablösungsbewegung, die letztlich auf eine Ortlosigkeit zustrebt. (In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist der strannik eine Variante des romantischen Helden. Bei Dostoevskij – postromantisch – erhält der strannik Züge des Heilssuchers, so der alternde Stepan Verchovenskij in Die Dämonen, der sich auf Wanderschaft begibt. Ein solcher später Aufbruch aus dem sozialen-familialen Umfeld ist – lebenswirklich – vom moribunden Leo Tolstoj belegt.) Aber der Christusnarr zieht nicht nur unter entsetzlichen Entbehrungen (und Abenteuer bestehend) durchs Land, sondern ist in erster Linie eine städtische Erscheinung, ein Stadtstreicher. Die unbekannte Herkunft wird in etlichen Texten durch die Beschreibung des ersten, häufig skandalösen Auftretens des Christusnarren überdeckt. Die Vita des berühmten Syrers berichtet von seinem Erscheinen in Emesa: Simeon zieht einen verendeten Hund, den er auf einem Misthaufen fand, an einem Strick um seinen entblößten Körper hinter sich her und betritt so die Stadt, was Spott und Verachtung hervorruft. (Das an die Tradition der Kyniker gemahnende Hunde-Symbol bekundet den Entschluss, ein Hundeleben zu führen, und weist demonstrativ darauf hin, dass Äußeres und Verhalten auf Deutung angelegt sind). Der Christusnarr entwickelt eine beunruhigende Mobilität im urbanen Raum, verharrt nur flüchtig an den Plätzen der Stadt (auf dem Marktplatz, auf Abfallhaufen, in Schuppen, auf den Kirchenstufen – dem Null-Ort zwischen Welt und sakralem Raum)23 und verschwindet. Zu dieser dezidierten Nicht-Zugehörigkeit zu einem Ort kommt die zeitliche Nichtfixierbarkeit. Das Geburtsjahr liegt ebenso im Dunkel wie das des Todes. Der Leichnam gilt als verschollen, taucht plötzlich wieder auf (die Hagiographen statten die Leichenepiphanie mit Wunderberichten aus). Die Christusnarrenvita hat damit ihren eigenen Chronotop, der sich von dem der üblichen Heiligen- und Fürstenviten unterscheidet. Die sich aus ihrem angestammten Milieu Desintegrierenden übernehmen im neuen Milieu ›kommunikative Funktionen‹, wozu ihre verbalen und gestischen Provokationen, ihre prophetischen Ausrufe und theatralische Selbstdarstellung zu rechnen sind.24 Ihre Fremdheit und Nichtzugehörigkeit zu dem Raum, den sie ›kommunikativ‹ geschaffen und sich angeeignet haben, halten sie durch ihre Herkunftsverleugnung und beharrliche Anonymität aufrecht. Verstöße gegen Normen und Symbole, sittenwidriges die

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Hierzu Deroche (1995, 187 : »Le fou vagabonde donc librement dans tout ce que l’on pourrait appeler l’espace public, à la porte de la ville, hors les murs, à l’agora, et probablement, dans une ruelle ou au portique, devant les boutiques avec les mendiants«.) Neben Glossolalie oder der häufig nur einen Satz umfassenden Rätselrede ist das nonverbale Verhalten vorherrschend.

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Etiquette verletzendes Verhalten, das sich gegen kirchliche und weltliche Institutionen richtet; die Wahl einer ›anderen Sprache‹; die Wahl eines anderen Aussehens: Nacktheit oder Flickenhemd, abstruse Kopfbedeckung, Verschmutztheit; die Wahl einer anderen Gestik und Körperbewegung: wie Hüpfen, Hinken, Hocken, Liegen, Gestikulieren u.ä. lassen diese Fremdheit spektakulär hervortreten. In der Stadt exerziert der Jurodivyj sein ›Sterben für die Welt‹, betreibt konsequent seine Selbstausgrenzung, wozu es der Präsenz und der Reaktion der Menge bedarf. Von Vasilij Blažennyj von Moskau heißt es, er habe sich mit niemandem gemein gemacht, niemanden gekannt, und sei immer ein Fremder geblieben. Die städtische Einsamkeit wird mit derjenigen der Wüste oder Einöde gleichgesetzt. Stärker als die Bibeltexte wirken die hagiographisch festgehaltenen Leben der Vorgänger in Christo. Je später ein Christusnarr auf der städtischen Bühne erscheint, desto länger die Liste der Vorgänger, deren Nachfolge angetreten wird: Vasilij von Moskau (15. Jh.) folgt den (alten) »seligen Andreas und Simeon« und dem (jüngeren) »Prokop von Ustjug« nach usw.25 Andererseits ist auf ein Streben nach Individualisierung und Unverwechselbarkeit in der Narren-Identität zu schließen, das sich durch Eigenheiten in Gestik, Rede und durch äußere Attribute (Eisenkappe, halbe Kopfbedeckung, Kupferringe) äußert. Denn die Narrenhagiographen legen Wert auf die Spezifika, geben den Narren die im Volksmund geläufigen sie charakterisierenden Beinamen, heben solche Formen der Askese, Selbstverleugnung, körperliche Strafe provozierender Unbotmäßigkeit hervor, die als hyperbolische Abweichungen von der allen Christusnarren eigenen Verhaltensweisen erscheinen. Trotz der exzentrischen Sonderheiten lassen sowohl die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition als auch der Rückgriff auf ein bestimmtes Repertoire der Verhaltensformen die Vorstellung einer »Korporation von Einzelgängern« (Wodziński 2000, 58) zu, wenn auch von Zusammenschlüssen der Jurodivye, ja selbst von wirklichen Kontakten zwischen ihnen, nichts berichtet wird. Lediglich für die Zeit des Schismas zwischen den Altgläubigen und den Vertretern der Reformkirche (17. Jh.) ist es offenbar zu gegenseitigen Annäherungen durch den teilweisen Anschluss an die Altgläubigenbewegung, deren religiöses Dissidententum das Bindeglied ist, gekommen.26 Da das Christusnarrentum in allen seinen Verhaltensformen zur Verrätselung neigt, fällt es auch den Hagiographen gelegentlich schwer, Gestik, Mimik, Sprache oder auch Schweigen und die Paradoxien der Verhaltensformen zu interpretieren. Der Jurodivyj erscheint als ambivalente, auslegungsbedürftige Figur, die tagsüber den Toren mimt und betend die Nächte verbringt.27 Auch der ausgestellte, meist nackte Narrenkörper ist ambivalent: er gilt als engelsgleich und satanisch zugleich.

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Deroche (1995, 213) hebt »le succès prodigieux de la Vie d’André Salos« hervor. Einige Altgläubige ihrerseits nahmen Verhaltensweisen der Jurodivye an. (s.u.) G. Fedotov, dem an der Spezifik der Paradoxien gelegen ist, hebt die Irreführung der Menge, die Verführung durch Schamlosigkeiten, durch brutales Verhalten, die Erregung von Ärgernis, also das Skandalon, hervor, dem er die ›geheime‹ Absicht, die Menschen dem Heil zuzuführen, entgegenstellt. Es gehe um die Aufdeckung des Widerspruchs zwischen christlicher Wahrheit und moralischem Gesetz. (1960)

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

Dem religiösen Schausteller geht es in der Exhibition des Körpers (der Jurodivyj treibt die Schamlosigkeit weiter durch öffentliches Defäkieren)28 und dem lästerlichen Fluchen darum, die Menge zu Verhöhnung und Züchtigung seiner Person herauszufordern. In einem Doppelspiel von Verlachen und Verlachtwerden wird ein Akt der Läuterung vollzogen, eine kathartische Verfremdung von Formen geheuchelter oder erstarrter Moral und Glaubenspraxis. Der lachende Verlachte wird zugleich – eine weitere Ambivalenz – als Prophet verehrt, seine Rätselrede verbreitet und vielfachen Deutungen unterzogen. Es wird von Christusnarren berichtet, deren Rede nicht nur dunkel ist, sondern sich dem Verstehen durch Glossolalie entzieht, und von solchen, die ein unerschütterliches Schweigen ›zur Schau stellen‹. Beide, Glossolalie und Schweigen, verweigern sich der ›verderbten‹ Zeichenordnung der kommunikativen Sprache. Das Schweigen ist die »ideale Sprache« des Gottesnarren (Pančenko, 137) Für den Schweigetopos gibt es zahlreiche Beispiele in den Viten (ursprünglich offenbar eine dem Entblößungsgebot vergleichbare Anweisung: Ergreifst du das Leben eines Jurodivyj, so schließe Deinen Mund). Das Schweigen entwickelt sich zu einem der wichtigsten Modi des Sichfremdmachens. Zu dieser Form kommunikativer Nicht-Kommunikation treten weitere: kurze dialogvermeidende Aussprüche, Aphorismen – oft gereimt –, dem Zaren zugeraunte Rätselworte, die als Mahnung oder Beschimpfung dechiffriert werden; Flüche, unverständliches Stammeln oder Rede mit sich selbst, von der Menge als Gespräch mit Engeln verstanden. (Von einem Salos wird berichtet, dass er ohne Unterlass nur zwei Worte ausstieß: Kyrie eleison). Auch Formen defekter Sprache sind Verweigerungen, die dem Schweigen gleichkommen. (Wodziński, 136-153) Die Verstellung, die im Kern immer das Verbergen der Heiligmäßigkeit ist und zwar mithilfe des vorgegeben Wahnsinns, der Torheit (in einigen Fällen auch der Besessenheit) arbeitet mit extremen Mitteln, brutale Handlungen eingeschlossen. Denn das Jurodstvo darf nicht zur Verehrung führen, deshalb werden Verweltlichungsübungen vorgeführt, damit die Welt dem Jurodivyj die Abtötungs- und Askeseübungen nicht als Tugend und Heiligmäßigkeit anrechnen kann.29 Um den Heiligkeitsverdacht zu zerstreuen, bedarf es also ständiger Verleugnungskampagnen, die Verhaltensoxymora und Täuschungskunstgriffe einsetzen, von denen besonders die Vita des Simeon von Emesa erzählt. Sowohl die Hagiographen wie die späteren aufgeklärten Kritiker beklagen das Übertreten moralischer Normen, das sich der Jurodivyj erlaubt. Die positive Kritik hält die demaskatorische und didaktische Funktion des Unmoralischen dagegen. Der Immoralismus bedeute, so Cezary Wodziński (2000, 192) die Lösung von weltlichen Bindungen. Sergej Ivanov hat in Vizantijskoe jurodstvo diesen Punkt radikalisiert, indem er im Skandalon, in der Sündendemonstration, die eigentliche Pointe dieses Typs von 28

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Der Hagiograph kommentiert zu Vasilij Blažennyj: »da er eine freie Seele hatte, schämte er sich nicht vor der Scham der Leute, wenn er häufig vor den Menschen seinem Magen Erleichterung verschaffte.« Hier folgt Vasilij dem Beispiel Simeons von Emesa und Andreas von Konstantinopel, deren Viten er offenbar studiert hat. Öffentlich nimmt er Nahrung zu sich, gerade an Fastentagen. Die nach vielen Versuchungen erreichte Stufe der Sexualitätsbekämpfung kehrt er spektakulär ins Gegenteil, indem er der Welt vormacht, er habe Verkehr mit Frauen, lasse sich mit Prostituierten ein etc. Die Hagiographen kommentieren diese Aktionen, indem sie auf die Fleischlosigkeit, gänzliche Leidenschaftslosigkeit, apatheia, hinweisen.

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Heiligmäßigkeit und Askese sieht. (1994, 183) Im Spiel der Provokation, des Schocks vermischen sich das Engelhafte mit dem Diabolischen, das Reine mit dem Schmutz. Jede Heilsperspektive, die sich eröffnen mag, wird asketisch verdeckt. Zum ›närrischen Weisen‹ tritt das Oxymoron des ›heiligen Gottlosen‹, des ›heiligen Wüstlings‹.

15.6

Nacktheit

Viele ›Glaubenshelden‹ erhielten den Beinamen ›der Nackte‹ oder ›der Nacktgänger‹ (z.B. der Moskauer Gottesnarr Maksim, der Nagochodec genannt wurde). Nacktheit wird zum sinnfälligen Ausdruck der Verleugnung der sozialen Herkunft und zur Bekundung der Herkunft aus dem Mutterleib, die eigens hervorgehoben wird. Entkleidung ist die Realisierung des Entschlusses, als Christusnarr ein anderer, ein Fremder zu werden. In der Vita Sabas d. J., der auf Zypern nach dem Zerreißen seiner Kleider sein nacktes Narrenleben antrat, heißt es: »[er war] vollständig nackt. Allen fremd, gänzlich obdachlos, keinem auch nur im mindesten bekannt oder vertraut«.30 Die Anweisung »stirb für die Welt« verlangt die Entblößung als schwere Prüfung des Jurodivyj. Russische Hagiographien berichten ausführlich über die Schamüberwindung und die Nacktheitsmarter ihrer Helden, die sommers und winters unbekleidet bleiben. Der Hagiograph kommentiert zu Prokop von Vjatka: »er kleidete sich in die weißen Gewänder des unverweslichen Lebens«, und zu Vasilij von Moskau: »Die Körperbekleidung abwerfend, zieht er die Gewänder der Leidenschaftslosigkeit an«. Durch die Nacktheit schimmert das ›andere Leben‹. Ein weiterer Aspekt ist das ›Körpergefühl‹: Prokop von Ustjug und Prokop von Vjatka sprechen im Referat des Hagiographen davon, dass sie sich wie in einem »fremden Körper fühlen«. Der fremde Körper ist der weltliche, den sie abtöten müssen. Der Narr in Christo gilt denn auch als fleischlos (in der selbsterniedrigenden Körperverachtung) und damit engelgleich, aber zugleich als Element des Satanischen (der stinkende, unflätige, Ekel hervorrufende Narrenkörper assoziiert den Teufel) und erregt damit den Abscheu der Menge oder ihr Ärgernis. Der nackte Körper wird zum Skandalon, weil seine Entblößung zugleich die ›Verkörperung‹ engelhafter Körperlosigkeit und die ›Personifizierung‹ der Sünde darstellt. Diese Äquivozität der Nacktheit wird häufig hervorgehoben. Hagiographen berichten von der Verwirrung der Menge beim Anblick des Nackten, der dann auch als ein vom Teufel Besessener oder mit ihm Ringender gelten konnte. Wesjohann weist darauf hin, dass die Vorstellung des Ringens mit dem Teufel mit der Entblößung verbunden wurde und der Schamverlust als Indiz für Wahnsinn gesehen werden konnte (1999, 204). Der Verfasser der Vita prima des Franz von Assisi, Thomas von Celano, vermerkt: totus coram omnibus denudatur. An seiner Nacktheit habe aber niemand »Anstoß« genommen, vielmehr habe sie eine »erbauliche Wirkung auf die Menge« gehabt. Dagegen steht eine andere Stelle, die das Entsetzen beim Anblick seines ausgemergelten, durch Askese entstellten Körpers bekundet, die Laharie aus dem Bericht des Hagiographen Thomas von Celano zitiert. Die Menge war sogar empört und warf mit Schmutz und 30

Filofej, Žitie i dejanija Savvy Novogo (Vita und Agenda Sabbas des Jüngeren), (1915); zit.n. Pančenko, (1991, 108).

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

Steinen nach ihm. Auch hier ist das Nackte und Körperliche ambig. Wesjohann betont allerdings den Aspekt der »Erbauung«, der im »franziskanischen Religiosentum« im Vordergrund stehe. Die östlichen Narren in Christo dagegen sind auf Schockwirkung, Verstörung und Skandal aus. Nacktheit ist zugleich Verbergen und öffentliche Selbstbloßstellung. Nacktheit bedeutet das Sich-Lossagen vom natürlichen Körper und die Löschung der sozialen Kennzeichen, die der bekleidete Körper auf sich trägt. Nacktheit ist die Stärkung des incognito. Der bestimmbare Bekleidete verwandelt sich in einen unbestimmten Anderen, den Nackten. Die Entkleidung wird zur Verkleidung. Auch Fritz weist auf dieses Paradox hin: »Le dervé [est] à la fois nu et déguisé, dépouillé de tout et pur masqué«. (1992, 328) Doch ist es andererseits gerade der nackte Körper, der gewissermaßen auf sich selbst gestellte Körper, der Auskunft über seinen Träger erteilt, ihn als asketisch Lebenden, das Irdische Verachtenden ausstellt. Dem verachteten Körperlichen wird beim Anblick des Christusnarren eine Aufmerksamkeit nachgerade über Gebühr gezollt. Der Körper ist der Erdulder von Pein und Entbehrung, der Beweis gelebten Glaubensheldentums. Er genießt Verehrung. Die Paradoxie besteht darin, dass der Körper sich selbst zum Verschwinden bringen will, indem er zugleich das Instrument, das dies bewirken und der Demonstrationsort ist, an dem dies geschehen soll. Die östliche wie die westliche Nacktheit wird im übrigen gelegentlich durch ein Lendentuch oder ein spärliches Flickenhemd gemildert. (Das Flickenhemd hat seine Vorgeschichte im centunculus des antiken Mimen und findet im Harlekin-Kostüm eine Parallele). Die Ikonen stellen den Jurodivyj als abgemagerten, leicht nach vorn gebeugten, fast schon Körperlosen dar (hier scheint das Verschwinden am weitesten getrieben). Er ist nackt oder mit einem Lendentuch knapp verhüllt und trägt einen gekräuselten, verklärenden Bart. Er wirkt wie ein Fremder, Nicht-Mehr-Hiesiger, der seiner endgültigen Verwandlung entgegensieht. (Die Malbücher der Ikonenmaler enthalten die Rubrik ›nackt‹). Die Ikonenmalerei gibt dem ikonographischen Dekorum geschuldete Momente wieder – so dass die Handlungen der Anstößigkeit ausgeblendet bleiben, dafür aber die Nacktheits- oder Lendenschurz-Mimikry hervortreten kann. Ab dem 17. Jahrhundert erscheint der Jurodivyj zunehmend bekleidet (Abb.1-3). Diesen Ikonen wird betende Verehrung zuteil. Der fou auf den von Laharie gezeigten Illuminationen ist in einigen Fällen nackt und kahlköpfig, mit keulenartigem Wanderstab und Stein/Käse ausgerüstet, auf der Mehrzahl der angeführten Bilder aber mit einem Lumpenkleid angetan. Wegen der anderen Motivik lassen sich diese Darstellungen nicht zum Vergleich mit den ikonographischen heranziehen. Eher könnte man in der dem hl. Franziskus geltenden Ikonographie nach Vergleichspunkten suchen; auch wenn der pazzus nie in einer dem Jurodivyj analogen Pose dargestellt wird.

15.7

Theatralität

Der Jurodivyj bedarf des belebten urbanen Raums für sein »heiliges Spiel«. (Benz 1938, 1-55, Wodziński, 180-185) Seine Spektakel finden zumeist auf der Straße, aber auch in Kneipen, Kirchen, in Bojarenhäusern oder im Zarenpalast statt. Entscheidend sind seine Improvisation und das Mitspiel der Menge. Diese wird durch ›böswillige‹ Pro-

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vokation zu leidenschaftlichen aggressiven Handlungen hingerissen, die den Hauptdarsteller zum Verfolgten machen, der, so die Hagiographen, die diese Theatralik nicht ganz goutieren können, hernach für seine Verfolger (die er selbst zur Verfolgung angestachelt hat) um Vergebung betet. Man erfährt nicht, was genau in der spielerischen Zurschaustellung geschieht. Nichtchristliche Beobachter kommentieren nachgerade angewidert das zur Schau gestellte Leiden, ες εμφανες επασχον (Eunapii Vitae sophistarum, VI, 11, 6-7), die Abscheulichkeiten, die als heiligmäßig ausgegebene Verachtung des Heiligen, die tyrannische Macht des närrischen Protagonisten. Besonderes Ärgernis stellen offenbar die deutungsbedürftigen Verhaltensparadoxien dar. Dass das provokatorische, anstößige Agieren als Gegenritual zur höfischen und kirchlichen Theatralik, als Umkehrung der auf Schönheit, Harmonie und Feierlichkeit orientierten Zeremonialgeschehnisse (Prozessionen, Liturgie) begriffen werden kann, ist der eine Aspekt. Der andere hängt mit der Einschätzung des Theatralischen zusammen, die wie im Westen negativ ist und mit dem Teufel, dem Erz-Mimen, verbunden wird. Der Jurodivyj befindet sich in ständiger Streitbeziehung mit dämonischen Mächten, die er – sie nachäffend – zu bannen versucht. Dies ist einer der Rechtfertigungsgründe der Narren-Performance, die die Biographen und insbesondere die frömmigkeitsgeschichtlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts anführen, in denen ein apologetischer, Anstößiges beschwichtigender Ton angeschlagen wird. Zwar sind die Jurodivye – anders als die franziskanischen fous, die sich als ioculatores Domini bezeichnen – um eine Abgrenzung von den Gauklern bemüht, deren Bekehrung sie sich in einigen Fällen zur Aufgabe machen (ein weiterer Rechtfertigungsgrund, den die Viten hervorheben), doch werden sie in der öffentlichen Wahrnehmung gelegentlich abschätzig mit diesen in Verbindung gesehen. In der neue Akzente setzenden Darstellung Die Lachwelt des Alten Rußland von Dmitrij Lichačev und Aleksandr Pančenko wird dagegen das karnevaleske Moment, die Nähe der Jurodivye zu Gauklern und Spielleuten geradezu positiv hervorgehoben. Dass das Jurodstvo in bezug auf die Spielformen, das Protestverhalten und das Lachen (Verlachtwerden) provozierende öffentliche Auftreten als Äußerung eines die russische Kultur bestimmenden Prinzips gesehen werden kann, ist eine der Thesen des der Lachkultur gewidmeten Buches. Zu Schlüsselbegriffen der das »Lachprinzip« zu einer kulturellen Produktivkraft erklärenden Interpretation der beiden Autoren avancieren »Gegenwelt« oder »Anti-Welt« (anti-mir) und »Lacharbeit«. Die Anti-Welt ist eine umgestülpte Welt, eine Welt der Gegenorte und Gegenhandlungen, die den Sinn der bestehenden ›realen‹ Welt in Unsinn zu verkehren scheint. Mit Hilfe unterschiedlicher, gestischer und verbaler Lachstrategien wird der realen eine fiktive Welt gegenübergestellt, deren Formen durch Gegenformen entlarvt und deren Funktionen durch Gegenfunktionen aufgedeckt werden, wobei das erwartbare Normalverhalten durch Antiverhalten zur Absurdität geführt wird. Die fiktive Lachwelt trifft damit auch die sozialen und moralischen Defizite der bestehenden Welt. Die Lachwelt verfügt über ihre eigenen Institutionen und Agenten. Neben den Wortgauklern (balagury) und den Schreibern anonymer Vaterunser- und LiturgieParodien treten die regelrechten Gaukler, die Skomorochen (skomorochi), auf, bei denen zur sprachlichen die gestische und die schaustellerische Lacharbeit hinzukommt. Lichačev und Pančenko verhehlen nicht, dass in Formen der Wortgaukelei, des Gauk-

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

lertums, der Parodien, der Oxymora und bestimmter gestischer Lachrituale eine starke volkstümliche Tradition durchschlägt, die eine Reihe vorchristlicher Züge aufweist.31 Die sich daraus ergebende Problematik der Blasphemie ist eng verbunden mit der grundsätzlichen Ambivalenz des Lachens nicht nur innerhalb der Orthodoxie, sondern auch innerhalb der gegen- und außerinstitutionellen Rechtgläubigkeit. Das Lachen tritt nicht dem Weinen gegenüber, sondern eher der Domäne des Bestehenden und des Wirklichen. Das Konzept der Lachwelt weist Parallelen zu dem der Karnevalskultur von Michail Bachtin (1987) auf. Zwar ist die Karnevalskultur im Bachtinschen Verständnis eine Kultur des Ausstands, der zyklischen Wiederkehr des Exzesses und des Austritts aus der Kultur, d.h. eine transitorische Gegenkultur, die Lachwelt dagegen, wie sie von den beiden Autoren entworfen wird, eine alternative Welt ohne Diskontinuität, doch dürften die Momente des Fiktiven, des Verkehrenden und Umstülpenden in beiden Konzepten denselben Stellenwert haben. Für Pančenko und Lichačev ist das Christusnarrentum vornehmlich in diesem russischen Kontext zu situieren und in seinen Äußerungsformen zu verstehen (ohne dass damit die frühchristlich-ägyptischsyrische, hernach byzantinische Tradition als eine der Quellen zurückträte). Dieser den russischen Gesamtzusammenhang berücksichtigende Ansatz, der alle Formen des Protestes und der Umkehrung, d.h. der Gegenordnung und Gegenweltlichkeit, unter dem Gesichtspunkt des Lachprinzips zu fassen sucht, ermöglicht es auch, beispiellose Praktiken der Aneignung des Jurodstvo darzustellen: Formen pervertierten Rechts und einer sich daraus ergebenden Unrechtspraxis. Es geht um die Interpretation der Errichtung der opričnina, eines Staates im Staat, den Ivan IV., der Schreckliche (Ivan Groznyj, 1533-1584) als Umkehrung der staatlichen und kirchlichen Ordnung und der darin geltenden Gesetze entworfen und realisiert hat. Die Autoren versuchen, in dieser verdoppelnden Umstülpung des eigentlichen Staates Formen der Lachwelt auszumachen und dem darin errichteten Theater der Grausamkeit, der stilisierten Gegenordnung, des Rechtsbruchs und der unerhörten Transgression aller moralischen und religiösen Schranken einen kulturellen Sinn zuzuschreiben.32 Ivan Groznyj hat sich bei seinen Debauchen bestimmter Formen des Christusnarrentums bedient, wozu Selbsterniedrigung und Selbstbezichtigungen als stinkender Hund (kynisches Attribut) und verfluchter Sünder, Verkleidungen, Verhöhnung der bei Hofe eintreffenden Gesandten, die Einsetzung eines Unwürdigen (des Simeon Bekbulatovič) als Zar, das Verlassen des Palastes gehören. Es sind Formen, die christusnärrische Paradoxien imitieren und zugleich als nur geheuchelte ausgeben. (Dem Demutsspiel folgt sogleich extreme Grausamkeit.) Unter dem Pseudonym eines Christusnarren verfasst der Heuchler-Zar unterwürfige und zugleich höhnische Sendschreiben, die er mit »Parfenij Urodivyj« unterschreibt. Ein Jahrhundert später nimmt der Protopope Avvakum (1620-1681) – quasi eine Gegenfigur zu Ivan Groznyj – der nach dem Schisma (raskol) zum geistlichen Führer der Altgläubigen wird, christusnärrische Züge an. Avvakum, in theologische, ritusrelevante und Zermonialzwiste mit der Reformkirche verstrickt (vor allem im Streit um die 31 32

Hierzu auch Eva Thompson (1987), die der Spezifik dieser Tradition nachgeht. Schamma Schahadat (2004) hat diese Vorgänge am Hofe von Ivan Groznyj im Kontext ihrer Untersuchung des Phänomens der ›Lachgesellschaften‹ und dessen Geschichte interpretiert.

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Einführung der Neuübersetzung des Alten und Neuen Testaments), propagiert sich in rigoroser Bildungsverneinung als Unwissender und Tor33 und folgt in seinem die kirchliche Obrigkeit provozierenden gestischen und verbalen Gehabe den Vorgaben der Jurodivye. Nicht nur die christusnärrischen Formen der Selbstdemütigung und Selbsterniedrigung, die zum Verlachen durch die Menge auffordern, macht sich Avvakum zu eigen, sondern auch die spektakulären Formen des Protestes, die der Aufdeckung der aus seiner Sicht falschen, ja verfälschenden Formen des neuen Ritus gelten. Im für die kulturelle Entwicklung Russlands folgenreichen Schisma, in dem die Reformkirche und die Vertreter des alten Glaubens, die Altgläubigen, was Ritus und Auslegung der Schrift betrifft, diametral entgegengesetzte Positionen beziehen, entsteht in der abgespaltenen Kultur eine Art Lachwelt, die nicht mehr fiktiv ist, sondern mit ihrer funktionsfähigen Alltag und Ritus umfassenden Praxis eine Gegenrealität schafft. Aber Avvakum ist trotz der Protest-Narreteien und trotz seiner Ablehnung weltlicher Bildung und weltlichen Wissens kein echter Jurodivyj. Neben dem Spielmann, skomoroch, und dem Gaukler, balagur, gibt es im russischen Kontext den Narren, šut, der unfromme Narreteien aufführt und dem buffoon oder bouffon vergleichbare Funktionen am Fürsten- oder Zarenhof wahrnimmt. Zudem spielt in der russischen Volksliteratur die Figur Ivan der Dumme, Ivan duračok, – eine Art pikaresker Tor – eine überaus populäre Rolle. Die Nähe des Jurodivyj zu šut und duračok ergibt sich aus der gespielten Narretei.34 Diese wiederum wird – wie angedeutet – zuweilen mit Besessenheit, bešenstvo, einerseits oder mit wirklichem Schwachsinn, slaboumie, in Beziehung gesetzt. Da die Jurodivye als Besessenheitstherapeuten auftreten (ein dritter Rechtfertigungsgrund, auf den die Viten verweisen), funktioniert diese Unterstellung als Inversion. In dieser Szenerie von Gauklern, Spielleuten, unfrommen Narren, Besessenen, Toren und Usurpatoren gilt es, den Christusnarren in seiner Selbstheiligungs- und Vervollkommnungsleidenschaft zu sehen, deren rechte Einschätzung er durch seine Verstellungsmanöver erschwert.

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Verstellung

Die willentlich herbeigeführte Diskontinuität in Bezug auf die Entwicklung persönlicher Identität in einem gegebenen Umfeld, d.h. die Verleugnung der primären Identität, ihre Unkenntlichmachung führt durch die Annahme der Narrheit um Christi willen zu einer vollkommenen Transformation. Die Verstellung auf Dauer – der Narr kehrt nicht zurück – kommt einer Verwandlung gleich. Das Sich-vom-Verstand-Lossagen, die Verleugnung der angeborenen Geistesgaben, gilt als die schwerste Prüfung des Jurodivyj. Es ist klar, dass die Hagiographen die Narrheit als gespielte, als Maskierung, sehen. (In der Simeon-Vita heisst es: »Und da nahm

33 34

Die sancta simplicitas-Konzeption gilt weitgehend auch für Avvakum (Lachmann 1994, 21-50). Zu den unterschiedlichen Figuren des Narrentums, deren soziale Funktion und literarische Transposition vgl. die Interpretation von Harriet Murav, (1973, 245-273); Per-Arne Bodin, (1995, 35-46). Zur Gegenüberstellung von šutovstvo und jurodstvo Lena Szilard (1982, 80-107).

15. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis

er die Maske der Torheit an«.). Ernst Benz spricht vom Incognito des Heiligen, von der Selbstverbergung, um der Wirkung des Heiligmäßigen willen. Der pansophos, wie es in byzantinischen Quellen heißt, ist nur dem ›Vertrauten‹ (eine solche Figur tritt in einigen Viten auf, sie fungiert auch als Beichtiger) offenbar, der durch ein Schweigegebot gebunden ist. Erst nach dem Tod seines Glaubenshelden darf der Hagiograph dessen ›wahre Natur‹ (nämlich die des Heiligen, Weisen und tatsächlichen Asketen) enthüllen.35 Wenn die Menge (städtisches Publikum) einen Jurodivyj mit seinem paradoxen Gebaren akzeptiert, mit seinem Wirken unerklärliche Geschehnisse in Verbindung bringt und diese zu Wundern erklärt, wird seine Selbstverleugnung durch die Zuweisung der Identität ›Wundertäter‹ (čudotvorec) und ›Heiliger‹ (svjatoj) quasi zurückgewiesen. Um dem entgegenzuwirken, betreibt er eine zweite Verstellung: Die gewählte neue ›Identität‹ ist demnach gespalten in die simulierte närrische, provokative ›sündhafte‹ (zuweilen gefräßig, unkeusch, böse) und die ›echte‹ fromme. Die Topik der Entzweiung oder Spaltung ist für die Narrenviten typisch, sowohl die griechischen wie die russischen Hagiographen vermerken, »am Tage trieb er sich nichtstuend in der Stadt herum, nachts betete er an verborgenem Ort zu Gott, ohne Schlaf zu suchen«, oder: »nachts betete er ohne Unterlass, tags nahm er das jurodstvo wieder an« u.ä. – d.h. eine Tages-Extrovertiertheit wird von einer NachtIntrovertiertheit abgelöst. Mit sich allein ist der Jurodivyj kein Narr mehr, sondern der fromme Weise, der sich seiner Vervollkommnung widmet. An die Stelle der ›gelöschten‹ ursprünglichen Identität treten alternierend die Narrenidentität und die erstrebte Identität des ›Heiligen‹. Dazu bedarf es zweier Verstellungsstrategien: der Dissimulation und der Simulation. Während erstere darin besteht, vorzugeben etwas nicht zu sein, was man ist, bedeutet die zweite etwas vorzugeben, was man nicht ist. Während die Dissimulation etwas Reales verneint (verbirgt), ist die Simulation, »la folie simulée«, auf eine Symptomatik angewiesen, eben jene, die der Jurodivyj in den beschriebenen Formen entwickelt hat.36 Es sind eben die Symptome, die die Frage nach der ›Natur‹ der Narrheit hervorgerufen haben: handelt es sich um einen Christusnarren oder einen Geisteskranken, einen echten Christusnarren oder einen Pseudonarren. Die griechische Formel σαλός ὑποκρινόμενος διὰ Χριστόν legt nahe, eine Inversion der Hypokrisie anzunehmen, d.h. die Verkehrung genau jenes Aspekts, der zur Verurteilung der Hypokrisie als moralischer Verfehlung geführt hat.37 Es gibt allerdings eine nicht primär moralisch indizierte, mit der antiken Theaterpraxis verbundene Bedeutung von hypokrisis: ›Antwort im szenischen Dialog‹, woraus ›Spiel eines Mimen‹ abgeleitet wurde. Im Neuen Testament werden die Mimen der Tugend, die echten Heuchler, abgeurteilt, womit der Begriff seine ausschließlich negative Bedeutung erhält. Mt.23,13: »Wehe

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Dennoch wird in einigen Texten deutlich, dass der Jurodivyj sich als Erwählter Gottes wähnt. (Wodziński 2000, 66) Jean Baudrillard definiert die Simulation in Absetzung von der Dissimulation: »Il ne s’agit pas plus d’imitation, ni de redoublement ni même de parodie. Il s’agit d’une substitution au réel par son double opératoire« (1982, 11). Zur Begriffsgeschichte von Hypokrisie in Olivier Blanchard, 2000.

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aber euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler« (ὑποκριταί lat. hypcritae). Paulus radikalisiert dies in eine Verdammung (2 Kor.11,14), wobei er die Heuchler als Versteller (μετασχηματιςόμενοι, transfigurantes) bezeichnet, die es dem Satan, dem Erzversteller, gleichtun. Als pejorativer Begriff religiöser Erziehung hat Hypokrisie eine stabile Tradition. Der Dictionnaire de l’Académie Françoise (1694) hat folgenden Eintrag: »Piété feinte, probité feinte. L’hypocrisie est détestable devant Dieu et devant les hommes.«38 Doch lässt sich eine mondäne Entwicklung ausmachen, in der die Hypokrisie als Mode, als elaborierte Umgangsform erscheint, die als ehrenhafte Dissimulation in bestimmten Situationen gesellschaftliche Anerkennung genießt, ja als notwendig erachtet wird. Torquato Accetto hat in seinem Traktat ›Della dissimulazione onesta‹ von 1641 (Nigro 2000) für diese Umwertung eine umfängliche, lebensweltliche Argumentation entwickelt. Der byzantinische Begriff des salos hypokrimenos, der dem russischen des prikidyvatsja jurodom vorausgeht, lässt sich, wie angedeutet, als Inversion des neutestamentlichen fassen39 oder aber auf die theatralische Implikation zurückführen. Letzteres ließe sich durch Vergleich mit den in Westeuropa üblichen Bezeichnungen erhärten, die die Darstellung von gespielter Dementia und das Treiben des Christusnarren betreffen. Fingere, feindre, ist hier der Schlüsselbegriff mit den Konnotationen ›spielen‹, ›verstellen‹ und ›vorgeben‹. Jean-Marie Fritz hat hierfür etliche Beispiele angeführt.40 Für den Jurodovyj gilt das Paradox: Der Nicht-Heiligkeit Heuchelnde ist ein Hypokrit von Gottes Gnaden. Die Frage, wer er nun eigentlich sei, bleibt unbeantwortet. Der Jurodivyj Michail Klopskij antwortet auf die diesbezügliche Erkundigung des Fürsten Konstantin mit dem kryptischen Satz: »Gott weiß es«.41 Eine analoge Frage Marbods, des Bischofs von Rennes (1096-1123) wird von Fritz angeführt. Marbod richtet an Robert von Arbrissel einen brieflichen Tadel, weil jener sich wie ein lunaticus aufführe, barfüßig und in Lumpen gehe, »offrant assurément un spectacle neuf à ceux qui le regardent«.42 Da er das, was menschlich sei, nicht achte, wisse man nicht, was er sei. Fritz zitiert die

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Vgl. auch die von der Benediktiner-Regel verurteilten gyrovagues, die als hypocrites gelten. Viktor Živov geht eher von der Positivierung des salos-Begriffs im Milieu des frühen Mönchtums aus, als salos die Bedeutung der Geistesarmut und der psychischen Erkrankung verlor und als religiöser Terminus zunächst für die Anachoreten in Gebrauch kam (1996, 87) Vgl. das finxit in der von Fritz zitierten Stelle aus Saxo Grammaticus, Gesta Danorum (1150), die von der gespielten dementia der Königsmörder handelt: Amlethus [….] stoliditatis simulationem amplexus extremum mentis vitium finxit eoque calliditatis genere non solum ingenium texit, verum etiam salutem defendit. Amleth-Hamlet bedeutet skand. Idiot, amlodi. Grundlegend ist hier II Kor. 12, 2-4, die in eine Identitätsverleugnung gehüllte apophatische Erinnerung an eine Ekstase: »Ich kenne einen Menschen in Christus, der vor vierzehn Jahren – ob im Leibe, das weiß ich nicht, oder außer dem Leibe, das weiß ich nicht, Gott weiß es – bis zum dritten Himmel entrückt wurde. Und ich weiß, daß der betreffende Mensch – ob im Leibe, das weiß ich nicht, oder außer dem Leibe, daß weiß ich nicht, Gott weiß es – ins Paradies entrückt wurde und unsagbare Worte vernahm, die einem Menschen auszusprechen versagt sind.« Den Hinweis auf die Paulus-Stelle verdanke ich Peter von Moos. In dem nämlichen Mahnbrief des Bischofs ist auch die Beschreibung des Äußeren von Robert hervorzuheben, da sie eine perfekte Ekphrasis des Narren zeigt, wie sie auch für den Jurodivyj gelten könnte.

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entscheidende Frage des Bischofs: Ubi est homo? und folgert: »La folie est condamnée au nom d’un humanisme« (1992, 315). Im ostkirchlichen Jurodstvo handelt es sich in der Tat um die Verleugnung des ›Humanen‹, um die Mensch-Verleugnung des Jurodivyj, der sich in einen Un-Menschen verwandelt. Der Grund mag darin liegen, dass Selbst-Aufgabe, Selbsterniedrigung und Selbstvernichtung sich nicht nur aus der Passio-Mimesis ableiten lassen (wie Fritz sich auf Gorainoff berufend annimmt), sondern auch mit einem anderen, der ostkirchlichen Religiosität eher vertrauten Motiv verbunden sind, der Nachfolge (oder Wiederholung) der Kenosis. Dieser für die ostkirchliche Theologie zentrale Begriff bezieht sich auf den Philipper-Brief. In Phil. 2, 6-7 heißt es: »Er, der in Gottesgestalt war, erachtete das Gottgleichsein nicht als Beutestück; sondern er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward den Menschengleich: ὅς ἐν μορφῆ θεοῦ ὑπάρχων […]ἀλλά ἑαυτόν ἐκένωσεν μορφὴν δούλού λαβών, ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος; qui cum in forma Dei esse/[…] sed semet ipsum exinanivit, formam servi accipiens, in similitudinem hominum factus.43 In Analogie zu Christi Verleugnung seiner göttlichen Natur, verleugnet der Jurodivyj sein Menschsein: er wird Narr wie Christus Mensch wird. Mit anderen Worten: die Kenosis-Nachfolge verlangt nicht nur die Dissimulation der persönlichen Identität (Herkunft, Name, Aussehen, Verhalten), sondern auch die Dissimulation des (Normal-)Menschlichen. Die Analogie von Inkarnation und Narren-Metamorphose könnte Gegenstand einer Jurodstvo-Spekulation sein, die die christologischen Arcana berührt.44

15.9

Nachgeschichte und Wertungen

Die offiziell-kirchlichen und frömmigkeitsgeschichtlichen Darstellungen (2. Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts),45 die die Narren-Hagiographie, ohne historiographische Ziele zu verfolgen, ›modernisieren‹, beschwichtigen die Extravaganzen dieses Vervollkommnung anstrebenden, extrem abweichende Formen wählenden Lebenswandels und nehmen ihnen durch die einseitige Betonung der erbaulichen Funktion die provokative und andersweltliche Spitze. Der Jurodivyj wird hier vornehmlich als Wundertäter, čudotvorec, und als Glaubensheld, podvižnik apostrophiert. Selbstaussagen, die das Motiv für die Ver-Narrung aufdecken könnten, werden nicht angeführt. Die in die Lese-Menäen aufgenommen Vitenabschnitte, die liturgisch eingesetzt werden, haben Legendencharakter und verraten nichts von einer religiösen Kontemplation und erinnern in nichts an einen theologischen Traktat. Die rein erbauliche Funktion bestätigt die Schemata des Volksglaubens. Dabei sind Obrigkeitsaufmüpfigkeit und sittenwidriges Verhalten von den Legendenverwaltern zu legitimierende Punkte. (Ein

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κενóω – leeren, entleeren, entblößen, vernichten, entäußern; exinanio – ausleeren, entblößen. Zur theologischen Diskussion der Doppelnatur Christi in der frühchristlichen Theologie vgl. Reinhart Staats (1996). Vgl. insbesondere Ioann Kovalevskij, 1902 (Reprint 1991).

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Vergleich zwischen der in die Menäen aufgenommenen liturgisch relevanten Version mit den ›eigentlichen‹ Viten ist hier nicht vorgenommen worden.) In den frömmigkeitsgeschichtlichen Darstellungen wird das russische Christurnarrentum als aus einer frühchristlichen Tradition erwachsen hervorgehoben, die paulinischen Stellen werden aufgerufen und die griechischen Kirchenväter, vor allem Johannes Chrysostomos und Theodorit, als theologische Apologeten46 herangezogen, zugleich aber wird auf einer russischen Spezifik beharrt, ohne allerdings eine Nähe zu den Spielformen der ›Lachwelt‹ einzuräumen, wie sie erst die kulturgeschichtliche Darstellung von Lichačev und Pančenko suggeriert, und ohne einen analytischen Ansatz, wie ihn die hier herangezogenen Untersuchungen von Ivanov, Wodziński und Živov am Ende des 20.Jahrhunderts bekunden. Lebensweltlich ist das Jurodstvo in Russland nicht zur Gänze verschwunden, wozu auch Formen der Entspiritualisierung, d.h. ›Säkularisierung‹ zu rechnen sind, wie sie russische Performance-Künstler vorführen. So zum Beispiel der in den letzten Jahren bekannt-berüchtigt gewordene Moskauer Oleg Kulik, der nackt zusammen mit einem Hund, bzw. selbst als Hund auf allen Vieren mit Halsband und angekettet kriechend, Straßenproteste gegen die Kommerzialisierung der Kunst durchführt (und mit diesem Anliegen und in der genannten Pose 1995 vor dem Kunsthaus in Zürich, das den von den russischen Avantgarde-Malern hoch geschätzten georgischen Naiven Niko Pirosmani ausstellte, einen milde geahndeten Skandal verursachte).47 Nacktheit und Hund sind unübersehbar kynische Symbole – aus der Vita des Salos von Emesa bekannt –, zu denen jene der Provokationsgestik der klassischen Avantgarde, Dada eingeschlossen, als neueres Erbe hinzutreten. Als Säkularisierungsfälle, wenn auch ausschließlich literarisch überliefert, ließen sich auch die Handlungen der von der folie pour la Dame Heimgesuchten, Yvain und Tristan, bezeichnen. Während diese eine Art erotische Kontrafaktur der folie darstellen, laufen diejenigen des Moskauer Hunde-Narren auf eine Performance-Kontrafaktur hinaus, die an die Usurpationstradition erinnert, die Ivan der Schreckliche, freilich mit anderer Intention, begonnen hat.

15.10

Abgrenzungsversuch

Ein Vergleich okzidentaler und orientaler Christusnarretei ist aufgrund der unterschiedlichen Überlieferungswege und wegen der durch den kulturellen Kontext bedingten anderen Funktionen schwierig. Dass es Konvergenzen in der Selbstrepräsentation und den Askeseübungen gibt, steht außer Zweifel. Jedoch gilt die Ineinssetzung – in einigen Fällen zumindest – von folie pour Dieu und Mystik, wie sie insbesondere die Untersuchung von Muriel Laharie vornimmt, nicht für die russische Erscheinung. Da es in dem gegebenen Zusammenhang primär um die Frage der Identität geht, mag

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Die Berufung auf die Kirchenväter des 4. Jh.s führt an den Beginn der byzantinischen Entwicklung zurück und liefert für das Jurodstvo theologische Rechtfertigungen, die seit der trullischen Synode verdrängt worden waren. Den Hinweis auf entsprechende schweizerische Pressereaktionen verdanke ich Gesine DrewsSylla, die an einem Projekt über diesen performance-Typus arbeitet.

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der Versuch, mit den Spielbegriffen Roger Caillois’ (1958, 45f) die Verwandlungsmodi, d.h. ausschließlich die Repräsentationsformen des Andersseins, zu beleuchten, zu Nuancierungen beitragen. Die Metamorphose, zu der sich die Christus Nachfolgenden freiwillig entscheiden – wobei auch in einigen Fällen von göttlicher gnadenhafter Eingebung oder Konversion die Rede ist – verlangt den dauerhaften Verzicht auf die ›gewachsene‹ Identität und sie verlangt Formen der Camouflage, die das Verlangen nach Selbstverleugnung begleiten. Die von Caillois als alea bezeichnete Spielform meint das Zerspielen gesellschaftlicher Beziehungen und dürfte für die Fälle gelten, von denen einerseits die Viten der Jurodivye und andererseits die Vita des hl. Franziskus des Thomas von Celano und andere Viten der pazzi oder fous berichten: Ablegen des Vaternamens, Austritt aus der Gemeinschaft. Der agon-Begriff führt schon mitten in die Motivierungsgeschichten ein: der Kampf mit dem Dämon, dem Bösen, dem Satan als eines der erklärten Ziele asketischer Entsagung, gilt gleichermaßen für die okzidentale wie für die orientale Ausprägung, wobei für die erste ein Textkorpus überliefert ist, das Selbstaussagen der Christuskämpfer enthält. Der Kampf der Orientalen dagegen ist textlos und wird lediglich von den Hagiographen festgehalten. Es wird von Jurodivye berichtet, die bestimmte Orte mit Steinen bewerfen oder anspucken. Der Hagiograph interpretiert solches der Menge unverständliche Verhalten, da oft auch Kirchen zu solchen Orten gehören, als Abwehr Gefahr bringender teuflischer Kräfte. Für beide Traditionen gibt es Erzählungen von spektakulären Exorzismen, die der Christusnarr bei Besessenen, possédé(e)s, russisch besnovatye, durchführt. Die Austreibungen werden wie Kampfhandlungen beschrieben. Der Führer der russischen Altgläubigen Avvakum, von dessen Partizipation an Formen des Jurodstvo die Rede war, beschreibt in seiner Autobiographie (deren Abfassung ihn freilich von den Jurodivye unterscheidet) die von ihm vornehmlich an besessenen Frauen vorgenommenen exorzistischen Handlungen wie ein agonales Ritual, aus dem er stets als Sieger hervorgeht. Auch hier gilt es, die Zweideutigkeit zu sehen, die in der Beurteilung der mit den Dämonen umgehenden Außenseiter Tradition hat: die Fähigkeit als Teufelsaustreiber zu wirken, schließt den Verdacht, selbst ein Besessener zu sein, nicht aus.48 Umgekehrt gibt es in den Viten Erzählungen über die prophetischen Fähigkeiten gerade der Besessenen, aus denen der Dämon spricht. Mimikry ist die Spielform, die stärker als die anderen für die Verstellungsarten steht, die durch Verkleidung, bzw. Entkleidung oder das Anlegen ungewöhnlicher Kleidungsstücke und Accessoires zur Geltung kommen. Diese Spielform, die auch das theatralisch-karnevaleske Moment einschließt, ist für Franziskus und seine Nachfolger ebenso bekundet wie für die Jurodivye. Weil Mimikry auf das Demonstrative und Spektakuläre abhebt und damit den nach außen gekehrten, auf öffentliche Reaktion angewiesenen Aspekt der

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Dostoevskijs Die Dämonen – Besy – die französische Entsprechung des Titels lautet Les Possédés – lässt neben den vom Bösen Besessenen die ›närrischen‹ Figuren als deren Opfer auftreten. Marija Lebjadkina, zudem mit einem körperlichen Mangel behaftet, was an die Missgestalten erinnert, die sich die Fürstenhöfe zu halten pflegten, ist eine solche Opferfigur, die ihren Peiniger, den ›Dämon‹ Nikolaj Stavrogin, als Usurpator bezeichnet. Dies ist ein Begriff, der den Teufel, den Usurpator Gottes, meint.

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Christusimitatoren herausstellt, werden die Verhaltensformen und Erscheinungsweisen des Abweichenden, Schockierenden, das Normale Verstellenden in manchen Viten zum Hauptstück der Darstellung. In der Mimikry, die dem Ziel dient, ein ganz anderer, eine ganz andere49 zu werden, wird zugleich das Spiel mit dem Andersweltlichen erahnbar. Mit Ilinx, dieser eher privaten, jedenfalls öffentlichkeitsfernen Spielform des Rausches und des Außer-Sich-Seins, kann man einen wesentlicheren Unterschied fassen: Ekstasis ist ein von den westlichen Viten eindrücklich beschriebener momentaner oder einige Zeit anhaltender Zustand, in den der pazzus beseligt verfällt. Dieser Zustand ist Gegenstand von Selbstaussagen und von spekulativen Theorien, die Entrückungsfällen und mystischen Verzückungen gewidmet sind. Eine Koalition von seelischem Ausstand und Jurodstvo lässt sich nicht ausmachen, ebensowenig ist zu ermitteln, ob das simulierte Narrentum jene Züge des Ekstatischen aufweist, wie sie für den exemplarischen pazzus Franz von Assisi überliefert sind – eben weil es weder Ekstase-Theorien noch theologische Traktate, mystische Schriften oder christologisch-anthropologische Kontemplationen gibt, wie sie die mönchischen stulti in Deo des Westens entweder selbst verfasst haben oder für die sie Anlass und Gegenstand geworden sind.50 Die Jurodivye sind Schweiger und ihre Religiosität Verschweigende. Ihr Schweigen ist demonstrativ und verweist auf eine Spiritualität, die sich dem Aussagen verweigert. Das Schweigen der östlichen Selbstheilungs-Agenten (und -Patienten) über exzentrische, exorbitante Zustände und Erfahrungen des excessus oder raptus ist Teil der apophatischen Tradition und damit orthodoxer negativer Theologie. Das Schweigen ist womöglich selbst der Exzess, das Austreten aus der von der Sprache garantierten Ordnung oder das Aufsuchen einer sprachlichen Heterotopie. Michel de Certeau hat in »Le silence de l’absolu« auf das Schweigen der Namenlosen im ägyptischen Kloster des 4.Jahrhunderts hingewiesen – mit deren überlieferter Vita die Geschichte der saloi, der jurodivye und der fous pour le Christ anhebt. Die demütig ihre vom Abbas entdeckte Vervollkommnung Leugnende weist seine Worte, »segne mich« als Echo zurück. »Elle ne parle donc pas qu’en lui faisant l’écho, restant elle-même silencieuse dans les mots de lui qu’elle redit«. (1979, 531) Sie lässt Gott für sich sprechen 49

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Die anfangs erwähnte 1988 kanonisierte Petersburger Gottesnärrin, Xenia Peterburžskaja ist zugleich eine ihr Geschlecht Verleugnende; als Transvestitin (in den Kleidern ihres ohne die Sakramente gestorbenen Mannes) wurde die etwa 45 Jahre durch Petersburg Streifende unter dem Namen des Verstorbenen, Andrej Fedorovič, als Heilerin und Prophetin verehrt. Es ist erst die russische Prosaliteratur des 19. Jahrhunderts, die die Dimension des Spirituellen expliziert, bzw. zum anthropologischen und religionsphilosophischen Thema gemacht hat. Hier spielt zweifellos auch die Tradition der ukrainischen, mit Grigorij Skovoroda auch schriftlich gewordenen Barockmystik eine bedeutende Rolle (die, wie erwähnt, mit der Rezeption der Werke Jakob Böhmes zusammenhängt). Die literarischen, Narrenzüge tragenden Helden sind christomorphe Figuren, zeitweise entrückt und nicht von dieser Welt. Dostoevskijs diesbezügliche Gestalten – häufig nur psychologisch interpretiert – sind unterschiedliche Repräsentationen des Narrentums, die auch pathologische Elemente umdeutend einbeziehen (etwa die Epilepsien des Fürsten Myškin, ›des Idioten‹) und sowohl die falschen Christusnarren als auch den bösen, perversen Narren, den Vater Karamazov, hervorheben. – Die Forschungsliteratur zu Dostoevskij zeigt kontroverse Beurteilungen des Jurodstvo seiner Figuren (Murav 1992.) Eine Typologie der Narren-Figuren bei Dostoevskij schlägt Jostein Börtnes vor (1995, 18-34)

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wie jener russische Nachfolger, der die Frage nach seiner Identität als Echo retourniert, oder wie jener andere, der sie mit »Gott weiß es« beantwortet. Die überlieferte Narretei des ohne Unterlass »Kyrie eleison« Rufenden zeigt, dass dieser Christusnarr bis auf die beiden Worte verstummt ist. Auch das Lachen, die Anakoluthe, die Glossolalien, von denen berichtet wird, stehen für diesen Austritt aus der Sprache, für einen excessus lingualis, eine alienatio linguae.

Abb. 1: Die Christusnarren Vasilij von Mokau und Maksim von Moskau (Ikone 1920-1830er Jahre)

               

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Abb. 2: Vasilij von Moskau (Ikone 18. Jahrhundert)

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16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit) Ein dualistisches Motiv in altrussischen Texten

16.1

Einleitung

In einem Text, der seit einigen Jahren die besondere Aufmerksamkeit russischer Mythenforscher gefunden hat, der in Versform überlieferten Golubinaja kniga (Taubenbuch), ist das pravda-krivda-Moment Teil eines Welterklärungsmodells, das die Entstehung des Alls und der Menschheit zum Inhalt hat. Zu den im Text systematisch aufeinander folgenden Fragen und Antworten zu Kosmogonie und Anthropogonie tritt die Frage nach der Entstehung des Bösen in der Welt, und eben hier findet die dualistisch gestaltete Sequenz ihren Ort. Dieser erst im 18. Jahrhundert in Russland aufgezeichnete Text, dessen Spuren seit dem frühen Mittelalter dort nachweisbar sind, wird in vorchristliche Zeit datiert und als Bestandteil eines indoeuropäischen Urmythos interpretiert. Die Diskussion um das Alter des Mythos, seine Rolle bei den Slaven und seine ›Christianisierung‹ ist keineswegs abgeschlossen. Während einerseits die These vertreten wird, dass der Text in seiner paganen ›Gestalt‹ Glaubensvorstellungen des frühen russischen Christentums verdrängen und untergraben konnte (Serjakov 2001)1 , wird andererseits davon ausgegangen, dass der im Text ausgefaltete Mythos von einer christlichen, allerdings apokryphen Tradition überformt wurde. (Klibanov 1977). Die sich aus der pagan-christlichen Doppelsemantik ergebende ambivalente Symbolik der Golubinaja kniga lässt auf einen solchen Vorgang schließen. Der Universalismus des Entwurfs, der die Genesis alles Bestehenden in einer Reihung von Parallelismen zu umfassen versucht und hiermit in Konkurrenz mit dem biblischen Schöpfungsbericht treten konnte, betrifft auch die Frage nach der Entstehung des Bösen. Sie wird mit dem Bild des Kampfes zweier Urprinzipien beantwortet. Auch zu Alter und Herkunft des Kampfmotivs gibt es kontroverse Interpretationen. Gegen die Behauptung, dass ausschließlich die indoeuropäische Mythentradition das Motiv 1

M.L. Serjakov, dem es um die Rekonstruktion der Religion der slavischen Vorfahren geht, vertritt einen (erstaunlichen) Neo-Paganismus, was in der Bezeichnung »Svjaščennoe skazanie russkogo naroda« (Geheiligte Saga des russischen Volkes) im Untertitel der ansonsten mythenhistorisch und textanalytisch angelegten Untersuchung bereits angedeutet ist.

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generiert habe und damit sein rein paganer Charakter gegeben sei, steht die Annahme, dass manichäisch-bogomilische Einflüsse die Opposition pravda-krivda bestimmt haben, deren deutliche Spuren auch in anderen, bereits in christlicher Zeit entstandenen russischen Texten zu verfolgen sind. Elemente bogomilischen Glaubens sind seit dem 13. Jahrhundert in russischem Schrifttum nachweisbar.2 (Auch letztere haben vermutlich iranische Wurzeln, d.h. gehören in einen vorchristlichen indoeuropäischen Kontext, jedoch geht es bezüglich des russischen Schrifttums um die aktuelle Berührung mit bogomilischer Lehre. D.h. der vorchristliche Dualismus der Golubinaja kniga wird durch den bogomilischen verstärkt. Neben der Golubinaja kniga gibt es eine Reihe von anderen Texten, in denen die dualistische Formel eine wesentliche Rolle spielt. Die pravda-krivda-Texte, einschließlich der Golubinaja kniga, werden in der älteren Forschung zum Korpus apokrypher Texte gezählt, die zusammen mit der Übernahme des Christentums im ostslavischen und südslavischen Raum Verbreitung fanden und von paganer slavischer (russischer, serbischer und bulgarischer) Tradition mitgeprägt sind. Aus der Sicht der russischen Orthodoxie, für die die Pravda das Fundament des christlichen Russlands, des guten Zaren und der rechtgläubigen Lebensführung ist, trägt die pointiert dualistisch gefärbte Auslegung der Opposition pravda-krivda heterodoxe Züge. Die entsprechenden Texte wurden in die vom 14. bis ins 17. Jahrhundert in Russland erstellten Indices, die sog »Otrečennye knigi« (Verbotene Bücher), eingetragen. (Tichonravov 1898) Trotz Ausschluss- und gezielter Kanonisierungsverfahren bleibt die Grenze zwischen orthodoxen und heterodoxen Vorstellungen undeutlich gezogen. Der russische Begriff des dvoeverie, des Doppelglaubens, der zur »Selbstbeschreibung« dieses die russische Religions- und Kulturgeschichte prägenden Denkens eingeführt wurde3 und zunächst das Nebeneinander von Paganem und Christlichem meinte, lässt sich für das rivalisierende, oft antagonistische Nebeneinander rechtgläubiger Lehre und heterodoxer Positionen und für daraus hervorgehende hybride Bildungen heranziehen. Die Apokryphen-Tradition, die Volksbrauchtum und volkstümliche Theologie prägt, die häretischen, aus Manichäismus und Bogomilentum rührenden Elemente behaupten sich neben (und in) der Orthodoxie. Sie werden durch utopisch-eschatologische Konzepte verschärft, die sich in den Sektenbewegungen seit dem 15. Jahrhundert mit sozialkritischen verbinden und deren Radikalität in einigen Gruppierungen zu traditionsbildenden, von der Rechtgläubigkeit stark abweichenden Glaubensüberzeugungen und daraus resultierenden Praktiken geführt haben. Der pravda-krivda Dualismus, dessen semantisches ›Wirken‹ bis in die Ideologien der Sozialrevolutionäre des 19. Jahrhunderts und deren Nachfolger verfolgt werden kann, ist mithin in einer religiösen, von Paganismus-Christentum, Orthodoxie2

3

Aus Steven Runcimans Untersuchung Häresie und Christentum. Der Mittelalterliche Manichäismus (1947), geht hervor, dass der pravda-Begriff als positives Glied einer binären Formulierung, die auf ein zugrunde liegendes dualistisches Konzept schließen lässt, in eine Tradition häretischen Denkens gehört, die durch den Kontakt mit dem auf dem Balkan entstandenen und sich von dort ausbreitenden Bogomilentum, das seinerseits gnostische Elemente aufgenommen hat, für das mittelalterliche russische Schrifttum bedeutsam wurde. Zur Begriffsgeschichte von dvoeverie vgl. Etkind 1998, 40. – Zu einer Typologie von Orthodoxie und Heterodoxie vgl. Hansen-Löve, (1996, 171-294).

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Heterodoxie (Apokryphentradition, Sektenhäresie) geprägten Vorstellungswelt zu sehen. Emanuel Sarkisyanz weist in seiner den russischen Revolutionsmythos analysierenden Monographie Russland und der Messianismus des Orients auf die vorchristlichen Elemente in der Pravda hin und verfolgt ihre Tradition in der christlichen Apokryphik bis in die revolutionären Bewegungen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts und deren »Pervertierung« und »Verzerrung« im Bolschewismus. Die Interpretation historiosophischer, sozialrevolutionärer und früher kommunistischer Schriften lässt ihn zu dem Schluss gelangen, dass das Streben nach der Pravda im Sinne der altrussischen Tradition den konservativen und den revolutionären Kräften in Russland gemeinsam sei (Sarkisyanz 1955, 30). Im Folgenden wird es in der Hauptsache darum gehen, das Motiv anhand einiger Texte darzustellen und diejenigen Aspekte hervorzuheben, die für spätere religiöse und ideologische Konstruktionen traditionsbildend wurden. Neben den sozialkritischen und utopischen Auslegungen des Motivs ist auch den Konsequenzen nachzugehen, die sich aus seiner ›Anwendung‹ ergeben haben. Sowohl das Bestreben, die Pravda im Diesseits zu verwirklichen, wie das Wissen um ihre Unerreichbarkeit haben zu handlungsleitenden Überzeugungen geführt. Bei dem Versuch, der Darstellung dieser binären, mythisch begründeten Gedankenfigur, die sich aus einer Topik, einer festen Argumentationsstruktur, sich wiederholenden narrativen Strukturen und Bildkomplexen rekonstruieren lässt, eine akzeptable Stringenz zu geben, trifft man auf Auslegungsformen, in denen neben Sozialkritik und Utopismus radikale Weltverneinungsideen auftauchen und die ursprüngliche semantische Gestalt zu überlagern scheinen. Dies zeigt sich vor allem bei einer spezifischen Auslegung des Zwei-Prinzipien-Kampfes, der eine ostkirchlich geprägte Vorstellung zugrunde liegt. Letztere versteht den Pravda-Krivda-Dualismus als Kampf zwischen Seele und Leib, Geist und Materie, als einen Dualismus, der einzig durch Verklärung (Spiritualisierung) überwunden werden kann.

16.2

Das dualistische Motiv

Die Golubinaja kniga, von der der Versuch einer Darstellung des Motivs hier ausgehen soll, setzt mit einer Charakterisierung des Buches ein. Die gewaltigen Ausmaße, die blendende Schönheit und prächtige Ausstattung machen die Einzigartigkeit dieses vom Himmel gefallenen Buches aus. Es hat (in den christlichen Varianten) den Propheten Jesaja oder Christus selbst zum Autor und Johannes den Evangelisten oder Jesaja zum Leser. Letzteren ist es in drei Jahren nicht gelungen, mehr als drei Seiten daraus zu lesen. Dieses geheime, verborgene Buch, das das Wissen über den Kosmos und seine Gesetze enthält, ist letztlich unlesbar, bleibt entzogen und entrückt. Es öffnet sich von selbst, blättert seine Seiten um und liest sich selbst, vollführt eine Art Autolexis. Und niemand vermag dieses Buch zu lesen, Und dieses Buch schlug sich von selbst auf,

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Und die Seiten boten sich von selbst dar, Und die Worte lasen sich von selbst.4 Auf die im Schöpfungsbericht aneinandergereihten, einem strengen Parallelismus folgenden Entstehungsfragen werden zweierlei Antworten erteilt: die kosmischen Erscheinungen sind aus Elementen der Gottheit entstanden (Die rote Sonne von Gottes Antlitz/Der junge helle Mond von Gottes Brust etc), die irdischen Erscheinungen, Natur und weltliche Einrichtungen betreffend, werden jeweils aus einer »Mutter« ›hergeleitet‹, die weniger den Ur-Ursprung symbolisiert, als die Funktion einer Stammmutter hat. (Welcher Baum ist aller Bäume Mutter/Welches Tier ist aller Tiere Mutter/Welche Stadt ist aller Städte Mutter/Welche Kirche ist aller Kirchen Mutter etc). Nach der Behandlung der kosmischen und irdischen Erscheinungen und ihrer Ordnung wendet sich die Golubinaja kniga der großen Frage nach der Entstehung des Bösen in der Welt zu, die sie in allen bekannten Varianten mit der ›Erzählung‹ vom Kampf zwischen Pravda und Krivda beantwortet, die als Traum und dessen Deutung gestaltet ist: Испроговорил ему Волотоман царь: »Ты премудрый царь, Давыд Осиевичь! Ты еще, сударь, да мне про то скажи, Царю сон поразсуди. Кабы мне царю да Волотоману Мало снилось, грозно виделось: Кабы далече было во цистом поли Два заящька вместо сходилися, Один беленькой, да другой серенькой, Промежу собой оны подиралися: Кабы белый сераго преодолел, Кабы бел пошел с земли на небо, А сер пошел да по чисту полю. Ужь ты можешь ли проповедати?« Und es sprach zu ihm der Zar Volotoman: Du weiser Zar, David Osievič, Du, Herr, sag mir folgendes,

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Vgl. das Zitat in der Monographie von Andrej Sinjawski, (1990, 257ff.) Dem »Taubenbuch« hat Sinjawski ein ganzes Kapitel gewidmet und dessen Rolle in der Geschichte der russischen Sekten bis ins 20. Jahrhundert dargestellt. – Wenn Übersetzungen vorliegen, greife ich darauf zurück. Ansonsten halte ich mich an den Wortlaut der Quellen und füge eine Übersetzung bei. Die Quellen zitiere ich nach Serjakov und Klibanov, die ihrerseits die Quelleneditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts heranziehen (N.S. Tichonravov, Pamjatniki otrečennoj russkoj literatury, t. 2, Moskva 1863, (Denkmäler der verbotenen russischen Literatur), A.I. Jacimirskij, Apokrify i legendy, Band 1, Petrograd 1915, (Apokryphe und Legenden); I.J. Porfir’ev, Apokrifičeskie skazanija o novozavetnych licach i sobytijach, Kazan‹ 1872, (Apokryphe Erzählungen über neutestamentliche Personen und Ereignisse); P. Bezsonov, Kaleki perechožie, Moskva 1861, (Pilger); I.M. Kireevskij, Russkie narodnye pesni, Moskva 1848, (Russische Volkslieder)

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Deute mir, dem Zaren, den Traum, Denn ich, Zar Volotoman, Träumte ein wenig, erblickte Seltsames: Als ob weit weg auf dem reinen (leeren) Feld Zwei Häschen aufeinander trafen, Das eine weiß, das andere grau, Sie kämpften miteinander: Es schien, als besiege das weiße das graue, Es schien, als steige es von der Erde zum Himmel hinauf, Und als gehe das graue auf dem leeren Feld herum. Kannst du mir das deuten? Die Deutung Davids lautet: В Голубиной Книге есть написано: Не два заюшка вместо сходилося, Сходилася Правда со Кривдою; Кой гди бел заяц, тут Правда была, Кой гди сер заяц, тут Кривда была. Кабы Правда Кривду преодолела: (Serjakov 291-292, Bezsonov 1861)   In der Golubinaja kniga steht geschrieben: Nicht zwei Hasen trafen aufeinander, Es traf die Pravda mit der Krivda zusammen, Der weiße Hase, das war die Pravda, Der graue Hase, das war die Krivda Es schien, als besiege die Pravda die Krivda. (In einigen Varianten besiegt die Krivda die Pravda) … In einer Variante wird das Wirken der Krivda auf der Erde konkretisiert: Правда пошла на небеса, К самому Христу, Царю Небесному; А кривда пошла у нас вся по всей земле, По всей земле по свет-Руской, По всему народу христианскому. От кривды земля восколебалася. От того народ весь возмущается; От кривды стал народ неправильный, Неправильный стал, злопамятный: Они друг друга обмануть хотят; Друг друга поесть хотят. (Serjakov 292-293, Bezsonov 1861)   Pravda ging in die Himmel, Zu Christus selbst, zum himmlischen Zaren,

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Und Krivda blieb bei uns auf der ganzen Erde, Ging übers Land, über das lichte russische Land5 Sie kam über das ganze christliche Volk. Von der Krivda geriet die Erde ins Wanken, Von daher gibt es Aufruhr im Volk, Wegen der Krivda wurde das Volk ungerecht, Ungerecht wurde es und rachsüchtig. Sie wollen einander betrügen, Einander auffressen wollen sie. In den historischen Varianten des Textes kommen unterschiedliche Grade der Verchristlichung zum Ausdruck, was insbesondere durch die Änderung der ursprünglichen Namen manifest wird, aber auch von der Bezeichnung des Buches selbst in gewisser Weise erleichtert wird. In golubinaja6 , einem das Buch, kniga, charakterisierenden Adjektiv, steckt golub’, Taube, was ursprünglich in einen mythologischen Kontext gehört, in dem die Taube eine negative Konnotation (Verderben, Tod) hat (Serjakov 16-20), im christlichen Imaginarium jedoch mit der Taube als Sinnbild des Heiligen Geistes verbunden wird. Die Deutung des Traums eines Zaren Volotoman (in späterer verchristlichter Form Fürst Vladimir, vermutlich jener Kiever Fürst, der Russland christianisieren ließ) durch einen Dichter-Sänger, der hier – Biblisches assoziierend – als Zar David bezeichnet wird (ursprünglich der pagane Gusljar, ein Saitenspieler), setzt mit einem negativen Parallelismus ein (ein für slavische Volksdichtung typisches Verfahren), um das allegorische Bild der kämpfenden Tiere zu übersetzen. Das semantische Feld der Begriffe pravda und krivda lässt sich nur ungefähr umreißen. Serjakov, dem Paganen auf der Spur, verweist auf eine »indoeuropäische Vorstellung«, der zufolge mir, die Welt, auf der pravda gründe, auf einer pravda, die sich durch Vertrag mit den jeweils benachbarten gesellschaftlichen Gruppen äußere. Mir, »Welt«, und in zweiter Bedeutung »Frieden«, hänge mit dem iranischen Gott Mitra etymologisch zusammen, dessen Name Vertrag und Übereinstimmung bedeute, während seine Gestalt die göttliche Personifizierung darstelle. Das Wort pravda ist slavischen Ursprungs und lässt etymologisch die Verbindung mit dem altrussischen Gott Perun zu, der als Gesetzgeber und Gesetzeshüter gilt. Darüber hinaus nimmt Serjakov einen etymologischen Zusammenhang mit dem Gott Prov, Prav, der Westslaven (genauer Polaben) an, in deren Gebiet er die Entstehung der »Golubinaja kniga« vermutet. Vorchristlich könne generell für das slavische Weltbild das Wirken binärer Oppositionen vom Typ: prav ne prav (richtig nicht-richtig), prav lev (rechts links), prav kriv (richtig falsch) und eben pravda krivda angenommen werden. Auch krivda ist slavischer Provenienz. Zur Etymologie von pravda lässt sich die Untersuchung der kultursemiotisch orientierten Sprachwissenschaftler V.V. Ivanov, V.N. 5 6

In einer Variante heißt es »über das heilig-russische Land«. (Mit dem Attribut »heilig« wird die Ausnahmestellung des Russischen apostrophiert). Eine Variante der Buchbezeichnung lautet (phonetisch verwandt) »Glubinnaja«, was tief, tiefsinnig bedeutet. – Während die russischen Textausschnitte kyrillisch zitiert werden, wird bei etymologischen Fragen, um die Lautung zu verdeutlichen, die Umschrift benutzt.

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Toporov (1980, 236) heranziehen, die folgende These enthält: in pravda, prav könne das Wurzelelement pra isoliert werden, das mit indoeuropäisch per*/por* mit der Bedeutung Grenze, Ziel, Schranke und Schicksal verbindbar sei. pravda, prav könne in der Bedeutung Stütze, Unterstützung, Abstützung verstanden werden.7 Das Substantiv pravda ist in elf altslavischen Handschriften etwa zweihundert Mal in der Bedeutung spravedlivost’, Gerechtigkeit, dem geraden Weg gerecht werden belegt.8 In der semantischen Entwicklung der russischen Sprache taucht prav in einer Reihe von Begriffen auf, die ein größeres semantisches Feld abstecken: Gerechtigkeit (spravedlivost’), Recht (pravo), Wahrheit (pravda), Wahrhaftigkeit (pravdivost’), Richtigkeit (pravil’nost’, pravota), Rechtfertigung (opravdanie), Regel (pravilo), Richtung (napravlenie), Regierung (pravitel’stvo), Rechtgläubigkeit (pravoslavie als Lehnübersetzung von orthodoxia) u.a. Die zweiten Glieder der Opposition, neprav, lev, kriv bedeuten Abweichung von Ordnung, Norm, Regel und Gesetz, das Schiefe und Unebene. In allen slavischen Sprachen sind Konnotationen wie das Böse, Ungerechtigkeit, Schuld für Wörter mit kriv belegt. Der mathematische Begriff Ungerade lautet russisch krivaja. Der Kampf der beiden Kräfte endet sowohl in der »Golubinaja kniga« wie in allen in christlicher Zeit entstandenen Texten mit dem Rückzug der Pravda aus dem Irdischen ins Himmlische und der Machtübernahme der Krivda, die die Erde9 mit Unrecht überzieht. Die Ambivalenz des in zweifacher Farbgebung auftretenden Hasen, der die konträren Prinzipien repräsentiert, hat, wie kaum anders zu vermuten, volksmythologische Begründung. Der graue Hase ist mit der Geisterwelt und dem Teuflischen verbunden (wozu die Folklore viele Beispiele liefert: Die Ukrainer glauben, dass der Hase vom Teufel geschaffen wurde und in dessen Diensten stehe. In einem bulgarischen Märchen reitet der Teufel auf einem Hasen, bei den Serben bringt er dem Jäger Unglück. Auch die Seele eines Verstorbenen kann die Gestalt eines Hasen annehmen. Ein Hase in der Nähe eines Hauses zeigt Tod und Feuer an.) Daher formuliert der russische Altertumsforscher N.F. Sumcov: »Also verbirgt sich im Volksglauben hinter dem Hasen der Teufel; der Hase dient als zoomorphes Bild des Teufels« (1891, 73). Die schiefstehenden Augen des Hasen (er wird auch »kosoj«, der Schiefe, genannt) sowie seine ungeradlinige Fortbewegung mögen dazu beigetragen haben, ihn als Verkörperung der krivda zu imaginieren. Dagegen steht die Auffassung, die im Hasen den Teufelsvertreiber, čertogon, sieht. (Auf altrussischen Amuletten des 11. und 12. Jahrhunderts erscheint er als Beschützer seines Trägers vor dem Unreinen, d.h.

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In altslavischen Handschriften sind dreiundvierzig Wörter mit der Wurzel prav belegt. Vgl. R.M. Cejtlin, »O značenii staroslavjanskich slov s kornem -prav.« (Über die Bedeutung altslavischer Wörter mit der Wurzel -prav), in: Etimologija 1978, Moskau 1980, 62, 64. An keiner Stelle der etymologischen Vorschläge wird die Konnotation Wahrheit erwähnt, die im heutigen Russisch neben Gerechtigkeit den Bedeutungsumfang von pravda ausmacht. (Die Kritik am Titel der Tageszeitung Pravda bezieht sich immer auf die Pervertierung von ›Gerechtigkeit‹ und ›Wahrheit‹.) In einigen Varianten wird die Erde mit dem Attribut »feucht« versehen, »feuchte Erde« repräsentiert im Volksmythos das mütterliche Prinzip.

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dem Teufel).10 In der Farbopposition steckt diejenige zwischen weiß in der Bedeutung licht, hell, himmlisch und grau in der Bedeutung irdisch. Nun ist an der Christianisierung, bzw. christlichen Überformung des Kampfbildes nicht zu zweifeln, zumal der Begriff der Pravda zu einem Leitbegriff in der Herausbildung der russischen Herrschaftsideologie wird. In slavischer Vorstellungswelt ist die irdische Pravda mit der himmlischen, göttlichen Pravda unzertrennbar verbunden und wird als deren Verlängerung (und Spiegelung) auf Erden verstanden. Mit der »Russkaja Pravda« des Kiever Großfürsten Jaroslav des Weisen wird in Russland die Grundlage einer Rechtsordnung geschaffen. (Stökl 1962, 78) Der Begriff der Pravda als eine göttliche Ordnung repräsentierenden autoritativen Größe geht aus etlichen Texten hervor.11 Auch für die Geltung der dualistischen Formel gibt es Belege im 11. Jahrhundert. So lobt der Chronist Nestor den Sohn des Jaroslav Mudryj, Izjaslav, wegen seiner Liebe zur Pravda und seines Hasses auf die Krivda. Die Pravda-Idee verfestigt sich in unterschiedlichen mündlichen (Lied, Märchen) und schriftlichen (Slovo) Genres, wobei das apokryph-heterodoxe Moment im Vordergrund steht. Das dualistische Motiv erscheint stets in derselben semantischen Funktion, Symbolik, Repräsentation der Allegorie (z.B. als Rätsel) und Lexik der Kampfbeschreibung variieren jedoch. Eines der ältesten und verbreitetsten Denkmäler der altrussischen Literatur aus christlicher Zeit ist die »Beseda trech svjatitelej« (Gespräch der drei Heiligen). Dieser Text, der im 11. Jahrhundert aus dem Griechischen übersetzt, in das russische Schrifttum aufgenommen wird und in Handschriften bis ins 17. Jahrhundert verfolgt werden kann, weist seit dem 13. Jahrhundert bogomilische Elemente auf, die den bereits vorhandenen Dualismus verstärken. (Močul’skij 1887, 223)12 Die »Beseda« erscheint als volkstümliches Äquivalent der Bibel, eine Funktion, die mit Erscheinen gedruckter Bibeltexte verschwindet, wenngleich eine Konkurrenz mit dem biblischen Text erhalten bleibt. In der »Beseda« wird das dualistische Motiv im Genre des Volksrätsels formuliert; statt der farbungleichen erdgebundenen Kampfhasen treten Vögel auf. Während die Pravda ohne weitere Bestimmung bleibt, wird die Krivda mit der Lüge verbunden. Что есть стоит белый щит, а на нем сидит сокол и прилетела сова и отогнала сокола? Белый щит – свет сей, а на нем сидит сокол, т.е. правда, а прилетела злая сова, т.е. кривда, и отогнала правду, а лжа-кривда осталась. (Klibanov 12)

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Serjakov, 307, weist darauf hin, dass der Hasenzweikampf auch in anderen Texten eine Rolle spielt: z.B. in der »Skazka o Koščeevoj smerti« (Märchen über den Tod des Koscej). Hier symbolisiert der Hase das All und wird zerrissen. In indoeuropäischen Mythen wird der Urgott zerrissen, wonach der Kosmos entsteht. (In der litauischen Mythologie steht der Hasengott in einer Gruppe mit dem Himmelsgott und dem göttlichem Schmied). Auch in Rechtsverordnungen und Verträgen wird die göttliche Pravda der irdischen vorgeordnet. (Beispiele bei Serjakov, 235). Serjakov verneint, wie bereits angedeutet, die Bedeutung dieses mittelalterlichen Dualismus. Dass der manichäische und bogomilische Dualismus auf eine ebenfalls vorchristliche, außerchristliche Quelle zurückgeführt werden kann, wird von ihm nicht diskutiert.

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Was bedeutet, da steht ein weißer Schild, darauf sitzt ein Falke und es kommt die Eule angeflogen und vertreibt den Falken? – Der weiße Schild, das ist diese Welt, darauf sitzt der Falke, das ist die Pravda, es kommt die böse Eule angeflogen, das ist die Krivda, und sie hat die Pravda vertrieben, und die Lüge-Krivda ist geblieben.

16.3

Sozialkritische Auslegung der Pravda-Krivda

A. I. Klibanov, der in sowjetischer Zeit die Pravda-Krivda-Quellen neu interpretiert, wobei er sich auf Textsammlungen von Historikern und Volkskundlern bezieht, geht es um das »fortschrittliche«, »antifeudale« »vorreformatorische« Potenzial der Apokryphen (mit ihren häretischen Elementen). Die Opposition Kultur der »herrschenden Klasse« versus Volkskultur ist für seine Argumentation leitend. Er unterscheidet in letzterer eine bis in die Neuzeit zu verfolgende Schicht, aus der sich das »Proletariat« entwickelt hat, und die Kultur des patriarchalisch geprägten Bauerntums. In der Pravda als »antifeudalistischer Idee« sieht er das Verbindungsglied zwischen den beiden ›Volkskultur‹-Gruppen. (Trotz des ideologischen Zwangs, denen Arbeiten dieser Art unterworfen waren, lässt sich im Falle Klibanovs – mit Ausnahme der gelegentlich angepassten Terminologie – keine Verengung des Blickfeldes sehen. Die Sozialkritik der von ihm angeführten Texte ist unüberlesbar.) Klibanov zieht eine Reihe von apokryphen Texten, deren weiteste Verbreitung vom 15. – 17. Jahrhundert belegt ist, heran, in denen der religiös-ethische Aspekt immer auch einen sozialkritischen impliziert. Letzterer tritt besonders bei den Laster-Katalogen zutage. In der Apokryphe »Slovo o Adame i Eve« (Rede über Adam und Eva) bittet der nach seiner Vertreibung landlos gewordene Adam Gott um Land und erhält den »siebten Teil« des Paradieses zur Bebauung. (Deshalb gilt das Paradies als irdisch und wird am Zusammenstoß von Erde und Himmel vermutet.) Der Teufel aber macht ihm das Land streitig. Adam muss sich schriftlich dem Teufel verschreiben, um die Erde bearbeiten zu können. Das Motiv legt eine sozialkritische Auslegung nahe: der Mensch wird durch den Menschen – in Gestalt des Teufels – versklavt.13 . In einer anderen Apokryphe, »Prenie gospodne s djavolom« (Gespräch des Herrn mit dem Teufel), fragen Christus und Teufel einander nach ihrem angestammten Ort und Wirkungsbereich: Christus, der vom Himmel komme, solle dorthin zurückkehren, denn sein seien die Himmel, des Teufels aber die Erde. Der Teufel droht Christus, dieser dem Teufel und zählt dessen Untaten auf: То суть дела твоя – разбой и татьба, завесть, блуд, ревность, огнь, тма, трус, ненависть, волхование, братоненавидение, убийство, непокорство, ослушание, немилосердие, пьянство, объядение, плескание, гордость. (Klibanov, 17)  

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Klibanov 1977, 55 verweist darauf, dass der Text von Grjaznov, dem Autor von Manifesten und Führer des Bauernkrieges von 1773-1755, genutzt wurde.

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Das sind deine Taten: Räuberei und Diebstahl, Neid, Unzucht, Eifersucht, Feuer, Finsternis, Feigheit, Hass, Zauberei, Bruderhass, Totschlag, Aufmüpfigkeit, Widersetzlichkeit, Unbarmherzigkeit, Trunksucht, Fresssucht, Prahlerei, Hochmut. Dieser die Krivda definierende Katalog zählt nicht nur die »klassischen« vitia auf, sondern darüber hinaus die vom Teufel angestachelten Untaten und von ihm verursachten negativen Zustände. Der Dialog zeigt letztlich Christus, nachdem er mit dem Teufel auf gleicher Ebene argumentiert hat, zwar als Sieger, doch gilt der Text wegen der zu weit gehenden Gleichgewichtigkeit der Dialogpartner als nicht rechtgläubig.14 In einem Text des 15. Jahrhunderts, »Slovo o pravde i nepravde« (Rede über die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit), in der der Begriff Krivda durch Nepravda, die Verneinung der Pravda, ersetzt ist, hat Gott von allem Anfang an die Pravda im Menschen geschaffen. Der anonyme Autor wendet sich an seine Zeitgenossen: Перъвое сътворена бысть правда богом в человецех (Als erstes wurde die Pravda von Gott in den Menschen geschaffen). Разумей, человеческы роде убогый, како побежден еси неправдою /…/О несмысленый роде человеческы, яко своим неверством не боишися греха, а не уповаеши правдою. (Klibanov 28)   Begreife, du armes Menschengeschlecht, wie sehr du von der Nepravda-Nichtgerechtigkeit besiegt bist, /…/O du gedankenloses Menschengeschlecht, dass du dich mit deiner Ungläubigkeit nicht vor der Sünde fürchtest und nicht auf die Pravda hoffst. In einer anderen der »Beseda« funktionsgleichen Quelle, der »Paleja Tolkovaja«, die vom 13. – 17. Jahrhundert populär war und in der frühen Forschung als östliches Pendant der Biblia pauperum angesehen wird, (Tichonravov 160) tritt zum Begriff der Pravda, die göttlichen Ursprungs ist, derjenige der Istina, Wahrheit, als deren irdischer Einkleidung und zeitweiser Vertretung: И истина бо, рече, от земля восиа, а правда с небесе принице. (Und die Istina, so heißt es, strahlt von der Erde empor, und die Pravda neigt sich vom Himmel herab). In der »Pritča o istine« (der Erzählung über die Istina) ist das irdische Wirken der Istina durch die Lüge bedroht: Аз есмь истинна. И рече еи человек: Которыа ради вины оставляеши град и в пустыни живеши? Она же рече: В перваа лета в малых бе лжа, ныне же во всех человецах. – Яко злое житие лукавое будет человеком, егда лжа лучши истинны будет. (Klibanov 29)

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Im »Prenie« erscheint Christus, in ostkirchlicher Tradition der »zweite Adam«, als der Vertraute des ersten Adam, der ihn mit »mein Christus« anredet. In der Apokryphe »Kak Christos plugom oral« (Wie Christus mit dem Pflug ackerte) wird die Nähe Christi zum das Land beackernden Adam, d.h. dem arbeitenden Menschen, gepriesen. Die Idee einer »Verbrüderung« mit Christus steht hier und in anderen Texten im Vordergrund.

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Ich bin die Istina. Da sagt der Mensch zu ihr: Warum hast du die Stadt verlassen und lebst in der Wüste? Sie antwortet: In den ersten Jahren gab es wenig Lüge, nun aber ist sie in allen Menschen. Zur Opposition Pravda-Nepravda, oder terminologisch schärfer gefasst Pravda-Krivda, tritt die Opposition Istina-Lož (Lüge). Pravda Nepravda erscheint wie eine logische Opposition, wobei das zweite Glied das erste symmetrisch negiert. Pravda Krivda hat, wie bereits angedeutet, einen weiteren semantischen Bereich, weil hierbei auch richtig und falsch, gerade und schief, eben und uneben eine Ordnungsvorstellung nahe legen; Istina überschneidet sich mit Pravda in deren zweiter Bedeutung ›Wahrheit‹. Die Wahrheit der Istina bezieht sich auf das Bestehende, Wirkliche und Diesseitige. Während die Pravda in den Himmel aufgeflogen ist, bleibt die Istina im Kampf mit der Lož, der Lüge, Verleumdung, Falschheit auf Erden zurück. Der anonyme Autor des »Slovo o pravde i nepravde« beschreibt den Antagonismus der Prinzipien mit einer Aufzählung von Antithesen, in denen wiederum ein Laster-, bzw. Tugend-Katalog deutlich wird: Въста бо на девсто блуд и погуби девсто, въста на чистоту скверна, лютость на кротость, въста гнев на тихость, на любовь ненависть, въста несытость на пост и пианьство на трезвость, въста скупость на щедрость, немилоцердие на милость, въста безаконие на сохранение закона и ина вся въсташа неправедная на праведная делеса (Klibanov 28)   Gegen die Jungfräulichkeit erhebt sich die Unzucht und stürzt die Jungfräulichkeit ins Verderben gegen die Reinheit erhebt sich das Schmutzige, die Grausamkeit erhebt sich gegen die Milde, die Wut gegen Ruhe, der Haß gegen die Liebe, die Gefräßigkeit gegen das Fasten, die Trunksucht gegen die Nüchternheit, der Geiz gegen die Freigebigkeit, gegen die Barmherzigkeit erhebt sich die Hartherzigkeit, die Gesetzlosigkeit gegen die Wahrung des Gesetzes und alle anderen unrechten Taten erheben sich gegen die rechtmäßigen. Der Verfasser wendet sich im besonderen an diejenigen, die im Besitz sind von богатство, слава, власть, честь, пища, питие, одежда, раби, села, виногради и добрии храми (Reichtum, Ruhm, Macht, Ehre, Nahrung, Trank, Kleidung, Sklaven, Dörfer, Weingärten und gute Häuser). Die jeweiligen Tugend- und Lasterkataloge oder besser Kataloge, in denen gute bzw. schlechte Handlungen und Zustände wie Auslegungen der Pravda-Krivda gelesen werden können, lassen Rückschlüsse auf das jeweilige semantische Feld zu; Besitz und Besitzlosigkeit gehören offenbar in den Katalog. Interessant ist der religiöse Disput über die Heilsbedeutung des mit dem Begriff Vera, (Glauben) in Konkurrenz geratenen Begriffs der Pravda, der in diesem Text thematisiert wird. Die Pravda-Vertreter sehen als Heilsweg die Verteilung von Gaben an die Bedürftigen, d.h. die Milostynja (Barmherzigkeit), die sie, aus apokryphen Traditionen schöpfend, mit der Pravda ineins setzen. Die Milostynja stellt gewissermaßen ein Gleichgewicht zwischen den Gaben der Welt her, und derjenige, der dieses bewirkt, ist ein Gerechter. Die orthodoxe Lehre allerdings verwirft diese Gleichsetzung von Pravda und Milostynja und insbesondere die Höher-

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bewertung der Pravda gegenüber der Vera.15 Klibanov sieht die kritische Implikation als Grund für die Verwerfung dieser Texte durch die Herrschenden, die der Pravda als einem sozialen Prinzip (mit religiöser Fundierung) die Vera entgegenhalten. Für die Pravda-Anhänger wird nunmehr die Vera gleichbedeutend mit der Krivda. Ein Text über die Milostynja, Barmherzigkeit, ist folglich ein Text, der in die Literatur der Otrečennye knigi, der Verbotenen Bücher, verbannt wurde. Die in diesen Texten mitzulesende Sozialkritik (Armut, Ausbeutung) erscheint als Kritik am Bösen schlechthin, denn der Leidenszustand des Volkes wird dem Wirken der Krivda zugeschrieben. D.h. die Klage über die Verderbtheit der Welt und die Sozialkritik fallen zusammen. Die Rolle der apokryphen Literatur ist auch für die religiös argumentierende sozialmoralkritische Publizistik des 16. Jahrhunderts bedeutsam. Ermolaj-Erazm, ein der Orthodoxie verpflichteter Schreiber-Mönch und Kritiker häretischer Ideen, lässt in seinen Schriften ein pointiert dualistisches Denken hervortreten, in dem der Kampf zwischen Krivda und Pravda letztendlich über menschliche Interessen hinausgehend als Kampf kosmischer Gewalten erscheint, als Kampf der Prinzipien des Bösen und des Guten, als Kampf zwischen Antichrist und Christ. Dennoch ist die sozialkritische Färbung, die auch ein Diesseits miteinschließt, deutlich. In seiner »Slovo o rassuždenii ljubve i pravde i o pobeždenii vražde i lže« (Rede über die Beurteilung von Liebe und Pravda und die Besiegung von Feindschaft und Lüge): Аще ли же кто собирати от чюжих трудов не отстанется и глаголеть: »аще и богатею, а любовь творю« ,– се ложь есть, невозможно бо обоего сего творити.16 (Klibanov 45)   Wenn einer von fremden Arbeiten (Mühen) nicht ablässt und spricht: Wenn ich auch immer reicher werde, so tue ich doch die Liebe (Gutes),- dann ist das Lüge, denn beides geht nicht zusammen Ermolaj-Erazm hypostasiert die Pravda, die in seiner Vorstellung bei Gottvater noch vor dem Sohn gezeugt wird. Auch in den Schriften dieses orthodox orientierten Autors fällt es schwer, eine deutliche Grenze zwischen ›kanonischem‹ und häretischem Denken zu erkennen.

16.4

Die Pravda in der Utopie

In einigen der von der Apokryphentradition ausgehenden heterodoxen Texten werden aus der Klage über den verderbten Zustand der Welt sozialutopische Vorstellungen entwickelt, die in den Texten des 15. – 17. Jahrhunderts verstärkt zum Ausdruck kommen. Zwei Utopietypen treten auf: die Utopie von der Ankunft eines guten Zaren, des sog.

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16

Klibanov 30. »Аще кто не породится от воды и духа, не может внити в царство небесное« (Wer nicht aus Wasser und dem Heiligen Geist geboren und dadurch nicht des Glaubens teilhaftig geworden ist, geht nicht ins Himmelreich ein), heißt es von orthodoxer Seite. Vgl. das Kapitel »Die Pravda der »Einigen Gesellschaft des Ermolaj – Erazm« (Klibanov (35-54).

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Car’ ot niščety, des Zaren der Armut, und die Utopie des fernen glückbringenden Landes als eines irdischen Paradieses, das als im Jetzt erreichbar gedacht oder mit einer Endzeitvorstellung verknüpft wird. Soziale Utopie wird entworfen in Bildern des paradiesischen Lebens, das als ein irdisch-himmlisches verstanden und den endgültigen Sieg der Pravda bedeutet, wobei das Irdisch-Böse als Hölle imaginiert wird, in der die Krivda herrscht. In der mit Märchenelementen durchsetzten Apokryphe »Car’ ot niščety« (Zar von der Armut) heisst es: В последняа дни воставит господъ бог царя от нищеты; ходити начнет по мнозе правде, и всякую брань уставити, и нищая богаты сотворить, ибудут лета, якоже суть была при Нои. Вудуть бо человеци во дни его богати велми в мире велицы, ядуще и пьюще, женящеся и посягающе, и ходяще без боязни ратного и бес печали ходяще по земли, занеже брани не будеть; и съсекут меча своя и стрелы и копиа на косы и на серпы и на железа ралная, им же землю делати (Klibanov, 22)   Am Ende aller Tage setzt der Herr einen alle Zwietracht und Drangsal beendenden Zaren ein, der den Menschen ein gutes Leben bringt: sie werden reich und bedeutend sein, sie werden trinken, essen, sich vermählen und ohne Angst vor Krieg über das Land gehen. Ihre Schwerter, Pfeile und Speere werden sie in Sensen, Sicheln und Pflugeisen umschmieden, um damit das Land zu bearbeiten. Die soziale Hierarchie wird nicht aufgehoben, wohl aber die Tributpflicht, es erfolgt Befreiung der Menschen von der (Leibeigenen-)Arbeit und von der Gesetzlosigkeit der Bojaren. In dieser endzeitlich erhofften Epoche werden die Menschen auf »viel Pravda« wandeln können. Auch eschatologisch-chiliastische Schriften haben sozialutopische Implikationen. In »Voprosy Ioanna Bogoslova k gospodu na gore Favorskoj« (Fragen Johannes des Theologen an den Herrn auf dem Berge Tabor) ist die Rede von einem von oben gesandten Paradies im Sinne der Apokalypse und von der Herabkunft Christi als Richter. Die von den Bösen, dazu gehören die Fürsten und Zaren, gereinigte Erde ist fruchtbar und befreit von Lastern und Kummer: ни слез, ни гнева, ни злобы, ни зависти, ни ревности, ни ненависти, ни ес тогда рукутяжения человеча, ни клеветания, ни ес печали, ни резоимание, ни златом ни серебра хотением. (Klibanov 24)   Es gibt weder Tränen, noch Zorn, noch Bosheit, noch Neid, noch Eifersucht, noch Haß, noch wird es dann Handarbeit geben, noch Verleumdung, noch Klage, noch Messerbesitz, noch Gier nach Gold und Silber. Die Wunschvorstellung der Befreiung von der Arbeit steht im Zusammenhang mit der Verdammung der Arbeit als eines unnützen Tuns im Verwerflich-Diesseitigen. Wie generell im Genre der Utopie wird auch in den russischen Vorstellungen ein ferner, unerreichbarer Ort imaginiert, der erst in der Endzeit sichtbar hervortritt. Dazu gehört die seit dem 14. Jahrhundert datierende Legende von der rechtgläubigen Stadt Kitež, die am Ufer des Svetlojar-Sees (nördlich der Wolga, in der Nähe von Nižnij Nov-

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Verborgenes und Manifestes

gorod) verschwunden ist und erst mit der Wiederkehr Christi in neue Erscheinung treten wird.17 In »Slovo o rachmanach i predivnom ich žitii« (Rede über die Rachmanen und ihr wunderbares Leben) aus der Chronik des Georgios Harmatolos, dessen russische, erweiterte Version dem Mönch Efrosin aus dem 15. Jahrhundert zugeschrieben wird, ist die Abwesenheit jeglicher Obrigkeit und der Handeltreibenden und der mit ihnen verbundenen verwerflichen Tätigkeiten wie Kauf und Verkauf entscheidend. Verworfen werden auch Kirchen und Kirchenschätze. Die Insel der Rachmanen ist ein entfernter Ort der Sorglosigkeit und Langlebigkeit, die Natur wird durch ständiges Ernten überwunden, es herrscht eine gemäßigte Askeseordnung, die das Geschlechterverhältnis und die Geburten regelt. Obwohl einige der Sozialutopien Analogien zu westlichen, etwa zu derjenigen des Landes Cocaine aufweisen, haben viele der konstitutiven Elemente gnostische Färbung, die den Aspekt der luxuria und des Überflusses ausblenden.

16.5

Der Verlust der Pravda

Die im Volksglauben verwurzelte Pravda-Idee generiert ein Sendungsbewusstsein, das für das russische Selbstverständnis konstitutiv wird und mit einer rigorosen Heilserwartung zusammengeht. Allerdings gibt es auch ›kanonisierte‹, die religiöse Staatsauffassung prägende Konzepte, die in der Volkstradition trotz sich verändernder staatskirchlicher Verhältnisse ihre Wirksamkeit behalten. Das gilt für die das russische Sendungsbewusstsein begründende Auffassung von Moskau als dem Dritten Rom (nach dem Fall Konstantinopels 1453) (Schaeder 1929; Benz 1971, 153-157, Hagemeister 2016, 461-485). Entsprechend der Idee vom Dritten Rom wird Russland als das einzige christliche Reich und der russische Zar als der einzige christliche Herrscher der Welt betrachtet. – Das Sendungsbewusstsein verbindet sich mit einer Messianismusidee, die die historiosophischen und sozialrevolutionären Ideen des 19. Jahrhunderts bestimmt. Das spezifisch Russische erscheint als das Allmenschheitliche. Das Ideal des gerechten, rechtgläubigen Herrschers, dessen Herrschaft allein auf der Pravda beruht, ist in der Volkstradition fest verankert. Dieses Ideal gilt mit Peter I. als verloren. In der Volksvorstellung haben die Reformen Peters I. die Abwendung vom Ideal der Pravda bewirkt,18 nachdem der Abfall vom rechten Glauben im 17. Jahrhundert durch den Reformer der russischen Rechtgläubigkeit, den Patriarchen Nikon, erfolgt ist. Die Reform der Kirchenbücher, der Liturgie und Riten infolge einer Neulektüre der Schriften gilt als west17 18

Die Kitež-Legende lässt sich bis ins 20. Jahrhundert verfolgen, wo sie insbesondere in literarischen Texten mit utopischer (oder apokalyptischer) Ausrichtung ihre Rolle spielt. Denn durch Peter I. wird die gottgewährte Ordnung gestört, deshalb auch gilt er dem Volk und den »volkstümelnden« Sozialideologen, den narodniki (von narod-Volk), als Anti-Christ (während er von den Sozialrevolutionären westlicher Prägung als Revolutionär auf dem Thron bezeichnet wird). Die Einführung des Römischen Rechts und einer anderen Hierarchie, die der Leibeigenschaft ihre als legitim empfundenen Grundlagen entzieht, hat zu Unruhen geführt. 1762 kommt es in der Volksvorstellung zu einer Trennung der sozialen Ordnung von der Pravda. Der Dienstadel wird vom Staatsdienst befreit, ohne dass die Bauern ihrerseits vom Zwangsdienst befreit werden; nunmehr wird die Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft erhoben. (Sarkisyanz1955, 54f.)

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

lich beeinflusst und daher teuflisch und führt zu einem folgenreichen bis heute andauernden Schisma zwischen Reformkirche und Altgläubigen.19 Die offizielle institutionell verankerte Orthodoxie der Reformkirche nimmt den Kampf (Verfolgung, Vernichtung) mit der antioffiziellen, institutionsfeindlichen ›Paradoxie‹ der Altgläubigen und mit den Sekten auf, die sich Elemente des Altgläubigentums aneignen.20 Entscheidend bleibt bei letzteren das Festhalten am Pravda-Ideal, am Ideal des wahren Herrschers, am Anti-Institutionalismus, am Sendungsbewusstsein und der Idee vom Dritten Rom, die nunmehr als verraten gilt. Es entstehen Vorstellungen (ebenfalls mit utopischen Zügen), die den Verlust der Pravda, des idealen Reiches und idealen Zaren zu kompensieren versuchen: es beginnt die Suche nach dem himmlischen Jerusalem, das am Ende der Tage erwartet wird, und es beginnt die Suche nach dem noch verborgenen wahren Zaren im Jetzt und Hier. Die Idee des verborgenen Zaren verbindet sich mit derjenigen des verborgenen Christus, der unerkannt auf Erden wandelt, als armer gedemütigter Gott. Die als ungerecht empfundene Landzuteilung nach Aufhebung der Leibeigenschaft erzeugte den Wunsch nach dem gerechten Fürsten/Zaren und das Phantasma eines das Land persönlich verteilenden Zaren, der als unerkannter Wanderer, als Pilger, strannik, durchs Land zieht. Sarkisyanz spricht von den »ungeheuren revolutionären Potenzen der volkstümlichen Vorstellung vom verborgenen, wahren Kaiser« (1955, 52). Der auf dem Thron sitzende ›falsche‹ Zar muss durch den echten Zaren (den Weißen Zaren21 ), den Befreier und Erlöser, ersetzt werden, der eine neue Pravda bringen wird oder verheißt. Der jeweils regierende Zar ist aus der Sicht des Volkes immer ein ›Usurpator‹, der die Stelle des abgesetzten oder ermordeten Zaren einnimmt, bzw. den verborgenen nicht in Erscheinung treten lässt. In der Volksvorstellung sind gerade die ermordeten Zaren unsterblich und ihre Wiederkehr gewiss. Letztere kann sich in mehrmaligen Reinkarnationen verwirklichen. Belegt sind Fälle, in denen sich ein große Anzahl an »Auserwählten« als Reinkarnierte zu Thronprätendenten erklärten – wobei, insbesondere wenn es sich um Sektenführer handelte, eine den verborgenen Zaren mit dem verborgenen Christus verbindende Doppelreinkarnation akzeptiert wurde. Als Reinkarnation Peters III., der vermutlich mit Beteiligung von Katharina II. einem Mordanschlag zum Opfer fiel und trotz seiner evidenten Nichteignung für das kaiserliche Amt vom Volk für den wahren und unsterblichen Zaren gehalten wurde, proklamierten sich etwa vierzehn Personen zu Prätendenten. Der prominenteste davon war Emeljan Pugačev, der in seiner vom Volk enthusiastisch angenommenen Reinkarna-

19

20 21

Der offiziellen Orthodoxie als Reformkirche steht das Altgläubigentum als wichtigste, folgenreiche Bewegung gegenüber, deren Ideen bis in die Dogmatik der Sozialrevolutionäre des 19. 20. Jahrhunderts verfolgt werden können, insbesondere im Narodničestvo. Zum Schisma und den Altgläubigen Sarkisyanz (72-94) und Hansen-Löve (1996) 204-206. Die oben genannte »Beseda trech svjatitelej«, die den Pravda-Krivda Kampf darstellt, ist Bestandteil der Altgläubigen-Texte. Zum Volksmythos des Weißen Zaren (Sinjawski(1990, 262f). (Weiß ist im Sinne von licht, hell, rein und der Beste zu verstehen.)

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Verborgenes und Manifestes

tion einen soziale Ziele verfolgenden Aufstand an-führte, welcher staatsgefährdende Ausmaße annahm.22

16.6

Die Suche nach Verklärung und ihr Scheitern

Der Restitution der Pravda wird nicht nur in endzeitlichen und jetztzeitlichen Vorstellungen betrieben, sondern manifestiert sich auch in dem, anfangs erwähnten, von ortho- und heterodoxer Religiosität getragenen Konzept der Verklärung. Sarkisyanz hat in »Verklärung« eine der Leitideen sowohl konservativer wie revolutionärer Theorien gesehen. Verklärung meint zum einen die Überwindung des Pravda-Krivda-Dualismus, der im Seele-Leib, Geist-Materie Dualismus sich spiegelt, zum andern die spiritualisierende Verwandlung alles Bestehenden: der Dinge, Menschen, des Gemeinschaftswesens, des Staates, der Politik. Die Idee der Verklärung meint letztlich die »Vergottung« des Menschen, in dem die Pravda von allem Anfang angelegt ist23 . Es ist der Auferstehungsgedanke, der in der russischen Orthodoxie ebenso wie im heterodoxen Volksglauben zentrale Bedeutung hat, mit dem die Herabkunft, das Herabsteigen des Göttlichen in das Sinnlich-Fassbare verbunden wird.24 »Aller Stoff wird zum Geist«, verkündet der Mystiker Alexander Dobroljubov Ende des 19. Jahrhunderts, die bestehende Welt wird als potenziell verklärter Kosmos verherrlicht. Die Immaterialisierung der Materie, die Spiritualisierung des Leibes sollen im Bestehenden-Wirklichen stattfinden. (In einigen Sekten wird die Leibverklärung als Leibvernichtung ›verwirklicht‹.) Die Betonung des sozialen Aspekts der Gerechtigkeit mag als Verengung des Bedeutungsfeldes erscheinen, jedoch bleibt im Sozialen immer die Verklärungshoffnung erhalten. Pravda als Gerechtigkeit bedeutet nicht Gleichberechtigung oder die gleiche Verteilung der Güter25 (diese Konnotationen kommen erst in der Ideologie der Sozialrevolutionäre dazu), sondern die Einhaltung einer von der göttlichen Weisheit, der Sophia, gelenkten irdisch-himmlischen Ökonomie. (Berdjaev 1930, Benz 1971, 55) Das Nichteintreten der Verklärung führt zu Reaktionen des Protestes, die sich als Rückzug aus der entspiritualisierten Welt (dazu gehört auch die Ablehnung der als unverklärbar erachteten ›Zivilisation‹) und als Weigerung äußern, die aktuelle Welt zu 22

23 24 25

Zum Aufstand des Pugačev und der Reaktion Katharinas II. Stökl (1962, Berjaev 1930, 399-407). – Zum Phänomen der Zarenprätendenten vgl. die Bemerkung von A. Ramboud, Russia, (1898, 240): »Kein anderes Volk ließ sich so oft immer wieder von derselben Fabel, vom plötzlichen Erscheinen eines allgemein totgeglaubten Herrschers betrügen. Abenteuer wie diejenigen eines Otrjepjew, des falschen Demetrius, und eines Pugatschow, des falschen Peter III., könnten sich in keinem anderen europäischen Lande ereignet haben. Diese beiden Abenteurer sind besonders berühmt geworden, doch die Geheimarchive zeigen uns, dass es im Russland des 17. und 18. Jahrhunderts Hunderte von falschen Dmitrij’s, falschen Alexej’s, falschen Peter II. und falschen Peter III. gegeben hat.« Vom Katholizismus abweichende Vorstellung von der Erbsünde. Der orthodoxe Theologe Georgij P. Fedotov hat in The Religious Mind, (1946, 175) den Erlösungsgedanken mit dem Ideal der Erlösung der Mutter Erde und der Verklärung der Natur verbunden. Die Gleichverteilung der Güter würde den Hierarchievorstellungen widersprechen, die im Verständnis des Volkes (bäuerlicher Provenienz) ihre Bedeutung nicht zu verlieren scheinen.

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

akzeptieren. Die Suche nach der Pravda und das Verklärungsbegehren motivieren zu religiösen Wanderschaften. (Es kommt zur Entvölkerung ganzer Landstriche, was das staatliche Verbot der Migration zur Folge hat). Die suchenden Wanderer, stranniki, werden konstitutiver Bestandteil russischer Volksfrömmigkeit. Die Opposition zwischen der historischen Wirklichkeit und einem chiliastischen Wunschdenken bestimmt auch die folgenden Jahrhunderte.26 Noch im 19. Jahrhundert verlassen Bauern ihre Dörfer und folgen der Verheißung eines unbekannten Landes des Heils, sie brechen in die Ortlosigkeit auf, wie in ein Jenseits. Es ist Abscheu vor dem Bestehenden, was die religiösen Nomaden zur permanenten Suche anstachelt. Ihr Wandern ist eine Bewegung im Aufschub und des Aufschubs, das Verklärungsziel bleibt entzogen. In der Sektenmobilität, im Wechseln von einer Sekte zur andern, in den Aufspaltungen innerhalb einer Sekte manifestiert sich diese Suchbewegung auch in der Hervorbringung immer radikaler werdender Ideen. Sekten, die die Existenz in der vom falschen Glauben beherrschten Krivda-Welt nicht zu ertragen vermögen, lösen den Konflikt zwischen Diesseits und Jenseits durch qualvolle Selbstvernichtungsrituale. (Sinjawskij 320-329, Hansen-Löve 1996, 197-203, Etkind 1998, 210-225) In der Empörung gegen die Nicht-Verklärung der Welt und gegen die Widerstände, die sich dem Spiritualisierungswillen entgegenstellen, offenbaren sich gnostische Züge, die auch sozialrevolutionäre Ideologeme des 19. Jahrhunderts prägen. Die Nichtanerkennung des Wirklichen bei den Linkshegelianern Belinskij, Herzen, Bakunin sieht Sarkisyanz im Kontext eines markionischen Gnostizismus (Hansen-Löve 181-194, Runciman 1947, 19-43). Der revolutionäre Atheismus verneine den Sinn in der Schöpfung. Sarkisyanz formuliert bündig: »Der russische Atheismus entspringt nicht aus rationalen Zweifeln, sondern aus Gotteshaß« (1955, 48). Die Empörung richtet sich letztendlich gegen die misslungene Schöpfung und ihren Verursacher. Jene Gruppen, die auf die Reinkarnation des guten Zaren, die Restitution der guten Herrschaft setzen, beharren auch in ihren auf Umsturz gerichteten Aktivitäten und Ideologien auf dem Ideal der Pravda. Etliche Sozialrevolutionäre, insbesondere die Vertreter des Narodničestvo, beziehen sich ausdrücklich auf die Pravda-Tradition, wobei auch die Glaubensvorstellungen der Altgläubigen27 eine bedeutende Rolle spielen, die in einer Vielzahl von zitierbaren Texten überliefert sind. Von den politisch ausgerichteten Umsturzideologien unterscheiden sich auf eklatante Weise die radikalen Praktiken einiger Sekten, die gleichwohl an Elementen derselben Tradition partizipieren. Dazu gehören die Chlysten (Geißler) und Skopzen (Selbstkastrierer), deren Selbstverstümmelungsriten als Leibesverklärungen exerziert werden.28 Der Kern ihrer Gründungslegende ist eine allgemeine Bücherverbrennung, nach welcher nur ein Buch Geltung behält, es ist die »Golubinaja kniga« mit ihrem Pravda-Krivda-Dualismus, die als »das Unge-

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Dazu E. N. Trubeckoj, Inoe carstvo i ego iskateli v russkoj narodnoj skazke (Das andere Zarenreich und seine Sucher im russischen Volksmärchen), in: Russkaja Mysl’, 1923, BuchI/II. Der Narodnik Aleksandr Michajlovskij beruft sich ausdrücklich auf die Schriften der Altgläubigen. (Sarkisyanz 1955, 91). Etkind (1998) stellt das Sektenwesen aus kulturhistorischer, psychoanalytischer und mythenanalytischer Perspektive dar und versucht, die ›ratio‹ seiner abstrusen Vorstellungswelt aufzuzeigen.

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Verborgenes und Manifestes

schriebene, das Goldene Buch, das Lebendige Buch, das Taubenbuch: der Herr Heiliger Geist« apostrophiert wird. (Sinjawski 1990, 384) Die Tradition führt weiter ins 20. Jahrhundert: Nikolaj Zabolockij, ein Lyriker aus kommunistischer Zeit, knüpft an die »Golubinaja kniga« an, wobei er das Verfahren des ›Sagens‹ samt seinem mythischen Kontext aufnimmt. Das lyrische Ich zitiert einen Sprecher, der die ›Legende‹ von der Pravda-Krivda erzählt. Zabolockij schreibt dies 1937 in finsterer stalinistischer Zeit und lässt auf der immer-(noch) währenden PravdaSuche eine verhaltene Verheißung aufscheinen. Голубиная книга В младенчестве я слышал много раз Полузабытый прадедов рассказ О книге сокровенной … ………. И слышу я знакомое сказанье, Как правда кривду вызвала на бой, Как одолела кривда, и крестьяне С тех пор живут обижены судьбой. Лишь далеко на океане-море, На белом камне, посредине вод, Сияет книга в золотом уборе, Лучами упираясь в небосвод. Та книга выпала из некой грозной тучи, Все буквы в ней цветами проросли, И в ней написана рукой судеб могучей Вся правда сокровенная земли. Но семь на ней повешено печатей, И семь зверей ту книгу стерегут, И велено до той поры молчать ей, Пока печати в бездну не спадут. ……… Где ты, старик, рассказчик мой ночной? Мечтал ли ты о правде трудовой И верил ли в годину искупленья? Не знаю я … Ты умер, наг и сир, И над тобою, полные кипенья, Давно шумят иные поколенья, Угрюмый перестрайвая мир. 1937.29    

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Der Neopaganist Serjakov hat sein Buch über die »Geheiligte Saga« mit einem Abschnitt aus Nikolaj Zabolockijs Gedicht eröffnet. – Ich verdanke den Hinweis auf dieses Gedicht und auf die nachhaltige Bedeutung des Pravda-Krivda-Motivs Johanna-Renate Döring.

16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

Das Taubenbuch In der Kindheit hörte ich oft Der Vorfahren halbvergessene Erzählung Über ein geheimes Buch… …. Und ich lausche der vertrauten Sage, Wie die Pravda die Krivda zum Kampf forderte Und die Krivda siegte, und wie die Bauern Seit jener Zeit leben, vom Schicksal geschlagen. Nur draußen auf dem Meer, Auf weißem Stein inmitten der Wasser Glänzt das Buch in goldnem Schmuck, Seine Strahlen steigen auf zum Firmament. Es ist aus einer wunder-schrecklichen Wolke gefallen, Seine Buchstaben sind von Blumen umrankt, Und darin ist mit mächtiger Hand Die verborgene Pravda der Erde aufgezeichnet. Sieben Siegel schließen es, Und sieben wilde Tiere hüten es, Und es muß schweigend verharren, Bis die Siegel in den Abgrund fallen. ……. Wo bist du, mein nächtlicher Erzähler? Hast du geträumt von der Pravda der Arbeit, Hast du an die Stunde der Erlösung geglaubt? Ich weiß es nicht. Du bist tot, nackt und allein, Und über dir, heiß schäumend, Tönen schon längst neue Geschlechter, Umbauend die düstere Welt

16.7

Zusammenfassung

Die Topoi des häretisch ›gefärbten‹ Volksglaubens ergeben sich aus der Vorstellung, dass die Pravda von der Erde verschwunden ist, verdrängt von der Krivda, und sich in die Himmel zurückgezogen hat: Dies führt zu eschatologischen Ideen, Ideen der Weltflucht und Praktiken extremer Askese, zu Suchbewegungen, utopischen Entwürfen, zu denen neben dem idealen Land und gerechten Herrscher auch das Ideal der verklärten Welt und das Imaginarium des fernen, unerreichbaren Ortes gehören, der am Ende der Tage leuchtend hervortritt. Das Leiden an den sozialen Missständen ist religiös oder genauer physisch-metaphysisch geprägt. Deshalb wird dessen Beendigung mit einer Erlöser-und Befreierfigur verbunden, die im guten, verborgenen Fürsten/Zaren, in christomorphen Figuren, in aus dem Volk selbst hervorgehenden Führern gesehen werden. Der Glaube an den verborgenen Christus oder an den spontanen Einzug Christi in die Erwählten ist ebenso

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Verborgenes und Manifestes

tief verankert wie der Glaube an die Wiedergängerei der Zaren. Die Sehnsucht nach Verwirklichung der Pravda ist eng mit der Verklärungsidee, der Idee der »Vergottung alles Lebens«, verbunden, die den russischen Revolutionsmessianismus mitgeprägt hat. Der Religionsphilosoph Simon Frank sieht das russische Denken sowohl in seiner volkstümlichen wie in seiner intellektuellen Gestalt als von der Idee der Pravda und ihrer letztendlichen Verwirklichung dominiert (1926). Der Pravda-Krivda-Dualismus behält seine gnostische auf die Markion-Tradition zurückzuführende Grundstruktur, die bis in die sozialrevolutionären Ideologien verfolgt werden kann (Berdjaev 1937) Sarkisyanz, der sich auf Religionsphilosophen, Schriftsteller des konservativen und des revolutionären Lagers sowie auf Vertreter des Narodničestvo bezieht (Fedotov, Leont’ev, Berdjaev, Trubetzkoy, Sorokin, Karsavin, Zen’kovskij, Dostoevskij, Belyj, Merežkovskij, Belinskij, Bakunin, Herzen etc.) und die Revolutionshymniker (Esenin, Kljuev; Gastev, Kirillov) heranzieht, versucht, Bolschewismus und frühe Sowjetideologie aus den genannten heterodoxen Traditionen zu verstehen und gleichzeitig deren fatale Inversion darzustellen. Es gelingt ihm – mit aufklärerischem Pathos –, die Traditionslinien mit großer Plausibilität herauszuarbeiten. Die Koalition, die die Pravda-Ideologie mit Ideen des Marxismus und okzidentalen Sozialismus eingeht, wird dabei keineswegs vernachlässigt. Die meisten der ideologischen Positionen, die er analysiert, zeigen eine religiöse (natürlich heterodoxe) Unterfütterung. Nicht nur die in den Sekten, den Heterodoxien und apokryphen Texten entwickelten Leitgedanken, sondern auch die in der Historiosophie, Religionsphilosophie und den Revolutionspekulationen zur Offizialität gelangten Theoreme sind von einer Semantik des Hyperbolischen beherrscht, die dem Anspruch gilt, im Sinne des russischen Sendungsbewusstseins für die Menschheit als solche zu sprechen.

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16. ›Pravda-Krivda‹ (Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit)

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17. Verwandlungen: Kržižanovskijs Kopfspiele

17.1 Neben den natürlichen, biologischen Metamorphosen, von denen Nabokov sagt, sie seien wunderbar,1 wobei er sich in den Verwandlungsprozess einfühlt, aus dem der Schmetterling hervorgeht, und den das Natürliche bedrohenden Metamorphosen, die Robert Burton in seiner Anatomy of Melancholy als einen der Gründe für den Ausbruch von Melancholie anführt, wobei er die Lykanthropie2 im Blick hat, gibt es die Metamorphosen, von denen Mythos, Märchen und Texte der phantastischen Literatur erzählen. Es sind vom Selbst bewirkte oder von anderen Mächten (Zauberern, Dämonen, Magiern) auferlegte Metamorphosen, von denen sie erzählen, die im Märchen als Strafe oder Belohnung, oft im Wechselspiel von Verwandlung und Entwandlung, das Wunderbare ausmachen. Literarische Verwandlungstexte treten vemehrt seit dem 18. Jahrhundert (Gothic novel) auf und sind konstitutiv für die Literatur der romantischen und nachromantischen Phantastik. Die darin dargestellten Grenzüberschreitungen tangieren die Seinsordnung und decken im Verwandelten ein Moment des Schrecklichen, Unheimlichen und Unaussprechlichen auf, das aus der Belebung von Statuen und Bildern, der Wiederkehr der Toten, der Verkehrung von Menschen in dämonische und animalische Wesen hervorbricht. Im phantastischen Text werden mit der Schilderung metamorphotischer den Menschen und die von ihm interpretierte Welt betreffender Vorgänge nicht nur Geheimnisstrukturen entworfen, sondern auch anthropologische Fragen berührt. Gerade die Metamorphose-Vorgänge thematisierenden und gestaltenden Texte der Phantastik arbeiten Menschenbilder heraus, die akzeptierte Menschenbilder in Zweifel ziehen. Transformierbarkeit, plötzlich eintretende oder allmählich sich vollziehende Wandlungen lassen auf die Instabilität von Körper und Seele schließen. Physische und psychische, von außen hervorgerufene oder von innen hervorbrechende Metamorphosen, wie sie die Verwandlungstexte in unterschiedlichen Erscheinungsformen entwer-

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Metamorphosen (Nabokov/Zimmer 2000). Nabokov wendet sich im übrigen nach der Metamorphosebeschreibung der Schmetterlinge dem Lykanthropie-Fall von Mr. Hyde und Dr. Jeckyll zu.

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fen, verweisen auf eine paradoxe, Identität und Individualität betreffende Konzeption menschlicher Verfasstheit.

17.2 In die Darstellung metamorphotischer Vorgänge fließen Komponenten unterschiedlicher Traditionen ein: arkane schöpfungsmythologische Konzepte, die alchemistische Kreationen und Entwürfe von Automaten-Menschen gleichermaßen bestimmen. Aber auch jeweils zeitgenössisches halboffizielles Wissen, medizinisches oder seelenkundliches, wird seit der Romantik als Stimulus dargestellt, der den in Spezialwissen Eingeweihten zu Gattungsgrenzen überschreitenden Experimenten an Mensch und Tier antreibt. Die von außen bewirkte Metamorphose thematisiert der phantastische Text als einen Körper und Seele betreffenden entsetzlichen Eingriff durch ein bedrohliches Wesen: den Wissenschaftler, der mit Apparaturen hantiert, Vivisektionen durchführt und sich als Zweit- und Um-Schöpfer versteht. In der Figur des Wissenschaftlers von der Art des Dr. Frankenstein, Dr. Moreau oder Professor Preobraženskij haben sich Züge des Zauberers und dämonischen Magiers erhalten, zugleich aber repräsentiert die ›Szientifizierung‹ eine modernisierende Version des metamorphotischen Schöpfungskonzepts, das in der Horrorphantastik des 20./21. Jahrhunderts durch den Rekurs auf Kenntnisse gentechnischer Manipulation eine weitere Modernisierungsstufe erreicht hat. In der Ur-Metamorphose ›Deukalion und Pyrrha‹ lässt Ovid die Menschheit neu entstehen, indem er den beiden nach einer Flutkatastrophe Überlebenden mit Hilfe der Göttin Themis die Macht verleiht, Steine in Knochen zu verwandeln, die zu Menschen werden. Deukalions Steine werden zu Männerknochen, Pyrrhas Steine zu Knochen einer Frau. Diese Verknöcherung der Steine gelingt Deukalion und Pyrrha aufgrund der Entschlüsselung eines Rätselspruchs, der von der Wiedererschaffung der Menschen aus den Gebeinen der Großen Mutter kündet. Indem sie begreifen, dass ›Gebeine der Großen Mutter‹ durch eine Ähnlichkeitsbeziehung mit ›Steine der Erde‹ verbunden ist, haben sie die im Rätsel verborgene wechselseitige Metaphorik (SteineKnochen/Gebeine – Gebeine/Knochen-Steine) entziffert. Diese Metaphorik veranlasst sie, die Gebeine-Steine hinter sich zu werfen, auf dass sie ›wirkliche‹ Knochen und damit Bausteine eines neuen Menschengeschlechts werden. Die Metamorphose, die sie bewirken, erweist sich als Realisierung der Rätselmetapher. Themis, die Autorin des Rätseltextes, lässt Deukalion und Pyrrha zu Stammeltern eines neuen aus dem Zusammenhang von Metapher und Metamorphose entstehenden Lebenstextes werden, d.h. die semantische Energie der Metapher hat die Metamorphose bewirkt. Während metaphorische Metamorphose (metamorphotische Metapher) für dieses Ovid-Gedicht gilt, ist die semantische Konstellation in der Dichtung des Pygmalion-Mythos, die der Kunstschöpfung und deren Verwandlung gilt, von der Metonymie3 bestimmt. Mit der

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Friedmann Harzer hat die Opposition metaphorische-metonymische Metamorphose eingeführt, auf die ich mich hier beziehe (2000). Das Konzept einer metaphorischen Metamorphose oder metamorphotischen Metapher ist von Sherry A. Dranch (1984, 139-148) entwickelt worden. Die ›Realisierung‹ der Metapher als metamorphotische Anthropogenese.

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Belebungsgeste, die hier den Übergang von (Kunst-)Materie in atmendes Geschöpf bewirkt, wird Berührung, nicht Ähnlichkeit erzeugt. Dies gilt auch für den – ganz anderen – ›Fall‹ sekundärer Schöpfung, der in der Golemlegende Gegenstand ist. (Idel 1990)

17.3 Was ihre semantische Struktur angeht, stellen Ovids ›Pygmalion‹ und die Golemlegende zugleich affine und konträre Ausprägungen dar.4 Zwar sind beide Schöpfungsgeschichten von der Ambivalenz zwischen Virtualität und magischer Realität, zwischen Simulakrum und belebter Figur bestimmt. Doch liegen ihnen unterschiedliche Motivationen zugrunde – Ablehnung der gegebenen (natürlichen) Schöpfung einerseits, Hybris im Schöpferwettstreit mit Gott andererseits –, die sich lediglich in der Absicht berühren, einen künstlichen Menschen herzustellen. Während in der Golemlegende die Fabrikation eines Androiden im Vordergrund steht, liegt der Akzent der pygmaliontischen Schöpfungsversion zunächst auf dem Kunstwerkhaften des Simulakrums. Die Spannung zwischen Kunstwerk und Idol, die in ihm angelegt ist, oder genauer die Spannung zwischen aisthesis und Idolatrie/erotischer Besetzung, führt (in der Ovidschen Gestaltung des Mythos) durch das Überwiegen des letzteren zur Verwandlung des Simulakrums/Idols in eine durch Atemhauch (Animation, Inspiration) belebte Figur. Der Übergang von tot in lebendig, von Elfenbeinstatue bzw. Skulptur in eine atmende Frau, von Kunstwerk in Mensch, von Artefakt in Kreatur, von Simulakrum in ein sekundäres ›authentisches‹ Original ist ein metamorphotischer Vorgang, der auf Kontiguität, nicht auf Similarität beruht. Im sekundären Schöpfungsprozess als Manufaktur und (bio-)technischer Fabrikation unterschiedlicher Art, selbst in den alchemistischen Vorgängen, deren Verursacher von der gesetzmäßig zu erzielenden Transformation der Substanzen ausgehen, werden Vorstellungen natürlichen Werdens und Wachsens vom Diktat der Verwandlung, Metamorphose, überdeckt, ja abgelöst. Das metamorphotische Geschehen, der Mensch und Ding verwandelnde Eingriff hat in den mythographischen und in den Texten der Phantastik etwas Gewaltsames, bedeutet einen Schnitt, einen Bruch, einen Ebenenwechsel und lässt sich weder im Sinne der Goetheschen Metamorphose der Pflanzen (Schanze 1995, 53-62) noch im Nabokovschen der Schmetterlingswerdung als organisch interpretieren. Die phantastische Metamorphose ist dezidiert un-organisch. Der Ebenenwechsel als Überschreitung der Gattungsgrenzen zwischen den Geschlechtern (Virginia Woolfs Orlando), zwischen Mensch und Tier (Stevensons Mr. Hyde and Dr. Jeckyll, Bulgakovs Sobače serdce) oder zwischen Tier und Tier (Wells’ Island of Dr. Moreau), zwischen unbelebt und belebt (E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius) und als Niederreißen der Barriere zwischen Leben und Tod (E.A. Poes The Facts

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Während ›Pygmalion‹ als literarische Mytheninterpretation zum Prätext par excellence avancierte, spielte die Golemlegende ihren Part in der vorkabbalistischen und kabbalistischen Überlieferung als Gegenstand hochkomplizierter Spekulationen und kontroverser Lehrmeinungen und wurde erst seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand literarischer Bearbeitung.

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in The Case of Mr. Valdemar, Turgenevs Klara Milič) folgen anderen als natürlichen Beweggründen.5

17.4 Worin besteht das Faszinosum des Metamorphotischen, was treibt die solche Vorgänge gestaltenden Autoren an, wenn sie als Verwandlungsvisionäre den Dingen und Personen die ihnen zunächst verliehene Identität nehmen und ihre Individualität durch Spaltung dementieren? Ist es das spekulative Moment, das neben kognitiven auch ludistische, experimentnahe und utopische Züge enthält, das die literarischen Metamorphosen in Gang setzt? Oder sind es archaische, die Menschheitsgeschichte begleitende, ja bestimmende Konzepte, die immer wieder Neubearbeitung provozieren und epochenspezifische Akzente erhalten? Ist es das Spiel mit dem Selbst, wie es der homerische Proteus als Paradigma der ›insistierenden‹ Nicht-Identität vorführt, das Unsterblichkeitsbegehren, die Lust an der Um- und Neuschöpfung, der Wunsch nach Wiedergeburt in anderer Gestalt oder nach der Flucht aus dem einmal Gegebenen, nach der Erprobung aller Gestalt- und Seinsmöglichkeiten, oder geht es um die Antizipation jener endgültigen Verwandlung, die mit dem Sterben einsetzt u.ä.? Vermutlich ergäben die genannten Momente zusammen genommen eine Grundlage für die Beantwortung der Frage nach dem Faszinosum. Historische oder erklärende Wörterbücher beantworten die Frage nicht, doch geben sie Auskunft über den Bedeutungsumfang und Gebrauch von Verwandlung, lassen jedoch Unterschiede bezüglich dessen, was verwandelt wird, die Erscheinungsform oder das Wesen von Person (oder Ding), unausgeführt. Die Bedeutungsnuancen, die das Grimmsche Wörterbuch für Verwandeln, Verwandlung historisch ausfaltet, führen in ein umfassendes semantisches Feld. Verwandeln können sich Personen, Sachverhalte, Zustände, Vorgänge, Abstrakta, Meinungen, Vorstellungen, Dinge, Stoffe, Natürliches und Künstliches, wobei es sich jedoch nicht ausdrücklich um ›wunderbare‹ Prozesse handelt. Eine Ausnahme bilden allerdings die unter 2, a gegebenen Bestimmungen: Die »verwandlung durch übernatürliche Kraft; durch göttliche wirksamkeit«, mit einem Zitat von Angelus Silesius (»wann ich mit gott durch gott in gott verwandelt bin«, Cherubimischer Wandersmann) belegt, und die Verwandlung durch »zauber«. Eine Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung tritt dabei nicht deutlich hervor und lässt sich auch nicht aus den semantisch verästelten Termini ermitteln, die zur Erklärung des Sprachgebrauchs des Substantivs »Verwandlung« mit Verweis auf ältere Wörterbücher zitiert werden: »alternatio, conversio, impedatura, metamorphosis, mutatio, mutatorium, traiectio, 5

Anders allerdings die von der Ethnographie aufgezeichneten rites de passage, in denen biologische Veränderung (Reifeprozess) als soziale Verwandlung nachvollzogen wird und das veränderte Glied der Gemeinschaft neu in diese aufgenommen wird, wobei die Rituale des Übergangs die einschneidende Bedeutung des Vorgangs demonstrieren. Auch die halluzinatorischen Verwandlungen, die von ›Hexen‹ erlebt (und als wirkliche behauptet) werden oder die in Ekstasen eintretenden oder in mystischen Zuständen erfahrenen Verwandlungen oder die mit dem Schamanismus verbundenen Verwandlungsphänomene unterliegen ›anderen Kausalitäten‹.

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transfiguratio, -formatio, -latio, -substantiatio«. Jeder dieser Begriffe steht in einem eigenen Bedeutungsfeld, sei es theologisch, alchemistisch oder literarisch. Die beiden Lexikographen zitieren neben etlichen lateinischen Begriffen, die meisten mit der Vorsilbe trans, nur den einen griechischen, »metamorphosis«, der in »transformatio« sein exaktes Äquivalent hat. Die komplexe griechische Präposition meta mit Bedeutungen (um nur einige zu nennen) wie ›mitten‹, ›zwischen‹, ›unter‹, ›die Verbindung zweier Subjekte anzeigend, die gemeinschaftlich etwas tun‹, ›in Gemeinschaft mit‹, ›Aufeinanderfolge der Dinge im Raum‹, ›gemäß‹, ›zufolge‹, ›hinter‹, ›darüber‹6 , die der Thesaurus linguae graecae angibt, lässt erst in der Zusammensetzung mit Verben, wie in »metabaino«, metaballo«, »metamorphoo«7 , das ›über‹, ›hinüber‹ im Sinne eines Ortswechsels, einer Zustandsveränderung und Verwandlung hervortreten (198). Die Vorsilbe »pre« in »prevraščenie«, »preobrazovanie« und »preobraženie« gibt dieses meta (trans) wieder; prevraščenie ist ein Begriff, der in Lomonosovs Kratkoe rukovodstvo k krasnorečiju (1739) (Kurze Einführung in die Schönredenheit) (Lomonosov 1953, 91-378) eine von sieben Arten meint, die zur inventio von (ausgefallenen) Gedanken führen können (»k izobreteniju vymyslov«). Der Rhetoriker definiert das Verfahren knapp: »kogda čto v drugoe prevraščaetsja« (wenn etwas in etwas anderes verkehrt/verwandelt wird) und verweist auf Ovid, dessen Daphne-Metamorphose er anführt (§160). Im Slovar’ Russkogo jazyka erscheint »prevraščenie« (Verkehrung/Verwandlung) mit Konnotationen, die auf Zustandswandel, Gestaltwandel, Unbeständigkeit verweisen. Auch die Ovidschen Metamorphosen werden mit »Prevraščenija« übersetzt; die Verbformen bezeichnen verkehren, umwenden, verwandeln, umgestalten, auch in chemischen Prozessen, (Worte oder Sinn) verdrehen, das Partizipialadjektiv bedeutet verkehrt, widersinnig, unbeständig, wandelbar; während preobrazovanie Veränderungen und Umwandlungen im Sinne von Re-Organisation und Reform bedeuten (Puškin nennt Peter I. »preobrazovatel’ Rossii«8 ). Auch »preobraženie« wird als Umgestaltung umschrieben, gibt aber als religiöser Terminus gr. metamorphosis in der Bedeutung Verklärung (am Berge Tabor) wieder. Deutlicher zur Frage, was sich wandelt, sind die Einträge im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament. Hier erscheint schema als Ergänzungs- und Gegenbegriff zu morphe. In der Bedeutung von ›zu etwas anderem werden‹ wird μεταμορφοῡσϑαι mit 6

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Das meta in »Metaphysik« ist bekanntlich nicht eindeutig (hinter, nach oder darüber hinaus), deutet aber keineswegs Verwandlung an. Auch in den Neuprägungen »Metasprache«, »Metapoetik«, »Metatextualität,« die die Karriere des meta belegen, ist nicht Verwandlung, sondern Ebenenwechsel gemeint: ›die Ebene über einem gegebenen Gegenstand‹. »metaballo« hat auch die Bedeutungen verändern, umwandeln, sich umwenden, sich verwandeln. »Metabolismus« fungiert als medizinischer Terminus für Stoffwechsel, nicht aber Metamorphose. (Stoff ist nicht Gestalt.) In »Metanoia« bezeichnet das meta Reue, Änderung der Auffassung des eigenen Ich, des Lebensziels, Gewinnung einer neuen Sicht der Welt, Sinneswandel. Slovar’ Jazyka Puškina, t.3, (1959). Auch Puškin übersetzt Ovids Metamorphosen mit »Prevraščenija« und benutzt das Verb in einer Wendung wie »U menja krov‘ v želč‘ prevraščaetsja. (Bei mir verkehrt sich das Blut in Galle) Die zahlreichen Einträge zu den genannten Begriffen im Slovar’ Puškina stecken ein semantisches Feld ab, das im Slovar’ russkogo jazyka mit Belegen auch der Nach-Puškinzeit keine Änderungen aufweist. – (Volkssprachlich von perevertyvat’ abgeleitet sind pereverten’ in der Bedeutung Konvertit, der Abgefallene und perevertyš’ in der Bedeutung Werwolf, »perevert’« der Unstete, vgl. I. J. Pavlovskij, Russko-nemeckij slovar’ (1911).

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μετασχηματίζεσϑαι in der Bedeutung ›anders werden‹ zusammengestellt, wobei der erste Begriff das Wesen, der zweite äußere Merkmale meint. (1966, Bd.4, 763)9 Selbstverwandlung und von außen bewirkte oder aufgezwungene Verwandlung, Befreiung aus der falschen Gestalt und Verwünschung, wie sie die Mythen gestaltenden Texte und die Zaubermärchen zum Thema machen, lassen eine Differenz im Verwandlungsgeschehen erkennen, die man mit diesem (theologisch vermittelten) Begriffspaar morphe-schema fassen könnte. (Apuleius’ Lucius wird ›schematisch‹ in den Esel und morphotisch in den geläuterten Isis-Jünger verwandelt, der Froschkönig und La Bête sind temporär schematisch Verwandelte etc.).

17.5 Die phantastische Literatur (bzw. mit Phantasmen arbeitende Literatur) scheint diese Differenzsemantik in den Selbst- und Fremdverwandlungen aufzunehmen (In Charles Brokden Browns Wieland or The Tranformation wird die durch keine äußere Macht bewirkte morphotische Wandlung eines ›Normalen‹ in ein religiös fanatisches Ungeheuer dargestellt, eine Wandlung, die der Erzähler mit dem psychologischen Terminus mania mutabilis definiert. Oscar Wilde verknüpft schematische und morphotische Verwandlung durch das umgekehrte Wechselverhältnis von persona Dorian Gray und dessen Abbild, wobei es hier ausdrücklich einen die Verwandlung betreibenden Agenten gibt, der mit dem psychotechnischen Verfahren des ›influence‹ arbeitet und den schönen und unschuldigen Jüngling doppelt ruiniert. Gregor Samsas Selbst-Verwandlung, zunächst ›schematisch‹ einsetzend, endet ›morphotisch‹, was insbesondere der Sprachverlust anzeigt etc.). Nicht nur Mythenliteratur und Zaubermärchen, sondern auch Theologoumena enthaltende Texte erscheinen in Bezug auf die Literatur der Phantastik als Präfigurationen. In letzteren geht es um die Selbstwandlung, die autopoietische Metamorphose oder um die von Gott gewährte, ersehnte Wandlung in einen heilen Endzustand, eine immerwährende glückhafte Seelengestalt. Die jüdischen Verwandlungserwartungen, deren Verwirklichung nach dem Tod erwartet wird, tauchen in den Vorstellungen, die mit der resurrectio mortuorum im christlichen Verständnis zusammenhängen, wieder auf – wobei die Frage, in welcher Gestalt der erlöste Mensch auferstehen wird, verklärt, als pure Seele, mit seinem irdischen wiederhergestellten Leib u.ä. religiöse – theologisch allerdings kanalisierte – Spekulationen antreibt (Greshake, Kremer 1992, 70, 203f, 235). Nachdrücklich ist hier von Metamorphose die Rede. »›Verwandlung‹ ist also Kennwort der Endheils-und Endgerichtserwartung«. (Theologisches Wörterbuch, 764) Auch die Menschwerdung Christi wird als Metamorphose (Gott wird Mensch in Asc Js 3,13) gedeutet; in späteren Apokryphen stellt sich bei den Christophanien stets das Verwandlungsmotiv ein (764). Das Abendmahl als Metamorphosishandlung, die der

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Der Begriff »metamorphosis« des NT wird lateinisch-liturgisch als »transsubstantiatio« wiedergegeben, was gr. morphe als ›Wesensgestalt‹ erscheinen lässt.

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Priester nachvollzieht, erinnert an die anderen von den Synoptikern überlieferten Berichte von jesuanischen Wandlungen (Wasser in Wein, tot in lebendig, krank in gesund), aber auch an die Selbst-Wandlung Christi, die Verklärung am Berge Tabor, die im NT als »transfiguratio« wiedergegeben wird (genauer: Mk 9,2; Mtη 17, 2: μεταμορφώϑη ἔμπροσϑεν αὐτὧν – transfiguratus est coram ipsis) und letztlich an die Verwandlung des Gekreuzigten in den Auferstandenen. Zur Verwandlungssemantik gehört auch die conversio als religiöser Zustandswandel. Der Übergang von ungläubig in gläubig, vom falschen in den richtigen Glauben, der in der ›Verkehrung‹ gemeint ist, wird in den Konversionsgeschichten mit einem ›Ereignis‹ von der Art einer blitzartigen Erleuchtung, gnadenhafter Eingebung oder einer mystischen Erkenntnis verbunden, d.h. er wird scharf markiert als Bruch, der ein Vorher und Nachher erkennen und die ganzheitliche Änderung der Betroffenen als Folge hervortreten lässt. Als besonderer Fall von conversio erscheint die abrupte Transformation sozialer, personaler und humaner Identität, von der die Viten der Christusnarren erzählen. Eine Verwandlung, die folglich morphe und schema gleichermaßen betrifft und als Ziel asketischer Übungen und Selbstheiligungsversuche durch Selbsternierigung angestrebt wird. Mit der folglich permanent geübten Selbstverleugnung, die diesem Modus der Selbstheiligung zugrunde liegt, wird die irreversible Metamorphose in eine heiligmäßige morphe als Unkenntlichmachung eines vorherigen Zustands erkämpft. Allerdings ist den Glaubenshelden daran gelegen, durch abermalige Leugnung und Verstellung etwaige Züge des Heiligmäßigen zu verdecken.10 Die Narrenvita, die von den kompromisslos asketischen, lebensweltlich sich manifestierenden Folgen einer religiös motivierten Selbstwandlung erzählt, deren letzter Beweggrund eine Heilserwartungen weckende conversio11 ist, gehört zur Erbauungsliteratur. Ohne erbauliche Funktion hingegen, Lektüren unterschiedlicher Art provozierend, sind die phantastischen Metamorphosen, die sich an erfundenen Helden vollziehen, selbst- oder fremdbewirkt. Die hier angerührten Affekte sind horror und perturbatio, aber auch curiositas und admiratio, die der hedonistische und kognitive Momente verbindenden Erfindungsgabe des Erzählers gilt. Wenn Wells seinen Dr. Moreau auf einer einsamen Insel als plastischen Chirurgen operieren und hybride Metamorphote aus unterschiedlichen Tierarten zusammenbasteln und mit einer Anthropomorphisierungsabsicht verbinden lässt, steigert er den Frankenstein-Horror, indem er auf zeitgenössische medizinische Experimente rekurriert. Mit der erbarmungslosen Beschreibung der blutigen und peinerzeugenden verwandelnden Transplantationstechnik weckt er zugleich Abscheu und Interesse. Letzteres wird durch die abstruse Anthropologie, die Wells den Vivisektor wortreich vortragen lässt, in eine Art stupefactio überführt. Eine vergleichbare Appell-Strategie verfolgt Bulgakov mit dem Entwurf seines Verjüngungsspezialisten, Professor Preobraženskij, der sich als metamorphotetes an Hund und Mensch zu schaffen macht. Dass die Erzählung als

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Vgl. Kap. 16. Anders als der berühmte vom Manichäismus und weltlichem Hedonismus sich abwendende Konvertit Augustinus, der am Ende des 8. Buchs der Confessiones ausruft: »convertisti enim me ad te«, äußert sich der Christusnarr nicht zu seiner Wandlung und deren Verursacher.

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Satire auf sowjetische Verhältnisse lesbar ist oder als ironischer Beitrag zur Verschränkung von Kyno- und Anthropologie – das Produkt der Transplantation erweist sich als mieser Denunziant – ändert nichts an dem Eindruck, den das mit Genetikspekulationen spielende Transplantationskonzept und die keineswegs verhaltene Beschreibung der Schädelöffnung hinterlassen.

17.6 Neben den genannten Affekten wird auch etwas stimuliert, das man den ›DeutungsAffekt‹ nennen könnte, ein Affekt, der auf Schilderungen von Verwandlungsgeschehen antwortet, die gerade durch ihre Schlüssigkeit Fragen nach dessen Gründen und Begründbarkeit zu verbieten scheinen. Allegorisierende oder parabolisierende Deutungen versuchen die Hermetik solcher Schlüssigkeit zu durchbrechen, um die Abwesenheit lebensweltlicher ratio zu kompensieren. So im Falle von Kafkas Die Verwandlung und Bruno Schulz’ Verwandlungsprosa (Sklepy cynamonowe, Sanatorium pod klepsydrą, Kometa). Anders als in Märchen und Mythos, für welche die nämliche Selbstverständlichkeit der Verwandlungslogik gilt, wird die Metamorphose bei Kafka und Schulz nicht mit einem Tarnungs- oder Täuschungszweck motiviert und anders als im Fall der zur Konkurrenzperson und zum Ich-Usurpator gewandelten Nase des Majors Kovalev und der Lykanthropie, an der Dr. Jekyll leidet, geht es weder um groteske noch um horrible Persönlichkeitsspaltung. Gregor Samsa erlebt seine Verkäferung (der die Familie mit Abscheu begegnet, ohne den Vorgang als solchen zu bezweifeln) als das peinvolle Hineinwachsen in einen anderen Zustand, der ihm eine neue Anpassung an das vertraute Ambiente abverlangt. Nicht nur die Ungeziefergestalt, die von ihm Besitz ergriffen hat, sondern auch und besonders der allmähliche, Kommunikation verhindernde Sprachverlust streichen das Humane in ihm aus. Von der schweren Verwundung gezeichnet, die ihm das Apfelwurfgeschoß des (ihn strafenden?) Vaters beigebracht hat, verendet er, zerfällt und wird in dieser Zerfallsrestgestalt beseitigt. Diese Verwandlung in Ungeziefer und Staub als Todesparabel zu lesen, im Sinne eines der oben genannten Aspekte, hieße neben den vielen schwierigen Wegen, die die Deuter genommen haben, einen sehr einfachen vorschlagen.12 Einige Momente bewegen jedoch dazu. Der bereits zu Beginn der Erzählung vollzogenen ›schematischen‹ Verwandlung folgt die ›morphotische‹ nach, die sich wie ein langsames Sterben vollzieht. Die Klage der Mutter, die abnehmende Versorgung durch die Schwester, der Zorn des Vaters, der zugleich Trauer über den Verlust des Sohnes (und Ernährers) ist – er wirft ihm, wie man den Toten Blumen nachwirft, einen Apfel in den Käferpanzer, der sein ›Sarg‹ wird – lassen eine vom Tod beherrschte Szenerie erkennen, deren Pointe die ›En(d)tsorgung‹ ist. Nach dem Todesfall kommt es zu einem Wiederaufleben der Familie. Auch die Verwandlungsvorgänge bei Schulz bedürfen keiner alltagslogischen Motivierung. Schulz legt Die Verwandlung in der Polymetamorphose des »Vaters« hyperbolisch aus. Der Vater verwandelt sich in eine Küchenschabe, er wird zum Vogel, ähnlich 12

Vgl. die Interpretation von Harzer, der Die Verwandlung als »absolute Metonymie« bezeichnet.

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dem Kondor, den er selbst gezüchtet hat, und mit dem er den Nachttopf teilt, er wird zum Insekt und schließlich als gekochter Krebs der Familie serviert. Ungegessen verlässt er nach Wochen die Schüssel, »konsolidiert sich«, und die Frage »warum bekannte er sich am Ende nicht als gestorben«, bleibt unbeantwortet. Jede Metamorphose führt zu Verschwinden, Auflösung und Tod und wird dennoch durch das Wiedererscheinen und Wiedererstarken des Vaters dementiert. Doch am Ende heisst es: Ugotowany, gubiąc nogi po drodze, powlókł się ostatkami sił dalej, w bezdomną wedrówkę, i nie ujrzeliśmy go wiecej na ozcy. (Sanatorium pod klepsydrą, 348).   Gekocht, die Beine unterwegs verlierend, schleppte er sich mit den Resten seiner Kräfte weiter auf eine heimatlose Wanderschaft – und wir bekamen ihn nie mehr zu Gesicht. (300) Der Vater ist nicht nur Verwandelter, sondern auch metaphorisierender Demiurg, der aus ›niedriger‹ Materie eine zweite Schöpfung ephemerer, bruchstückhaft bleibender, nicht zu Individuen gedeihender Wesen fabriziert: Trödel, Pappmaché, Werg und Sägespäne stellen den Verwandlungsstoff dar. Schulz lässt die Metamorphose zu einem alles erfassenden Prinzip werden: nicht nur die Personen-, auch die Dingwelt wird von einem Verwandlungswahn ergriffen, der allein vom Auge ausgeht. (Lachmann 2002)

17.7 Die Deutungsbemühungen im Falle der Schulzschen Metamorphose können neben den kabbalistischen gnostischen und alchemistischen Motiven, die dieser Karneval, diese Maskerade zusammenführt, auch das ludistische, in der Formenvielfalt schwelgende Moment berücksichtigen. Dieses erinnert nicht von ungefähr an die metamorphotische inventio des romantischen ›Vorläufers‹ E.T.A. Hoffmann. In Meister Floh wird das Auge, der Blick auf die Welt zum Verwandlungsmotor, nachdem ein Mikroskop direkt in die Pupille gesetzt worden ist. Peregrinus, dem diese (science-fiction-)Operation widerfährt (und die ihm erlaubt, sein Auge von innen zu sehen), führt als Verwandlungsvisionär die unstete Identität der Dinge und Personen vor, schafft Spaltungen und Fusionen, lässt das gerade durch Benennen in die Existenz Gerufene sogleich wieder zu einem anderen werden. Das mikroskopische Auge wird Zeuge von Metamorphosen: Peregrinus gewahrte bunt durcheinander Blumen, die sich zu Menschen gestalteten, dann wieder Menschen, die in die Erde zerflossen und dann als Steine, Metalle hevorblinkten. Und dazwischen bewegten sich allerlei seltsame Tiere, die sich unzähligemal verwandelten und wunderbare Sprachen redeten. Keine Erscheinung paßte zu der anderen, und in der bangen Klage brustzerreissender Wehmut, die durch die Luft ertönte, schien sich die Dissonanz der Erscheinungen auszusprechen. Doch eben diese Dissonanz verherrlichte nur noch mehr die tiefe Grundharmonie, die siegend hervorbrach und alles, was entzweit geschienen, vereinigte zu ewiger namenloser Lust. (1005)13 13

Der science-fiction-Einfall des in die Pupille versetzten Mikroskops wird in Odoevskijs Improvizator zwar nicht umstandslos aufgenommen, wohl aber das Moment der Hellsichtigkeit. Der mikro-

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17.8 Im phantastischen Text werden nicht nur Menschen in Bezug auf ihr Äußeres und Inneres verwandelt oder als Selbstverwandler eingeführt, sondern auch die Kategorien, die zum Instrumentarium unserer Weltkenntnis gehören: Raum und Zeit. Das lässt sich an einigen Erzähltexten von Sigismund Kržižanovskij zeigen, in denen die Bildphantasie durch konzeptbezogene Phantasmen ergänzt (gelegentlich von diesen abgelöst) wird, die in einen komplexen Argumentationszusammenhang gebettet sind. In Vospominanija o buduščem (Kržižanovskij 2001, Bd. 2) wird ein Experiment mit der Zeit durchgeführt, das mathematisch-physikalische (eigentlich philosophische) Spekulationen und den Bau eines die Zeit manipulierenden Apparats zur Voraussetzung hat. Das utopische wie das experimentelle Moment gehören in die Tradition der naučnaja fantastika und lassen die (im Text als Kritik ausgelegte) Abhängigkeit von Wells Time Machine erkennen.14 Kržižanovskij lässt seinen Helden aus dem ersten Weltkrieg und aus deutscher Gefangenschaft in ein Land zurückkehren, dessen Revolution ihn kaum tangiert, und den ständig mental weiterentwickelten Konstruktionsplan im Zimmer einer Kommunalka zur Ausführung bringen. Der Held mit dem Assoziationen hervorrufenden deutschen Namen Sterer (Störer)15 beabsichtigt mit der Konstruktion der Maschine und deren Ingangsetzung, den Beweis für seine innovatorische Theorie vom Zusammenhang von Raum und Zeit zu liefern. Наука, некогда резко отделявшая время от пространства, в настоящее время соединяет их в некое единое space-time. Вся моя задача сводилась, в сущности, к тому, чтобы пройти по дефису, отделяющему time от space, по этому мосту, брошенному над бездной из тысячелетий в тысячелетия. (2, 408)   Die Wissenschaft, die Raum und Zeit einst strikt trennte, vereint sie heute in einer Art ganzheitlicher Space-Time. Meine alleinige Aufgabe bestand nun im Grunde darin, den Bindestrich zu überbrücken, der noch zwischen Raum und Zeit liegt, diese Brücke, die sich aus Jahrtausenden in Jahrtausende über den Abgrund spannt.16 (354) In den Spekulationen Sterers zitiert Kržižanovskij theoretische Ansätze des 19. Jahrhunderts, aber auch zeitgenössische und macht seinen Denker zu einem wissenschaftlichen Avantgardisten. Worum es aber eigentlich geht, ist die Konzeption einer die Zeit betreffenden Verwandlungsprozedur, die, Beschleunigung oder Verlangsamung bewirkend, gewissermaßen spatial durchgeführt wird. Diesem Ziel dient die Erfindung des Zeitkappers, vremjarez, und Zeitumschalters, temporal’nyj pereključatel’. Die Zeitraumverschränkung soll Vergangenheit und Zukunft »zu zwei Bürgersteigen ein und derselben

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skopische, nachgerade ›Röntgenblick‹, der Cypriano die Verwandlung der äußeren Gestalt seiner Geliebten in ihr Körperinneres als erschreckende Einsicht aufzwingt, lässt ihn wahnsinnig werden. Zur Bedeutung von H.G. Wells für die russische science fiction vgl. Bernd Rullkötter (1974). Der Herausgeber der ersten Ausgabe der Gesammelten Werke Kržižanovskijs, Vadim Perelmuter, liest Störer als Amalgam von Stirner, was die extreme Individualität des Experimentators bezeichnen könnte, zumal sein Vorname Max lautet, und Steiner, der sich ebenfalls mit Fragen der Zeit, besonders der Frage ihrer Umkehrbarkeit beschäftigt hat. Krziżanowski, Sigismund, Lebenslauf eines Gedankens. Erzählungen, Leipzig, Weimar 1991.

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Straße schrumpfen lassen, die man – ganz nach Belieben – auf der zukünftigen wie auf der vergangenen Seite passieren könnte«. Nach der Rückkehr von seiner Zeitreise, die ihn in den Raum einer Zukunft schleudert – und mit Rückwärtsgang zurückkatapuliert, berichtet er vom Aufbruch in die mithilfe seines Beschleunigungsapparats verwandelte Raum-Zeit: Я дал себе старт в одну из летних ночей. Окно моей комнвты было открыто ,., оно должно превратиться для меня в окно вагона, мчащегося из эпох в эпохи (410). Слепящее глаза мелькание осолнцелось – я видел его, солнце, – оно взлетало желтой ракетой из-за сбившихся в кучу крыш и по сверкающей выгиби падало … И прежде чем отблеск его на сетчатке, охваченной ночью, успевал раствориться, оно снова из-за тех же крыш той же желтой солнцеватой ракетой взвивалось в зенит, чтобы снова и снова, чиркая фосфорно-желтой головой о тьму, вспыхивать новыми и новыми, краткими, как горение спички, днями. (412)   Ich startete heute in einer Sommernacht. Das Fenster meines Zimmers war offen wie das, an dem ich jetzt stehe. Es sollte sich für mich in das Fenster eines Eisenbahnwaggons verwandeln, der von Epoche zu Epoche rast. (356) Das Leuchten, das die Augen geblendet hatte, war zum Sonnenball geworden. Ich konnte sie sehen, diese Sonne, sie stieg als gelbe Rakete über den zusammengekauerten Dächern empor und fiel in glänzendem Bogen, die blutrote Detonation eines Sonnenuntergangs versprühend, hinter die Brandmauer. Und eh noch ihr Widerschein auf der nachtumfangenen Netzhaut verging, schraubte sie sich abermals als ebenjene gelbe Sonnenrakete hinter ebenjenen Dächern in den Zenit, um wieder und wieder den phosphorgelben Kopf an der Finsternis zu reiben, in immer neuen Tagen, flüchtig wie das Licht eines Schwefelhölzchens, aufzuflammen. (359) Er berichtet von temporal-spatialen Erlebnissen, so etwa von dem durch ein Tempogramm zu messenden ›nunc‹, das zur Ewigkeit zerdehnt wird, als ein Stillstand in der Zukunft eintritt17 und von der Zeit, die plötzlich sich außerhalb der Zeit befindet. Es gelingt ihm auch die Wendung aus dem Futurum ins Perfectum, wobei er erkennen muss, dass seine Zeitveränderungsexperimente eine Eigenschaft der Zeit außer Acht gelassen haben: Der Gedankenabenteurer, der auf seiner transtemporalen Reise mit der realen Zeit zusammenprallt, was die Maschine zerbersten lässt, beobachtet die Menschen um ihn, die Sowjetmenschen, die ihm ohne ›Jetzt‹ erscheinen, und deren Gegenwart hinter ihnen zu liegen scheint. Ihre »kleine Revolution« habe die »gigantische Umwälzung« verhindern wollen, die er mit seiner Maschine bewirken kann: nämlich »die Menschheit Epochen um Epochen vorwärtszuschleudern«. Die Pointe des Experiments besteht darin, dass die zeitverwandelnde Flugreise durch einen wie eine Kappe den Kopf um-

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Die Zeitrafferidee erinnert an den Alterungsprozess, den Nabokov in Priglašenie na kazn’ den Henker Msjö Pier mit dem Fotohoroskop durchführen lässt. Es ist ein Apparat, der im Vorgang der Aufnahme selbst junge Lebende zu alten Toten macht, sie sozusagen in einer unvermeidlichen Zukunft fixierend.

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schließenden Apparat erfolgt, der beides, den Träger und den Apparat selbst, unsichtbar macht, und letztlich nur im Kopf des Zeitreisenden stattfindet. Mit Vadim Perelmuter, einem der ersten Interpreten Kržižanovskijs, der sich dessen »philosophischer, satirischer, lyrischer Phantasmagorien« angenommen hat, lässt sich hier von »intellektuellen Parabeln« sprechen. (1991, 398) Die mit Formeln arbeitenden Argumentationen, die ein skeptisches Mitdenken erfordern (und das Publikum überfordern, dem Sterer über sein Experiment zu berichten hat), werden durch deskriptive Passagen ausbalanciert, in denen Kržižanovskij nicht nur Wörter in Neubildungen umwandelt, sondern die Gegenstände seiner Beschreibung, Personen, Dinge, das urbane Milieu, den sowjetischen Alltag durch präzise, metaphorische und metonymische Attribuierungen verwandelt. Zum Zeitexperiment gibt es als Pendant ein Raum-Experiment, das Kržižanovskij in der Erzählung Kvadraturin vorführt. In dem höchst kleinformatigen Wohngeviert des Sowjetbürgers Sutulin taucht ein Unbekannter auf, der im Dienste der Wissenschaft und einer ausländischen Firma vorschlägt, den als »Streichholzschachtel« bezeichneten Raum mithilfe einer jüngst entwickelten Substanz zu vergrößern. Er hinterlässt Sutulin zu Probe- und »Reklame«-Zwecken eine »Kvadraturin« beschriftete Tube. Sutulin, interessiert und zögerlich zugleich, trägt den Tubeninhalt entsprechend der Gebrauchsanweisung auf Innenwände, Boden und Decke seiner Behausung auf, wobei ihm deren Winzigkeit im Abschreiten (und durch den Lärm der Wandnachbarn) noch einmal nachhaltig deutlich wird. Nun erlebt er die allmähliche Ausdehnung des Raums, die unregelmäßig ausfällt, da er nicht ganz exakt gearbeitet hat. Das räumliche Wuchern nimmt gigantische Ausmaße an, lässt sich nicht mehr eindämmen, die Wohnzelle verwandelt sich unaufhaltsam in einen auseinanderfliehenden Großraum, ohne feste Konturen und stützende Wände, ohne Halt für den darin Herumirrenden. Сутулин остался один на подгибающихся, ватных ногах среди четырех-углой, ежесекундно растущей и расползающейся тьмы. Он знал, что там, за спиной, разползшееся черными углами мертвое, оквадратуренное пространство … не находил ничего … ни даже стен. (460)   Sutulin blieb allein, auf einknickenden, watteweichen Beinen, inmitten seiner viereckigen, mit jeder Sekunde weiter wachsenden und auseinanderfließenden Dunkelheit. (16) Er wußte, daß dort, hinter seinem Rücken, die auseinandergequollenen Ecken des toten, verquadrierten Raumes lagen … konnte aber nichts finden … nicht einmal die Wand. (18f.) Die spatiale Expansion hat etwas Ungeheuerliches, das Sutulin nicht nur vor der Wirtin, sondern auch vor den (ironischerweise) anrückenden Wohnraum vermessenden Beamten, vor allem aber vor der Freundin verbergen muss, die in ihn und die Gemütlichkeit seines Miniatur-Zimmers verliebt ist. Sutulin in der Weite des sich verfinsternden Raums verloren, stößt einen alle Zimmernachbarn verstörenden (Angst-)Schrei aus: Кричать в пустыне заблудившемуся и погибающему и бесполезно и поздно: но если все же – вопреки смыслам – он кричит, то наверное, так. (460)

17. Verwandlungen: Kržižanovskijs Kopfspiele

In der Wüste zu schreien ist zwecklos und zu spät für denjenigen, der sich verirrt hat und zugrunde geht. Wenn er aber – wider alle bessere Einsicht – doch schreien sollte, dann sicherlich so. (18) Die sowjetische Raumnot als Folie nutzend, entwickelt Kržižanovskij aus der Idee der alle Maßvorstellungen sprengenden Raummetamorphose die ›unermessliche‹ Schrecklichkeit einer Unendlichkeitserfahrung, die ihm eine spatiale Metamorphose aufdrängt.

17.9 Metamorphotische Geschehnisse werden unterschiedlich wahrgenommen oder verursacht, im Falle Kržižanovskijs werden sie zu Abenteuern und Kopfspielen, die er sich durch seine Experimente oder durch Anwendung eines Geräts mit unvorhersehbaren Folgen ermöglicht oder selbst zufügt. Anders die Verwandlungen mit Verlust der ursprünglichen Identität, oder ein in unbekannte Zustände Geworfensein, die erlitten werden, auf Entwandlung hoffend. Die behandelten Texte lassen sich auf beide Varianten ein, die erduldete und die verursachte Verwandlung.

Bibliographie Dranch, Sherry A., »Metamorphosis as a Stylistic Device: Surrealist Schemata in Gogolian and Nabokovian Texts«, in: Language and Style. An International Journal (1984), 139-148. Greshake, Gisbert, Kremer, Jacob, Ressurectio Mortuorum. Zum theologischen Verständnis leiblicher Auferweckung, Darmstadt 1992. Harzer, Friedmann, Erzählte Verwandlung (Ovid-Kafka-Ransmayr) Tübingen 2000. Idel, Moshe, Golem. Jewish Magical and Mystical Tradition. On the Artificial Anthropoid, New York 1990. Kržižanovskij, Sigizmund, Sobranie sočinenij v pjati tomach, t. 2, hg. v. Vadim Perelmuter, Sankt-Petersburg 2001. Leber, Hermann (Hg.), E.T.A. Hoffmanns Werke in zwei Bänden, Salzburg-Stuttgart, o. J, 939-1064. Lomonosov, M. V., Polnoe sobranie sočinenj, t. 7, Moskau-Leningrad 1952, 91-378. Nabokov, Vladimir, Metamorphosen, Literaturmagazin 45 (Masken, Metamorphosen), hg. von Delf Schmidt, übers von Dieter Zimmer, Frankfurt a.M., 2000. Schanze, Helmut, »›Der Schlüssel zu allem‹. Anmerkungen zu Goethes Lehre von der Metamorphose und den Anzeichen der Französischen Revolution in der ›Italienischen Reise‹«, in: Diagonal. Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule Siegen zum Thema Metamorphosen (1995), H. 2, 53-62. Slovar’ Puškina, t. 3, Moskau 1959. Pavlovskij, I. J., Russko-Nemeckij slovar’, Riga 1911. Perelmuter, Vadim, Krzyžanowski, Sigismund, Lebenslauf eines Gedankens, Leipzig, Weimar 1991.

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Rullkötter, Bernd, Die wissenschaftliche Phantastik der Sowjetunion, Hamburg 1974. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 2., Stuttgart 1966.

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18.1 Die Affinität zwischen dichterischer Imagination und der Kreativität, die im Träumen stattfindet, lässt nach Unterscheidungen fragen: das sprachliche Kunstwerk und das Traumwerk sind verwandte Schöpfungen, die sich jedoch formal anders präsentieren: der zunächst amorph scheinende Traum einerseits, die Traumkonstruktion in der literarischen Komposition andererseits. Begreift man den Traum als ein Gefüge, als Text, dann sind im Vergleich mit dem literarischen, sprachlich verfassten Text die Ungegliedertheit, die Heterogenität der die Traumsequenzen herstellenden Komponenten, der planlose Verlauf, die Affektivität, die unklaren Erinnerungsspuren Unterscheidungsmerkmale. Allerdings gibt es in der langen Geschichte der Traumpoetik Phasen, in denen just diese Merkmale stilistisch relevant sind. Die Wechselbeziehung zwischen Literatur und Traum, manifester Traumpoetik und der verdeckten Poiesis der Träume ist das Thema neuerer Arbeiten zu Traum und Traumdeutung. Peter-André Alt stellt in der Einleitung zu seinem Werk die Frage »inwieweit Literatur ein epochenspezifisch veränderliches Wissen über den Traum besitzt, das sie mit ihren eigenen Mitteln – in den Ordnungen der Fiktion – verarbeitet.« (Alt 2002) Die Dichter wissen mehr über die Träume als die professionellen Deuter: sie sind nicht nur Traumschöpfer in ihren Texten, sondern auch deren Interpreten. D.h. sie verstehen die Träume als in Sprache verfasste Bilder und sie verstehen sie als Aussagen über den Menschen. Auch die Traumanalytiker und Deutungsspezialisten sind bereit, dieses Traumwissen anzuerkennen und die Traumerzählungen der Dichter ernst zu nehmen. Freud selbst hebt die traumtheoretische Kompetenz der Schriftsteller und Poeten hervor »In diesem Streit über die Würdigung des Traumes scheinen nun die Dichter auf derselben Seite zu stehen wie die Alten (Freud meint die voraufklärerischen Traumdeuter), wie das abergläubische Volk und wie der Verfasser der Traumdeutung (selbst)«. (X, 1969 Freud stellt sich leicht ironisch in eine vorwissenschaftliche Tradition, in Opposition zu Traumtheorien, die dem Traum den »Wert eines seelischen Vorgangs« absprechen, ihn auf rein physiologische Vorgänge reduzieren. Die Dichter aber seien

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den Alltagsmenschen weit voraus, »weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.« (14) So formuliert er in »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva (1907 oder -06). Dazu gehören auch seine Thesen in »Der Dichtet und das Phantasieren« (1908 oder -07). Hier spricht er vom »formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn«, den der Dichter gewähre, im verhüllenden Umgang mit den Tagträumen. (179).

18.2 Andererseits aber sind traumgestaltende Texte von überlieferten oder jeweils aktuellen Traumdeutungsdiskursen mitbestimmt. D.h. Die literarische Traumgestaltung verlässt sich nicht nur auf die Vorgabe des Traums, sondern bezieht auch dessen Interpretationen mit ein, dergestalt, dass Deutungen im Text selbst eine konstitutive Rolle spielen. Die Wechselbeziehung zwischen dichterischem und analytischem Traumwissen ist mithin für Gestaltung einerseits und Thesenbildung andererseits von prägender Bedeutung. Der literarisch gestaltete Traum bringt die Annahmen über den authentisch geträumten Traum durcheinander, besonders dann, wenn der Autor in seinem Traumgebilde Einsichten verrät, die dem Psychoanalytiker zu denken geben. Andererseits ist der fiktionale Traum oft so entworfen, dass er dem Modell ›wirklicher Traum‹ zu folgen scheint, besonders wenn es dem Autor um die Illusion des Authentischen geht oder wenn er sich auf traumanalytische Überlegungen einlässt, die ihm plausibel erscheinen. Dabei ist für Texte des 20. Jahrhunderts von Bedeutung, ob als Wissensquelle ein psychoanalytischer Diskurs Freudscher oder Jungscher Prägung eine Rolle spielt, ob Annahmen der Gehirnphysiologie zur Kenntnis genommen, ob Traumdeutungsthesen aufgenommen oder verworfen werden. Bei Texten vor der Entwicklung der Tiefenpsychologie ist nach anderen Diskursen zu fragen, etwa seelenkundlichen, philosophischen oder naturwissenschaftlichen (medizinischen) und nach der Nachwirkung von traumtheoretischen Werken wie den »Oneirokritika« des Artemidor oder nach dem Einfluss der Traumspekulationen Schopenhauers in seinem »Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt«. (Schopenhauer 1986, 273-372). Zur Wechselbeziehung von traumdeuterischer Instanz und literarischem Traumwissen kommt die textanalytische Position der Literaturwissenschaft. Die Traumproblematik umfasst mithin ein mehrfach besetztes Feld: psychoanalytisch relevanter Traum und fiktionaler Traum, Traum und Traumdeutung, geträumter Traum als Text und literarischer Text als solcher. In diesem textuellen Feld bewegen sich Psychoanalytiker (›gelernte‹ Traumdeuter), Autoren literarischer Texte und Literaturwissenschaftler. (Als Gegenstand einer deutenden, hermeneutischen Bearbeitung unterscheiden sich ›wirklicher‹ und fiktionaler Traum wenig oder gar nicht. Die klassischen strukturalistischen Textanalysen wirken im Übrigen wie methodische Parallelen zur psychoanalytischen Traumdeutung.) Freud verfolgt das analytische Ziel, ›Traumzeichen‹ in ›Wachzeichen‹ zu übersetzen, d.h. einen vernünftigen, kohärenten Text (mithilfe der ›Traumarbeit‹ der Probanden) herzustellen, aus dem die Aktivität des Unbewussten ermittelt werden muss, Ver-

18. Traumerzählung und Traumkonzept – von Puškin bis Kiš

decktes aufgedeckt wird. Freud spricht von Entzifferung die er mit dem Vorgang der Hieroglyphen-Entzifferung vergleicht – das Opake wird in einen Klartext übersetzt.) Dem literaturwissenschaftlich orientierten Analytiker literarisch gestalteter Träume geht es ebenfalls um die Transposition der Traumzeichen in einen Verstehenstext ebenfalls aufklärerisch, ohne jedoch den Charme des anderen, des ästhetischen, Status des eingelagerten Textes zu vernachlässigen. (Transposition ist eigentlich Übersetzung der Traumzeichen in eine syntaktischen und semantischen Regeln gehorchenden Sprache.) In seiner Traumdeutung zitiert Freud den englischen Psychologen James Sully, dessen »The Dream as a Revelation« für die Traum- und die Textanalyse zentrale Begriffe enthält: The chaotic aggregations of our night-fancy have a significance and communicate new knowledge. Like some letter in cipher, the dream-inscription when scrutinized closely loses its first look of balderdash and takes on the aspect of a serious, intelligible message. Or, to vary the figure slightly, we may say that, like some palimpsest, the dream discloses beneath its worthless surface-characters traces of an old and precious communication. (Sully 1893, 354-365) Sullys Traumbeschreibung verdient eine ausführliche Kommentierung. Er spricht von Nachtphantasie, fancy, als einem Organ, das tätig ist und dessen scheinbare chaotische, sinnlose Hervorbringung, balderdash, nicht nur Bedeutung hat, sondern neues Wissen, als Aufdeckung einer alten Botschaft, vermittelt. Sully geht es um die Analyse des Verdeckungsmechanismus der Phantasietätigkeit, den er wohl als erster mit dem Palimpsest-Begriff beschrieben hat. Es geht um Schriftzeichen, letters, die einen geheimen, aber durchaus vernünftigen Sinn haben – einen Text, der entziffert werden muss. Etwas abgewandelt bedeutet das: unter den Oberflächenbuchstaben, characters, die Sully als wertlos bezeichnet, liegt die eigentliche Botschaft. Sullys Schriftmetaphorik legt die Analogie zur Interpretation literarischer Texte nahe. Allerdings ist etwas irreführend, dass er die im Traum ›manifesten‹ Zeichen als wertlos, worthless, bestimmt. Bei Sully gilt, dass die Spannung zwischen manifest und latent gelöst werden muss, indem zum ›Eigentlichen‹, d.h. der Information, vorgedrungen wird; ›worthless‹ bedeutet letztlich, dass die Zeichen nur Vehikel sind und daher keinen Eigenwert haben. Wie dem auch sei, entscheidend hier ist Sullys Entzifferungsidee und die Vorstellung, dass die nächtliche Phantasie, eine Tätigkeit des Unbewussten, einen Text herzustellen vermag, der einen anderen, noch unbekannten, nicht hervortreten lässt, d.h. einen Text, den erst der Analytiker ›zutage‹ fördern kann und der ihm ein neues Wissen über die nächtliche Aktivität vermittelt. Es geht bei der Entzifferung der Traumzeichen darum, den unbekannten Text in einen bekannten umzusetzen. Daran arbeitet nicht nur der Psychoanalytiker, sondern bekanntlich auch der Proband. Der unbekannte Text erweist sich als der wahre, der darüber gelegte als der irreführende, sogar falsche Text. Bei Freud gestaltet sich die Traumarbeit mit ihren Verfahren der Verdichtung und der Verschiebung als eine Arbeit der Semantik, während die sekundäre Bearbeitung des Traumes, die versucht, den Anschein der Absurdität und Zusammenhanglosigkeit zu eliminieren, eine Arbeit der Syntax ist. Sie arbeitet mit Gedanken und Schaltgedanken. Die sekundäre Bearbeitung verdankt sich einer psychischen Funktion, die vom wachen

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Denken kaum zu unterscheiden ist. Sie ist auf Kohärenz und ›Logik‹ ausgerichtet. Allerdings ist die Kohärenzherstellung des Träumers, wie wir von Freud belehrt sind, eine verdächtige Handlung, da sie den wahren Sinn des Traumes überdeckt. Dies ist der springende Punkt auch bei Sully.

18.3 Dem Autor literarischer Traumtexte geht es letztlich nicht nur um dieses Wissen, new knowledge, das ein anthropologisches ist, sondern auch und besonders um die Phänomenebene der Träume und ihre Funktion im Bedeutungsaufbau des gesamten Textes. Die worthless characters sind nicht nur Vehikel, sondern haben einen ästhetischen Eigenwert, der mit ihrer Deutungswürdigkeit konkurriert. Eine Typologie literarischer Träume muss die semantische Funktion des Traumtextes sowie seine Rolle als Text im Text oder als Text über den Text ebenso einschließen wie die bereits erwähnte Frage nach der Verankerung des Traums in einer bestimmten Gattungstradition und der Abhängigkeit von der jeweils relevanten Poetik und nach der Art und Weise, wie ein Autor traumtheoretische Konzepte aufgenommen oder abgewehrt hat, d.h. wie Traumerzählung und traumtheoretischer Diskurs zueinander stehen. Traumerzählungen sind entweder so eingesetzt, dass sie das ›Wach-Geschehen‹ (oder Real-Geschehen) eines gegebenen Erzähltextes kommentieren, symbolisch verstärken und auf seine Essenz reduzieren, oder indem sie wie eine Art ›Gegentext‹ wirken, der den primären Text, den Oberflächentext infrage stellt und sich als der ›eigentliche‹ Text präsentiert. Man kann von zwei miteinander in Wechselbeziehung stehenden ontologischen Ebenen in Texten sprechen, die Traumerzählungen einbetten oder umrahmen. Dabei handelt es sich um zwei Stufen von Fiktionalität: der Traumtext repräsentiert gewissermaßen eine potenzierte Fiktionalität, ein gesteigertes ›als ob‹. Diese Wechselbeziehung gestaltet sich zudem unterschiedlich, je nach dem, ob ein bestimmtes Genre den Traum erfordert, begünstigt oder motivieren muss, welche Poetik vorherrscht, in Abhängigkeit von geltenden Wirklichkeitsvorstellungen und der Bewertung tradierter Traumdeutungen. (Zur Genre-Poetik der menippeischen Satire, deren Geschichte von der Antike bis in die Neuzeit verfolgt werden kann, gehört der Traum, dessen Phantastik nicht motiviert werden muss. Im realistischen Roman dagegen wird das Traumgeschehen häufig begründet, die Traumfunktion expliziert.).

18.4 Traumpoetiken, stehen im Wechselverhältnis mit epochenspezifischen Stilkonventionen, wobei der Traumtext in die stilistische Ordnung des »Wachtextes« gehört oder ihr widerspricht. D.h. die Traumpoetik kann gegen die den Gesamttext bestimmende Poetik ›verstoßen‹. Die Traumsprache erlaubt dem Autor Lizenzen: Hypertrophie, Überschreitungen des für den Wachtext geltenden stilistischen Dekorums. Abhängig von der Erzählperspektive wird das Traumgeschehen von innen, als erlebtes, oder von außen, als beobachtetes entworfen. Dabei geht es um den ›Realitätsgrad‹ des Geträumten. Die

18. Traumerzählung und Traumkonzept – von Puškin bis Kiš

Unschlüssigkeit bezüglich der Einschätzung der Traumbotschaft als sinnhaft oder als zu verwerfender Unsinn wird von vielen Autoren dem Erzähler oder Protagonisten aufgetragen. Man kann hier von einem textinternen Deutungstopos sprechen. Das trifft für Erzählungen von E.T.A. Hoffmann zu, etwa für die Äußerungen Bickerts, einer Figur in der Erzählung »Der Magnetiseur«. Bickert, der zunächst von willkürlichen, selbstgemachten Träumen sprach, ergreift in der Gesprächsrunde (einer Institution, die der Text kommentiert) zum Thema Traum das Wort: Wie gesagt, von diesen gleichsam willkürlich erregten Träumen rechne ich jeden ab, den eine besondere durch äußere Zufälle herbeigeführte Gemütsstimmung, oder ein äußerer physischer Eindruck erzeugt. So werden alle diejenigen Träume, welche beinahe jeden bisweilen quälen, als da sind: vom Turm fallen, enthauptet werden u.s.w. von irgend einem physischen Schmerz erzeugt, den der Geist, im Schlaf von dem animalischen Leben mehr getrennt und für sich allein arbeitend, nach seiner Weise deutet und ihm die fantastische Ursache gibt, die gerade in die Reihe seiner Vorstellungen paßt. Ich erinnere mich, im Traum in einer lustigen Punschgesellschaft gewesen zu sein; ein mir wohlbekannter Bramarbas von Offizier zog unaufhörlich einen Studenten auf, bis dieser ihm ein Glas ins Gesicht warf; nun entstand eine allgemeine Schlägerei, und ich, der ich Frieden stiften wollte, wurde hart an der Hand verwundet, so, daß der brennende Schmerz mich weckte – und siehe da! – meine Hand blutete wirklich, denn an einer starken in der Bettdecke verborgenen Nadel hatte ich sie aufgerissen. (Hoffmann 1983,178-225) Hoffmann kennt zweifellos traumphysiologische Annahmen der Zeit, die er dem aufklärerisch gesonnenen Bickert in den Mund legt. Im selben Text lässt Hoffmann einen Magnetiseur auftreten, der somnambule Zustände herzustellen vermag und auf diese Weise eine junge Frau in somnambule Abhängigkeit bringt, sie in einen Traumzustand versetzt und darin zu beherrschen vermag. Hoffmann kennt die SomnambulismusTechniken seiner Zeit, er kennt aufklärerische und antiaufklärerische Erklärungsmuster und deren Autoren und er versteht sich selbst als Autor traumverwandter Texte und sieht sich inspiriert vom Traum-Gott Oneiros, wie er einmal äußert. Traum und Phantastik gehen in der Romantik (nach der Ernüchterung der Aufklärung) eine enge Verbindung ein, und lassen die Romantik als eine Traumproduktions- und -Deutungsinstanz hervortreten, wobei die wegzensierte Funktion des Prognostischen und Prophetischen wieder aufgenommen wird. (der phantastische Text erscheint als Traumtext – Traum und Phantasma bedingen einander. Folgende These Foucaults in seinem Kommentar zu Binswangers Arbeit »Traum und Existenz« ließe sich insbesondere auf diesen Aspekt der Romantik beziehen: »Jeder Akt der Imagination verweist implizit auf den Traum. Der Traum ist keine Modalität der Imagination, er ist deren erste Bedingung der Möglichkeit.« Die Romantik legt eine Traumanthropologie nahe, der Hoffmann in seiner Rezeption der Naturphilosophie folgt, die für ihn durch Gotthilf Heinrich Schuberts »Die Symbolik des Traums« (1814) repräsentiert ist. Aber Schubert zählt zu den in der Dialektik der Aufklärung Gefangenen, denen es um das Geheimnis des Verborgenen geht, nicht vornehmlich um eine Übersetzung des ›Dunklen‹ der Seele in rationales Licht. Nach Schubert ist es der Traumtheoretiker Schopenhauer, der postromantische,

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ja auch realistische Schriftsteller mit seiner den Traum einschließenden Leben-TodThese beeindruckt hat. Puškin hat Schubert nicht gekannt, aber der Traum, den er in »Евгений Онегин« (1833, »Evgenij Onegin«) die liebeskranke Tatjana träumen lässt, verrät seine Vertrautheit mit den onirischen Verfahren der Romantik, die er auch in anderen seiner Texte anwendet (der Traum Grinevs in »Капитанская дочка« (»Die Kapitänstochter«). Tatjanas (mehrfach ausführlich interpretierter) Traum ist vom Typ der prophetischen Träume; er antizipiert sowohl die Zukunft der Träumenden selbst als auch das Schicksal Lenskijs. Märchenmotive und Elemente der schauerromantischen Tradition – umringt von bedrohlichen Gestalten erscheint Onegin als Dämon, das Mordmesser in der Hand – werden von den grotesken Zwitter-Figuren übertroffen, die eine Art Karneval vorführen. Bemerkenswert ist, dass Puškin mit der Phantastik dieses Traums den zweiten Teil seines ›Romans in Versen‹ gewissermaßen in einer andern Tonart komprimierend vorwegnimmt: die Zeile »И снится чудный сон Татьяне« (Und es träumt Tatjana einen wundersamen Traum) eröffnet im 5. Kapitel die Strophen XI-XXI, kurz nach der Textmitte. In den darauf folgenden Strophen XXII-XXIV geht es um den Versuch der Traumdeutung der in Verwirrung Aufwachenden. Puškin nimmt den lockeren, anspielungsgesättigten Duktus der Erzählerrede wieder auf, der auch die Schilderung der Suche nach der Traumdeutung färbt: die Viel-Leserin greift zum Buch des Traumdeuters, »гадатель снов«, des weisen Chaldäers Martyn Zadeka. Mit einem ironischen обнажение приема (Entblößung des Verfahrens) – der alphabetischen Aufzählung seiner Bestandteile, die bei »м« abbricht (»бор, буря, ведьма, ель, еж, мрак, мосток, медведь, мeтель«) wird die Analyse des Traums erfolglos abgeschlossen. Zur Traumphantastik passt auch, dass Puškin, obgleich Romantik-Skeptiker, der einen parodistischen Tonfall bevorzugt, bereits im ersten Kapitel von »творческие сны« (1. LV, 4) (schöpferischen Träumen), denen die Entstehung des Romans zu verdanken sei, spricht. Dies wird im letzten Kapitel wieder aufgenommen, wo es heißt, dass die Figuren Tatjanas und Onegins »в смутном сне« (8. L, 10) (in wirrem Traum) erschienen sind. Die Entstehung des Textes aus dem Traum verbindet sich mit dem volksmythologischen Moment der Wahrsagerei, bei der das »магический кристал« (8. L, 14) (das magische Kristall) seine Rolle spielt. Der Autor erscheint als Zauberer und schöpferischer Träumer. Der Traum wird zur Instanz, die für den Versroman in seiner komplizierten, viele stilistische Register ziehenden Gestalt verantwortlich ist – und den Romantik-Skeptiker gerade darin doch auch als Romantiker erkennen lässt.

18.5 Der Traum, der in der Romantik einen seiner poetischen Höhepunkte erlebt, konkurriert mit dem Traum, der zur Poetik des Genres der menippeischen Satire gehört. Michail Bachtin hat dessen Weiterentwicklung verfolgt und darin die Neigung zur Hervorbringung immer neuer Träume hervorgehoben. In der menippeischen Satire werden neben den Träumen auch Halluzinationen, Wahnsinn und Metamorphosen zum Thema, werden außerirdische Bereiche (Unterwelt und Kosmos) mit einbezogen und Figuren mit instabiler Identität (Doppelgänger, Verwandelbare) entworfen. Als proteisches

18. Traumerzählung und Traumkonzept – von Puškin bis Kiš

Genre missachtet die Menippea, wie Bachtin ausführt, die Normen der etablierten Gattungen hinsichtlich ihrer Geschlossenheit und strukturellen Reinheit durch Grenzüberschreitung und Hybridisierung. Der menippeische Traum erwächst aus dem Spiel mit dem Unmöglichen. Das Unmögliche, das ›Adynaton‹ (wie es bei Aristoteles und in der rhetorischen Tradition heißt) ist als eine Gedankenfigur zu bezeichnen, die es erlaubt, die bestehende Ordnung nicht nur als ihr absolutes Gegenteil zu imaginieren, sondern auch als etwas ganz anderes, das nach unbekannten Gesetzen funktioniert. Zum Unmöglichen gehören Reisen in den Kosmos, die oft auch als Traumreisen inszeniert werden, so besonders in der menippeischen Satire. Die Geschichte der Gattung Menippea, die Bachtin von der Antike bis in Erzählwerke des 19. Jahrhunderts verfolgt, schließt die Erzählung »Сон смешного человека« (»Traum eines lächerlichen Menschen«) aus dem Spätwerk Dostoevkijs ein. Für diesen Traum bedarf es keiner Motivierung, der Traum ist erwartbares, frequentes Moment in der menippeischen Tradition. Dem Träumenden wird der Eintritt in fremde Welten gewährt; eine phantastische Reise in das Weltall wird zum Trauminhalt. Der Traum in dieser Erzählung (also ein konstruierter, literarischer Traum) repräsentiert die Möglichkeit eines gänzlich anderen Lebens, das als ›verkehrte Welt‹ entworfen wird. Dostoevskijs oxymoraler Held, ein weiser Dummkopf, durchlebt in seiner Traumreise alle Stadien des Menschengeschlechts: das Paradies auf einem unbekannten Stern, und das heißt die Utopie einer Menschheit vor dem Sündenfall, und hernach die Menschheit nach ihrem Absturz aus der göttlichen Gnade. Dostoevskij nutzt das menippeische Potential für die Verbindung des phantastischen TraumChronotops mit einem religiös getönten Topos, der in der pessimistischen (nahezu katastrophistischen) Erkenntnis von Schuld und dennoch Weiterleben des aus dem Traum Erwachenden zum Ausdruck kommt. Мы неслись в темных и неведомых пространствах. Я давно уже перестал видеть знакомые глазу созвездия. Я знал, что есть такие звезды в небесных пространствах, от которых лучи доходят на землю лишь в тысячи и миллионы лет. Может быть, мы уже пролетали эти пространства. Я ждал чего-то в страшной, измучившей мое сердце тоске. И вдруг какое-то знакомое и в высшей степени зовущее чувство сотрясло меня: я увидел вдруг наше солнце! Я знал, что это не могло быть наше солнце, породившее нашу землю, и что мы от нашего солнца на бесконечном расстоянии, но я узнал почему-то, всем существом моим, что это совершенно такое же солнце, как и наше, повторение его и двойник его. Мы неслись в темных и неведомых пространствах. Я давно уже перестал видеть знакомые глазу созвездия. Я знал, что есть такие звезды в небесных пространствах, от которых лучи доходят на землю лишь в тысячи и миллионы лет. Может быть, мы уже пролетали эти пространства. Я ждал чего-то в страшной, измучившей мое сердце тоске. И вдруг какое-то знакомое и в высшей степени зовущее чувство сотрясло меня: я увидел вдруг наше солнце! Я знал, что это не могло быть наше солнце, породившее нашу землю, и что мы от нашего солнца на бесконечном расстоянии, но я узнал почему-то, всем существом моим, что это совершенно такое же солнце, как и наше, повторение его и двойник его (1958, 430).

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Wir schwebten in dunklen und unbekannten Räumen. Schon längst waren die meinen Augen vertrauten Sternbilder verschwunden. Ich wußte, daß es in den Himmelsräumen Sterne gibt, deren Strahlen erst in Jahrtausenden oder Jahrmillionen die Erde erreichen. Wir aber hatten vielleicht schon diese Entfernungen durchmessen. Ich wartete auf irgend etwas in einer furchtbaren Spannung, in der mein Herz vor Qual zu ermatten drohte. Und auf einmal überkam mich ein bekanntes, unendlich anziehendes Gefühl, das mich erschütterte: ich erblickte plötzlich unsere Sonne! Ich wußte, daß es nicht unsere Sonne sein konnte, die unsere Erde geboren hat, und daß wir uns von unserer Sonne in einer unendlichen Entfernung befanden, trotzdem aber erkannte ich irgendwie mit allen Spürsinnen meines Seins, daß es genau die gleiche Sonne war, wie die unsrige, ihre Wiederholung und ihre Doppelgängerin (1977, 732; Übers.: E. K. Rahsin). Die Traumreise des lächerlichen Menschen ins utopische Land der Sündenlosigkeit und der noch nicht straffällig gewordenen Menschheit hat zwar eine religiös-ethische Ausrichtung (die letztlich überwiegt), doch lässt die Entdeckung unbekannter Reize des Weltalls, die sich dem schweifenden Blick des kosmischen Somnambulen eröffnen, auf die Lust an eben jener freien Phantastik schließen, die als charakteristisch für das Genre angeführt wird. Der Traum als Spielart menippeischer Phantastik, mit dem ontologischen Status des Irrealen (mit science-fiction-Zügen) hat gleichwohl eine Botschaft zu vermitteln: der Traum ist hier das Medium. Die Traumtätigkeit in dieser Erzählung erscheint wie eine Art Konkurrenz zur Phantasie, der Einbildungskraft im Wachzustand.

18.6 Viele Autoren sind am Phantasmatischen des Traums eher als an seiner psychologischen Motivierung interessiert. Und das gilt sogar dann, wenn das Mimetische überwiegt und ein Realismuskanon Geltung hat. Der Traum, das Träumen, für das der Träumende nicht verantwortlich gemacht wird, wird erzähltechnisch auch als Motivierung oder Verschleierung des Phantastischen eingesetzt. Dann heißt es zum Beispiel: »Er schlief ein« – und später: »da wachte er auf«, und in der Traumzeit geschehen die phantastischen Dinge, die der Autor nur damit legitimieren kann, dass er sie als irreale bezeichnet. Der literarische Traum, der Traum genannt wird, weil er Irreales, Wunderbares oder Entsetzliches, Anrüchiges, Verwerfliches zur Sprache bringen kann, ohne Rechenschaft für die Phantasmen ablegen zu müssen, hat seinen Auftritt auch im realistischen Roman. Gerade im Realismus kann der Traum das von einer durch Aufklärung quasi geläuterten Poetik Ausgesparte, Verschwiegene ins Bild setzen, er kann den Träumenden ersehnte, unmöglich gewordene Welten erleben lassen und den Diskurs des Wachtextes beunruhigen. Das gilt für das ausgelassene Kapitel »У Тихона« (»Bei Tichon«) aus Dostoevskijs Бесы (Die Dämonen) falls man diesen Roman umstandslos zum Realismus rechnen kann. Stavrogin verfällt in Dresden nach dem Besuch der Galerie und der wiederholten Besichtigung von Claude Lorrains Gemälde »Acis und Galatea«, das Stavrogin als Bild des Goldenen Zeitalters bezeichnet – jener Menschheitsepoche ohne das Böse, in einen Traum. Er träumt sich in das ощущение, Gefühl, hinein, dies[es Zeit-

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alter] wahrgenommen zu haben. Stavrogin berichtet, dass er etwas so Schönes, Idyllisches geträumt habe, dass es ihm unmöglich sei, es wiederzugeben: »Словами это не передашь« (63). Dostoevskij verweist in seinen »Записные тетдради«, Aufzeichnungen von 1935 auf etwas in der Wirklichkeit, das sich nicht erfassen lasse, etwas von der Art des »подспудного, невысказанного будущего Слова« (179) (des unterschwelligen, nicht ausgesprochenen zukünftigen Wortes) Dieses Nicht-Ausgesagte entspricht der Unsagbarkeit der Stavroginschen Traumerfahrung, die er dennoch zu vermitteln sucht. Stavrogin ist ja der Erzähler seines Traums und zugleich dessen Kommentator, der dem als Beichtvater erkorenen Starzen Tichon die Traumsymbolik (von Schuldlosigkeit und Schuld) nahe bringen will. Er berichtet über die einzelnen Phasen des Traums, seinen Wunsch, nochmals einzuschlafen, um die Beglückung weiter auszukosten, und er berichtet von dessen plötzlichem Ende durch das Auftauchen der roten Spinne, die der Erscheinung Matrešas vorausgeht. Das Mädchen droht ihm mit der kleinen Faust.1 (Die Symbolik wird lautlich instrumentiert: паучок-кулачок/pautschokkulatschok/Spinnchen-Fäustchen) Dieser erzählte Traumdiskurs ist zweifach bedeutsam: dass sich Stavrogin von dieser Traum-Erscheinung zu einer selbstanklägerischen, egozentrischen Publizierung seines Vergehens an dem Kind genötigt sieht, was Tichon als pure Eitelkeit und nicht als Beichte zurückweist, ist das eine, das andere ist die herbeizitierte Szenerie von Dresden und Gemäldegalerie, wobei das Bild Claude Lorrains das Eintauchen in die Harmonie einer vorgeschichtlichen Welt suggeriert. Einer Welt mithin, die zum Gegenstück jener wird, in der sich das verästelte katastrophische Geschehen des Romans abspielt. Der als Text rekapitulierte Traum – in seinem glücklichen Teil – ›entlarvt‹ das im Wach- und Haupttext Erzählte. Neben den vom Erzähler oder vom Träumenden selbst erzählten Träumen, die im Gefüge des ›Oberflächentextes‹ mit ihren jeweiligen Funktionen ihr semantisches Potential entfalten, gibt es Fälle einer Isolierung des Traums als eigene narrative Einheit, die den Traumtext zum Text im Text macht. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Traumerzählung im Kapitel »Сон Обломова« (»Oblomovs Traum«) in Gončarovs Roman Обломов. Es ist ein Traum, der im Genre der Idylle gestaltet ist (Lachmann 2002). Der Verzicht auf eine psychologisierende Traumsimulation, wie sie in Texten des Realismus durchaus anzutreffen ist, zeigt die Möglichkeit der Traumerzählung, auf einer zweiten fiktionalen Ebene eine in sich geschlossene, eigenen Gesetzen folgende Welt erstehen zu lassen. Oblomov, der als Typ des exzentrischen Faulpelzes, im Bett liegend – umgeben von seinen topisch gewordenen Attributen Schlafrock, Nachtmütze und Pantoffel – vorgestellt wird, träumt sich in die umfriedete Enklave des gelobten Landes der Kindheit und damit in den Schoß der Ländlichkeit, den Schoß der Familie und den der Mutter zurück. Dieser Traum motiviert, erzähltechnisch gesehen, die Entfaltung einer russischen Idyllenszenerie, die zugleich als Rekonstruktion eines verlorenen Glückszustandes und als satirische Zeichnung einer Gegenwart und Zukunft gefährdenden Rückständigkeit erscheint. Die Verrückung der Idylle in den Traum entlastet

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Das Kapitel »Неизданная глава романа Бесы« (Das nicht veröffentlichte Kapitel aus Die Dämonen) in Byloe 1922, 18, 219-252, erstveröffentlicht, zitiere ich nach der New Yorker Ausgabe »У Тихона. Пропущеннная глава из романа Бесы« (1964). (Bei Tichon. Das ausgelassene Kapitel aus dem Roman Die Dämonen.)

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den aufgeklärten realistischen Erzähler von jeglichem Legitimationszwang, die Idylle erscheint als infantiles Traumgesicht. Freilich vermeidet Gončarov durchweg, den Status des Idyllischen zu bestimmen. Der Erzähler lässt den Träumenden nicht selbst sprechen, sondern usurpiert dessen Instanz, indem er dessen Erleben des ›anderen Zustandes‹ auktorial darstellt und sich das Recht nimmt, die idyllische Weltwahrnehmung durch Kontrastierung mit den Anforderungen der realen (außerhalb der Traumwelt existierenden) Welt ironisch zu kommentieren. Diese durch den Traum legitimierte asoziale, den Fortschritt hintertreibende Haltung, die den Namen »обломовщина« (Oblomoverei) erhielt, ist nun das Ärgernis, das Anlass gab, den Idyllentraum als abschreckendes Programm einer nationalen Selbstbehinderung zu lesen, und Oblomov zur populärsten Figur der negativen Eigenbestimmung des Russischen avancieren ließ. »Oblomovs Traum« ist Text im Text, zugleich aber auch als Scheitern der konservativen Utopie ein breit entwickeltes Argument, das dem realistischen Diskurs zuarbeitet, und von daher auch ein Text über den Text. (Bekanntlich hat kaum ein literarischer, konstruierter Traum eine so kontroverse, rein ideologisch ausgerichtete Interpretation erfahren wie dieser. Sozialrevolutionäre und Kommunisten, Lenin darunter, haben sich daran beteiligt.)

18.7 Es ist keine Frage, dass der Traum im (romantischen und postromantischen) phantastischen Text auf die Stufe der Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Zweiten Gesichte gerät und vom textinternen Traumdeuter (Erzähler oder Protagonist) in den Bereich der Unentscheidbarkeit, Unschlüssigkeit gerückt wird. Während die Traumerzählung bei Gončarov von der Gattung der Idylle bestimmt ist und sich offenbar an keinem seelenkundlichen Traumdiskurs der Zeit orientiert, lässt sich eine solche Abhängigkeit für eine der späten Erzählungen Turgenevs behaupten (Koschmal 1984). »Клара Милич. После смерти« (»Klara Milič. Nach dem Tode«), eine in Frankreich geschriebene Erzählung, hat Turgenev ebenso wie andere seiner späten phantastischen Erzählungen Maupassant und Flaubert vorgelesen. In seinem poetologischen Essay von 1883, »Le fantastique«, hat Maupassant darauf reagiert. Mit dem Begriff »hésitation« den Maupassant in diesem Essay einführt, versucht er jenes Moment der Unschlüssigkeit zu bestimmen, das bei der Lektüre eines phantastischen Textes unweigerlich auftritt (o.J. 255). (Der Begriff »hésitation« hat Karriere gemacht; Tzvetan Todorov hat ihn in seiner Studie über das Phantastische aufgenommen (1970). Bei Maupassant heißt es: Il (d.h. der Schriftsteller, R. L.) a trouvé des effets terribles en demeurant sur la limite du possible, en jetant les ȃmes dans l’hésitation, dans l’effarement. L’extraordinare puissance terrifiante d’Hoffmann et d’Edgar Poe vient de cette habileté savante, de cette faon particulière de coudoyer le fantastique et de troubler avec des faits naturels où reste pourtant quelque chose d’inexpliqué et de presque impossible (232). In der Tradition dessen, was Maupassant hier zu Hoffmann und Poe sagt, erscheint auch Turgenev, in dessen Erzählungen er ein »inconnu inexpliqué« hervorhebt (237). Für die postrealistische (frühsymbolistische) Erzählung Turgenevs gilt dieses Unschlüs-

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sigkeitsmoment in besonderem Maße. Die Erzählung ist von einer Traumsemantik geprägt, die Halluzination, Wahnvorstellung, zweites Gesicht umfasst, und dem Todesthema gilt. Es geht um die merkwürdige Leidenschaft eines an Experimenten mit photographischen Bildern interessierten Mannes für eine Schauspielerin, eine Leidenschaft, die nach deren Selbstmord einsetzt und mit der Projektion eines Photos der Toten in verdunkelter Kammer verbunden ist. Die Tote erscheint auf der Photographie als Traumgesicht, das sich bewegt, den Betrachter anblickt und in einen todbringenden Liebeswahn stürzt. Zum einen spielt hier die Phantasmatisierung des technischen Mediums der Photographie eine Rolle, zum andern aber ist es Schopenhauers Traumphilosophie, die hier direkt und indirekt als begleitender Diskurs herangezogen werden kann. In seinem »Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt« von 1845 bezieht sich Schopenhauer auf medizin- und seelenkundliche Abhandlungen, Berichte über psychologische Experimente sowie auf Erfahrungsberichte von Seelenärzten und Magnetiseuren Bei der Wahrnehmung ohne Sinne wird das »Traumorgan« aktiv, das im magnetischen Schlaf und Somnambulismus bestimmende Instanz ist. Schopenhauer, wie später Freud, beruft sich ausführlich auf die Traumtypologie des Artemidorus von Daldis, nimmt dessen Unterscheidung zwischen »theorematischen« und »allegorischen« Träumen auf und führt durch die Hinzufügung eines dritten Typs, den der »Ahndung«, in die relevanten Fallgeschichten ein. Die allegorischen Träume bedürfen einer Übersetzung, um verstanden zu werden. Artemidorus hat eine für diesen Zweck taugliche Symbolik entwickelt. Schopenhauer verweist präfreudianisch auf die »ganz eigentümliche, dem Träumenden sonst völlig fremde, dämonische Schalkhaftigkeit des Witzes, mit welchem die Allegorie angelegt und ausgeführt ist« (87). Für ihn bleibt der Traum die Grundoperation, die er im magnetischen Schlaf, der nur eine Steigerung des natürlichen Traumes sei, und dem Hellsehen als einer tieferen oder höheren Potenz des Träumens wieder erkennt. Es geht um die »Allwissenheit« (88) im Traum, die »gesteigerte Erkenntniskraft« (ebd.), aus der er schließt, dass es trotz Schlaf und angenommenem Ruhezustand eine Gehirntätigkeit gebe. Er verweist jedoch immer wieder auf Fälle, die ohne physiologische Vorbereitung des Körpers auftreten können, wobei ihn insbesondere solche interessieren, bei denen der Seher bald nach der Halluzination stirbt. Die Parallelen zu dem Traum- und Halluzinationsgeschehen in »Klara Milič« sind augenfällig. Dass für die Todesthematik hier auch Mesmerismus und die Magisierung der Fototechnik ihre antiaufklärerische Rolle spielen, steht außer Frage. Mit wachsender Plausibilität gelingt Turgenev die Herstellung einer semantischen Zweistufigkeit seines Erzähltextes durch die Konstruktion von Traumsequenzen, die, mit Halluzinationen konkurrierend, die narrative Syntax bestimmen. Turgenevs Protagonist Aratov sieht zwei mit opulenter Symbolik ausgestattete Träume, in denen literarische, mythologische und märchenhafte Motive verknüpft sind. In einem der Träume erblickt Aratov eine verschleierte Frau als Statue (Alkestis-Allusion), in einer weiteren Szene sieht er sich als Toten zusammen mit ihr auf einer Grabplatte liegen – Romeo und Julia –, der Traum endet mit dem Ruf der Toten, die ihn in ihr Reich lockt – eine Umkehrung des Orpheus- und Eurydike-Mythos. Der zweite Traum präsentiert eine Art Totentheater, in dem ein affenähnliches Wesen, ein Giftfläschchen in der Hand haltend, den Tod mimt, die Giftselbstmörderin Klara im Theaterkostüm unter Bravo-Rufen einzieht, und ein boshafter Zuschauer dem Träumenden zuruft, dass dies alles nicht etwa

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als Komödie, sondern als Tragödie zu enden habe. Turgenevs Traumkompositionen, die traumähnlichen Halluzinationen, deren intertextueller Bezug zum Diskurs des Autors des Geistersehens deutlich ist, ließen sich zweifellos wegen des durchdringenden erotischen Moments auch einer tiefenpsychologischen Analyse unterziehen. Traumerfahrung als Jenseitserfahrung ist der eine Punkt der schopenhauerischen Theorie, der andere bezieht sich auf die Traumaktivität, die er beschreibt, als handele es sich um das Unbewusste avant la lettre. Dieses Unbewusste, ein Physikalisch-Metaphysisches, steht anders als bei Freud nicht für ein Verdecktes, sondern unverhüllt für den Tod. Das ist auch die Pointe dieser Erzählung. Der Traum erscheint wie eine Repräsentation der »hésitation«, der Unschlüssigkeit in diesem semantischen Raum zwischen vermuteter und entzogener Wirklichkeit, jenem Raum, den Maupassant als »sur la limite« bezeichnet hat. Es ist nicht von ungefähr, hier auch Ksaver Šandor Gjalskis Erzählung »San doktora Mišića« (1890) (Der Traum des Doktor Mišić) zu nennen: das erotische Moment mit seiner postmortalen (und nekrophilen) Pointe, die Todesthematik und der SchopenhauerDiskurs verbinden die beiden Texte. Aleksandr Flaker hat auf den Zusammenhang der Erzählungen auch mit Hinweis auf Schopenhauer in seinem Artikel »Hrvatska novela i Turgenjev« (Die kroatische Novelle und Turgenev) (Flaker 1956) nachdrücklich hingewiesen. Wie Turgenevs Aratov reagiert der Träumende bzw. Halluzinierende Mišić auf das Fremde, das ihn heimsucht, zunächst als aufgeklärter Skeptiker, bis ihn die Macht des ganz ›Anderen‹ überwältigt. Gjalski, der in der Erzählung sowohl Schopenhauers Traumtheorie (Stančić 1994) als auch das Oneirokritikon zitiert, lässt sich eine Pointe einfallen, die von den Traumtheorien so nicht vorgesehen ist. Das Traumgesicht erlaubt nicht nur, den Körper der unbekannten Schönen zu sehen und zu lieben, sondern auch deren Tötung ›vorauszuträumen‹. Die Tageswirklichkeit deckt hernach tatsächlich den Mord an einer Zigeunerin auf, deren Leiche aus forensischen Gründen seziert werden muss. Mišić, der Träumer, wird als Mediziner am Ort mit dem Sezieren beauftragt. Gjalski lässt seinen Protagonisten die Erotik der Traumszene in der Szene der Nekrophilie wiederholen: Ogromno nježno tronuće spusti mu se u cijelu unutrašnjost, i bilo mu je da poćuti potrebu, dirnuti se usnama mrtvoga lica. Fantastično zabrode mu glavom misli i u nekom stranom zanosu uzme govoriti poluglasno da je ona njegova, da mu je dosuđena, […] pa sada uze mrtvaca ljubiti ne tek po licu, već i kosu i ramenice i grudi i ruke obaspe cjelovima (112-113).   Ein gewaltiges Gefühl der Zärtlichkeit erfüllt sein Inneres und er spürt den Drang, das tote Gesicht zu berühren. Phantastische Gedanken irren in seinem Kopf. In einer Art Entzückung beginnt er halblaut zu sagen, dass sie die seine sei, dass sie ihm vom Schicksal bestimmt sei […]. Nun beginnt er die Leiche zu umarmen und bedeckt Gesicht, Brust, Haar, Schultern, Arme mit Küssen. (Übers.: R. L.).2 2

Roger Caillois hat die Erzählung in seine Anthologie Puissances du rêve (1962) aufgenommen. Die kroatische Übersetzung der Cailloisschen Anthologie »Moći sna« (1983, 84-118) enthält die GjalskiErzählung im Original (während sie in die zweibändige Ausgabe seiner realistischen Erzählungen nicht aufgenommen wurde).

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Die (letztlich) unerfüllte Liebe zum Phantom, wird zur erfüllten Nekrophilie, die tödlich endet. Es ist das Leichengift, mit dem der tote weibliche Körper den Liebenden tötet. Es ist ein Körper, der trotz chirurgischer Sezierung in den Bereich des Arkanen, in die Welt des Traums und der seltsamen Gesichte gehört. Auch hier ist wie bei Turgenev der Traum der semantische Leitfaden der Erzählung; er repräsentiert die eigentliche ›Seinsebene‹, die von der realistischen Rahmung, die der Erzähler liefert, gleichsam gebahnt wird.

18.8 Über die Rolle der Freudschen Theorie in Texten des 20. Jahrhunderts ist ausführlich geschrieben (Heise 1989, 219-274). Texte des 20. Jahrhunderts sind traumtheoretisch bestens informiert. Die ›Traum-Lehren‹ von Freud und Jung sind ebenso bekannt wie die Traumtexte des Surrealismus. Interessant sind Texte, die eher spielerisch, jedenfalls unorthodox mit der klassischen Traumdeutung umgehen, oder sie rundweg ignorieren, was sich insbesondere die Autoren der sog. Neophantastik erlauben. Von Jorge Luis Borges stammt eine erstaunliche Erzählung, die dem Traum in seiner bestürzenden Semantik gewidmet ist. »Las ruinas circulares« (»Die kreisförmigen Ruinen«) aus »Ficciones« (»Fiktionen«) hat das Motto: »And if he left off dreaming about you«, das Lewis Carrol’s »Through the Looking-Glass« entnommen ist. Der Träumer (mit den Zügen eines Magiers) will einen Menschen erträumen: El proposito que lo guiaba no era imposible, aunque sí sobrenatural. Quería soñar un hombre: quería soñarlo con integritad minuciosa e imponerlo a la realidad (1996, 70).   Der Vorsatz, der ihn leitete, war nicht unmöglich, wenn auch übernatürlich. Er wollte einen Menschen erträumen (er wollte ihn bis in die kleinste Einzelheit erträumen und ihn der Wirklichkeit aufzwingen) (1999, 47). Er tritt in Kontakt mit seinen Traumphantasmen, deren Würdigkeit er prüft, ins wirkliche Leben aufgenommen zu werden. Die angewendete Methode erweist sich als ineffektiv: Comprendió que el empeño de modelar la materia incoherente y vertiginosa, de que se componen los sueños es el más arduo que puede acometar un varón, auque penetre todos los enigmas del orden superior y del inferior […] (1996, 73).   Er begriff, dass die Aufgabe, den zusammenhanglosen und schwindelerregenden Stoff, aus dem die Träume sind, zu formen, die schwierigste ist, die ein Mann in Angriff nehmen kann, wenn er auch alle Rätsel der höheren und niederen Ordnung erschlösse […] (1999, 48). Er beginnt, verschiedene Methoden des Träumens auszuprobieren: Stück für Stück träumt er sich – einem Schöpfer-Demiurgen vergleichbar – einen Menschen, seinen Sohn, zusammen:

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Soñó un hombre íntegro, un mancebo, pero éste no se incorporaba ni hablaba ni podía abrir los ojos. Noche tras noche, el hombre lo soñaba dormido (1996, 74).   Er träumte einen voll ausgebildeten Menschen, einen Jüngling; doch richtete dieser sich weder auf, noch sprach er, noch konnte er die Augen öffnen. Nacht für Nacht träumte ihn der Mann schlafend (1999, 49). Borges steigert das Phantasma-Spiel bis zur Pointe, dass der Traumschöpfer eines Simulakrums sich selbst als Simulakrum entdeckt. Temió que su hijo meditara in esse privilegio anormal y descubriera de algún modo su condición de mero simulacro. No ser un’ hombre, ser la proyección del sueño de otro hombre […] (1996, 77). Con alivio, con humillación, con terror, comprendió, que él también era una apariencia, que otro estaba soñándolo (1996, 78).   Er befürchtete, sein Sohn könne über dieses ungewöhnliche Vorrecht nachsinnen und irgendwie entdecken, dass er ein bloßes Scheinbild war. Kein Mensch, nur die Projektion des Traums eines anderen Menschen zu sein […] (1999, 51). Erleichtert, erniedrigt, entsetzt begriff er, dass auch er nur ein Scheinbild war, dass ein anderer ihn träumte (1999, 52). Borges entwickelt aus dieser mit mythenhaften Elementen ausgestatteten Traumerzählung (die letztlich auch in die Tradition der Menippea gehört) seine Ontologie des Scheins, bzw. des Scheins des Scheins. Das Träumen, Erträumen erscheint als demiurgischer Akt, der scheitert. Borges zeigt dieses Scheitern in der beunruhigenden Mehrstufigkeit der Irrealisierung. Milorad Pavić, der wie Borges als Vertreter der Neophantastik bezeichnet werden kann, entwirft in »Hazarski rečnik« (1982) eine Mythopoetik des Traums, deren Essenz sich der Herkunft aus verschiedenen Kulturen und der Prägung durch drei Religionen verdankt. In der jüdischen Version der chasarischen Geschichte äußert der Quellensucher Koen die Vermutung, »Ne kaže se uzalud da je svaki san šezdesetina istine« (1982, 225; »dass jeder Traum der sechszigste Teil der Wahrheit ist«; 1985, 280) und zitiert den Ausspruch des Weisen Rav Chisda: »San koji se ne protumači jeste kao pismo koje nije pročitano« (1982, 226; »Der Traum, den man nicht deutet, gleicht einem Brief, den man nicht liest«; 1985, 281). Diesen Ausspruch kehrt er um: »Nepročitano pismo je kao san koji nije sanjan« (1982, 226; »Ein nicht gelesener Brief ist wie ein Traum, den man nicht träumte«; 1985, 281). In der islamischen Version der Chasarengeschichte wird Koen zum Gegenstand des Träumens, der durch den Einblick in den Traum des Avram Branković möglich wird: Pošto je Avram-efendija radio noću u svojoj knižnici a danju spavao, Masudi je ulučio priliku da već prvog jutra zaviri u Brankovićev san. U snu Avrama Brankovića Koen ja jahao naizmenično konja i kamilu, govorio španski i približavao se Carigradu. To je bilo prvi put da neko sanja Koena danju. Očigledno su Branković i Koen sanjali uzajamno i naizmenično jedan dugoga (1982, 163).

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Da Avram-Effendi tagsüber schlief, nahm Masudi die Gelegenheit wahr, schon am ersten Morgen in den Traum des Branković hineinzuschauen. Im Traum des Avram Branković ritt Koen abwechselnd ein Pferd und ein Kamel, sprach spanisch und näherte sich Konstantinopel. Es war das erste Mal, dass jemand Koen am Tage träumte. Offensichtlich träumten Branković und Koen einander gegenseitig und abwechselnd (1985, 207). Es wird von der Kunst des Traumjagens berichtet, die die Chasaren beherrschen und die es zu erlernen gelte: Najbolji lovci na snove bili su hazarski lovci, ali Hazara odavna nema. Sačuvala se samo njihova veština i djelomično njihov rečnik, koji govori o toj veštini. Oni su mogli da prate likove koji se javljaju u tuđim snovima i da ich gone kao divljač od čoveka do čoveka, čak i kiroz snove životinja ili demona (1982, 144f.).   Die besten Traumjäger waren die chasarischen, aber Chasaren gibt es seit langem nicht mehr. Nur ihre Kunst ist bewahrt geblieben und teilweise ihr Wörterbuch, das von dieser Kunst berichtet. Sie wußten Gestalten, die sich ihnen in fremden Träumen zeigten, zu verfolgen und sie wie ein Wild von Mensch zu Mensch zu tragen, sogar in den Träumen von Tieren und Dämonen (1985, 183). Von Mokaddasa al Safer, der als der berühmteste Traumdeuter genannt wird, heißt es: On je uspeo da se domogne najdubljih prodora u tajnu, uspeo ja da kroti ribe u tuđim snovima, da otvara u tuđim snovima vrata, da roni po sanjama dublje no iko pre njega, sve do Boga, jer na dnu svakog sna leži Bog (1982, 80).   Es gelang ihm, weit bis ins Geheimnis einzudringen, es gelang ihm, Fische in fremden Träumen zu zähmen, in fremden Traumgesichten Türen zu öffnen, in Traumreiche tiefer zu tauchen als irgend jemand vor ihm, bis hin zu Gott, denn Gott liegt am Grunde jeden Traums (1985, 136). Der Traum steht für die Wirklichkeit der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. In diesen Wirklichkeiten durchbricht der Traum die persönlichen Grenzen der Individuen und die historischen Grenzen der Epochen, in die sie geraten sind. Pavić entwirft mit seinem suchenden, entdeckenden und alles durchdringenden Traum in den drei sich spiegelnden Versionen (der christlichen, der islamischen, der jüdischen) seines ›Lexikonromans‹ eine groß angelegte Psycho-Phantastik. Danilo Kiš wiederum setzt das psychoanalytische Wissen des 20. Jahrhunderts voraus, dem er im Fall seines Frühwerks »Bašta, pepeo« eine neue Idee zugesellt und dessen Apodiktik und Ernsthaftigkeit er in »Peščanik«, 1972 (»Sanduhr«) in ihr Gegenteil verkehren muss. In »Bašta, pepeo« (1965) berichtet der jugendliche Erzähler von seinem Kampf mit dem Schlaf/Traum – einem Kampf mit dem Tod – und ist von dem Gedanken beherrscht, dass man den Traum verstehen müsse wie den Tod. Den Traum verstehen, heißt, das Unbewusste, für das der Tod steht, verstehen. Wenn Kiš im Traum den Tod sowohl verstehen wie das Träumen als Kampf mit ihm begreifen will, bedarf es keiner Traumdarstellung mehr, denn der Traum wird damit als ›Konzept‹ verstanden. In »Peščanik« lässt Kiš den Vater als Erzähler (der den Sohn als Erzähler ablöst) in einer Art

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Selbstbefragung seinen eigenen Traum deuten, indem er die Traumzeichen in Realzeichen übersetzt und in dieser Eins-zu-eins-Übersetzung die Freudsche Traumdeutung, mit ihrem Insistieren auf dem Erotischen, als simpel, ja komisch darstellt. Die Deutung schließt ironisch mit der Bemerkung, Freud habe der Abendlektüre zu wenig Raum gegeben, denn just in dieser stecke der eigentliche Prätext für den geträumten Traum. In einer anderen traumdeutenden Passage in »Peščanik« mit dem Titel »Istražni postupak II« (»Untersuchungsverfahren II«) erscheint der Vater (über den nunmehr der Sohn berichtet) als Kenner sowohl der Traumtheorien als auch der literarischen Träume. Eine fast ausufernde Liste von Eigenschaften und Funktionen des Traumgeschehens – eine Traumphänomenologie – erfolgt als Antwort auf eine simulierte Selbstbefragung: Šta je E. S. cenio u snu? Njegovu sličnost sa životom i njegovu različnost od života; njegovu profilaktičnost; njegov okrepljujući učinak na dušu i na telo podjednako; njegovu neograničenost u izboru i rasporedu tema i sadržaja; dubinu njegovih bezdana i visinu njegovih uzleta; njegovu erotičnost; njegovu slobodu; mogućnost da se upravlja njime snagom volje i sugestije (naparfemisana maramica pod jastukom, tiha muzika sa gramofona ili radija, itd.); njegovu sličnost sa smrću i njegovu moć da nam dočara večnost; njegovu sličnost sa ludilom, no upravo bez pravih konsekvenci; njegovu surovost i njegovu blagost; njegovu moć da izmamljuje iz ljudi i najdublje tajne; njegovu blaženu tišinu kojoj nije nepoznat krik; njegovu telepatsku i spiritističku moć opštenja sa dalekim ili mrtvim bićima; njegov šifrovan jezik, koji se katkad može razumeti i prevesti; njegovu moć da sažme u slike mitske predstave Ikara, Ahasfera, Jone, Noja, itd.; njegovu monohromnost i polihromnost; njegovu sličnost sa matericom i sa čeljustima ajkule; njegovu moć da nepoznata mesta, ljude i predele pretvori u poznata, i obratno; njegovu sposobnost blagovremenog dijagnosticiranja različitih bolesti i trauma; njegovo trajanje, koje se ne da lako izmiriti; njegovu sposobnost da se izmeša sa javom; njegovu moć konzervisanja slika i dalekih uspomena; njegovo nepoštovanje hronologije i klasičnog jedinstva radnje, mesta i vremena (1972, 122f.).   Was schätzte E. S. am Traum? Seine Ähnlichkeit mit dem Leben sowie seine Verschiedenheit vom Leben; seine prophylaktische Wirkung, seinen stärkenden Einfluß auf Körper und Seele; seine Unbeschränktheit in der Auswahl und Abfolge von Themen und Inhalten; die Tiefe seiner Abgründe und die Höhe seiner Erhebungen; seine Erotik; seine Freiheit; die Möglichkeit, ihn durch Wille und Suggestion zu steuern (durch ein parfümiertes Taschentuch unter dem Kissen, durch stille Musik aus dem Grammophon oder Radio usw.); seine Ähnlichkeit mit dem Tod und seine Fähigkeit, uns die Ewigkeit herbeizuzaubern; seine Ähnlichkeit mit dem Wahnsinn, doch ohne entsprechende Konsequenzen; seine Grausamkeit und sein Sanftheit; seine Fähigkeit, dem Menschen die tiefsten Geheimnisse zu entlocken; seine beseligende Stille, der auch der Schrei nicht unbekannt ist, seine telepathische und spiritistische Fähigkeit, mit weit entfernten oder verstorbenen Wesen zu kommunizieren; seine chiffrierte Sprache, die man gelegentlich verstehen und übersetzen kann; … sein Vermögen, sich mit der Wirklichkeit zu vermischen; seine Fähigkeit, Bilder und ferne Erinnerungen zu konservieren; seine Mißachtung der Chronologie sowie der klassischen Einheit von Handlung, Raum und Zeit (1984, 100f.).

18. Traumerzählung und Traumkonzept – von Puškin bis Kiš

Aber der Traum, den Kiš letztlich meint, geht in diesem Katalog nicht auf. Es handelt sich bei ihm weder um Träume, die mit Lust- oder Schreckensbildern ausgestattet sind (ein reines Traumimaginarium ist nicht seine Sache), noch um Traumrätsel, die der Entschlüsselung bedürften. Denn Kiš’s Traum ist elementarer Bestandteil seiner Todespoetik (Lachmann 2007, 433-454), die an Schopenhauers Verknüpfung von Traum und Tod gemahnt.

18.9 Die angeführten Beispiele zeigen unterschiedliche Organisationsformen in der Behandlung des Traums. Es gibt darunter Texte, die zur Gänze von einem Traumszenarium bestimmt sind, während andere Traumsequenzen einlagern, die wie Einschnitte in der Erzählsyntax wirken und eine Diskontinuität, ein Innehalten des Erzählflusses darstellen. Analogien zwischen erlebtem (lebenswirklichem) Traum und konstruiertem Traum lassen sich in der Verschiebung von Raum-Zeit-Wahrnehmung, der Nichtgeltung logischer Zusammenhänge ausmachen, wobei in einigen Fällen eine traumpoetische Kreativität sich außerhalb solcher Analogien zu entfalten scheint. Es gibt traumanfällige Genres, wie die menippeische Satire, die romantische und postromantische Phantastik, die Neophantastik, aber auch der realistische Text lässt das eigentlich überwundene Andere, der Aufklärung Entzogene, gerade im Traum wieder auftreten. In Texten der Phantastik wird das Traumgeschehen in den Kontext von Halluzination, Wahn, Alptraum und realitätsfremden Obsessionen gestellt, und es sind just diese Texte, die der Psychoanalyse als Objekt dienen. Traumtext und Traumtheorien infizieren sich wechselseitig, auch da wo letztere spielerisch zerlegt oder deren Annahmen ignoriert werden. Traum und Traumdeutung gehören zusammen. Oft sind es die Texte selbst, die eine Deutung der Träumenden anbieten oder diese den Lesenden überlassen. Es geht dabei um die Herstellung von Kohärenz, die das Ungeordnete zu domestizieren sucht, und um den Versuch, die Traumzeichen zu entziffern. Dabei kann sich, umgekehrt, der Traum als Interpretationsinstanz für den Text, dessen Teil er ist, erweisen. In manchen Texten ist zu beobachten, dass sich die Traumstilistik von der Stilistik des Haupt-oder Wachtextes durch eine Bildlichkeit des Abstrusen, Anstößigen und Absurden unterscheidet, d.h. der Traumtext verfügt über Lizenzen, die der ›Haupttext‹ nicht zulässt (d.h. konventionell nicht zulassen darf). Oder: Was der manifeste Erzähltext verschweigt, kann sich der Traumdiskurs erlauben. Und: der Traum kann wie eine Art Schöpfungsinstanz fungieren, die Ungesehenes, Unerhörtes, vor allem aber Ungedachtes hervorbringt und die Ordnung des Wachtextes (um diesen Terminus noch einmal aufzunehmen) nicht nur untergräbt, sondern aufhebt. Die literarische Gestaltung des Traums, seine Fiktionalisierung geht auf konkrete Traumerfahrungen zurück und folgt zugleich der konstruktiven Absicht in Bezug auf den gegebenen, geplanten Text. Die zitierten Traumtexte zeigen unterschiedliche Organisationsformen in der Behandlung des Traums (und dessen unterschiedliche Funktionen). Es gibt darunter Texte, die zur Gänze von einem Traumszenarium bestimmt sind, während andere Traumsequenzen einlagern, die wie Einschnitte in der Erzählsyntax wirken und eine Diskontinuität, ein Innehalten des Erzählflusses darstellen. In

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Verborgenes und Manifestes

der Verschiebung von Raum-Zeit-Wahrnehmung, der Nichtgeltung logischer Zusammenhänge ergeben sich die Analogien zwischen erlebtem (lebenswirklichem) Traum und konstruiertem Traum, wobei sich in einigen Fällen eine traumpoetische Kreativität außerhalb solcher Analogien zu entfalten scheint. Es gibt traumanfällige Genres, wie die menippeische Satire, die romantische und postromantische Phantastik, die Neophantastik – aber auch der realistische Text lässt das eigentlich überwundene Andere, der Aufklärung Entzogene, gerade im Traum wieder auftreten; d.h. der Traumtext verfügt über Lizenzen, die der ›Haupttext‹ nicht zulässt (d.h. konventionell nicht zulassen darf). Oder: Was der manifeste Erzähltext verschweigt, kann sich die Traumerzählung erlauben. Dabei erweist sich der Traum als Interpretationsinstanz für den Text, dessen Teil er ist. Im Wechselverhältnis von Traum und Dichtung gibt es Phasen, in denen der Traum den Text zu diktieren scheint. Das gilt insbesondere für die Texte der Neophantastik. Die Träume der Neophantastik sind just die Träume, die auch als Traumphilosopheme gelesen werden können, insofern sie das transzendente Moment des Traums anzeigen. Beide, der faktographisch erfasste Traum und dessen extreme Phantasmatisierung machen deutlich, dass der jeweilige »Traumwert« (Foucault), die Traumessenz, letztlich nicht in der psychoanalytischen Entzifferung aufgeht.

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18. Traumerzählung und Traumkonzept – von Puškin bis Kiš

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19. Die Ordnungskraft der Triaden

Was liegt den Dreierfigurationen, triangulären Relationen, den Beziehungen zwischen drei Punkten, Begriffen oder Elementen zugrunde, d.h. den trichotomischen Modellen, die sowohl in natur- wie in sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine Rolle spielen?1 Ist es der Zahlenkode, der die magische Autorität der Drei begründet oder gibt es eine die Dreiheiten bestimmende Semantik der Ordnung, die von einem nicht algebraischen Motiv regiert wird? Etwa wenn die Triade eine religiöse Legitimation erhält und sich eine Methode der Wissensdarstellung herausbildet, die von der christlichen Trinitätsvorstellung beherrscht wird. Die Drei der Magie,2 die Dreizahl in Märchen und Mythos, in den Erzählungen des Alten und Neuen Testaments, die Vorstellungen von Dreiergottheiten, die triadischen Annahmen, wie sie für etliche anthropologische und psychologische Konzepte Geltung gewonnen haben, und die ternären Strukturen in Logik, Dialektik und Semiotik lassen sich schwerlich auf ein Prinzip zurückführen. Das trinitarische Denken, in dem Wissen und Theologie verschmolzen werden, wie im System des Raimundus Lullus und dessen Nachfolgern, hat eine konsistente Tradition entwickelt, die einen ihrer Höhepunkte in der Trinitätsmystik hat.3 Dreierkonstellationen wie die paulinische: »Glaube, Hoffnung, Liebe« (I Kor 12,13) oder die augustinische: »memoria, intelligentia, voluntas« (De trinitate 10.10.13)4 werden mit dem Terminus Ternar, der in Franz von Baaders trinitätsmystischer Schrift »Über das Urternar«5 als der 1 2

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Vgl. Die Triaden der Rechtwissenschaft, Technik, Nautik, Geographie, Soziologie, Physiologie etc. Während sich der dem arkanen Wissen zugeneigte Cornelius Agrippa mit der Magie der Triade in De occulta philosophia, 1531 philosophisch auseinandergesetzt hat, wirkt im 20./21 Jh. die Magie der Drei als Realmetapher des Bankwesens nach, siehe das »Magische Dreieck« der Vermögensanlage: Rentabilität, Sicherheit, Liquidität. Weniger von einer Trinitätsmystik als von einer Trinitätsratio sind die Trinitarier mit ihrem prominentesten Vertreter, Johannes Amos Comenius, geleitet, die im 17. Jh. den Kampf mit den Antitrinitariern (den Sozinianern) aufgenommen haben. Die theologische Drei wird nicht nur durch die Unitarier, sondern auch die Sophiologie gestört, die ein viertes Element, die Sophia, in die VaterSohn-Hl. Geist-Koalition einfügt. Vgl. auch die anthropologischen Ternare, z.B. Giambattista Vicos memoria, fantasia, ingegno (Szienza Nuova, 1744 oder das Ternar der Alchimie (und Spagyrik): sal, sulphur, mercurius Vgl. seine trinitätsmystischen Auslegungen von genitor, genitus, spiritus (»Über das Urternar«,1816, WW.I, 226)

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Versuche im Umgang mit dem Wissen

alles umfassende Begriff schlechthin erscheint, bezeichnet. Als terminus technicus figuriert Ternar in Disziplinen wie Mathematik, Chemie, Geometrie, Trigonometrie. (Die Drei als interdisziplinärer Berührungspunkt?) Es ist gewiss nicht der christlich geprägte Trinitarismus allein, der die nachantiken ternären Konzepte geformt hat. Auch die vom Trinitätsdenken nicht tangierten Disziplinen mit antiker Vorgeschichte, wie die Rhetorik, lassen Dreierkonstellationen erkennen. Neuere Disziplinen, wie die Linguistik, gehen neben zweistelligen auch von dreistelligen semiologischen Modellen aus, denen eine ebenfalls bis in die Antike zu verfolgende Geschichte ternärer Konzepte vorausgeht.

19.1 Im Folgenden geht es um den Versuch, dem Ordnungsmotiv in denjenigen ternären Strukturen nachzuspüren, die in einigen mit der Sprache befassten Disziplinen auszumachen sind. Was in manchen Modellen auffällt, ist die Rolle des Dreiecks, dem ein zentraler Ort bei der Visualisierung ternärer Verhältnisse zugewiesen wird, so als verhelfe die Trigonometrie zur Klärung oder definiere (eindeutig) die Relation zwischen drei Punkten (und wofür sie stehen). Offenbar sind zwei Funktionen des Dreiecks zu unterscheiden: eine metaphorische Funktion, die in der Abbildung der Beziehungen zwischen drei Punkten besteht, wie, exemplarisch, im semiotischen Dreieck6 , wobei Repräsentation und Kognition einander ergänzen, und die eigentliche Funktion, die trigonometrische. Die Dreiecksspekulationen, die ins Infinite weiterzutreibenden Triangulationen,7 für die das vorzugsweise gleichseitige Dreieck Voraussetzung ist, führen von der fassbaren Ordnung dieser Grundform weg und spielen in den auf Sprache ausgerichteten Disziplinen offenbar keine Rolle. (Die Multiziplierung des Dreiecks lässt dieses als das einzige Objekt erscheinen, die faszinierende Selbstreferenzialität des Dreiecks macht es untauglich für eine Repräsentationsfigur in Bezug auf andere Objekte, z.B. einen Wissensbestand). Doch die Rolle, die das Dreieck als kognitive Metapher und als anschauliche Triplefigur spielt, tritt in den Dreierspekulationen immer wieder zutage, was insbesondere im semiotischen Dreieck deutlich wird. Die trigonometrisch dargestellte Figur wird als Signifikant für eine Dreierrelation eingesetzt, die sich nicht schlussfolgernd ergibt. Der Triaden-Theoretiker René Guénon (1946, 20-26) hat zwei Typen von triadischen Konstellationen unterschieden und diese mithilfe von Dreiecken dargestellt, die zwei Grundordnungen dreistelliger Relationen anzeigen.8 Der erste ternaire besteht aus ei6

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Das sog. semiotische Dreieck ist vorgebildet in den Triaden der Antike und deren Tradition, so auch in der Unterscheidung von signe (als son, voix und caractère), signification und pensée in der Grammatik von Port Royal (Grammaire Générale et Raisonnée, 1660) 1972, aber erst durch die moderne Semiotik (Ogden/Richards, Eco) in weiteren Umlauf gebracht. Vgl. Fraktal des auf Wacław Sierpiński zurückgehenden sog. Sierpinski-Dreiecks (rekursive Aufteilung eines gegebenen Dreiecks in weitere Dreiecke). Guénon geht es dabei auch um die Differenz zwischen nichtchristlichen (fernöstlichen) Triaden, die er ternaires nennt, und der christlichen Trinität, für die diese Relation nicht gilt: ternaire vs trinité.

19. Die Ordnungskraft der Triaden

nem Primärprinzip, von dem sich zwei entgegengesetzte oder komplementäre Termen ableiten. Das dieses Verhältnis darstellende Dreieck zeigt mit einer Spitze nach oben. Der zweite ternaire-Typ wird durch zwei komplementäre Terme und durch deren Erzeugnis oder Resultante gebildet, wobei das Dreieck in umgekehrter Richtung repräsentativ werden kann, d.h. die Basis ist oben, die Spitze unten., im ersten Fall ist das Dreieck durch das Primärprinzip, von dem die Terme ausgehen, bestimmt, im zweiten Fall durch die Resultante, die allein diesem ternaire Bedeutung verleiht, sie ist von anderer Ordnung als die komplementären Terme, denen sie isoliert gegenübersteht. (20f). (Guénon schließt jeden Dualismus aus, den die beiden Terme darstellen könnten, spricht indessen von einer Dualität der beiden symmetrischen komplementären oder entgegengesetzten Terme, die aber immer in Abhängigkeit vom Prinzip oder von der Resultante sich befinden. Die beiden Dreiecke können in ein Spiegelverhältnis gesetzt und durch ihre Basis verbunden werden. Das wiederum ergibt eine andere geometrische Figur, nämlich ein Viereck. Guénon weist jeweils auf die symbolische Bedeutung des Geometrischen hin, Mandorla, cabletow der Freimaurer etc.), d.h. er lässt sich wie auch einige andere Triaden-Theoretiker durchaus auch auf die Symbolik der Dreiecksfigur ein.9 Die von Guénon angenommenen Relationen sind zwar kaum in eine zeichentheoretisch relevante Struktur überführbar. Doch sind sie für die Frage der Ordnungssemantik belangvoll, die für die Semiotiker offenbar nicht im Vordergrund steht, denn in den triadisch orientierten Theorien wird die Triade als solche weder infrage gestellt noch in ihrem ›Aufbau‹ befragt. Die in den beiden ternaire-Typen vorgestellten Relationen Guénons hingegen ermuntern zu fragen, wie die drei Terme in den andern Modellen, auch den nicht durch Dreiecke visualisierten, zu einander stehen, ob es Verhältnisse von Kausalität sind, oder ob hierarchische Konzepte eine Rolle spielen, bzw. Ordnungsfaktoren anderer Provenienz, oder ob die Reihung als solche die letzte Instanz ist. Sind bestimmte Menschenbilder für bestimmte triadische Konstellationen verantwortlich; gibt es Gesellschaftsmodelle, die das triadische Gefüge vorprägen? Bilden die Triaden Modelle dieser Art ab oder sind es die letzteren, die die Triaden hervorbringen? In der Sprachphilosophie gibt es den für die Literaturwissenschaft praktikablen ternären, (vor Charles Sanders Peirce) entwickelten, aber durchaus semiotisch zu lesenden Entwurf Wilhelm von Humboldts, dessen Weiterführung bei dem Sprachphilosophen und geistigen Humboldt-Schüler Aleksandr Potebnja eine triadische Semantik begründet, die für das Einzelwort ebenso gilt wie für das gesamte Wort-Kunstwerk und im Vorfeld des Formalismus und Strukturalismus diskutiert wurde. (Lachmann 1994, 306ff) Die Rolle des Dritten bei der Bedeutungsherstellung ist aus der Humboldtschen Triade von artikuliertem Laut (äußere Wortform), innerer Wortform (Bild) und Bedeutung herleitbar. Auch Heymann Steinthal, in der Nachfolge der Humboldtschen Sprachphilosophie, nimmt das triadische Prinzip auf, wenn er in seiner Classification (1850) wie

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Das Dreieck als den Bildaufbau bestimmende Figur lässt sich in jenem Typ der Trinitätsdarstellung ausmachen, der die drei Hypostasen durch drei nachgerade identische Figuren in einem Dreiecksverhältnis anordnet. Das prominenteste Beispiel ist die Troica (Dreifaltigkeit) von Andrej Rubljov, die durch drei Engelsfiguren verbildlicht wird.

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folgt unterscheidet: 1. den Laut, die Verleiblichung des Gedankens; 2. die innere Sprachform oder die bestimmte Weise dieser Verleiblichung; und 3. den Gedankeninhalt oder die Anschauungen und Begriffe, welche der Gegenstand der Mitteilung sind. (Steinthal 1970)

19.2 Aleksandr Potebnja nimmt in »Gedanke und Sprache« (1862) russisch erschienen, die aus dieser sprachphilosophischen Tradition übernommene Triade auf und entwickelt sie mit Begriffen wie: äußere Form (vnešnjaja forma), innere Form (vnutrennjaja forma), Inhalt (soderžanie) in ein Beschreibungsmodell für das Funktionieren von Sprache und Poesie (Potebnja 1976, 35-220).

Abb. 1

Hierbei wird das erste Glied, der artikulierte Laut, nicht als schieres Material, sondern als bereits vom Gedanken formulierter Laut, das zweite Glied als die Art und Weise, in der der Inhalt ausgedrückt wird, und das dritte als dasjenige profiliert, das mit Hilfe des Lautes objektivierbar ist. Das Wortkunstwerk wird analog verstanden: der Inhalt (oder die Idee), der dem Gefühlsbild oder dem aus ihm entwickelten Begriff entspricht; die innere Form, das Bild, das auf diesen Inhalt verweist und das der Vorstellung entspricht (die aber auch nur als Symbol, als Andeutung einer gewissen Gesamtheit von Gefühlswahrnehmungen oder eines Begriffs Bedeutung hat) und schließlich die äußere Form, in der das Gefühlsbild objektiviert wird. Die Interpretation des Mittelgliedes (innere Form, Bild, Symbol) der Triade wird zum Ausgangspunkt einer Theorie des Poetischen, der Poetizität (poetičnost’) die mit einer Theorie der Rezeption (vosprijatie) verknüpft wird: Auf der Grundlage einer angenommenen Analogie zwischen Sprache und Poesie (die poetische Sprache entblößt die Struktur der Sprache) wird innerhalb des triadischen Erklärungsmodells die innere Form als konstitutiver Teil herausgestellt, der als Raum des Poetischen der Sprache

19. Die Ordnungskraft der Triaden

fungiert. Die Bewusstmachung der Beziehung zwischen Laut und Bedeutung in oder vermittels der inneren Form erscheint als ein Prozess, als dynamischer Vorgang des inneren Vorstellens (vnutrennee predstavlenie), der auch den Namen Bild (obraz) erhält. Die Poetizität entsteht im Bild, in der Art der Umsetzung einer Objekt-Vorstellung in das Wort; das Bild aber garantiert auch die Sicht auf das Objekt, ist die ästhetisch wahrnehmbare Verbindung zwischen äußerer Form und Inhalt-Bedeutung. Das Dreieck wird diagrammatisch mit dem Ziel eingesetzt, die Zuordnung der drei Faktoren vorzuführen und deren Relation zu ›erklären‹. Es repräsentiert ein für Sprachund Literaturwissenschaft relevantes Zeichenmodell, das in die Tradition des semiotischen Dreiecks gehört, das bis Umberto Eco (und darüber hinaus) seine Darstellungsfunktion behält. Die Zuordnung von »äußeres Zeichen der Bedeutung« zu Signifikant, »inneres Zeichen der Bedeutung« zu Interpretant und »Bedeutung« zu Referent/Signifikat erscheint als plausibel. (Eco 1972, Trabant 1976, Wienold 1972) Das Mittelglied der triadischen Anordnung scheint für den semiotischen Prozess, den Potebnja für das sprachliche Kunstwerk voraussetzt, von Bedeutung und lässt sich durch die (terminologisch) unterschiedlichen, jeweils Nuancen einbringenden Bestimmungen beleuchten. Stets geht es bei den dreistelligen Konzepten darum, dass Signifikant und sein Objekt nicht unmittelbar korrelieren, sondern über eine Vermittlung, ein Mittelglied in Beziehung gebracht werden. Das gleichseitige Dreieck trägt in seiner Spitze den Term, der diese schwierige Stelle zwischen Zeichenträger und Objekt innehat. Als »Bedeutung«, Begriff«, »Bezeichnetes«, »Interpretant«, »Referenz«, »Vorstellung«, »innere Wortform« steht dieser Term zwischen dem »Wort«, dem »Bezeichnenden«, »Representamen«, »Signifiant« etc und dem »Objekt«, »Ding«, »Referent«, »Denotatum«. Aristoteles hat mit seiner Dreierkonstellation: 1.Stimme (τα ’εν τή φωνή), 2. Regungen in der Seele (’εν τή ψυχή παθήματα), 3. Dinge (τα πράγματα), die er im 1. Kapitel seiner Schrift Peri Hermeneias (De interpretatione) (Aristoteles-Flashar Bd. 1, Teil 2, 1984) in einer bündigen Argumentation entwickelt, dieses Konzept vorformuliert: Die gesprochenen Worte sind die Zeichen von Vorstellungen in der Seele und die geschriebenen Worte sind die Zeichen von gesprochenen Worten. So wie nun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen dieselben sind, so sind auch die Worte nicht bei allen Menschen dieselben; aber die Vorstellungen in der Seele, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind, sind bei allen Menschen dieselben und ebenso sind die Gegenstände überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder sind. Hiermit wird eine triadische Relation zwischen dem Zeichen (dem gesprochenen Wort, Aristoteles führt als weiteres Zeichen den Buchstaben ein), dem Bezeichnetem (dem Gegenstand) und der Vorstellung (›in der Seele‹) postuliert10 . D.h. das gesprochene Wort ist Zeichen der Vorstellung, wobei zwischen diesen Instanzen eine Ähnlichkeitsbeziehung besteht. Die Vorstellung wiederum ist Abbild des Gegenstandes so wie das Wort die Vorstellung repräsentiert Es ist hier also ein triadisches Verhältnis anzunehmen, das jeweils auf Ähnlichkeit (Abbildlichkeit) beruht, zugleich einen Vorgang angibt, der vom Gegenstand, d.h. von seiner Wahrnehmung, die sich in der Vorstellung niederschlägt, beginnt und im gesprochenen Wort (bzw. Schriftzeichen) endet. Anders die 10

Die aristotelische Triade wirkt in der mittelalterlichen Tradition nach: vox/conceptus/res.

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Bewegung bei Humboldt-Steinthal-Potebnja, die vom äußeren Zeichen, der Artikulation, über das innere Zeichen (mit seiner semantischen Dynamik) zur Bedeutung, die eine Art Resultat (vielleicht im Sinne Guénons die Resultante) ist, weitergeht. Charles Sanders Peirce bestimmt die Semiosis als: »action, or influence, which is, or involves, a cooperation of three subjects, such as a sign, its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any way resolvable into actions between pairs«. (Peirce 1967, 1970) Die Begriffe action/influence implizieren zugleich Bewegung und Wirkung, wie sie auch das sprachphilosophische Theorem in der Humboldt-Tradition anzeigt. Interpretant ist auch hier der bedeutsame Mittelterm. In der Terminologie von Richards und Ogden sieht das Verhältnis wie folgt aus: Das Zeichen (hier Symbol genannt) ruft den Bewusstseinsinhalt (reference) hervor, der sich auf das Objekt (referent) bezieht. (Richards/Ogden 1923) Bei Eco heißt es: »Das, was als Bewusstseinsinhalt erscheint, der Interpretant, ist der individuell erkannte Sinn, der seinerseits kulturell vor-oder mitgeprägt ist.« (Eco 1972, 85) Peirce hat den Begriff Triadomanie geprägt, bzw. der Psychiatrie empfohlen, einen solchen Terminus in Umlauf zu bringen, um die Dreizahlkrankheit zu bezeichnen, von der er meinte, er sei ihr nicht erlegen. Dass er in Triaden geradezu verstrickt war, belegen seine intrikaten semiotischen Kalküle, die vielfach ausgelegt und in ihrer Bedeutung für Logik und Semiotik diskutiert worden sind. Zunächst erhält eine grundlegende ontologische Triade Bedeutung: sie besteht aus den Pronomina I, Thou, It. »It ist die materielle Welt der Sinne, Thou steht für Geist (Objekt von Psychologie und Neurologie); I steht für die abstrakte Welt (Gegenstand der Theologie).« I, Thou, It, die Pronomina,11 repräsentieren eine (in umgekehrter Reihenfolge) absteigende Seinsordnung der Firstness, Secondnes and Thirdness. Beunruhigend hier ist nicht nur das ontologische Postulat, beunruhigend sind auch die ternären Differenzierungen, die ein komplexes Panorama semiotischer Teiltriaden darstellen: Zeichen, Objekt, Interpretans/Icon, Index, Symbol/Qualität, Realität, Repräsentation/mit jeweiligen Unter- und Unter-Unterteilungen. Peirce’s Semiotik hat neben der ontologischen eine fundamental logische Orientierung, die im Kontext der modernen Logik und Logistik diskutiert wird.12 Er geht von einer Apriori-These aus, »die besagt, daß die Dreiteilung jedes Diskursfeldes unweigerlich erschöpfend sein muss und ebenso unweigerlich eine Trinität von sich gegenseitig ausschließenden Klassen ergibt«.13 Peirce hat im syllogistischen Bereich von Deduktion, Induktion und Abduktion semiotische Modelle entwickelt, d.h. die Logik mit der Semiotik interpretiert. Das dürfte die weitest gehende triadische Koalition zwischen diesen Disziplinen sein. Peirce sieht darüber hinaus die Triade in ihrer Ubiquität durch die christliche Trinität bestätigt – Metaphysik der Semiotik. In der Peirce-Forschung wird das triadotriadische Modell durch ein Dreieck repräsentiert, das dessen kognitive einerseits und repräsentative Funktion andererseits nochmals ausstellt.

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Zur Diskussion von Peirces’ Triade und Freuds Neigung zur Dreigliedrigkeit (Dreiinstanzenmodell des psychischen Apparats: Ich, Es, Über-Ich) vgl. Svend Erik Larsen (1980, 1-18). Charles S. Peirce, Schriften I, II (1967, 1970). Ich zitiere hier die Paraphrase eines Peirceschen Theorems von Thomas A. Sebeok, »One, Two, Three … Spells Uberty« (Eco, Sebeok, 1985, 25).

19. Die Ordnungskraft der Triaden

19.3 Für die mit Sprache befassten Disziplinen ist die de Saussuresche Semiologie, in der die anfängliche zweistellige Zeichentheorie von einer dreistelligen abgelöst wird, von größerer methodologischer Bedeutung als Peirces Theorie. In »Die Natur des sprachlichen Zeichens« besteht die Triade aus Zeichen, Bezeichnung und Bezeichnetem, wobei aus der Synthese von lautlichem und gedanklichem Moment das Zeichen (als Gesamtzeichen) entsteht. (Peirce, Bally 1967, 76-93) (Dieses Konzept entspricht Guénons zweitem ternaire-Typ, die Resultante ist quasi diese Synthese.) Die Rezeption der ursprünglichen Zweistelligkeit in de Saussures sprachtheoretischem Denken (die ungemein folgenreiche Gegenüberstellung von langue und parole sowie der Dualismus von Arbitrarität einerseits und Motiviertheit andererseits) führt zunächst in formalistische und strukturalistische Konzepte, die dichotomisch ausgerichtet sind: etwa Oppositionsbildungen, wie sie Roman Jakobson in seiner Phonematik mit dem »merkmalhaltig-merkmallos« präsentiert, oder die Gegenüberstellungen von Paradigma und Syntagma, Similarität und Kontiguität, Selektion und Kombination, wie sie wiederum exemplarisch von Jakobson in der linguistischen Poetik eingesetzt werden.14 Auch die von den Formalisten bevorzugten Oppositionen Folie und Abweichung, poetische Sprache versus praktische Sprache ebenso wie die Unterscheidung von Diachronie und Synchronie und Begriffe wie dual sign und Doppelstruktur haben das strukturalistische Denken geprägt. Allerdings hat bereits der dichotomisch ausgerichtete Strukturalismus durchaus ternäre Modelle zugelassen: Auch in der zweistelligen Semiotik des konsequenten Dichotomikers Roman Jakobson werden ternäre Beziehungen dargestellt. Seine Phonem-Tafeln entpuppen sich als Dreiecke. In Phonologie und Phonematik von 1956 (Jakobson/Waugh 1986), wo von Merkmal-Typen und distinktiven Merkmalen gehandelt wird, werden im Kapitel »Phonematische Anordnung« Phonembeziehungen zwischen jeweils zwei Oppositionsgliedern in Dreiecken vorgestellt. Es ist die Rede von einem »primären Dreieck«, das in ein »konsonantisches« und »vokalisches« weiter aufgeteilt wird.

Abb. 2

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Besonders folgenreich wurde Jakobsons Dichotomie in »Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik« (engl. 1956) 1971, 323-233.

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Allerdings handelt es sich um die Darstellung von Oppositionsverhältnissen, die jeweils zwischen zwei Elementen beschrieben werden, (z.B. die Tonalitäts-Opposition) a steht den Verschlussphonemen p (labial) und t (dental) gegenüber. Beide Verschlussphoneme stehen einander gegenüber. Das ist das primäre Dreieck, das in ein konsonantisches und ein vokalisches aufgespalten wird, wozu die Polarität von zwei alternierenden Vokalen kommt, die als Gegenstück zum a auftreten. Bei den Konsonanten tritt der velare Verschlusslaut k hinzu. »Auf diese Weise«, sagt Jakobson, »wird das ursprüngliche alleinige Dreieck in zwei autonome zweidimensionale Anordnungen, in das konsonantische und in das vokalische Dreieck, unterteilt.« Es geht hier nicht darum, diese Position Jakobsons zu diskutieren, sondern darum zu betonen, dass das Dreieck phonematische Verhältnisse zu ›dokumentieren‹ hat. Das Dreieck erfüllt hier die oben erwähnten Aufgaben der Kognition und der Repräsentation. Ein weiterer Griff zum triadischen Prinzip lässt sich in Jakobsons Modell der sechs Sprachfunktionen ausmachen, das in der Bühlerschen Triade: Ausdruck, Appell, Darstellung vorformuliert ist und durch die Funktionen des Phatischen, des Metasprachlichen und Selbstreferenziellen (d.h. des Poetischen) weitergeführt wird. (Auch die für die Literaturwissenschaft so bedeutsamen Dichotomien Jakobsons, die seine Poetizitätsthese und seine Hypothesen zu Similarität und Kontiguität, bzw. Metapher und Metonymie bestimmen, könnten auf ein kryptisches Drittes hin interpretiert werden.)15

19.4 Wie oben erwähnt sind etliche Disziplinen mit in die Antike zurück reichenden Wurzeln von Dreiervorstellungen bestimmt. In den die Sprache betreffenden Disziplinen ist es die Rhetorik, deren Systematik von ternären Figuren bestimmt ist: die Liste der drei genera dicendi: Rede-Gattungen (Gerichtsrede, Parteirede, Festrede), der drei genera elocutionis: Stilarten (hoch, mittel, niedrig), der drei officia oder Wirkkomponenten: probare, movere, delectare. Die rhetorische Beschreibung der Text(Rede)-herstellung umfasst die Projektion dreier Regelinventare: inventio, dispositio und elocutio, und damit implicite den Entwurf eines triadischen Textmodells, in dem eine semantische, eine syntaktische und eine verbale Ebene unterschieden werden. Eine Zuordnung der beiden Modelle ergibt folgende Entsprechung: • • •

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inventio = semantische Ebene (Ebene der thematischen Verfahren) dispositio = syntaktische Ebene (Ebene der sequenzbildenden Verfahren) elocutio = verbale Ebene (Ebene der stilistischen Verfahren).

Die aus dem russischen Formalismus, verschiedenen Strömungen des Strukturalismus und der Semiotik hervorgegangene Kultursemiotik des Moskau-Tartuer Kreises arbeitet mit zweistelligen und dreistelligen Modellen. (Merrell, 2001, 385-414)

19. Die Ordnungskraft der Triaden

Die Sequenzbildung ist plausibel, wenn dem Prinzip der Findung von Gedanken (über einen Gegenstand, ein Thema), deren Anordnung und letztlich deren sprachliche Formung, das für das traditionelle rhetorische Denken gilt, diese ratio zubilligt. Die beiden anderen Teile der Rhetorik, memoria und pronuntiatio (oder actio), gelten nicht der Herstellung, sondern dem Vortrag der Rede.16 Eine starke Nachwirkung geht von der Trichotomie in der Stillehre aus. Die Dreigliedrigkeit als Einteilungsprinzip der antiken Stillehre ist an unterschiedliche Kriterien gebunden, z.B. geographische, soziale, ästhetische, funktionale. Diese Kriterien sind bei der triadischen Differenzierung und der Einrichtung einer hierarchischen Ordnung von wechselnder Bedeutung. Es kommt zur Verknüpfung des geographischen mit dem ästhetischen Gesichtspunkt, die vom Standpunkt eines ›idealen‹ Stils, nämlich des attischen, der als kurz und klar qualifiziert wird, die wertende Heraushebung zweier weiterer geographisch lokalisierbarer Stile begünstigt: des asianischen blumig-schwülstigen Stils und des Stils von Rhodos, der die Mitte hält zwischen attisch und asianisch. Der totalisierende Anspruch der Stillehre äußert sich in der Verknüpfung sprachästhetischer mit funktionalen Kriterien, die sich einem außersprachlichen Einteilungsschemas einpassen, das auf einer Dreiteilung der Objekte der Welt in hohe, mittlere und niedrige beruht, denen der jeweils adäquate sprachliche Ausdruck zugeordnet wird; er äußert sich auch in der folgenreichen (für die gesamte mittelalterliche Rhetorik-und Poetik-Tradition) rota Vergilii (Curtius 1952, 57-76). Die rota Vergilii (die den drei Gattungen Vergils folgt, den Bucolica, Georgica und der Äneis), stellt den Versuch dar, den sozialen und kulturellen Kontext in allen seinen Manifestationen zu einer semiotischen Einheit zu organisieren, und zwar mit dem Entwurf einer kohärenten Reihe von Bedeutungszuweisungen, die Stilarten, Gattungen und soziale Stände (Hirten, Bauern, Krieger) umfasst und die in den einzelnen Gattungen und Stilarten erzeugten Gegenständlichkeiten (Baumsorten, Örtlichkeiten, Gerätschaften, Tiere) in das Schema einbezieht. Ein weiteres Spezifikum dieser Einteilung ist die Koppelung der einzelnen Stilarten an bestimmte stilistische Verfahren, die in hierarchischer Folge ästhetische Effekte realisieren (schwache, mittlere, starke Schmuckstufe, entsprechende Verfremdungsstufen). Die hierarchische Ordnung der Stiltriade wird auch durch eine Qualifizierung der Ausdrucksfähigkeit der Sprache für unterschiedliche Redeziele motiviert. Es ist dies eine Qualifizierung, die sich an ästhetischen Normen orientiert. Grande, sublime, amplum genus dicendi, – summissimum, tenue genus dicendi, – mediocre, moderatum, medium genus dicendi sind Bezeichnungen, die diese Ordnungsvorstellung abbilden und bezüglich der konkreten stilistischen Verfahren klare Anweisungen implizieren. Die Dreistillehre beruht auf einer Konvention, die einer konkreten Kommunikationssituation entstammt und durch eine bestimmte kulturelle Konstellation zu einem zentralen Bestandteil europäischer ›Sprachlehre‹ avanciert. Mit antiker Autorität ausgestattet, wurde die Drei-

16

Auf Melanchthon geht eine rhetorische Lehrbuchtradition zurück, die lediglich inventio und elocutio unterscheidet. – In der modernen Rhetorikforschung werden allerdings mehrstellige Modelle entworfen. Funktionsanalysen und theoretische Ansätze, die auf nicht triadisch orientierten Modellen beruhen, lassen die Reduktion auf drei Terme als obsolet erscheinen (Plett 1975; Dubois, Edeline, Klinkenberg et al.ii, 1974).

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stillehre von jedem volkssprachlichen System, das eine Homogenisierung und gleichzeitige Funktionalisierung seiner ›Sprachen‹ herbeiführen wollte, übernommen und z.T. assimiliert, also hoher, mittlerer, niederer Stil. Innerhalb der elocutio gibt es Figuren, bzw. Tropen, die auf besondere Weise triadisch interpretiert werden können, obgleich sie zunächst als binär konstruierte erscheinen mögen: Oxymoron, Synekdoche, Metapher, Syllepse. Das Oxymoron ist »die sinnreich pointierte Verbindung sich gegenseitig ausschließender Begriffe«, (Plett 254) wie in: discors concordia/concors discordia; cold fire, heavy lightness, loving hate17 . Das Oxymoron ist Teil eines lusus verborum, der ein Gedankenspiel antreibt, in dem ein ›Drittes‹ gedacht werden muss – und zwar nicht als ein neu und störend Hinzutretendes, sondern als ein versöhnendes Element, das die Ambivalenzbewegung auspendeln lässt und den Stachel der Pointe dennoch nicht abbricht. Gegen die bedrohliche Rigorosität des »Tertium non datur« lässt sich für das Oxymoron die für esoterische Argumente charakteristische Antinomie des »Etwas ist möglich und unmöglich zugleich« aufbieten.: Beide Glieder der Struktur reflektieren, dementieren oder potenzieren einander. Die im Oxymoron verschränkten Extreme oder Antonyme können nicht voneinander lassen. Sie spiegeln einander nicht nur, sondern sie partizipieren auch aneinander. Sie sind Metaphern füreinander, die über eine unähnliche Ähnlichkeit sich herstellen – (sie gehören zur selben semantischen Äquivalenzklasse), und sie sind Metonymien: in nächste Berührung gebrachte Komponenten einer Struktur. Zwischen beiden entsteht ein ›gleitender‹ Sinn, eine semantische Schaukelbewegung, die zwischen dem positiven und dem negativen Konzept stattfindet, es ist die Schaukel- oder Kippbewegung selbst, die das tertium transportiert, bzw. herstellt. Die discors concordia/concors discordia ist nicht von ungefähr die leitende Ambivalenzfigur des ästhetischen Denkens des 17. Jahrhunderts. – Sie umschließt auseinanderstrebende Signifikanten, deren Zusammenstoß in einem Punkt das poetische Ereignis des Gedichts ist, oder sie zeigt das Umschlagen des einen in den andern Signifikanten an, wobei das Umschlagen selbst das tertium ist. Auch die Intertextualitätstheorie, die den Kontakt zwischen Texten zum Gegenstand macht, kreist um das erzeugte Dritte. So in der Figur der Syllepse, d.h. eines Intertextes, der zwei verschiedenen Texten, bzw. Textsystemen, Gattungen angehört: einem latenten und einem manifesten Text; in deren Kontakt wird ein Drittes erzeugt. Die sich berührenden verbalen Kontexte ergeben ein Drittes.18

19.5 Die Semantik der Drei spielt in einigen Metapherntheorien eine zentrale Rolle: Bei einem der Klassiker der Metapherntheorie, I.A. Richards (1950, 96), wird davon ausge-

17 18

Vgl. die Oxymora-Häufung in Shakespeares Romeo and Juliet sowie die Oxymora in der deutschen Barockdichtung. Vgl. Riffaterre (1979, 496-501). In der Intertextualitätstheorie lassen sich drei Modelle unterscheiden: Partizipation, Troping against (im Sinne Harold Blooms) und Transformation. (Lachmann 1990, 25-50)

19. Die Ordnungskraft der Triaden

gangen, dass das metaphorisch verwendete Wort nicht den Signifikanten des eigentlichen Wortes ersetzt, sondern dass auf der Ebene des Signifikats zwischen dem primären und dem sekundären (metaphorischen) Sinn eine Interaktion stattfindet, die das metaphorisch eingesetzte Zeichen verursacht. Tzvetan Todorov (1970, 26-35) an einer strukturalistisch-linguistischen Analyse der rhetorischen Figuren interessiert, entwirft die Metapher als doppelte Synekdoche. Synekdoche bedeutet, das Wort in einer Bedeutung zu verwenden, die Teil einer anderen Bedeutung desselben Wortes ist, eine pars pro toto-Beziehung auf der Ebene der Bedeutung also. In der Metapher scheint eine intermediäre Bedeutung als identischer Teil der beiden ins Spiel gebrachten Bedeutungen aufzutauchen, der als Teil, d.h. als Synekdoche für den einen und den andern funktioniert. Diese Definition ist eine komplexe Auslegung des tertium comparationis. Jerzy Pelc, der polnische Semiotiker, spricht in Absetzung von Richards, d.h. der Interaktionstheorie, von einem metaphorischen Dreieck (1971, 176) das die Relation zwischen Signifikant (metaphorischer Ausdruck) und Referent einerseits und Signikant (nichtmetaphorisch) und Signifikant (metaphorisch) sowie Referent andererseits darstellt. Sterne (metaphorisch)   Sterne                                         Augen   (nicht-metaphorisch)        (nicht-metaphorisch) Während in der Tropenlehre, methodisch differierend, der verborgenen triadischen Semantik der Einzelstrukturen nachgegangen wird, da sich diese nicht als ternär angelegte ausweisen, hat die Verslehre viele ihrer Elemente als Formationen registriert (Jambus, Trochäus), deren Dreigliedrigkeit angegeben wird, ebenso wie die Verlaufsform, die durch weitere Kriterien (Iktus, Längen) charakterisiert ist. Der Dreischritt, der sie ausmacht und jeweils eine spezifische Wortform zur Voraussetzung hat, deckt sich nicht mit der Verlaufsstruktur anderer Triaden. Zweifellos gibt es ternäre Mini-Serien, deren Terme mono-motivisch verknüpft sind als Sequenz, die entweder einem hierarchischen Prinzip gehorcht oder kausal (linear) wie im Verfahren des Schlussfolgerns. Auch der Dreischritt im Syllogismus vollzieht sich nach der Syntax des Schließens und lässt die triadische ›Natur‹ der Schlüsse besonders dann deutlich hervortreten, wenn das Dritte, wie in den verkürzten Schlüssen des Enthymema, Encheirema und Sorites, ausgespart wird.19

19.6 Aber die Ordnung der Dreierklassifikationen lässt sich nicht auf Schlussfolgerung allein zurückführen, da es sich, wie gezeigt, in einigen Fällen um einen dynamischen semantischen Prozess handelt, der eher als Synthese, denn als Diärese zu fassen ist, 19

Die Verkürzung generiert interessante Trugschlüsse, die in der barocken Poetik des Concetto auftauchen.

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auch wenn das Prozesshafte in der Bedeutungsherstellung eine schrittweise (also folgernde) Entwicklung vorstellbar macht. Ebenso wenig sind die anthropologisch ausgerichteten oder die theologischen ternären Bestimmungen durch eine Logik im Sinne der Schlussfolgerung bestimmbar. Die ternären Anordnungen von Semiotik, Linguistik und Rhetorik geben an, bestehende Konstellationen abzubilden, d.h. als Modelle zu fungieren, wobei es zweifellos nicht um Kausalität, sondern eher um Hierarchie oder systembildende Ordnungskriterien geht.20 Die Suche nach einer generellen ratio für die Dreierstrukturen wird letztlich auf meta-triadische Spekulationen nicht verzichten können.

Bibliographie Aristoteles, Peri hermeneidas, hg., übers. und erläutert v. Hermann Weidemann, in: ders. Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 1, Teil 2, Darmstadt 1984. Baader v., Franz, »Über das Urternar«, in: Sämtliche Werke, Bd. 7: Gesammelte Schriften zur Religionsphilosophie, hg. v. Franz Hoffmann, Aalen 1963, 29-38. Cornelius Agrippa, De occulta philosophia, 1531. Curtius, Ernst Robert, »Die Lehre von den drei Stilen in Altertum und Mittelalter«, in: Romanische Forschungen 64 (1952), 57-70. Dubois, J., Edeline, F., Klinkenberg, J.M. et al., Allgemeine Rhetorik, übers. und hg. v. A. Schütz, München 1974. Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, München 1972. Grammaire Générale et Raisonnée suivi de La Logique ou L’Art de Penser (1662), Reprint Genève 1972. Guénon, René, »La grande Triade«, in: ders., Revue de la table ronde, Nancy 1946, 20-26. Jakobson, Roman, »Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik I, hg. v. Jens Ihwe, Frankfurt a.M. 1971, 323-333. Jakobson, Roman, Halle, Morris, »Phonologie und Phonetik«, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. v. Wolfgang Raible, München 1974, 54-106. Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a.M. 1990. Lachmann, Renate, Die Zerstörung der schönen Rede, München 1994. Larsen, Svend Erik, »La structure productrice du mot d’esprit et de la sémiosis. Essai sur Freud et Peirce«, in: Degrés 8/21 (1980), 1-18. Merrell, Floyd, »Lotman’s Semiosphere, Peirce’s Categories, and Cultural Forms of Life«, in: Semeiotike, Sign System Studies 29/2 (2001), 385-414. Peirce, Charles S., Schriften I, II, hg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1967, 1970. Peirce, Charles S., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1976. Pelc, Jerzy, O użyciu wyrażeń, Wrocaw, Warschau, Gdansk 1971.

20

In der Mathematik wird ein als »strenge Teilordnung« bezeichneter Ordnungstyp angeführt, der als »trichotomisch« qualifiziert wird.

19. Die Ordnungskraft der Triaden

Plett, Heinrich F., Textwissenschaft und Textanalyse. Semiotik, Linguistik, Rhetorik, Heidelberg 1975. Port, Royal, Grammaire Générale et Raisonnée, (1660), Genf 1972. Potebnja, Aleksandr, »Gedanke und Sprache« (1862) »Mysl’ i jazyk«, in: ders., Estetika i poetika, hg. v. I. Ivanjo und A. Kolodnaja, Moskau 1976. Richards, I. A., The Philosophy of Language, New York 1950. Richards, I. A., Ogden, Charles K., The Meaning of Meaning, London 1923. Riffaterre, Michel, »La syllepse intertextuelle «, in: Poétique 40 (1979), 496-501. Saussure, Ferdinand de, »Die Natur des sprachlichen Zeichens«, in: ders., Grundlagen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 1. Teil: Allgemeine Grundlagen, hg. v. Charles Bally und Albert Sechehay, übers. v. Hermann Lommel, Berlin 1967, 76-93. Sebeok, Thomas A., »One, Two, Three … Spells Uberty«, in: Umberto Eco, Thomas A. Sebeok, Der Zirkel oder im Zeichen der Drei (Dupin-Holmes-Peirce), München 1985, 15-29. Steinthal, Heymann, Die Classification der Sprachen dargestellt als die Entwickelung der Sprachidee (1850), Frankfurt a.M. 1970. Todorov, Tzvetan, »Synekdoques«, in: Communications 16 (1970), 26-35. Trabant, Jürgen, Elemente der Semiotik, München 1976. Wienold, Götz, Semiotik der Literatur, Frankfurt a.M. 1972.

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20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert (Athanasius Kircher und Johann Amos Comenius)

20.1 Im Barock gewinnen Praktiken der Wissensorganisation und -transmission an Bedeutung, die einerseits an ältere Traditionen anknüpfen, andererseits neuen oder neu interpretierten Konzepten folgen. Neu ist die konsequente Verfeinerung der Notationsund Speicherungstechniken als Folge des wiederbelebten Programms einer totalen Repräsentation des verfügbaren Wissens, eines Programms also, dessen Autor Raimundus Lullus ist. In der folgenden Skizze geht es um zwei konkurrierende, von Athanasius Kircher und Johannes Amos Comenius entwickelte Modelle der Akkumulation und Aufbewahrung von Wissensdaten, deren technische und konzeptuelle Komponenten in modernen Systemen der Wissenstransmission wieder auftauchen. Obgleich Kircher und Comenius – pansophisch – eine alles umfassende Korrespondenz zwischen dem göttlichen Gebäude des Universums und den gelehrten Disziplinen, die sie widerspiegeln, voraussetzen, und obgleich beide – enzyklopädisch1  – eine Summe allen Wissens anstreben, wenden ihre Modelle zur Erreichung des pansophischen und enzyklopädischen Ziels jeweils andere Methoden der Sammlung, Systematisierung und Speicherung von Wissen an. Kirchers in seiner Ars Magna Sciendi sive Combinatoria von 1669 vorgelegten Diagramme beruhen auf numerischen und alphabetischen Verfahren, die in der lullistischen Tradition wurzeln. Die Transformation fundamentaler Ideen Lulls, besonders der des künstlichen Gedächtnisses und der enzyklopädischen Darstellung aller Wissenschaften, hat Konsequenzen für die Entwicklung der Konzepte Kirchers ebenso wie für diejenige seiner Techniken. Kirchers Passion für Abstraktionen wird durch eine Art Dokumentationseifer ausbalanciert. Er versammelt Listen mit fremden Sprachen und Schriftsystemen einschließlich solcher, die zuvor weder untersucht noch verstanden

1

Zum Zusammenhang von »Pansophie« und »Enzyklopädik« vgl. Leinkauf 1993, 18ff.

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worden sind, sein Oedipus Aegyptiacus von 1651-1655 ist ein Beispiel für diesen Kollektionismus. Auch bezüglich exotischer Objekte wird Kircher zum Sammler, seine rara und curiosa werden in dem von ihm gegründeten Museum im Collegio Romano ausgestellt.

Abb. 1: (Kircher in seinem Museum) Giorgio de Sepi, Romani Collegii Societatis Jesu Musaeum

Amstelodami (Amsterdam) 1678, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda

Die Rezipienten seiner kombinatorischen Kunst und seiner exquisiten Exponate gehören zur gebildeten Elite. Kircher versucht diese auf Effekte des Wunderbaren eingestellte Elite zufriedenzustellen, zugleich aber ist er ein Wissenschaftler, dessen Experimente und Theorien von zeitgenössischen Gelehrten diskutiert werden. Comenius’ Publikum ist die Menschheit. Sie soll durch Bildung erzogen und damit erlöst werden. Die zur Erlösung führende Erziehung muss auf einem strengen, wohl geordneten System des Lernens aufgebaut sein, wie es in dem Kindern und Erwachsenen gleichermaßen geltenden Orbis Sensualium Pictus von 1658 vorstellt wird. Der mithilfe von pictura und nomenclatura unterwiesene Schüler ist eingeladen, eine sichtbare, erfahrbare Welt zu betreten, die alle fundamentalen Dinge, Handlungen und Begriffe enthält. Comenius’ philosophisch-pädagogisches Werk, insbesondere sein Pansophiae prodromus von 1639, dient als theoretische Grundlegung für sein erzieherisches Unterfangen. Es verrät die Kenntnis der erasmianischen pädagogischen Philosophie ebenso wie diejenige des Lullismus, die ihm sein Lehrer Johann Heinrich Alsted vermittelt hat.

20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert

So wie die Neubelebung des Lullismus die Hervorbringung exklusiver Systeme für die Wissensrepräsentation befördert, sichert das Überleben des Renaissance-Humanismus die Durchsetzung einer ›demokratischen‹ Lernmethodik. Sowohl Kirchers wie Comenius’ Projekt, in mancher Hinsicht verwandt, ist nicht nur im zeitgenössischen Kontext erfolgreich, sondern folgenreich in der Bildung fortwirkender Traditionen.

20.2 Die 2001 in Rom veranstaltete Ausstellung, die die verstreuten Exponate des nach Kirchers Tod aufgelösten Museums am ursprünglichen Ort, dem Collegio Romano, wieder versammelt hat, ist auch den nicht musealen Aspekten seines Werks gewidmet. Der anlässlich der Ausstellung entstandene Begleitband Athanasius Kircher S.J. Il Museo del Mondo (Lo Sardo 2001) macht in Einzelbeiträgen die Bedeutung Kirchers im Kontext der für das 17. Jahrhundert relevanten Konzepte deutlich und zeichnet die Traditionslinien nach, die in seinen Projekten zusammenlaufen. Ausführlich werden Thesen, Methoden und Techniken seiner spektakulären Opera diskutiert, die Originalität der ihm vorschnell zugeschriebenen Erfindungen relativiert und das utopische Moment in einigen seiner wissenschaftlichen Unternehmen hervorgehoben. Das fundamentale, dem barocken Konzept der Universalwissenschaft in Kirchers Kombinatorik aus philosophischer Perspektive gewidmete Werk von Thomas Leinkauf, Mundus combinatus, ist als Gegengewicht zu dieser Einzeldisziplinen profilierenden Präsentation der Italiener zu lesen, in der es weder um eine konzeptuelle Grundlegung des Wissensbegriffs noch um den Entwurf einer Philosophie der Wissenschaft am Beispiel Kirchers geht. Die Beschreibung der Repräsentationsformen und -stile Kirchers, der Materialität der Texte und ihrer Wirkkomponenten ist das Ziel der folgenden Ausführungen. Auf dem Frontispiz der Ars Magna (Abb. 2) schaut das im Trinitätsdreieck ruhende Auge Gottes auf einen Katalog von Disziplinen, der in Form einer Kette dargestellt wird, deren einzelne Glieder (ihre Anzahl geht über diejenige der septem artes liberales weit hinaus) jeweils den Namen einer Disziplin tragen: Theologie, Metaphysik, Physik, Logik, Medizin, Mathematik, Ethik, Askeselehre, Jurisprudenz, Politik, Schriftinterpretation, Disputationskunst, Moraltheologie, Rhetorik und Ars combinatoria – Kirchers Leitdisziplin. Die Göttliche Sophia, die beherrschende Figur des Frontispiz, stützt mit der einen Hand eine Tafel, in die die Alphabeta Artis eingetragen sind, die eben jene Wissenssumme repräsentieren, mit der Kircher die menschliche Erkenntnis zu fördern beabsichtigt. Die andere Hand weist auf ein Auge, das nicht nur mit dem göttlichen korrespondiert, sondern auch mit einem auf der linken Seite des Blattes in einem Lichthof angesiedelten Auge in Verbindung steht, das seinerseits einem auf der gegenüberliegenden Seite symmetrisch angebrachten Ohr entspricht. Das göttliche lässt das menschliche Auge zu und gestattet damit die im Mittelalter verteufelte Leidenschaft

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Abb. 2: Frontispiz zu Ars magna sciendi, in XII libros digesta, Amstelodami 1669. Hochschul-und Landesbibliothek Fulda

der curiositas Ohr2 und Auge können nunmehr als gleichsam befreite Erkenntnisorgane ihre Arbeit aufnehmen. Der auf einem Podest zu Füßen der – wie die Madonna – thronenden Sophia griechisch aufgeführte Spruch »Nichts ist schöner als Alles zu wissen«, der gleichsam auf die Strukturschönheit des geordneten Wissensmassivs aufmerksam macht und dessen Attraktivität auch als ästhetische zu bestimmen erlaubt, ist das Motto für Kirchers Kategorisierung aller Eigenschaften der Dinge und ihrer Bezeichnungen sowie der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Den letzteren ist in besonderer Weise das große Werk der Ars gewidmet. In Kirchers Darstellungsmodi lassen sich zwei auseinanderstrebende Tendenzen der Wissensrepräsentation ausmachen: Vergegenwärtigung von Wissen einerseits und dessen Verschlüsselung, wie sie seine Polygraphia von 1663 (Abb. 3) entwickelt, andererseits. Hier stellt sich die Frage, warum ein Wissenssammler, der sein Anliegen, eine allumfassende Aufzeichnung der weltlich-irdischen und der kosmischen Phänomene (und der diesen korrespondierenden Wissenszweige) ›zur Schau zu stellen‹, keineswegs verleugnet, sein Wissen zugleich – oder andererseits – mithilfe von Kodierungsverfahren

2

Akustische Experimente, die Herstellung von Musik-Apparaten und musikologische Spekulationen sind Gegenstand der Musurgia universalis, Rom 1650 sowie der Phonurgia nova, Kempten 1673 (Gouk 2001, 71-83).

20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert

Abb. 3: Arca steganographica aus: Polygraphia nova et universalis

Romae 1663, S.130. Hochschul- und Landesbibliothek Fulda

zu verbergen sucht. Die Ausführungen von Joscelyn Godwin enthalten eine Behauptung, die hierzu als Erklärung herhalten könnte: »Certainly Kircher was conscious of writing for the few, however widely his books were lauded and dispersed. He says that ›although some myths are nothing but allegories and moral tales, the real reason for mythology is that precious things are hidden, in order to avoid misunderstanding and undervaluation which lead to heresy‹« (Godwin 79, 22). Die Mythologie ließe sich in diesem Sinne als große Verschleierungsinstanz verstehen, die den wahren Kern der Dinge profanem Zugriff entzieht und das preziöse Wissen den Erwählten, die zu entschlüsseln und zu entschleiern vermögen, vorbehält. Mit dem Verweis auf die Häresiegefahr, die aus falschem Wissen entstehen könne, stellt Kircher sich selbst als Wissender auf den Boden der Orthodoxie und deutet zugleich die Möglichkeit an, falsch verstanden zu werden. Folgt man der Verhüllungsabsicht, so ist weiter zu fragen, ob eine steganographische Notierung des Wissens die ars memorativa anspornen kann oder eher behindern wird, d.h. ob die kryptographische Abbreviatur mnemotechnisch verwertbar ist. Vielleicht kann man argumentieren, dass der Dechiffrierungsvorgang, der eine beachtliche intellektuelle Anstrengung verlangt, geradezu als Teil einer mnemonischen Technik

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gesehen werden kann. Ungleich der reinen Wiederholung und ungleich der mentalen Speicherung von res und verba in ihrer Bildverkleidung, wie sie die antike Mnemotechnik vorsieht (Blum 1969), deckt die Dechiffrierung etwas Unbekanntes auf, stößt auf ein Geheimnis, ein »wertvolles Ding« – gelegentlich die Kodierungsregel selbst, und liefert somit eine neue Information, die sich einprägt.3 Allerdings ließe sich die Verschlüsselungstechnik auch als Antwort auf den Zustand einer in »Geheimnissen gebundenen Welt« verstehen. Das Motto auf dem Frontispiz seines Magneticum naturae regnum von 1667 lautet: »Arcanis nodis lingantur (sic!) mundus«. (Abb. 4)

Abb. 4: Frontispiz zu Magneticum naturae regnum

Romae 1667. John Crerar Collection of Rare Books in the History of Science and Medicine

Mit den Kodierungsregeln, die das Wissen in secreta überführen, wiederholt Kircher jene primären, die die Schöpfung als arcanum erscheinen lassen. Diese Spannung zwischen geheim und manifest, Verdunkelung und ›Aufklärung‹ prägt Kirchers Darstellungstechnik. Eine zweifelsohne mnemotechnische Prozedur stellt die durch alphabetische Zeichen, Zahlzeichen, Symbole, kombinatorische Begriffstableaux und diagrammatische 3

Die steganographischen Verfahren Kirchers werden im Kontext der Entwicklung von modernen Verschlüsselungs-Entschlüsselungstechniken gesehen (Künzel 1989, 1-8).

20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert

Figuren erfolgende Notierung von Wissensdaten dar. Doch obgleich diese Speicherung in ihrer Abstraktheit bildlos ist und auch die Übersetzung von res und verba in vorgestellte imagines nicht erlaubt, tritt ein den Notierungsort betreffendes visuelles Moment hervor. Die vorgestellten loci, auf denen die imagines deponiert werden, sind durch die nach außen verlagerten Einschreibeorte abgelöst. Denn die Konstellation der Buchstaben, die Begriffskombinatorik und die Netzwerke der Diagramme müssen mit den Augen wahrgenommen werden, damit ihre Grammatik ›entziffert‹ werden kann. Der Entzifferer ist gehalten, lediglich den Erläuterungen zu folgen, die der begleitende Kommentar zur Verfügung stellt, dann erhält er Einblick in das System. Die Ordnung der Diagramme, die intrikaten Konstruktionen der Kataloge, die Zahlen-BuchstabenGebäude werden als konkrete sichtbar gemacht. Ihr synoptisches Arrangement und der Harmonieeffekt, der von den wohlproportionierten, ausgewogenen Systemen ausgeht, erwecken auch ästhetisches Interesse. Das dieser Aufzeichnungspraxis der Ars Magna Sciendi et Combinatoria vorausgehende Modell ist die Begriffsnotierung von Raimundus Lullus, die Frances Yates in The Art of Memory (1966) als Umwälzung in der Geschichte der Mnemotechnik hervorhebt. Sie weist darauf hin, dass Lull die klassischen mnemonischen Traditionen auf zweifache Weise aufgegeben habe: zum einen durch die Bevorzugung eines algebraischen »wissenschaftlich abstrakten« Weges, zum andern durch die Einführung eines Bewegungsmoments in die Gedächtnisstatik. Yates nennt dies »the most significant aspect of Lullism in the history of thought.« Yates’ Beschreibung zu folgen ist auch in diesem Punkt sehr instruktiv: »The figures of his Art (Ars Magna und Ars Brevis, R.L.), on which its concepts are set out in the letter notation, are not static but revolving. One of the figures consists of concentric circles, marked with the letter notations standing for the concepts, and when these wheels revolve, combinations of concepts are obtained.« Yates setzt die großen mittelalterlichen Schemata, die das gesamte Wissen in »static parts« präsentieren, von diesen algebraischen Aufzeichnungen ab, die sie charakterisiert als »breaking up static schemata into new combinations on its revolving wheels.« (176) Alle Künste (artes) Lulls basieren auf den Namen Gottes oder den göttlichen Attributen, die als Dignitates Dei bezeichnet werden: Bonitas, Magnitudo, Eternitas, Potestas, Sapientia, Voluntas, Virtus, Veritas, Gloria. (An die Stelle der Zehnerzahl der Sefirot ist aus Trinitätsgründen die Neun getreten). Die Neun garantiert die Grundlage für die Formen der Ars, die durch die Buchstaben B-K bezeichnet werden. B-K, ein Alphabet im Alphabet, stellt eine universale Formel dar, die auf alle Seinsebenen anwendbar ist.4      

4

Lulls Gottesnamen und seine Buchstabenmystik sind im spanisch-kabbalistischen Kontext der Sefirot und der hebräischen Alphabet-Meditationen zu sehen. Erst die Berücksichtigung dieses Zusammenhangs macht erklärlich, warum seine Ars als signifikanter Bestandteil in die christliche Kabbala der Renaissance und des Barock eingehen konnte (Idel 1988, 170-174) »Schon Pico della Mirandola nennt die Ars Raimundi eine zweite Kabbalah« (Conclusiones 1486, 1973).

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Abb. 5: Secunda figura

Aus: Ars magna, Lib.I, S.11

Abb. 6: Tabula alphabetorum artis nostrae

Aus: Ars magna, Lib.I, S. 24

   

20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert

Daneben gibt es weitere Elemente in Lulls Ars, die notwendige Voraussetzungen für Kirchers Unternehmen darstellen. Das ist zum einen die Konstruktion einer memoria artificialis, zum andern die Generierung von Wissen. Um die Wahrheit zu finden, werden die Räder in Bewegung gesetzt. In ihren Umdrehungen bringen sie kombinatorische Figuren hervor, die keineswegs die simple Widerspiegelung des bereits Bekannten und Vorgegebenen sind. Vielmehr kann die kombinatorische Maschine unerwartete, wenn auch kalkulierbare Elemente generieren, die das Wirken der universalen göttlichen Logik offenbaren. (Leinkauf 1993, 14) Kircher erweitert Lulls Ars, dessen Rad-Schema er in seiner Ars zitiert und expliziert (Abb. 5), indem er Tafeln, Schemata und Taxonomien als konstitutive Bestandteile der Wissensrepräsentation aufnimmt und die Ars selbst zweifach reformuliert. Zum einen, indem er den neun Prinzipien des Lullschen Systems einen Komplex analoger Begriffe zuschreibt, zum andern, indem er ein neues Alphabet konstruiert (Abb. 6). Lulls Alphabet wird durch eine Buchstabenfolge ersetzt, deren Elemente jeweils den Anlaut der Begriffe aufnehmen, und ordnet dieser – die principia absoluta repräsentierenden – Reihe eine Zeichenfolge für die principia respectiva zu; dieser und den vorangehenden Reihen korrespondiert eine Zeichenserie, die die subiecta universalia vor Augen führt. Es scheint als entspreche die Zeichengestalt der zweiten und vierten Reihe Kirchers Konzept der Hieroglyphen. Durch den Katalog der topischen Fragen und die Listen der virtutes und vitia wird das Korrespondenztableau perfektioniert (Abb. 7).

Abb. 7: De cyclosophica artis hujus methodo

Aus: Ars magna, Lib.XII, S.467

Nunmehr geht es darum, dass die neun Positionen der sechs Reihen (die er series oder orbes nennt) im Sinne des Lullschen Rädersystems zu- und gegeneinander gedreht werden, allerdings nicht realiter-mechanisch, sondern im Geiste und in der Einbildung, animo et imaginatione. Das als cyclosophica methodus bezeichnete Verfahren setzt kombinierende Fragen in Umlauf, aus denen kombinatorische Wahrheiten entstehen. Mit-

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hilfe einer tabellarischen Notierung, der er mit der Bezeichnung Abacus polysophus den Status der Überprüfbarkeit/Wiederholbarkeit gibt, werden die Kombinationsmöglichkeiten (exhaustiv) vorgeführt (Abb. 8). Eine andere, dem Entwurf aus Buchstaben, Willkürzeichen und Begriffen gewidmete Darstellungsform ist das Netzwerk, das die jeweiligen Verbindungen vor Augen führt, die zwischen den Positionen hergestellt werden müssen, um die Kombinatorik in Gang zu setzen (Abb. 9). Die cyclosophica methodus, der Abacus, das Netzwerk sind sowohl Repräsentanten des verfügbaren als auch Generatoren von neuem Wissen. Zur Herstellung einer eher ›konventionellen‹ Gesamtschau aller Wissenszweige (mit historischer und zeitgemäß aktueller Bedeutung) bedient sich Kircher des Baums und des Schemas (Abb. 10, 11).

Abb. 8: Abacus polysophus

Aus: Ars magna, Lib IV, S.194

20. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert

 

Abb. 9: Epilogismus

Aus: Ars magna. Lib. IV, S.171

   

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Abb. 10: Arbor philosophica universae cognitionis typus

                     

Aus: Ars magna, Lib.V, S.251

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Abb. 11: Schema der Disziplinen

                

Aus: Ars magna, Lib. II, S.35

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20.3 Die aus der Arbor philosophica – ein Echo auf Lulls Arbor scientiae – sich ergebende schematische Figur, die die Disziplinen mit ihren tradierten Bezeichnungen in einer Ordnung festhält, die ihr Abhängigkeitsverhältnis spiegelt, bestimmt auch die Enzyklopädie-Darstellungen späterer Zeit.5 Das trinitäre Prinzip, aus dem bereits die konsequent konstruierten Gedankenfiguren der Lullschen Wissenstheologie zu Bekehrungszwecken entwickelt worden sind, ist in der Enneade der Gottesnamen ebenso enthalten wie in Kirchers Neunerserien und bestimmt auch das Tableau der zweiundsiebzig Gottesnamen, dessen Abhängigkeit von kabbalistischer Mystik im Titel bezeugt wird. Kirchers spektakulärer Entwurf geht freilich über die reine Namensbekundung hinaus, insofern seine Aufmerksamkeit der Repräsentation des (das triadisch-enneadische Prinzip kreuzenden) Tetragrammatons und dessen Version in zweiundsiebzig (alten und neuen) Sprachen gilt (Abb. 12). Sein Interesse ist hier ein sowohl komparatistisch linguistisches wie ein theologisches. Alle von ihm angeführten (pars-pro-toto verstandenen) Sprachen halten für das hebräische Tetragrammaton einen vierstelligen, Gott bezeichnenden Ausdruck bereit (Kirchers Systemzwang setzt sich dabei über etliche Unstimmigkeiten hinweg). Die Vierstelligkeit der Signifikanten, in der die Sprachen koinzidieren, lässt auf ein allen gemeinsames Signifikat schließen. In Kirchers Sicht sind es die Sprachen, die die uranfängliche Gemeinsamkeit aller Völker in ihrem Gottesbegriff aufdecken. Die Tafel zeigt weitere Korrespondenzen: zwei Bäume (im unteren Bildteil) – sieben Planeten und sieben Engel auf dem einen Baum, den Zodiak und die zwölf Stämme Israels auf dem anderen; wuchernde Zweige (im oberen Bildteil), deren Blätter die zweiundsiebzig Gottesnamen tragen, die auf neun Engelsordnungen verteilt sind. Während die vielsprachig angeführten Gottesnamen im jeweiligen Zeichensystem wiedergegeben sind (Kircher als großer Schriftenkenner), tragen die auf Bäumen und Zweigen versammelten Inschriften hebräische Zeichen. Die Zeichenkenntnis erlaubt Kircher, eine Manipulation vorzunehmen, die das kabbalistische Moment dieser Synopse ›christianisiert‹: mit dem dreigipfligen ›Flammenbuchstaben‹ Schin (Mandel 2004, 78-80), über dem eine Christusfigur thront, zerteilt Kircher das alttestamentliche Tetragrammaton. Dieses (das At und NT verbindende) Buchstabenspiel erzeugt ein Pentagrammaton, in dem das Tetragrammaton die Trinität gleichsam einbettet. Über die Wahl des Schin als Christuszeichen kann man anhand der Attribute spekulieren, die die Alphabetmystik diesem zuschreibt. Der symmetrisch gebildete einundzwanzigste Buchstabe des hebräischen Alphabets, der als einer der Mutter-Buchstaben gilt, steht für Harmonie, Friede, Wahrheit, seine drei Komponenten symbolisieren – zweifellos vorchristliche – Dreiheiten (die drei Patriarchen oder die Dreiheit von Kohanim, Leviten und Israeliten). (Mandel 79) Die alphabetische Semantik des Schin, die Kircher vermutlich vertraut war, sowie seine Überzeugung, dass das Hebräische die Matrix aller Sprachen sei, machen verständlich, dass ein hebräi-

5

Z.B. d’Alemberts »Systême Figuré des Connoissances Humaines«, in: Discours priliminaire de l’encyclopédie, 1751.

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scher Buchstabe als Dreifaltigkeitssymbol die Stelle des griechischen Christuszeichens einnehmen kann.

Abb. 12: Speculum Cabalae mysticae aus: Oedipus Aegyptiacus

Amstelodami 1653, Vol. 2, Fol.287. Hochschul- und Landesbibliothek Fulda

   

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Neben der aus dem Lullismus ererbten Methode kombinatorischer Systematik bedient sich Kircher der des Vergleichs, wie ihn die Cabala Mystica optisch nachdrücklich vorführt. Die Listen von Alphabeten und religiösen Glaubenskonventionen, die er zusammenstellt, sind diesen Methoden folgend angelegt. Kircher vergleicht unermüdlich symbolische Ordnungen, Zeichensysteme (chinesische Ideogramme, ägyptische Hieroglyphen) sowie alle Notationen, deren er habhaft werden konnte. In der Turris Babel von 1679 führt er eine der Alphabet-Entwicklung gewidmete Tabula combinatoria (Abb. 13) vor, auf der die Darstellung der Buchstabenevolution zugleich einen Vergleich der Zeichen, d.h. ihrer aufeinanderfolgenden Stadien bietet. Seine komparativ-komparatistischen Anstrengungen schließen konsequenterweise die Suche nach einer universalen Sprache ein. Eine symbolische Sprache, in die alle Zeichensysteme übersetzbar sind – wie er sie in Polygraphia nova et universalis ex combinatoria arte detecta von 1663 aufzeigt – bestärkt diesen Universalitätsanspruch insofern, als sie die Übersetzbarkeit aller Zeichensysteme in ein einziges in Aussicht stellt. Damit wäre zugleich die Möglichkeit gegeben, die uranfängliche, in den unterschiedlichen Systemen zwischen verba und res bestehende Verknüpfung als auf ein und dieselbe Wissenswahrheit gerichtet aufzudecken. Sowohl das Prinzip der Kombination wie dasjenige der Analogie sichert eine Technik für das Verständnis der unveränderlichen universalen Gesetze sowie aller Verwandtschaften und Unterschiede, Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen den Elementen. Es sind just diese beiden Prinzipien, die es vermögen, die unfaßbare Vollendung der Weltmaschine, der machina mundi, einsichtig zu machen. John Neubauer hat in seiner Monographie Symbolismus und symbolische Logik (1978), die der Geschichte der Ars combinatoria und des Enzyklopädismus von Lull bis zu den Spekulationen der Romantik gewidmet ist, Kircher einen Platz in der Tradition zugebilligt, zu der Nicolaus Cusanus, Pico della Mirandola, Agrippa von Nettesheim, Giordano Bruno, Tommaso Campanella, Paracelsus, Johann Heinrich Alsted gehören, und die ihren Höhepunkt bei Gottfried Wilhelm Leibniz findet. Neubauer macht deutlich deutlich, dass Leibniz, der seine Ars combinatoria konstruiert, bevor er Kirchers zur Kenntnis nehmen kann, in der Systembildung konsequenter und in der Schlüssigkeit erfolgreicher ist als letzterer (Abb. 14).

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Abb. 13: Tabula Combinatoria aus: Turris Babel

Amstelodami 1679, S.136. Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda

       

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Abb. 14: Gottfried Wilhelm Leibniz, Dissertatio de arte combinatoria, 1666

      Leibniz erscheint nach Alsted als der eigentliche Weiterentwickler der Lullschen Computor-Logik und als vorläufiger Endpunkt des Enzyklopädiekonzepts, zugleich auch als Vorläufer der romantischen Kombinatorikspekulationen. Es wird aber zugleich klar, dass es Kirchers Kombinatorik ist, die auf die deutschen dichtenden Zeitgenossen entscheidenden Einfluss ausgeübt hat; das gilt für Georg Harsdörffers poetische Kalkulationen ebenso wie für Quirinus Kuhlmanns Permutationskunst. (Rieger 1997, Cramer 2003, 213-226)

20.4 Umberto Eco untersucht Kirchers Steganographie und Polygraphia im Kontext der aus antiken, arabischen, kabbalistischen und lullistischen Techniken und Konzepten erwachsenen Tradition6 (Eco 2001, 209-213). In Kirchers Polygraphia, das nach Werken von Giambattista Dalla Porta, Blaise de Vigenère, Selenus und gewiss mit Kenntnis von Johann Trithemius entstanden ist, sieht Eco weniger die lullistisch-kabbalistische Orientierung als vielmehr die didaktische Funktion. Während die in der Dedikation an Ferdinand III. gegebene Bestimmung der Polygraphia als »linguarum omnium ad unam reductio« die Intention des Trithemius und anderer Reduktionisten rekapituliert, 6

Ecos weitgehend kritische und etwas herablassende Darstellung Kirchers hätte durch Kenntnisnahme der Leinkaufschen Untersuchung zweifellos gewonnen.

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besteht die Neuheit des Kircherschen Projekts in einer veränderten Substitutionsregel. Nicht mehr das Alphabet, wie in seinen steganographischen Versuchen, sondern lexikalische Einheiten werden in die Chiffrierung/Dechiffrierung einbezogen. Allerdings ist diese weiterhin eine Substition auf der Seite der Signifikanten; der Vorgang ist mechanisch und bedarf der Kenntnis der Signifikate nicht. Kircher entwirft zwei jeweils 1226 Termini umfassende Lexika, deren Auswahl empirischen Kriterien (Bekanntheitsgrad) folgt. Die wechselseitige Übersetzbarkeit der Sprachen – an Latein, Französisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch aufgezeigt – wobei Latein Ausgangs- und Modellsprache ist, weist im Chiffrier-Lexikon ausgewählten Termini (nomina, verba, adiectiva) numerisch bezeichnete Plätze zu, während für den Empfänger der Botschaft ein Tabellen enthaltendes Dechiffrierlexikon zur Verfügung steht, das jeweils in einer der fünf Sprachen aufgrund des Zahlenkodes (römische und arabische Zahlen umfassend) einen Text zu komponieren erlaubt (wobei die für die jeweilige Sprache relevante Grammatik außer Acht bleibt). Eco stellt das System in extenso vor und verweist darauf, dass auch diese Übersetzbarkeitsidee keine Erfindung Kirchers sei. Er zitiert sowohl das Projekt von Clive Beck, der bereits 1657, also vor Kircher, The universal character, by which all the nations of the world may understand one another’s conceptions, reading out of one common writing their own mother tongues veröffentlicht hat, als auch dasjenige von Joachim Becher, Character pro notitia linguarum universali, das 1661 mit weit umfangreicherem Fundus an Termini erschienen ist. Für alle Unternehmungen gilt, dass die Transposition eines Terminus (inklusive der Bestimmung seines Ortes in der Grammatik) in eine Zahl erlauben soll, dass allein aufgrund des Lateins die jeweiligen Äquivalente in der Muttersprache gefunden werden können. Die Verkoppelung von Termini mit Zahlenwerten treibt aufgrund der sich zur Unlesbarkeit steigernden Komplexität immer wieder Verbesserungsprojekte hervor, die statt der Zahlen auf Zeichen rekurrieren, wie sie Caspar Schott, ein Schüler Kirchers, in seiner Technica Curiosa von 1664 vorschlägt. Die von Heilmann und De Mauro 1963 veranstalteten Computerübersetzungen sieht Eco durchaus in dieser Tradition. Ein weitergehender Schritt auf dem Weg zu einer Universalsprache besteht in der Herstellung eines Bezugssystems zwischen der Signifikantenkette der unifizierenden Sprache und einer Signifikatenkette, die eine bestimmte Anzahl von für universal gehaltenen Kategorien vereint. Auch hier partizipiert Kircher an einer auch andere beschäftigenden Idee. Francis Lodwick (1647 und 1652), George Dalgarno (1661) und John Wilkins (1668) arbeiten an einem Korrespondenzsystem zwischen Symbolen und Kategorien (bzw. ›Grundbegriffen der Menschheit‹). Eco erwähnt in diesem Zusammenhang ein unveröffentlichtes in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrtes Manuskript Kirchers, Novum hoc inventum quo omnia mundi idiomata ad usum reducantur, das diesem Ziel gewidmet ist. Eine Liste von vierundfünfzig Fundamentalkategorien wird gegeben, wobei jede Kategorie zusätzlich zur arabischen Ziffer ein ikonographisches Zeichen mit gelegentlich hieroglypischen Zügen erhält. Diese Universal-Liste hat den Mangel der Inkongruenz, ein Mangel, den auch andere Versuche der Zeit aufweisen. Schott präsentiert eine kürzere Liste von 44 Kategorien, die Klassen anzeigen, eine Liste, deren Korrektheit Leibniz in seiner Dissertatio in arte combinatoria von 1666 überprüft.

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Die Heterogenität, die sich aus der Verschiedenheit der Ordnungen ergibt, denen die Klassen oder Kategorien angehören, veranlasst dazu, die Versuche letztlich als scheiternde zu bewerten. Es entsteht eine Heterotopie, die die Idee der universalen Übersetzbarkeit nahezu unkenntlich macht. Kircher beschränkt sich nicht auf die Sichtbarmachung des Abstrakten mithilfe von Symbolen, Diagrammen und Tafeln, vielmehr lässt er weitergehende Repräsentationstypen zu. Die üppig illustrierten Kupferstiche belegen, dass Kircher die Vorzüge visueller Kunst nicht unterschätzt, ebenso wenig wie er die Wirkungen zurückweist, die die Darstellungen des Monströs-Fremden hervorzurufen vermögen. Bilder von bislang unbekannten, entlegenen und schlichtweg wunderbaren Erscheinungen werden vorgeführt, um optisch Eindruck zu machen, um bestaunt und als Bestaunenswerte erinnert zu werden. Die von ihm in Auftrag gegebenen Illustrationen, die Bildvorstellungen folgen, die Kircher sich aufgrund von Berichten seiner Missions-Ordensbrüder gemacht hat, haben das Pathos des Exotischen. (Rivosecchi 1982, 141-155) Das gilt insbesondere für China illustrata von 1667. Die aufgrund seiner Informationen in Auftrag gegebenen Gravüren zeigen unvertraute Zeremonien, Sitten, Trachten, Ausschnitte aus fremder Natur, geologische Formationen, außergewöhnliche Pflanzen, Tiere und phantastische Wesen. (Szescniak 1952, 385-411) (Abb. 15, 16, 17)

Abb. 15: Hofzeremoniell

Aus: China illustrata, Antverpiae (Antwerpen) 1667, S.160. Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Fulda

 

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Abb. 16 (links): Exotische Natur; Abb. 17 (rechts): Fabelwesen

Aus: China illustrata, S.189 (Abb. 16) und S. 84 (Abb. 17)

Die Wirkungsbezogenheit gilt für das Bildmaterial aus China illlustrata ebenso wie für die inhaltlich und formal einem anderen Darstellungsmodus folgenden Gravüren, die zumeist als Frontispiz dienen (wie das oben genannte die Ars Magna eröffnende). Das ornamentale Barockambiente, in dem allegorische Figuren, Symbole, Diagramme und Inschriften (lateinische, griechische und hebräische) versammelt sind, das diese elaborierten Stiche auszeichnet, entspricht vollkommen den ikonographischen Gepflogenheiten der Zeit. Es sind zwei für den barocken Concettismus charakteristische Effekte, die die appellative Struktur sowohl der exotischen als auch der ›heimischen‹ Bebilderungen bestimmen: maraviglia und stupore. Man gewinnt den Eindruck, als nutze Kircher, indem er diese Effekte mithilfe überraschender Assoziationen und Ähnlichkeiten und anderer unerwarteter Verknüpfungsmethoden hervorruft, Verfahren, die ihre Entsprechungen in Literatur und bildender Kunst haben. Wenn Cesare Vasoli argumentiert, dass hinter dem »ricchissimo apparato concettuale ed argomentativo« (Vasoli 1966, 62-77), der Kirchers Mathesis universalis begleitet, die religiöse, pädagogische und politische Verpflichtung des Jesuiten Kircher gegenüber der Societas Jesu stehe, so schließt er damit jede Selbstgenügsamkeit der effektbezogenen Verfahren aus und verkennt deren barocken Kern. Denn dem Jesuiten Kircher dürften die für die Ästhetik der Zeit bestimmenden Theorien seiner Ordensbrüder nicht unbekannt gewesen sein. Die dem acumen, bzw. der acutezza oder agudeza gewidmeten Traktate Mathias Sarbievius’, Baltasar Graciáns und Emanuele Tesauros haben eine Rhetorik der ähnlichen Unähnlichkeit, der stupefizierenden Vergleiche und Analogien, der frappierenden Metaphern und Paradoxa, der scharfsinnigen Argumente vorgelegt, die für den wissenschaftlichen Repräsentationsstil Kirchers durchaus exemplarisch ist.7

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Zum Zusammenhang von acutezza und Kirchers musealer Scharfsinnigkeit vgl. die Untersuchung von Riccardo Nicolosi, im Druck. – Auch die von Leinkauf als »naturwissenschaftliche Leitbegriffe«

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Wie bei den Concettisten in Literatur und bildender Kunst verbindet sich bei Kircher der kognitive mit dem ästhetischen Schock. Kircher stört mit exorbitantem Wissensstoff ein verwöhntes Publikum auf, das auf dessen Neuheit mit stupore reagiert. Die Exklusivität der Darstellung mithilfe von ausgeklügelten Diagrammen, aufwendigen Tafeln und immensen Katalogisierungen überrascht mit Einsichten in gänzlich unerwartete Zusammenhänge. Obgleich es ein kleines erlesenes Publikum ist, dem er diese intellektuellen Erfahrungen zubilligt, ist Kircher offenbar zuversichtlich, dass seine Überzeugungen und Vorstellungen allmählich Verbreitung finden und die Resultate seiner Forschungen akzeptiert werden. Seine wirkungsbewusste Darstellungsmanier gilt mithin auch der Erreichung dieses Ziels. Die Hypertrophie seiner Einfälle, seine durch Fakten keineswegs immer abgesicherte ars inveniendi, seine szientistischen Phantasmen schießen stellenweise über dieses Ziel hinaus. Andererseits aber geht Kircher ›wissenschaftlich‹ vor: er übernimmt und modifiziert mathematische Verfahren für seine Forschung und benutzt wissenschaftliche Instrumente, wie sie in Physik und Astronomie Anwendung finden.8 Stärker noch als mit den üppigen Gravüren, den Tafeln, Diagrammen, Katalogen und Symbolisierungen vermag Kircher die Verknüpfung von Effekt und Wissensangebot mit seinen Exponaten zu bewerkstelligen und damit das visuelle Staunen für die von ihm gesammelten Wunderdinge zu wecken. Das später so genannte Museo Kircheriano ist nicht nur eine Wunderkammer von rara und preziösen Artefakten – wie sie viele modische Museen der Zeit zur Schau stellen, sondern »part of an encyclopedic threedimensional presentation of the natural world and the history of man and his achievements«. (Bedini 1986, 249-267) Die von Kircher zusammengetragenen Specimina sind nicht nur Schauobjekte, sondern Gegenstände seiner Studien und eng mit seinem wissenschaftlichen Interesse an alten Kulturen und zeitgenössischen fremden Zivilisationen verbunden. Einige seiner Publikationen beziehen sich direkt auf diese Sammlung – so etwa China illustrata. Das Museum stellt zudem Modelle von Obelisken, Musikinstrumente, ethnographische Materialien, Objekte der Naturgeschichte sowie mechanische Apparate aus, die aus der Ingenieurskunst Kirchers hervorgegangen sind.9 Entscheidende Bedeutung für sein Konzept der Entwicklung der Kulturen, Schriften, Sprachen und der Transmission von Wissen, hat Kirchers Berührung mit dem Ägyptischen. Die Schenkung ägyptischer Obelisken und Tafeln hat den Anstoß zu seiner Sammlung gegeben. Der bereits erwähnte Begleitband zur römischen Ausstellung zeigt eine Reihe von Holzmodellen, die Kircher von Obelisken gefertigt und dann ausgestellt hat. Seine Suche nach dem Schlüssel der Hieroglyphenschrift mündet in eine Entzifferungsarbeit großen Stils, der er den Großteil seines Lebens und das dritte Buch seines phänomenalen Werks Oedipus Aegyptiacus mit dem Titel Theatrum hieroglyphicum

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diskutierten »discors concordia« bzw. »concors discordia« (75ff.) haben ihr Pendant in barocker Dichtung und Poetologie. (Lachmann 1994, 101-134.) Zur Einschätzung des wissenschaftlichen Werks Kirchers durch die gelehrten Zeitgenossen vgl. Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit (Fletcher 1988; Rowland 2000, 1-30). Neben der Anerkennung seiner Ergebnisse in den Naturwissenschaften und der Mechanik gab es Kritik an Kirchers Neigung zu Arkanem und Mysteriösem. Vgl. Bedinis Beschreibung und die Interpretation von Kirchers Rolle im Kontext des barocken Kollektionismus (1986, 259).

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zur Gänze gewidmet hat. (Godwin 63) Sergio Donadoni weist Kirchers Hieroglyphenstudium einen Platz in der vom Hermetismus bestimmten Tradition zu, die in der Ägyptologie der Renaissance einen Höhepunkt erreicht. (2001, 101,110) Die Hieroglyphik erscheint in der Renaissance als Ausgangspunkt für eine »nuova scrittura«, die als Ausdruck von Begriffen und nicht mehr als Transkription von Wortlauten, wie sie das Alphabet leistet, funktionieren könnte. Kircher gehört nicht mehr zu denen, die sich der Hieroglyphen zu Schriftzwecken bedienen wollen, sondern strebt ihre Lektüre, d.h. ihre Dechiffrierung an. (Allerdings haben einige seiner Symbolerfindungen auf den Begriffsdiagrammen hieroglyphischen Charakter). Die authentischen Zeichen, die auf den in Rom aufgerichteten Obelisken und der beim Sacco di Roma entdeckten Bronzetafel (der später so genannten Tavola Bembina oder Mensa Isiaca) zu entziffern waren, ließen die Idee ihrer Doppel- oder Vieldeutigkeit im Sinne der Mysterienlehre des Corpus Hermeticum aufkommen. Kircher reproduziert die Tavola Bembina in Oedipus Aegyptiacus. (Donadini 103) Auch für Kircher wie für die Hieropglyphenforscher vor ihm besteht kein Zweifel daran, dass die Hieroglyphen eine alte sapientia transportieren – wobei er sich auf Orpheus, Plato, Pythagoras, Plotin, Jamblichus als Garanten und Hermes Trismegistos beruft, den er als Endpunkt einer Schrifttransmission sieht, an deren Anfang Adam steht.

Abb. 18: Hieroglyphe

Aus: Oedipus Aegyptiacus, vol.3, S.49

Obwohl Kircher die Hieroglyphik im Bereich des ineffabile sieht, will er ihre Entzifferung betreiben, in der Hoffnung auf eine plötzliche Eingebung10 und unter gezielter Anwendung eines Systems, das wie immer bei Kircher eine eigene Logik verfolgt. Das Lesen als Entbergen des Verborgenen ist ein doppeltes, es folgt der konkreten Figuralität des Zeichens und transponiert es in eine symbolische Ordnung, die mit einer kabbala-konformen Methodik ihrerseits interpretiert werden muss. Donadini zeigt die Defizite der Entzifferungstechnik auf und betont zugleich das bleibende Ergebnis der Kircherschen Bemühung, das er im Übergang des Hieroglyphischen als Bezeichnung einer Kategorie in eine konkrete Gruppe von bezeugten Zeichen sieht. (107) Er schließt seine Beurteilung nachgerade enthusiastisch, indem er Kirchers »strenuo tentativo di dar voce all’ ineffabile, di cogliere nel passato la potenzialità di un futuro« hervorhebt. Ihm erscheinen die Forschungen Kirchers wie »un racconto meraviglioso, che trova in se stesso la sua spiegazione« (109) Es gibt eine Reihe von Lösungsfällen, die zeigen, dass Kircher auf der richtigen Spur war; so etwa seine Ableitung des Buchstabens M aus der Hieroglyphe für Wasser, deren phonetischen Wert er korrekt als m wiedergibt. (Abb. 18) 10

Bei Kircher berühren sich Inspiration und Gnade.

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Vier ›Instrumente‹ der Wissensrepräsentation können in Kirchers Werk unterschieden werden:1. Diagramme (mit der Buchstaben- und Zahlennotation von Konzepten, die entweder transparent oder kryptisch sind); 2. kombinatorische Tafeln; 3. illustrative Kupferstiche, die Bild mit Inschrift verbinden; 4. Sammlungen, die Zeichensysteme zum einen und reale Dinge zum andern umfassen. Mithilfe der Diagramme und kombinatorischen Tafeln lernt der Studierende, wie das Wissen von existierenden Wissenschaften und deren Gegenständen zu gewinnen, aber auch wie neues Wissen hervorzubringen sei. Dies gilt vor allem für die Ars Magna Sciendi sive Ars Combinatoria. Die genannten Instrumente sollen auf die systematisierende Funktion der Wissenschaften verweisen und Einblick in ihre Fähigkeit gewähren, die Ordnung des Alls widerzuspiegeln. Während das dem kombinatorischen Mechanismus unterliegende Prinzip auf dem Wege der Kalkulation ermittelt werden muss, ist es die Funktion der Gravüren, fremde existente oder nichtexistente Objekte zu visualisieren und ihnen ihren Platz in der Hierarchie der Phänomene zuzuweisen. Dies gilt für die Exotika in China illustrata, die Bibelinterpretation und gleichzeitige Architekturgeschichte in Turris Babel11 und die Menschheitsgeschichte in Arce Noe. Die Sammlungen wiederum verfolgen zwei Ziele. Zum einen geht es um die Aufdeckung der inneren Struktur der Sprachen ebenso wie der bezeichnenden Funktion der verschiedenen Alphabete, die allein durch Vergleichung erzielt werden soll. Dies gilt für Oedipus Aegyptiacus und Polygraphia. Zum andern geht es, indem das Gesammelte selbst konkret vor Augen geführt wird, um den Einblick in künstlerische und technische Errungenschaften des Menschen, aber auch um den Einblick in die Hervorbringungen der Natur. Hierfür steht das Museo Kircheriano.

20.5 Zwei gegensätzliche Stiltendenzen bestimmen Kirchers Prozeduren der Wissensdarbietung: Amplifikation und Abbreviatur. Beide lassen sich in eben jener Rhetorik verankern, die die genannten jesuitischen acumen-Traktate formulieren. Die detaillierten Diagramme, die quasi endlosen Hervorbringungen der in Gang gesetzten ars combinatoria und die nachgerade exhaustiven Nomenklatur-Kataloge sind vom amplifikatorischen Stil gekennzeichnet. Die strenge Disziplin der steganographischen Notierung folgt dem der Abbreviatur. Eine Gedankenfigur ist es, die die Logik des Notationssystems und den Mechanismus der Kombinatorik determiniert: die des Netzwerks. So wie die kombinatorischen Tafeln, insbesondere die Alphabettableaux die Syntax und Semantik der Sprachen ersetzen, wird der Sprecher selbst vom Notationssystem und dessen Automatismus ersetzt. Aber es wäre nicht gerechtfertigt, ausschließlich diesen antihumanen Impuls in Kirchers Lern- und Lehrkonzept zu sehen. Kirchers Schriften lassen durchaus erkennen, dass er das visionäre Ziel verfolgt, die Menschheit mit Wissen zu durchwirken, ihr Einsicht in die göttliche Ordnung zu vermitteln und sie zum Teil dieser Ordnung gedeihen zu lassen – Beatifikation durch Wissen. 11

Zu Kirchers Berechnungen des Turmbauplans und seine Beurteilung der architektonischen Leistung Nimrods Wegener 1995,129-175.

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Ob für Kircher Wissen ein Gegenstand ist, der seiner Reflexion in Diagrammen, Tafeln und visuellen Darstellungen vorausliegt, oder ob Wissen das Konglomerat dessen ist, was die Wissenschaften über die Welt herausgefunden haben (mithilfe von Theorien, Analysen, Experimenten, Konstruktionen), bleibt dabei offen. Kirchers Terminus scientia bedeutet »Wissenschaft« und »Wissen« zugleich. Scientia in diesem Doppelverständnis beantwortet nicht die Frage, ob Wissen der Wissenschaft vorausgeht oder aus ihr resultiert. Jedoch impliziert Kirchers Annahme einer Korrespondenz zwischen allen Seinsebenen, dass Wissenschaft dem wahren Status der Dinge entspricht und Wissen der Wissenschaft. Im Kontext der Korrespondenzvorstellung erübrigt sich die Frage nach der Priorität.

20.6 In Comenius’ Sicht gerät die gesamte sichtbare und erkennbare Welt zum Gegenstand des Studiums. Sie wird als aus einer finiten Anzahl von Elementen bestehend gedacht, deren Aufeinanderfolge einer inneren Logik folgend terminologisch dargestellt werden kann – oder anders: die implizite Ordnung der Welt soll mithilfe eines konkrete Sätze initiierenden Lexikons explizit hervortreten. Die durch Wiederholung herbeizuführende Einprägung der Namen (der Benennungen) verhilft nicht nur zur Wiedererkennung der Dinge (seien sie vertraut oder unvertraut), sondern trägt gleichzeitig dazu bei, eine Sprache zu erlernen: und zwar das Lateinische als die universale Sprache der Benennung. Indem der Schüler ein Substantiv mit einem Verb kombiniert, wird er angeleitet, einfache Sätze zu bilden, die in einem Entsprechungsverhältnis zur pictura stehen, deren Objekt ein Ding, eine Handlung oder ein Begriff ist. Comenius’ Orbis pictus-Fibel erscheint als ernstzunehmende Konkurrenz zu einer der traditionellen Disziplinen des Triviums, nämlich der Rhetorik, und zwar in zwei ihrer konstitutiven Bestandteile, der inventio und der memoria. Die traditionellen für die Bewahrung aufgestauten Gemeinwissens bereitgestellten Kategorien der topica werden durch ein neues Prinzip ersetzt oder – genauer- erweitert. Dieses besteht in der konsequenten Verknüpfung von pictura und nomenclatura. Die Regeln, die die inventio für die Findung eines Gegenstandes oder das adäquate Argument für eine Rede enthält, werden durch die Ordnung der Dinge und der Wörter aufgehoben. Der comenianische Schüler wird nicht mit dem Ziel ausgebildet, ein Meister der Rhetorik zu werden; die Fertigkeiten, die er erwirbt, sollen ihn die vielschichtige Struktur der Welt verstehen lehren, ihn dazu führen, res und verba korrekt zu verbinden und sinnvolle Sätze herzustellen, deren Qualität ein erneuertes und ›gereinigtes‹ Latein verrät. – Comenius, hierin Erasmus folgend, verwirft den in seiner Zeit vorherrschenden degenerierten, verkünstelten Ciceronianismus (Margolin 1978, 225). Für Comenius zählt die Klarheit der Benennung, die auf einer eindeutigen Relation zwischen verbum und res, Signifikant und Signifikat, beruht. Obgleich Comenius wie Erasmus weiß, dass Vieldeutigkeit ein unvermeidbares Ingrediens der Sprache ist, verfolgt er eine Strategie, die die direkte Verbindung zwischen Wort und Ding unmißverständlich herstellt. Die Bilder werden nicht zu dekorativen und unterhaltenden Zwecken eingesetzt, vielmehr

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fungieren sie als sekundäre Signifikanten, die die eindimensionale Beziehung zwischen verbum und res bestätigen. Allerdings sollte man – bezüglich der Originalität der Bildfindung – einräumen, dass das imaginarium des Orbis pictus Elemente der älteren emblematischen Tradition beibehält. (Jedenfalls lassen einige der picturae darauf schließen, dass der Symbolismus der Emblemata Comenius bekannt ist12 .) Als alternativer Repräsentationsmodus bereichert die bildliche Darstellung die abstrakte nomenclatura, indem sie die Dinge vor Augen führt, ihnen Gestalt verleiht und sie in einem wohl definierten Rahmen ihren Platz anweist. Indem Comenius sich des Verfahrens der enargeia (der Vergegenwärtigung) bedient, eines rhetorischen ebenso wie eines mnemonischen, mnemotechnischen Verfahrens, modifiziert er die Gedächtniskunst des Simonides und deren Tradition. Die imagines in Simonides techne, an ausgesuchten loci niedergelegt, ersetzen die zu erinnernden Dinge allein in der Vorstellung, sie sind imaginäre Hervorbringungen. Diese Prozedur kann man als Aktivierung des ›inneren‹ Gedächtnisses bezeichnen. Der Orbis pictus hingegen ›verkörpert‹ diese Prozedur, die imagines treten hervor, sie werden sichtbar und verlieren das Pathos einer exorbitanten inwendig produzierten Bildwelt, wie sie die antike Mnemotechnik auszeichnet. Als Schüler von Johann Heinrich Alsted partizipiert auch Comenius an der lullistischen Tradition und an deren kabbalistischer Grundlage. Alsteds Clavis artis lullianae von 1609 und seine Tabula ad artis brevis cabalae tractatus von 1610 begründen eine »allgemeine Wissenschaft, die ein Wahrheitskriterium für alle Manifestationen des Wissens zu Verfügung stellt«, wie Paolo Rossi formuliert (Rossi 1983, 203). Alsted besteht auf der Universalität der Prinzipien und der Notwendigkei zu systematisieren und zu memorieren. Sein Hauptinteresse jedoch ist die Reform der bestehenden Pädagogik, und zwar in Entsprechung zu einer Wissensordnung, die auf enzyklopädischer und visueller Repräsentation beruht. Visuelle Repräsentation hat sich aus der Idee des theatrum mundi entwickelt, wie sie im 16. Jahrhundert von Giulio Camillo und anderen in Szene gesetzt worden ist. Comenius macht sich diese Ideen zu eigen. Seine Pansophia spiegelt den Enzyklopädismus der lullistischen Tradition ebenso wider wie andere im 16. und 17. Jahrhundert propagierte Konzepte, etwa diejenigen einer polymathesis, panourgia, pancosmia. Sein Orbis sensualium pictus verbindet mithin die Tradition der ars memorativa mit einer Visualisierungsvorstellung, die ihrerseits mit der Emblematiküberlieferung verbunden ist. Comenius interpretiert den Titel seines Orbis-Buchs mit folgendem Satz: »Es ist, wie ihr seht, ein kleines Büchlein: aber gleichwohl ein kurzer Begriff der ganzen Welt und der ganzen Sprache, voller Figuren oder Bildungen, Benamungen und der Dinge Beschreibungen«.13 Res sensibilia beeindrucken die Sinne. Die Sinne erfassen das Bild

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Z. B. Cesare Ripas Iconologia von 1593 (ein imago mundi – Buch). So in der latein-deutschen Version von Orbis sensualium pictus. Hoc est omnium fundamentalium in mundo rerum et in vita actionum pictura est et nomenclatura. Editio secunda, multo emaculatior et emendatior. Die sichtbare Welt das ist aller vornehmsten Weltdinge und Lebensverrichtungen Vorbildung und Benamung, Noribergae 1659, in: Johannis Amos Comenii opera omnia, tom.17, hg. Jaromír Cervenka, Stanislav Králík, Jirí Kyrásek, Prag 1970.

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des wirklichen Dings, um sie der memoria zuzuführen. Die Bilder spiegeln alle sichtbaren und unsichtbaren ›Dinge‹. Comenius setzt eine Korrespondenz oder eher Analogie zwischen seinen pädagogisch aufgebauten Bildern und dem »großen Theater der Welt, das Gott mit seinen Gemälden ausgestattet hat«, voraus. Der »Tempel der christlichen Pansophia«, der den Gesetzen des göttlichen Architekten entsprechend erbaut ist, gilt den Völkern aller Sprachen. Indem alle natürlichen Produkte der Welt und der menschlichen Ingeniosität sowie die Konzepte des Unsichtbaren: Gott und die Engel, in Zusammenhang gesehen werden, folgt die Pansophia konsequent der Idee einer catena scientiarum. Das All-Buch wird als eine wohl geordnete Struktur aufsteigender Stufenfolge gesehen: der orbis sensualis wird vom orbis intellectualis gefolgt. Was für Comenius’ Annäherung an die unitarische und allgemeine Ars wichtig ist, ist die Zurückweisung von Teilelementen, die lediglich aufgezählt und chaotisch arrangiert werden. In seiner Sicht kann die Totalität nicht erlangt werden durch eine erschöpfende Sammlung einzelner Dinge und einzelner Wörter. Pansophia (Schmidt-Biggemann 1989) wird als ein lebender Baum begriffen, in sich zusammenhängend und daher zum Wachsen begabt.

20.7 Trotz vieler Parallelen zwischen Kirchers und Comenius’ Konstruktionen, erscheint die Metapher des wachsenden lebendigen Baumes, die Comenius hier benutzt, als Antipode zu den Drehscheiben der mechanischen Kombinatorik und der cyclosophica methodus. Zwar greift auch Kircher, wie oben angeführt, auf die Baumgestalt zurück, doch wird das Natürliche vom Schematischen überlagert. Auch Comenius verlässt sich nicht auf die Baummetapher allein. Sein Konzept einer auf universeller Logik und einer beschränkten Anzahl von Axiomen (ihrerseits eine Vielzahl von Begriffen und Objekten umfassend) setzt die Existenz von rationes voraus: »Eadem proinde sunt rerum rationes, nec differeunt, nisi existendi forma quia in Deo sunt ut in Archetypo, in natura ut in Ectypo, in arte ut in Antitypo« (Pansophiae prodromus, 67). Zur Legitimation seiner Idee der Verkürzung und Kondensierung in eine Reihe von rationes oder Prinzipien postuliert Comenius eine göttliche, aus nur wenigen Elementen und nur wenigen unterschiedenen Formen bestehende Schöpfung. Die Vorstellung des Enthaltenseins aller Einzelphänomene in einer geringen Anzahl von Repräsentanten erscheint als eine Version des omnia-in-omnibus-Konzepts. Comenius bevorzugt eine Analogie zu naturwissenschaftlichen Befunden: die Kunst der Verdichtung, d.h. Kondensierung komme einem chemischen Prozeß gleich, der die Essenz der Dinge von ihrer überflüssigen Materie befreie, indem in einem kleinen Tropfen die Stärke der Mineralien und Pflanzen konzentriert werde. Eine Vorbedingung für seine Kunst, die sapientia zu lehren, besteht allerdings in dem perfekten Parallelismus zwischen Dingen und Begriffen, zwischen Bildern der Begriffe und den Wörtern. Die Pansophia, die in Comenius’ Konzept eine finite Anzahl von Prinzipien und die fest etablierte Ordnung von res und verba darstellt, wird den Irrtum – der Haß und Krieg bedeutet – ausmerzen und die Menschheit letztendlich der Erlösung zuführen (Pansophia, 44). Der Orbis pictus, der sich an Kinder richtet, ist von extremer Einfachheit.

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Die Einlinigkeit in der Verbindung von Zeichen und Begriffen wird durch das ganze Buch hindurch aufrechterhalten. In Orbis ebenso wie in dem anderen grundlegenden pädagogischen Werk Janua linguarum reserata werden Wörter als Zeichen für Dinge und Begriffe eingesetzt, und der Lernvorgang selbst lebhaft durch das theatrum imaginum unterstützt. Auf diese Weise wird eine Sprache erworben, d.h. Spracherwerb betrieben. Comenius’ Umgang mit Kindern basiert auf sorgfältiger Beobachtung ihrer Lerngewohnheiten. Als Lehrer an der deutschen Schule im mährischen Fulnek und später im polnischen Leszno experimentiert Comenius mit seinen pädagogischen Plänen. Die totale Reform des Lateinunterrichts ist das Ziel, auf das er zuarbeitet. Leitende Vorstellung dabei ist, auf angenehme und verständliche Weise die Regeln der Korrelation zwischen dem Studium der Sprache und dem Wissen von den Dingen zu vermitteln. Zu diesem Zweck reduziert er das zu erlernende Vokabular von 8000 (wie noch in Janua) auf 4000 Wörter (Schorb 1085. 102-108). Jean-Claude Margolin sieht in diesem Ziel die Wiederentdeckung eines »Didactic activism« (225). Wie Erasmus in De pueris instituendis betrachtet Comenius Erziehung als eine lebendige Dialektik zwischen Lehrer und Schüler. Die invitatio, die den Orbis pictus eröffnet – ein Dialog zwischen puer und magister, den beiden Protagonisten des didaktischen Dramas – lautet dementsprechend: »Magister: Veni, puer! Disce sapere/Puer: Quid hoc est, sapere?/M: Omnia, quae necessaria, recte intelligere, recte agere, revte loqui./P: Quis me hoc docebit?/M: Ego, cum Deo./P: Quomodo?/M: Ducam te, per omnia, ostendam tobo omnia, nominabo tibi omnia./P: En adsum! Duc me, in nomine Dei.« (7) Der Magister, der sich als diejenige Person zu erkennen gibt, die zu lehren und einen Knaben zum Schüler zu machen wünscht, bedient sich des omnia mit beschwörender verbaler Geste. Das Versprechen, alles zu lehren, was nottut, um zu verstehen, recht zu handeln und artig zu sprechen, alles zu zeigen, alles zu benennen und den Schüler durch alles zu führen, klingt wie eine ›Verführung‹, der der puer unterliegt: »Hier bin ich, führe mich«. Es ist dies eine eindrucksvolle Ouvertüre zu einem Bilderbuch, das die sichtbare Welt und deren leitende Vorstellungen in 150 semantischen Feldern und deren piktoralen Entsprechungen verdichtet vorlegt. Der Orbis pictus enthält, wie Margolin nachweist, Kernideen aus Erasmus’ De duplici copia verborum ac rerum und De rebus ac vocabulis. Comenius elaboriert und radikalisiert die darin enthaltene didaktische Einsicht, dass der Erwerb einer Sprache (Latein, Griechisch, Hebräisch) und die Erfahrung der Welt als untrennbar miteinander verkoppelt gelehrt werden können: »Vocabula sunt notae rerum: verbis recte perceptis, res percipiuntur, et utrumque discitur melius junctim quam separatim«, so in Janua linguarum (vol.l2, col.476). Die Namen sind die Zeichen der Dinge: durch Worte korrekt bezeichnet, werden die Dinge wahrgenommen; beide, verba und res, werden besser zusammen als getrennt gelernt. Die Sprache als das übergeordnete Zeichensystem und die Enzyklopädie als die Summe der bekannten Dinge müssen identisch sein. Der Untertitel der Janua linguarum lautet wie folgt: »Seminarium linguarum et scientiarum omnium«. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Sprache nicht nur die Wissenschaften und die Objekte, die diese darstellen, bezeichnet, sondern dass die Sprache selbst Wissenschaft ist. Bezeichnen, den Dingen eine Nomenklatur verleihen bedeutet, ihr Wesen enthüllen und ihren Ort in der kosmischen Ordnung definieren. Sprache-Wissenschaft ent-

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spricht der »ewigen Wahrheit der Wirklichkeit«. Junge Lernende müssen stufenweise und durch vereinfachende Methoden zu dieser Wahrheit geführt werden. Und diese Methoden müssen die Tatsache außer Acht lassen, dass das Zusammentreffen von Wort und Ding nicht eindeutig, nicht univok, sondern durch Äquivokationen und Ambiguitäten gestört, ja bedroht ist, und dass die Vielzahl von Sprachen die Nomenklatur der Dinge vervielfältigt. Der zuletzt genannte Umstand scheint für Comenius kein Problem darzustellen, da sein Konzept einer alles umfassenden Korrespondenz auch Analogien und Parallelismen zwischen den bestehenden Sprachen einschließt. Das lateinische Bilderbuch ist so konzipiert, dass die bilderläuternden Sätze nahezu wortwörtlich in andere Sprachen übersetzt werden können.14

20.8 Ebenso wie Comenius die ursprüngliche und fundamentale Rolle der Sprache hervorhebt, bereichert er seine linguistische Pädagogik mit einem piktoralen Komplement. (Hier sei noch einmal Erasmus als Quelle für den Einsatz dieses Mediums genannt). Auf diese Weise wird die eins-zu-eins-Beziehung zwischen verbum und res durch das Imaginarium bestätigt und verstärkt. Die visuelle Darstellung dupliziert die verbale, indem sie die zu lernenden Objekte auf theatralische oder szenische Weise organisiert. Mehr noch, die visuelle Darstellung wird als Teil einer ars memorativa verstanden. Die ternäre Konstellation, die aus dem Ding (bekannt oder unbekannt), seinem verbalen und seinem piktoralen Zeichen besteht, ist von komplexen Zeichenrelationen bestimmt, von einer vielfältigen gegenseitigen Signifikation. Das Wort bezeichnet das Ding, so wie es das Bild tut; d.h. das Ding ist das Signifikat sowohl des Wortes wie des Bildes. Gleichzeitig bezeichnet das Wort das Bild, indem es auf das Ding zeigt, das es darstellt, und das Bild bezeichnet das Wort, das es illustriert. Comenius selbst ist sich der komplexen Wechselbeziehungen zwischen nomenclatura, pictura und descriptio rerum klar, wie aus dem Vorwort zu Orbis pictus hervorgeht. (Praefatio, 3) Die memorative Funktion der Bilder ist eng mit dem szenischen Stil der Repräsentation verbunden. Das Bild, insbesondere im Falle von unvertrauten und fremden Objekten, wird seinen Eindruck im Gedächtnis hinterlassen und wird helfen, dessen Namen zu erinnern. In der Pansophia kommentiert Comenius diesen Effekt: »das Bild

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In den zahlreichen Wiederauflagen des Orbis pictus wird das lateinische Original von Übersetzungen in vernakulare Sprachen begleitet, zunächst deutsch, dann polnisch, tschechisch und ungarisch. Als das Buch zu einem fundamentalen pädagogischen Instrument geworden war, folgten Übersetzungen in alle europäischen Sprachen ebenso wie in einige nicht-europäische, so zum Beispiel ins Japanische. Eine Übersetzung der Originalversion erschien 1996 in Tokyo. Die jeweiligen Neuauflagen des Orbis, dessen didaktisches Potential sich nicht zu erschöpfen schien, wurden dem jeweiligen ›neuen‹ Stand des Wissens und der Technik angepaßt. Die viersprachige Ausgabe Jana Am. Komenského Orbis pictus. Svet v v obrazích. Die Welt in Bildern. Le monde en tableaux, Hradec Královy 1883, aus der die hier zitierten kolorierten Bilder stammen, führt unter Commeatus. Verkehr etc. das curriculum frerratum an.

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eines Elephanten, wenn ich das Tier gesehen habe, und sei es nur ein einziges Mal, sogar als effigies, wird in mir einfacher und stärker haften bleiben, als wenn man es mir zehnmal beschrieben hätte«. (Pansophia, col.414) Verglichen mit den (vorgestellten, eingebildeten) imagines der Mnemotechnik ist das Bild in Comenius’ Orbis ›wirklich‹, es zeichnet das Ding, das es meint, als schematisierte Erscheinung. Das heißt, es muss als solches ernst genommen werden, denn es ist weder ein Substitut noch das Ergebnis einer imginativen Transposition. In seinen Janua kommentiert Comenius sein enzyklopädisches und linguistisches Unternehmen, indem er auf die Verbindung von Wissensvermittlung und der Anleitung zum Erlernen der lateinischen Sprache verweist, die sein Buch anstrebt. (vol.1, col.253). Sein eigener Orbis ist ein Beispiel für ein solches Buch, wie das oben deutsch zitierte Diktum bestätigt: »Libellus est, ut videtis, haut magnae molis, Mundi tamen totius et totius Linguae breviarium, plenus Picturis, Nomenclaturis, rerumque Descriptionibus« (Praefatio, S. 3).

20.9 Der Anspruch, die Totalität sowohl bildlich als auch wörtlich darzustellen, hat seinen Platz in der theatrum-mundi-Tradition. Comenius selbst reiht sich in diese Tradition mit einer frühen zunächst tschechisch verfassten Schrift Theatrum universitatis rerum von 1616 -1618 ein.15 Der spektakuläre Höhepunkt dieser Tradition ist allerdings bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vor dieser Schrift in Giulio Camillos L’ idea del Theatro erreicht worden. Camillos amphitheatralische Architektur, das Theatro della memoria, als konkret gebautes Pendant seiner Schrift, ist dem gebildeten Publikum des 16. Jahrhunderts bekannt gewesen. Ein Augenzeuge des für Franz I. von Frankreich hergestellten zimmergroßen, später zerstörten Wissensamphitheaters ist der Sekretär von Erasmus, der die Konstruktion (bestehend aus neun Rängen und sieben von Planetemsymbolen und den Sephirot markierten Abteilungen, die auf einem Schubfachfundament ruhend die basalen Texte der Menschheit bereithielt) vielleicht sogar betreten hat. Es macht die Idee einer ordo-memoria sichtbar. Die Speicherung astraler, mythologischer, allegorischer und textueller Daten, in strenger Folge arrangiert und durch Stufen und Sektionen strukturiert, wird als revolutionäre Tat in der Geschichte der ars memorativa gewertet. (Bolzoni 1989) Das Theatro löst die traditionelle Vorstellung des Erinnerns als Wiederholung oder als Transposition von res und verba in imagines ab. Um von dem versammelten, gleichsam aufgehäuften Wissen ›beeinflusst‹ zu werden, hatte der Schüler das Theater zu betreten und in dessen Mitte Position zu beziehen. Auf der Szene platziert, wie ein zur Passivität verurteilter Akteur, hatte er nichts weiter zu tun als dem Wissen auf den Rängen zu erlauben, auf ihn einzuwirken. Camillos Idee war, dass die Energie des Wissens, die im Gebäude konzentriert worden war, den Schüler durchdringen sollte, eine

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Zur Interpretation dieser frühen Schrift mit dem Untertitel Divadlo sveta im Kontext der PansophiaKonzeption Kozmín (1996, 457-466).

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Idee, die er aus der Spekulation über Astral-Influentia gewonnen hatte. Von Wissen durchwirkt, war der Schüler nicht länger gehalten, zu wiederholen oder zu lernen. Comenius’ Orbis pictus behält einige Züge des Theaters bei: Das Gebäude ist ein architektonisches Buch geworden, die Abteilungen und Ränge sind ersetzt durch eine Bildsequenz, die der Schüler Seite für Seite zu studieren hat. Die Folge selbst enthüllt stufenweise den inneren Zusammenhalt der bebilderten Welt; Camillos Anlage hingegen wirkt auf den Geist in einem einzigen Augenblick, blitzartig. Comenius’ Strategie der Beeinflussung – nicht mehr astral, sondern entschieden irdisch-sinnlich – nutzt die Macht beeindruckender und Spuren hinterlassender Bilder. Um diese Wirkung zu garantieren, greift Comenius nicht auf das barocke affektorientierte Imaginarium des Grausamen zurück, sondern pflegt einen gemäßigten Stil der Beeinflussung. Auch die Definitionen des Orbis sind in ihrer Einfachheit und Plausibilität und der Vermeidung von Mehrdeutigkeiten für eine ruhige Aufnahme geeignet. Die Eingangszeichnung des Orbis pictus (Abb. 19) zeigt die prototypische Lehrszene: die Begegnung des weisen bärtigen Mannes mit dem unkundigen Knaben. Der Lehrer durch eine Geste (erhobener Arm, weisender Finger) typisiert, sein Kopf, in direkter Beziehung zur Sonne (vgl. die Lichtmetaphorik in Comenius’ Via lucis), ist dem Schüler zugewandt, dieser wiederum wendet ihm sein aufmerksames Ohr zu. Hinter dieser Szene wechselseitiger Zuwendung liegt die Welt, deren Komponenten in der folgenden Sequenz der Zeichnungen vorgestellt und erklärt werden sollen. Diese ›Urszene‹ des Lernens/Lehrens ist statisch, ein tableau vivant. In identischer Form erscheint sie erneut als die clausula des Orbis. Zwischen diesen beiden identischen Bildern stellen 150 Zeichnungen, beginnend mit »Deus« und endend mit »Judicium extremum«, dasjenige aus, was Comenius als die necessaria des Wissens für den Intellekt eines Kindes erachtet. Der Begriff »Deus« wird emblematisch dargestellt: man sieht eine aus drei konzentrischen Sphären bestehende Scheibe, wovon die zweite ein Dreieck, die dritte ins Dreieck eingelassene Sphäre die Inschrift des Tetragrammaton trägt. Dies ist das abstrakteste seiner Bilder. Die ihm zugeordnete Erklärung fasst alle Theologica der Zeit zusammen und liest sich wie eine comenianische Version des Credo. (Abb. 20) Das Prinzip des Zusammenfassens und Verdichtens wird in allen Erklärungstexten aufrechterhalten. Zunächst aber wird die nomenclatura eines Dings oder eines Begriffs festgestellt und mit dem jeweiligen bildlichen Gegenpart verbunden. Die Versammlung von Dingen, das gesamte sie umgebende semantische Feld, das die Bilder jeweils umreißen, werden durch die Erläuterungen sinnvoll erschlossen, die jedem Bildelement gewidmet sind und dessen Funktion und Ort in der weltlichen Sphäre anzeigen. Die von der nomenclatura erzeugte Serie umschließt alle Sätze, die vernünftigerweise über das jeweilige Ding als Wahrnehmungsgegenstand ausgesagt werden können. Daraus ergibt sich eine Art erneuerter Topik. So etwa ruft »Ignis« das mit dem Element Feuer verbundene semantische Feld auf: Schornstein, glühende Asche, Kerzenlicht, Feuersbrunst etc. (Abb. 21) Die primären Begriffe bringen eine Vielzahl von Einzelelementen hervor. Diese werden auf den Bildern selbst mit Nummern versehen, so dass der Zusammenhang zwischen Bildelement und Erklärung leicht hergestellt wird. Einige der picturae-nomenclaturae haben keine Satzentsprechungen, sondern werden lediglich durch eine Aufzählung

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von Arten und Unterarten bestimmt, so etwa bei Früchten, Gemüse, Tierrassen. In »Deformes et Monstrosi« werden menschliche Abnormitäten nicht auf ihre Verursachung hin erklärt, sondern lediglich bezüglich ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen benannt. Nicht die Frage nach dem warum, sondern die nach dem wie lenkt auf die Erscheinungsformen des Gegebenen. Im einzelnen wäre zu prüfen, ob Kataloge dieser Art das biologische und zoologische Wissen der Zeit wiedergeben oder ob ältere Traditionen zugrunde liegen (etwa Plinius’ Historia naturalis oder die Tradition des Physiologus). Es fehlt das Moment des Wunderbaren und Fabelhaften, das die ›Kreaturen‹ Kirchers auszeichnet. Neben den Anomalien wird Comenius’ Schüler auch mit Informationen konfrontiert, die ein Normalbild des Menschen wiedergeben und gewissermaßen als anthropologische Unterweisungen gelten können. Die Beschreibung dessen, was Comenius die »Sensus externi et interni« nennt, macht auf die primär physiologische Grundlage menschlicher Fähigkeiten aufmerksam und erlaubt, auf eine dem Wissen der Zeit konforme opinio communis zu schließen. Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext die Darstellung des Gehirns, das als Ort vieler Funktionen erscheint: der »sensus communis« erfasst, was die äußeren Sinne vermitteln (ein aristotelisches Konzept), die »phantasia« ist ein denkender und träumender Sinn, die »memoria« ein konservierender und reproduzierender Sinn, der seinen Gegenpart im Sinn der »oblivio«, der die Dinge verliert, und einen weiteren im Sinn des »somnus« hat, der alle Sinne ruhen lässt. (Abb. 22) Aufmerken, Erfassen, Denken, Träumen, Behalten, Erinnern, Vergessen und Löschen oder Ausschalten sind die Funktionen, die Comenius als physiologische anführt, die wiederum von einem anderen ›anthropologicum‹, dem der Seele, unterschieden sind. Die als Energie des Körpers bezeichnete »anima« verfügt ihrerseits über drei Fähigkeiten: »intellectus«, »voluntas« und »animus«. Diese verhelfen zur Unterscheidung von gut und böse und äußern sich in Annahme und Verwerfung, Streben und Flucht. Das Gegenstück, die »cognitio falsa«, bedeutet Irrtum oder »opinio«, im Sinne einer »dementia«, und »suspicio«. In diesem Werk hat Comenius’ Entwurf der menschlichen Fakultäten im Gegensatz zu seinen philosophischen Abhandlungen keine spezifische spirituelle Referenz, noch stellt er eine transzendente Spekulation dar. Vielmehr ermöglichen die aufgezählten zerebralen und psychischen Fähigkeiten zusammengenommen das rechte Verstehen der vorhandenen Welt und das moralische Handeln in ihr. Es sind die Abweichung, das von der mens sich Trennende, die de-mentia, und das falsche Verständnis, die falsche Einsicht, »cognitio falsa«, die zum Zweifel, zur Unsicherheit führen – wenn man suspicio so interpretieren kann. Comenius stellt fest, wie das menschliche Wesen zu denken, wahrzunehmen und zu handeln vermag. Doch steht hinter diesen nicht theologisch argumentierenden Feststellungen eine fundamentale Schöpfungstheologie. Die verschiedenen Wissenszweigen gewidmete Abteilung wird durch Bilder eingeleitet, die »Ars scriptoria«, »Papyrus«, »Typographia«, »Bibliopolium«, »Liber«, »Schola« heißen. Zusammen mit den entsprechenden Nomenklaturen entfalten diese Bilder in großem Detail das semantische Feld von Schreiben und Lesen. In der Ars scriptoria liefert Comenius nicht nur einen kurzen Überblick über Formen des Schreibens, sondern

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vergleicht unterschiedliche Schrifttypen (das Hebräische, das Chinesische, das Indische), ein Vergleich, der in nuce an Kirchers Unternehmen gemahnt. (Abb. 23) Die Philosophie, als Wissenschaft verstanden, umfasst Arithmetik, Physik ebenso wie Metaphysik und wird von Wissenszweigen wie Geometrie und Astronomie komplettiert, Disziplinen, die messen und beobachten. Die astronomische Sektion, die sich auf Mondphasen und Planetenpositionen bezieht, gibt keinen Aufschluß über Comenius’ Antikopernikanismus. (Andernorts wird Copernicus’ Doktrin als unbewiesene Hypothese, die die göttliche Ordnung störe, abgewehrt). Die Darstellung des Handwerks, der Geräte, der vom Handwerker auszuführenden Tätigkeiten und der Erzeugnisse der Handwerkskunst kontrastiert mit der Einfachheit der Definitionen und Kataloge. Denn sie ist ausführlich, gelegentlich sogar narrativ angelegt und wartet mit an Genrebilder erinnernden Szenen des Idyllischen auf. (Abb. 24) Dies gilt auch für die über soziale, meist verwandtschaftliche Beziehungen und über städtische Architektur und Einrichtungen berichtenden Darstellungen. Sogar das Bild der »Septem aetates hominis«, das den Jungen, der gerade die Wiege verlässt, um auf die Weltbühne zu treten, und den Alten, der diese in Richtung seines Grabes verlässt, zeigt, hat etwas Idyllisches. Es ist ein friedlicher Kommentar zu Geburt und Tod (Abb. 25). Alles was geschieht und existiert, hat seinen Platz in der irdischen und kosmischen Topographie.

20.10 Comenius’ Theatrum-Idee ist gegenwärtig sowohl in dem in viele Abteilungen gegliederten Buch als auch in der ›Vorführung‹ von einhundertfünfzig Einzelszenen. Die heilbringende erlösende Dimension des ordo-Prinzips, auf dem das theatrum gründet, tritt deutlich hervor, wenn es mit der gegensätzlichen Idee, der des Labyrinths, konfrontiert wird. In seinem poetischen ›Seelen-Bildungsroman‹ Labyrint sveta a ráj srdce (Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens) von 1623 konstruiert Comenius eine Weltsicht, die weder von den rationes noch von der sapientia geleitet zu sein scheint. Der als Beobachter eingeführte Pilger erweist sich als unfähig, die von einem erhöhten Posten aus betrachtete Welt als sinnvolles Gefüge zu erkennen, vielmehr zerfällt sie unter seinen Augen in unzählige Bestandteile. Er nimmt sie als Labyrinth wahr, dessen Plan ihm verborgen bleibt. Die auseinanderstürzende Welt ist ein Wirrwarr von zufälligen Dingen, abstrusen Erscheinungen und von einer Menschheit bevölkert, die ziellos umherwandert und zwecklose Tätigkeiten verrichtet. Die Atopie der Dinge und Handlungen ist Folge des Fehlens einer nomenclatura (oder dessen Ursache). Das Labyrinth ist Gegenbild zu jenem, das die quasi erschöpfenden Kataloge und unbefragten Klassifikationen von der Welt herzustellen vermögen. Es erscheint als Ordnungsverfremdung, als Parodie eines Systems. Die Welt als Labyrinth16 wahrnehmen bedeutet die pädagogische Enzyklopädie dekomponieren und das Vertrauen in die Regeln und die ewigen Prinzipien erschüttern. 16

Vgl. Kap. 22.

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Außerhalb der Ordnung, die in und durch Sprache artikuliert wird, verliert die Welt ihre Gestalt. Das Labyrinth ist eine negative Enzyklopädie. Comenius hat es bekanntlich nicht dabei bewenden lassen: im zweiten Erlösung verheißenden Teil des Werks wird der Pilger-Beobachter dazu gebracht, die göttliche Ordnung zu erkennen, die in allem waltet. Der durch das Labyrinth verstörte Leser wird durch die Paradiesdarstellung versöhnt.17                                                                       17

Um die Spezifik des mit dem Verfremdungsblick ausgestatteten Pilgers des Labyrinths zu sehen, wäre ein Vergleich mit dem Reisenden aus Kirchers Iter exstaticum von 1656, das Leinkauf als dessen »kosmologisches Hauptwerk« bezeichnet, aufschlussreich.

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Abb. 19: Invitatio

Aus: Orbis pictus (Einleitung), 1970, S.69 (vgl.Angabe FN 38)

       

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Abb. 20: Deus

Aus: Orbis pictus, 1883, S.3 (vgl. Angabe FN 38)

     

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Abb. 21: Ignis

Aus: Orbis pictus, 1970, S.75

           

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Abb. 22a: Sensus

Aus: Orbis pictus, 1970, S. 120

         

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Abb. 22b: Sensus

Aus: Orbis pictus, 1970, S. 120

                                                 

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Abb. 23a: Scriptoria

Aus: Orbis pictus, 1883, S. 226

       

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Abb.23b: Scriptoria

Aus: Orbis pictus, 1883, S. 226

   

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Abb. 24: Tractatio lini

Aus: Orbis pictus, 1970, S.145

                 

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Abb. 25: Aetates

Aus: Orbis pictus, 1883, S. 83

     

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20.11 Kircher und Comenius sind in ihrem Bestreben, eine ars generalis zu etablieren, Vertreter einer universalistischen Metaphysik. Ihre konzeptuellen Verwandtschaften bestehen in der Annahme eines unifizierenden Prinzips, auf das alle Einzelphänomene zurückgeführt werden können, ebenso wie in der utopistischen Überzeugung, dass die Wissenschaft, die allein die Prinzipien aufzudecken vermag, die Menschheit erleuchten und sie so an der göttlichen Wirklichkeit teilhaben lassen werde. Beide Metaphysiker teilen prominente Gedankenfiguren (historische ebenso wie zeitgenössische): catena rerum, omnia in omnibus, theatrum mundi, encyclopaedia, pansophia, Universalsprache etc. Mehr noch, ihre Methoden der Wissensdarstellung haben gemeinsame Züge: die Sammlung der Elemente, deren Auflistung, Systematisierung und Klassifizierung, der Einsatz des Vergleichs (der Analogie und des Parallelismus), die ›Ausstellung‹ der Daten und deren Speicherung. Sie unterscheiden sich jedoch in den Weisen des Gebrauchs und des Einsatzes der Zeichensysteme, deren sie als Ordnungsstifter bedürfen. Während Kirchers kombinatorische Unternehmungen, die auf der Zahl, dem Buchstaben, dem Begriff aufruhen, in diagrammatisch ausgerichteten Konstrukten enden, gründen jene von Comenius auf der Sprache; folglich haben seine Daten eine syntaktische Struktur. Die semiotischen Vorgänge, deren Ursprung bei beiden Autoren in Gott als dem uranfänglichen semeiothetes und der arche jeder Semiose zu suchen ist, spiegeln diesen Ursprung wider und determinieren die widerspiegelnde Methode selbst. Semiosis ist der ›objektive‹ Aspekt von Kirchers und Comenius’ Kosmologie. Das spekulative Komplement zur Semiosis ist das Konzept der Energie, das sowohl Kircher wie Comenius in ihren jeweiligen theoretischen Abhandlungen entwickeln. Kirchers Suche nach dem inneren Zusammenhang der Dinge, ihren Wechselbeziehungen und ihrer wechselseitigen Beeinflussung steht in Zusammenhang mit seinen MagnetismusExperimenten (Hine 1988, 79-97). Aufgrund dieser Experimente – deren Ergebnisse, zumindest zum Teil, von zeitgenössischen Wissenschaftlern diskutiert und als Beitrag auf diesem Gebiet begrüßt werden, schließt er, dass die Einzelteile und Elemente der Welt durch Magnetkraft verbunden seien, die aus einem Urmagneten, dem magnes centralis Gott, hervorgehe, und dass sie erzeugt und lebendig gehalten werde durch eine produktive Energie, die er Panspermia nennt18 . Comenius’ Verfolgung eines vergleichbaren Interesses gipfelt in der Konzeption der Pansophia als einigender, verknüpfender, dynamischer Kraft. Die Rezeptionsgeschichte der Werke Kirchers und Comenius’ zeigt, dass der Ordnungsaspekt ihrer Kosmologie die etwas undurchdringliche, jedenfalls spekulative Idee der Energie und Dynamik überwiegt. Die objektive Seite ihrer Systeme erhält die Oberhand, sowohl was den Aspekt der Kalkulierbarkeit als den der Erfahrbarkeit angeht. Während das dem kombinatorischen Netzwerk unterliegende mnemonische Konzept, indem es das Gedächtnis externalisiert, d.h. an Apparaturen abgibt, eine dehumanisierende Dimension nicht ausschließt, verlangt das Buch die internalisierende Anstren-

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Zu den komplexen Spekulationen der »catena magnetica« und der »panspermia« (Leinkauf, 24f).

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gung einer lesenden Person: artifiziell hergestelltes, abrufbares Wissen kontrastiert mit Wissen, das im Medium Buch transportiert und (lebendig) rezipiert werden muss. Insbesondere in der Suche nach der Universalsprache, einer Suche, die das sprachphilosophische Denken des 17. Jahrhunderts beherrscht, tritt dieser Unterschied zwischen der Errechnung von Formeln, deren ubiquitäre Anwendbarkeit behauptet wird, und einer Konzeption zutage, die zwar die Reduktion aller die erfahrbare Welt ausmachenden Elemente auf universalia verfolgt, zugleich aber von der strukturellen und semantischen Äquivalenz der konkreten Sprachen ausgeht, mithilfe derer diese aufgeschrieben und ausgesprochen werden können. In seiner Panglottia von 1665 ist der Vorschlag für eine künstliche Sprache von dem religiösen Motiv der Überwindung der babylonischen Sprachverwirrung getragen. Es soll diese eine philosophische Sprache sein, die alle Seinsschichten erfasst. Das Ziel ist, eine Univozität zu erreichen, die auch die Grenzen des Latein überwindet – so in Via lucis. (Kosta 2003, Senkerik 2003) Die von Comenius konzipierte Kunstsprache, die keine Irregularitäten zulässt, umgreift alle sprachlichen Kategorien. Sein Projekt einer polysemiefreien Universalsprache folgt einer künstlichen Phonosemantik, während Kircher, den lullistischen Alphabetismus fortsetzend, ein Kunstalphabet probiert. Andererseits erscheint das Latein als eine Art Universalsprache, in der die Einsicht in die Äquivalenz der Sprachen, ohne auf Kalkulationen rekurrieren zu müssen, angelegt ist. Die Rolle, die die ägyptische Kultur für Kircher spielt, spielt für Comenius die vom Latein beherrschte Sprachwelt, in der die älteren Sprachen ebenso präsent sind wie die jungen vernakularen. Ebensowenig wie es einer Kunstsprache bedarf, bedarf es eines Kunstalphabets, wie es Kircher, den lullistischen Alphabetismus fortsetzend, ausprobiert. Auch Verschlüsselungstechniken, wie sie jenen interessieren, gehören nicht zum comenianischen Repertoire. Jedoch liegt das Verbindende der divergierenden Methoden der Darstellung und Transmission sowie der Speicherung von Wissen im Streben nach Reduktion. Und Reduktion steht bei beiden im Dienste der UniversalismusIdee. Die Frage, ob Kircher und Comenius aufgrund unterschiedlicher konfessioneller Gebundenheit und Ausrichtung jeweils andere Wissenskomplexe avisierten, ist schwer entscheidbar. Zweifellos verfolgten sie enzyklopädisch und pansophisch unterschiedliche Interessen. Kircher, der Jesuit, erscheint in vielen seiner Ideen als Grenzüberschreiter und Wissenshäretiker. Comenius bewegt sich in der Tradition eines pädagogischphilosophischen Denkens, aus dem er aber mit revolutionären Ideen heraustritt. Kircher, der Erfinder und Sammler, ist von einer ungeheuren curiositas beseelt und mit einer Imaginationsgabe ausgestattet, die ihn gelegentlich zum szientistischen Phantasten und ›Abenteurer‹ machen; seine Experimente sind Entschlüsselungen und Entdeckungen im Bereich von Natur- und Geisteswissenschaft gewidmet. Comenius ist ein Experimentator im Sozialen – Bereiche der Erziehung eingeschlossen. Die 1641 erfolgte Einladung nach England, an der Errichtung eines allein auf Bildung gestützten Staatsgebildes mitzuwirken, zeigt, dass die Bedeutung seiner Entwürfe für konkrete Umgestaltungen in großem Maßstab erkannt wurde – auch wenn der englische Plan eine Utopie bleiben sollte. (Die in Via lucis entfalteten Konzepte lassen Rückschlüsse auf den gescheiterten Plan zu.)

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›Entdeckung‹ einerseits und ›Reform‹ andererseits sind womöglich die Begriffe, die die Unterschiede der beiden barocken Aufklärer und Wissenskapitalisten bezeichnen; der homo inveniens ist dem Unbekannten auf der Spur, der homo reformator dem Bekannten, das er grundlegend umgestaltet.

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21. Die Rhetorik der ›Seelenbildung‹ in Comenius’  Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens

Abb. 1: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens

Kolorierte Handzeichnung von Comenius, Nationalmuseum Prag

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21.1 Jan Amos Komenský hat seinen in der Tradition der Systembildungen stehenden Universalentwürfen (Pansophia und Orbis Pictus1 ), die mittels Ikon, Alphabet, Lexikon und Grammatik die vollständige Beschreibung und Bebilderung des Weltinhalts zum Ziel haben, 1623 einen tschechisch verfaßten literarischen Text, Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, Labyrint svӗta a ráj srdce2 , vorausgeschickt, der die Verfremdung solcher Totalinventare und widerspruchsfreien Klassifikationen zu antizipieren scheint. Der Labyrinth-Blick zersetzt den Gedanken an eine pädagogische Enzyklopädie3 ebenso, wie er den Glauben an Gesetzmäßigkeiten und die Verläßlichkeit von Regeln erschüttert. So wird das Labyrinth zum Ort der Gefährdung einer aus ihren universalsprachlichen Ordnungen gelösten Welt. (Abb. 1) In den Gegenstände und Handlungen registrierenden und wertenden Wortkatalogen des labyrint svӗta entsteht ein speculum mundi (Tschižewskij 1972, 92-176); das das Wirkliche nicht zu spiegeln vermag. Als Offenbarung Gottes kann die Welt hier nicht gelesen werden. Denn indem er sie als Labyrinth liest, erteilt Comenius dem Konzept ›Welt als Buch‹ eine Absage, die er jedoch 1659 im Orbis pictus widerruft. Im früheren Werk aber, das eine clavis universalis entweder leugnet oder verbirgt, richtet sich das Wissen, das die Welt von sich gesammelt hat, gegen diese selbst. Das Labyrinth ist eine negative Enzyklopädie.

21.2 Zunächst gilt es, das Verhältnis der beiden Werke, die sprachlich und genremäßig verschiedene Wege eingeschlagen haben, bezüglich des enzyklopädischen Moments, das sie trotz entgegengesetzter Auslegung vergleichbar macht, kurz zu beleuchten. Die Relation pictura-nomenclatura, die die semantische Struktur des Orbis pictus bestimmt, ist in der Relation zwischen dem von Comenius selbst entworfenen Labyrinth-Bild und dem Pilger-Roman vorgebildet, wenn auch in anderer Proportion. Die eine pictura (das Labyrinth) verweist auf die vielen res, deren jeweilige nomenclatura Schritt für Schritt kundgetan wird, während im Orbis die Zuordnung pictura-res-nomenclatura jeweils in Bezug auf einen einzigen semantischen Bereich gewissermaßen schlagartig stattfindet (z.B. die pictura für Feuer – die res ›Feuer‹ – der lateinische/deutsche (später auch ungarische, tschechische) Name mit einer bündigen Explikation). Der Pilger, poutnik (von

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Auch ein in das Frühschaffen fallendes Werk, Theatrum universitatis rerum, ist vom Ordnungsfaktor bestimmt. Zitiert wird nach der Amsterdamer Edition von 1970. Dennoch hat in der Geschichte der Labyrinthformen und –adaptationen die Enzyklopädie durchaus ihren Ort. H. Kern führt in Labyrinthe (1995) Labyrinthbeispiele vom 8.-14. Jh. als Belege für den Typ »Historisch-geographische Enzyklopädie« an (157ff.). Auch in der lateinischen Literatur des Mittelalters spielt das Labyrinth in Texten der Enzyklopädisten eine Rolle. Hierzu sowie zur Auslegungstradition und deren Rolle in der Literatur siehe die grundlegende Monographie von Brigitte Burrichter, Erzählte Labyrinthe (2003), auf die ich wiederholt zurückgreife.

21. Die Rhetorik der ›Seelenbildung‹ in Comenius’ Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens

pout, Weg), der sich auf den Weg gemacht hat, um unanfechtbares Wissen über die Dinge und das Treiben dieser Welt zu erlangen, gerät in die Fänge zweier Gestalten, die sich als Führer aufdrängen. Die sich mißlich entwickelnde Führer-Pilger-Beziehung, die den wahrhaft Suchenden (Burrichter 2003, 23), der auf Unzuverläßigkeit, ja Irreführung trifft, auf eine harte Probe stellt, wird im Orbis pictus durch die innige LehrerSchüler-Beziehung quasi korrigiert. Comenius hat dieser Urszene des Lernens-Lehrens eine Darstellung gewidmet, die Anfang und Ende des Orbis-Albums markiert. Während der willig lauschende Schüler der Wahrheit Schritt für Schritt teilhaftig wird, erscheint der unwissende Pilger, von seinen Führern überrumpelt, zunächst als Narr, der inadäquate Fragen stellt und nichts so, wie es seine Führer wünschen, zu begreifen bereit ist. Aber er ist auch eine Art Pikaro, der bei der Prüfung seiner Frömmigkeit zugleich etliche Wissens-Abenteuer zu bestehen hat. Während im Orbis die Dinge und ihre Begriffe ihre eindeutigen, mit überzeugender Geste zugewiesenen Namen erhalten und kein Zweifel an dem »Es ist so« aufkommen kann, bedarf es im Labyrinth umständlicher Erklärungen für Handlungen, Verhältnisse, Einrichtungen, Gegenstände, Berufsstände, Regeln, Gebräuche, Werkzeuge etc. Der Blick des dem zunächst auch unwissenden Orbis-Schüler gleichenden Pilgers kann weder die Artung der Dinge erraten noch deren Namen erahnen: seine mit nichts vertraute Wahrnehmung ist von naiver Inadäquatheit. Diese versucht ihm der Führer und Dolmetsch, tlumočnik, zu nehmen, indem er die Dinge und deren Funktionen vorstellt und ihre Bezeichnungen preisgibt. Es scheint, als gewinne das zunächst Sinnlose, dessen der Pilger ansichtig geworden ist, durch die pure Benennung einen Sinn, den die Begleiter mit den sprechenden Namen Verblendung, Mámení, und Allwisser (oder Überalldabei), Všezvěd, Všudybud, suggerieren. Doch mit seinen das Gesehene verfremdenden4 , aus Vernunft und Moral entspringenden Fragen nach dem wahren Wesen der ihm vorgeführten Dinge setzt der Pilger diesen sogleich wieder aufs Spiel, um ihn letztlich als Schein-Sinn zu entlarven. Damit verliert auch die Benennung, als ob sie nichts zu erklären vermöchte, ihre Funktion. Die Nomenklaturen werden in Katalogen transportiert, die in eine »schlechte Unendlichkeit«5 verlängert werden können. Die Welt des Orbis dagegen ist entschieden auf eine positive Endlichkeit hin angelegt, die genau einhundertfünfzig Elemente (als pictura – res – nomen) umfaßt, und sie tritt an die Stelle des Unortes Labyrinth.

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Dmitrij Tschižewskij hat den formalistischen Verfremdungsbegriff am Beispiel des LabyrinthTextes mit dem Begriff der »inadäquaten Perspektive« kommentiert (1983, 1-24). – Der verfremdende Blick bestimmt insbesondere die Beschreibung eines Schiffs und der darauf unternommenen Fahrt. Das Schiff wird als umgekehrter Reisewagen ohne Pferde gesehen, das Gleiten über das Wasser als ›fliegen‹ (worin eine Allusion auf utopische Luftreisen stecken könnte.) Ohnehin ist das Meer im Stadtlabyrinth eine von der Architektur nicht eingeholte Ausnahme, die erlaubt, die mit Schiffbruch endende Seefahrt als Analogie zur letztlich katastrophalen Wanderschaft durch die Gassen und Straßen zu lesen. Comenius verzichtet darauf, die Seefahrt im Sinne des barocken Topos (der Mensch als schwankendes Boot, den Elementen ausgeliefert) anzulegen. Tschižewskij verweist auf Cusanus’ De docta ignorantia als Ursprungsort des Begriffs (nicht also Hegel ist dessen Autor).

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21.3 Letzteres ist, folgt man der Zeichnung, als runde Struktur entworfen, deren Umgrenzung an bestimmten Punkten von hervorragenden Gebäuden markiert ist (Abb.1)6 . Straßen, die im Text als sechs angegeben werden, gliedern ungleichmäßig, Umläufe zitierend, den inneren Raum, der Welt und Stadt zugleich ist. Während der Orbis ein von Gott geordneter Welt-Raum ist, von Menschen bewohnt, die sinnvollen Tätigkeiten nachgehen, die in die Welt gelangen, in ihr leben und sie wieder verlassen, eine Welt, die begrifflich erfaßt und in ihren Äußerungen beschrieben werden kann, bleibt das Labyrinth zunächst undurchschaubar, entzieht sich auch in der Folge rationaler Erklärung, wird ständig als defizitär, ungerecht, moralisch verwerflich gesehen, als eine böse, von Sinn und Ordnung abgefallene Welt, zlý svět. Dem aus seiner Herzenskammer aufgebrochenen Pilger, der sich unversehens auf den Zinnen einer Stadt befindet, eröffnet sich ein Blick von oben7 auf ein unverständliches, keinen Zusammenhang herstellendes menschliches Treiben, auf einen gewissermaßen aus Bruchstücken, aus Sinn-Trümmern bestehenden zlý svět.8 Aus der Ich-Perspektive des Pilgers werden die Erlebnisse auf den einzelnen Stationen erzählt, und das Frage-und-Antwort-Spiel zwischen ihm und seinen Begleitern referiert.

21.4 Die Rhetorik des Orbis pictus, d.h. die Rhetorik einer eindeutigen Zuweisung von Wort und Ding, nomenclatura und res, eine Rhetorik der claritas, perspicuitas und in der Bündigkeit der Aufzählung auch brevitas, löst die ambiguitas, aequivocatio und amplificatio, die die Beschreibung der Dinge des Labyrinths beherrschen, ab. Allerdings hat Comenius auch für diesen Text ein ordnendes Prinzip zur Geltung gebracht, das klare Strukturen hervortreten und eine kalkulierte Instrumentierung vermuten läßt, es ist das der »Wortketten«, die Dmitrij Tschižewskij als erster so bezeichnet hat. Beide, die ambigen Elemente und das zentrale Stilistikum der Kettenbildung, illustrieren den Begriff, den der Führer dem Pilger als Frage vorlegt. »Hast Du von dem Labyrinth auf Kreta noch nicht gehört?« (Slychal-lis kdy co o kretenském labyrintu?, Kap.II, 2).9 Im Vergleich mit dem kretischen wird das Labyrinth der Welt als Steigerung dargestellt: »Es war ein Weltwunder, erklärte er (der Führer), ein Gebäude, das aus so vielen Gemächern, Kammern und Gängen bestand, daß, wer sich einmal ohne Führer hineinwagte,

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Kern führt Labyrinthbeispiele mit Anbauten und Tortürmen an (1995, 158) Der Blick von oben im Sinne einer verfremdenden inadäquaten Perspektive gehört in eine menippeisch-utopische Tradition (vgl. Lukians Charon). In Walter Benjamins auf die Barocksemantik bezogenem Allegoriebegriff figuriert die Metapher der »Zertrümmerung«, die auch für die semantische Struktur der comenianischen Allegorie in diesem Text gelten könnte. Zitiert wird deutsch nach der oben genannten Übersetzung von Baudnik, tschechisch nach der Ausgabe Komenský, J.A., Truchlivý I, II. Labyrint svӗta a ráj srdce, hg. V.Petráčková, J. Kolár, A.Stich, Prag 1998.

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solange er auch darin umherirren und herumtappen mochte, doch niemals einen Ausgang fand. Doch war das nur ein Kinderspiel im Vergleich dazu, wie das Labyrinth der Welt…gestaltet ist«, Zázrak světa byl stavení z tak mnoho pokojů, příhrad, průchodišť vzdĕlane, že kdo se bez průvodčího do něho pustil, vždycky sem a tam chodě a motaje se, nikdý ven netrefil. Ale to žert byl proti tomu, jak sám svĕta tohoto labyrint, … spořadán jest, Kap.II, 3). Der Labyrinthbezug wird an anderer Stelle dramatisierend wieder aufgenommen: »und (ich)wurde wieder in die Wirrsale des Labyrinths der Welt zurückgeschleudert«, (a tu jsem do motanin labyrintu světa zase uveden, Kap.XVIII, 17). Nicht sosehr der Werktitel als vielmehr die Einführung des Motivs mit ausdrücklicher Ekphrasis läßt sich als mise en abyme lesen.

21.5 Es ist davon auszugehen, daß sich Comenius in seinem Seelen-Erziehungsroman auf die Labyrinthtradition und auf die Christianisierung des Labyrinth-Motivs bezieht, wobei Semantik und Struktur sowie bestimmte Aspekte der mythologisch-allegorischen Überlieferung eine Rolle spielen. Welche Motive der noch zu skizzierenden Auslegungstradition Comenius tatsächlich bekannt waren, läßt sich kaum mit Genauigkeit sagen. Das mythologisch relevante Personal des kretischen Labyrinths steht bei ihm nicht im Vordergrund. Wohl aber wird die Kenntnis architektonisch ausgeführter, gemalter, ornamentaler, als Rasen- und Gartenstrukturen angelegter Labyrinthe – aus konkreter Erfahrung oder aufgrund von Abbildungen – seine Vorstellung eines entsprechenden Gebildes bestimmt haben, das sich als Ort für die Realisierung seines allegorischen Konzepts einer Seelenwanderschaft durch die Wirrnis der Welt hervorragend eignete. Letzteres steht allerdings in einer literarischen Tradition, zu der poetische und didaktische Werke über spirituelle Wanderschaften gehören, die diese gelegentlich auch in die Unwegsamkeit eines Labyrinths verlegen – was als Frontispiz mit leseanleitender Funktion erscheinen oder als Motiv verbalisiert werden kann10 . Wie zu zeigen sein wird, nimmt Comenius’ Text in dieser Tradition aufgrund der Wortketten-Strukturierung und der spezifischen Erlösungspointe einen besonderen Platz ein. Die facettenreiche Labyrinth-Allegorese hat offenbar immer wieder zu neuen Repräsentationsformen als Interpretamina des tradierten mythischen Komplexes geführt. Architektur, Malerei, Literatur haben Labyrinthe gebaut, dargestellt, ekphrastisch vorgeführt oder performativ exerziert, wobei die Vorstellung von Plan oder Verwirrung die jeweilige Gestaltung ebenso bestimmt hat wie der Versuch, die mit der kretischen

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Vgl. Herrmann Hugos Pia desideria, dessen Fronstispiz eine emblematische Labyrinthdarstellung mit als in Pilgergewandung auftretender suchender Seele enthält. (Abb.2). Die Werke von Johann Valentin. Andreae können als direkte Vorläufer gelten. Comenius erwähnt Andreaes Werke in dem den Rosenkreuzern gewidmeten Kapitel in durchaus kritischem Tonfall. Andreaes sozial-religiöse Utopie Christianopolis 1619 (Abb.3), der wiederum Morus’ Utopia und Campanellas Civitas solis (im Ms. 1617) vorausgehen, enthält eine labyrinthähnliche Illustration, die die positive Architektur der Christenburg zum Gegenstand hat. (Kern, 1995, 268f). – Den intertextuellen Bezügen werde ich hier nicht nachgehen.

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Vorgeschichte verbundenen Figuren semantisch zu konturieren, d.h. sie lesbar zu machen. Daß das dädalische Labyrinth auf einen Tanz, bzw. einen Platz, an dem dieser ausgeführt wurde, zurückgeführt werden kann, ist ein die mythische Vorgeschichte betreffendes Detail, das eine aufmerksame Lektüre Homers suggeriert hat.11 Die Lektüre der den Mythos zitierenden oder ausfaltenden Texte hat nicht nur die moderne Forschung, sondern seit der Antike auch die Auslegungen bestimmt. Neben diese Texte, in denen, wie in Vergils Aeneis, dem ursprünglich überlieferten Mythos ein neues Moment, das des Irrwegs, eingeschrieben wird, treten in christlicher Zeit die Kommentare der Kirchenväter, Theologen und Philosophen, die dem Versuch gewidmet sind, das pagane Moment zu tilgen, bzw. zu transformieren. Wichtig für die literarische Tradition ist die mittelalterliche Auslegung der Ovidschen Labyrinth-Metamorphose in dem sog. Ovide moralisé des 14. Jahrhunderts: darin erscheint das Labyrinth als Allegorie der sündhaften Natur des Menschen, Pasiphaä als sündiger Leib, bzw. als verführbare Seele, Minos als Gott, Theseus als Christus, der Minotaurus als Teufel (Burrichter 2003,31f). Das Labyrinth wird als Hölle, als Unterwelt, als Reich der Toten interpretiert, in der der Mensch dem Minotaurus-Teufel ausgeliefert ist, Ort der widernatürlichen Liebe, aber es steht zugleich auch für den Zustand der sündigen Seele. Im metaphorischen Labyrinthgebrauch der Kirchenväter und des Mittelalters hat Gott dem tödlichen Labyrinth einen Heilsweg eingezeichnet. Aus dem Gewirr der Wege, dem multivial angelegten Konstrukt, führt nur ein Weg heraus. Bei den erwähnten, allegoreseabhängigen verbalen, pikturalen und architektonischen Ausführungen des Labyrinthmodells (letztere umfassen Gebäude und Gartenkonstruktionen) stehen Rundgebilde neben quadratischen, bzw. viereckigen Formen. Auch die Innenarchitektur wird unterschiedlich ausgelegt: Isidor von Sevilla) entwickelt die Vorstellung einer Vielzahl von Räumen in verwirrender Anordnung anstelle der Wege und Umläufe, die ansonsten die Darstellungen und Realisierungen bestimmen. (Burrichter 2003, 42-45). Auch Unterschiede der Appellfunktion spielen eine Rolle: neben die moralisierenden, christianisierenden Lesarten treten Lust- und Spielversionen, Teufel und Amor tauschen die Plätze, ebenso wie ein ästhetisch-hedonistisches Moment das moralische verdrängt. Das Labyrinth als schöne, ästhetisch zu genießende Form ist die eine Möglichkeit, die die andere der Hölle oder des Gefängnisses negativ hervortreten läßt. Bei Comenius wird die Lust, die auf die Pein folgt, im Paradies des Herzens zelebriert, das in der ersten Version den Namen »lusthauz« trug. Mithin hat Comenius die beiden mit dem Labyrinth verbundenen Funktionen auf zwei Sphären verteilt. Das Lusthaus ist die andere Version des Labyrinths, die hedonistische, wie sie in den Lustgarten-Labyrinthen des 14.Jahrhunderts kunstvoll-ornamental zutage tritt. In Comenius’ Auslegung erscheint diese Version als die spirituell-›hedonistische‹.

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Zu diesem Aspekt der kretischen Kultur Creuzer, F.,Symbolik und Mythologie der alten Völker: »Daß die Creter auch einen Tanz der Sonnenbahn und der Seelenbahn hatten, leidet keinen Zweifel.«(1819, 118)

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21.6 Die Polysemie von ›Labyrinth‹ als spirituelle Erfahrung, Reflexion über einen Weltzustand und narratives Muster wird von Brigitte Burrichter als eine dreifache Metapher interpretiert: als Metapher für den philosophischen Diskurs, als Metapher für Komplexität und als Metapher für Textstrukturen (2003). Dem Paganismus-Bekämpfer Augustinus erscheint die griechische Philosophie als labyrinthisch, da sie sich im Kreise drehe und keinen Ausweg erkennen lasse. Häresien seien Verführungen ins Labyrinth. Damit ist das Labyrinth Irrlehre und Irrlehrer zugleich. Die christianisierende Auslegung läßt das Labyrinth jedoch nicht nur als Ort der Gottesferne erscheinen, wie bei Hieronymus und Ambrosius (2003, 34f), sondern auch als eine die formale und semantische Vielschichtigkeit von Werken beschreibende Figur. Bei Remigius von Auxerre bezieht sich das Labyrinth-Prädikat auf intrikate Argumentationsführung, komplexe Gedankengefüge, wie sie antike Texte der Philosophie auszeichnen, die hermeneutische Probleme für die christlichen Interpreten darstellen. Aber auch die Bibel, nun wieder mit anderem Akzent, wird als Labyrinth bezeichnet, womit Komplexität und Mehrsinnigkeit gemeint sind, die die Auslegungen zu einer Kunst werden lassen. Remigius sieht auch in sprachlichen Strukturen, die sich durch starke Künstlichkeit auszeichnen, eine Labyrinth-Figur, bzw. dessen erfinderischen Architekten am Werke.12 Die mittelalterlichen Figurengedichte (und ihre bis ins 20.Jahrhundert zu verfolgende Tradition) belegen die Rolle des Labyrinths als textogene Form: die Buchstabenlabyrinthe sind die extreme Letterarisierung architektonischer Imagination. (Adler, Ernst 1987, 33-38) Oft wird das Labyrinth christlicher Zahlensymbolik folgend mit elf Windungen oder Umgängen als orbis peccatus dargestellt. Die Zahlensymbolik bezieht sich auf eine DädalusDeutung, wonach der Labyrinth-Architekt für seine Konstruktion den Abakus erfunden habe. Folglich kann auch in Traktaten computistischen und astrologischen Inhalts das Labyrinth als Illustration erscheinen. (Kern 1995, 152-154)

21.7 Das Paradox der antiken Labyrinth-Vorstellung besteht in der kunstvollen Planung, die dem Besucher gleichwohl als Chaos entgegentritt. »In den prägnantesten Beschreibungen des kretischen Labyrinths bei Vergil und Ovid kommt sein Doppelcharakter als rational geplantes Kunstwerk und scheinbar planloses Chaos zum Ausdruck«. (Burrichter 2003, 21) Die eher unregelmäßige Form des Labyrinths, die Comenius wählt, läßt sich als Variante des antiken Labyrinths lesen: die klare Gestalt, die überwiegend in der gesamten Tradition das Labyrinth ausmacht (präzis gezogene Linien, geometrisch geordnet, Gänge, Wege, Zentren etc.13 ) legt Comenius rhizomatisch aus. Wichtiger erscheint im Be-

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Burrichter zitiert Remigius’ Definition (aus Paschale Carmen): »Daedalus artificiosissimus fuit, cuius nomine artificiosi vocantur. Hinc logodaedalos dicimus subdole loquentes«. (2003, 48) Hier bieten sich zum Vergleich Labyrinth-Darstellungen des ägyptischen und kretischen Typs und bes. das Labyrinth Kirchers, des enzyklopädistischen Zeitgenossen Comenius’, an. (Abb.4,5).

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deutungsaufbau das Kontingente, das inhaltlich durch die Losziehung bei Eintritt der Menschen ins Welt-und Lebenslabyrinth in den Vordergrund tritt. Das Paradox bleibt gleichwohl bestehen, da die geometrische Struktur des Labyrinths verkappt und zugleich manifest in den großen Konstruktionen der Wortketten wiederkehrt und in den Verfahren der Alliteration und der Homoioteleuta sowie in der abgewogenen Quantität der Silbenzahl in einzelnen Wortpaaren auftritt. Diese sprachliche Geometrie, die sowohl das eigentliche Labyrinth als auch das zum Paradies führende bestimmt, läßt das Labyrinthische (im Sinne einer planvollen Konstruktion) als Modell der Gesamtanlage deutlich hervortreten. Denn die Wortketten lassen sich als architektonische Faktoren interpretieren. Sie bilden die Umgänge, die die Labyrinthformen von jeher bestimmt haben. Für den Pilger jedoch, der konstruktionsblind ist, erscheinen sie als ein Ensemble von Gebäuden und Straßen, das keine Ordnung erkennen läßt. Dmitrij Tschižewskij hat darauf hingewiesen, daß die Antithese, barockes Stilmitttel par excellence, hier nur selten zur Anwendung komme (1976, 36), was der Gesamtstruktur entspreche. Die Antithese, so lässt sich anschließen, erscheint, besonders in der Häufung, als eine Figur bloßgelegter Ordnung; der Verzicht auf diese Figur bedeutet folglich, daß das optisch nicht geordnete Labyrinth auch textuell nicht evident geordnet ist. Dagegen folgt es der eher versteckten Ordnung der unregelmäßig gezeichneten Umgänge, die von den heillos offen bleibenden Wortketten gebildet werden. Dies führt zu einem weiteren Paradox: es besteht in der Exaktheit der Bedeutungskette einerseits und ihrer Offenheit anderseits, d.h. im »etc.«. An der Ordnung eigener Art, die die Wortketten herstellen, ist auch trotz den streckenweise latenten Strukturen und den amplifikatorischen Exzessen festzuhalten. Denn die Wortketten stellen eine Ordnung eigener Art dar, d.h. sprachliche Ordnung, die als die Demonstration von Paradigmenbildungen gelesen werden kann.14 Im Kapitel »Unter den Ärzten« wird die praxis medendi achtzehngliedrig vorgestellt: »Und nun begann ein Kochen, Sieden, Brühen, Beizen, Sengen, Kühlen, Brennen, Hacken, Schneiden, Stechen, Zusammennähen, Verbinden, Salben, Versteifen, Lockern, Abwaschen, Einreiben und weiß Gott was alles noch« (Pak vařili teprv, pařili, pražili, škvařili, prudili, studili, pálili, sekali, řezali, bodili, šili zas, vázali, mazali, tvrdili, mĕkčili, zakrývali, zalévali a nevím co víc nedĕlali, Kap. XIV, 3), auffällig im Original sind der grammatische Reim, die Lautwiederholungen. Das etc. lautet: und ich weiß nicht, was sie sonst noch taten. Der Schilderung der Sittenlosigkeit der Christen gilt eine etwa vierzehn Glieder umfassende Kette: »Ich fand nun,…, daß sie wirklich fraßen und soffen, haderten und rauften, einander mit Gewalt und List beraubten und schunden, vor lauter Übermut krähten und wieherten, lärmten und tobten, hurten und die Ehe brachen, ärger als ich es sonst irgendwo gesehen« (a vidím v pravdivé pravde, že pijí a blijí, vadí se a bijí, lstí i mocí jední druhým berou a derou, bůjností řehcí a skáčí, výskají a pískají, smilní a cizoloží, hůř než jsem které jine víděl, Kap. XVIII,6); der Mißhandlung und Ermordung der Propheten und Apostel nach dem Fehlschlag der salomonischen Mission wird mit zehn Gliedern Erwähnung getan: »Darum wurden auch einige vor meinen Augen verbrannt, ersäuft, andere gehenkt, enthauptet oder ans Kreuz geschlagen, mit Zangen zerfleischt, zersägt, gespießt, gevierteilt, 14

Diese Strukturen ließen sich als Illustrationen für Jakobsons Poesie der Grammatik und der Grammatik der Poesie lesen.

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auf dem Rost gebraten, daß ich die grausamen Todesarten gar nicht alle aufzählen kann« (Protož něktěrí tu hned před očima mýma do ohně metáni, jiní do vody házíni, jiní věšeni, stínáni, na kříž rozbíjeni, kléštĕmi trháni, řezáni, bodeni, sekáni, pečeni na roštích, Kap.XXXV, 4); die Schlachtbeschreibung umfaßt ineinandergreifende Ketten: »Der Lärm wächst mit jedem Augenblick, man hört das Stampfen und Schnauben der Rosse, das Rasseln der Panzer, das Klirren der Schwerter, das Donnern der Geschütze, das Sausen der Geschosse, das Schmettern der Trompeten, Trommelwirbel, Kommandorufe, das Geschrei der Sieger, das Stöhnen der Verwundeten und Röcheln der Sterbenden; man sieht, wie unter furchtbaren Blitzen und Geknatter ein förmlicher Hagel von Geschosses niedergeht; bald wird dem einen, bald dem ander eine Hand, ein Fuß oder der Kopf abgerissen; einer stürzt sich auf den andern, und alle wälzen sich in einem Strom von Blut« (Tu se hřmot na všecky strany rozmáhá, tu slyseti dusot koní, chřest pancířů, břiňkot mečů, rochání střelby, fičení okolo uší létajících střel a kulí, zvuk trub, třeskot bubnů, křik ponoukajících k boji, křik vítĕzících, křik zraněních a umírajících; tu vidĕti olovĕné hrozné krupobití; tu ohnivé strašlivé blýskání a hřímání slyšeti; tu jednák tomu, jednák onomu ruka, hlava, noha preč létá; tu jeden přes druhého se kácí, a všecko ve krvi splývá, Kap. XX,5). Hier noch ein letztes Beispiel aus dem Kapitel, in dem die erste Begegnung des Pilgers mit dem »edlen Menschengeschlecht« erzählt wird und eine mehrgliedrige Kette den semantischen Bereich menschlicher Bewegung und Verhaltensweise herstellt: »Denn einige von ihnen gingen, andere liefen, wieder andere ritten; einig standen, andere saßen oder lagen, einig erhoben sich, während andere sich wieder niederlegten oder in verschiedener Weise sich drehten und sich wanden…Wenn einige von ihnen sich begegneten, trieben sie allerhand Gaukeleien mit Hand und Mund, man sah sie Verbeugungen machen und dergleichen, sich aneinanderschmiegen und biegen, kurzum allerhand Possen treiben« (Nebo jedni chodili, jiní běhali, jiní jezdili, jiní stáli, jiní seděli, jiní leželi, jiní vstávali, jiní zas léhali, jiní se rozličně vrtěli…Potkali-li se kteří, rozličného tu bylo kejklování, rukama, usty, koleny a jinak k sobě se toulení a choulení, sumou rozličné trety, Kap. VII,2) Hier werden Alliterationen, Parallelismen und Homoioteleuta zusammengestellt, die im Dienste des verfremdenden Blicks als Figuren für das Unsinnige, Planlose, Arbiträre stehen, dieses aber zugleich sprachlich sinn- und planvoll darstellen. Auch das frequente Hin und Her, sem a tam, eines insektenhaft sich bewegenden Gewimmels, »hmyzilo« (Kap. VI, 6; und an anderer Stelle)15 , auf das Tschižewskij nachdrücklich hinweist, gehört zu dieser Figur. Letzterer weist in seiner Analyse auch auf Verfahren der Verlangsamung und der Beschleunigung im Wortarrangement hin, was ein zeitliches Moment einschließt, das die Bewegung des suchenden Pilgers in den Umgängen des Labyrinths begleitet. Neben der Amplifikation von Bedeutungsfeldern haben die Wortketten auch, wie angedeutet, die Aufgabe, Wege, d.h. Umgänge zu markieren, die das Labyrinth strukturieren, und deren Anzahl für die Komplexität eines Labyrinthgebäudes, so die entsprechende architektonische Tradition, verantwortlich ist. Im Herzensparadies, ráj srdce, werden ebenfalls Wortketten entwickelt, die denselben negativen Welt-Sachverhalt betreffen. Sie funktionieren wie Zitate aus der Sprache des zlý svět, der im ráj als ständige Bedrohung und als Ort des Kummers erinnert wird. Aber auch die positiven, das 15

In Lukians Charon fällt der Blick von oben auf das Gewimmel der Menschen.

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Paradies mit Tugenden und Jenseitsglücksattributen ausstaffierenden Kataloge folgen diesem, nachgerade geometrischen, Prinzip.

21.8 Die ingeniöse Konstruktionsphantasie des mythischen Labyrinth-Architekten Dädalus (der als Ahnvater der Architekten gilt) hat kein Pendant in Comenius’ pictura: er verzichtet auf Artifizialität16 . Sein Labyrinth erscheint nicht als Resultat einer positiven menschlichen Leistung, als von menschlicher Hand erschaffen, sondern als die etwas schlichte (fast ungeübte) Wiedergabe einer nachgerade gnostischen Weltvorstellung. Gottferne bestimmt das Gebilde, für das der gütige Schöpfergott nicht verantwortlich ist. Eher ist es das Werk eines Demiurgen. Ein gnostischer Subtext liegt auch dem Bedeutungsgefüge des literalen Textes zugrunde, das eine Art Verblendungszusammenhang darstellt, aus dem der Pilger, angeekelt, immer wieder zu entfliehen vermag. Verblendung, mámení, ist einer der Leitbegriffe des Textes und zugleich, wie erwähnt, der Name des Dolmetsch. Der Pilger ist die Gegenfigur zum unsichtbaren Demiurgen. Er erscheint nicht als der böse abgefallene Geist, Schöpfer einer negativen Welt (die als Parodie auf die eigentliche Welt erscheint), sondern er ist der zunächst naive, aus seiner Herzenskammer hervortretende, eine Pilgerschaft antretende Beobachter. »speculare« (lateinisch im tschechischen Tex, Kap. VI,4) ist die für seine Tätigkeit eingesetzte Bezeichnung. Das Bildfeld des Sehens (Schauen, Blicken, Sichwundern, Erstaunen), d.h. der auf das Optische bezogenen Wahrnehmungen erscheint neben demjenigen, das der Beschreibung der Irrungen und Wirrungen gewidmet ist, als das am häufigsten eingesetzte. Dem objektiven Verblendungszusammenhang, mámení, entspricht subjektiv die durch eine Trugbrille, bryle mámení, (auch okuláry), die dem Pilger neben dem ihn zügelnden Zaumzeug aufgezwungen wird, hervorgerufene falsche Perspektive, die das freie, unbefangene speculare pervertiert (Kap. IV,4). Nur im Versuch, unter der Trugbrille hindurch doch einen Blick auf die wahren Zustände zu erhaschen, befreit sich der in seiner nüchternen Wahrnehmung Behinderte für kurze Augenblicke. Im Labyrinth-Sein bedeutet nicht, frei auf der Suche nach dem heilenden Ausweg, bzw. der Erkenntnis auf der Spur, unterwegs zu sein, sondern unerlöst und unerlösbar in einem Raum gefangen zu sein, der von einer finsteren Grube, tmava jama, umgeben ist (Kap.VII). Die tmava jama ist das Universum, in welches das Stadtlabyrinth17 , die Demiurgen-Schöpfung der bösen Welt, wie eine Scheibe (dies legt die Zeichnung nahe) geworfen worden ist. Als Verkehrung der guten und wahren Welt, ist der zlý svět eine Trug-und-Scheinwelt, ein Simulacrum. Einrichtungen, Dinge, Verhältnisse, Tätigkeiten folgen einer Logik, die Simulation und Dissimulation zugleich bewirkt

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Das von Daidalos abgeleitete Adjektiv daidaleos bedeutet kunstvoll (anthropos daidaleos), vgl. die Remigius-Stelle. Comenius läßt sich eher unter die Logodaedali rechnen. Kern weist auf die Tradition der Stadt-Labyrinthe hin, für die dasjenige von Jericho steht (1995, 187ff). Das Labyrinth der Welt wird als städtischer Raum ausgestattet, sowohl auf der Zeichnung wie in der ›Milieuschilderung‹. Das oben erwähnte Seefahrtkapitel mit ausgiebiger Meeresschilderung ist ein Kuriosum bezüglich der urbanen Struktur.

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21.9 Neben der gnostischen Interpretation des Welt-Labyrinths lassen sich bei Comenius auch andere Spuren ausmachen. Das sind zum einen mythologische Spuren: das Labyrinth als Unterwelt. Zum andern aber Spuren, die auf andere, noch nicht genannte Aspekte christlicher Labyrinthauslegung deuten: Das Labyrinth als Reich des Todes, in das der Pilger hinabsteigt, was einer Christus-Imitatio gleichkäme: (»descendit ad inferos«), oder der peinigende Raum der Welt als Purgatorium. Eine stark mystische Komponente ist dem Aufstieg, der resurrectio, des Pilgers inhärent, der eigentlich ein Ausstieg ist, ein mystischer recessus oder eine acedia18 . Das dem Jenseits geltende spirituelle Erziehungsmotiv beruht auf einem alles durchdringenden Weltpessimismus und einer Melancholie, die erst durch die Vision der Jesusgestalt, die dem Weltverächter erlösend zuteil wird, im zweiten Teil aufgefangen wird. Der Melancholiker erlebt die Welt als immer schon dem Untergang geweiht. Im Dialog mit den trügerischen Begleitern (die in der Beschönigung der heillosen Verhältnisse und in der Verführung zum falschen Sehen nicht nachlassen) begründet er den angestrebten Rückzug aus der Welt,-d.h. seinen Todeswunsch wie folgt: »Ich will lieber tausend Tode sterben, als dort zu leben, wo man solche Greuel verübt, und all die Ungerechtigkeit, Betrügerei, Verführung, Lüge und Grausamkeit mit anzusehen. Darum ist mir der Tod auch lieber als das Leben« (Tisíckrát umříti volím, nežli tu býti, kdež se tak děje, a dívati se na nepravost, faleš, lež, svod, ukrutnost. Protož již mi smrt žádostivější jest nežli život, Kap.XXXVI, 1). Das Durchschreiten oder Durchwandern des Labyrinths hat in Comenius’ Auslegung Aufschubfunktion. Nicht nur als Irrweg, als blinder Weg19 , sondern vor allem als Umweg ist jede einzelne Straße angelegt. Der Pilger folgt deren unregelmäßigem Verlauf, hält sich an Stationen auf, an denen seine unzuverlässigen Führer ihm gesellschaftliche Zustände, die Funktionen von Einrichtungen, den Sinn von Tätigkeiten erklären. Seine Mißbilligung und Unverständnis bekundenden insistierenden Rückfragen und sein gelegentliches Eingreifen in die Verhältnisse der Welt halten ihn in seinem Fortschreiten auf. Die Umläufe markieren jeweils bestimmten Berufsständen und sozialen Einrichtungen gewidmete Gebiete, deren Besichtigung dem Pilger Aufschluß über den Zustand der Welt verschaffen soll, ihn jedoch zugleich in Geschehen und Gegebenheiten involviert. Sein durchdringender Blick fällt auf grotesk anmutende Verrichtungen, Tätigkeiten, Bewegungen, menschliche Beziehungen, Institutionen, deren sinnvolle Berechtigung ihm die Trugbrille und seine Berater vorgaukeln. Die Reihe mißlicher Erfahrungen eröffnet die Begegnung mit den bereits im Labyrinth Etablierten, deren Umgang miteinander durch das geschickte Anlegen von Masken reguliert ist. Comenius nutzt das Schein-Sein-Motiv für die komisch gestimmte Szenerie von Figuren, die ihrer Masken entledigt, zu Fratzen und Mißgeburten mutieren: »Und indem

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Während Melancholie mit gnostischer Weltverachtung, Entfremdung (alienatio), genauer Entweltlichung, und barockem vanitas-Bewußtsein (das seinerseits AT-Wurzeln hat) zusammengeht, verweist die Lichtmystik auf mittelalterliche und ebenfalls barocke Prätexte. Zur vergilschen Interpretation des Labyrinths als einer Konstruktion von Irrwegen gehört auch der Aspekt der »Blindheit« (Burrichter, 2003, 24), mit Verweis auf Aeneis, III, 588-590.

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ich darauf achtete, sah ich, daß alle nicht nur im Gesichte, sondern auch sonst an ihrem Leibe in verschiedener Weise entstellt waren. Sie waren alle ohne Unterschied mit Krätze, Räude oder Aussatz behaftet, und außerdem hatten manche einen Schweinsrüssel, andere Hundszähne oder Rindshörner, wieder andere Eselsohren, Basiliskenaugen, Fuchsschwänze oder Wolfsklauen; ich sah auch einige, die einen hoch aufgezogenen Pfauenhals, andere, die eine dem Schopfe des Wiedehopfs ähnliche Haube, wieder andere, die Pferdehufe hatten usw. Die meisten aber ähnelten Affen« (A maje na to pozor, vidím, že všickni nejen v oblíčeji, ale i sic na těle rozličnĕ jsou zpotvořeni. Napořád byli trudivatí, přašiví či malomocní: a mimo to, některý měl svinský pysk, jiný psí zuby, jiný volové rohý, jiny osličí uši, jiný baziliškové oči, jiný lišči ocas, jiný vlčí pazoury: některé jsem viděl s pávovým vysoko vytaženým krkem, jiné s dedkovým naježeným chocholem, některé s koňskými kopyty etc., nejvíc pak bylo podobných opičim, Kap.VII, 4). Die Station der Gewerbestände erweckt den Eindruck emsigen Werkelns, das jedoch keinem sonderlich übergeordeten Zweck folgt, eine gewisse Beliebigkeit verrät, jedoch nicht jene Stufe der Absurdität repräsentiert, die der Pilger auf der nächsten Station, der der Gelehrten, betreten wird (Kap. X). In diesem Kapitel wird die bittere Kritik am zeitgenössischen Bildungs- und Gelehrtenwesen schonungslos in eine Szenerie abstruser und bizarrer Handlungen, Verhältnisse und Einrichtungen übersetzt. Hier bringt Comenius seine Verfremdungrhetorik zur Blüte. Indem der Pilger das Unbekannte, das ihm die Gelehrtenwelt beschert, als etwas überaus Groteskes wahrnimmt, ohne, wie der Leser, die Vorstellung von einer Normalität zu besitzen, gelingt ihm spontan ein von vernünftiger Intuition gelenkter, entlarvender Blick. Das Wegerklären der Absonderlichkeiten, um das sich die Führer bemühen, läßt den Witz der Verdrehungen desto krasser hervortreten. Z.B die Dressur der Studenten, die ihrer Verstümmelung gleichkommt, die Auslagerung des Wissens in die Bücher, die Hypertrophie im bibliophilen Umgang mit Büchern, die nicht als Leseobjekt, sondern als Schauobjekt fungieren, das Wissen als gepantschte Substanz, die nach Verabreichung zu heftigem Erbrechen führt. Hier geht es um Anleihen des einen Gelehrten aus Werken eines anderen oder vieler nicht genannter anderer Gelehrter, um Diebstähle fremder Gedanken, das Zusammenflicken nicht zusammenpassender Ideen, kurzum um wissenschaftliche Intertextualität, die Comenius zum Motor des Vomitierens macht. Der Besuch der Einzeldisiplinen (die in der Systematik nicht mit Trivium und Quadrivium übereinstimmen) konfrontiert den Pilger mit den jeweils angewandten Methoden, Untersuchungsgegenständen und Lehrmeinungen und den bis zur Prügelei reichenden Auseinandersetzungen bezüglich letzterer. Comenius führt mit scharfsinnigen Einfällen die Unternehmungen jeder der behandelten Disziplinen ad absurdum, indem er dem Pilger spitzfindige Argumente in den Mund legt. Auch der Erzählton, bedingt durch eine Verstärkung der Ich- Perspektive, verändert sich. Es scheint, als sei es der zunehmend durch Enttäuschung quasi mündig gewordene Pilger, der die Sprache dieser Szenen prägt, indem er referiert und zugleich eine Art inneren Gedankenmonolog führt. Die Disziplinen, in denen Comenius Meister ist, Grammatik, Rhetorik, Poetik (Poesie), Dialektik werden in ihren wesentlichen Punkten als jeden Sinnes bar abgelehnt. Sie werden im Kontext der Philosophie abgehandelt (Kap.XI), die als ein komisches Schlachtfeld widerstreitender Schulen der Antike erscheint. Ihre Dis-

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sonanzen werden durch den Auftritt des Paulus von Tarsus erledigt, der dem Pilger aus seinem ersten Brief an die Korinther sein berühmtes Paradox (Weisheit ist Torheit, Torheit Weisheit) zitiert und ihn damit vorübergehend beruhigt. Nun folgen die Grammatiker, die Buchstaben, Punkte, Striche an die Wand malen, einzelne Worte an den Wänden aufhängen, sich über deren Bedeutung in die Haare kriegen, sie zerlegen, zusammensetzen und hin-und herschieben, was der Pilger als »Kinderpossen« (detinske veci, Kap.XI, 2) abtut. Mit den Rhetorikern steht es noch ärger: Comenius nutzt den für die elocutio relevanten Begriff colores, dessen Metaphorik er realisiert. Die Redner färben ihre Reden ein, um die Zuhörer einzufärben und die Wahrheit zu verschleiern. In der Poesie (Poetik)-Disziplin geht es um das Abwiegen von Silben und das Verfertigen von Texten nach Vorlagen, die der Pilger (Comenius’ literarischer Geschmack spielt hier mit) allesamt als Possen, Fabeln, Buhlereien und Zoten verwirft, womit antike Liebesdichtung, die Metamorphosen Ovids, Enkomia und Satiren gemeint sind. Für die Dialektik läßt sich Comenius ein hermeneutisches Optik-Labor einfallen, das Brillen herstellt, die Einblicke in das Wesen der Dinge und in das Gehirn eines andern erlauben und je nach Schliff die Dinge unterschiedlich erscheinen lassen. Nicht anders steht es mit der Hermeneutik der Historiker, die sich eines nach hinten gebogenen Fernrohrs (das die Form einer Posaune hat) bedienen und je nach Artung des Objektivs, das hier perspicillum heißt, Vergangenes nahe oder fern, auf die eine oder die andere Weise vor das Auge bekommen. Physik, Metaphysik, Arithmetik, Geometrie, Geodäsie, Musik, Astronomie, Astrologie folgen in der Disziplinen-Enzyklopädie, in der zeitgenössische Diskussionen über Begriffe und Methoden als pure Narreteien erscheinen. Der Alchemie sowie den Rosenkreuzern widmet Comenius je ein eigenes Kapitel Kap. XII, XIII). Comenius, der seinen vernunftbegabten Pilger vom Arkanen nicht affizieren läßt, was auch die Weltverbesserungspläne insbesondere der Rosenkreuzer einschließt, verfügt über diesbezügliche detaillierte Kenntnisse, die ihm treffende Pointen erlauben. (Der Kommentar zur deutschen Übersetzung stellt das klar heraus). Der Parcours durch die Comenius relevant erscheinenden Versionen des Christentums läßt den verfremdenden Blick auf der Institution und ihren Vertretern ruhen, um Mißbrauch und Heuchelei anzuzeigen und das sola fide ad absurdum zu führen (Kap. XVIII). Der als mächtigste Sekte bezeichnete Katholizismus wird in protestantisch anmutenden Bildern zu Papsttum, Bilderverehrung und Ritus-Details vorgestellt, wobei Comenius mit dem Einfall, die ikonodulischen Katholiken die Bildinhalte realisieren zu lassen (sie stellen Leitern auf, um zum Himmel zu klettern, türmen Berg und Hügel aufeinander, verfertigen sich Flügel oder lassen sich von geflügeltem Getier in die Lüfte tragen20 ) der protestantischen Topik einigen Witz abgewinnt. Auch die Reformierten sind noch auf dem falschen Weg, nur eine Gruppe, die der »wahren Christen«, (.d.h. die Brüderunität) hat ihn beschritten. Der Pilger aber, der sich letzterer (noch) nicht anschließt, verpaßt seine Heils-Chance und fällt in die Wirrsal des Labyrinths zurück (Kap.XVIII,17).

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Vgl. den symbolischen Einsatz der Flügel in der Paradiesszene.

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21.10 Der Pilger geht keinen Heilsweg zuende, da es keinen gibt21 . Der Besuch jeder Station endet bezüglich der erhofften Aufklärung ergebnislos. Aus einer Konstruktion, die als Nicht-Kreis und Nicht-Quadrat entworfen ist und eines echten Zentrums entbehrt, gibt es auch keinen herausführenden Ariadnefaden der Rettung, der als Barmherzigkeit Gottes gelten könnte, sondern nur den Rückzug, recessus, oder Austritt. Jesus (Theseus) befindet sich außerhalb des Labyrinths, sein Rufen dringt von außen an das Ohr des Pilgers. Die Nicht-Pilger aber, die nicht zum Heil berufenen Menschen, erfahren das Weltgefängnis22 , in das Comenius sie eintreten läßt, nachdem sie ihr Lebenslos an der Eingangspforte gezogen haben, als ihre ständige Bleibe. Nur der Austritt aus dem Labyrinth also, den einzig der Pilger ohne Kenntnis eines Fluchtwegs anstrebt, führt letztlich ins Heil. Nur ihm gelingt es, den schlechten Tod, den die im Labyrinth Eingekerkerten in großer Furcht jammernd sterben müssen, zu vermeiden und den guten Tod zu erringen, den Tod durch Erlösung.23 Mit der Umwegigkeit, dem Aufschub, wird der Pilger auf die Suche nach dem guten Tod – nicht nach dem guten Leben – geschickt. In Comenius’ Pilger verbinden sich Melancholie und Thanatophilie. Noch ein anderer Aspekt erscheint von Interesse: der der phantastischen Repräsentation des Sinnlosen. Sie bedient sich des mundus-inversus-Motivs, der Paradoxie und vergleichbarer Verfahren, die zugleich ein ludistisches Moment erkennen lassen. Anhand der einzelnen Stichwörter der negativen Enzyklopädie wird das Motiv der verkehrten Welt entfaltet. Als knappe Inversionsformel tritt es in folgender Reihung auf: »ein entfernter Gegenstand (erscheint als) nahe, ein naher entfernt, ein kleiner groß, eine großer klein, ein häßlicher schön, ein schöner häßlich, ein schwarzer weiß, ein weißer schwarz« (več daleká blízká a blízká daleká; malá veliká a veliká malá; mrzutá krásna a krásna mrzutá; černá bílá a bílá černá etc., Kap.IV,4), wobei die Verkehrung durch die verfälschende Brille verursacht wird. Damit ist das speculare zum Verblenden, mámení, geworden. Im 2. Teil wird rückblickend die Verkehrung zur Gestalt der überwundenen Welt: »der verkehrten Welt Gestalt« (převráceného svéta křtalt, Kap.XLIV, 6). Die dem Motiv der verkehrten Welt gewidmeten Volksbilderbögen der Zeit, die Comenius womöglich bekannt waren, illustrieren die Figuren des Umstülpens und lassen besonders die sozialkritische Funktion in drastischer Irrealität hervortreten. Auch Nonsense ist

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Comenius’ Labyrinth-Konzept verbindet die beiden von M. Schmeling, 1987, unterschiedenen Vorstellungen, deren eine in klassischen Texten die Bewältigung der Aufgabe und deren andere in modernen Texten die Ausweglosigkeit schlechthin bedeutet (Joyce, Kafka, Robbe-Grillet) (1987). – Bezüglich moderner Texte wäre auch auf die labyrinthische Struktur von Andrej Belyjs Petersburg hinzuweisen, die allerdings in eine Art Heilsweg aufgelöst wird. Auch das dädalische auf Kalkül beruhende architektonische Meisterwerk ist ein Gefängnis, das ohne Kenntnis des Plans nicht verlassen werden kann. Auf den mit dem Labyrinth-Konzept verbundenen Aspekt der memoria/oblivio verweist H.Tausch, 2003, S. 79-119. »Der Austritt aus dem Labyrinth bedeutet die Wiedergeburt im neuen Universum der paradiesischen Welt«, so die Interpretation der Hypnerotomachia Poliphili des Francesco Colonna, wo das Labyrinth den Ort der Reinigung, des Todes, des Abstiegs zur grossen Mutter bedeutet. (Burrichter 2003, 219)

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eine Figur der Inversion, die der Semantik des Planlosen und Arbiträren als exakte Negation von Plan und Sinn entgegengestellt wird. Verkehrte Welt bedeutet im Text des Comenius verkehrte Logik, verkehrte Verhältnisse, Zustände, Handlungen, Gedanken, die auch den darin Lebenden unverständlich sind: »Sie verstanden nicht, sie antworteten nicht, oder antworteten auf etwas, wovon keine Rede war« (nerozuměli, ani neodpovídali, aneb o jiném, než řeč byla, odpovídali, Kap.VII,5). Die genannten, den Gelehrten und Philosophen gewidmeten Kapitel sind weitgehend von diesen Verfahren geprägt. Die phantastischen Inversionen, Hyperbeln, Adynata dienen der negativen Indizierung der weltlichen Dinge und plausibilisieren die Reaktion des Pilgers, der sich auf jeder Station angewidert wegwendet.

21.11 Die Gnosis als Befreiung aus Fesseln irdischer Existenz durch ›Einsicht‹ in die wesentliche Beziehung zu einem über-(außer-)mundanen Reich der Freiheit und Ruhe und die Melancholie, die sich als zur Entweltlichung führende Entfremdung kundtut, verbinden sich hier mit barocker Topik, in der vorchristliche Tradition mitschwingt. Bereits mit der den Werktitel begleitenden Erläuterung, die auf der Frontseite düster erscheint, wird eine Stimmung von Überdruß und Verzweiflung geschaffen: »Das ist eine klare Beschreibung, wie in dieser Welt und allen ihren Dingen nichts herrscht als Irrung und Verwirrung, Unsicherheit und Bedrängnis, Lug und Trug, Angst und Elend, und zuletzt Ekel an allem und Verzweiflung« (to jest světlé vymalování, kterak v tom svĕtĕ a vĕcech jeho všechněch nic není než matení a motání, kolotání a lopotování, mámení a šalba, bída a tesknost, a naposledy omrzení všeho a zoufání). Mit dieser düsteren Eingangsformel wird die poetische Stimme des Pilgers intoniert, in der alttestamentliche Weltverzweiflung, Melancholie und barocke vanitas-Erfahrung zusammenklingen. Marnost, vanitas, figuriert neben mámení, Verblendung, als zweites Schlüsselwort des Textes. In der später eingefügten Salomo-Episode führt Comenius mit Randglossenverweis auf Eccl. 11,7 das Weltablehnungsmotiv noch einmal eindrücklich am Beispiel des alttestamentlichen Weisen vor (Kap. XXXI). Letzterem, der mithin als Ersatzfigur fungiert, wird die (klassische) vanitas vanitatum-Klage aus Ecclesiastes 1,2.15, in den Mund gelegt. Er ruft aus: »Eitelkeit über Eitelkeit und alles ist eitel!« (Marnost nad marnostmi, a vsecko marnost! Kap. XXXIII, 1.) Doch Salomo, der Weise, der sich mit der Königin der Welt, der Weisheit, die den Namen Marnost trägt, vermählen will (was die Schilderung prächtiger Gemächer motiviert, deren Pracht sich als Papier und Werg herausstellt24 ), läßt es damit nicht bewenden. In der Demaskierung der Welt übernimmt er die führende Rolle. Die Antithese, eine – wie gesagt – seltene Figur, wird in der salomonischen Entlarvungsszene effektvoll eingesetzt: im maskierten Richtigen wird das

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Ebenso wie die äußere Pracht sich als Trug herausstellt, ist die Führung der Welt durch ein Weiberregiment – die Königin hat Beraterinnen wie Fortuna und Industria zur Seite und bedient sich ausschließlich weiblichen Personals – zu einem Zustand verurteilt, der durch Betrug und Trug aufrechterhalten wird. Hier scheint ein anderes (von mir nicht verfolgtes) Motiv für die LabyrinthSemantik auf, das der Misogynie, das auch im Kapitel über den Ehestand angedeutet wird.

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Falsche erkannt. Die Gerechtigkeit, der Salomo die Larve vom Gesicht reißt, erweist sich als nackte Ungerechtigkeit. Für die Instrumentierung dieser Inversion des scheinhaft Guten ins wahrhaft Schlechte kann das Motiv der verkehrten Welt, diesmal moralkritisch, nochmals seine Rolle spielen. Die Frage, was es letztlich mit der Einführung der Salomofigur auf sich hat, läßt sich zwar stellen, aber kaum beantworten. Wußte Comenius von der anderen Tradition, die nicht Dädalus, sondern Salomo zum Erfinder und Erbauer des (oder eines) Labyrinths erklärt? (Kern 1995, 178) Oder korrespondieren Salomo und der Pilger im Sinne der AT- NT-Typologie miteinander, wobei letzterer das AT und die Täuschungen, denen am Ende auch die hehre Salomofigur, die Repräsentation der Weisheit, erliegt, durch seinen erfolgreichen Gang aus dem Labyrinth überwindet? Nach den Verfremdungskapiteln und den ebenfalls von Aufdeckungs- und Entlarvungsstrategien beherrschten Kapiteln der Salomo-Episode folgt eine Reihe von Kapiteln, in denen die Predigtrhetorik die Dominanz gewinnt. Homiletisch genutzte Schlußfolgerungen aus den negativen Erlebnissen mit der verderbten Welt werden hier in zurückgenommener stilistischer Ausstattung, eher argumentativ, das officium des monere anwendend, dargelegt.

21.12 Der Pilger, am Ende seiner fruchtlosen Wanderschaft und auf der Flucht aus dieser ihn um keinerlei wahres Wissen bereichernden Welt, nimmt die Trug-Brille ab, reibt sich die Augen und erblickt die bis dahin weitgehend entzogene Wirklichkeit: »schauerliche Finsternis« (nahlédnu, a spatrím straslivych temností mrákotu, Kap.XXXVI, 3), eine Dunkelheit ohne Boden und Ende. Er bricht zusammen und stimmt seine Klage an, die mit Wiederholungen instrumentiert wird: »ist dies das Los…«, ist das der heißersehnte Friede…«, ist das jene Unsterblichkeit…«, im Original werden vier Sätze mit der Frage: Toto-li begonnen. Der vierstelligen Klage folgt die viermalige Anrufung Gottes: Ach Boze, Boze, Boze, Boze. Dieser exzessive Appell gewinnt durch den wie in Parenthese geäußerten Zweifel an der Existenz Gottes angesichts dieses Weltzustands eine apokalyptische Note: »wofern es einen Gott gibt« (jestliže jaký Bůh jsi, Kap. XXXVI, 4). An dieser die Theodizeefrage nicht weiter verfolgenden dramatischen Stelle nun setzt die Erlösung(sutopie) ein. Eine Stimme ruft den Verzweifelten dreimal zur Rückkehr auf. Es ist die Stimme Gottes, die ihn in seines »Herzens Kämmerlein« (do domu srdca) einzukehren mahnt. »Ich…hielt nun Einkehr in mein Herz« (vstoupil jsem vnitř do srdce svého, Kap. XXXVII, 3). Die Herzenskammer ist geordneter, geschützter und schützender Raum, den der Pilger einst verlassen hatte, um ins Labyrinth, den ungeordneten, kontingenten Raum, der als urbaner das Weltliche schlechthin repräsentierte, einzutreten. Aus dem begrenzten Labyrinth wird er in das unendliche Lusthaus, das Paradies des Herzens erlöst. Hier, vollzieht sich als Lichtvision (und als Wahrnehmung eines Duftes) die unio mystica mit dem Erlöser, der die Herzenskammer gemeinsam mit dem Zurückgekehrten bewohnen will: »Wie wollen hier in diesem Schrein uns einschließen« (Zavřeme se zde v schraně této spolu, XXXIX, 3). In der Christusrede formuliert Comenius sein Glaubensbekenntnis, in dem in präziser Dialaktik jede Station des La-

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byrinths in ihrer Irrtümlichkeit rekapituliert und die Stationen des Heilswegs aufgewiesen werden, die einzig das Herz bereit hält. Darum ist auch die Hingabe des zum Gefährten auserwählten Pilgers, die in Form eines die Topik der Jesusminne absorbierenden Gebets sich äußert, Herzenssache. Die Partizipation Comenius’ an der Herzenssymbolik des 17. Jahrhunderts, die im Pietismus weiter wirkt, tritt hier offen zutage. (Schadel 2003) Auch das geflügelte Herz gehört dazu. Die Herzensflügel, die zunächst zersaust und unbenutzbar am Boden der Kammer liegen, werden wieder hergestellt, geputzt und können für den Flug in den Himmel (der neben dem Herzen zweiten Bleibe), zu dem Jesus den Verwandelten einlädt, jederzeit angelegt werden (Kap. XL,1). Der labyrinth-mythische Kontext legt allerdings nahe, die Flügelmetaphorik auch mit einer der Versionen zusammen zu sehen, die vom Verlassen des kretischen Labyrinths erzählen. Und zwar mit jener, die dem Architekten des Baus gilt. In dieser wird Dädalus von seinem mit dem ausgeführten Minotaurus-Gefängnis unzufriedenen Auftraggeber Minos verfolgt. Da er möglicherweise den Plan seiner Konstruktion vergessen hat und daher den Ausweg nicht findet, legt Dädalus flüchtend die von ihm hergestellten Flügel an und erhebt sich aus dem Labyrinth empor. Ohne wie sein unvorsichtiger Sohn der Sonne zu nahe zu kommen. Auch der Pilger versengt sich nicht am göttlichen Licht, aber er verschmilzt mit ihm, womit der Aufstieg aus dem Labyrinth seine (den Mythos ignorierende) mystische Pointe findet.

21.13 In der sprachlichen Ingenieurskunst und der semantischen Strukturierung liegt die comenianische Neuinterpretation des Labyrinth-Konzepts, in die verschiedene Traditionen gleichwohl miteinfließen: gnostische, barock-christliche, hebräische, antike (Verblendungszusammenhang, vanitas, acedia, Klage, Melancholie). Beide, das schlechte und das gute Labyrinth (das Lusthaus, der hedonistische Irrgarten) sind einander reflektierende rhetorische Konstruktionen. Die ambiguitas und aequivocitas werden in die Eindeutigkeit der Heilssprache überführt. Die Rhetorik wird nicht nur in Dienst genommen, um eine Seelenheilungs und –Seelen-Aufklärungsgeschichte zu erzählen, vielmehr zeichnet die Rhetorik hier eine nicht zu überschreitende Sinngrenze aus Adynaton, mundus inversus, Oxymoron. Die Ornamentalität der Wortketten, der Homoioteleuta, der Wiederholungsfiguren wird durch die Konfessionalität überhöht, das konstruktive Moment selbst hat Bekenntnisfunktion. Wie verträgt sich dies mit Comenius’ Sprachkonzept? Comenius’ Sprachkonzept, im Kontext der Universalsprachentwürfe des 17. Jahrhunderts nicht unambitioniert (Kosta, Senkerik 2003), ist rhetorikfern, was die Gestaltungsfreiheit angeht. Sein Projekt einer polysemiefreien Universalsprache folgt einer künstlichen Phono-Semantik. Ein Konzept dieser Art duldet keinen ornatus, keinerlei poetische Manipulation. Es ist ein intersprachliches Kommunikationsmittel, dessen Botschaften religiösen Konsens herstellen, rhetorisch funktioniert es lediglich im officium der persuasio. Während das Latein der philosophischen und theologischen Schriften (das den erasmianischen Vorwurf des korrupten Latein nachciceronianischer Zeit ernst

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Versuche im Umgang mit dem Wissen

nimmt) sich der claritas und concinnitas verschrieben hat, und das Latein der didaktischen Schriften, Janua linguarum und Orbis pictus, als Sprache der Nomenclatura und als Sprache fungiert, die um der vernünftigen Erfassung der Welt willen erlernt werden soll, streicht das Konzept der Universalsprache Qualitäten wie Eleganz, Harmonie, Antithetik, Parallelismus ebenso aus, wie es die traditionelle Universalität des Latein aufgibt. Der Reduktionismus der von Comenius projektierten Kunstsprache (wenige Bausteine mit klar definierten, nach genauen Regeln festgelegten Funktionen) dient dem Universalismusziel (Allgemeinverständlichkeit) kompromißlos. Daß dagegen die böhmische Muttersprache, gänzlich anti-universal, Poetizität erlaubt, erscheint inbezug auf die religiöse Didaktik von Bedeutung. Der sowohl allegorische als textperformative Einsatz des Labyrinths als Motiv und als Struktur, aber auch die Figuralität der Konstruktion lassen eine spiritualisierende Inanspruchnahme des Rhetorischen erkennen. Die conclusio ist ein enthusiastischer Lobgesang, ein Spiel mit der Konkurrenz zwischen religiös-pädagogischem und poetischem Diskurs. Was dabei entsteht, ist eine Art raptus oder furor poeticus, wie er in der Zeile: »Seele und Leib tanzen Dir, dem lebendigen Gott, entgegen«25 (duše i tělo mé pléše k tobě, Bohu živému, Kap.LIV, 2) zum Ausdruck kommt. Dieses Tanzen ruft den Tanz als (mögliche) Urform des Labyrinths in Erinnerung. Nach diesem Auf- und Ausbruch in den furor jedoch erfolgt die Rückkehr in die zügelnde Tradition mit dem liturgisch legitimierten Ausruf: »Gloria in excelsis Deo«.

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In der Übersetzung von Baudnik heißt es gemäßigter: »Mein Leib und meine Seele jubeln Dir, dem lebendigen Gott, entgegen«; plesat hat neben jauchzen, jubeln auch die Bedeutung tanzen. Der enthusiastische Duktus der Passage läßt zu, die heftigere Konnotation zu bevorzugen.

22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung Analyse im Stil Roman Jakobsons

22.1 Roman Jakobson hat sein Konzept der Grammatik der Poesie/Poesie der Grammatik an Džore Držićs Gedicht Na lovu, das er als ein »bemerkenswertes Beispiel dalmatinischragusanischer Poesie« (1961-1962/2007, 541) bezeichnet, nochmals vor Augen gestellt. In der Analyse dieses in der Tradition des kroatischen Petrarkismus stehenden Gedichts aus dem Ranjinin zbornik von 1507 geht es Jakobson um die verbalen Materialisierungen grammatischer Kategorien. Zunächst eruiert Jakobson die spezifischen, für die ragusanische Dichtung relevanten Verhältnisse in Prosodik, Akzentologie und Phonetik, deren Kenntnis als Voraussetzung für seine präzise Aufzählung von Hebungen, Silben, Zäsuren und Wortbetonungen dient. Mit diesem quantitativen Verfahren ist die Instrumentierung des kleinen Gedichts auf das genaueste registriert. In einem zweiten Schritt gilt Jakobsons Interesse der Morphologie: Er deckt die ornamentalen Spuren auf, die Držić mit seinem morphologischen Spiel hinterlassen hat (Držićs Gedicht ist abgedruckt in Pavlović 1960, 50). Für Jakobson sind Topik und rhetorisch legitimierte Verfahren nur dort von Belang, wo sie als »morphe« greifbar sind, d.h. wo sie das Wesen der Form hervortreten lassen. Bekanntlich ist einer der leitenden Begriffe des Grammatikers der Poesie und Poetikers der Grammatik ›соотвествие‹. Dieser Begriff, der mit Entsprechung oder Korrespondenz wiedergegeben werden kann, schließt Symmetrien, Parallelismen und Wiederholungen ein und schärft den Blick für das, was die »Sprachgestalt« zu leisten vermag. Es gilt zu verstehen, wie die morphe in Dichtung umgestaltet wird und damit eine junge Literatur, die noch von keiner poetischen Tradition »belastet« ist, zu Worte kommen lässt, und zwar in der Schönheit ihrer Polyptota, Paronomasien, Figurae etymologicae und (die Reimstruktur bestimmender) Homoioteleuta.

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Nachtrag

22.2 Es stellt sich die Frage, inwieweit die Wahl rhetorischer Verfahren von einem gegebenen sprachlichen Material bestimmt ist und wie stark die Abhängigkeit von der geltenden poetischen Konvention (oder die bewusste Absetzung von ihr) zu veranschlagen ist. Hier möchte ich ansetzen und versuchen, an Beispielen ragusanischer Lyrik des 17. Jahrhunderts den Zusammenhang von Morphologie und dem Einsatz rhetorischer Verfahren zu beleuchten. Was das Beispielmaterial angeht, so beziehe ich mich im folgendem zur Hauptsache auf Dichtungen von Ivan Gundulić, Ivan Bunić-Vučiđević und Ignjat Đorđić. Die ragusanische Literatursprache, morphologisch geprägt wie alle slavischen Idiome, hat Verbalformen, Kasusformen, Personalpronomina zu ihrer Verfügung, durch deren strategischen Einsatz die grammatische Struktur als poetische hervortreten kann. Korrespondenzen, Symmetrien, Parallelismen und Wiederholungen erscheinen als syntaktische Formung dieser grammatischen Möglichkeiten und verschieben gerade damit das sprachliche Material von der primärmodellierenden auf die sekundärmodellierende Ebene (Lotman), d.h. der ordo na turalis wird, rhetorisch formuliert, in den ordo artificialis transformiert. Ins Auge fallend sind Reimstrukturen vom Typ grammatischer Reim bzw. Homoioteleuton, wie sie bereits aus der ragusanischen Renaissancelyrik bekannt sind (vgl. Bogišić 1968). Hier bieten die morphologischen Möglichkeiten Reime wie radosti/mladosti, cvietje/prolietje nicht nur an, sondern drängen sie gewissermaßen auf. Es ist just das Homoioteleuton, das auch in Bunićs Plandovanja zu den frequent eingesetzten Verfahren gehört, wobei Wörter, die derselben Verbklasse angehören, bevorzugt werden, z.B. želim/veselim; utruni/uduni; plaća/vraća, topli se/ledi se (mit antithetischer Wendung) oder Wörter aus derselben Substantiv- bzw. Adjektivklasse, z.B.: strile/vile; prebile/mile ufanje/obećanje (zit.n. Pucić 1849/1965). Dieses Verfahren gilt auch für die anderen ragusanischen Dichter der Zeit. Verbformen, Adjektive, Substantive finden recte oder gebeugt unweigerlich zueinander; die Reim-inventio ist dadurch eingeschränkt und die Erwartbarkeit bestimmter Reimpaare sehr hoch. Die morphologisch garantierten Entsprechungen, die zwar nicht auf den Effekt der Verwunderung setzen, wie sie die barocke, »maraviglia«-orientierte Poetik (die für die ragusanische Dichtung bestimmend wurde) eigentlich fordert, gewähren aber »poetischen« Einblick in die Korrespondenz von Gleichklang und semantischer Nähe oder, wenn die Reimkomponenten antithetisch eingesetzt sind, in die Störung einer solchen Entsprechung. Dem spätbarocken Ignjat Đorđić allerdings gelingt es, das sprachliche Material in seinem Verspoem Uzdasi Mandalijene pokornice auf eine eher maraviglia erzeugende Weise vorzuführen (zit.n. Rešetar 1918, neue Ausgabe Švelec 1971, ohne Zeilenzählung): Neizrečan je i neobhitni, neprimjerni, nesmišļeni, nepočeti, nedospitni, netelesni, neoskvrrieni, nepodložni, nedobiti, nepomični, neizmjeniti. (Uzd. VIII, 283-288)

22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung

Die elfgliedrige Reihung, ein häufiges Verfahren der Diärese, wirkt hier als Realisierung einer theologischen Spekulation wie ein quasi durch den Zweck legitimiertes Mittel: Es geht um die Einkreisung der Vielnamigkeit Gottes. Die Wiederholung des »ne« – ein Echo der apophatischen Gottesbetrachtung (»neizrečan«) – ist ebenso ein sprachliches Exerzitium wie die asyndetische Aneinanderfügung von als Adjektive gegebenen Attributen unterschiedlicher Genese, die sowohl den Innenreim als auch den Endreim motivieren. Das apophatische Motiv wird in der folgenden, ebenfalls diäretisch angelegten sechszeiligen Strophe noch weiter ausgeführt: Tiem najbole boga znamo, kad mislimo što bog nije: nie bog svjetlos, kü gledamo, nie bog nebo, kē nas krije, nie bog sunce, komu plami sunčani su pod nogami (Uzd. VIII, 247-252). Hier erscheint die konsequent durchgeführte Symmetrie (dreifache Wiederholung von »nie bog«, dreifache Wiederholung eines als theomorphe Metapher abgelehnten Bildes, dreifache Wiederholung des Relativpronomens) als Teil einer Argumentation. In einem weiteren, ebenfalls ein theologicum betreffenden Konstrukt setzt Đorđić das Reihungsverfahren ein, um die Trinitätsbestimmungen zunächst in drei Bildern positiv zu benennen und hernach in einem Summationsschluss nochmals vor Augen zu führen: Dvor zamjeran na tri strane, vječna rieka u tri traka, dub sverodni u tri grane, rajska svjetlos u tri zraka, i svemu u svem svi jednaci traci, strane, grane i zraci (Uzd. VIII, 409-414) (Auf das Reihungsverfahren, insbesondere dasjenige der asyndetischen Diärese, das Đorđić nachgerade hypertroph einsetzt, komme ich zurück). Tropen und Figuren variieren bezüglich ihres semantischen Gewichts je nachdem, ob sie rein ornamental eingesetzt sind und ihre Rolle beim Aufbau poetischer Bilder spielen oder ob sie im Kontext bestimmter Topiken stärker auf den Inhalt eines Topos bezogen sind. Dessen Bedeutung hängt wiederum davon ab, wie konventionalisiert er ist. Es besteht eine nicht genau zu bestimmende Beziehung zwischen Tropen/Figuren und Topoi. Die semantische Funktion der Tropen/Figuren kommt in dem Maße zum Vorschein, in dem es in der jeweiligen Dichtung gelingt, zum Klischee erstarrte Topoi neu »aufzuladen«, ihnen einen noch unbekannten Akzent zu verleihen, sie neu zu interpretieren. In der Dichtung des 15./16. und 17. Jahrhunderts gibt es bekanntlich mehrere Bestände topischer Bewältigung ererbter und aktueller Themen: Liebe (Liebesleid), Schönheit, Krieg, Tod/Vergänglichkeit. Jedes dieser Themen kann aus seiner konventionellen Bindung, die die Topik liefert, mehr oder weniger gelöst werden, je nachdem wie überraschend die sprachliche Einkleidung aussieht. Das Spielerische, Komische ist dabei ebenso wichtig wie das Erschreckende, Rührende, Begeisternde, Pathetische etc. Viele Untersuchungen (vgl. etwa Fališevac 1987; Kravar 1975, 1995) haben gezeigt, welche Rolle

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Nachtrag

gerade und besonders die Metaphorik hier spielen kann. Die Suche nach Ähnlichkeit resultiert in erstaunlichen Bildern, in denen Unvereinbares zusammengesehen wird oder weit entfernte semantische Bereiche miteinander in Kontakt gebracht werden. Die Hyperbel wird als Mittel eingesetzt, um den uneigentlichen Ausdruck zu überhöhen und zu intensivieren. Die bildspendenden Domänen für die Liebes- und Schönheitsthematik sind Temperatur (heiß/kalt), Kosmos (Sonne, Sterne), Natur (Blumen, Wiese, Bach), Geschmeide (Rubin, Koralle, Edelstein), Tod, Schmerz (Gift, Pfeil), deren Elemente oft in starker Häufung auftreten. Was die semantischen Tropen angeht, so lassen sich vermutlich keine primär der Sprachgestalt geschuldete Präferenzen feststellen – vielmehr dürfte das genannte, kulturell etablierte Imaginarium hier entscheidend sein: Tropen wie Metapher, Metonymie, Synekdoche, gehören dazu, d.h. Ersatztropen, bzw. Tropen der immutatio. Figuren hingegen, besonders zweigliedrige, die zumeist syntaktische Konsequenzen haben, wie Antithese, Chiasmus (und als Trope, die syntaktisch realisiert wird, auch das Oxymoron) scheinen stärker als die Tropen der immutatio die Sprache als solche zu »reflektieren«.

22.3 Spuren des im 15./16. Jahrhundert von der dalmatinisch-ragusanischen Dichtung rezipierten Petrarkismus sind auch in der barockisierenden Liebesund Schönheitsdichtung wieder zu erkennen, das petrarkistische Erbe wird weiter gegeben. Anders, so scheint mir, steht es mit der Vergänglichkeits- und Todesthematik, die durch die Ereignisse des 17. Jahrhunderts eine neue Bedeutung erlangt hat, die den galanten Duktus der ererbten Eros/Thanatos-Topik überlagert. Vergänglichkeit ist das neue, religiös und philosophisch getönte Thema, das in einer sich langsam verfestigenden vanitas-Topik seinen Ausdruck findet. Die prominente Trope ist in diesem Kontext das Oxymoron, das eine die Syntax betreffende Komponente einschließt. Das Oxymoron, Ergebnis der präzisen Wahl von sich semantisch diametral begegnenden Begriffen, wird häufig als Zuspitzung eines affektiv aufgeladenen Ausdrucks eingesetzt. Es wird insbesondere dann virulent, wenn es um habitualisierte Gegensätze geht wie gut/böse, hässlich/schön, Wahrheit/Lüge, Liebe/Hass, Leben/Tod, deren unvermittelter Kontakt auf ein Paradoxon hinausläuft, zumindest aber akzeptierte Annahmen über die Natur der Dinge durchkreuzt. Für jedes Gegensatzpaar gibt es unterschiedliche semantische Realisierungen, wobei die metaphorische Einkleidung im Vordergrund steht. In den petrarkisierenden Gedichten ist diese Trope semantisch nicht konstitutiv, obgleich sich einige Beispiele, gewissermaßen im Vorgriff auf die Oxymorastilistik der nachfolgenden Generation, anführen lassen. In der letzten Zeile aus dem Liebesklage-Gedicht von Siško (Šišmundo) Menčetić liegt zweifellos eine oxymorale Struktur vor: »Oh, oslad’ gork čemer, moj cvite rumeni« (Pavlović 1960: 36). Auch das Oxymoron des Dominko Zlatarić, eines weiteren Vertreters der ragusanischen petrarkistischen Dichtung, bedient sich desselben Bildbereichs – in seiner Klage über das Liebesunglück und das Unglück im allgemeinen steht die Metapher aus dem Bereich des Geschmacks zugleich für den des »Seins«:

22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung

Napokonj svaku slas gork čemer polije I tako vara nas; a sad smo, sad nas nije. (ibid., 130) Mit slas/gork čemer »kroatisieren« Menčetić, Zlatarić u.a. eine andere Bezeichnung für den Ausdruck »oxymoron«, nämlich »glykopikron«. Slas(t)gorki čemer erscheint hernach als frequente oxymorale Formel. Die Antithese verschmilzt durch die syntaktische Anordnung zum Oxymoron. Rein formal ist die Zweigliedrigkeit für das Oxymoron konstitutiv: entweder durch die Koalition von Adjektiv und Substantiv, wie etliche Beispiele belegen können, etwa bei Gundulić: slados gorka, ijed ugodan (Suze II, 87; zit.n. Rešetar 31938; Ravlić 1962, ohne Zeilenangabe) und bei Đorđić: medni čemer (Uzd. III, 116) oder durch Zueinanderrücken zweier Substantive. Im Oxymoron spiegeln sich die entgegengesetzten semantischen Bereiche und lassen eine Art Ambivalenz zwischen den Extremen entstehen.

22.4 Der Tod, das Sterben werden in Metaphern für Vergehen, Verblühen, vanitas, Verderblichkeit, Nichtigkeit dargestellt. Ich möchte nochmals auf diesen Komplex negativer Metaphorik hinweisen, der bei Gundulić, Bunić, Đorđić prominent geworden ist. Diese Negativ-Metaphorik mit ihren biblischen Wurzeln, die meist das Ende eines Gedichts markiert, ist häufig nicht Antipode eines in positiver Metaphorik dargestellten Bereichs blühenden Lebens, sondern fungiert als Schlusspointe einer durchgehend melancholischen Stimmung, die alles immer schon als trügerisch, flüchtig, zum Untergang verurteilt erscheinen lässt. Hier kann das Oxymoron nahezu ständig eingesetzt werden, denn jedes genannte Element trägt schon seine Verneinung in sich. So die berühmten Strophen aus Gundulićs oben zitierten Suze sina razmetnoga: Jedno ufanje ko sveđ bježi, zlo u slici prazna dobra, plam ki spraža a ne vriježi, noć ku za dan slijepac obra, vjetrić huđe ki razgara, obećanje koje vara,   jedan stabar ki neplodan samo u sjen se šira i stere. slados gorka, ijed ugodan, glas bez riječi, riječ bez vjere, hip u viku svijeh godišta, vjetar, magla, sjen, dim, ništa! (Suze II, 79-90). Auch das zweite Gedicht aus Bunićs Piesni duhovni ist zu nennen: hier wird eine Passage, die den Anfang des Gedichts bildet, am Ende, nachdem die einzelnen Elemente gereiht worden sind, als Summationsschluss wiederholt (zit.n. Pucić 1849/1965, 84)

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Nachtrag

Budi nam spomena, ljudska su godišta, Vihar, plam i siena, san, magla i ništa. (II,1-16) Đorđić schließt mit den Uzdasi Mandaliene pokornice an diese Negativ-Tradition an, wobei seine Tendenz zur Überbietung durch Häufung deutlich hervortritt. Die Vergänglichkeit der Schönheit steht auch für diejenige des Lebens überhaupt: Ljepos svaka na sviet odi […] bjeguć ures brz na čaše, grob pozlatjen, štetna mama, medni čemer, smrt žudjena, pjena, magla, vjetar, slama, plam, hip, san, glas, prah, dim, sjena, s malo slave i godišta, zemļa iz zeme, ništa iz ništa! (Uzd. III, 109-120) In den Schlussformeln ist die asyndetische Reihung der Elemente, die aus verschiedenen Bildbereichen stammen, ein Verfahren der Klimax und eine Art Steigerung ins Nichts, ein Verfahren, das sich besonders Đorđić zu eigen macht: ništa iz ništa.1 Was auffällt, ist einerseits Verdichtung, Häufung und Intensivierung und andererseits eine straffe Ordnung, die die aufgezählten Glieder bändigt. Letzteres lässt wieder an Jakobsons Konzept der Schönheit des Grammatischen denken. Besonders in der Asyndese der monosyllabischen Wörter wird das deutlich: plam, hip, san, glas, prah, dim (nur der Reim verlangt dann das zweisilbige sjena).2 Gundulić lässt Gedanken für Wandel und Vergänglichkeit auch durch antithetische Strukturen mit anderen semantischen Schwerpunkten einfangen, etwa mit räumlichen und sozialen: oben/unten; Sklave/Kaiser (zit.n. Rešetar 1938; vgl. Ratković 1962): tko bi gori, eto je doli, a tko doli, gori ostaje. Sad vrh sablje kruna visi, Sad vrh krune sablja pada, Sad na carstvo rob se uzvisi, a tko car bi, rob je sada. (Osman I, 15-20) Syntaktisch liegen hier zwar Antithesen vor, aber deren Starrheit wird durch die Betonung der Bewegung aufgehoben, die in einem Gegebenen schon dessen Verkehrung sichtbar macht. Und dies wiederum lässt das oxymorale Moment hervortreten, das besonders bei Gundulić eine stark affektive Note erhält. Im Oxymoron ist Weltanschauung verborgen oder der Versuch, Welterfahrung auszudrücken. Das Oxymoron kann wie eine Interpretation, wie eine Schlussfolgerung etc. fungieren, als ob die Sprache im 1

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Die Metaphern sind weitgehend biblisch (Altes Testament) und liegen auch anderen Gedichten der Barockzeit zugrunde (Gongora, Weckherlin, Frankopan etc.). In einer frühen Arbeit (Lachmann 1964, 188-202) habe ich mich ausführlicher mit dem Vergänglichkeitsmotiv beschäftigt. Hier sei an Daniel Naborowskis Gedicht Krotkošć żywota erinnert, das die genannten Elemente ebenfalls asyndetisch und Einsilbigkeit bevorzugend präsentiert: »Dźwiȩk, cień, błysk, gfos, punkt.« Vgl. hierzu Lachmann 1990.

22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung

Oxymoron zu einer gewichtigen Aussage genötigt sei. Jedenfalls zieht das Oxymoron eine Aufmerksamkeit auf sich, die einerseits ihrer provokanten Zweigliedrigkeit, andererseits dem darin versteckten »Scharfsinn« gilt, der jenes oxys (»scharfsinnig, scharf schmeckend«) zu realisieren scheint, das das moron (»fad schmeckend, töricht«) ständig überlisten muss. Als rhetorisches Verfahren strebt das Oxymoron die Synthese von Scharfsinn und Einfalt an, insofern die unvermittelte Berührung von Extremen einerseits verblüfft und zur Bewunderung auffordert, andererseits aber die Augen öffnet für ein ungemein triviales, verständliches, ja simples Verhältnis zwischen ihnen – wie heiß/kalt, oben/unten, Leben/Tod etc. Das Oxymoron verschränkt nicht wie die kühne Metapher entlegene, unverbundene semantische Bereiche. Im Oxymoron liegt kein Verfahren der immutatio, der »uneigentlichen« (improprie) Vertretung vor, denn der Effekt besteht gerade in der Präsentation, »Präsentmachung« der beiden Glieder (während bei der Metapher das »eigentliche« Glied in absentia ist), d.h. die beiden Glieder müssen nebeneinander wahrgenommen werden. Der Effekt der Bestürzung, Verblüffung, den das Oxymoron in seiner »akuten« Form erzeugen kann, nimmt durch die Verfestigung in bestimmten Bildern zwar ab, was insbesondere für die med/čemer, oganj/led Bildungen gilt, die in allen Liebesgedichten unabweisbar auftauchen, dennoch behält der LebenTod-Komplex in all seinen Gestaltungen eine affektive Wirkung. Das lässt sich in erster Linie in Gundulićs zitierten Suze sina razmetnoga zeigen. Dieser Text vermittelt eine Art Verfallenheit an die Vergänglichkeit, ein Untergangspathos. Das Oxymoron leistet hier genau das, was ich anfangs als mögliche Wiederaufladung des Topos bezeichnet habe. Dies geschieht allerdings auch durch die Aufrechterhaltung des Themas im Verlauf des Plač drugi. Es ist als könne sich der reuige und zugleich verzweifelte »razmetni sin« von diesem Blick in den Untergang nicht trennen. Fast obsessiv umkreist er mit immer neuen Wendungen seinen Sündenfall, der ihm die Rückkehr ins Leben zu verweigern scheint. Gundulić investiert seine ganze verbale Phantasie, um dies zu veranschaulichen. Mir scheint, dass das ein besonderer Aspekt seines Verfahrens ist, denn er »veranschaulicht«, führt gewissermaßen vor Augen, lässt die Pein der Reue evident werden. Die letzte unten zitierte Zeile zeigt nochmals die formale Beziehung zwischen Antithese und Oxymoron: »se rodi, mrijet počina« lässt sich als Einheit »se rodi mrijet počina« lesen. Ah, nije život ljudski drugo neg smućeno jedno more, neg plav jedna ku, udugo biju vali kako gore; i sred ovijeh netom tmina čo’ek se rodi, mrijet počina. (Suze II, 169-174) Die Antithese entfaltet das Oxymoron syntaktisch. Antithetisch angeordnete Kola bestimmen viele der Strophen in Đorđičs Magdalenen-Epos, etwa wenn es um die Gegenüberstellung der Leiden Christi und der verwerflichen Vergnügungen der Sünderin geht, wobei die Pronomina antithetisch eingesetzt sind: ńemu boles, meni scjena, On progonjen, ja dvorena?

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Nachtrag

On u dračah, ja u zlatu, On na ranah, ja na stolu? ja u dvoru pribogatu, on u grobu hridnu i golu? (Uzd. IV, 149-154) Die Antithese ist als syntaktisches Verfahren eine figura elocutionis und zwar vom Typ der adiectio. Die ragusanisch-dalmatinische Dichtung bevorzugt bei den figurae elocutionis die figurae per adiectionem gegenüber den figurae per detractionem. Denn es geht um die üppige Ausbreitung des sprachlichen Materials, um stilistischen »Überfluss« – was Pleonasmen einschließt und legitimiert. Bereits in der ragusanischen Renaissancedichtung gibt es Beispiele für einen hoch frequenten Einsatz desselben Wortes, häufig am Zeilenanfang: In Siško Menčetićs Gedicht Blaženi čas wird »blažen« achtmal wiederholt, unter Berücksichtigung von Plural und Singular, maskulinen und femininen Formen (zit.n. Bogišić 1968, 82). Noch extensiver sind die Reihungen bei Držić. In dem Gedicht, mit den Anfangszeilen »Gdi može sunačce [,.]/I moje srdačce […]« (Pjesni Ijuvene, XXXIII) werden zwei Zeilen siebundvierzigmal wiederholt; in O’ striloperena (LXXXIII) begnügt sich der Autor mit einer sechzehnmaligen Wiederholung (beide Gedichte zit.n. Hamm 1965, 34-36, 79-80).

22.5 Aus solchen Spielformen geht hervor, wie stark die Neigung ist, Sprache zum Gegenstand zu machen, was Jakobsons These auch mit diesen Beispielen belegen kann.3 Neben den Wiederholungsfiguren, die Symmetrien und häufig auch Parallelismen begünstigen, ist es vor allem die Enumeratio, die Worthäufung in syndetischem oder asyndetischem Kontakt, die jene bereits erwähnte Stilistik der Reihung bzw. Kettenbildung ausmacht. Man kann hier von einem »Reihungsphänomen« sprechen, das in Homoioteleuton, Homoioptoton, Polyptoton seine morphologische »Begründung« findet. žalos, vajmeh, plač i suze (Pj. razl. 133,12) rados, pokoj, mir i sreća (Pj. razl. 145, 6) Hier ist die Reihung semantisch motiviert durch das Negativum einerseits und das Positivum andererseits. Die Asyndese ist bei dem letzten Glied aufgehoben, wodurch der Eindruck der allzu gedrängten Aufzählung – wie in anderen Beispielen – gemildert wird. Beispiele für gedrängte, asyndetische Aufzählung sind: pravim, dielim, skubem, strižem, spuštam, pletem, vežem, rudim (Uzd. III, 249-250) und

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In die Jakobsonsche Tradition poetisch-linguistischer Analyse gehört im Übrigen Užarević (1995).

22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung

staje, obhodi, nejma mira, muči, gleda, plače, umira (Uzd. VI, 497-498). Es geht hierbei nicht nur um die Asyndese, sondern auch um einen spezifischen Wiederholungstyp. Die Frequenz dieser endungsbezogenen Formen verlangt nicht nur nach einer besonderen Betonung, sondern auch nach einem eigenen rhetorischen Terminus, denn weder Paregmenon oder derivatio, als flexionsändernde Wortwiederholung, noch traductio als Wortwiederholung ohne Flexionsänderung liegt hier vor; die Wiederholung bezieht sich vielmehr auf die Verbform, die in unterschiedlichen Verbklassen realisiert wird. Dieses Verfahren hat auch Gundulić mehrfach eingesetzt. Ein eindrucksvolles Beispiel bieten folgende, die ih-/oh-Endungen betonenden Zeilen, an denen sich auch Đorđić orientiert hat: Što ne učinih, što ne skrivih, u ku zlobu š nje ne upadoh? Tlačih zakon, neprav živih, Tlapih, mamih, grabih, kradoh; na vrlja se djela spravih; sram poplesah, Boga ostavih! (Suze I, 289-294) Đorđić ist an Steigerungen gelegen: Što ne motrih! što ne činih! smetah, grabih, raspe budih, moreć blaznih, blazneć hinih, hineć ljubih, ljubeć udih (Uzd. II, 559-562). Hier liegt nicht nur die nachhaltige Wiederholung derselben Verbform/Verbklasse (-ih) vor, sondern auch ein Paregmenon: blaznih/blazneć, ljubih/ljubeć und hinih/hineć. Die Anadiplosis, eine Form von Verdopplung, die zwei Kola verbindet, gehört ebenfalls zu den figurae per adiectionem, und sie tritt bei Gundulić und Đorđić häufig auf: »glas bez riječi, riječ bez vjere« (Suze II, 88). Đorđić nimmt Gundulićs Formel auf und variiert sie: rieč bez glasa, glas od sviesti, slika od stvari, stvar bez slike. (Uzd. IV, 453-454) Hier wie in den folgenden Beispielen ließe sich sowohl von Polyptoton als auch von chiastischer Fügung sprechen. Oft berühren sich die Verfahren, was wiederum morphologisch begründet ist: zid na sniegu, snieg na vodi, voda u rieci, rieka u moru (Uzd. III, 111-112); plot bez busa, bus bez cvieta (Uzd. I, 168). In allen diesen Verfahren geht es neben Erzeugung und Ausfaltung eines Bedeutungsfeldes um das Aufzeigen sprachlicher Faktur. Das gilt nicht minder für einige paronomastische Spiele wie etwa für Đorđićs »uzdišući duša izdi- še« (Pj. razl. 145, 4), mi-

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Nachtrag

ra/umira (Uzd. VI, 497-498) oder Bunićs in seinen Plandovanja mehrfach benutzte (den Reim motivierende) Paronomasie oči/istoči. Bunić thematisiert das Wortmaterial, wenn er in seinem ersten Razgovor pastierski monosyllabische Wörter anhäuft. Hier wird das bereits bei der Vergänglichkeitstopik beobachtete Verfahren hypertroph eingesetzt, um den Reichtum eines Lexikons vorzuführen, das für die Kategorie »Einsilbigkeit« so viel zu bieten hat: U njoj je svaki jad, u njoj zlo svako jest, Trud, plač, mraz, led, glad, grad, bić, jed, smàrt, grom i triest. (Razg.past. I, 57-58) Die Häufungsstilistik, die neben dem Aufbau ornamentaler Strukturen auch Ausdrucksintensität vermittelt, ist trotz gelegentlicher Hypertrophien und exzessivem Einsatz des Verfahrens ordnungsgebunden. Das Verfahren verlangt nicht von ungefähr nach einem Vergleich mit dessen Rolle in Comenius’ großangelegtem Prosagedicht Labyrint svĕta a raj srdce. Dmitrij Tschižewskij (1956) hat in einem primär dem Verfremdungseffekt gewidmeten, einflussreichen Beitrag auf die Bedeutung des Verfahrens verwiesen und es analysiert. Tschižewskij gibt die Zahl der Glieder einer Kette ebenso an wie die Anzahl der Ketten. Er kommt in seiner Zählung bis zu siebenunddreißig Gliedern, die Anzahl der Ketten beträgt zweihundertdreißig (zitiert wird nach Petráčková et al. 1998). In dem der ärztlichen Kunst gewidmeten Kapitel wird die praxis medendi achtzehngliedrig vorgestellt: Pak vařili teprv, pařili, pražili, škvařili, prudili, studili, pálili, sekali, řezali, bodili, šili zas, vázali, mazali, tvrdili, měkčili, zakrývali, zalévali a nevím co víc nedělali (Kap. XIV, 3). Der Schilderung der Sittenlosigkeit der Christen gilt eine etwa vierzehn Glieder umfassende Kette: a vidím v pravdivé pravdě, že pijí a blijí, vadí se a bijí, lstí i mocí jední druhým berou a derou, bůjností řehcí a skáčí, výskají a pískají, smilní a cizoloží, hůř než jsem které jiné vidĕl (Kap. XVIII, 6). Der Misshandlung und Ermordung der Propheten und Apostel nach dem Fehlschlag der salomonischen Mission wird mit zehn Gliedern Erwähnung getan: Protož něktěrí tu hned před očima mýma do ohně metáni, jiní do vody házíni, jiní věšeni, stínáni, na křiž rozbíjeni, kléštĕmi trháni, řezáni, bodeni, sekáni, pečeni na roštích (Kap. XXXV, 4). Die Schlachtbeschreibung umfasst ineinandergreifende Ketten: Tu se hřmot na všecky strany rozmáhá, tu slyšeti dušot koní, chřest pancířu, břiňkot mečů, rochání střelby, fičení okolo uší létajících střel a kulí, zvuk trub, třeskot bubnů, křik ponoukajících k boji, křik vítězících, křik zraněných a umírajících; tu viděti olověné brozné krupobití; tu ohnivé strašlivé blýskání a hřímaní slyšeti; tu jednák tomu, jednák onomu ruka, hlava, noha preč létá; tu jeden přes druhého se kácí, a všecko ve krvi splývá (Kap. XX, 5).

22. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung

Ich habe an Tschižewskijs Analyse anknüpfend eine Interpretation des Labyrinth-Textes versucht (Lachmann 2007). Dabei wurde mir klar, dass die Wortketten in ihrer Vielgliedrigkeit einen anderen Stellenwert haben als die Reihungen in den durch das Reimschema gebundenen Dichtungen der Ragusaner. Denn das in der Kettenbildung aufgedeckte bemerkenswerte Strukturprinzip lässt Rückschlüsse auf die Labyrinth-Struktur des Textes zu, d.h. die Ketten bilden die Labyrinth-Wege ab, sie haben eine »struktursemantische« Funktion und sind durch kein anderes Ordnungsprinzip beschränkt. Dennoch ist der Vergleich aufschlussreich, denn auch die tschechische Variante des Slavischen bevorzugt die figurae per adiectionem, die Homoioteleuta und Polyptota und führt diese in der Kettenbildung wie eine Ausfaltung sprachlicher Paradigmen vor. Die Kettenbildung zeigt eine gewisse Offenheit oder Unabgeschlossenheit, so als könne der Sprecher/Dichter unausgesetzt in diesem Modus weitere Lexeme aufbieten (häufig wird die Aufzählung mit »und so weiter« abgebrochen). Die Unabschließbarkeit gilt nicht in diesem Maße für die gereimte Dichtung. Zwar ist das »Durchexerzieren« eines sprachlichen Paradigmas potentiell offen, andererseits aber ist es begrenzt durch die Ordnung des Reimschemas.

22.6 Die anfangs gestellte Frage nach dem Zusammenhang von sprachlichem Material und rhetorischen Verfahren ist mit den hier notierten und nochmals zusammengefassten Beobachtungen gewiss nicht beantwortet: Die rhetorischen Verfahren organisieren die Sprache auf eine Weise, dass ihre Möglichkeiten ausgelotet werden und verstärkt Gestalt, d.h. neue Gestalt, gewinnen. Ihre morphe wird »ausgestellt«, sie wird wahrnehmbar – im Sinne von Jakobsons Konzept der ästhetischen Wahrnehmung, für die er den Begriff ощущение gebraucht. Die Rezeption des rhetorischen Apparats, die Annahme eines bestimmten Stilwillens »weckt« die Sprache quasi auf, lässt ihre Strukturen erkennen oder trägt dazu bei, dass sie sich herausbilden. Die geltende poetische Konvention, die Poetik des Barock, wirkt hier als generative (auch die übrige europäische Literatur der Zeit bestimmende) Kraft. Amplificatio, figurae per adiectionem, Monosyllabik, Chiasmus, Anadiplosis gehören zu den frequenten Verfahren, aber das durch die Morphologie ermöglichte Schwelgen in Homoioteleuta und Wiederholungen von Verbformen und Verbklassen bekundet ein Spezifikum der slavischen Poesie der Grammatik.

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469

470

Nachtrag

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Ursprüngliche Titel der Erstveröffentlichungen

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2. Die Rolle der enargeia in Texten der Phantastik, in: Wege der modernen Rhetorikforschung, hg. v. G. Ueding, Berlin 2014, S. 223-236.

3. Kultursemiotischer Prospekt, Vorwort zu Memoria – Vergessen und Erinnern (Poetik & Hermeneutik XV) hg. zus. mit A. Haverkamp, München 1993, XVII-XXVII.

4. Remarks on the Foreign (Strange) as a Figure of Cultural Ambivalence, in: Russian Literature 36 (1994), S. 335-346. Zweitabdruck in: The Translatability of Cultures. Figuration of the Space Between, hg. v. S. Budick, W. Iser, Stanford 1996, S. 282-294.

5. Anmerkungen zur ästhetischen Terminologie in Rhetorik, Stilistik und Etymologie, in: Wiener Slawistischer Almanach, Bd. 66, Festschrift für Johanna Döring, hg. v. A. Hansen-Löve, Berlin 2011, S. 7-23.

6. Textgenesen, in: Natalität, hg. v. A. Hansen-Löve, München 2014, S. 41-58.

474

Quellenangaben der Erstveröffentlichungen

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8. Aleksandr Puškins ›Eugen Onegin‹ und dessen Nachgeschichte im Werk Nabokovs, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 2014, S. 388-400.

9. Heine und Puškin, in: Heine-Jahrbuch 1012, 51. Jahrgang, Stuttgart 2012, S. 53-85.

10. Intimität: Rhetorik und literarischer Diskurs, in: Nähe schaffen, Abstand halten. Zur Geschichte der Intimität in der russischen Kultur, Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 62, hg. v. N. Grigor’eva, S. Schahadat, I. P. Smirnov, Wien 2005, S. 1324.

11. Die Lehre der Affekte und ihre Rolle im Werk Dostoevskijs, in: Arcadia 44 (2009), S. 121136.

12. Zwei Brücken in Bosnien-Herzegowina und ihre kulturelle Symbolik, in: Le Pont des Arts, Festschrift für Patricia Oster-Stierle, hg. v. J. Lichtental, S. Narr-Leute, H. Steurer, München 2016, S. 28-52

13. Jugonostalgie – eine postsozialistische Passion? M. Jergović und D. Ugresić, in: Wiener Slawistischer Almanach, »Nostalgie« 82 (2019), S. 445-466

14. Schweigen und Reden in der altrussischen Kultur, in: Zwischen Babel und Pfingsten, hg. v. P. von Moos, Zürich-Berlin 2008, S. 591-609.

15. Hesychastische Momente in Gogol’s Poetik, in: Wiener Slawistischer Almanach 73 (2014), S. 149-176.

Ursprüngliche Titel der Erstveröffentlichungen

16. Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis, in: Unverwechselbarkeit, Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hg. Peter v. Moos, Köln-Weimar-Berlin 2004, S. 379-410.

17. Pravda-Krivda (Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit; Recht – Unrecht; Das Gute – Das Böse). Anmerkungen zu einem dualistischen Motiv in altrussischen Texten und dessen Tradition, in: Norm und Krise von Kommunikation, hg. v. A. Hahn, G. Melville, W. Röcke, Berlin 2006, S. 371-397.

18. Verwandlungen, in: Festschrift für Renate Döring, Wiener Slawistischer Almanach 55 (2005), S. 33-48.

19. Traum als Text im Traum, in: Texte prägen. Festschrift für Walter Koschmal, hg. von K. Hanshew, S. Koller, Ch. Prunitsch, Wiesbaden 2017, S. 13-32.

20. Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen, in: Die Figur des Dritten, hg. v. E. Eßlinger, T. Schlechtriemen, D. Schweitzer, A. Zons, Frankfurt a.M. 2010, S. 94109.

21. Zwei Weisen der Wissensdarstellung im 17. Jahrhundert (Athanasius Kircher und Jan Amos Comenius), in: Poetica 38, Heft 3-4 (2006), S. 329-381.

22. Rhetorische Instrumentierung in Comenius’ Seelenbildungsroman »Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens«, in: Religion und Rhetorik, hg. v. H. Meyer, D. Uffelmann, Stuttgart 2007, S. 48-64.

23. Morphologisches und Rhetorisches in der ragusanischen Dichtung, in Irina Podtergera, (Hg.) Schnittpunkt Slavistik, Festgabe für Helmut Keipert, Bd. 3, Bonn 2012, S. 307

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Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung September 2021, 128 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

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Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 1 Juni 2021, 226 S., kart., Dispersionsbindung, 4 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-5395-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5395-7

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