Rekombinante Antikörper: Lehrbuch und Kompendium für Studium und Praxis [2. Aufl. 2019] 978-3-662-50275-4, 978-3-662-50276-1

Die vollständig überarbeitete zweite Auflage bietet eine umfassende Einführung in die grundlegenden Technologien wie auc

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Rekombinante Antikörper: Lehrbuch und Kompendium für Studium und Praxis [2. Aufl. 2019]
 978-3-662-50275-4, 978-3-662-50276-1

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Was sind Antikörper und wie funktionieren sie? (Stefan Dübel, Frank Breitling, André Frenzel, Thomas Jostock, Andrea L. J. Marschall, Thomas Schirrmann et al.)....Pages 1-24
Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert? (Stefan Dübel, Frank Breitling, André Frenzel, Thomas Jostock, Andrea L. J. Marschall, Thomas Schirrmann et al.)....Pages 25-84
Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien für jede Anwendung (Stefan Dübel, Frank Breitling, André Frenzel, Thomas Jostock, Andrea L. J. Marschall, Thomas Schirrmann et al.)....Pages 85-146
Wie werden rekombinante Antikörper produziert und aufgereinigt? (Stefan Dübel, Frank Breitling, André Frenzel, Thomas Jostock, Andrea L. J. Marschall, Thomas Schirrmann et al.)....Pages 147-187
Anwendungsgebiete für rekombinante Antikörper (Stefan Dübel, Frank Breitling, André Frenzel, Thomas Jostock, Andrea L. J. Marschall, Thomas Schirrmann et al.)....Pages 189-230
Back Matter ....Pages 231-293

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Stefan Dübel · Frank Breitling · André Frenzel Thomas Jostock · Andrea L. J. Marschall Thomas Schirrmann · Michael Hust

Rekombinante Antikörper Lehrbuch und Kompendium für Studium und Praxis 2. Auflage

Rekombinante Antikörper

Stefan Dübel · Frank Breitling · André Frenzel · Thomas Jostock · Andrea L. J. Marschall · Thomas Schirrmann · Michael Hust

Rekombinante Antikörper Lehrbuch und Kompendium für Studium und Praxis 2., vollständig überarbeitete Auflage Zeichnungen von Stefan Dübel

Stefan Dübel Institut für Biochemie, Biotechnologie und Bioinformatik, Technische Universität Braunschweig, Braunschweig Deutschland

Frank Breitling Institut für Mikrostrukturtechnik Karlsruher Institut für Technologie Eggenstein-Leopoldshafen, Deutschland

André Frenzel Braunschweig, Deutschland

Thomas Jostock Bitburg, Deutschland

Andrea L. J. Marschall Bergisch Gladbach, Deutschland

Thomas Schirrmann Braunschweig, Deutschland

Michael Hust Institut für Biochemie, Biotechnologie und Bioinformatik, Technische Universität Braunschweig, Braunschweig Deutschland

ISBN 978-3-662-50275-4 ISBN 978-3-662-50276-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-50276-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 1997, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Sarah Koch Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Als die erste Auflage dieses Buches im Juni 1997 erschien, war das Forschungsgebiet der rekombinanten Antikörper knapp zehn Jahre jung, und viele Aspekte waren erst als Idee vorhanden. Heute blicken wir dagegen auf Ergebnisse von mehr als drei Jahrzehnten zurück, und es ist eindeutig: Viele der damaligen Hoffnungen auf bessere Antikörper für die Therapie, Diagnose und Forschung haben sich bereits erfüllt. Allein 2018 wurden dreizehn neue Medikamente zugelassen. Das umsatzstärkste Antikörperprodukt weltweit ist ein mithilfe von Phagendisplay entwickelter rekombinanter Antikörper, und zahlreiche künstliche Varianten, welche wir damals nur als Idee beschreiben konnten, sind mittlerweile in zugelassenen Medikamenten zu finden, wie zum Beispiel bispezifische Antikörper, CAR-T-Zellen oder Immuntoxine. Das Arbeitsgebiet steht in voller Blüte – weiteres starkes Wachstum ist für absehbare Zeit unzweifelhaft. Dieses Buch möchte einen Leitfaden und Wegweiser durch die mittlerweile sehr umfangreichen und verschiedenen Aspekte des Antibody Engineering geben. Es wendet sich zum einen an interessierte Studenten, technische Assistenten und Wissenschaftler, die zum ersten Mal mit diesem Feld in Kontakt geraten. Wir haben uns deshalb bemüht, es so zu schreiben, dass nur wenige Vorkenntnisse für das Verständnis erforderlich sind. Zum anderen haben wir aber auch versucht, über ausgewählte Beispiele und die umfangreiche Bibliographie von Originalzitaten stets den Weg zur tieferen Beschäftigung mit einem Thema zu weisen. Die ersten beiden Kapitel verdeutlichen die Rolle unseres eigenen Immunsystems als Lehrmeister für die Antikörper-Ingenieure. Die Prinzipien, die beim Bau und bei der Suche von rekombinanten Antikörpern angewendet werden, haben in aller Regel ihr Vorbild in unserem eigenen Körper. Die Antikörper-Rekombinationstechnologie kann aber mittlerweile sogar mehr als unser Immunsystem. So bietet sie Wege zur Herstellung von Antikörperformen, die unsere eigene Immunantwort nicht hervorzubringen vermag. Neben der Gewinnung menschlicher Antikörper für die Therapie ermöglicht die Rekombinationstechnologie aber auch weitere wichtige Neuerungen. Die sofortige Verfügbarkeit der Antikörper-DNA aus den modernen in vitro-Selektionssystemen für rekombinante Antikörper eröffnet neben einer akkurateren Charakterisierung auch ganz neue Wege bei der Anwendung von Antikörpern. Unzählige Patienten haben mittlerweile V

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Vorwort

davon profitiert, dass wir die Fähigkeiten natürlicher Antikörper durch gentechnisches Engineering erweitern können. Ebenso macht es die Herstellung monoklonaler Antikörper für Forschung und Diagnostik ohne die Verwendung von Versuchstieren möglich und bietet sogar eine unbegrenzte Reproduzierbarkeit von Antikörperexperimenten durch Kenntnis ihrer Sequenzen. Ein eigenes Kapitel ist deshalb den vielfältigen Veränderungsund Verbesserungsmöglichkeiten gewidmet, die die Antikörper-Rekombinationstechnologie bietet. Das Buch möchte dem Leser auch beim ersten praktischen Einstieg in die Technologie helfen, indem nicht nur auf die unzähligen Möglichkeiten hingewiesen wird, sondern es werden auch durch Darstellung der Ursprünge der Technologie und der dafür erarbeiteten Grundlagen Ideen und Lösungsmöglichkeiten für aktuelle praktische Probleme aufgezeigt. Damit möchten wir Neueinsteigern helfen, einige der Fallen zu umgehen, die den Autoren nicht erspart geblieben sind. Zum Schluss stellen wir konkrete Beispiele für vorteilhafte Verwendungen rekombinanter Antikörper zusammen und wagen einen Blick in die Zukunft. Nach 30 Jahren sind robuste Lösungen für die grundlegenden Aufgaben breit etabliert – rekombinante Antikörper sind heute die an Zahl und Umsatz größte und am schnellsten wachsende Wirkstoffklasse, und dennoch ist noch viel Luft für Verbesserungen. Anwendungen weit jenseits der Fähigkeiten natürlicher Immunglobuline, wie CAR, schaltbare Antikörper oder Protein-Knock-down-Mäuse, wurden entwickelt. Hier sind in den nächsten Jahren weitere Neuentwicklungen und eine noch wesentlich größere Verbreitung von Antikörper-Rekombinationstechnologien zu erwarten. Es bleibt spannend! An dieser Stelle möchten wir uns ganz besonders bei den zahlreichen Inspiratoren und Diskussionspartnern – insbesondere auch bei vielen Studierenden – bedanken, die unsere Arbeit über die Jahre inspiriert und bereichert haben. Wir danken auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns für die Verfassung des Buches bei anderen Pflichten den Rücken freihielten. Besonderer Dank für ihr Verständnis und ihre Unterstützung gilt unseren Familien. Die Autoren

Inhaltsverzeichnis

1 Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Eine kurze Geschichte der Antikörper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Wofür braucht der Mensch Antikörper?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2.1 Antikörper sind Teil des Immunsystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?. . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3.1 Wie sieht die Struktur von Antikörpern aus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3.2 Die variablen Domänen vermitteln die Antigenbindung. . . . . . . . . 6 1.3.3 Die konstanten Domänen vermitteln Effektorfunktionen . . . . . . . . 16 1.4 Wie entsteht die Antikörperdiversität?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4.1 Die Antikörpervielfalt entsteht durch die zufällige Kombination von Peptidbausteinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4.2 Antikörper-Gene werden aus Gensegmenten zusammengesetzt. . . 20 1.4.3 Die kombinatorische Diversität entsteht durch VDJRekombination und durch die Kombination von leichter und schwerer Kette. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.4.4 Junktionale Diversität: Erzeugung neuer Gensequenzen in jeder B-Zelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5 Wie entsteht eine spezifische Immunantwort aus dieser AntikörperVielfalt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.5.1 Klonale Deletion, Selektion und Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.5.2 Affinitätsreifung durch somatische Hypermutationen. . . . . . . . . . . 24 2 Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert? . . . . 25 2.1 Was sind rekombinante Antikörper? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Warum rekombinante Antikörper?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3 Herstellung rekombinanter Antikörper aus Hybridomen. . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3.1 Hybridom-Zelllinien zur Produktion monoklonaler Antikörper sind genetisch heterogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.4 B-Zell-Klonierung aus Patienten und Einzellzell-PCR. . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.5 Transgene Tiere mit humanem Genrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 VII

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Inhaltsverzeichnis

2.6 In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.6.1 Die Antikörperbildung des humoralen Immunsystems kann in Bakterien imitiert werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.6.2 Die Oberflächenexpression von Antikörpergenen ermöglicht eine klonale Selektion in vitro. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.6.3 Alternative in vitro-Selektionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.6.4 Ein effektives in vitro-Selektionssystem ermöglicht die Imitation der somatischen Hypermutation in Bakterien. . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.7 Analyse von Antikörpern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.7.1 Wir wird Affinität gemessen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.7.2 Spezifität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.7.3 Wie wird die Stabilität bestimmt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3 Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien für jede Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.1 Welche weiteren rekombinanten Antikörperfragmente und Formate gibt es?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2 Antikörperhumanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.2.1 Maus-Mensch-Chimären. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.2.2 CDR-grafting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2.3 Chain Shuffling zur Humanisierung von Antikörpern. . . . . . . . . . . 92 3.2.4 Chain Shuffling auf Proteinebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.2.5 Keimbahn-Humanisierung (Germlinization, super-humanization). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.3 Affinitätsreifung in vitro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.3.1 Error prone PCR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.3.2 Mutatorstämme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.3.3 Chain Shuffling zur Affinitätsreifung von Antikörpern. . . . . . . . . . 99 3.3.4 DNA-Shuffling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.4 Stabilitätsreifung in vitro. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.4.1 PCR-Mutagenese/DNA-Shuffling zur Stabilitätsreifung. . . . . . . . . 103 3.4.2 Fv-Fragmente können durch interne Disulfidbrücken stabilisiert werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.5 Fc-Engineering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.5.1 Glycoengineering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.5.2 Fc-Rezeptor-Bindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.5.3 Serumhalbwertszeit-Engineering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.6 Antikörper mit erweiterter Funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3.6.1 Bispezifische Antikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.6.2 Immunkonjugate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.7 Antikörperfusionsproteine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Inhaltsverzeichnis

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3.7.1 Antikörpercytokinfusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.7.2 Immuntoxine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.7.3 Immun-RNasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.7.4 ADEPT: Ungiftige Substanzen können am Tumorort in Zellgifte umgewandelt werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4 Wie werden rekombinante Antikörper produziert und aufgereinigt?. . . . . . 147 4.1 Auswahl des Expressionssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.2 Prokaryotische Produktionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.2.1 Produktion in E. coli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.2.2 Produktion in Gram-positiven Bakterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.3 Eukaryotische Produktionssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.3.1 Die Zellen des Immunsystems sind die natürlichen Produktionsstätten von Antikörpern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.3.2 Chinese Hamster Ovary-(CHO-)Zellen sind der Standard für die Produktion therapeutischer Antikörper. . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.3.3 Produktion in HEK293-Zellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.3.4 Produktion in Pilzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.3.5 Produktion in Protozoa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.3.6 Produktion in Insektenzellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.3.7 Produktion in transgenen Pflanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.3.8 Produktion in transgenen Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.3.9 In vitro-Produktionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.4 Reinigung von Antikörpern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.4.1 Physikalische Trennmethoden stehen am Anfang jeder Antikörperreinigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.4.2 Affinitätschromatographische Reinigung mit Hilfe von Antikörperbindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.4.3 Affinitätschromatographische Reinigung mit Hilfe eines heterologen Fusionsanteils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.4.4 Entfernung von bakteriellem Endotoxin aus Antikörperpräparationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4.4.5 Lagerung von aufgereinigten Antikörpern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5 Anwendungsgebiete für rekombinante Antikörper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.1 Bessere Werkzeuge für Forschung und Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.1.1 Antikörper sind die Basis für viele klassische Assays. . . . . . . . . . . 189 5.1.2 Besser definierte Antikörper für Forschung und Diagnostik. . . . . . 190 5.2 Katalytische Antikörper: Antikörper können die Funktion von Enzymen übernehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.3 Neue Ansätze, die nur mit rekombinanten Antikörpern möglich sind. . . . . 196 5.3.1 In vitro-Antikörpererzeugung vermeidet Tierversuche . . . . . . . . . . 196

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Inhaltsverzeichnis

5.3.2 Einfacher Austausch von Fc-Teilen erweitert die Anwendungsmöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.3.3 Erzeugung aufeinander abgestimmter sandwich pairs. . . . . . . . . . . 200 5.3.4 Verkleinerung von Antikörpern für bessere in vivo-Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.3.5 Protein-Knock-down mit Intrabodies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.3.6 Antikörper mit regulierbarer Bindungsstärke . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.4 Rekombinante Antikörper für die Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5.4.1 Nomenklatur für therapeutische Antikörper (INN). . . . . . . . . . . . . 215 5.4.2 Behandlung von Krebserkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5.4.3 Behandlung von Autoimmunerkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5.4.4 Bekämpfung von Pathogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5.4.5 Neutralisierung von Toxinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5.4.6 Weitere therapeutische Anwendungsgebiete. . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.4.7 Chimeric Antigen-Rezeptoren als neue Therapieform. . . . . . . . . . . 226 5.4.8 Therapeutische Antikörper in der Veterinärmedizin . . . . . . . . . . . . 228 5.5 Antikörperentwicklung und Antikörpertherapie in der Zukunft. . . . . . . . . 229 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Über die Autoren

Prof. Dr. Stefan Dübel  ist Biologe, leitet die Abteilung für Biotechnologie an der TU Braunschweig und ist Herausgeber des Referenzwerks Handbook of Therapeutic Antibodies. Neben zahlreichen Beiträgen zum Forschungsgebiet seit 1990, inklusive der Entwicklung des Phagendisplays mit Frank Breitling, hat er auch mehrere Biotechnologiefirmen mitbegründet, die rekombinante Antikörper für verschiedene Anwendungsgebiete herstellen und nutzen.

Prof. Dr. Frank Breitling ist Biologe und Professor am Karlsruher Institut für Technologie. Als Erfinder einer der grundlegenden Technologien (Antikörperphagendisplay zusammen mit Stefan Dübel) hat er die Entwicklung von den Anfängen an als aktiver Forscher begleitet. Die von ihm gegründete Firma Pepperprint ist heute weltweit führend bei der Herstellung von Arrays für das Epitopmapping von Antikörpern.

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Über die Autoren

Dr. André Frenzel  ist Biologe, Spezialist für rekombinante Antikörper und wissenschaftlicher Leiter der YUMAB GmbH, welche humane Antikörper für die medizinische N ­ utzung ­entwickelt.

 r. Thomas Jostock  ist Biologe und arbeitet seit mehr D als 18 Jahren auf dem Gebiet der Entwicklung und Herstellung von rekombinanten Proteinen für Forschung und klinische Erprobung. Er sammelte praktische Erfahrung in akademischen Arbeitsgruppen, einer Biotechnologiefirma und der Pharmaindustrie.

Dr. Andrea L. J. Marschall ist Molekularbiologin und Intrabody-Spezialistin. So hat sie in ihrer Promotion das weltweit erste Knock-down einer Proteinfunktion durch Intrabodies in vivo demonstriert.

Über die Autoren

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Dr. Thomas Schirrmann  ist Biochemiker und hat in seiner Promotion an chimären Antigenrezeptoren (CAR) für die moderne Zelltherapie gearbeitet, zu einer Zeit, als es den Begriff noch gar nicht gab. Heute ist er Geschäftsführer der YUMAB GmbH, die rekombinante, menschliche Antikörper für die medizinische Anwendung entwickelt.

Prof. Dr. Michael Hust  hat Biologie in Oldenburg studiert, an der Leibniz Universität Hannover in Biochemie und Genetik promoviert und ist Professor für Biotechnologie an der TU Braunschweig. Er arbeitet seit 20 Jahren auf dem Gebiet der rekombinanten Antikörper und ist Mitgründer der YUMAB GmbH.

Abkürzungsverzeichnis

AbM Antikörpermodellierungsprogramm von Oxford Molecular AC-SINS Affinity-capture self-interaction nanoparticle spectroscopy ADA Anti-drug Antikörper (z. B. HAMA oder HAHA) ADC antibody drug conjugate (Konjugat aus chemischem Wirkstoff und IgG) ADCC antikörperabhängige Zelltoxizität (antibody-dependent cell-mediated cytotoxicity) ADEPT antibody-directed enzyme prodrug therapy AP Alkalische Phosphatase AS Aminosäure(n) BSA Bovine Serum Albumin C Carboxyterminus eines Proteins C1q Komponente des Komplementsystems CD19 Oberflächenmarker von B-Lymphocyten CD20 Oberflächenmarker von B-Lymphocyten CD3 Oberflächenmarker von T-Lymphocyten CD30 Tumormarkermolekül auf Lymphocyten CDC Komplement-vermittelte Cytotoxizität CDR complementary determining regions der Antigenbindungsstelle konstante Region der schweren Kette eines Antikörpers CH CHO chinese hamster ovary-Zellen CIC Cross-Interaction Chromatography CL konstante Region der leichten Kette eines Antikörpers CM1, CM2 costimulatory domains 1 und 2 DAB Diaminobenzidin DART dual-affinity re-targeting Molekül (bispezifisches Antikörperkonstrukt) db Diabody (nichtkovalentes bivalentes Format aus zwei scFv-Antikörperketten) DHFR Dihydrofolatreduktase dsFv disulfidstabilisiertes Fv-Fragment

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Abkürzungsverzeichnis

DSP Downstream Processing DVD-Ig dual variable domain immunoglobulin (bispezifisches Antikörperkonstrukt) E. coli Escherichia coli EBV Epstein-Barr-Virus EDTA Ethylendiamintetraessigsäure EGFR epidermal growth factor receptor ELISA enzyme linked antibody sorbent assay EMA Europäische Zulassungsbehörde für Medikamente EPCAM epithelial cell adhesion molecule ER endoplasmatisches Reticulum Fab fragment antigen binding, Antikörperteil aus VH, VL, CL und CH1 FACS fluorescence activated cell sorting Fc fragment crytallizable, Antikörperteil, enthaltend CH2 und CH3 Fcab Antikörper mit zusätzlicher Antigenbindungsstelle in einer kontanten Region FcR Rezeptor, welcher an die Fc-Region von Immunglobulinen bindet Fd Fragment der schweren Kette eines Antikörpers aus VH, CH1 und hinge FDA US-amerikanische Zulassungsbehörde für Medikamente FITC Fluoresceinisothiocyanat Fmoc Fluorenylmethyloxycarbonyl (Schutzgruppe bei der Peptidsynthese) FR framework, die Gerüstabschnitte der V-Regionen Fv Antikörperfragment aus VL und VH GMP Good Manufacturing Practice GS Glutaminsynthetase HAHA humane Anti-Mensch-Antikörper HAMA humane Anti-Maus-Antikörper HC heavy chain, schwere Kette eines Immunglobulins HCP host cell proteins HEK human embyonic kidney Zellen Her2 human epidermal growth factor receptor vom Typ 2 HRP Horseradish-Peroxidase HSA menschliches Serumalbumin IgG Immunglobulin G IgNAR Immunoglobulin new antigen receptor (Hai-Antikörper) IMAC immobilised metal affinity chromatography IMGT ImMunoGeneTics Datenbank von Immunmolekülen IND Investigational New Drug (Erlaubnis der FDA für klinische Studien) INN International Nonproprietary Name ITAM immunoreceptor tyrosine-based activation motif IUIS International Union of Immunological Societies

Abkürzungsverzeichnis

XVII

KD Dissoziationskonstante kDa Kilodalton KDEL ER-Retentions-Tetrapetid aus Lysin, Asparaginsäure, Glutaminsäure und Leucin koff Dissoziationsrate kon Assoziationsrate LC light chain, leichte Kette eines Immunglobulins mab, mAb monoklonaler Antikörper MACS Magnetic Cell Separation MALDI Matrix-unterstützte Laser-Desorption/Ionisation MS Massenspektrometrie MST Microscale-Thermophorese MSX L-Methionin-Sulfoximin MTX Methotrexat N Aminoterminus eines Proteins NK Zellen Natürliche Killerzellen PABC p-Aminobenzylcarbamat PCR Polymerasekettenreaktion PEG Polyethylenglykol pHAL ein Phagemid für humane Antikörperbibliotheken pHORF ein Phagemid für die open reading frame-Selektion pIII Protein translatiert aus dem M13-Bakteriophagen-Gen 3 pIII Translationsprotein vom Gen 3 filamentöser Phagen, ein minor coat protein PTM posttranslationale Modifikation RAG DNA-Rekombinationsenzym („recombinase activating gene“) RNase Ribonuclease scFab single chain-Fab-Antikörperfragment scFv single chain-Fv-Antikörperfragment scFv-Fc bivalenter Antikörper, zusammengesetzt aus 2 scFv und 1 Fc-Fragment scIgG single chain-IgG SEC Molekularsieb-Chromatographie (size exclusion chromatography) SEED strand-exchange engineered domain (bispezifisches Antikörperkonstrukt) SMCC Succinimidyl-4-(N-maleimidomethyl)cyclohexan-1-Carboxylat tag Oligopeptid-Anhängsel zur Identifikation oder Reinigung tBoc tert-Butyloxycarbonyl (Schutzgruppe bei der Peptidsynthese) TdT Terminale Desoxynucleotidransferase TEV Tobacco Etch Virus TM Transmembranregion eines Polypeptids TNF Tumornekrosefaktor USP upstream processing

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

VEGF vascular endothelial growth factor VH variable Region der schweren Kette eines Antikörpers VL variable Region der leichten Kette eines Antikörpers WHO Weltgesundheitsorganisation Yol Epitop des monoklonalen Antikörpers Yol1/34 (im scFv-Linker)

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Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

1.1 Eine kurze Geschichte der Antikörper Emil von Behring und Shibasaburō Kitasato haben als erstes nachgewiesen, dass eine Substanz im Blut existiert, die Toxine neutralisieren kann (von Behring und Kitasato 1890). Diese Substanz wurde damals als „Antitoxin“ bezeichnet. Durch die aus dieser Erkenntnis abgeleitete Serumtherapie konnte erstmals die Diphtherie (Krupphusten) behandelt werden. Von Behrings Forschung ist ein gutes Beispiel für das, was wir heute als „translationale Forschung/Medizin“ bezeichnen. Für seine Beiträge zur Serumtherapie hat Emil von Behring 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin bekommen (Linton 2005). 1904 gründete er die Behringwerke in Marburg, um die Serumtherapie weiter zu entwickeln und um medizinisch breit anwendbare Serumprodukte herzustellen. 1897 veröffentlichte Paul Ehrlich die „Seitenkettentheorie“. Er postulierte, dass Zellen im Körper spezielle Moleküle – die er „Seitenketten“ nannte – bilden und diese chemisch an die Toxine binden und somit das Toxin an der Zelle fest verankert wird. Bei erneuter Immunisierung und höheren Giftdosen würden diese Seitenketten sekretiert. Diese sekretierten Seitenketten besäßen eine „größere Verwandtschaft“ zu dem Gift. Er schlug auch vor, dass diese „Seitenketten“ – die, wie wir heute wissen, nichts anderes als Behrings Antitoxine sind, heute als Antikörper bekannt – und Toxin wie Schlüssel und Schloss zueinander passen müssen (Ehrlich 1897). Paul Ehrlich erahnte so in hellsichtiger Weise nicht nur die strukturelle Grundlage der hochspezifischen Bindung der Antikörper an Fremdstoffe, sondern antizipierte bereits die B-Zell-Reifung mit ihrer frühen Form membrangebundener Antikörper als Rezeptoren, dem Umschalten auf sekretierte Antikörper, der Affinitätsreifung durch somatische Hypermutation und sogar der Gedächtnisfunktion des Immunsystems. Er bekam dafür 1908 zu Recht den Nobelpreis. Ein weiterer wichtiger Schritt für die Antikörperforschung war die Arbeit von Astrid Elsa Fagraeus-Wallbom in Schweden. Sie zeigte Ende der 1940er Jahre, dass Antikörper © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dübel et al., Rekombinante Antikörper, https://doi.org/10.1007/978-3-662-50276-1_1

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1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

von Plasmazellen gebildet werden (Fagraeus 1948). Der Australier Frank Macfarlane Burnet stellte Ende der 1950er Jahre in Melbourne die Klon-Selektionstheorie der adaptiven Immunantwort auf. Diese Theorie beschreibt, wie B-Zell-Klone, deren Antikörper körpereigene Strukturen erkennen, deletiert werden, wie B-Zell-Klone durch Kontakt mit dem Antigen selektioniert werden, ein solcher Klon dann expandiert und letztendlich lösliche Antikörper produziert (Burnet 1959, 1957). Burnet bekam hierfür zusammen mit dem Briten Peter Medawar 1960 den Nobelpreis für Medizin. Mit Unterstützung von Frank Burnet fanden der Doktorand Gustav Nossal und der amerikanische Gastprofessor Joshua Lederberg heraus, dass jede individuelle B-Zelle nur jeweils eine Antikörperspezifität produziert, was die Klon-Selektionstheorie unterstützte (Nossal und Lederberg 1958). Die Struktur von Antikörpern wurde von dem Briten Rodney Porter und dem Amerikaner Gerald Edelman aufgeklärt. Sie beschrieben, dass ein Antikörper aus zwei schweren Polypeptidketten und zwei leichten Polypeptidketten besteht (Edelman und Gally 1964; Edelman und Poulik 1961; Porter 1959) (Abb. 1.1). Hierfür wurden sie 1972 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. David Givol und Kollegen konnten 1973 am Weizmann Institut in Israel aufklären, dass der Fv-Teil für die Antigenbindung verantwortlich ist (Hochman et al. 1973). Ein weiterer wichtiger Schritt bei der Strukturaufklärung war die erste Röntgenstrukturanalyse eines Antikörpers durch Allen Edmundson (Edmundson et al. 1972; Schiffer et al. 1973). 1975 wurde ein Meilenstein für die gezielte Nutzung von Antikörpern erreicht: Generierung und Produktion von monoklonalen Antikörpern gelangen durch die Hybridom-Technologie (Abschn. 2.3). Diese Technologie ermöglichte es erstmals, antikörpersekretierende B-Zellen im Labor zu vermehren und damit die daraus sezernierten Antikörper in größerer Menge und konstanter Qualität zu produzieren (Köhler und Milstein 1975). Diese Arbeit des Deutschen Georges Köhler und des Argentiniers César Milstein wurde 1984 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Heute weiß man, dass monoklonale Antikörper nicht notwendigerweise monospezifisch sind, wie der Name suggeriert, da Hybridome oft mehrere Antikörpergene exprimieren (Abschn. 2.3.1 und 5.1.2). Dennoch haben die monoklonalen Antikörper die biologische Forschung revolutioniert, insbesondere unsere Kenntnisse über Proteine, weil mit ihnen erstmals hochselektive und beliebig produzierbare Nachweisreagenzien für die Vielfalt dieser Molekülklasse zur Verfügung standen. Wie entsteht die Diversität der Antikörper? Diese essenzielle Frage wurde Anfang der 1980er Jahre am Immunologischen Institut in Basel durch Susumu Tonegawa geklärt und 1987 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Er konnte zeigen, dass Antikörpergene kombinatorisch aus Genmodulen – vergleichbar mit Legosteinen – bei der Reifung der B-Zellen neu zusammengesetzt werden (Abschn. 1.4) (Hozumi und Tonegawa 1976; Tonegawa 1983). Für die biotechnologische Nutzung von Antikörpern war es wichtig, dass der eigentliche antigenbindende Teil des Antikörpers, also das Fv-Fragment, in E. coli produziert werden konnte. Dies gelang 1988 Arne Skerra während seiner Promotion bei Andreas Plückthun (Skerra und Plückthun 1988). Wesentlich besser funktionierte diese Produktion aber, wenn beide V-Regionen durch einen Peptidlinker zu einer durchgehenden Polypeptidkette, einem scFv-Fragment, verbunden wurden (Abb. 1.1, Huston et al. 1988).

1.1  Eine kurze Geschichte der Antikörper

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Ein nächster bahnbrechender Schritt für die Generierung von humanen Antikörpern war das Antikörperphagendisplay, dass es ermöglichte, Antikörperfragmente in vitro – ohne Tierversuche – zu selektionieren (Abschn. 2.6). Diese Technologie wurde zeitgleich am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg von Frank Breitling und a

IgG

Antigenbindung

Antigenbindung

Fv

Fab

b Peptidlinker

Antigenbindung

tag

scFvFragment

Effektorfunktionen: Komplementaktivierung, Fc-Rezeptorbindung

IgG

FabFragment

Abb. 1.1   Schematische Darstellung eines Immunglobulins (IgG) und davon abgeleiteten antigenbindenden Fragmenten. a Röntgenkristallstruktur eines IgG. Die linke Hälfte ist zur Darstellung der Polypeptidketten halbdurchsichtig gezeigt. Der Carboxyterminus der schweren Kette (grau) liegt unten, jener der leichten Ketten (rot) in der Nähe der hinge. Eine genauere Darstellung der Glykosylierungen des Fc-Teils ist in Abb. 3.7 gezeigt. b Schematische Darstellung eines IgG, Fab und scFv. Abkürzungen: CDR: complementarity-determining region; CL, CH1–CH3: konstante Regionen; Fab: fragment antigen binding; Fc: fragment crystallizable; Fv: fragment variable; HC: heavy chain/schwere Kette (grau); LC: light chain/leichte Kette (rot); scFv: single chain-Fv (Abschn. 3.1 und Abb. 1.8b). VL: variable Region der leichten Kette; VH: variable Region der schweren Kette; tag: Carboxyterminale Verlängerung zur Veränderung der biochemischen Eigenschaften des Fusionsproteins (Abschn. 4.4.3.2). Disulfidbindungen zwischen Polypeptidketten sind gelb dargestellt

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1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

Stefan Dübel, von John McCafferty am MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge (UK) und Carlos F. Barbas III am Scripps Research Institute in La Jolla (Kalifornien) entwickelt (Barbas et al. 1991; Breitling et al. 1991; Clackson et al. 1991; McCafferty et al. 1990). Die Entwicklung dieser Technologie wurde im Jahr 2018 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Eine zweite bedeutende Technologie für die Generierung von menschlichen Antikörpern, die einige Jahre später entstand, war die Entwicklung von transgenen Mäusen, die anstelle der Chromosomenabschnitte für die murinen Antikörpergenfragmente die menschlichen Antikörpergenfragmente tragen (Abschn. 2.5) (Jakobovits 1995; Lonberg und Huszar 1995). Das Antikörperphagendisplay und die transgenen Tiere wurden seit den 1990er Jahren kontinuierlich weiterentwickelt und sind heutzutage die Kerntechnologien für die Generierung von rein menschlichen Antikörpern für therapeutische Anwendungen.

1.2 Wofür braucht der Mensch Antikörper? 1.2.1 Antikörper sind Teil des Immunsystems Antikörper sind Teil des Immunsystems, des vielseitigen Abwehrsystems des Körpers gegen Eindringlinge. Antikörper oder Immunglobuline sind Teil des adaptiven Immunsystem und haben ihren Ursprung vor etwa 500 Mio. Jahren, als die Vertebraten während der kambrischen Radiation entstanden sind (Pancer und Cooper 2006). Sie sind Glykoproteine und haben die Aufgabe, körperfremde Substanzen spezifisch zu binden, sie für das Immunsystem zu markieren und letztendlich unschädlich zu machen. Solche fremden Substanzen können Pathogene wie Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten, aber auch eigentlich harmlose Substanzen wie z. B. Pflanzenpollen sein. Pathogene werden unschädlich gemacht, indem Antikörper direkt deren Bindung an die menschliche Zielzelle verhindern oder sie bedecken (opsonieren) und dadurch für Effektormechanismen des Immunsystems markieren, sodass die Pathogene z. B. durch das Komplement zerstört oder von Makrophagen aufgenommen werden können (Abschn. 1.3.3, Murphy et al. 2018).

1.3 Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie? 1.3.1 Wie sieht die Struktur von Antikörpern aus? 1.3.1.1 Antikörper bestehen aus selbstähnlichen Immunglobulindomänen Antikörper sind aus einer unterschiedlichen Anzahl von Immunglobulindomänen aufgebaut, die alle eine hohe strukturelle Ähnlichkeit zueinander aufweisen: den immunglobulin fold (engl.). Charakteristisch für diese Domänen ist eine Sekundärstruktur

1.3  Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

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aus gegenläufigen β-Faltblättern, welche eine fassförmige Struktur bilden und durch jeweils eine interne Disulfidbrücke pro Domäne stabilisiert werden (Chothia et al. 1985) (Abb. 1.1 und 1.6). Dieses „framework“ aus gegenläufigen β-Faltblättern bildet eine stabile Gerüststruktur für Peptidschleifen welche eine ausreichend große Kontaktfläche zum Antigen bilden, um dieses hochaffin und hochspezifisch zu binden zu bieten (Abb. 1.3). Die hohe strukturelle Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Domänen von Antikörpern gibt ein Hinweis darauf, dass der immunglobulin fold die Evolution der Antikörper und des gesamten Wirbeltier-Immunsystems wahrscheinlich stark beschleunigt hat. Durch den modularen Aufbau aus ähnlichen Grundmodulen konnten Antikörper – wie auch viele andere Moleküle des Immunsystems wie CD4, CD8 oder viele Zelladhäsionsmoleküle (vgl. auch Abb. 1.5) – durch Genduplikation schnell an neue Funktionen angepasst werden, ohne dass eine komplette Neuentwicklung der Struktur notwendig gewesen wäre (Bork et al. 1994; Chen et al. 2018).

1.3.1.2 Aufbau eines Immunglobulins (IgG) Die häufigste Antikörperklasse in unserem Blut ist das Immunglobulin G (IgG) (Maddison und Reimer 1976). Von dieser Antikörperklasse gibt es im Menschen vier Subklassen: IgG1, IgG2, IgG3 und IgG4, wobei IgG1 am häufigsten ist (Heiner 1984; Morell et al. 1972). Antikörper sind aus zwei unterschiedlichen Polypeptidketten aufgebaut, zwei identischen leichten Ketten (LC) und zwei identischen schweren Ketten (HC), die untereinander über Disulfidbrücken kovalent verbunden sind (Edelman1973; Edelman et al. 1963; Edelman und Gally 1964; Edelman und Poulik 1961) (Abb. 1.1). Die leichte Kette besteht aus zwei Immunglobulindomänen und hat eine molare Masse von etwa 25 kDa. Es gibt zwei Typen von strukturell unterschiedlichen leichten Ketten, Kappa (κ) und Lambda (λ) (Cohen und Gordon 1965; Kabat et al. 1975; Milstein et al. 1967). Die schwere Kette besteht beim IgG aus vier Immunglobulindomänen mit einer molekularen Masse von etwa 50 kDa. Die gesamte molekulare Masse eines IgG beträgt ~ 150 kDa (Cohen und Milstein 1967; Tomasi 1965). Die zwei C-terminalen Immunglobulindomänen der schweren Kette bilden das fragment crystalizable oder constant (Fc) (Porter 1959). Das Fc-Fragment ist in der CH2 Domäne an der Position Asparagin-297 glykosyliert (Jefferis et al. 1998) (Abschn. 3.5.1 und Abb. 3.7). Über die flexible hinge- oder Gelenkregion ist das Fc-Fragment mit den fragment antigen binding (Fab) verbunden. Im Bereich der hinge sind beide schweren Ketten über Disulfidbrücken verbunden. Aufgrund der flexiblen hinge ist der Winkel und die Orientierung der beiden Fab-Fragmente zueinander sehr flexibel (Abb. 1.6). Das Fab-Fragment besteht aus der leichten Kette und dem fragment difficult (Fd) der schweren Kette, die über eine Disulfidbrücke zwischen CH1 und CL verbunden sind. Die Antigenbindung erfolgt über die N-terminalen Domänen des Fab-Fragments, des fragment variable(Fv) (Mestecky 1972). Das Fv-Fragment besteht aus der variablen Domäne der schweren Kette (VH) und der variablen Domäne der leichten Kette (VL) (Hsu und Steiner 1992) (Abb. 1.1). Der Teil des Antigens, an den das Fv-Fragment bindet, wird

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1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

als Epitop bezeichnet, das Gegenstück der Bindung – also der Kontaktbereich mit dem Epitiop auf dem Fv-Fragment – heißt Paratop (Abb. 1.7 und Abschn. 2.7.2). Die Bindung erfolgt über nicht-kovalente Wechselwirkungen, wie ionische Wechselwirkungen, Van-der-Waals-Bindungen, hydrophobe Interaktionen und Wasserstoffbrücken. Die relativ große zur Verfügung stehende Interaktionsfläche des Paratops (Abb. 1.2 und 1.3 sowie Abschn. 2.7.2 ff.) ermöglicht dabei hohe Affinitäten und die erstaunliche Spezifität von Antikörpern, welche eine einzige molekulare Determinante in einem hochkonzentrierten Gemisch aus unzähligen anderen Proteinen und Substanzen, wie zum Beispiel in ihrer Heimat, dem Blutplasma, erkennen können.

1.3.2 Die variablen Domänen vermitteln die Antigenbindung Die Bindung an das Antigen erfolgt über die variablen Domänen der Antikörper (Abb. 1.2 und Abschn. 1.3.1.2) (Hochman et al. 1973; Mestecky 1972). Beim Vergleich von Antikörpersequenzen untereinander fielen innerhalb jeder der variablen Domäne Sequenzabschnitte innerhalb von VH und VL auf, die eine Vielzahl unterschiedlicher Peptidsequenzen enthalten konnten (Kabat 1970; Kabat et al. 1977; Wu und Kabat 1970). Diese hypervariablen Regionen sind über die Länge der Antikörpersequenz verteilt (Abb. 1.2b). Die Röntgenstrukturanalyse zeigte aber, dass sie sich im fertig gefalteten Protein außen und zusammen an einer Stelle zusammenfinden (Abb. 1.2b). Insgesamt sechs dieser hypervariablen Regionen – drei der schweren Kette und drei der leichten Kette – stellen so die eigentliche Kontaktstelle des Antikörpers zum Antigen dar. Man nennt diese Bereiche des Antikörpers deshalb auch „CDR“ (engl. complementarity-determining region), denn sie bilden eine Struktur, die komplementär zum Antigen ist (Abb. 1.3). Der restliche Teil der variablen Regionen hat dabei die Aufgabe, die räumliche Struktur der hypervariablen Bereiche zu stabilisieren, also ein Gerüst einzuziehen. Dies geschieht mit Hilfe der rigiden Faltblattstruktur der Gerüstregionen (framework) (Amit et al. 1986; Chothia et al. 1986; Segal et al. 1974; Tello et al. 1990). Die Sequenz von CDR1 und -2 sind durch die Varianten der V-Gene vorgegeben, die von CDR3 basiert auf der Kombination von mehreren Genelementen, sowie (bei der schweren Kette) zusätzlichen Zufallsmutationen (Details in Abschn. 1.4.1 und Abb. 1.8). Insbesondere die Länge der CDR3 der schweren Kette (CDRH3) ist dadurch sehr variabel. Hier kann die Länge von zwei bis 34 Aminosäuren variieren (Kügler et al. 2015; Zemlin et al. 2003). Es gibt noch einen weiteren Trick, strukturelle Vielfalt der Antigenbindungsregionen aus einem limitierten Genrepertoire zu erzeugen, damit auch Fv-Regionen gebildet werden können, welche an erst in der Zukunft auftretende, also während der Entwicklung der Immunglobulingene noch nicht bekannte Krankheitserreger, binden. Die Evolution hat die Strukturen so gebildet, dass ein funktionales Fv-Fragment bei sehr unterschiedlichen Bindungswinkeln der beiden V-Regionen zueinander gebildet werden kann

1.3  Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

D

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7

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F 3DUDWRS

Abb. 1.2   Die strukturelle Vielfalt der Antigenbindungsstellen in den V-Regionen wird durch hypervariable Regionen ermöglicht. Die hypervariablen Regionen wurden aufgrund der in den V-Regionen vorgefundenen Orte erhöhter Variabilität von Kabat et al. (1977) als die Regionen vorhergesagt (b), welche im Antikörper komplementär zum Antigen angeordnet sind (CDR). Die spätere Aufklärung der dreidimensionalen Struktur der V-Regionen (c) bestätigte dies. In der Abbildung sind die sechs verschiedenen CDR (je drei in der VH und VL) verschiedenfarbig markiert, um ihre Anordnung im Schema (a), der Primärstruktur (Sequenz) (b) und der Tertiärstruktur (c) zu zeigen. Gezeigt ist in der Mitte die Sequenz der V-Region der leichten Kette (Aminoterminus links), die hypervariablen Regionen der schweren Kette weisen analoge Hypervariabilitätsregionen auf

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1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

CDR-H1

Abb. 1.3   Dreidimensionale Darstellung eines Fab-Fragmentes zusammen mit seinem gebundenen Antigen. An der Kontaktstelle mit dem Antigen (hier: Lysozym) sind die sechs CDR farbig eingefärbt (siehe kleines Insert). Die Interaktionsfläche von Antikörper und Antigen definiert Paratop und Epitop, Details dazu in Abschn. 2.7.2 und Abb. 1.7. Strukturkoordinaten: 1MLC aus der PDB-Datenbank (https://www.rcsb.org/)

1.3  Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

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(Abhinandan und Martin 2010). Damit steigt wiederum auch die Anzahl möglicher Paratopstrukturen auf Basis der gleichen Proteinsequenz, denn die aus der Anordnung der CDR resultierende Oberfläche ändert sich dadurch stark. Heute nutzt man diese Eigenschaft – quasi ein Drehgelenk – um Antikörperaffinitäten allosterisch zu beeinflussen (Abschn. 5.3.6).

1.3.2.1 Nomenklaturen zur Beschreibung der Antigenbindungsstelle Um die Primärstruktur verschiedener Antikörper miteinander vergleichen zu können, ist eine vereinheitlichte Nummerierungsmethode für die einzelnen Aminosäurereste der hypervariablen Bereiche erforderlich. Durch solche Vergleiche findet man z. B. die Keimbahn-Gene, von denen der Antikörper abstammt, oder aber die durch die somatische Hypermutation eingeführten Sequenzveränderungen. Definitionsprobleme bereitet dabei die Längenheterogenität in den CDR, insbesondere der CDR3 der schweren Kette (CDRH3). Dazu kommt die unterschiedliche Definition der oft fälschlicherweise synonym verwendeten Begriffe „hypervariable Region“ und „CDR“. Die ursprüngliche Nummerierung erfolgte, benannt nach dem Entdecker, nach dem Kabat-Nummerierungsschema (Kabat et al. 1987) (Abb. 1.4). Es ermöglichte den einfachen Vergleich verschiedener Antikörper nach einem Alignment der Proteinsequenzen. Mit der wachsenden Zahl bekannter Sequenzen mussten allerdings zusätzliche Aminosäurepositionen eingefügt werden. Der Grund dafür ist der große Längenpolymorphismus der hypervariablen Regionen. Der Begriff „CDR“ (complementarity-determining regions) definiert sich dagegen aus der Bindung an das Antigen. Seit der Beschreibung der hypervariablen Regionen sind eine ganze Reihe von Kristallstruktur-Datensätzen verfügbar geworden, die zeigten, dass die eigentliche Antigenbindungsstelle nicht genau mit den hypervariablen Regionen übereinstimmt. Bald war auch klar, dass die nach der Kabat-Definition eingefügten Positionen nicht dem strukturell sinnvollen Insertionspunkt entsprachen. Deshalb wurde eine modifizierte Zählweise eingeführt, die dieser Tatsache Rechnung trägt: die Chothia-Nummerierungsmethode (Chothia und Lesk 1987) (Abb. 1.4a). Die Nummerierung der Aminosäurereste erfolgt im System nach Chothia im Prinzip genauso wie bei Kabat, nur werden die zusätzlichen Aminosäurereste an einer anderer Stelle eingefügt. Ein Kompromiss aus der Kabat- und der Chothia-Nummerierung ist die AbM-Nummerierung von Andrew Martin (Martin et al. 1989). Die Definition der Aminosäurepositionen nach MacCallum et  al. (1996) (Contact-Nummerierung) nimmt noch konsequenter Bezug auf die CDR und beruht ausschließlich auf der Analyse der tatsächlichen Antigenkontakte aus Strukturdaten (Abb. 1.4a). Die aktuellste Darstellungsweise (IMGT®-Nomenklatur) stammt von Marie Paul Lefranc und wird in der größten Datenbank von Molekülen des Immunsystems verwendet. In dieser Nomenklatur werden deshalb Immunglobuline und T-Zell-Rezeptoren einheitlich erfasst (Lefranc et al. 2003). Dieser Standard wird auch von der WHO/ IUIS (World Health Organisation/International Union of Immunological Societies) sowie bei den INN (WHO International Nonproprietary Names) als Standard anerkannt (Abb. 1.4b).

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1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

a Kabat AbM Chothia Contact

L1 25 30 35 ...|....|ABCDEF....|.. -------------------------------------------------------------------------------------

Kabat AbM Chothia Contact

H1 25 30 35 |....|.AB...|.. ---------------------------------------------------------

L2 L3 50 55 45 95 90 |....|....|.. ..|....|ABCDEF... / ------------- / ----------------/ ------------- / ----------------/ ------------- / ----------------/ ------------- / -----------------

/ / / /

H2 50 55 60 65 ....|.ABC...|....|....|.. ---..----------------------..--------------------..----------------------..----------------------

H3

95 100 102 ...|....|ABCDEFGHIJK/.|.. -------------------------------------------------------------------------------------------------

Kabat AbM Chothia Contact

b

H1

H2

H3

1.3  Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

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 Abb. 1.4   Vergleich der Nummerierungsmethoden für die V-Regionen nach verschiedenen Autoren. Die Begriffe „CDR“ und „hypervariable Regionen“ beschreiben unterschiedliche Sequenzregionen, und es gibt verschiedene Nomenklaturen für CDR. a Die „Kabat“-Definition basiert auf beobachteter Sequenzvariabilität. Die „Chothia“ -Definition basiert auf der Anordnung der strukturellen Loops. Die „AbM“-Definition ist ein Kompromiss zwischen Kabat und Chothia (benutzt in der Oxford Molecular’s AbM Antikörper-Modellierungs-Software). Die „contact“ -Definition (MacCallum et al. 1996) basiert auf Röntgenkristallstrukturdaten und identifiziert Seitenketten, welche mit dem Antigen interagieren (nach Andrew Martin, (Martin 2010); b „Collier-de-Perles“-Darstellung am Beispiel der VH-Region des Maus Anti-Lysozym-Antikörpers D1.3 (Online-Erstellung: http://www.imgt.org/3Dstructure-DB/cgi/Collier-de-Perles.cgi). Der gelbe Balken im Hintergrund zeigt die Disulfidbrücke innerhalb der Domäne. Die Collier-de-Perles-Darstellung ermöglicht einen raschen Vergleich verschiedener IgG-Domänen und CDR-Identifikation nach standardisierter IMGT-V-Domänen-Nummerierung. Jede „Perle“ ist ein Aminosäurerest, gestrichelte Positionen sind nicht besetzt (Lefranc et al. 2003). Konservierte hydrophobe Reste und Tryptophan (W) sind hellblau unterlegt. Proline (P) sind gelb unterlegt. Die Pfeile geben die Richtung des jeweiligen β-Faltblatts an. Die CDR-Regionen sind analog zu (a) und Abb. 1.2 und 1.3) eingefärbt

Nicht nur die direkt am Antigenkontakt beteiligten Aminosäurereste sind allein für die Bindung des Antikörpers verantwortlich. Auch die frameworks tragen essenziell zur tatsächlichen Konformation der CDR-Schleifen bei und beeinflussen so die Spezifität und Affinität wie auch die Stabilität (Ewert et al. 2003; Hawkins et al. 1993; Honegger und Plückthun 2001; Jung et al. 2001).

1.3.2.2 Einige Kamelantikörper kommen mit einer V-Region aus Bestimmte VH-Domänen können allein, also ohne VL, spezifisch an ihr Antigen binden (Utsumi und Karush 1964; Ward et al. 1989; Holt et al. 2003). Seltener ist dies für die VL-Domäne allein beschrieben worden. Im Prinzip sollte es also möglich sein, die Fv-Fragmente noch weiter zu verkleinern. Dies war technisch bereits für humane Domänen-Antikörper sehr erfolgreich (Abschn. 2.6.1.10). Die Natur hat aber schon lange vorher erfolgreich ein ähnliches Experiment gemacht: Ein Großteil der Antikörper von Kamelen, Lamas und ihrer Verwandten besitzt nur eine variable Domäne. Die leichten Ketten fehlen vollkommen. Auch die CH1-Domäne der schweren Kette ist deletiert (Desmyter et al. 1996; Hamers-Casterman et al. 1993; Muyldermans et al. 1994). Um die geringere Diversität solcher Antikörper auszugleichen (sie besitzen nur drei statt sechs hypervariable loops), besitzen sie oft eine längere CDR3-Region, und darin eine zweite Disulfidbrücke zur zusätzlichen Stabilisierung des größeren loops in der Paratopstruktur (Li et al. 2016). Diese variablen Domänen der Kamelantikörper können auch ohne konstante Domänen für verschiedenste Anwendungsbereiche genutzt werden (Abschn. 2.6.1.9 und Abb. 5.4).

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1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

1.3.2.3 Die chemischen Grundlagen der Antigenbindung Die Bindung des Paratops eines Antikörpers an das Epitop des Antigens erfolgt durch vier nicht-kovalente Bindungstypen. Bei den Van-der-Waals Kräften gibt es Dipol-Dipol Interaktionen zwischen unpolaren Seitenketten, z. B. zwischen Valin und Alanin. Bei der Wasserstoffbrückenbindung treten elektrostatische Wechselwirkungen zwischen polaren Seitenketten auf, z. B. zwischen einer Hydroxyl-Gruppe von Serin und einer Carbonylgruppe von Glutamin. Ionenbindungen kommen zwischen einer negativ geladenen Carboxylgruppe, z. B. von Glutaminsäure, und einer positiv geladenen Aminogruppe, z. B. von Arginin, vor. Hydrophobe Wechselwirkungen treten zwischen unpolaren Seitenketten auf, z. B. zwischen den aromatischen Ringsystemen von Tyrosin und Phenylalanin oder zwischen den aliphatischen Kohlenwasserstoffketten von z. B. Leucin und Isoleucin (Horton et al. 2008; Reverberi und Reverberi 2007; Van Oss 1995). In der wässrigen Umgebung typischer Antikörper-Antigen-Bindungsreaktionen liefern dabei hydrophobe Wechselwirkungen den größten Beitrag zur Bindungsstärke, während die anderen Bindungstypen wegen der Kompetition durch die allgegenwärtigen Wassermoleküle weniger zur Affinität beitragen können. Aber erst alle Typen in der Summe und insbesondere ihre räumliche Anordnung zueinander definieren jeweils die Affinität und Spezifität eines Paratops. 1.3.2.4 Die fünf Antikörperklassen/Isotyp beim Menschen Die grundlegende Struktur von Immunglobulinen setzt sich aus selbstähnlichen Domänen aus antiparallelen Beta-Faltblättern zusammen (Abb. 1.5a). Beim Menschen gibt es neben dem IgG weitere Antikörperklassen (auch als Isotyp bezeichnet), die sich u. a. in der Anzahl der Immunglobulindomänen und der Anzahl, sowie der Position der Disulfidbrücken unterscheiden: IgD, IgE und IgM als Monomer, sowie IgA als Dimer und IgM als Pentamer (Abb. 1.5). Auch bei der Erzeugung dieser Antikörperklassen für unterschiedliche Funktionsbereiche nutzt die Natur also das modulare Prinzip der Kombination ähnlicher Grundeinheiten – diesmal von ganzen IgG-ähnlichen Einheiten. Bei IgE und IgM besteht der Fc-Teil im Gegensatz zu IgG, IgA und IgD aus drei Immunglobulindomänen (CH2, CH3 und CH4) (Fudenberg und Warner 1970; Mestecky 1972) (Abb. 1.5b). Aufgrund der flexiblen hinge-Regionen ist der Winkel und die Orientierung der beiden Fab-Fragmente zueinander sehr flexibel (Abb. 1.6). Diese Flexibilität trägt stark dazu bei, dass Immunglobuline räumlich sehr unterschiedlich angeordnete Epitope auf den verschiedensten Antigenen erfolgreich binden können. 1.3.2.5 Antikörper bei Kieferlosen Immunglobuline kommen bei allen Gnathostomata (Kiefermünder), einer Überklasse innerhalb des Unterstamms der Vertebraten, vor. Die zweite Überklasse innerhalb der Vertebraten, die Agnatha (Kieferlose), haben jedoch keine Antikörper, die der Struktur von Immunglobulinen entspricht. Anstelle dessen besitzen sie variable Lymphocytenrezeptoren, die aus Leucin-reichen, sich wiederholenden Polypeptiddomänen bestehen und bei diesen Tieren die Aufgabe von Antikörpern übernehmen (Pancer et al. 2004, 2005; Velikovsky et al. 2009).

1.3  Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

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a

VH CH1

VL

VH

CL

CL CH2 CH3

CH2

b

IgM

CH3

IgA

CH2 CH3 CH4

membransekretierte gebundene Form Form Transmembranregion

J-Kette

J-Kette

Abb. 1.5   Antikörper-Isotypen. Antikörper setzen sich modular aus selbstähnlichen Untereinheiten zusammen. Diese Untereinheiten haben eine gemeinsame Grundstruktur (immunoglobulin superfamily fold), welche in verschiedenen Kombinationen vielfältig kombiniert werden kann. Dies wird deutlich, wenn die Einzeldomänen eines IgG einzeln nebeneinander betrachtet werden (oben rechts). b: durch weitere Kombinatorik mit mehreren Grundmolekülen entstehen größere Antikörpervarianten (hier gezeigt: IgM und IgA) mit mehr Antigenbindungsstellen zur Erhöhung der apparenten Affinität (Avidität)

1.3.2.6 Affinität, Avidität und Spezifität Die Stärke der Bindung eines Antikörpers an sein Antigen, die „Affinität“, ist neben der Spezifität der zweite wichtige Faktor eines Antikörpers. Die Stärke dieser Bindung wird durch die Dissoziationskonstante angegeben:       KD = Antikörper · Antigen / Antikörper :: Antigen − Komplex . Sie beschreibt somit für das Reaktionsgleichgewicht, das sich zwischen den an das Antigen bindenden und den davon dissoziierten Antikörpermolekülen einstellt (Massenwirkungsgesetz). Je mehr Antikörper im Gleichgewicht in gebundener Form vorliegen,

14

1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

desto höher ist die Affinität des Antikörpers für sein Antigen. Typische Werte für die Dissoziationskonstanten von Antikörpern sind 10−6 M bis 10−11 M, also: je geringer die Dissoziationskonstante, desto höher ist die Affinität. Gute Antikörper haben Affinitäten im nanomolaren Bereich (10−9 M und geringer). Die Dissoziationskonstante kann auch aus der Geschwindigkeit der Assoziation (on-rate) an das Antigen und der Dissoziation (off-rate) berechnet werden: KD = koff/kon, wobei die Assoziationsrate von der Antikörperkonzentration und der Zeit abhängig ist [M−1 s−1] und die Dissoziationsrate nur von der Zeit [s−1] (Smith und Skubitz 1975; Voss 1993). Die meisten Antikörper haben aber mehr als eine Antigenbindungsstelle, was die Berechnung der Bindungsstärke kompliziert. Sind genügend Antigene nahe beieinander, dann kann ein IgG aufgrund der enormen Flexibilität (Abb. 1.6) mit beiden Armen binden und somit einen Komplex mit zwei Antigenmolekülen bilden. IgA und IgM können sogar vier oder zehn Antigenmoleküle binden. Die Mehrfachbindung an ein Antigen liefert dabei eine zusätzliche Bindungsstärke, der entsprechende Effekt wird als „Avidität“ bezeichnet. Die Stärke des Aviditätseffekts hängt von zahlreichen Faktoren ab, wie z. B. Häufigkeit des Epitops auf Zellen, ob das Antigen ein Monomer, Homodimer oder Homomultimer ist, und auch vom Abstand und von der Orientierung der Epitope zueinander. Man kann sich auch vorstellen, dass ein Antikörper, dessen einer Bindungsarm im Rahmen der normalen Molekülbewegung von seinem Antigen dissoziiert, nicht nur immer noch gebunden ist – der „abgefallene“ Bindungsarm hat sogar weit bessere Chancen, an sein immer noch in direkter Nähe befindliches Antigen wieder zurückzubinden, als ein

a

b

Abb. 1.6   Antikörper sind extrem flexible Moleküle. Während die Röntgenkristallstruktur (a) nur einen einzigen durch die Kristallstruktur fixierten Zustand darstellt, zeigt die Untersuchung des gleichen Antikörpers in der Elektronentomographie (b), dass sich die beiden Fab – „Greifarme“ eines Antikörpers in der Realität sehr vielfältig im Raum orientieren können, sie können dadurch den verschiedensten Antigenanordnungen gerecht werden (Zhang et al. 2015)

1.3  Wie sind Antikörper aufgebaut und wie entstehen sie?

15

frei in Lösung schwimmender Bindungsarm. Die Stärke der Avidität ist wegen dieses kooperativen Effekts meist mehr als die Summe der Einzelaffinitäten und auch nicht proportional zur Anzahl der Bindearme eines Antikörpers. Bei der Bestimmung von Affinitäten für die praktische Anwendung ist zudem zu beachten, dass diese auch stets von den jeweiligen Assays abhängig ist, es gibt also keine „wahre“ Affinität. Verschiedene Methoden zur Bestimmung der Affinität von Antikörpern sind in Abschn. 2.7.1 erklärt. Als Spezifität wird die Eigenschaft eines Antikörpers bezeichnet, ein bestimmtes Antigen in einer Mischung vieler anderer zu erkennen und zu binden. Die Definition der Spezifität ist aber alles andere als einfach, was schon allein daran erkennbar ist, dass es für Spezifität kein allgemein akzeptiertes Quantifizierungssystem gibt. Ob etwas „spezifisch“ ist, hängt stets vom Kontext ab, also der Konzentration und Diversität der im jeweiligen Fall präsenten anderen Moleküle. Man muss sich dazu vergegenwärtigen, dass es für alle nicht-kovalenten Reaktionen zwischen Antikörpern und anderen Molekülen eine Gleichgewichtskonstante gibt – allerdings mit sehr unterschiedlichen Größenordnungen. Unsere Konvention, die eine praktische Nutzung des Begriffs „spezifisch“ erst ermöglicht, ist deshalb, hier irgendwo eine Linie zu ziehen, welche „unspezifisch“ von „spezifisch“ trennt. Wir sehen also, dass der Begriff der Spezifität stets eine kontextbezogene Sammlung verschiedener Affinitäten beinhaltet. Die höchste Affinität definiert dabei typischerweise die Reaktion, die wir als spezifisch betrachten. Die Trennlinie zur Unspezifität kann aber – abhängig von der jeweiligen Verwendung – sehr unterschiedlich liegen, eine festgelegte Definition gibt es nicht. Als groben Anhaltspunkt kann man davon ausgehen, dass bei Antikörpern üblicherweise Dissoziationskonstanten deutlich besser als 1 × 10−6 M für eine brauchbare Spezifität vorausgesetzt werden. Antikörper können zudem auch mit ähnlich hoher Affinität an mehrere verschiedene Antigene binden, dies wird als Kreuzreaktion bezeichnet (Abb. 1.7). Eine Kreuzreaktion ist demnach immer eine spezifische Bindung – wenn auch oft unerwünscht. Kreuzreaktionen können beispielsweise darauf basieren, dass ein strukturell ähnliches Epitop in sehr verschiedenen Proteinen vorkommt. Solche strukturell – hier insbesondere in Bezug auf die Oberfläche – ähnlichen Epitope können durchaus aus völlig unterschiedlichen Polypeptidstrukturen gebildet werden, entscheidend ist, dass sie genügend nicht-kovalente Interaktionen mit dem Paratop eingehen können, um eine ausreichende Affinität zu generieren (Mariuzza 2006; Sethi et al. 2006). Bei der experimentellen Untersuchung von Epitopen (Abschn. 2.7.2) findet man nicht allzu selten solche Strukturen, welche mit ähnlicher Affinität an das Antigen binden (Kramer et al. 1997; anderes Beispiel in Abb. 2.13c). Aber auch bei Reaktionen mit von Natur aus homologen Proteinen, zum Beispiel Varianten des gleichen Enzyms aus verschiedenen Spezies oder innerhalb einer Genfamilie, welche sich nur in wenigen Aminosäurepositionen unterscheiden, spricht man von Kreuzreaktion. Erkennt der Antikörper eine größere Zahl deutlich unterschiedlicher Epitope mit höherer Affinität, spricht man von Polyspezifität (Dimitrov et al. 2012; Kamatari et al. 2014; Pinilla et al. 1995). Solche polyreaktiven Antikörper könnten durchaus eine wichtige Funktion im Immunsystem haben – sie könnten bei weniger Aufwand für die B-Zel-

16

1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie? Antik rper B

Kreuzreaktion (spezifisch)

erwartete Bindung (spezifisch)

verschiedene Epitope des Antigens 1 Antigen 1

strukturell hnliche Epitope

Antigen 2

Fc Fab

unspezifische Bindung

VH

Antik rper A

VL Paratop (Antigenbindungsstelle)

jeder Antik rper

Abb. 1.7   Einige Begriffe zur Beschreibung der Bindungsreaktionen von Antikörpern, bezogen auf das Antigen. Die Struktur des Paratops – also des Gegenstücks zum Epitop auf dem Antigen – definiert den Idiotyp eines Antikörpers, d. h. seine Spezifität. Weitere Details in Abschn. 2.7.2 ff.

len eine größere Zahl von Eindringlingen abfangen. Bei der technischen Anwendung ist Polyreaktivität dagegen meist störend. Von einer unspezifischen Bindung spricht man, wenn ein Antikörper nachweisbar bindet, dabei jedoch eine definierte Spezifität nicht erkennbar ist. Dies kann zum Beispiel auftreten, wenn die Antikörper partiell oder vollständig denaturiert sind und dadurch verstärkt hydrophobe Interaktionen mit anderen Molekülen eingehen können – also schlicht „klebrig“ werden – oder wenn die Bindung nicht über die Paratope in den variablen Domänen erfolgt (Abb. 1.7). Eine typische technisch relevante Erscheinungsform unspezifischer Bindung ist die Klebrigkeit von Antikörpern an verschiedene Plastikoberflächen – die man sich umgekehrt aber auch zunutze machen kann, um diese zu beschichten – zum Beispiel beim typischen ELISA.

1.3.3 Die konstanten Domänen vermitteln Effektorfunktionen Nur in wenigen Fällen übt ein Antikörper für sich allein seine Schutzfunktion aus. Es gibt neutralisierende Antikörper gegen bakterielle Toxine oder Antikörper, die direkt das

1.4  Wie entsteht die Antikörperdiversität?

17

Eindringen von Viren in ihre Zielzellen verhindern, indem sie die natürlichen Kontaktstellen sterisch blockieren (Abschn. 5.4.4 und 5.4.5). Ihre große Wirksamkeit gewinnen Antikörper jedoch erst durch eine enge Zusammenarbeit mit dem restlichen Immunsystem. Antikörper sind Adaptoren: Die variablen Domänen binden das Antigen und sind somit für die Markierung des Ziels zuständig, während die konstanten Regionen die Aktivierung des Immunsystems vermitteln. Bakterien können durch Antikörper opsonisiert werden, und anschließend binden Makrophagen an die Fc-Teile der gebundenen Antikörper mittels eines Fcγ-Rezeptors und die Bakterien werden mittels Phagocytose aufgenommen und lysiert (Aderem und Underhill 1999). Antikörper, die an Bakterien gebunden haben, können auch das Komplementsystem aktivieren (Klassischer Weg). C1q kann an den Fc-Teil von auf einer Bakterienoberfläche in einer bestimmten Orientierung angeordneten Antikörper binden und so die Komplementkaskade auslösen. Am Ende dieser Kaskade werden durch das C9 Protein Poren in der Membran gebildet, was zu einem ungehinderten Austausch des Cytoplasmas mit der Umgebung, dem Verlust des Membranpotenzials und damit zum Zelltod führt (Foster 2005; Tomlinson 1993). Körpereigene Zellen, die entartet sind, können neben den cytotoxischen CD8-T-Zellen (Rubin 2009) auch von Antikörpern erkannt werden, wenn sie Neoantigene präsentieren. Makrophagen und Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) binden über ihren Fcγ-Rezeptor an die Antikörper. Die NK-Zellen töten diese Zellen durch die Freisetzung von Perforinen, um die Membran der Zielzellen zu zerstören, und von Granzymen, die eine Apoptose auslösen (Klein und Mantovani 1993; Oflazoglu et al. 2009). Verschiedene konstante Regionen können eine ganze Reihe unterschiedlicher biologischer Effekte vermitteln. Zu allergischen Reaktionen kommt es beispielsweise nach der Bindung an ein IgE, während die Bindung an ein IgM zur Aktivierung des Komplementsystems führen kann. Die modulare Bauweise der Moleküle ermöglicht auch den Austausch der konstanten Regionen (class switch) währen der B-Zell-Differenzierung unter Beibehaltung der Antigenspezifität. Je nach Anforderung kann das Immunsystem damit während der Entwicklung einer Immunantwort sehr flexibel reagieren. Der Einsatz eines bestimmten Fc-Teils ist deshalb für viele Anwendungen entscheidend und mittlerweile sind Fc-Regionen vielfach molekular für eine bestimme Aufgabe verändert worden (Abschn. 3.5 und Abb. 3.8).

1.4 Wie entsteht die Antikörperdiversität? Wie gelingt es dem Organismus, gegen praktisch jeden Fremdstoff einen spezifischen Antikörper zu bilden? Wie kann er möglichst alle potenziell „feindlichen“ Antigene erkennen, auch solche, die er noch gar nicht kennt? Der Mensch erreicht dies mit einem riesigen Arsenal von Antikörpern mit unterschiedlicher Bindungsspezifität. Jeden Tag werden vom Knochenmark etwa 3 × 106 unterschiedliche, reife, naive B-Zellen mit einem IgM- oder IgD-Rezeptor produziert (Rolink und Melchers 1993). Die Halbwertszeit der peripheren B-Zelle beträgt etwa fünf bis sechs Wochen (Fulcher und Basten 1997).

18

1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

a

Genrekombination während der B-Lymphocyten-Reifung im Menschen

schwere Kette

23 D6 JSegmente Segmente

54 V-Gene L

L

VH1

L

VH2

VH2

D D D

J

B-ZellDNA

konstant

J

Rekombination L

V

CDRs: 1

2

3 HC

leichte Kette

5 JSegmente

33 lambda-/ 40 kappa-V-Gene L

Protein (HC)

konstant

D J J

L

VL1

L

VL2

VL3

J

konstant

J

B-ZellDNA

Rekombination L

b

J konstant

V

CDRs: 1

Protein (LC)

3

2

IgG

Kombination verschiedener Genstücke zu single chain-Antikörpern schwere Kette

L

V

leichte Kette

konstant

D J

L

L

V

J konstant

Antik rpergene (B-Zell-cDNA)

VH/L-GenKombinatorik L

CDRs:

andere Dom ne

Yol

1

2

3

1

Exportsignal

Protein

3

VL

VH L

2

Yol

Peptidlinker scFv-Fragment

andere Dom ne

heterologe Fusionsanteile: Enzyme, Fc-Teile, tags, andere Antik rper u. a.

z. B. single chain Fv-Fc Antik rper (Yumab)

LC

1.4  Wie entsteht die Antikörperdiversität?

19

 Abb. 1.8   Die Quelle der Antikörpergenvielfalt. Während der natürlichen Entwicklung des B-Lymphocyten-Repertoires in unserem Körper setzt jeder B-Lymphocyt durch Rekombination der V-, J- und ggf. D-Sequenzen die Gene für „seinen“ spezifischen Antikörper neu zusammen (oberer Kasten). Die Information für alle Antikörpergene findet sich danach im Repertoire der B-Lymphocyten wieder, genetisch betrachtet: in ihrer mRNA. Daraus kann sie mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (PCR) gewonnen werden (unterer Kasten). Mit je zwei Oligonucleotidprimern (hier durch graue Halbpfeile dargestellt), die an die beiden Enden des gewünschten Genstückes hybridisieren, werden die VH- und VL-Gene der Antikörper vervielfältigt. Die so gewonnenen Genstücke werden mit anderen DNA-Fragmenten – auch aus anderen Organismen – kombiniert und z. B. wie hier gezeigt zu scFv-Fragmenten zusammengesetzt. Die beiden Antikörperketten werden im hier gezeigten Beispiel durch ein Peptid von 15–18 Aminosäuren zu einem einzigen Protein (scFv-Fragment) verbunden. Das so entstandene einzelne Gen für ein scFv-Fc-­ Fusionsprotein ermöglicht eine einfache Produktion, und das resultierende Protein hat zu IgG äquivalente Eigenschaften. Die Längen der Gen- und Proteinregionen sind nicht maßstabsgerecht dargestellt

Daraus lässt sich abschätzen, dass zu jedem Zeitpunkt im Menschen etwa 3 × 108 unterschiedliche naive B-Zellen vorhanden sind. Etwa 1012 B-Zellen sind beim Menschen insgesamt vorhanden (Rolink und Melchers 1993).

1.4.1 Die Antikörpervielfalt entsteht durch die zufällige Kombination von Peptidbausteinen Der Mensch besitzt zwischen 20.000 und 25.000 proteincodierende Gene (International Human Genome Sequencing Consortium 2004) – also um viele Größenordnungen weniger Gene als unterschiedliche Antikörper. Wie kann das sein? Es wäre für den menschlichen Organismus viel zu aufwendig, für jeden der geschätzt > 108 unterschiedlichen Antikörper ein eigenständiges Gen bereitzuhalten. Die dafür nötige Informationsmenge würde die Kapazität seines Genoms sprengen. Die Kiefermäuler (Gnathostomata), Überklasse innerhalb des Unterstamms der Wirbeltiere (Vertebrata) – nur sie besitzen Antikörper – haben dieses Problem mit Hilfe eines eleganten Tricks gelöst, der Anfang der 1980er Jahre am Immunologischen Institut in Basel durch Susumu Tonegawa beschrieben wurde. Er konnte zeigen, dass die Sequenz einer Immunglobulinkette – also ein komplettes Antikörpergen einer B-Zelle – aus DNA-Stücken zusammengesetzt wird, welche aus mehreren homologen Kopien im Genom für jede B-Zelle individuell neu kombiniert werden (Abb. 1.8a) (Hozumi und Tonegawa 1976; Tonegawa 1983). So wie man mit wenigen genormten Lego-Bausteinen Millionen unterschiedlicher Häuser errichten kann, verknüpfen sie „genormte“ Polypeptidbausteine zu einem modular aufgebauten Antikörper. Dadurch müssen im Genom nur einige Hundert dieser

20

1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

Polypeptidbausteine codiert werden. Einige wenige (große) Bausteine codieren dazu noch die konstanten Bereiche des Antikörpers und bestimmen damit seine Effektorfunktionen, die die Nachrichtenübermittlung an das Immunsystem gewährleisten. Die Antigen-Bindungsspezifität eines Antikörpers jedoch wird nur von einem kleinen Teil des Gesamtproteins vermittelt: den variablen Regionen.

1.4.2 Antikörper-Gene werden aus Gensegmenten zusammengesetzt Die Antikörpergene entstehen bei der Differenzierung von lymphatischen Vorläuferzellen zu B-Lymphocyten durch somatische Rekombinationen in Genom. Die Domänen VH und VL werden von mehreren Gensegmenten codiert. VH wird von drei Gensegmenten (V, D, J) codiert und VL von zwei Gensegmenten (V, J) (Tonegawa 1983; Taussig 1988). Die unterschiedlichen Gensegmente für V, (D) und J sind auf den jeweiligen Chromosomen perlenschnurartig hintereinander angeordnet (Taussig 1988). Es ist hervorzuheben, dass CDR3 der schweren Kette von drei Gensegmenten und CDR3 der leichten Kette von zwei Gensegmenten gebildet wird (Abb. 1.8a). Im humanen Genom befinden sich die V-, D- und J-Gensegmente für die schwere Kette sowie die Gensegmente für die konstanten Regionen der schweren Kette auf Chromosom 14. Die Gensegmente V- und J-der leichten Ketten sowie CL vom Typ Kappa (κ) liegen auf Chromosom 14 und vom Typ Lambda (λ) auf Chromosom 2 (Honjo 1983). Es gibt unterschiedlich viele Gensegmente für V, (D) und J (IMGT, http://www.imgt.org/IMGTrepertoire/­ LocusGenes/) (Tab. 1.1). Von den meisten Gensegmenten gibt es auch mehrere Allele, z. B. sind bei Gensegment IGHV1-69 (IGHV1-69*01 bis IGHV1-69*14) 14 Allele bekannt. Die Bezeichnung IGHV1-69*01 bedeutet: Subfamilie 1 des V-Gensegments der schweren Kette, Gen 69, Allel 1. Achtung: Die Gennummern/Genbezeichnungen haben nichts mit der Gesamtzahl von Genen in einer Subfamilie zu tun. Tab. 1.1  Zahl der humanen Immunglobulin-Gensegmente. (Quelle: http://www.imgt.org/IMGTrepertoire/LocusGenes/) Gensegment

Leichte Ketten Kappa (κ)

Lambda (λ)

Schwere Kette H

V

40

33

54

D





23

J

5

5

6

Die Tabelle erfasst ausschließlich funktionale Gensegmente, d. h. Regionen, die in der Datenbank nur als „open reading frame“ bzw. Pseudogen markiert wurden, sind nicht mitgezählt

1.4  Wie entsteht die Antikörperdiversität?

21

1.4.3 Die kombinatorische Diversität entsteht durch VDJRekombination und durch die Kombination von leichter und schwerer Kette Bei der somatischen Rekombination wird zufällig ein V-Gensegment, (ggf. mit einem D) und einem J-Gensegment verknüpft. Um jeweils ein V-Gensegment mit einem D-­Gensegment – bei der schweren Kette – und einem J-Genelement zu verknüpfen, befindet sich zwischen den Genelementen eine charakteristische Anordnung von Heptamer- und Nonamer-Palindrom-Nucleotidsequenzen, die durch 23 oder 12 bp-Spacer getrennt sind. Die Rekombination der V-, D- und J-Gensegmente wird durch das „recombinase activating gene“-(RAG-)Enzym gewährleistet. Im ersten Schritt wird bei der V-Gen-Rekombination ein zufälliges D-Segment mit einem zufälligen J-Segment verbunden. Die dazwischen liegenden Genomabschnitte werden herausgeschnitten. Eine differenzierte B-Zelle enthält somit nicht mehr das komplette humane Genom. Im nächsten Schritt wird ein DJ-Segment mit einem zufälligen V-Gensegment verknüpft und ein komplettes V-Gen, das eine variable Domäne codiert, ist entstanden (Collins et al. 2003; Manis et al. 1998; Steen et al. 1997). Hierbei sind ~ 7500 verschiedene Kombinationen für VH, 200 Kombinationen für Kappa und 165 Kombinationen für Lambda möglich. Die Kombination von jeweils einer schweren mit einer leichten Kette führt zu einer kombinatorischen Diversität von ~ 3 × 106 verschiedenen Antikörpern. Bei der Kombination der VDJ-Segmente der schweren Kette bilden diese drei Gensegmente die CDRH3, er ist die diverseste CDR und die wichtigste CDR-Region für die Antigenbindung.

1.4.4 Junktionale Diversität: Erzeugung neuer Gensequenzen in jeder B-Zelle In der CDR3 der schweren Kette wird die Diversität mit einem weiteren erstaunlichen Mechanismus zusätzlich gesteigert, die sogar Gen-Neusynthese umfasst. Bei der Rekombination der V-Gene wird die Diversität dazu durch P-(„palindrome“-)Nucleotide durch das RAG-Enzym und N-(„non-templated“-)Nucleotide durch die Terminale Desoxynucleotidtransferase (TdT) weiter erhöht. Neben den genannten Enzymen sind noch weitere Enzyme (z. B. DNA-Ligasen, DNA-abhängige Proteinkinasen) an den Reaktionen beteiligt. Die P-Nucleotide entstehen beim Schneiden des DNA-Doppelstrangs und die N-Nucleotide sind zufällige Desoxynucleotide, die zwischen den entstandenen DNA-Enden eingefügt werden. Das zufällige Einfügen von Nucleotiden bringt enormen Zuwachs an zusätzlicher struktureller Diversität der Antigenbindungsstelle, dadurch variieren die Aminosäuren der CDR3 der schweren sehr stark. Es können hierbei aber auch aufgrund von Leserasterverschiebungen oder Stoppcodons nicht funktionale V-Gene entstehen.

22

1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

Durch die Kombination von kombinatorischer Diversität und die „Zufallsmutagenese“ der junktionalen Diversität wird das mögliche praktische V-Gen-Repertoire auf etwa 1011 unterschiedliche B-Zell-Rezeptoren geschätzt (Billips et al. 1995; Collins et al. 2003; Lewis 1994; Rolink und Melchers 1993). Unser B-Zell-Repertoire enthält damit zahlreiche Sequenzen, die wir nicht von unseren Eltern vererbt bekamen, und die individuell sehr unterschiedlich sein können, und sich selbst bei eineiigen Zwillingen unterscheiden. Bei der Herstellung rekombinanter Antikörper macht man sich oft die bereits erfolgte Rekombination zunutze, indem man entsprechende Gene – oder gesamte Genrepertoires – in vereinfachte Formate wie das scFv-Fragment (Abb. 1.1) oder scFv-Fc-Fusionen umkloniert (Abb. 1.8b).

1.5 Wie entsteht eine spezifische Immunantwort aus dieser Antikörper-Vielfalt? 1.5.1 Klonale Deletion, Selektion und Expansion Einem neuen Antigen (z.  B. Grippevirus), welches in unseren Körper eindringt, steht also ein Repertoire von geschätzt  >108 verschiedenen Antikörpern gegenüber. Um dieses Repertoire zu erzeugen, sind zahlreiche Schritte der B-Zell-Differenzierung nötig, welche zum einen verhindern, dass Antikörper gegen Selbst-Antigene entstehen (klonale Deletion), andererseits aber auch spezifische Antikörper produzierende B-ZellKlone gezielt zur weiteren Differenzierung in Plasmazellen und damit zu sehr starkem Wachstum bringen (klonale Selektion und klonale Expansion) (Abb. 1.9). Aus den unzähligen Bindemolekülen, die durch Zufallsrekombination von Genstücken und Zufallsmutagenese entstanden und in Form eines riesigen Repertoires an B-Zell-Klonen vorliegen, muss also bei einer Abwehrreaktion jene eine B-Zelle identifiziert werden, welche den Eindringling mit der geeigneten Spezifität ihres Antikörpers bekämpfen kann. Jeder Antikörper wird von einem eigenen B-Lymphocyt gebildet, und jede Zelle aus diesem Repertoire verschiedener B-Lymphocyten präsentiert für den Auswahlprozess „ihren“ Antikörper auf der Oberfläche. Nur wenige der B-Lymphocyten aus diesem Repertoire tragen passende Antikörper gegen den Eindringling auf der Oberfläche. Die Präsentation dieses Antigens durch dafür spezialisierte Zellen veranlasst nun diese besondere B-Zelle – mit Hilfe zahlreicher zusätzlicher Mechanismen – sich zu differenzieren und auch weiter zu teilen. Dadurch wird der Anteil dieses speziellen B-Lymphocyten-Klons an der Gesamtpopulation stark vermehrt (klonale Expansion). Es findet also eine klonale Selektion statt. Ein Teil dieser B-Lymphocyten entwickelt sich dabei weiter zu den antikörpersezernierenden Plasmazellen. Mit Hilfe eines alternativen splicing-Wegs für die Antikörper-mRNA schaltet die Plasmazelle dann von membrangebundenem Antikörper (IgM) auf die sezernierte Variante (meist IgG) um. Diesen Vorgang nennt man Isotypwechsel oder auch class switch.

1.5  Wie entsteht eine spezifische Immunantwort aus dieser Antikörper-Vielfalt?

23

Antigen-pr sentierende Zelle Antigen Wachstumssignal (klonale Selektion) B-Zell-Rezeptor (oberfl chengebundene Form der Antik rper) B-Lymphocyten rearrangierte Gene der variablen Regionen

klonale Expansion

selektive Vermehrung der Zelle mit dem spezifisch bindenden Antik rper class switch + bergang von membranst ndigen zu l slichen Antik rpern Differenzierung zur Plasmazelle

Produktion gro er Mengen des spezifischen Antik rpers

Abb. 1.9   Klonale Selektion in unserem Körper bei der primären Immunantwort. Im Blut zirkuliert ein großes Repertoire von B-Lymphocyten, die jeweils unterschiedliche Antikörper-Gen-Rearrangements durchgeführt haben (Abb. 1.8). Jeder B-Lymphocyt präsentiert seinen spezifischen Antikörper auf der Oberfläche. Kommt er in Kontakt mit einer antigenpräsentierenden Zelle, deren Antigen von „seinem“ Antikörper gebunden wird, wird in diesem B-Lymphocyt ein Wachstumsprogramm ausgelöst (klonale Selektion). Der B-Lymphocyt vermehrt sich stark (Expansion), wobei ein Teil seiner Nachkommen zu Plasmazellen differenziert. Diese sezernieren dann große Mengen dieses einen Antikörpers

Am Schluss resultiert so eine große Zahl von Abkömmlingen der Ursprungs-B-Zelle, welche einen einzigen Antikörper in sehr großen Mengen produzieren – Antikörper sind das zweithäufigste Serumprotein. Einen detaillierteren Überblick über diese ganzen Vorgänge bietet Murphy et al. 2018.

24

1  Was sind Antikörper und wie funktionieren sie?

1.5.2 Affinitätsreifung durch somatische Hypermutationen Schon lange ist bekannt, dass sich die Immunantwort des Menschen gegen ein Antigen im Laufe der Zeit verbessern kann. So bekommen wir viele Krankheiten nur einmal, danach sind wir geschützt gegen diesen Erreger, wir sind „immun“. Auch für einzelne Antikörper ließ sich diese Verbesserung zeigen: Immunisiert man eine Maus, dann binden die dabei gebildeten Antikörper (die Immunglobuline) das Antigen zunächst relativ schwach. Wiederholt man die Immunisierung nach einiger Zeit, so binden die dann gebildeten Antikörper dieses Antigen deutlich besser, im Laufe der Zeit ist es zu einer Affinitätsreifung gekommen. Warum ist das so? Etwa eine Woche nach der Antigenstimulierung haben die Plasmazellen große Mengen an Antikörpern gebildet. Dadurch entsteht ein Überschuss von Antikörpern gegenüber dem Antigen (beispielsweise dem Grippevirus), das dabei eliminiert wird. Einige aktivierte B-Lymphocyten sind jedoch nicht zu Plasmazellen differenziert. Aus ihnen gehen später die Gedächtniszellen hervor. Die B-Lymphocyten teilen sich nun, wobei die Gene der rearrangierten variablen Antikörperdomänen (und nur diese Gene!) einer milliardenfach erhöhten Mutationsrate, verglichen mit dem restlichen Genom, ausgesetzt sind. Einige dieser Mutationen codieren zufällig einen besser bindenden Antikörper. Da antikörperpräsentierende B-Lymphocyten in den Keimzentren um die Bindung an die antigenpräsentierenden dendritischen Zellen konkurrieren – und damit letztlich um Wachstumssignale – kann der Prozess der klonalen Expansion und Differenzierung zu Plasmazellen nun mit verbesserten Antikörpern neu beginnen, die durch die Mutationen eine höhere Affinität zum Antigen besitzen. Schon vor ihrer Aufklärung wurden diese molekularen Grundlagen der Antikörperentwicklung bei den empirisch entwickelten Impfprotokollen berücksichtigt. So liegen meist mindestens vier Wochen zwischen den einzelnen Immunisierungen. Dies entspricht etwa der Zeit, die zur Affinitätsreifung, d. h. dem Prozess der Bildung von Gedächtniszellen, benötigt wird. Es würde den Rahmen des Buches sprengen, wenn hier ein kompletter Überblick über das Immunsystem gegeben würde. Der Leser ist hierfür an Lehrbücher wie beispielsweise das hervorragende Immunologie von Charles Janeway und Paul Travers verwiesen (Murphy et al. 2018). In den folgenden Abschnitten zeigen wir, wie die Grundprinzipien der Antikörper-Immunantwort, wie z. B. der modulare Aufbau der Antikörper oder die Mechanismen der genetischen Rekombination und der somatischen Evolution Lehrmeister für die Gentechnologen war, die dadurch inspiriert ähnliche Lösungen im Reagenzglas realisieren konnten.

2

Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

2.1 Was sind rekombinante Antikörper? Der Begriff „rekombinante Antikörper“ bezeichnet Immunglobuline oder antigenbindende Fragmente, welche in heterologen Produktionssystemen hergestellt werden. Da die Voraussetzung der heterologen Produktion eine Transformation mit bekannter DNA ist, sind rekombinante Antikörper stets durch ihre bekannte Sequenz – dem Bauplan – definiert, und unterscheiden sich so grundsätzlich von den polyklonalen Antiseren und den monoklonalen Antikörpern aus Hybridomen (Abschn. 2.3.1). Rekombinante Antikörper sind also auch stets gentechnologische Produkte und in aller Regel durch „antibody engineering“ (eine sinnvolle deutsche Übersetzung gibt es nicht) hergestellt. Technisch werden diese Antikörper nicht mehr in einem Versuchstier (oder im menschlichen Organismus) produziert, sondern typischerweise in vitro in Bakterien oder in Zellkultur. Oft werden sogar die Sequenzinformationen komplett in vitro gewonnen (Abb. 2.1). Im Mittelpunkt steht dabei der antigenbindende Teil des Antikörpers, welcher durch mindestens eine, typischerweise beide variablen Regionen (V-Regionen) strukturell definiert ist, da er die Antigenspezifität definiert. Fusionsproteine, welche lediglich die konstanten Teile eines Antikörpers nutzen, wie z. B. den Fc-Teil im Therapeutikum Etanercept (Handelsname Enbrel®), werden üblicherweise nicht den rekombinanten Antikörpern zugerechnet, was auch durch das Fehlen der Endung „mab“ (Abkürzung für monoclonal antibodies) in entsprechenden internationalen Wirkstoffnamen der WHO (INN, International Nonproprietary Name, Jones et al. 2016; Abschn. 5.4.1) deutlich wird. Die Gene, welche rekombinante Antikörper codieren, können aus B-Zellen oder monoklonalen, Antikörper produzierenden Zelllinien wie Hybridomen durch PCR oder Next Generation Sequencing ermittelt werden. Idealerweise erzeugt man aber heute rekombinante Antikörper für therapeutische Zwecke mit Hilfe von transgenen Tieren (Abschn. 2.5) oder durch in vitro-Selektion aus großen Genbibliotheken (Abschn. 2.6). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dübel et al., Rekombinante Antikörper, https://doi.org/10.1007/978-3-662-50276-1_2

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26

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert? Polyklonale Antik rper (Antiseren) Antigen einige Wochen Immunisierung wiederholte Immunisierung

Blutentnahme

Serum (Antik rpergemisch)

Monoklonale Antik rper (Hybridomtechnologie) Antigen Tumorzellen wiederholte Immunisierung

Milz

ELISA: Einzelklonselektion

Zellfusion

Immunbibliothek

monoklonaler Antik rper + immortaler Zellklon

PCR + Klonierung Rekombinante Antik rper

CAAGTTCAG...

synthetisches Repertoire

Spenderblut (natives Repertoire)

PCR + Klonierung (Repertoire)

in vitropanning (Selektion)

ELISA: Einzelklonselektion

Antigen Evolutives Auswahlverfahren in vitro

CAAGTTCAG... monoklonaler Antik rper + immortaler E. coli-Klon + Antik rpersequenz

Abb. 2.1   Entwicklung der unterschiedlichen Herstellungsmethoden für Antikörper. Antiseren sind seit 1890 bekannt, monoklonale Antikörper seit 1975. Die Kernmethoden zur Herstellung rein rekombinanter, meist menschlicher Antikörper wurden ab 1990 entwickelt

2.2 Warum rekombinante Antikörper? Welche Motivation steht hinter der Suche nach neuen Wegen zur Herstellung von Antikörpern? Die Evolution des Immunsystems hat doch ein schier unerschöpfliches Potenzial zur Herstellung spezifischer Bindemoleküle entwickelt, das wir bereits durch die Herstellung von polyklonalen Antiseren oder monoklonalen Hybridom-Zelllinien vielfältig nutzen können. Was können rekombinante Antikörper darüber hinaus noch leisten? Die Antwort liegt in den unzähligen Möglichkeiten, Antikörper auch nach der Selektion genau an eine Anwendung anzupassen, zu verändern und zu optimieren. Affinität, Spezifität, Valenz, Stabilität, Größe, Pharmakokinetik, Immunogenität und viele andere Faktoren können gezielt modifiziert und optimiert werden. Auch die Möglichkeit zur kompletten Vermeidung von Tierversuchen zur Antikörperherstellung ist eine Motivation. Für viele Anwendungen rekombinanter Antikörper verzichtet man dafür auf einige Teile der konstanten Regionen. Solche Fragmente können dann zwar nicht mehr alle Funktionen eines natürlich hergestellten kompletten Immunglobulins vermitteln. Dafür können sie aber vergleichsweise einfach mit Enzymen oder anderen Antikörpern fusioniert werden. Solche

2.3  Herstellung rekombinanter Antikörper aus Hybridomen

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Versionen rekombinanter Antikörper bekommen dabei vollkommen neue Eigenschaften (Abschn. 3.6 und 3.7). Der Begriff „rekombinanter Antikörper“ wird oft generell auch für gentechnologisch hergestellte Antikörperfragmente genutzt. Korrekter wäre es allerdings, solche Proteine als „rekombinante Antikörperfragmente“ zu bezeichnen. Rekombinante Methoden haben auch völlig neue Wege eröffnet, neuartige Antikörper überhaupt erstmal völlig außerhalb eines Immunsystems zu gewinnen – insbesondere aus den Menschen. Damit wurde ab Mitte der 1980er Jahre ein neues Kapitel in der Entwicklung medizinischer Wirkstoffe, d. h. therapeutischer Antikörper, aufgeschlagen (Dübel und Reichert 2014; Strohl 2018). Die rasante Entwicklung neuer Medikamente (allein 2018 wurden 13 neue therapeutische Antikörper zugelassen) belegt den enormen Einfluss dieser neuen Technologien (Abschn. 5.4). Schon jeder natürliche Antikörper ist ein multifunktionales Molekül. Während die variablen Teile an „ihr“ spezifisches Antigen binden, bestimmen die konstanten Teile, was mit dem gebundenen Antigen geschieht – dem Antikörper kommen dabei andere Teile des Immunsystems zu Hilfe. Auch die Valenz und Serumhalbwertszeit werden durch die konstanten Regionen definiert. Ganz analog zur Kombination der antigenbindenden Fab-Fragmente natürlicher IgG mit verschiedenen Fc-Fragmenten können Antigenbindungsstellen rekombinanter Antikörper mit anderen Proteinen genetisch fusioniert werden – allerdings in einer unbegrenzten Vielfalt, welche über Fc-Teile weit hinaus geht. Damit kann man den Antigenbindungsteilen der Antikörper biochemische Funktionen verleihen, die in dieser Kombination in der Natur nicht vorkommen. Solche Fusionen können auch zwischen Proteinen oder Proteinteilen aus verschiedenen Organismen erfolgen. Beispielsweise kann ein Enzym mit Hilfe eines Antikörperfragments spezifisch zu einem Tumor geleitet werden – dieser bifunktionale Antikörper wird so zu einem Therapeutikum gegen Krebs (Abschn. 3.7). In den nachfolgenden Abschnitten werden die Technologien zur Generierung von rekombinanten Antikörpern beschrieben und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von rekombinanten Antikörpern detailliert dargestellt.

2.3 Herstellung rekombinanter Antikörper aus Hybridomen Ein Weg, um rekombinante Antikörper herzustellen, ist die Isolation der DNA für die entsprechenden V-Regionen aus Hybridomzellen. Hybridomzelllinien entstehen durch Zellfusion einer unsterblichen Myelomzelllinie mit B-Zellen, welche Immunglobuline einer gewünschten Spezifität produzieren (Köhler und Milstein 1975). Die wichtigste Motivation für die Herstellung von rekombinanten Versionen solcher „klassischer“ monoklonaler Antikörper ergab sich Mitte der 1980er Jahre aus den erfolglosen Versuchen, Hybridom-Antikörper für therapeutische Zwecke zu nutzen. Dies scheiterte daran, dass die aus Mäusen oder Ratten stammenden monoklonalen Antikörper nach Injektion in Patienten als körperfremde Proteine einer anderen

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Spezies erkannt wurden und somit durch das Immunsystem der Patienten bekämpft oder neutralisiert wurden – wodurch sie ihre therapeutische Wirkung nicht erfüllen konnten (Hwang und Foote 2005; Details in Abschn. 3.2). Es können auch menschliche Hybridomzelllinien für die Produktion von humanen Antikörpern genutzt werden, jedoch gibt es hier Schwierigkeiten technischer Natur, denn verglichen mit den Maushybridomen sind menschliche Hybridomzelllinien sehr instabil (Smith und Crowe 2015) und spielen deshalb bei der Entwicklung menschlicher Antikörper keine Rolle. Die Nebenwirkungen von murinen Antikörpern aus Hybridomen konnte man auf rekombinanten Wege korrigieren, indem man durch Fusion der DNA für die V-Regionen an solche von menschlichen konstanten Regionen (chimäre Antikörper), oder sogar durch Ersatz der framework-Sequenzen in den einzelnen Tier-V-Regionen durch homologe Sequenzen aus dem Menschen (humanisierte Antikörper) am Computer die Immunogenität der Antikörper im Menschen reduzierte. Solche rekombinanten chimären oder humanisierten Antikörper ermöglichten die erste Welle erfolgreicher Medikamentzulassungen mit monoklonalen Antikörpern als Wirkstoffe (Abschn. 3.2 und 5.4). Für die Gewinnung von scFv-Fragmenten aus Hybridom-Zelllinien mussten dafür zunächst die beiden Genfragmente für die leichten Ketten gewonnen werden. Dies geschieht am einfachsten mit der Polymerasekettenreaktion (PCR) durch Verwendung antikörperspezifischer Oligonucleotidprimer (Huse et al. 1989; Songsivilai et al. 1990; Orlandi et al. 1989; Dübel et al. 1994; Toleikis und Frenzel 2012). Die Reaktionsbedingungen bei der PCR-Vervielfältigung von Antikörpergenen müssen dabei im Gegensatz zu den meisten anderen PCR-Anwendungen auf geringe Spezifität optimiert werden. Der Grund liegt darin, dass die Oligonucleotidprimer in aller Regel nicht perfekt an die zu vervielfältigenden Antikörpergenen passen. Dies wiederum liegt an der genetischen Vielfalt der rearrangierten Antikörpergene. Alleine für die V-Regionen der Antikörper enthält das Mausgenom weit über 100 verschiedene Sequenzen, die noch zusätzlich somatisch mutiert sein können. Man kann zur Vervielfältigung umfangreiche Oligonucleotidprimersätze konstruieren (z. B. Orlandi et al. 1989; Ørum et al. 1993), von denen jedes Mitglied an eine andere der vielen verschiedenen Antikörpersequenzen passt. Dieser Ansatz ist zur Herstellung von hochdiversen Antikörpergenbibliotheken sinnvoll, aus denen man später Antikörper gegen verschiedene Antigene gewinnen will (Abschn. 2.6.1.1 ff.). Dafür ist es erforderlich, das gesamte Repertoire verschiedener Sequenzen in möglichst equimolaren Mengen zu vervielfältigen, da man im Voraus nicht weiß, welche Ketten der gewünschten Spezifität codiert. Für Klonierungen aus Hybridomen ist es aber meist ausreichend, mit einer geringeren Zahl von Oligonucleotidprimern auszukommen. Da in einer Hybridomlinie zwar oft mehr als eine, insgesamt jedoch nur eine geringe Zahl verschiedener Antikörper-Sequenzen vorhanden ist (Bradbury et al. 2018), können die Oligonucleotidprimer so konstruiert werden, dass sie zwar unterschiedlich stark, aber dafür an eine größere Gruppe von unterschiedlichen Sequenzen hybridisieren. Die PCR-Reaktionsbedingungen müssen also so eingestellt sein, dass auch eine Vervielfältigung von Sequenzen möglich ist, die mit einer ganzen Reihe

2.3  Herstellung rekombinanter Antikörper aus Hybridomen

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von Nucleotiden nicht an die verwendeten Oligonucleotidprimer passen. Ein Satz solcher Oligonucleotide zur Vervielfältigung von Maus- und Ratten-Fv-DNA beschreiben Dübel et al. 1994. Diese 3’-Oligonucleotidprimer hybridisieren auch nicht an Teile der framework-4-Region der Antikörper-DNA für die variable Region, sondern an den daran direkt anschließenden weitaus höher konservierten Teil der konstanten Kette. Dadurch benötigt man nur einen einzigen Primer pro 3’-Ende. Die 5’-Oligonucleotidprimer sind relativ lang, und an einigen Positionen wurden Gemische mehrerer Nucleotide (wobbles) eingebaut. Sie wurden so konstruiert, dass mindestens einer aus einem Satz von drei verschiedenen Gemischen an alle bekannten Maus-Sequenzen hybridisieren kann. Ein ausführliches Laborprotokoll für die Klonierung von scFv-Fragmenten aus Hybridomen findet sich bei Toleikis und Frenzel 2012.

2.3.1 Hybridom-Zelllinien zur Produktion monoklonaler Antikörper sind genetisch heterogen Bei der Vervielfältigung von Antikörpergenen aus Hybridomlinien wurden immer wieder unterschiedliche Antikörpersequenzen gefunden (Fuchs et al. 1997), obwohl Hybridom-Zelllinien ja als monoklonal bezeichnet werden. Der Begriff der Monoklonalität entstand geschichtlich aus dem Nachweis eines Antikörpers gewünschter Spezifität im Zellkulturüberstand eines Zellklons und ist aufgrund der möglichen genetischen Heterogenität von Allelen innerhalb einer Zelle keinesfalls mit „monospezifisch“ gleichzusetzen. Trotz der Optimierung der Myelom-Fusionspartner auf geringstmögliche Expression der eigenen, unerwünschten Antikörpergene können zusätzliche exprimierte Antikörperketten (oder exprimierte Pseudogene) durch PCR vervielfältigt werden. Etwa 20 % der Maus-Hybridome und die Mehrzahl der Ratten-Hybridome enthält solche produktive mRNA zusätzlicher Ketten, wodurch diese Hybridome zwar auf Zellebene noch monoklonal sind, tatsächlich aber keine monospezifischen Antikörper sekretieren, sondern ein Gemisch mit verschiedenen Bindungsregionen (Bradbury et al. 2018). Dazu kommen Mutationen, die sich in den Antikörpergenen der Hybridome während einer längeren Kultivierung des Hybridoms anreichern können (Abb. 2.2). Dies führt oft zu erhöhtem Background und unerwünschten Nebenspezifitäten, in jedem Fall aber zu einer Verdünnung des Antikörpers mit der gewünschten Spezifität. Rekombinant hergestellte Antikörper zeigen deshalb ein stärkeres Signal als die aus den entsprechenden Hybridomen angereicherten Immunglobuline gleicher Konzentration (Bradbury et al. 2018). Es empfiehlt sich deshalb, für die Gewinnung von Hybridom-Antikörper-DNA auf jeden Fall von frisch subklonierten und getesteten Hybridomkulturen auszugehen. Eine weitere Quelle unerwünschter Mutationen sind die verwendeten degenerierten PCR-Primer, die unter den verwendeten PCR-Bedingungen auch an nicht genau passende Gensegmente hybridisieren können. Zumindest diese Sequenzvarianten kann man aber durch Rückführung auf die entsprechende Keimbahnsequenz gut korrigieren. Abhilfe gegen diese Fehlerquelle bietet auch der Verzicht auf PCR und stattdessen die Verwendung von

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert? Legende:

H

Ausgangszellen bei der Hybridomherstellung

Antik rper-Allel rearrangiertes Gen unerw nschtes rearrangiertes Gen andere B-Zelle

spezifische B-Zelle

mRNA/cDNA Stopcodon, Abbruch

Myelomzelle

Mutation Zellfusion

aberrante leichte Kette

Hybridomerzeugung & -Kultivierung

aberrante leichte Kette

heterogene Kultur durch Mutationen w hrend der Kultivierung

Weitere Fehlerquellen: berexprimiertes Pseudogen maskiert korrekte DNA, PCR/primer-induzierte Mutationen, Sequenzierungsfehler

DNA-Klonierung

HC

korrekte schwere + leichte Kette

LC

HC

LC

HC

LC

Myelomzelle spezifische B-Zelle andere B-Zelle m gliche zus tzliche produktive cDNA aus einer Hybridomlinie

Abb. 2.2   Hybridomzelllinien enthalten oft nicht nur die DNA der gewünschten monoklonalen Antikörper. Durch die Zellfusion einer oder mehrerer B-Zellen mit einer Krebszelllinie entstehen tetraploide Zellen mit vier möglichen Allelen für jede Kette. Bei der weiteren Selektion kommt es oft zu Chromosomenaberrationen sowie weiterer Vervielfältigung, und eine zur Situation einer B-Zelle vergleichbare Regulation ist nicht mehr gegeben. Diese Veränderungen führen bei zahlreichen Hybridomen zur Expression zusätzlicher mRNAs von Antikörperketten. Dazu kommen Punktmutationen, die sich während der Kultivierung anreichern. Etwa ein Drittel der Hybridome produziert deshalb ein IgG-Gemisch mit mehreren verschiedenen Paratopen und damit auch unterschiedlichen Spezifitäten (Abb. 3.13)

2.4  B-Zell-Klonierung aus Patienten und Einzellzell-PCR

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Next Generation Sequencing (NGS) für die Bestimmung der Antikörpergensequenzen des Hybridoms. Aber Vorsicht: Die am häufigsten vorgefundenen Sequenzen müssen nicht notwendigerweise die sein, die die gewünschte Spezifität codieren, wie Bradbury et al. (2018) zeigen konnten. Alle diese Fehlerquellen machen einen schnellen Test unabdingbar, mit dem die scFvoder Fab-Fragmente auf ihre korrekte Funktion überprüft werden können. Wenn dafür lösliches Antigen zur Verfügung steht, ist Phagendisplay (Abschn. 2.6.2) die etablierte Methode der Wahl. Steht kein schnelles Testsystem zur Verfügung, muss die genetische Heterogenität durch die Sequenzierung von mindestens 10 Klonen pro PCR-Bande untersucht werden. Treten verschiedene Sequenzen auf, sollten alle möglichen Kombinationen von VH und VL separat produziert und funktional getestet werden, wobei nicht nur die Affinität und spezifische Bindung an das originale Antigen mit dem Originalüberstand identisch sein sollten, sondern auch unerwünschte Reaktionen sorgfältig auszuschließen sind. So zeigte ein Hybridom der von Bradbury et al. (2018) untersuchten Hybridome, von dem alle möglichen Paarungen der mit NGS ermittelten V-Regionen als IgG hergestellt wurden, dass die Paarung mit einer „falschen“ leichten Kette zwar die Bindung an das Original-Antigen mit ähnlicher Affinität erlaubte, jedoch eine neue Reaktivität mit einem anderen Antigen ermöglichte. In einem ELISA, in dem lediglich BSA als Negativkontrolle verwendet wird, wäre dieser Spezifitätsverlust nicht aufgefallen.

2.4 B-Zell-Klonierung aus Patienten und Einzellzell-PCR Die Hybridomtechnologie wurde für Mauszellen entwickelt (Köhler und Milstein 1975) (Abschn. 2.3). Die Fusion von humanen B-Zellen mit Tumorzellen für humane Hybridome gestaltete sich erheblich schwieriger, sie gelang aber mit einer veränderten humanen Myelom-Zelllinie (Olsson und Kaplan 1980) und mit Heterohybridomen durch die Fusion von menschlichen B-Zellen mit einer murinen Myelom-Zelllinie (Östberg und Pursch 1983). Eine andere Alternative dazu war die Immortalisierung von humanen B-Zellen mit Hilfe des Epstein-Barr-Virus (EBV) (Kozbor und Roder 1981). Diese aufwendigen Methoden konnten sich jedoch nie breit durchsetzen, da die Effizienz z. B. bei der Fusion der menschlichen Zellen mit den Myelomzellen sehr gering war. Dazu kommt, dass nur etwa eine von 10.000 B-Zellen antigenspezifisch ist und somit der Aufwand für das Screening sehr hoch ist. In den letzten Jahren konnte die Effizienz der Zellfusion jedoch erhöht werden (Smith und Crowe 2015). Eine Alternative zur EBV-basierten Immortalisierung oder zu menschlichen Hybridomen ist die Klonierung von B-Zellen aus Patienten oder transgenen Mäusen (Abschn. 2.5). Hierbei wird dem Spender Blut abgenommen, dies kann z. B. ein Patient sein, der eine Ebola-Infektion überlebt hat, oder z. B. eine transgene Maus, die mit einem menschlichen Tumorantigen immunisiert wurde. Im nächsten Schritt werden Lymphocyten isoliert und anschließend IgG-präsentierende B-Zellen mittels Fluorescence activated cell sorting (FACS) in Einzelzell-Vertiefung-PCR-Platten sortiert. Anschließend wird in jeder dieser

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Vertiefungen, die jeweils nur eine einzelne B-Zelle erhalten, eine cDNA-Synthese mittels RT-PCR durchgeführt und nachfolgend mit Primersets VH und VL in einer PCR-Reaktion amplifiziert. Der Vorteil hier ist, dass die ursprüngliche Kombination von leichter und schwerer Kette erhalten bleibt. Die amplifizierten V-Gene können direkt aufgereinigt werden und in IgG-Expressionsvektoren kloniert werden, um Säugetierzellen für die Produktion der IgG zu transfizieren. Nachfolgend können die produzierten monoklonen IgG im ELISA (Engvall et al. 1971) auf Bindung gescreent werden (Smith et al. 2009).

2.5 Transgene Tiere mit humanem Genrepertoire Neben humanen Hybridomen wurde ein weiterer Ansatz entwickelt, um humane Antikörper mittels Immunisierung von Tieren zu generieren. Hierbei wurden Mäuse gentechnisch so verändert, dass sie bei einer Immunisierung humane Antikörper produzieren. Wie wurde dies erreicht? Hierzu wurden die menschlichen Genomabschnitte für die schwere Kette und die leichten Ketten in Mäuse integriert. Parallel wurden in den Mäusen die murinen Chromosomenabschnitte deletiert. Diese Schritte wurden in embryonalen Stammzellen durchgeführt. Anschließend wurden die Mausstämme, die keine Antikörper produzieren können, mit denen, die murine und humane Antikörper produzieren, gekreuzt und die Mäuse selektioniert, die nur humane Antikörper produzieren können (Jakobovits 1995; Jakobovits et al. 2007; Lonberg und Huszar 1995). Diese transgenen Mäuse (Abb. 2.3) können immunisiert werden, und Zelllinien zur Produktion monoklonaler Antikörper können danach mittels klassischer Hybridomtechnologie (Abschn. 2.3) oder durch B-Zell-Klonierung isoliert werden (Abschn. 2.4). Neben Mäusen wurden transgene Ratten (Osborn et al. 2013) und sogar transgene Kühe entwickelt, die das humane Antikörperrepertoire tragen (Matsushita et al. 2015). Diese Tiere sind menschliche Antik rpergene

Austausch des Maus-Immunglobulin-Genlocus gegen den humanen Locus

Immunisierung mit Antigen

Hybridomherstellung

Antik rper mit menschlicher Sequenz

Abb. 2.3   Mäuse mit menschlichen Antikörper-Genloci. In transgene Mäuse wurden nach Ausschalten der eigenen Antikörpergene die Genloci für schwere und leichte Ketten des Menschen eingebracht. Nach Immunisierung werden Antikörper mit menschlichen Proteinsequenzen hergestellt. Durch konventionelle Hybridomtechnologie ist es danach möglich, Antikörper mit menschlichen Ausgangssequenzen in Mäusen zu erzeugen

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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auch deshalb interessant, weil sie es ermöglichen, humane polyklonale Antiseren in größeren Mengen zu produzieren.

2.6 In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas Bei der Entwicklung von Verfahren, Antikörper komplett außerhalb von Versuchstieren oder menschlichen Spendern herzustellen, ließen sich die Erfinder von den grundlegenden Prinzipien des Immunsystems inspirieren. Es galt, Lösungen zu finden, das Verhalten einer B-Zelle in Bezug auf die Erschließung des Genrepertoires für Antikörper in separate Schritte zu überführen, die jeweils biochemisch im Reagenzglas nachvollzogen werden können. Dies gelang zufriedenstellend erstmals in E. coli-Bakterien, dem Arbeitstier der modernen Molekularbiologie, durch die Entwicklung des Phagendisplay.

2.6.1 Die Antikörperbildung des humoralen Immunsystems kann in Bakterien imitiert werden Die heute am weitesten verbreitete Methode zur Gewinnung rekombinanter Antikörper ist das Phagendisplay. Es war das erste einer Reihe von Selektionssystemen, die es erlauben, die entscheidenden Schritte der Antikörperbildung des Säuger-Immunsystems im Reagenzglas nachzuahmen. Die folgenden Abschnitte beschreiben diese Systeme, welche in vitro die drei folgenden Elemente der Antikörper-Immunantwort imitieren: • die Bereitstellung der Vielfalt an Antikörpergenen; • die effektive Selektion des richtigen Gens aus dieser Vielfalt; • die Verbesserung der Affinität und Spezifität eines selektionierten Antikörperfragments. Der Schlüssel zur einfachen Herstellung von rekombinanten Antikörpern lag im Transfer dieser Prinzipien in experimentell einfach handhabbare Systeme. Die drei folgenden Abschnitte beschreiben demgemäß, wie diese „Übertragung der humoralen Immunantwort ins Reagenzglas“ gelang.

2.6.1.1 Die Vielfalt an Antikörpergenen kann in E. coli bereitgestellt werden Wie in Kap. 1 bereits beschrieben, entsteht die Vielfalt der menschlichen Antikörpergene durch die zufällige Kombination von Genfragmenten. Jeder B-Lymphocyt würfelt sich dabei sein eigenes Antikörpergen aus. Die Information für dieses riesige Repertoire an Genen wird danach als Pool von B-Lymphocyten im Körper vorgehalten. Man schätzt,

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

dass dem Menschen dadurch >108 verschiedene Antikörpergene jederzeit zur Verfügung stehen. Auf diese Vielfalt kann man zugreifen, und zwar mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR). Zwei Oligonucleotidprimer, die an die beiden Enden des gewünschten Antikörpergens passen, vervielfältigen dabei nur die zwischen diesen Primern liegende DNA. Man kann mit dieser Methode einzelne Gene vervielfältigen, aber auch ganze Genfamilien nahe verwandter Sequenzen und sogar die Gesamtheit der Antikörpergene. Die Information dafür befindet sich in der B-Lymphocyten-DNA oder der daraus hergestellten mRNA. Werden mit den Oligonucleotidprimern Restriktionsschnittstellen an den Enden der Antikörpergene eingeführt, können sie anschließend als extrem diverses Gemisch in E. coli-Expressionsvektoren eingebaut werden. Damit hat man die Information für eine schier unbegrenzte Zahl von Antikörpergenen ins Reagenzglas überführt. Ein paar Mikrogramm Plasmid-DNA enthalten etwa 1011 Plasmide, von denen aufgrund der Neukombination der schweren und der leichten Ketten kaum eines ein identisches Antikörperfragment codiert. Die Komplexität der bakteriellen Antikörperbibliothek hängt jetzt nur noch von einer möglichst effizienten Transformationsmethode ab. Die besten Antikörperbibliotheken erreichen mittlerweile eine Diversität von mehr als über 1010 unterschiedlichen Antikörpergenen und werden in separaten Klonierungsschritten unter Beachtung höchster Effizienz bei jedem Schritt (zur Vermeidung von Diversitätsverlust) hergestellt (Abb. 2.4).

2.6.1.2 Oligonucleotidprimer für die Herstellung von Antikörpergenbibliotheken Die weiter unten ausführlich beschriebenen Selektionsmethoden ermöglichen heute die Auswahl des Gens für ein einziges hochspezifisches rekombinantes Antikörperfragment aus Milliarden anderer. Voraussetzung ist natürlich immer, dass das Fragment mit der gewünschten Spezifität überhaupt in der Gesamtheit der Genbibliothek enthalten ist. Im Unterschied zur Klonierung von Antikörpern aus Hybridomzellen muss zur Herstellung einer guten Antikörper-Genbibliothek eine weitere Bedingung erfüllt werden: Möglichst alle vorliegenden Antikörpergene sollten bei der PCR in equimolaren Mengen vervielfältigt werden. Ansonsten wird vielleicht gerade die gesuchte V-Region von anderen Sequenzen verdrängt, an die ein PCR-Primer etwas besser passt – und fehlt später in der Bibliothek. Ein geeigneter Primersatz, der diese Bedingung für humane Sequenzen erfüllt, ist z. B. von Frenzel et al. (2014) beschreiben worden. Diese Primer ermöglichten Bibliotheken, deren Diversität der natürlichen Zusammensetzung des B-Zell-Repertoires sehr nahe kam (Kügler et al. 2015). Auch für die Maus stehen entsprechend umfangreiche Oligonucleotidprimersätze zur Verfügung (z. B. Ørum et al. 1993). Besonders einfache Primersätze können zur Vervielfältigung der DNA von Kaninchen- und VögelAntikörper-V-Regionen konstruiert werden. Die Vielfalt der Antikörpersequenzen entsteht bei diesen Tieren aufgrund von Genkonversion, wodurch die zum Primen wichtigen Enden der Fv-Region-DNA nicht verändert werden (Ridder et al. 1995; Nguyen et al. 2018). Ein Primersatz für Hühner Immunbibliotheken ist bei Fehrsen et al. 2018 beschrieben.

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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VL

Blut

Lymphocyten- mRNAcDNAFraktion Pr paration Pr paration

Sekretionssignal Promotor

VH

PCR (Amplifikation der Antik rpergene)

VL-Genrepertoire MluI

NotI

VH-Platz- Linker pIII-Gen halter Phagemidvektor Ampicillinresistenzgen

intergenic region

VH-Genrepertoire

Elektroporationen in E. coli

NcoI

HindIII

pIII-Gen

Linker VL-Genrepertoire DNA

Phagemid mit VL-Subbibliothek

Elektroporationen in E. coli

Glycerolkulturen der Bibliothek (-80 C) Abb. 2.4   Die Schritte zur Herstellung einer Antikörper-Genbibliothek (hier beispielhaft im scFv-Format für das Phagendisplay). Um ausreichende Diversität (>1010 unabhängige Klone) zu erreichen, sind typischerweise zahlreiche parallele Transformationen notwendig

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Um Arbeit zu sparen, schlugen einige Gruppen eine sogenannte overlap- oder assembly-PCR vor. Damit können beide V-Regionen, die zunächst in zwei unabhängigen PCR-Reaktionen gewonnen wurden, in einem dritten PCR-Schritt zu einem DNA-Stück zusammengesetzt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Oligonucleotidprimer Teile des Peptidlinkers zwischen den beiden V-Regionen codieren und gleichzeitig umfangreich miteinander überlappen. Der Nachteil dieser Methode liegt in der Anfälligkeit für PCR-Artefakte. So führen die langen Überhänge zu starken Verzerrungen der Häufigkeitsverteilung verschiedener V-Gene, auch wurden in so hergestellten Bibliotheken vermehrt Klone mit verkürztem Linker gefunden (J. D. Marks, pers. Mitteilung) – für universelle Genbibliotheken ist sie deshalb nicht zu empfehlen.

2.6.1.3 Die Neukombination der variablen schweren und leichten Regionen erhöht die Komplexität der Antikörpergenbibliotheken Bei der Klonierung der amplifizierten V-Gene der schweren und leichten Kette findet eine in vitro-Neukombination der beiden V-Regionen statt. Eine bestimmte VH-RegionDNA wird dabei zufällig mit allen VL-Region-DNA-Fragmenten kombiniert. Die theoretisch erreichbare Komplexität der Antikörper-Genbibliothek ergibt sich deshalb durch die Multiplikation der Komplexitäten der VH- und VL-Teilbibliotheken. Dies kann ein gewünschter Effekt sein, wie bei der Herstellung „universeller“ Bibliotheken. Die B-Zellen in unserem Körper können bei ihrer Differenzierung zu einem vorhandenen V-Gen für die schwere Kette maximal einmal das V-Gen für die leichte Kette austauschen. In einer universellen Bibliothek stehen aber gleich alle möglichen Paarungen zur Verfügung. Die Zufallskombinatorik kann jedoch auch nachteilig sein, wenn das Gen für einen bestimmten, schon vorhandenen Antikörper aus dem Blut immunisierter Spender gewonnen werden soll. Die Neukombination der Ketten macht dann auch eine größere Bibliotheksgröße nötig, da die originale Paarung der variablen Domänen aus den B-Zellen in den „falschen“ – oder besser ausgedrückt „nicht originalen“ – Paarungen verdünnt wird. Eine Begrenzung dieser Neukombination ermöglicht hier die Einzelzell-PCR, eine Methode, bei der die Gene für die beiden variablen Domänen bereits in situ, also noch im direkten räumlichen Verbund jeder einzelnen antikörperproduzierenden Zelle, vervielfältigt und dabei verknüpft werden (Embleton et al. 1992; Makeyev et al. 1999). Eine auf dieser Technik basierende Bibliothek wäre ein genauer Abdruck der ursprünglich von dem Spender gebildeten Antikörper. 2.6.1.4 Unglaublich diverse in vitro-Genbibliotheken – Voraussetzung für die Selektion Antikörper können aus sehr unterschiedlichen Antikörpergenbibliotheken isoliert werden. Es gibt einerseits Bibliotheken, die auf ein Zielprotein, einen Erreger oder eine Erkrankung fokussiert sind (Abschn. 2.6.1.5) und andererseits universelle Bibliotheken, die – theoretisch – die Selektion von Antikörpern gegen jedes natürliche, wie auch künst-

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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liche Molekül ermöglichen. Es gibt dazu viele unterschiedliche Typen von universellen Bibliotheken (Abschn. 2.6.1.6 ff.), die auch als „single pot libraries“ bezeichnet werden und sich aufgrund der Herkunft der Antikörpersequenzen in naive, semi-synthetische und synthetische Bibliotheken unterscheiden lassen. Die Diversität von guten universellen Bibliotheken übersteigt 1010 unabhängige Antikörper. Dies liegt zahlreiche Größenordnungen über der Diversität anderer üblicher Expressionsbibliotheken wie z. B. cDNA-Bibliotheken, bei denen meist eine Million Klone völlig ausreichen. Diese enorme Diversität erfordert besondere Methoden und Sorgfalt bei Herstellung, Kultivierung und Nutzung.

2.6.1.5 Antikörpergenbibliotheken von immunisierten Spendern Immunbibliotheken werden aus den B-Zellen aus dem Blut von immunisierten Spendern oder z. B. Patienten konstruiert. Hierbei werden die V-Genabschnitte der leichten und schweren Kette (meist IgG, seltener IgE oder IgA) amplifiziert und in Phagendisplay-Vektoren kloniert. Diese Bibliotheken haben normalerweise eine Größe von 106 bis 108 unabhängigen Klonen. Diese Bibliotheken werden hauptsächlich genutzt, um Antikörper gegen Krankheitserreger zu isolieren. Beispiele sind hier neutralisierende Antikörper gegen das Humane Immunschwächevirus (HIV) aus langzeitüberlebenden Patienten, die neutralisierende Antikörper entwickelt haben und somit kein AIDS bekommen (Trott et al. 2014) oder Antikörper gegen das West-Nil-Virus (Duan et al. 2009). Es können aber nicht nur neutralisierende Antikörper gegen Pathogene isoliert werden, sondern auch Antikörper gegen Krebsmarker, z. B. aus immunisierten Patienten (Thie et al. 2011). Der Vorteil von Bibliotheken aus immunisierten Spendern ist, dass affinitätsgereifte Antikörper selektioniert werden können. Andererseits erhöhen die somatischen Hypermutationen bei der Affinitätsreifung auch die potenzielle Immunogenität dieser Antikörper. Antikörpergenbibliotheken können auch aus immunisierten Tieren konstruiert werden. Hier sind Makaken sehr interessant, da ihre Antikörpergene sehr ähnlich den menschlichen sind (Derman et al. 2016; Hülseweh et al. 2014; Miethe et al. 2016). Transgene Tiere, die das humane Antikörperrepertoire tragen (Abschn. 2.5), können immunisiert werden, um menschliche Antikörperbibliotheken zu konstruieren (Rossant et al. 2014). Dieser Ansatz ermöglicht es, z. B. affinitätsgereifte menschliche Antikörper zu selektionieren, wenn eine Immunisierung von Menschen aus ethischen Gründen nicht möglich ist. 2.6.1.6 Naive, universelle Antikörpergenbibliotheken Für die Konstruktion von naiven Antikörpergenbibliotheken werden die V-Gene der leichten und schweren Ketten (IgM-Repertoire) aus B-Zellen amplifiziert und in Phagendisplay-Vektoren kloniert. Dadurch werden alle Kombinationen von leichten und schweren Ketten verfügbar, auch solche, die bei uns im Körper nicht vorkommen. Naive Antikörpergenbibliotheken haben eine Größe von 109 bis 1011 unabhängigen Klonen. Beispiele hierfür sind die McCafferty Bibliothek (Schofield et al. 2007) oder die humane

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

scFv-Bibliothek HAL9/10 (Kügler et al. 2015). Bei der klonalen Deletion werden B-Vorläuferzellen, die einen Antikörper gegen körpereigene Moleküle produzieren, deletiert (Ausnahme: autoimmune Patienten), und somit können bei einer Immunisierung keine Antikörper gegen körpereigene Moleküle generiert werden. Diese Einschränkung wird durch die Neukombination von leichter und schwerer Kette umgangen und so können humane Antikörper gegen humane Zielmoleküle in vitro selektioniert werden. Ein weiterer Vorteil ist, dass alle genutzten V-Gene schon einmal im Menschen exprimiert wurden und dadurch die Gefahr von potenziell immunogenen Antikörpern bei späterer therapeutischer Verwendung geringer ist. Die naive Aminosäureverteilung in der CDRH3 ändert sich bei der Selektion von Antikörpern aus diesen Bibliotheken nicht. Dies zeigt, dass das vollständige naive CDRH3-Repertoire auch in selektionierten, nützlichen Antikörpern genutzt wird (Kügler et al. 2015). Die Affinität bei Antikörpern aus naiven Bibliotheken ist manchmal geringer als aus Immunbibliotheken, trotzdem wurden aus naiven Bibliotheken Antikörper mit bis zu picomolaren Affinitäten selektioniert (Schwimmer et al. 2013). Wenn die Affinität und Stabilität der selektionierten Antikörper nicht ausreicht, können diese nachträglich mittels Phagendisplay durch Affinitätsreifung (Abschn. 3.3) und Stabilitätsreifung (Abschn. 3.4) verbessert werden (Thie et al. 2011; Steinwand et al. 2014; Frenzel et al. 2017).

2.6.1.7 Semi-synthetische, universelle Antikörpergenbibliotheken Semi-synthetische Antikörpergenbibliotheken haben eine definierte Gerüstregion (framework). Dies kann ein bekannter Antikörper sein (Barbas et al. 1992) oder häufiger sind es die stabilen Gerüstregionen IGHV3-23 (VH, schwere Kette) und IGKV1-39 (Vκ, leichte Kappa-Kette) (de Wildt et al. 2000). In diese stabilen VH- und VL- Gerüstregionen werden zufällige CDR-Sequenzen integriert. Dies geschieht meist nicht mit allen CDR. Bei der Tomlinson-Bibliothek sind die CDR2s und CDR3s randomisiert (de Wildt et al. 2000), bei der Pini-Bibliothek nur die CDR3s (Pini et al. 1998) und bei der ersten semi-synthetischen Bibliothek nur die CDRH3 (Barbas et al. 1992). Ein anderer Ansatz liegt in der n-CoDeR-Library vor. Hier wurden alle sechs natürlichen CDR aus B-Zellen amplifiziert und in eine definierte Antikörpergerüstregion kloniert (Söderlind et al. 2000). Auch wenn semi–synthetische Bibliotheken nur jeweils eine Gerüstregion für VH und VL enthalten, könnten aus diesen Bibliotheken Antikörper gegen theoretisch alle möglichen Zielmoleküle selektioniert werden. Die CDRH3 ist die diverseste CDR und somit am wichtigsten für die Antigenbindung (Abschn. 1.4). Es gibt jedoch die Beobachtung bei einer semi-synthetischen Bibliothek, dass eine identische CDRH3 an der Bindung von zahlreichen unterschiedlichen Antigenen beteiligt ist, die Spezifität aber hauptsächlich auf CDRL3 basiert (Persson et al. 2013). In naiven, semi-synthetischen und synthetischen Bibliotheken werden sehr diverse CDR genutzt, die für die Antigenbindung verantwortlich sind. Es gibt jedoch auch ein Beispiel für semi-synthetische Bibliotheken, in denen an den CDR-Positionen nur vier Aminosäuren (Tyrosin, Serin, Alanin, Aspartat) (Fellouse et al. 2004) oder sogar nur zwei unterschiedliche Aminosäuren (Tyrosin, Serin) (Fellouse et al. 2005)

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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v­ orkommen und aus diesen Bibliotheken funktionale Antikörper gegen unterschiedliche Antigene selektioniert wurden. Am wichtigsten für die Antigenbindung scheint aufgrund des beobachteten Vorkommens in Paratopen, insbesondere in der CDRH3, die Aminosäure Tyrosin zu sein (Fellouse et al. 2006; Zemlin et al. 2003).

2.6.1.8 Vollständig synthetische, universelle Antikörpergenbibliotheken Komplett synthetische Antikörpergenbibliotheken bestehen aus synthetisierten Gerüstregionen und synthetischen CDR. Die ersten Versuche, solche synthetischen Bibliotheken herzustellen, wurden erstmals 1990 beschrieben (z. B. US Patent 5840.479). Hayashi et al. (1994) stellten die CDR mittels randomisierter Primersequenzen her. Wenn in die Primer für die CDR zufällige Sequenzen (NNN)n für die Tripletts eingebaut werden, entstehen zum Teil Stoppcodons (TAA, TAG, TGA) in den CDR-Abschnitten, was zu nicht funktionalen Antikörperfragmenten führt. Wenn man an der dritten Stelle des Tripletts auf das Vorhandensein von A und G verzichten würde, etwa in der Sequenz (NNY)n, wobei Y = C oder T, dann würden keine Stoppcodons mehr auftreten, aber einige Aminosäuren würden fehlen. Ein Kompromiss ist (NNB)n, wobei B = G oder C oder T. Hier würde nur noch das Amberstoppcodon TAG auftreten können und alle Aminosäuren wären codiert. Die Alternative ist die Nutzung der Trinucleotidsynthese zur Herstellung der PCR-Primer. Da dabei die Synthese in Triplettblöcken erfolgt, können die Stoppcodons komplett vermieden werden, und auch die Verteilung der Tripletts und damit der Aminosäuren lässt sich exakt steuern. Dieser Ansatz wurde bei der HuCAL-Bibliothek (Knappik et al. 2000), genutzt. Bei dieser Bibliothek wurden 49 Gerüstregionen genutzt und die randomisierten CDR3s der schweren und leichten Kette mittels Trinucleotidsynthese synthetisiert und in die Gerüstregionen kloniert. Im nächsten Entwicklungsschritt wurden alle sechs CDR randomisiert und in sieben VH-Gerüstregionen und sieben VL-Gerüstregionen kloniert (Rothe et al. 2008). In den menschlichen Antikörpergenen kommen jedoch in den CDR nicht alle Aminosäuren an allen Positionen in den CDR vor. Dies könnte dazu führen, dass die aus diesen Bibliotheken selektionierten Antikörper immunogen sind. In späteren synthetischen Bibliotheken wurden die CDR nicht mehr vollständig randomisiert, sondern an den einzelnen CDR-Positionen wurden nur Tripletts für die Aminosäuren genutzt, die an dieser Stelle auch im Körper vorkommen (Prassler et al. 2011; Tiller et al. 2013). Dazu kamen noch weitere Optimierungen, z. B. die Beschränkung auf Gerüstregionen, die gut in E. coli und in Säugetierzellkultur exprimiert werden können. Dennoch unterscheiden sich synthetische Bibliotheken durch die Herkunft insbesondere der CDR-Sequenzen grundlegend von „naiven“, also aus menschlichem Genmaterial hergestellten Bibliotheken in Bezug auf die Tatsache, dass nur Letztere bereits einem „Kompatibilitätscheck“ durch das menschliche Immunsystem in Bezug auf Kompatibilität, Polyreaktivitäten und Toleranz durch das Immunsystem unterzogen wurde. Therapeutisch sind deshalb mittlerweile deutlich mehr Antikörper aus naiven Genrepertoires im klinischen Einsatz.

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

2.6.1.9 Domänen-Antikörper der Kamele (VHH)

Anfang der Neunziger Jahre wurden in einem Studentenpraktikum in Brüssel Immunglobuline aus dem Blut von verschiedenen Tieren isoliert und analysiert. Eine Studentengruppe, die Blut von einem Kamel bekommen hatte, konnte neben normalen IgG auch eine IgG-Fraktion mit einer geringeren Molekularmasse von etwa 100 kDa isolieren (persönliche Mitteilung S. Muyldermanns). Bei dieser Antikörperfraktion fehlte die komplette leichte Kette, und bei der schweren Kette fehlte die CH1-Region. Bei solchen Antikörpern bindet ausschließlich die variable Domäne der schweren Kette an das Antigen. Bei der Antigenbindung sind somit statt sechs CDR nur drei beteiligt. Diese kleinste antigenbindende Domäne wird als VHH oder „Nanobody“ bezeichnet und ist nur etwa 12–13 kDa groß. Die Sequenzen von Kamel-VHH und Kamel-VH, die mit einer VL gepaart sind, unterscheiden sich deutlich. Bei „normalen“ Kamel-VH gibt es eine hydrophobe Kontaktfläche zur VL, in diesem Bereich sind bei den VHH sechs Aminosäuren verändert, sodass sie auch ohne VL löslich sind und nicht aggregiert. Ein weiterer Unterschied ist die Länge der CDRH3, sie ist im Durchschnitt bei VHH wesentlich länger (Hamers-Casterman et al. 1993; Muyldermans et al. 1994; Nguyen et al. 2000). Phagendisplaybibliotheken aus immunisierten Kamelen oder Lamas ermöglichten die Generierung von spezifischen VHH (Arbabi Ghahroudi et al. 1997). VHH sind interessant, da sie als Domänen-Antikörper sehr klein sind und z. B. Tumoren oder andere Gewebe penetrieren können. Auch für die Blockade oder Aktivierung von Rezeptoren sind häufig VHH ausreichend und keine IgG nötig. Der Nanobody Caplacizumab ist gegen den Von-Willebrand-Faktor gerichtet und wurde 2018 als erster humanisierter VHH für die Behandlung von thrombotisch-thrombocytopenischer Purpura, einer Krankheit, bei der Blutgerinnsel entstehen können, zugelassen. Eine ganze Reihe von VHH sind in der klinischen Erprobung. Ein Beispiel ist Ozoralizumab, gerichtet gegen TNF-α, als eine Alternative zum humanen IgG Adalimumab für die Behandlung von rheumatischer Arthritis. Interessant ist der VHH ALX0171. Dieser Antikörper ist gegen das Respiratory Syncytial Virus (RSV) gerichtet und wird als Spray in die Lunge verabreicht, hierfür sind kleine Antikörperfragmente offenbar auch besser geeignet als IgG. Dies ist die erste Anwendung, bei der die Antikörper nicht i. v. injiziert werden.

2.6.1.10 Human-Domänen-Antikörper Eine Alternative zu VHH sind Human-Domänen-Antikörper (dAbs) (Holt et al. 2003). Bei Antikörpern bindet das Fv-Fragment, also VH und VL, an das Antigen. Es gibt aber auch Antikörper, bei denen nur die VH maßgeblich zur Antigenbindung beiträgt und auch als allein produziertes VH-Fragment binden kann (Ward et al. 1989). Mit Hilfe der Sequenzinformationen von Kamel-VHH gelang es, die ersten humanen Domänen-Antikörper Bibliotheken zu konstruieren. Hierfür wurden Mutationen an drei VH-Positionen der Kontaktfläche zur VL vorgenommen, um die Domänen unabhängig vom Vorhandensein einer VL löslich produzieren zu können. Es wurde also eine „Kamelisierung“ einer menschlichen VH-Domäne vorgenommen (Davies und Riechmann 1995). Diese „Kamelisierung“ führte allerdings zu einer reduzierten Produktionsrate und einer geringeren

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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Stabilität. Es zeigte sich jedoch, dass es möglich war, dAbs ohne zusätzliche Mutationen in der Kontaktfläche zu VL zu generieren, die auf der humanen VH3-23-Gerüstregion basieren. Diese Gerüstregion ist auch die in der menschlichen Immunantwort an häufigsten genutzte Gerüstregion. Diese VH3-23-Gerüstregion in Kombination mit dem JH4-Segment wurde auch für eine semi-synthetische Phagendisplaybibliothek genutzt, bei der alle drei CDR randomisiert wurden (Jespers et al. 2004a, b). Chen und Kollegen haben eine sehr große (~1010 unabhängige Klone) VH-Bibliothek konstruiert. Das Besondere hierbei ist, dass in einer VH-Gerüstregion in den CDRH2- und CDRH3-Regionen natürliche menschliche CDRH2- bzw. CDRH3-Regionen und an der CDRH1-Position menschliche CDR3-Regionen der leichten Kette (CDRL3) eingebaut wurden, da die CDRL3 wesentlich diverser ist als CDRH1 (Chen et al. 2010). Neben dAbs auf der Basis einer VH-Domäne wurden auch erfolgreich dAbs auf Basis einer leichten VH-Kappa-Domäne generiert (Holt et al. 2008). Human-Domänen-Antikörper befinden sich auch in der klinischen Erprobung, z. B. GSK2862.277 (Cordy et al. 2015).

2.6.1.11 Antikörper aus Haien Bei Antikörpern aus Haien, „immunoglobulin new antigen receptor, IgNAR“ genannt, fehlt wie bei einigen Kamelantikörpern die leichte Kette und es existiert somit nur die variable Region der schweren Kette für die Antigenbindung. Diese variable Region wird bei Haien variable new antigen receptor (vNAR) genannt. Analog zu den Kamelantikörpern fehlt auch hier die CH1-Region. Eine weitere Besonderheit ist die Anzahl von fünf konstanten Domänen der schweren Kette im Fc-Teil. Bei einem IgG, IgD, IgM und IgA von Säugetieren sind es zwei, bzw. beim IgE drei konstante Domänen im Fc-Teil. Hai-Antikörper sind sehr stabil gegen Denaturierung, denn Knorpelfische nutzen Harnstoff im Blut zur Osmoregulation. Knorpelfische sind über 500 Mio. Jahre alt. Diese ursprünglichen Immunglobuline bieten deshalb auch einen Blick auf die Anfänge der Evolution des adaptiven Immunsystem (Feige et al. 2014; Zielonka et al. 2015). Als erstes haben Australier die vNARs von Teppichhaien (wobbegongs) biotechnologisch genutzt. Steve Nuttal und Kollegen in Melbourne haben eine vNAR-Bibliothek aus dem naiven vNAR-Repertoire mit randomisierten CDR3-Sequenzen kombiniert und erfolgreich Bindermoleküle selektioniert (Nuttall et al. 2001). Bisher wurden immune, naive und semi-synthetische vNAR-Bibliotheken aus Teppichhaien, Ammenhaien, Marderhaien, Bambushaien und Dornhaien konstruiert (Zielonka et al. 2015). 2.6.1.12 Alternative Scaffolds In den 1990er Jahren wurden zahlreiche alternative Bindemoleküle als Ersatz für Antikörper vorgeschlagen und erprobt. Der Grund hierfür war meist die Patentsituation im Bereich der rekombinanten Antikörper, die durch wenige Firmen kontrolliert wurde. Eine weitere Motivation war, Bindemoleküle zu entwickeln, die andere Eigenschaften als Antikörper haben, z. B. bessere Produzierbarkeit in prokaryotischen Vektorsystemen. Zwei Beispiele für alternative Bindemoleküle sind Anticaline und DARPins.

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Anticaline basieren auf Lipocalinen. Dies sind etwa 18 kDa große Proteine, die im Blut von Menschen und Tieren u. a. kleine Molekülen transportieren. Der Mensch hat 12 verschiedene Lipocaline. Ähnlich wie Immunglobulindomänen bestehen sie aus einem „Fass“, gebildet von Beta-(β-)Faltblättern, aus denen loops ragen, sind aber keine Immunglobulindomänen. Bei Antikörpern sind es drei loops, die an der Antigenbindung beteiligt sind, bei Lipocalinen stehen vier loops, die verändert werden können, zur Verfügung. Anfangs wurde das Lipocalin Billin-Bindeprotein (BBP) aus dem Großen Kohlweißling genutzt, später wurden humane Anticaline verwendet, u. a. Lipocalin aus Tränenflüssigkeit, und randomisierte Sequenzen in die loop-Regionen eingeführt. Aus diesen Bibliotheken wurden mittels Phagendisplay (Abschn. 2.6.2) Bindermoleküle gegen zahlreiche Zielstrukturen isoliert (Hohlbaum und Skerra 2007; Skerra 2007). Lipocaline sind auch geeignet, um hochaffine therapeutische Bindemoleküle zu entwickeln, z. B. gegen VEGF (Richter und Skerra 2017). Eine ganz andere Grundstruktur als in Antikörpern oder Anticalinen wird in sogenannten Repeatmolekülen genutzt. Hier wurden als Grundstrukturen Leucin-reiche Repeatmoleküle (LRR) (Stumpp et al. 2003) und Ankyrin-Repeats (Binz et al. 2003) entwickelt, letztere wurden später als DARPins (designed ankyrin repeat proteins) vermarktet. Diese Moleküle bestehen aus sich wiederholenden Proteinabschnitten, die an das Antigen binden. In der Biologie wird selten etwas komplett neu erfunden, das Grundprinzip dieser Moleküle wird auch von den Kieferlosen seit mehreren Hundertmillionen Jahren als alternative Bindermoleküle des Immunsystems genutzt (Pancer und Cooper 2006). Für das DARPin-Design wurden hunderte Ankyrin-Repeatmoleküle als Vorlage genutzt, um zu einem Konsensusbaustein zu kommen, der eine große Übereinstimmung mit dem humanen GA-bindenden Protein hat. Für die DARPins werden zwei invariante Repeatmoleküle am Carboxy-(C-) und Amino-(N-)Terminus genutzt und dazwischen drei Repeatmoleküle, in die randomisierte Aminosäuren eingebaut werden können (Stumpp et al. 2008). DARPins gegen VEGF befinden sich zur Behandlung von altersbedingter Makulardegeneration (AMD) in der klinischen Testung (Plückthun 2015).

2.6.2 Die Oberflächenexpression von Antikörpergenen ermöglicht eine klonale Selektion in vitro In den vorangegangenen Abschnitten haben wir gesehen, dass die Bereitstellung von enorm diversen Gensammlungen für Antikörper heute technisch lösbar ist und es unzählige Konzepte gibt, die eine Vielfalt an Bibliotheken hervorbrachten. Weit schwieriger aber war es, das zweite Element der Antikörperantwort in einem in vitro-System zu verwirklichen: die Auswahl des gewünschten Antikörpers aus der enormen Antikörpervielfalt, d. h. die klonale Selektion. Anfangs wurde versucht, dies durch Ausplattieren einer großen Anzahl von antikörperproduzierenden Klonen auf Mediumplatten zu erreichen, aber diese Methode ermöglicht kaum die Selektion aus 106 oder mehr Klonen (Huse et al. 1989). Zudem

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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­ erden die Antikörperfragmente bei dieser Methode an Membranen gebunden und w dadurch oft denaturiert. Um also den Zugriff auf ein Antikörper-Genrepertoire zu ermöglichen, das in etwa dem menschlichen entspricht, wurde ein verbessertes Selektionssystem benötigt. Wieder half das Vorbild der Natur. Ein menschlicher B-Lymphocyt präsentiert „seinen“ Antikörper zunächst membrangebunden auf der Oberfläche (Abb. 1.9). Kommt es zum Kontakt mit dem spezifischen Antigen, wird der B-Lymphocyt aktiviert, er beginnt sich zu vermehren. Diese Vervielfältigung einer spezifischen Zelle aus der Masse des B-Lymphocyten-Pools heraus nennt man klonale Selektion, denn dadurch entsteht eine große Zahl von Abkömmlingen einer einzigen Zelle, ein Klon. Das entscheidende Prinzip lag also in der physischen Verbindung des Antikörpers mit seinem codierenden Gen. Analog zum B-Lymphocyt trägt der Antikörper sein eigenes Gen „huckepack“. Eine Bindung an das Antigen ermöglicht dann eine selektive Vermehrung dieser Partikel. Erstmals gelang dies durch die Adaption der Methode des Phagendisplays für Antikörper durch McCafferty et al. 1990; Breitling et al. 1991 und andere. Die herausragende Bedeutung des Antikörperphagendisplays wurde mit dem Nobelpreis für Chemie 2018 gewürdigt. Mittlerweile gibt es auch weitere Ansätze: Antikörperfragmente wurden dafür mit Oberflächenproteinen von Bakterien, Retroviren, Baculoviren oder Säugetierzellen fusioniert – alle beruhen auf einer Kombination jeder einzelnen Antikörperspezifität (in Form des produzierten Proteins) mit dem codierenden Gen in einem selektionierbaren Partikel.

2.6.2.1 Was sind filamentöse Phagen? Phagen sind Viren, die Bakterien infizieren können. Am bekanntesten sind hier wohl die T-Phagen und der Phage Lambda (λ). Anfang der 1960er Jahre wurden die filamentösen Phagen von Hartmut Hoffmann-Berling in Proben entdeckt, die er bei einem Essen mit seiner Familie von einem Misthaufen nahe dem Heidelberger Restaurant Bierhelderhof genommen hat. Den entdeckten Phagen nannte er fd, später wurden noch die sehr nahe verwandten Phagen F1 und M13 entdeckt. Das Besondere an den filamentösen Phagen ist, dass sie im Gegensatz zu Lambda und den T-Phagen nicht lytisch sind. Sie vermehren sich in E. coli und werden kontinuierlich von den Bakterienzellen produziert und freigesetzt. Dabei reduziert sich zwar die Vermehrungsgeschwindigkeit von E. coli, aber die Zellen überleben. Somit verursachen diese Phagen auch keine Plaques, sondern sind auf Agarplatten mit einem E. coli-Rasen nur temporär als Bereiche mit vermindertem E. coli-Wachstum zu erkennen. Der komplette Vermehrungszyklus dieser Phagen ist in Abb. 2.5 dargestellt. Die Phagen binden mittels des Phagenproteins 3 (pIII) an die F-Pili von E. coli und ihre einzelsträngige DNA gelangt in die Zellen. Da diese Phagen E. coli nur über einen F-Pilus infizieren können, wird diese Phagengruppe als Ff-Phagen bezeichnet, wobei Ff für F-spezifische filamentöse Phagen steht. Im bakteriellen Cytoplasma wird die DNA mittels des rolling circle-Mechanismus vermehrt und die auf dem Genom liegenden Gene werden transkribiert und translatiert. Die neue DNA (6408 bp beim fd-Phagen) wird im Cytoplasma erst von pV gebunden und in das Periplasma transportiert, und hier findet die Verpackung statt. Diese beginnt mit der Bindung

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Abb. 2.5   Lebenszyklus der filamentösen Phagen (links, rotes Genom) und seine Verknüpfung mit der Verpackung eines unabhängig replizierenden Phagemids (rechts, schwarzes Genom), wie es für die erfolgreichste Variante des Phagendisplay von Antikörpern eingesetzt wird. Bei der Herstellung von Antikörperphagen wird stets ein Gemisch beider Genome eingebaut, welche aber später aufgrund unterschiedlicher Resistenzgene unterschieden werden können. Die Phagenproteine sind mit römischen Ziffern durchnummeriert

der Phagenproteine pVII und pIX an eine Signalsequenz und anschließend wird die DNA mit etwa 2880 Haupthüllproteinen pVIII bedeckt. Dieses Protein bedeckt die DNA wie übereinander liegende Dachschindeln. Abschließend wird das andere Ende der DNA mit den Proteinen pVI und pIII verschlossen. Die Ff-Phagen sind etwa 930 nm lang und etwa 6,5 nm im Durchmesser (Marvin et al. 2014; Specthrie et al. 1992). Sehr wichtig für die biotechnologische Nutzung dieser Phagen ist das pIII, da es für die Infektion essenziell ist und auch für die Fusion mit anderen Proteinen – eben Antikörperfragmenten – genutzt werden kann.

2.6.2.2 Funktionelle Antikörperfragmente können auf Phagen präsentiert werden George P. Smith gelang es 1985, ein fremdes Peptid auf der Oberfläche des f1-Phagen zu präsentieren. Er nannte diese Phagen Fusionsphagen. Das Peptid entsprach einem Epitop aus dem Antigen eines Antikörpers und er konnte aus einem Gemisch mit einem Über-

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

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schuss von anderen Phagen die Fusionsphagen mit Hilfe des Antikörpers anreichern. Für die Fusion hat er die das Peptid codierende Gensequenz in das Phagengenom im gleichen Leseraster vor das Gen für das minor coat protein pIII (gIIIp) kloniert. Da die genetische Information für das Peptid/Antigen in dem Phagen verpackt ist, der auf der Oberfläche das Fusionsprotein trägt, sind somit der Genotyp und der Phänotyp gekoppelt (Smith 1985). Die Methode heißt heute allgemein Phagendisplay und brachte George P. Smith 2018 einen wohlverdienten Nobelpreis. Beim „Antikörperphagendisplay“ werden Antikörperfragmente, meist Fab- oder scFv-Fragmente, auf der Oberfläche von Phagen präsentiert. Dies wurde zum ersten mal 1989 für den Phagen Lambda publiziert (Huse et al. 1989). Da der Phage Lambda ein lytischer Phage ist, ist die Handhabung der Antikörperselektion (Panning) und der Bibliotheken umständlich. Deshalb hat sich der Phage Lambda für das Phagendisplay nicht als praktisch durchgesetzt. Erfolgreich war das Antikörperphagendisplay mit filamentösen Phagen. 1990 wurde das fd-Phagen-Antikörperphagendisplay von John McCafferty und Kollegen publiziert und erfolgreich ein Anti-Lysozym-Modell-scFv aus einen Phagengemisch angereichert. Hier wurde, wie auch bei Smith 1985, das Fremdgen in das Phagengenom vor dem gIII integriert (McCafferty et al. 1990). Wenn das Fremdgen in das Phagengenom integriert wird, ist die Vermehrung der Bakterien bzw. der Antikörperbibliothek auch immer mit einer Phagenproduktion verbunden. Dies ist ein Nachteil bei der Vermehrung der Bibliothek, da Bakterien, die keine Antikörper produzieren, einen Selektionsvorteil haben und sich schneller vermehren. Eine Lösung für das Problem waren Phagemide. Phagemide sind Plasmide, die ein Verpackungssignal für Phagen besitzen. Dieses Antikörperphagendisplaysystem wurde von Breitling und Dübel erstmals entwickelt (Breitling et al. 1991) und wird heute fast ausschließlich genutzt, da das Fremdgen, z. B. ein scFv-Gen, unter der Kontrolle eines induzierbaren Promotors, in Fusion mit dem pIII (Gen 3-Produkt, g3p) auf dem Phagemid codiert wird und so die Produktion von Antikörpern und die Vermehrung von Genbibliotheken komplett von der Phagenproduktion entkoppelt (Abb. 2.6). Phagemide sind kleiner als das Phagengenom, dies erleichtert auch die Klonierung von großen Antikörpergenbibliotheken. Um Antikörperphagen zu produzieren, ist dann neben dem Phagemid, das lediglich das Fusionsprotein aus dem Antikörperfragment und pIII codiert, noch ein Helferphage nötig. Der Helferphage (meist M13KO7 oder Hyperphage, Abschn. 2.6.2.4) enthält das komplette Phagengenom mit einem mutierten Verpackungssignal. Für die Produktion der Antikörperphagen müssen die Bakterien, die das Phagemid bereits tragen, nur noch mit dem Helferphagen infiziert werden. In den meisten Fällen enthält das Phagemid eine Ampicilinresistenz und die Helferphagen tragen eine Kanamycinresistenz, um sicherzustellen, dass die Bakterien beim Schritt der Antikörperphagenproduktion das Phagengenom und das Phagemid tragen (Abb. 2.6). Spezielle Phagemidsysteme erlauben es auch, die Expression gezielt zu steuern, also zwischen „keiner“ Produktion (genauer, einer möglichst geringen basalen Expression des l­öslichen Antikörperfragments und des Fusionsproteins), der Produktion von löslichen Antikörpern (nach IPTG-Induktion) oder der Antikörperphagenproduktion (Infektion mit Helferphagen) zu wechseln (Kirsch et al. 2005).

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Sekretionssignal

scFv-Antik rpergen

induzierbarer Promoter

F-Pilus

E. coli

VH-Gen VL-Gen pIII-Gen Linker

FPlasmid

M13KO7 M13 KO7

Phagemid intergenic region

starker Replikationsorigin

Pilin-Gen

Infektion

Ampicillinresistenzgen

AntigenBindungsfunktion

pIII

scFv-Antik rpergen pIII-Gen

VL

Phagemid

VH Ph notyp

Kanamycinresistenz

schwacher Replikationsorigin in intergenic region (dadurch wird bevorzugt Phagemid verpackt)

Phagenproduktion ( Verpackung ) scFvAntik rperfragment

Helferphagengenom mit Genen f r alle pIII Phagenproteine

Phagenh lle

Antik rperphage (bereit f r das panning) Enth lt Antik rper-DNA pr sentiert Antik rper auf der Oberfl che (display) Ampicillinresistenz

Genotyp

Abb. 2.6   Phagemide sind Plasmide, die zusätzlich ein Verpackungssignal der filamentösen Phagen besitzen. In Anwesenheit eines Helferphagen wird die Phagemid-DNA in Phagenpartikel eingebaut. Wird dabei gleichzeitig das Fusionsprotein scFv-pIII induziert, so entstehen Phagenpartikel, die ein Antikörperfragment auf der Oberfläche verankern (unten) und damit die physische Verbindung von Genotyp und Phänotyp (Antigenspezifität) eines Antikörpers gewährleisten. pIII gewährleistet auch die Infektiosität durch Bindung an die F-Pili der Bakterien

Auch das Haupthüllprotein pVIII und die Phagenproteine pVII und pIX auf der pIII gegenüberliegenden Seite des Phagen wurden für das Antikörperphagendisplay vorgeschlagen (Gao et al. 2002; Kwaśnikowski et al. 2005). Praktische Nutzung erlangten sie aber nicht – große Bibliotheken funktionieren bisher nur in pIII-Fusionssystemen wirklich gut.

2.6.2.3 Selektion von Antikörpern durch „Panning“ Die Selektion von Antikörpern mittels Phagendisplay in vitro kann mit der Selektion von B-Zellen bei der Immunantwort in vivo verglichen werden. Wenn eine B-Zelle aus der großen Vielfalt von naiven B-Zellen, die auf das passende Antigen warten, mit dem B-Zell-Rezeptor an das passende Antigen bindet, wird diese B-Zelle aktiviert (klonale Selektion) und vermehrt sich (klonale Expansion). Beim Antikörperphagendisplay ist der Ablauf ähnlich, die Antikörperphagen werden mit dem Antigen in vitro inkubiert und die Antikörperphagen, die an das Antigen binden, werden selektioniert und vermehrt. Den eigentlichen Selektionsschritt nennt man „Panning“ – abgeleitet von der Goldwäscherpfanne (Abb. 2.7). In der Tat findet man ja auch beim Phagendisplay winzige Mengen aus jeder Menge Abraum – die Bindung eines einzigen Antigenmoleküls durch

+ Antik rperphagenHerstellung

Phagengenom

Helferphage

Anreicherung am Antigen

2-3x wiederholen

Antigen

scFvFragment

Trypsin

Elution

Elution der durch Antigenbindung angereicherten Antik rper-Phagen

Antik rperDNA

Inkubation von Wegwaschen 109 verschiede- ungebundener Phagen nen Antik rperPhagen mit Antigen

Panning

Infektion

Sequenzierung + Klonierung in andere Formate

Screening

Abb. 2.7   Phagendisplay. Die drei Schritte zur Selektion von Phagen-Antikörpern aus einer Antikörperbibliothek

Klonierung in E. coli

109 verschiedene Antik rpergene im Phagemidvektor eingebaut (Genbibliothek)

Antik rper-Genbibliothek

E. coli

EinzelklonSelektion (ELISA)

IgG

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas 47

48

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

einen einzigen Antikörperphagen im Panninggefäß kann bereits wegen der enorm effizienten Reinfektion zur erfolgreichen Identifikation der zugehörigen Antikörpersequenz führen – Phagendisplay ist in diesem Sinne auch eine Einzelmolekülnachweismethode! Eine sehr häufig genutzte Variante ist das Panning in Mikrotiterplatten, woran wir den gesamten Vorgang in der Folge darstellen. Bei dieser Methode werden die Antigene zuerst in einer Vertiefung einer Mikrotiterplatte immobilisiert. Anschließend werden die vorher hergestellten Antikörperphagen der Bibliothek, welche jeder ein unterschiedliches Antikörperfragment auf ihrer Oberfläche immobilisiert tragen (also die „Antikörperphagenbibliothek“) in diese Vertiefung gegeben und so mit dem Antigen inkubiert. Aus dieser unglaublich diversen Mischung werden nun einige wenige Phagenpartikel durch spezifisch, also „korrekt“ an das Antigen gebundene Antikörperfragmente festgehalten. Deshalb kann man danach die nicht gebundenen Antikörperphagen auswaschen und die nun stark angereicherten gebundenen Phagen eluieren. Diese Elution kann durch eine Änderung des pH-Wertes zu 2 oder 11 oder durch die Protease Trypsin erfolgen (wie beispielhaft in Abb. 2.7 gezeigt) erfolgen. Letztere Elutionsmethode durch Proteolyse hat den Vorteil, dass durch die Entfernung des Antikörpers quasi ein Wildtyp-pIII-Phänotyp wiederhergestellt wird und somit das pIII besser an die F-Pili von E. coli binden und zur Reinfektion führen kann. Trypsin schneidet aber nicht die anderen Phagenproteine, schließlich leben diese Phagen normalerweise direkt im Verdauungssystem. Es wird dadurch auch die oft beobachtete Beeinträchtigung der Infektiosität der Phagen durch den stark sauren bzw. basischen pH vermieden. Die eluierten Phagen werden genutzt, um eine logarithmisch wachsende E. coli-Kultur zu infizieren (nur in der logarithmischen Phase werden die dafür notwendigen F-Pili ausgebildet). Damit bekommt jeder einzelne Phage samt dem in seinem Inneren bevorzugt verpackten Antikörperphagemid die Möglichkeit, klonal zu expandieren – analog zum Wachstum der B-Zellen nach Antigenstimulation. Danach ist die Kultur wieder bereit, neu mit Helferphagen zu infiziert werden, um neue Antikörperphagen zu produzieren. Dieses Gemisch von amplifizierten Phagen, in dem die Antikörpergene auf dem gewünschten Antigen angereichert wurden, kann nun für eine nächste Panningrunde auf dem Antigen genutzt werden. Es werden normalerweise zwei bis drei Panningrunden durchgeführt, bis ausreichend Antikörperphagen gegen das gewünschte Antigen angereichert wurden. Mehre Panningrunden sind nötig, um die spezifischen Antikörperphagen aus dem gigantischen Überschuss an anderen Antikörperphagen anzureichern (Russo et al. 2018a). Pro Runde nimmt man Anreicherungsfaktoren von 1000 bis 10.000 an. Beim Einsatz einer initialen Sequenzdiversität von > 1010 benötigt man deshalb mehrerer Runden. Neben der direkten Immobilisierung in Mikrotiterplatten gibt es zahlreiche Alternativen. Die Antigene können auch an wenige Mikrometer große Kügelchen („beads“) immobilisiert werden, denn deren Oberfläche ist bei gleichem Volumen der Inkubation wesentlich größer als die einer Mikrotiterplattenvertiefung („well“). Häufig wird auch mit biotinylierten Antigenen, meist Proteine oder Peptide, gearbeitet. Diese können an Streptavidin in Mikrotiterplatten oder auf Beads gebunden werden. Zum Panning „in

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

49

Lösung“ wird das biotinylierte lösliche Antigen zunächst mit der Antikörperphagenbibliothek in einem Reaktionsgefäß gemischt. Nach einer Inkubationszeit werden Streptavidinbeads hinzugefügt und somit kann das biotinylierte Antigen mit den gebundenen Antikörperphagen gefangen werden („pull-down“). Wenn Antikörper gegen Membranproteine oder andere Proteine auf der Zelloberfläche hergestellt werden sollen, kann ein Panning direkt auf Zellen durchgeführt werden. In Kombination mit einem FACS-System können auch Zellen isoliert werden, an die die Antikörperphagen gebunden haben. Im Vergleich zur Immunisierung von Tieren können bei der in vitro-Selektion ganz gezielt Antikörper selektioniert werden, die z. B. eine gewünschte Proteinkonformation, die Anwesenheit eines Liganden, eine spezifische Phosphorylierung oder andere posttranslationale Modifikationen erkennen (Abb. 2.8). Dazu kann man die Reaktion während der Anreicherung der Phagen vielfältig biochemisch steuern. Häufig wird direkt beim Panning die Spezifität bereits „vorprogrammiert“, indem lösliche Kompetitoren zugegeben werden. So kann man durch Zugabe von Antikörpern gegen das gleiche Antigen nur solche neuen Antikörper gewinnen, welche ein anderes Epitop binden (Abb. 2.8b). Ganz entsprechend selektioniert man beim Panning unter Zugabe eines naheverwandten Antigens zu der Inkubationslösung nur Antikörper, die mit diesem löslichen Antigen nicht kreuzreagieren (Abb. 2.8c). Eine Alternative dazu ist die Präinkubation auf dem unerwünschten Antigen (Abb. 2.8d). Sucht man einen Antikörper, der nur eine bestimmte Konformation/Modifikation eines Proteins bindet, kann die Bibliothek erst gegen die nicht-gewünschte Konformation/Modifikation abgereichert werden und anschließend wird eine Selektion auf die gewünschte Konformation/ Modifikation durchgeführt (Abb. 2.8e). Somit können bei der in vitro-Selektion ganz gezielt Antikörper gegen gewünschte Proteinvarianten selektioniert werden. Da die biochemischen Bedingungen bei der in vitro-Selektion eingestellt werden können, lassen sich auch Proteine selektionieren, die z. B. bei einem bestimmten pH-Wert, Salzkonzentration oder Temperatur binden, bzw. nicht binden (Abb. 2.8f). Auf die Erkennung gemeinsamer Strukturen verschiedener Moleküle selektioniert man durch sequenzielles Panning auf diesen Strukturen. So kann man Antikörper gewinnen, die sowohl das korrekt gefaltete gesamte Antigen wie auch ein bestimmtes Epitop-Peptid daraus binden (Abb. 2.8g). Der analoge Ansatz eignet sich sogar zur funktionellen Identifikation von gemeinsamen Strukturen bei ansonsten ganz verschiedenen Antigenen (Abb. 2.8h). Phagendisplay erlaubt es auch, Antikörper gegen nicht immunogene Strukturen wie hochkonservierte Proteine oder kleine Moleküle herzustellen, da das in vitro-Panning nicht den Restriktionen des Immunsystems unterliegt (Bradbury et al. 2011; Frenzel et al. 2012, 2017).

2.6.2.4 Der Hyperphage verbessert das Panning Die bis zur Jahrtausendwende verwendeten Phagendisplaysysteme hatten ein intrinsisches Problem, welches ihre Effizienz stark verringerte. Die Antikörperfragmente sind an das Hüllprotein pIII fusioniert und das Gen für diese Fusion liegt auf dem Phagemid, und zur Herstellung von Antikörperphagen („Verpackung“ der Anti-

50

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

a

b

Einfaches Panning

c

Selektion von sandwich pairs

Kompetition gegen Kreuzreaktivit t

Antik rper-Phage gegen Epitop 2 kann nicht binden

Normales Panning selektiert Antik rper-Phagen gegen verschiedene Epitope eines Antigens

Antik rper-Phage gegen Epitop 2 wird nicht angereichert

kompetierender Antik rper gegen Epitop 2

Epitop 1

Kompetition mit Antigen 2 (mit Epitop 2 kreuzreagierend)

Epitop 2 Antigen 1

Antigen 1

d

Abreicherung kreuzreaktiver Antik rper durch sequenzielles Panning Zweite PanningErste PanningRunde: Runde: AntiAntik rperk rper-Phage Phage gegen gegen Antigen Antigen 1 wird 2 wird entfernt gewonnen Elution, Infektion, erneute Verpackung

Antigen 1

e

Selektion auf Erkennung einer bestimmten Antigenkonformation Antik rper-Phagen werden nur in Gegenwart eines Kofaktors gebunden

f

Selektion auf Stabilit t Panning unter Antik rperstringenten Phage mit Bedingungen denaturiertem Antik rper wird nicht selektiert

pH C chaotrope Reagenzien

Kofaktor Antigen 2

g

Antigen 1

Antigen

Sequenzielles Panning zur Fokussierung der Spezifit t Zweite PanningRunde selektiert Antik rper-Phagen gegen ein bestimmtes Epitop des Antigens

Erste PanningRunde selektiert Antik rper-Phagen, die verschiedene Epitope der nativen Konformation des Proteins binden

h

Sequenzielles Panning zur Entdeckung gemeinsamer Strukturmerkmale Zweite PanningErste PanningRunde selektiert Runde selektiert nur Antik rperAntik rper-Phagen, Phagen, die das die verschiedene gemeinsame Epitope auf Epitop 1 auf Antigen 1 binden Antigen 1 und 3 binden

Elution, Infektion, erneute Verpackung Epitop 1

Epitop 2 Antigen

Elution, Infektion, erneute Verpackung

Peptid mit Epitop 1

Epitop 1

Epitop 2 Antigen 1

Antigen 3

Abb. 2.8   Phagendisplay bietet durch seine in vitro-Selektion vielfältige Möglichkeiten, die Eigenschaften des gewünschten Antikörpers vorherzubestimmen. Dies geschieht durch Kontrolle der biochemischen Bedingungen während der Selektion, insbesondere Kompetition (b, c), die Einstellung eines bestimmten biochemischen Milieus (e, f) oder sequenzielles Panning auf verschiedenen Antigenen (d, g, h)

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

51

körperbibliothek) müssen ja alle nicht auf dem Phagemid codierten Proteine, die der Phage sonst noch braucht, durch Infektion mit einem Helferphagen bereitgestellt werden. Diese Helferphagen brauchen selbst – um überhaupt zur Infektion an den F-Pilus binden zu können – pIII auf ihrer Oberfläche. Die bis dahin verwendeten Helferphagen (M13KO7/VCSM13) enthalten aber alle ein eigenes pIII-Gen – den Wildtyp; d. h. ohne Antikörperfragmente. Das unvermeidbare Vorhandensein dieses zweiten pIII-Gens aus dem Helferphagen bewirkte nun, dass beide Geneprodukte um den Produktions- und Faltungsapparat und beim Einbau in die Phagenpartikel konkurrieren. Da Bakterien Antikörperdomänen nicht wirklich effektiv falten können, und zudem die Antikörperfusionsproteine auch noch größer sind als die Wildtyp-pIII-Proteine, wurden die Antikörper nur sehr ineffizient in Phagenpartikel eingebaut. Dies führte effektiv dazu, dass die meisten produzierten Phagen nicht mal einen einzigen Antikörper auf ihrer Oberfläche trugen – sie waren beim Panning nutzlos, ja sie erhöhten nur die Chance unspezifischer Anreicherungen. Nur wenige Prozent trugen ein einziges Antikörperfragment, und praktisch kein Phage mehr als eines, obwohl pro Phagenpartikel fünf pIII-Proteine zur Fusion zur Verfügung standen. Diese „Verdünnung“ nutzbarer Phagen um fast zwei Größenordnungen machte es schwierig, sehr große (>108) Bibliotheken sinnvoll zu nutzen. Solche Bibliotheksgrößen braucht man aber, um aus universellen (nicht-immunisierten) Genrepertoires hochaffine Antikörper zu gewinnen – optimal sind hier Diversitäten größer als 1010. Da bei einer einzelnen Panningreaktion aus Volumengründen nur etwa 1011–1012 Phagenpartikel eingesetzt werden können, bedeutete die Verpackung mit M13KO7, dass nicht mehr jeder Klon auch nur in Form eines einzigen Phagenpartikels in dieser Panningreaktion repräsentiert war – die hervorragende genetische Diversität konnte also praktisch gar nicht voll genutzt werden. Abhilfe wurde erst dadurch geschaffen, dass es gelang, Helferphagen herzustellen, welche kein pIII-Gen trugen (Abb. 2.9). Deren Herstellung war aber alles andere als trivial: schließlich brauchen sie das funktionierende pIII-Protein auf ihrer Oberfläche, um überhaupt in die E. coli-Zellen hineinzukommen – ohne diese Eigenschaft wären sie als Helferphagen nutzlos. Es galt also, einen Phagen herzustellen, der genotypisch negativ, phänotypisch aber positiv für pIII war. Dies gelang wirklich erfolgreich erst durch Herstellung eines E. coli-Stammes, welche das Phagen-Gen für pIII ins eigene Genom integriert hatte – der daraus produzierte Helferphage heißt Hyperphage (Abb. 2.9, Rondot et al. 2001). Systeme, welche bei der Helferphagenherstellung das pIII auf Helferplasmiden trugen, waren weniger erfolgreich, denn letztere werden stets zu einem Teil in die Antikörperbibliotheken verschleppt und führen dort wieder zur Wildtyp-pIII-Produktion (Tab. 2.1) – damit ist der positive Effekt meist zerstört (Soltes et al. 2006). Der Hyperphage brachte dagegen eine direkte Verbesserung der Präsentation von scFv-Fragmenten um den Faktor 400 (Rondot et al. 2001). Damit war es nun möglich, Bibliotheken mit Diversitäten über 1010 sinnvoll zu nutzen. Da der Hyperphage zudem dazu führt, dass sämtliche der (meist fünf) pIII-Moleküle eines Phagenpartikels ein Antikörperfragment tragen, können solche Phagen auch mit stark erhöhter Avidität (Abschn. 2.7.1.3) an das Panningantigen binden – die Chancen, einen spezifischen

52

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

E. coli/pIII [M13KO7 pIII]

pIII-Gen deletiert

(Hyperphagen-Verpackungszelllinie) Produktion von Phagen mit Wildtyp-pIII

Wildtyp-pIII-Gen E. coli-Genom mit pIII-Gen Helferphagen-Produktion Helferphagengenom ohne pIII-Gen

Wildtyp-pIII

Hyperphage

M13KO7 pIII

infekti s, nicht vermehrungsf hig

Kanamycinresistenzgen

Phagemid mit Antik rper-Genrepertoire kodiert f r scFv-pIII-Fusionsproteine intergenic region (Signal zur Verpackung in Phagen)

pHAL

Ampicillinresistenzgen

Infektion scFvAntik rpergene pIII-Gen

F-Pilus

M13 KO7 pIII

FPlasmid

E. coli F+ [pHAL]

Phagenproduktion ( Verpackung ) pIII 5 scFvAntik rperfragmente

scFv-Antik rpergen Wildtyp-pIII-Gen pHAL

Multivalenter Antik rperphage pIII nur als scFv-Fusion Alle pIII tragen scFv

Trypsin-Schnittstelle Panning auf Antigen + Elution mit Protease (Trypsin) Trypsin Antigen

Wildtyp-pIII-Ph notyp rekonstituiert Selektierter

Elution

Antik rperphage

pHAL

Enth lt DNA f r antigenspezifischen Antik rper Wildtyp-Infektiosit t

Abb. 2.9   Hyperphagen sind Abkömmlinge des weitverbreiteten Helferphagen M13KO7, welche aber im Gegensatz zu diesem eine vollständige und zudem multivalente Antikörperpräsentation ermöglichen. Hyperphagen steigern damit die spezifische Anreicherung in der ersten Panningrunde um mehrere Größenordnungen. Der Effekt beruht zum einen auf erhöhter Avidität durch mehrere Antigenbindungsstellen pro Phage, zum anderen auf dem wesentlich höheren Anteil an Phagen, die Antikörper auf der Oberfläche tragen, da kein Wildtyp-pIII vorhanden ist, welches beim Einbau in den Phagenpartikel mit dem Antikörper-pIII-Fusionsprotein kompetiert. pIII: minor coat protein des Bakterophagen; pHAL: Phagemidvektor für das Antikörperphagendisplay

53

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

Tab. 2.1  Vergleich von Helferphagen für die multivalente Präsentation von Antikörpern durch Fusion an pIII. Der Hyperphage erreicht den höchsten Verpackungstiter, die beste Display-Effizienz und die höchste Infektivität der verpackten Antikörperphagen. cfu: colony forming units. (Quelle: Erik Wiersma, persönliche Mitteilung, Soltes et al. 2006) Helferphage

Titer

Relatives Display (%) (Antigen-ELISA)

Relative Infektiosität (%)

cfu/mL

%

M13KO7 (Referenz)

1,48 × 1013

Hyperphage

1,40 × 1012

100

100

100

eX-Phage

4,10 × 109

9,46

1557

67,99

Phaberge

2,16 × 109

0,0277

98

5,54

0,0145

85

Kein Phage

>4,4 × 104

20,1

0

nicht messbar

nicht messbar

Phagen in der ersten Panningrunde aus einem Gemisch von >1010 anderen Phagen herauszufischen, steigen damit nochmals deutlich. Nach einer solchen ersten Panningrunde mit Hyperphagen wechselt man aber typischerweise für die zweite Runde auf M13KO7, da in dieser zweiten Runde bereits ein stark angereichertes Gemisch spezifisch bindender Phagen zur Verfügung steht – jetzt macht man sich die Ineffizienz von M13KO7 zunutze, indem man durch monovalentes Display bevorzugt Antikörperfragente höherer Affinität selektioniert (Breitling et al. 2010). Dieser Wechsel vom Hyperphagen in der ersten Runde zu M13KO7 in den folgenden Runden wird deshalb heute bei den meisten höchstdiversen universellen Bibliotheken eingesetzt.

2.6.3 Alternative in vitro-Selektionssysteme Neben dem Antikörperphagendisplay wurden auch andere Methoden zur Selektion von Antikörpern aus Bibliotheken entwickelt. Neben den Phagen werden ganze Zellen sowie zellfreie Systeme und Viren für die Antikörperselektion genutzt. Ihnen allen ist gemein, dass das Prinzip der Natur, Genotyp und Phänotyp in vermehrungsfähigen Einheiten zu verknüpfen, durch Alternativen zur B-Zelle ersetzt wird (Abb. 2.10).

2.6.3.1 Bacterial Display Erste Versuche eines Bacterial Display für Antikörper wurden parallel zum Phagendisplay durch Fusionen von scFv-Fragmenten an Peptidoglykan-assoziiertes Lipoprotein (PAL) entwickelt (Fuchs et al. 1991). Diese Verankerung erwies sich als extrem robust und effektiv, jedoch musste für die Reaktion mit dem Antigen zunächst die äußere Membran der E. coli-Zellen permeabilisiert werden (Fuchs et al. 1996). Danach wurden neben den Gram-negativen auch Gram-positive (z. B. Staphylococcus carnosus) Bakterien eingesetzt, wobei sehr unterschiedliche Proteine als Fusionspartner dienen (Abb. 2.11c, d). Es können dabei die Fimbrien, Flagellen oder Pili genutzt werden, aber bei E. coli auch

54

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

a

b

Hochdiverses AntikörperGenrepertoire in B-Lymphocyten

oberfl chengebundener Antik rper B-Lymphocyt rearrangierte Gene der variablen Regionen

Antigenpr sentierende Zelle Wachstum & Differenzierung

c Hochdiverses Antikörper-Genrepertoire im Zelloberflächendisplay(z.B.yeastdisplay) oberfl chengebundenes Antik rperfragment Ankermolek l Gene der variablen Regionen Hefezelle

mit Farbstoff markiertes Antigen

Hochdiverses AntikörperGenrepertoire im Phagendisplay

oberfl chengebundenes Antik rperfragment Ankermolek l Gene der variablen Regionen Bakteriophage

Wegwaschen nichtbindender Antik rper

fluorescence-activated cell sorter (FACS) Affinit tsanreicherung am Antigen

selektive Anreicherung der Gene für den spezifisch bindenden Antikörper (=klonale Selektion)

Abb. 2.10   Klonale Selektion im Immunsystem und im Reagenzglas. a Ist die klonale Selektion eines B-Lymphocyten dargestellt. Der Kontakt mit dem Antigen ist ein Signal zur Teilung für den B-Lymphocyten. Dadurch wird gleichzeitig das Gen für den Antikörper vermehrt, der den Kontakt zu dem Antigen erst ermöglicht hat. In der Mitte und rechts sind zwei Systeme gezeigt, mit Hilfe derer sich dieser Vorgang in Hefe oder E. coli nachahmen lässt. b Wird ein Antikörper auf der Oberfläche einer Hefezelle präsentiert, so kann sein Gen nach Bindung von fluoreszenzmarkiertem Antigen mit einem Durchfluss-Fluorocytometer angereichert werden. c Wird ein Antikörperfragment auf der Oberfläche eines Phagenpartikels verankert, kann das gesamte Partikel dadurch an das Antigen gebunden werden. Auch hier wird gleichzeitig mit dem Phagenpartikel das Antikörpergen (im Phageninneren) angereichert

Proteine in der c hier wieder für den Selektionsschritt die äußere Membran entfernt werden muss (Jostock und Dübel 2005; Löfblom 2011). Die Selektion von Bindermolekülen kann beim Bacterial Display, wie auch beim Yeast Display, am besten per FACS durchgeführt werden, um hochaffine Bindermoleküle zu selektionieren (Fuchs et al. 1996).

2.6.3.2 Hefedisplay (yeast display) Hefen sind eukaryotische Mikroorganismen, die wie Bakterien einfach kultiviert werden können. Für das von Boder und Wittrup entwickelte Yeast Display wird die Hefe

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

55

Saccharomyces cerevisiae eingesetzt (Boder und Wittrup 1997). Dies ist die heute am häufigsten genutzte Methode des Zelldisplays (Abb. 2.10). Die Fusion des Fremdproteins/Antikörpers erfolgt an das Protein Aga2p, das über Disulfidbrücken mit dem Protein Aga1p an der Zellwand gebunden ist (Abb. 2.11e). Yeast Display-Bibliotheken sind aufgrund der Beschränkungen durch die handhabbaren Volumina kleiner als Phagendisplaybibliotheken und haben eine Größe von 106–109 unabhängigen Klonen. Aufgrund der geringeren Größe dieser Bibliotheken im Vergleich zu Phagendisplaybibliotheken ist das Hauptanwendungsgebiet die Affinitätsreifung von Antikörpern. Es wurden aber auch naive Yeast Display-Bibliotheken konstruiert, aus denen erfolgreich Antikörper isoliert werden konnten. Die Isolation von Antikörpern aus Yeast Display-Bibliotheken erfolgt mittels Magnetic Cell Separation (MACS) oder FACS. Beim MACS-Ansatz ist das Antigen an Beads immobilisiert. Hefen mit einem passenden Antikörper binden an diese Beads und werden so in der Magnetsäule zurückgehalten, während die Zellen ohne spezifischen Antikörper ausgewaschen werden. Besser geeignet ist die FACS-Methode, denn hier können spezifisch Hefezellen selektioniert und sortiert werden, die hochaffine Antikörper auf der Oberfläche präsentieren (Boder et al. 2012; Gera et al. 2013). Dabei kann man sogar durch Gegenfärbung mit einem zweiten Antikörper gegen ein tag, markiert mit einer anderen Fluoreszenzfarbe, gleichzeitig Antigenbindung und Menge des präsentierten Antikörpers als Maß für seine Produzierbarkeit bestimmen.

2.6.3.3 Mammalia-Display (Display auf Säugerzellen) In unserem Immunsystem präsentieren B-Zellen membrangebundene Antikörper und werden durch Bindung an diese aktiviert (Abschn. 1.5.1 und Abb. 1.9). Deshalb ist es naheliegend, ein in vitro-Selektionssystem auf der Basis vom Säugetierzellen zu entwickeln. Beim Mammalia-Display können nicht nur Antikörperfragmente wie scFv oder Fab, sondern auch komplette IgG auf der Oberfläche präsentiert werden. Dies wird erreicht, indem die Antikörper an eine Transmembrandomäne fusioniert werden, ähnlich wie es in B-Zellen der Fall ist (Abb. 2.11g). Antikörper können auch in solchen Bibliotheken mittels Fluorescence activated cell sorting (FACS) isoliert werden (Ho und Pastan 2009; Zhou und Shen 2012; Bruun et al. 2017). Ein für die Entwicklung therapeutischer Antikörper relevanter Vorteil dieser Technologie ist zum einen, dass die Selektion direkt im meist final verwendeten IgG-Format durchgeführt werden kann, was eventuelle Verluste bei späterer Umklonierung aus einem anderen Format vermeidet. Die Produktion erfolgt zudem bereits in Säugetierzellen, ähnlich den späteren Produktionszelllinien. Ein Nachteil besteht darin, dass die Bibliotheksgrößen mit bis zu 108 bei weitem nicht die Größe von Phagendisplaybibliotheken erreichen können Auch ist die Selektion durch die Sortiergeschwindigkeit des FACS-Geräts limitiert. Deshalb ist so ein Displaysystem weniger geeignet, um Antikörper aus universellen Antikörpergenbibliotheken zu selektionieren, sondern wird analog zum

56

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert? a

d

Gram-positive Bakterien

N scFv AlbuminBindungsdom ne

b Ribosomendisplay mRNA

Ribosom

Zellwand

C scFv

Zellmembran TM

nicht kovalent verbunden

Cytoplasma

c Gram-negative Bakterien (z. B. E. coli) N

scFv LppOmpA

INP

C scFv

Permeabilisierung oder Entfernung vor Antigenzufuhr

e Hefedisplay C

GPI

myc-tag scFv

u ere Zellmembran

HA-tag

N

Aga2p s s s s

scFv

Periplasma Zellwand

PAL

innere Zellmembran

ZZ

nichtkovalent gebundenes IgG

AlphaAgglutinin

Aga1p Zellwand

Zellmembran

CDQSSS

Cytoplasma

Cytoplasma

g Sӓugerzellen

f Virusdisplay N scFv

N scFv

A56R A56R VacciniaVirus

Infektion

N scFv

IgG

myc-tag

PDGFR-TM

C

IgG oder H-2Kk-TM

Abb. 2.11   Systeme, welche eine physikalische Verknüpfung eines rearrangierten Antikörpergens mit seinem funktionalen Protein und damit die klonale Selektion rekombinanter Antikörper in vitro ermöglichen. a mRNA-Display; b Ribosomendisplay; c verschiedene Systeme für E. coli – Oberflächen- bzw. Periplasmadisplay; d System für Gram-positive Bakterien; e Hefedisplay; f Virusdisplay; g verschiedene Systeme für Säugerzellen-Oberflächendisplay. „C“ kennzeichnet den Carboxyterminus der Fusionsproteine, „N“ den Aminoterminus. A56R: Hüllprotein des Vacciniavirus; ABP: Albumin-bindende Region des Streptokokken-Proteins G; Aga1p, Aga2p: Untereinheiten des Saccharomyces cerevisiae-α-Agglutininrezeptors; GPI: Glykosylphosphatidylinositol-Anker; H-2Kk Maus-Histokompatibilitäts-Antigen H-2Kk; HA-tag: Influenza-Virus-Hämagglutinin-Fragment aus den Aminosäureresten 98–106; INP: Eisnucleationsprotein von Pseudomonas syringae; Lpp-OmpA: die ersten neun N-terminalen Aminosäuren von E. coli-Lpp (Lipoprotein) fusioniert an ein E. coli-OmpA Fragment aus fünf der acht Transmembran-loops; myc-tag: Epitoppeptid des Antikörpers Myc1-9E10, PAL: Peptidoglykan-assoziiertes Lipoprotein; TM: Transmembrandomäne; X: Zellwand-überbrückender Linker; ZZ: synthetisches Analogon der IgG-bindenden B-Domäne von Staphylococcus aureus-Protein-A

2.6  In vitro-Selektionssysteme: Imitation des Immunsystems im Reagenzglas

57

Hefedisplay meist für die Affinitätsreifung und für Bibliotheken aus immunisierten Spendern eingesetzt. Häufig wird daher eine Kombination von Antikörperphagendisplay und Mammalia-Display eingesetzt. Hierbei wird die sehr große initiale Antikörperbibliothek mittels Phagendisplay vorselektioniert, und nachfolgend werden die angereicherten spezifisch bindenden Antikörper in Mammalia-Display-Bibliotheken mittels FACS weiter selektioniert. Somit wird das Beste aus beiden Welten vereint. Bei der Affinitätsreifung von Antikörpern im Immunsystem werden somatische Hypermutationen durch das Enzym activation induced cytidine deaminase (AID) eingeführt. Ein vielversprechender Ansatz ist die Integration von AID bei der Selektion von Antikörpern im Mammalia-Display-System, um die Affinität quasi automatisch zu verbessern (Qin und Li 2014).

2.6.3.4 Molekulardisplay/Ribosomendisplay Eine früh beschriebene Alternative zum Phagendisplay und Display auf Zellen ist das Ribosomendisplay bzw. Molekulardisplay, da diese Methode komplett zellfrei abläuft und somit die Zahl transfizierbarer Bakterien nicht mehr die Größe der Antikörperbibliothek limitiert. Beim Ribosomendisplay sind das Antikörperfragment und die dazugehörige mRNA über ein Ribosom verknüpft (Abb. 2.11b). Für diese Technologie werden zuerst die V-Gene amplifiziert und anschließend VH und VL per assembly-PCR zu einem scFv zusammengefügt. Dabei werden weitere flankierende Sequenzen durch Primer angesetzt. Das finale PCR-Produkt enthält dann einen T7-Promoter, die scFv-Sequenz und noch einen Spacer, z. B. die konstante Domäne der leichten Kette ohne Stoppcodon am 3’-Ende. Dieses PCR-Produkt, welches eine Bibliothek von 1014–1015 unterschiedlichen Antikörpern enthalten kann und somit eine theoretische Diversität erreicht, die um einige Größenordnungen höher ist als bei Phagendisplaybibliotheken, da sie nur noch aus DNA (PCR-Produkt) besteht. Für die Selektion wird das Antigen immobilisiert, z. B. in einer Mikrotiterplatte, und das PCR-Produkt wird mittels in vitro-Transkription in mRNA umgeschrieben, nachfolgend wird mittels in vitro-Translation die Polypeptidkette synthetisiert. Da kein Stoppcodon enthalten ist und somit der Releasefaktor nicht an das Ribosom binden kann, bleibt der Komplex aus mRNA, Ribosom und Polypeptidkette erhalten. Dieser Komplex wird anschließend zum Panning auf der Zielstruktur (dem Target) eingesetzt. Nach Inkubation und Waschritten wird die mRNA der gebundenen Antikörper in cDNA umgeschrieben und danach für die nächste Pannigrunde amplifiziert. Nach einigen Panningrunden müssen die angereicherten scFv-Gene in einen Expressionsvektor umkloniert und in E. coli transformiert werden, um dann analog zum Screening nach dem Phagendisplay-Panning monoklonale, lösliche scFv zu produzieren und Bindermoleküle mittels z. B. ELISA zu identifizieren (Hanes und Plückthun 1997; He und Taussig 1997). Eine Schwierigkeit beim Ribosomendisplay ist der instabile Komplex aus mRNA, Ribosom und Polypeptidkette. Eine stabilere, weil kovalente Verknüpfung der mRNA und der Polypeptidkette kann mittels Puromycin erreicht werden. Dieses veränderte Nucleotid wird über einen Linker kovalent an das 3’-Ende der mRNA gebunden. Wird bei der Translation das Ende der mRNA erreicht, wird das Puromycin

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

kovalent mit der neuen Polypeptidkette verknüpft und somit ist der Komplex stabil (Nagumo et al. 2016; Roberts und Szostak 1997). Leider werden Antikörper in den cytoplasmatischen Extrakten, welche für die Translation in beiden Systemen eingesetzt werden müssen, nur sehr ineffizient korrekt gefaltet, da das oxidative Milieu zur Bildung der Disulfidbrücken fehlt. Deshalb hat das Ribosomendisplay heute kaum mehr eine Bedeutung bei der Selektion von Antikörpern.

2.6.4 Ein effektives in vitro-Selektionssystem ermöglicht die Imitation der somatischen Hypermutation in Bakterien Auch das dritte Element der humoralen Immunantwort kann mit Hilfe eines effizienten Selektionssystems in Bakterien übertragen werden. Die Verbesserung der Affinität und Spezifität der Antigenbindung wird von unserem Immunsystem durch somatische Hypermutation erreicht. Dabei werden Zufallsmutationen in einen das Antigen bereits bindenden B-Lymphocyten-Klon eingeführt und anschließend die Zellen selektiv vermehrt, deren mutierte Antikörper besser an das Antigen binden können. Das gerade beschriebene leistungsfähige Selektionssystem ermöglicht es, auch dieses Prinzip auf Bakterien zu übertragen. Dabei stellt man in E. coli eine Vielzahl von Mutanten der bekannten Antikörpersequenz her, um anschließend die besten Bindermoleküle für das Antigen zu selektionieren. Auf diese Weise kann eine Verbesserung der Affinität (Affinitätsreifung) eines Antikörperfragmentes um mehrere Größenordnungen erreicht werden (Thie et al. 2011). Aber auch andere Eigenschaften wie Stabilität oder reaktionskinetische Eigenschaften können gezielt durch die Wahl der Selektionsbedingungen verbessert werden (z. B. Frenzel et al. 2017). Mehr dazu in den Abschn. 3.3 und 3.4.

2.7 Analyse von Antikörpern 2.7.1 Wir wird Affinität gemessen? Die Stärke der Bindung eines Antikörpers an sein Antigen wird als Affinität bezeichnet. Neben der Spezifität ist Affinität der zweite wichtige Faktor zu Beurteilung eines Antikörpers. Die Affinität wird durch die Bindungskonstante angegeben. Die Bindungskonstante ist ein Maß für das Reaktionsgleichgewicht, das sich zwischen den an das Antigen bindenden und davon dissoziierenden Antikörpermolekülen einstellt. Je mehr Antikörper im Gleichgewicht in gebundener Form vorliegen, desto höher ist die Affinität des Antikörpers für sein Antigen. In der Chemie wird dieses Reaktionsgleichgewicht im Massenwirkungsgesetz beschrieben.

2.7  Analyse von Antikörpern

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2.7.1.1 Bestimmung der Affinität durch Gleichgewichtsanalyse Die Bindungskonstante als Maß für die Affinität kann als Assoziationskonstante oder Dissoziationskonstante angegeben werden (die eine Konstante ist der Kehrwert der anderen). Üblich ist die Dissoziationskonstante. Sie wird durch folgende Formel ausgedrückt:     KD = [Ab] Ag / Ab ∗ Ag [Ab] ist die Konzentration des freien Antikörpers, [Ag] die Konzentration des freien Antigens und [Ab*Ag] die Konzentration des Komplexes aus Antigen gebundenen Antikörper. Der KD-Wert liegt bei einem Antikörper üblicherweise zwischen 10−6 M und −11 10  M. Was bedeuten diese Zahlen, z. B. eine Affinität von 1 × 10−10 M? Wenn theoretisch in einem Liter Lösung mit 1 Mol des Antikörpers und 1 Mol des Antigens miteinander gemischt werden, dann liegen nach Einstellung des Gleichgewichts 1 × 10−5 M freies Antigen und 1 × 10−5M freier Antikörper vor:

KD = 1 × 10−5 M × 1 × 10−5 M /1M = 1 × 10−10 M In diesem vereinfachten Beispiel wird die Gesamtmenge [Ab*Ag] gleich 1 M gesetzt. Dies ist nicht ganz korrekt gerechnet, denn wenn nach Einstellung des Gleichgewichts jeweils 1 × 10−5 M freies Antigen und Antikörper vorliegen würde, wäre [Ab*Ag] = 1–1 × 10−5 M und somit wäre die KD = 1,0001 × 10−10 M anstelle von 1 × 10−10 M. Wenn man beim vereinfachten Beispiel bleibt, bedeutet eine Affinität von 1 × 10−10 M, dass 100.000-(105-)mal mehr gebundener Antikörper als freier Antikörper vorliegt. Bei einem Antikörper mit einer 100 × schlechteren Affinität von 1 × 10−8 M liegen 10 × (√100) mehr Antikörper ungebunden vor. Der KD-Wert entspricht auch der Antikörperkonzentration, bei der 50 % des Antikörpers gebunden hat, wenn die Antigenkonzentration im Vergleich zur Antikörperkonzentration sehr viel höher ist (z. B. durch Immobilisierung an einer ELISA-Platte):     KD = 10−10 M × Ag / Ag ∗ Ab = 10−10 M Hierbei ist [Ag] = [Ab*Ab] und kürzt sich somit aus der Gleichung und es bleibt die Konzentration bei halbmaximaler Bindung des Antikörpers stehen. Bei einem sehr hohen Überschuss an Antigen bindet ein Antikörper mit einer Affinität von 1 × 10−8 M 100-mal geringer an das Antigen als der Antikörper mit einer Affinität von 1 × 10−10 M. Die Bindung eines Antikörpers hängt also nicht nur von seiner Affinität ab, sondern auch von seiner Konzentration und der Konzentration des Antigens. Zum Messen des KD-Wertes gibt es zahlreiche unterschiedliche Methoden. Idealerweise wird dieses Gleichgewicht in Experimenten gemessen, in denen beide Partner in Lösung vorliegen. Zunächst wird solange gewartet, bis sich ein Gleichgewicht eingestellt hat, d. h. bis gleich viele Bindungen neu geknüpft wie aufgelöst werden. Danach

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

werden die freien von den gebundenen Antikörpern abgetrennt und die jeweiligen Mengen bestimmt. Die Trennung von freien und gebundenen Antikörpern kann durch Ultrazentrifugation oder Gleichgewichtsfiltration erreicht werden (Fazekas de St. Groth und Webster 1961; Hardie und van Regenmortel 1975). Es gibt auch Methoden, bei denen einer der Partner an eine feste Phase, wie die Oberfläche einer ELISA-Platte (Engvall et al. 1971), gebunden ist. Die damit erhaltenen Bindungskonstanten weichen jedoch oft von den in Lösung ermittelten Konstanten stark ab (Lethonen 1991; Underwood 1985). Dies liegt daran, dass Proteine bei der Bindung an Plastikoberflächen partiell denaturiert werden, und außerdem so haften können, dass das Epitop nicht zugänglich ist. Bevorzugt sollten deshalb Methoden verwendet werden, bei denen zunächst die Einstellung des Bindungsgleichgewichts in Lösung ermöglicht wird. Die nicht gebundene Antikörpermenge kann anschließend durch einen ELISA bestimmt werden. Dabei ist eine Abtrennung der gebundenen von den ungebundenen Antikörpern nicht nötig, solange der Einstellung eines neuen Gleichgewichts im Nachweis-ELISA nicht zuviel Zeit gegeben wird. Dies erreicht man durch kurze Inkubationszeiten und eine limitierte Antigenmenge an der Festphase. Beide Faktoren bedingen, dass dabei höchstens 10 % von der Gesamtmenge des freien Antikörpers an die ELISA-Platte binden (und damit aus dem Gleichgewicht entfernt werden). Ob diese Bedingung erfüllt ist, kann man messen, indem man die Gleichgewichts-Lösung von Antigen und Antikörper zunächst in eine ELISA-Platte auf Antigen gibt. Nach einer definierten Zeit entnimmt man die Proben wieder und pipettiert sie in neue ELISA-Vertiefungen, inkubiert sie exakt solange wie in den vorigen und weist in beiden den gebundenen Antikörper nach. Die Differenz zwischen beiden Werten sollte 10 % nicht übersteigen (Friguet et al. 1985), sonst verfälscht das Messsystem die gemessenen Werte für die Gleichgewichtskonstante. Für bestimmte Antigene können abhängig von deren Eigenschaften weitere Möglichkeiten zur Ermittlung der Affinitätskonstanten eingesetzt werden. Beispiele sind die Fluoreszenz-Quench-Methode oder Stop-Flow, die beide eine Änderung der Lichtabsorption, Fluoreszenz oder anderer biochemischer Eigenschaften durch die Bindung erfordern (Bashford und Harris 1988). Eine recht neue Methode ist die „Microscale thermophoresis“ (MST), sie basiert auf der Bewegung von Molekülen in einem Temperaturgradienten. Hier wird entweder das Antigen oder der Antikörper fluoreszenzmarkiert. Anschließend können sie in Lösung in einem Messgefäß (Kapillare) binden. Ein Punkt in dieser Kapillare wird durch einen Laser erhitzt und es entsteht ein Temperaturgradient, wobei sich freie Antikörper und Antigene anders (hin oder weg zum wärmeren Punkt) als ein Antigen:Antikörper-Komplex in diesem Gradienten bewegen. Anschließend wird der Laser wieder abgeschaltet und der Temperaturgradient verschwindet. Dieses Hin- oder Herbewegung zum/vom erwärmten Punkt wird über die Zunahme bzw. Abnahme der Fluoreszenz an diesem Punkt gemessen und daraus kann der Anteil von gebundenen und ungebundenen Antikörpern in der Lösung berechnet werden.

2.7  Analyse von Antikörpern

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2.7.1.2 Bestimmung der Affinität durch direkte Messung der Assoziation und Dissoziation Die Dissoziationskonstante kann anstelle über die Konzentrationen der Bindungspartner auch über die Geschwindigkeiten, mit der der Antikörper an das Antigen bindet und wieder dissoziiert, angegeben werden: KD = koff /kon koff ist die Dissoziationsrate [s−1] und kon ist die Assoziationsrate [M−1 s−1]. Eine sehr weit verbreitete Methode zur Ermittlung der Bindungskonstante beruht auf einer direkten Bestimmung dieser kinetischen Konstanten. Dies ist durch Geräte möglich, die z. B. durch Plasmonresonanz („Surface Plasmon Resonance“, SPR), Quarzkristallmikrowaage (QCM) oder „biolayer interferometry“ (BLI) die Bindung eines Antikörpers an ein Antigen in Echtzeit anzeigen können (Leonard et al. 2011). Bei dieser Methode fließt eine Antikörperlösung über das an eine Oberfläche immobilisierte Antigen und man enthält eine Sättigungskurve für die Massenzunahme (Abb. 2.12). Lässt man den Antikörper im Puffer weg, der weiter über die Oberfläche strömt, beginnen sich die gebundenen Antikörpermoleküle wieder vom Antigen abzulösen. Man erhält eine zweite Kurve für die Massenabnahme nach dem Entfernen der Antikörper aus der Lösung. Aus den jeweiligen Kurven lassen sich die Assoziations- und Dissoziationsraten direkt bestimmen, und damit auch ihr Quotient: die Bindungskonstante.

2.7.1.3 „Avidität“: Die Zahl der Bindungsstellen beeinflusst die Bindungskonstante Auf molekularer Ebene wird die Größe der Bindungskonstante durch die Summe der atomaren Wechselwirkungen zwischen den hypervariablen Domänen der variablen Ketten und dem Antigen bestimmt. Diese Wechselwirkungen sind vom pH-Wert, der Temperatur und der Salzkonzentration des umgebenden Mediums abhängig. Eigentlich müsste man deshalb diese Bedingungen jeder Angabe einer Bindungskonstante hinzufügen. Üblicherweise werden die Affinitäten der Antikörper bei 25 °C in physiologischer Kochsalzlösung bei einem pH-Wert von 7,0–7,6 bestimmt. Außerdem muss man bei Angaben der Bindungskonstante immer die verwendete Bestimmungsmethode in Betracht ziehen. Starke Unterschiede der gemessenen Affinität zwischen verschiedenen Methoden und bei heterogenen Proben sind durchaus möglich. Vergleiche von Antikörperaffinitäten sind deshalb am aussagekräftigsten, wenn die Bindungskonstanten im gleichen Experiment bestimmt wurden. Ein wichtiger Grund für immer wieder auftretende Diskrepanzen bei der Affinitätsbestimmung liegt in den unterschiedlichen Aviditäten der Antikörper. Ein natürliches IgG-Molekül besitzt zwei identische Antigenbindungsstellen und damit eine höhere Avidität verglichen mit nur einer Bindungsstelle bei einem rekombinanten scFv- oder Fab’-Fragment. Dieser Unterschied führt je nach der verwendeten Messmethode zu beachtlichen Unterschieden in der gemessenen Affinität. Wenn bei der einen Messmethode

Antigen Antigen Antigen

Antik rper bindet nicht

kon

Antik rper bindet

2. Antik rper kann nicht binden

Antik rper bindet nicht

Antigen Antigen

Antik rper mit geringer Affinit t dissoziiert schnell

koff

Antik rper mit hoher Affinit t dissoziiert langsam

Waschen

anderer Antik rper gegen das gleiche Epitop

Antigen

Antik rper gegen ein anderes Epitop Antik rper bindet

Epitop-binning

Zeit

Abb. 2.12   Affinitätsmessung durch Bestimmung der Assoziations- und Dissoziationsrate. Darstellung einer typischen Messkurve der Änderung der Oberflächenbeladung, wie sie z. B. durch Oberflächenplasmonresonanz (SPR), Quarzkristallmikrowaage (QCM) oder biolayer interferometry (BLI) erhalten wird. Nach Ermittlung von kon und koff (Mitte) kann die Dissoziationskonstante rechnerisch bestimmt werden. Diese Form der Affinitätsmessung kann auch zum Epitop-binning eingesetzt werden, bei dem untersucht wird, ob verschiedene Antikörper an überlappende Epitope binden (rechts)

Situation auf dem Sensor:

Waschen

Kontrolle der Beladung

Antigen koppelt an Chip

Antigen

zu messender Antik rper

Affinitӓtsbestimmung

62 2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

2.7  Analyse von Antikörpern

63

viele Antigenmoleküle nahe beieinanderliegen, also in Reichweite der beiden Arme des IgG sind, so kann sich dieses Molekül mit beiden Armen festhalten. Bei einer anderen Messmethode, wo weniger Antigen verwendet wird, kann das IgG dagegen nur mit einem Arm haften. Vor allem die Dissoziation des Antikörpers vom Antigen ist jetzt einfacher – er scheint plötzlich eine geringere Affinität für sein Antigen zu haben. Dieser Aviditätseffekt wird auch von der Natur genutzt. Für die erste Antikörperimmunantwort auf ein neues Antigen, bei der noch keine somatisch hypermutierten und somit in ihrer Affinität verbesserten Antikörper gegen das Antigen zur Verfügung stehen, setzt unser Körper IgM-Moleküle ein. Diese bestehen aus fünf an ihren Fc-Teilen verbundenen Antikörper-Ypsilons, vereinigen also zehn identische Antigenbindungsstellen in einem Molekülkomplex (Abb. 1.5). So können neue Antigene trotz noch nicht optimierter Bindung durch die hypervariablen Domänen mit ausreichender Affinität markiert werden. Die Unterschiede der für den ganzen Molekülkomplex bestimmten Affinität zu dem der einzelnen monovalenten Antigenbindungsstellen können bei IgM-Molekülen mehrere Größenordnungen umfassen (Ciric et al. 1995; Roggenbuck et al. 1994).

2.7.2 Spezifität Antikörper werden mittlerweile sehr vielfältig angewendet und in den allermeisten Fällen ist es essenziell, genau zu wissen, welche Antigene der Antikörper oder auch das Patientenserum bindet. Wenn beispielsweise ein monoklonaler Antikörper Zellstrukturen anfärbt, die je nach Zellzyklusstadium in unterschiedlichen Kompartimenten zu finden sind, dann liegt die Vermutung nahe, dass dieses Protein eine Rolle im Zellzyklus spielt. Findet man also heraus, welches Protein in diesem Fall gebunden wird, dann ist dies ggf. eine wichtige wissenschaftliche Erkenntnis. Patientenseren können ebenfalls wertvolle Informationen enthalten. Wenn ein Impfstoff einige Patienten schützt, andere aber nicht, ist die Frage naheliegend, ob die gebildeten Antikörper in diesen beiden Patientengruppen unterschiedliche Antigene erkennen. Das Wissen um das „richtige“ gebundene Antigen ist aber nur ein Aspekt der Spezifität. Antikörper werden sehr unterschiedlich eingesetzt: von der Infusion ins Patientenblut über zahllose Forschungsassays bis zum Auftrocknen auf Schwangerschaftsteststreifen. In jeder dieser Situationen muss der Antikörper zusätzlich zur gewünschten Bindung noch eine weitere wichtige Eigenschaft aufweisen, um nutzbar zu sein: Er darf mit keinem anderen Stoff in seiner Umgebung ähnlich reagieren. Erst wenn er gleichzeitig beide Eigenschaften aufweist, können wir von einer spezifischen Bindung sprechen (Abb. 1.7). Die Spezifität ist deshalb genaugenommen immer nur für eine bestimmte Umgebung genauer definierbar. Die Tatsache, dass man für einen Antikörper in einem Immunblot von menschlichem Plasma keine ungewünschte Reaktivität findet, heißt also keinesfalls, dass er auch im Patientenblut oder auf einem Paraffinschnitt für die Histologie keine ungewünschte Reaktivität aufweist – dies muss jeweils separat nachgewiesen werden, denn die tatsächliche räumliche Struktur der Antigene kann in jedem der Fälle

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

anders sein – zum Beispiel durch Denaturierung nach der Fixierung für die Histologie oder das Aufkochen im SDS-Probenpuffer für die Gelelektrophorese. Einer der Schlüssel zum Verständnis dieser Unterschiede ist die genaue Betrachtung der Epitope. Die Kontaktstelle auf dem Antigen mit dem Antikörper kann räumlich maximal die Ausdehnung der Fläche des Paratops umfassen (Abb. 1.2). Kringelum et al. (2013) vermaßen mehr als 100 bekannte Strukturen von Antigen:Antikörper-Komplexen, und ermittelten, dass ein Antigen durchschnittlich 15 ± 4 Aminosäuren an einer Kontaktfläche von rund 800 Å2 zum Paratop aufweist, von denen ein sehr variabler Teil (zwischen zwei und 12 Aminosäurereste) linear angeordnet ist. Nur etwa 60 % der untersuchten Antigene wiesen an dieser Stelle einen linearen Anteil von drei oder mehr Aminosäureresten auf. Als weitere Variable kann auch die Zahl der für die Bindung wirklich essenziellen Aminosäurereste stark variieren – manchmal braucht ein Antikörper nur wenige Kontaktpunkte, um „sein“ Antigen zu binden. So kann die Gefahr entstehen, dass ein therapeutischer Antikörper zusätzliche, „falsche“ Strukturen zur Zerstörung markiert. Unter anderem deshalb verlangen die Regulierungsbehörden üblicherweise, dass der genaue Bindungsort (das Epitop) von therapeutischen Antikörpern bestimmt wird. Diesen Auflagen verdanken wir einige interessante Erkenntnisse darüber, wie genau die Antikörper:Antigen-Komplexe aussehen, denn in vielen Fällen wurden deshalb die Kristallstrukturen der Antigen:Antikörper-Komplexe bestimmt (Magdelaine-Beuzelin et al. 2007). Der therapeutisch genutzte Antikörper Rituximab – welcher das membranständige CD20-Antigen auf differenzierten B-Zellen erkennt – bindet beispielsweise ein nicht-lineares Epitop mit Hilfe von einigen wenigen Kontaktpunkten (Du et al. 2007). Bei dem Anti-TNF-α-Antikörper Certolizumab wurde durch die Kristallstrukturen sogar die Wirkungsweise des Antikörpers klarer: Durch die Bindung induziert dieser Antikörper eine Strukturveränderung innerhalb des TNF-αTrimers, sodass dieser in seinem Signal geblockt wird (Lee et al. 2017). Eine ähnliche Strukturveränderung induziert auch der Anti-BAFF-Antikörper Belimumab, der zur Behandlung von Systemischem Lupus erythematodes eingesetzt wird (Shin et al. 2018). Die Kristallstrukturen von Necitumumab, gebunden an sein Antigen, den EGFP-Rezeptor, wiederum zeigten, dass dieser Antikörper ein etwas anderes Epitop erkennt als der therapeutische Anti-EGFPR-Antikörper Cetuximab. Dies bedeutet, dass Necitumumab auch an Mutanten des EGFPR binden kann, die entstehen, wenn der Tumor über lange Zeit mit Cetuximab behandelt wurde. An diesen Beispielen ist klar zu sehen, dass es sehr hilfreich sein kann, wenn die Struktur der Antikörper-Antigen-Bindung im Detail bekannt ist. Die Pharmaindustrie hat auch noch einen weiteren, kommerziellen Anreiz, um die Antikörper-Antigen-Bindung genau zu bestimmen: Bei strittigen Antikörperpatenten gibt die genaue Kenntnis des Epitops oft den entscheidenden Ausschlag. Natürlich ist es auch bei diagnostischen Antikörpern wichtig, das Epitop zu kennen, damit nicht falsch positive oder auch falsch negative Diagnosen erstellt werden.

2.7  Analyse von Antikörpern

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2.7.2.1 Wie wird das Epitop bestimmt? Das Paratop eines Antikörpers definiert in Form der räumlichen Anordnung der Aminosäureseitenketten die Antigenspezifität. Nach derzeitiger Definition wird das Epitop als das Gegenstück zum Paratop verstanden, also der Bereich auf dem Antigen, mit dem das Paratop molekular interagiert (Abb. 1.3 und 1.7). Die genaue Definition eines Epitops ist aber schwieriger, als man zuerst denkt, und sie hat sich über die Zeit mit der Weiterentwicklung der Analysemethoden verändert. Ursprünglich wurde das Epitop rein funktionell durch Kompetition bestimmt: Konnte ein bestimmter Antikörper nicht mehr an sein Antigen binden, nachdem dieses mit einem anderen Antikörper inkubiert worden war, so sprach man davon, dass beide Antikörper ein gemeinsames Epitop besitzen. Ein Beispiel, wie Epitope nach dieser Definition gemessen werden können, ist in Abb. 2.12 (rechts) dargestellt. Da der Grad der Überlappung der molekularen Kontaktstellen zur Erzielung eines vergleichbaren Kompetitionseffektes hier sehr unterschiedlich sein konnte, war diese Definition strukturell recht ungenau. Sogar zwei Antikörper, die keinerlei gemeinsame Kontaktflächen aufweisen, können sich dennoch funktionell bei der Antigenbindung gegenseitig behindern, z. B. wenn sich die beiden vom Antigen gebundenen Fab-Arme oder die weit abstehenden Fc-Regionen sterisch im Weg stehen. Heute spricht man deshalb bei entsprechenden Assays nicht mehr von einer Epitopbestimmung, sondern meist vom „Epitop-binning“. Benannt nach dem englischen Begriff für Sammelbehälter („bin“), sortiert man damit Gruppen von Antikörpern, die an ähnliche Regionen des Antigens binden, grob in größere „Sammelkörbe“. Die heute meistgenutzte Definition von Epitopen basiert dagegen auf der Röntgenstrukturanalyse und erfasst die dabei erkennbaren direkten Kontakte zwischen Aminosäureseitenketten von Antikörper und Antigen. Aber auch diese Definition ist keinesfalls zu 100 % eindeutig – so kann man zum Beispiel diskutieren, ab welchem Angström-Abstand zwischen zwei Seitenketten überhaupt ein Kontakt oder ein Beitrag zur Spezifität oder Affinität entsteht. Zudem geben Röntgenkristallstrukturen häufig nicht ganz genau die Struktur des Moleküls in Lösung wieder und stets auch nur die einer bestimmten Konformationsvariante – ein eindrucksvolles Beispiel dafür zeigt Abb. 1.6. Zudem kann ein Paratop – das ja durch die Aminosäuresequenz des Antikörpers eindeutig definiert ist – oft mehrere verschiedene Epitope binden, solange die dabei genutzten molekularen Kontakte genügend Affinität gewährleisten. So wurden mehrere Kristallstrukturen eines Antikörpers gegen HIV aufgeklärt, welche drei komplett unterschiedliche Peptide in jeweils deutlich verschiedenen Konformationen mit ausreichender Affinität binden (Kramer et al. 1997). Selbstverständlich sind dies alles „Epitope“ des gleichen Antikörpers – die Antwort, welches das „richtige“ ist, ergibt sich also nur im Kontext des konkreten Bindungsereignisses. Auch ist der Beitrag einzelner Aminosäureseitenketten zum Bindungsereignis aus Röntgenkristallstrukturen nicht eindeutig zu errechnen. In der Tat findet man sehr oft Mutanten der Antigene, welche mehrere

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

ausgetauschte Seitenketten im Epitopbindungsbereich aufweisen, und dennoch ähnlich binden (Abb. 2.13c). Dagegen kann die Bindung oft durch den Austausch einer einzigen anderen Seitenkette an anderen Positionen unterbunden werden.

a

SPOT-Methode zur Epitopbestimmung

b

Peptidarrayherstellung per Drucker 1. Drucken einzelner Aminosäuren

...LSKERRERPQ

DRPEDLDVPPALADFIHQQRTQQVEQDMF AHPYQYELNHF...

Antigensequenz

Scan

gef rbter Filter mit PeptidSpots

Glycinewalk

gef rbter Filter mit PeptidSpots

mit anderer Methode eingegrenzter Epitopbereich

Aminosäure in Tonerpartikel

Druckmuster definiert die gewünschte Sequenz

4. Entschützen 2. Schmelzen / Koppeln freie Aminogruppe DRPEDLDVPPALADFI 15mer-Peptide, jeweils RPEDLDVPPALADFIH um 1 Rest versetzt PEDLDVPPALADFIHQ EDLDVPPALADFIHQQ Identifizierung des DLDVPPALADFIHQQR Kernepitops LDVPPALADFIHQQRT 3. Waschen DVPPALADFIHQQRTQ Schutzgruppe VPPALADFIHQQRTQQ 2. Aminosäurerest PPALADFIHQQRTQQV 1. Aminosäurerest PALADFIHQQRTQQVE Array ALADFIHQQRTQQVEQ LADFIHQQRTQQVEQD ADFIHQQRTQQVEQDM Spezifit tsanalyse auf dem Peptidarray DFIHQQRTQQVEQDMF FIHQQRTQQVEQDMFA Originalsequenz I H L V N N E S S E V I V H K V,I, m gl. Varianten * * * * * * * * * E E I V,I * * K A A C C D D E E F F G G LDVPPALADFIHQQR Originalepitop H H LDGPPALADFIHQQR I I Peptide mit je einer K K LDVGPALADFIHQQR Austauschposition L L LDVPGALADFIHQQR M M LDVPPGLADFIHQQR N N P P LDVPPAGADFIHQQR Q Q LDVPPALGDFIHQQR R R Identifizierung S S LDVPPALAGFIHQQR T T essenzieller LDVPPALADGIHQQR V V Aminosäurereste W W LDVPPALADFGHQQR Y Y LDVPPALADFIGQQR

c

Abb. 2.13   Epitopmapping. a Peptid-SPOT-Methode. Die gezeigten Peptide werden auf einem Filter nebeneinander synthetisiert und analog zu einem Immunblot angefärbt. Färbung eines Spots zeigt, dass die darauf vorhandene Sequenz ausreichend ist, um eine Bindung zu gewährleisten. Nach einer Einschränkung auf das Kernepitop (Scan) kann man durch Austausch einzelner Seitenketten den Beitrag der jeweiligen Aminosäureposition innerhalb des Kernepitops bestimmen (Glycin- oder Alanin-„walk“). Rote Pfeile markieren Spots auf den Filtern, welche keinen Antikörper gebunden haben, und damit für die Bindung essenzielle Aminosäurepositionen (in der Sequenz rot hinterlegt) anzeigen (nach Frank und Dübel 2005). b Hochparallele kombinatorische Synthese eines Peptidarrays mit einem Laserdrucker. c Evaluation der Spezifität: Auf einem mit der Methode von (b) gedruckten Array wurden sämtliche mögliche Varianten der Originalsequenz IHLVNNESSEVIVHK mit einer von 20 möglichen Aminosäuren (Y-Achse) für jeweils jede einzelne Position (x-Achse) hergestellt und analog zu (a) mit einem Antikörper angefärbt (hier per Fluoreszenzmarkierung ausgelesen). Man erkennt sofort, dass die ersten neun Aminosäurereste nicht zur Bindung beitragen, da sie beliebig austauschbar sind (*). Essenziell für die Bindung sind dagegen die Positionen E10, I12 und K15: Hier zerstört ein Austausch jegliche Bindung. Dagegen sind an der Position 11 drei (V, I, E) und an der Position 13 zwei verschiedene (V, I) Aminosäurereste möglich, Die Position 14 verträgt die meisten Austausche außer A, G, P und W. Der Antikörper erkennt also 24 auf dem Array mögliche Epitopsequenzen, die in der Sequenz sehr verschieden aussehen, z. B. statt dem Original …SEVIVHK auch …QEEIIIK oder …REIIVDK u. ä. Diese oft beobachtete Promiskuität ist ein typischer Grund für unerwünschte Nebenreaktionen von Antikörpern

2.7  Analyse von Antikörpern

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2.7.2.2 Strukturbasierte Methoden zur Epitopbestimmung Die Röntgenstrukturanalyse durch Kristallisation eines Komplexes aus Antikörper und Antigen ist experimentell aufwendig und gelingt bei weitem nicht in allen Fällen – der Engpass ist die die Kristallerzeugung. Aufgrund der enormen Flexibilität der hinge-Region von Immunglobulinen gelang es bisher nur in wenigen Fällen, Kristalle kompletter Antikörper zu erhalten. Auch scFv-Fragmente sind wohl wegen des flexiblen Linkers zwischen VH und VL nur schlecht zu kristallisieren. Die überwiegende Zahl über Kristallstrukturanalyse aufgeklärter Paratop-Strukturen oder Antigen:Antikörper-Komplexe basiert deshalb auf Fab-Fragmenten. Die Verbesserung der erreichbaren Auflösung der Kryo-Elektronenmikroskopie in den letzten Jahren hat eine weitere Möglichkeit geschaffen, durch computerunterstützte Analyse einer großen Zahl von Aufnahmen einzelner Antigen:Antikörper-Komplexe zumindest eine grobe Orientierung über die Anordnung von Antikörper und Antigen zueinander zu bekommen (Long et al. 2015), und wenn die momentan zu beobachtende stetige Verbesserung der Auflösung weitergeht, könnte die Kryo-Elektronenmikroskopie die Röntgenkristallanalyse in nächster Zeit sogar als Standardmethode ablösen, da sie keine Kristallisation erfordert. Ebenfalls über die räumliche Orientierung der Kontaktoberflächen zwischen Antikörper und Antigen geben Methoden Auskunft, welche solche Komplexe massenspektrometrisch untersuchen, nachdem nicht-geschützte Bereiche – also solche, welche nicht an der Bindung beteiligt sind – entweder durch limitierte Proteolyse abverdaut, oder durch Zugabe von Deuterium, welches an der Oberfläche frei zugängliche Wasserstoffreste des Antigens oder Antikörpers ersetzt, markiert wurde. Eine weitere Variante verwendet cross-linker und koppelt dadurch kovalent sich räumlich nahe stehende Aminosäureseitenketten von Antigen und Antikörper des Komplexes, bevor der Rest proteolytisch verdaut wird. Bei all diesen Methoden werden die Komplexe am Ende massenspektrometrisch untersucht und so entweder die nicht-verdauten bzw. nicht mit Deuterium angereicherten Peptide als jene vom Paratop abgedeckten Teile des Antigens identifiziert, oder die vernetzten Peptide von Antigen und Antikörper identifiziert (Opuni et al. 2018). Dennoch ist mit all diesen Methoden die Bedeutung jeder einzelnen Aminosäureseitenkette für die Bindung – also ihre Rolle bei der Erzeugung von Spezifität und Affinität – nicht endgültig zu erkennen. Deshalb wurden dafür weitere Methoden entwickelt, welche auf der Analyse der Funktionalität der Bindungsstelle beruhen. Die erste dafür eingesetzte Methode war die Verwendung von Mutanten des Antigens. War dort nach Änderung zum Beispiel einer einzelnen Aminosäureseitenkette die Bindung an den Antikörper nicht mehr möglich, ging man davon aus, dass diese Aminosäure Bestandteil des Epitops war. Aber auch diese Schlussfolgerung ist nicht immer eindeutig – einzelne Austausche von Aminosäuren in Regionen, die nicht zur Kontaktstelle mit dem Antikörper gehören, können durchaus zur Änderung der Faltungsstruktur einer gesamten Proteindomäne führen und somit durch allosterische Effekte die Kontaktstelle zum Antikörper auch „aus der Ferne“ strukturell verändern und so die Bindung abschwächen oder ganz verhindern. Für den Fall, dass keine Kristalle

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

erhalten werden können, kann die Mutagenesestrategie aber heute die Kombination mit in silico-Modellierungsverfahren für Strukturen eine recht gute Eingrenzung der Epitopstruktur ermöglichen. Die neueste Version der Mutagenesestrategie nutzt eine sehr große Anzahl von Mutanten, hergestellt durch eine sogenannte „shotgun-Mutagenese“ (Paes et al. 2009), welche jeweils funktionell getestet werden und damit eine breite Datenbasis für solche Modelle liefern. Die Mutagenesestrategien erfordern aber alle, die Varianten der veränderten Proteine jeweils einzeln rekombinant und korrekt gefaltet herzustellen – dies kann ein erheblicher Aufwand sein, insbesondere wenn man noch keine anderen Informationen über die Lage des Epitops hat. Heute am weitesten verbreitet, da wesentlich weniger aufwendig als die Mutagenese, sind Epitopanalysen durch Proteinarrays, synthetisch hergestellte Peptide oder durch Antigen-Phagendisplay, wie im Detail in den anschließenden Abschnitten beschrieben.

2.7.2.3 Epitopbestimmung durch Proteinfragmente und Proteinarrays Wenn das Proteinantigen des Antikörpers bereits bekannt ist und die Aufgabe besteht herauszufinden, an welche Stelle des Proteins der Antikörper bindet, dann besteht eine weitere Möglichkeit darin, Fragmente dieses Proteins herzustellen, um festzustellen, an welches der Fragmente der Antikörper noch bindet. Dadurch lässt sich das Epitop entsprechend eingrenzen. In ersten Versuchen dieser Art wurden systematisch unterschiedliche Fragmente des Proteinantigens in Zellen exprimiert und anschließend diese Fragmente gelelektrophoretisch aufgetrennt, um sie von dem großen Hintergrund der zellulären Proteine abzutrennen. Wenn diese anschließend in einem Immunblot ein Färbesignal ergeben, dann deutet dies eher auf ein Epitop hin, welches der Antikörper auch im denaturierten Zustand bindet, denn SDS zerstört die meisten 3D-Strukturen. Man benannte so gefundene Epitopregionen deshalb rein pragmatisch als „lineare“ Epitope, im Gegensatz zu „konformationellen“ oder „diskontinuierlichen“ Epitopen, die nicht nur von der Sequenz, sondern auch von Sekundär, Tertiär- oder Quartärstruktur abhängig sind. Dabei ist der Übergang aber wiederum fließend: Zahlreiche Epitope beinhalten zum Beispiel eine α-Helix. Schaut man die dabei mit dem Paratop interagierenden Aminosäurereste des Epitops an (z. B. bei Liu et al. 1999), sieht man, dass nur jede zweite oder dritte Aminosäure zur Bindung beiträgt, und zwar nur die, welche jeweils nach einer weiteren Umdrehung der Helix wieder in Richtung Paratop zeigen, während die anderen oft beliebig ausgetauscht werden können. Mit einem normalen („linearen“) Sequenzalignment-Algorithmus wäre so ein Epitop in einer Bibliothek von Randomsequenzen praktisch nicht zu erkennen, da eine Homologie mit der „korrekten“ Sequenz von 50 % (d. h. vier Aminosäurereste aus einer Sequenz von acht Resten) die Bindung schon komplett gewährleistet, wie am Beispiel der Epitope verschiedener monoklonaler Antikörper gegen das helikale major coat protein p8 der filamentösen Phagen festgestellt wurde (Kneissel et al. 1999). Der Begriff diskontinuierlich wird für solche Epitope aber dennoch meist nicht gebraucht, und linear im Sinne der bioinformatischen Analyse ist das Epitop auch nicht. Auch nicht-lineare Epitope können durchaus im Immunblot erkannt werden, da einige Antigene nach der SDS-Gelelektrophorese

2.7  Analyse von Antikörpern

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beim Blotten entweder renaturieren können, oder sogar zumindest partiell die originale Sekundärstruktur erhalten geblieben ist. Andererseits können manchmal selbst einfache lineare Epitope in bestimmten Präparationen des Antigens, zum Beispiel nach Gewebeeinbettung für die Histologie, nicht mehr erkannt werden, da sie durch Aldehyde des Fixiermittels modifiziert oder nicht mehr zugänglich sind. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Assays und die Tatsache, dass die entsprechende Nomenklatur nicht eindeutig definiert ist, sollte man deshalb stets im Hinterkopf behalten, wenn man versucht, die Art eines Epitops zu benennen. Ende der 1990er Jahre hat die Arbeitsgruppe von Hans Lehrach den auf Antigenfragmenten basierenden Ansatz weiter ausgebaut, um umgekehrt zu fragen, welches Proteinantigen von vorhandenen „interessanten“ Antikörpern gebunden wird. Solche „interessanten“ Antikörper können beispielsweise die Seren von Autoimmunpatienten sein. Falls es gelingt, deren Zielstrukturen zu bestimmen, dann könnte dieses Wissen ggf. ermöglichen, diese Krankheit besser zu verstehen. Da aber diese Zielstrukturen zunächst nicht bekannt sind, wird ein sehr großer Suchraum benötigt, d. h. möglichst alle menschlichen Proteine sollten exprimiert werden, wenn Autoantigene von Autoimmunpatienten gesucht werden. Um dies zu erreichen, haben Büssow et al. (1998) menschliche cDNA in den Expressionsvektor λgt11 kloniert. Anschließend wurden die mit der λgt11-Bibliothek infizierten Bakterien in einem Bakterienrasen ausplattiert, sodass nach einigen Stunden Tausende von lytischen Plaques entstehen, die pro Plaque jeweils ein unterschiedliches Genfragment exprimieren. Falls dabei das richtige Leseraster beibehalten wurde, so werden die entsprechenden Proteinfragmente gebildet, die dann mit einem Autoimmunserum – oder auch mit einem monoklonalen Antikörper – gefärbt werden. Wird die DNA des so identifizierten Plaques der λgt11-Bibliothek anschließend sequenziert, so ist das Zielantigen gefunden (Büssow et al. 1998). Bei diesen allerersten „Proteinarrays“ wurden die Bakterienklone einfach nur lysiert, sodass die rekombinant exprimierten Proteine zusammen mit bakteriellen Proteinen an die Nitrocellulose gebunden präsentiert wurden. Zhu et al. (2001) haben diesen Ansatz modifiziert, indem sie zunächst in mühevoller Arbeit Tausende von Expressionsplasmiden hergestellt und charakterisiert, die davon exprimierten Proteine mit Hilfe eines GST-tags gereinigt und anschließend im Arrayformat gespottet haben. So konnten sie Arrays mit 5800 gereinigten Hefeproteinen herstellen, die beeindruckende 93,5 % des Hefegenoms abdeckten. Crompton et al. (2010) haben ähnliche Arrays mit 1200 von insgesamt 5400 Proteinen des Malaria-Erregers Plasmodium falciparum hergestellt. Als sie diese Arrays mit ~200 verschiedenen Seren von Malariapatienten färbten, fanden sie eine erstaunlich hohe Zahl von 491 immunogenen Proteinen, d. h. ~40 % der getesteten Malariaproteine wurden von mindestens einem Antikörperserum erkannt. Jaenisch et al. (2019) konnten diesen Befund mit Hilfe von Peptidarrays bestätigen und fanden dabei einen ähnlich hohen Prozentsatz von immunogenen Peptiden, die aus dem Genom von Plasmodium faliciparum abgeleitet wurden. Eine mögliche Erklärung für diesen verblüffenden Befund könnte sein, dass der Malariaerreger die Immunantwort „absichtlich“ auf das in menschlichen Erythrocyten wachsende Trophozoitenstadium lenkt, sodass es immer wieder zu Neuinfektionen durch

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

das Sporozoitenstadium kommen kann, denn diese haben eine ganz andere Ausstattung mit Proteinen als Trophozoiten. Um Fragen dieser Art zu bearbeiten, gibt es mittlerweile Proteinarrays mit >20.000 verschiedenen humanen Proteinen zu kaufen, die etwa 89 % aller menschlichen Proteine enthalten. Entsprechend gibt es auch zahlreiche Pathogen-Arrays, die jeweils die Mehrzahl der Proteine eines Krankheitserregers präsentieren. Mit solchen Arrays lässt sich sehr schnell herausfinden, welche Proteine eines Pathogens vom Immunsystem eines Menschen markiert werden oder auch welches menschliche Protein zu einem besonders interessanten Färbemuster eines monoklonalen Antikörpers gehört. Allerdings haben diese Arten von Proteinarrays auch einige gravierende Nachteile. Ihre Produktion ist aufwendig und die Expressionsrate der verschiedenen Proteine kann in einem extrem weiten Bereich variieren. Dies liegt an den verwendeten Expressionssystemen, dem codon usage, ggf. vorliegenden Proteasen, komplexen Faltungswegen, die oft zu inclusion bodies führen, posttranslationalen Veränderungen und an der unterschiedlichen Stabilität der gebildeten Proteine. Deshalb müssen diese „gereinigten Protein-Mikroarrays“ normalerweise bei –80 °C aufbewahrt werden und sofort nach dem Auftauen verwendet werden. Diese Stabilitätsprobleme gibt es bei Plasmid- oder Oligonucleotidarrays nicht, was zu der Idee führte, zunächst nur die sehr viel robustere Information zur Proteinherstellung, also die unterschiedlichen proteincodierenden Oligonucleotide, Plasmide, PCR-Reaktionen oder mRNAs im Arrayformat aufzubringen. Erst kurz bevor die Arrays benötigt werden, wird ein in vitro-Transkriptions-/Translations-System hinzugegeben, sodass diese Genarrays in die entsprechenden Proteinarrays „übersetzt“ werden. Diese array-on-demand-Verfahren werden von He et al. (2008) und von Yu et al. (2016) in Übersichtsartikeln beschrieben). Die meisten dieser Verfahren fangen die in vitro translatierten Proteine auf der Oberfläche in direkter Nähe der sie codierenden DNA ein (He et al. 2001; Ramachandran et al. 2004). So werden in einem System die verschiedenen PCR-Produkte zusammen mit einem „Fänger“ – eine Oberfläche aus Nickelchelat – im Arrayformat aufgespottet. Die verschiedenen PCR-Produkte enthalten alle einen T7-Promotor und codieren ein „His-tag“. Werden also durch ein in vitro-Transkriptions-/Translationssystem die verschiedenen PCR-Produkte in die entsprechenden Proteine übersetzt, dann binden alle Proteine mit ihrem His-tag in der Nähe „ihres“ PCR-Produkts. Arrays dieser Art können in der DNA-Form monatelang aufbewahrt werden und es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher in vitro-Transkriptions-/Translations-Systeme (z. B. aus E. coli, Hefe, Kaninchen-Reticulocyten). Mit einem solchen Ansatz haben Hufnagel et al. (2018) das Genom des bakteriellen Pathogens Chlamydia trachomatis in die entsprechenden Proteine übersetzt, um solchermaßen nach immundominanten Antigenen in infizierten Frauen zu suchen. Dabei konnten sie zeigen, dass fast alle Proteine in voller Länge hergestellt wurden. Dazu fusionierten sie einfach ein tag sowohl an den N-Terminus als auch an den C-Terminus des jeweiligen Proteins und wiesen diese tags mit den entsprechenden monoklonalen Antikörpern nach. Dieser Versuchsansatz zeigt schön eine Stärke der Proteinarrays auf: Es war lange schon

2.7  Analyse von Antikörpern

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vermutet worden, dass sich C. trachomatis-Infektionen und Cervixkarzinome gegenseitig beeinflussen, aber die Vielzahl der möglicherweise beteiligten Proteinantigene bzw. der Antikörper der Patienten erschwerten den Nachweis. Hufnagel und Kollegen konnten mit ihren Proteinarrays klar zeigen, dass einige von Serumantikörpern gefärbte C. trachomatis-Proteine eine akute Infektion anzeigen, während andere C. trachomatis-Proteine benutzt werden können, chronische Infektionen bzw. ein zusätzliches Cervixkarzinom zu diagnostizieren. Eine noch radikalere Variante dieser Methode bringt unterschiedliche mRNAs im Arrayformat auf einen Glasobjektträger auf. Diese mRNAs werden jeweils von einem trägergebundenen einzelsträngigen Oligonucleotid, das jeweils spezifisch an das 3’-Ende „seiner“ mRNA hybridisiert, an „ihrem“ Ort verankert. Diese mRNA wird durch ein in vitro-Translationssystem jeweils in das entsprechende Protein übersetzt, das mit einem brillanten Trick an Ort und Stelle fixiert wird: Wenn das Ribosom die RNA/ DNA Hybridregion erreicht, stoppt das Ribosom und überträgt das neu gebildete Protein auf ein Puromycin, das vorher an das genannte einzelsträngige Oligonucleotid gekoppelt wurde (Tao et al. 2006).

2.7.2.4 Epitopbestimmung mit chemisch hergestellten Peptidbibliotheken Die Herstellung von Tausenden von Expressionsplasmiden sowie die Expression und Reinigung von ebenso vielen Proteinen ist extrem arbeitsaufwendig und garantiert keineswegs, dass das gesuchte, z. B. von einem Autoimmunserum markierte Proteinantigen in dieser Expressionsbibliothek tatsächlich vorhanden ist. Die Autoantikörper von Patienten mit Rheumatoider Arthritis erkennen beispielsweise solche Peptide, die Citrullin oder Homocitrullin enthalten (Trouw et al. 2017). Citrullin entsteht aus der posttranslationalen Veränderung der Aminosäure Arginin, während Homocitrullin von der Aminosäure Lysin abstammt. Solche posttranslationalen Veränderungen sind normalerweise in den beschriebenen Proteinarrays nicht abbildbar (siehe 2.7.2.3). Der Arbeitskreis von Kit S. Lam entwickelte daraufhin eine besonders einfache Methode mit der viele Millionen unterschiedlicher Peptide inklusive posttranslationaler Veränderungen schnell und kostengünstig chemisch synthetisiert werden können. Bei dieser ein-Partikel-ein-Peptid-Methode (oder auch split-pool-Synthese) werden zunächst viele Mikropartikel hergestellt, die jeweils eine große Zahl von freien Aminogruppen tragen. Diese dienen als Anknüpfungspunkte für chemisch aktivierte Aminosäurebausteine, deren eigene freie Aminogruppen durch eine leicht abspaltbare („transiente“) Schutzgruppe maskiert sind. Ganz genau wie in der bewährten Festphasen-Synthese – für die Robert Bruce Merrifield im Jahr 1984 den Nobelpreis für Chemie erhielt – werden im nächsten Schritt die transienten Schutzgruppen der gerade neu verknüpften Aminosäuren abgespalten, sodass in einem weiteren Kopplungsschritt das wachsende Peptid um einen weiteren Aminosäurebaustein verlängert werden kann (Merrifield 1965). Kit S. Lam hat diese Festphasen-Synthese mit einem kleinen brillanten Trick variiert: Er hat die Mikropartikel in 20 verschiedene Gefäße verteilt („split“), in denen jeweils die 20 unterschiedlichen Aminosäurebausteine an die darin befindlichen Partikel gekoppelt wurden. Danach hat er die Partikel wieder miteinander vereinigt („pool“), sodass er für alle Partikel

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gleichzeitig die transiente Schutzgruppe abspalten konnte um diese so für den nächsten Kopplungsschritt vorzubereiten. Wieder wurden die Partikel mit den jetzt um eine Aminosäure verlängerten Peptiden auf 20 verschiedene Gefäße verteile („split“), sodass wieder alle wachsenden Peptide in „ihrem“ Gefäß um die dort vorliegende Aminosäure verlängert wurden. Wenn dieses Verfahren 15-mal durchgeführt wird, dann hat jedes Partikel nacheinander völlig zufällig aufeinanderfolgende verschiedene Kopplungslösungen „besucht“, sodass seine Peptidsequenz eine von allen möglichen Zufallskombinationen von Aminosäuren aufweist. Mit diesem Verfahren können Millionen unterschiedliche Peptide hergestellt werden (Lam et al. 1991). Da der Prozess komplett im Reagenzglas stattfindet, können so auch einfach nicht-natürliche oder posttranslational veränderte Aminosäuren in die Peptide eingebaut werden. Der große Nachteil dieser Methode liegt aber im Auslesen der Bindungsereignisse. Da die Partikel rein zufällig nacheinander die verschiedenen Kopplungslösungen „besuchen“, ist – im Unterschied zum Array – die Information verloren gegangen, welches Peptid auf welchem Partikel synthetisiert worden ist. Wenn also einige Partikel – mit den dort präsentierten Peptiden – z. B. an einen Antikörper binden, dann müssen die Sequenzen der jeweiligen Peptide mühsam und teuer wieder durch Edman-Abbau bestimmt werden.

2.7.2.5 Herstellung von Peptidarrays Die Methode, mit der man am schnellsten und einfachsten bestimmen kann, welche Peptide ein Antikörper bindet (und gleichzeitig, welche nicht gebunden werden) ist der Array. Dabei wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Peptiden an jeweils genau bekannten Stellen synthetisiert, sodass ein Färbemuster auf einen Blick anzeigt, welche dieser Peptide gebunden wurden. Dieses Färbemuster wird technisch gesehen sehr einfach erzeugt: Ein monoklonaler Antikörper oder auch die Antikörper eines Patientenserums werden in einem Puffer gelöst über den Array gegeben, nach einiger Zeit wieder ausgewaschen und anschließend die gebundenen Antikörper mit einem fluoreszenzmarkierten Zweitantikörper nachgewiesen. Dies macht genauso viel Arbeit, wenn auf diesem Array zehn oder eine Million verschiedene Peptide vorliegen, was der Anreiz dafür war, die Syntheseverfahren so weit zu miniaturisieren, dass möglichst viele verschiedene Peptide mit einem solch einfachen Versuch auf eine Bindung hin untersucht werden können. Bei diesem Verfahren kommen die verschiedenen Antikörper durch Diffusion in die Nähe der verschiedenen trägergebundenen Peptide, aber nur wenn die 3D-Struktur eines Peptids genau komplementär zu der 3D-Struktur des Antikörpers ist, können sich die Oberflächen dieser beiden Moleküle so nahe kommen, dass sich Wasserstoffbrücken, van-der-WaalsKräfte, ionische oder hydrophobe Wechselwirkungen ausbilden können. Diese halten den Antikörper dann an Ort und Stelle fest, während alle anderen Antikörper wieder wegdiffundieren. Spezifität und Affinität sind so stets verknüpft. Wie erreicht man das Ziel, möglichst viele verschiedene Peptide im Arrayformat herzustellen? Schon bei den Proteinarrays zeigte sich, dass es sehr arbeitsaufwendig ist, Tausende von vorsynthetisierten Proteinen auf diskrete Stellen eines Trägers aufzuspotten – dies gilt natürlich auch für die Herstellung von Peptidarrays.

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Mit seiner Erfindung der kombinatorischen Peptidsynthese im Jahr 1990 hat Ronald Frank dieses Problem gelöst, denn damit wurde es plötzlich deutlich einfacher, sehr viele Peptide herzustellen. Ähnlich wie bei der split-pool-Synthese hat er die Standard-Merrifield-Synthese mit einem kleinen genialen Trick variiert: Er hat dazu 20 verschiedene Lösungen hergestellt, die die 20 verschiedenen chemisch aktivierten Aminosäurebausteine enthielten. Die unterschiedlichen Aminosäurebausteine werden anschließend in möglichst kleinen Mengen an vorher festgelegte Orte gespottet, sodass sie dort an den Träger koppeln. Im nächsten Schritt werden die transienten Fmoc-Schutzgruppen entfernt und anschließend die Peptide jeweils an „ihren“ Spots um eine weitere Aminosäure verlängert, sodass nicht nur ein Peptid, sondern gleich sehr viele Peptide im geordneten Arrayformat an einfach wiederzufindenden Positionen entstehen. Es ist allerdings schwierig, kleine Lösungsmittel-Spots an Ort und Stelle zu halten, ohne dass diese vor der Zeit verdunsten oder seitlich „wegkriechen“, sodass der Miniaturisierungsgrad dieser Technologie mit etwa 25 Peptidspots pro cm2 überschaubar blieb (Frank 1992). Dennoch war diese „SPOT-Synthese“ die erste Technik, die sehr einfach sehr viele Peptide in guter Qualität liefern konnte, weshalb sie das Feld in den folgenden zwei Jahrzehnten dominierte. Im Jahr 1993 kommerzialisierte die Firma ABIMED Analysen-Technik ihren ersten „SPOT-Synthesizer“ (ASP222), der bis zu 25.000 Peptidspots auf einer Fläche von 30 × 30  cm2 herstellen konnte (Frank 2002). Verglichen mit dem Phagendisplay von Peptiden hat die SPOT-Synthese zwei Vorteile: Gebundene Peptide werden durch den Ort des Bindesignals sofort identifiziert und im Unterschied zum Phagendisplay können posttranslational veränderte Aminosäuren oder auch andere organische „Bausteine“ ohne großen Aufwand in die Peptide eingebaut werden (Frank 2002). Damit konnten erstmals Bindungspartner für monoklonale oder polyklonale Antikörper im Hochdurchsatzverfahren gesucht werden (Stigler et al. 1995) oder auch Peptidepitope genau bestimmt werden (Palermo et al. 2017; Abb. 2.13a). Solche Peptidarrays sind insbesondere dann von Vorteil, wenn wertvolle biologische Proben nur in geringer Menge vorhanden sind, sodass viele Gruppen versuchten, die Synthesespots noch weiter zu miniaturisieren. In einem Versuch dazu wurden zunächst 25 Peptide pro cm2 mit Hilfe der SPOT-Synthese auf Celluloseträgern vorsynthetisiert, dann wurden die einzelnen Cellulosespots ausgestanzt und der Celluloseträger abgebaut. Die jetzt löslichen Peptide konnten anschließend in einer Dichte von bis zu 10.000 Peptide pro cm2 auf einen Glasträger gespottet werden, wo sie durch den verbleibenden Celluloseanteil immobilisiert wurden (Frank 2002; Dikmans 2004). Ein Nachteil solcher hochdichten Arrays ist aber, dass sie aufgrund der umständlichen Herstellung sehr teuer sind. Interessanterweise – und im starken Unterschied zu den Oligonucleotidarrays – gelang es erst vor kurzem, dichtere Peptidarrays alternativ mit einem Tintenstrahldrucker herzustellen (Li et al. 2019), obwohl ein entsprechendes Patent bereits im Jahr 1994 eingereicht wurde (Nishioka 1994, US 5449754). Ähnliches gilt auch für die lithographischen Methoden. Diese stammen aus der Halbleiterfertigung und beruhen auf unterschiedlicher Belichtung bestimmter Flächen. Dabei definiert eine Lichtmaske für fast beliebig kleine Flächen, wo die transiente Schutz-

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gruppe abgespalten werden soll. Diese von den Schutzgruppen befreiten Orte reagieren danach mit einem Aminosäurebaustein, sodass im Prinzip Hunderttausende Peptide auf dem Array um eine Aminosäure verlängert werden können. Zwar konnten Fodor et al. (1991) schon sehr früh extrem dichte Peptidarrays herstellen, solche Arrays haben jedoch bis heute mit großen Qualitätsproblemen zu kämpfen. Das Problem liegt darin, dass die Methode für die verschiedenen Aminosäurebausteine 20-mal durchgeführt werden muss, wenn alle Peptide des Arrays auch nur um eine Aminosäure verlängert werden sollen, bzw. es werden 15 × 20 = 300 Kopplungszyklen benötigt, um einen Array mit 15mer-Peptiden herzustellen. Dies ist umständlich und teuer und führt offenbar zu Syntheseartefakten, weshalb damit bisher zwar sehr viele, aber nur sehr kurze Peptide hergestellt werden konnten. Einige weitere Probleme sind mittlerweile gelöst. Die von Fodor und Kollegen verwendeten Schutzgruppen wurden nur sehr ineffizient mit Licht abgespalten, weshalb Pellois und Kollegen Fotosäuren eingesetzt haben. Dies sind Moleküle, die durch Lichteinwirkung lokal begrenzt Säuren freisetzen, sodass nun die bewährten durch Säure abspaltbaren tBoc-Schutzgruppen eingesetzt werden konnten (Pellois et al. 2002). Allerdings ist es dann schwierig, die durch Licht generierten Säuren am Ende wieder zu entfernen, ohne dass dadurch tBoc-Schutzgruppen an „falschen“ benachbarten Stellen abgespalten werden. Ein weiteres Problem waren die teuren lithographischen Masken, von denen 300 verschiedene Varianten für jeden einzigen Array von 15mer-Peptiden benötigt werden. Zur Lösung dieses Problems wurde ein Bauelement mit schaltbaren Spiegeln entwickelt, welches es ermöglicht, beliebige Muster auf einer Oberfläche zu bestrahlen (Shin et al. 2010). Mit diesen Techniken haben Legutki und Kollegen mittlerweile 660.000 Peptide pro cm2 synthetisiert, wobei sie die Qualität der Peptide sogar mit MALDI MS imaging überprüft haben (Legutki et al. 2014). Arrays dieser Art werden von der Firma LC Science verkauft. Mit lithographischen Techniken können heute also Arrays mit extrem vielen Peptiden hergestellt werden, die jedoch den Nachteil einer nur mäßigen Synthesequalität haben, während die bis dahin verwendeten Druckverfahren zwar Arrays mit besserer Qualität liefern, die aber pro Peptid gerechnet teuer sind, da der Miniaturisierungsgrad gering ist. Deshalb wurde eine festmaterialbasierte Synthesemethode entwickelt, mit der hochdichte Peptidarrays in guter Qualität hergestellt werden können (Beyer et al. 2007; Stadler et al. 2008). Bei dieser Methode werden die Arrayträger, auf denen die Peptide synthetisiert werden sollen, mit festen Materialien bedruckt, in das die Aminosäurebausteine eingebettet sind. Verglichen mit kleinen Tröpfchen ist es viel leichter, kleine Spots mit unterschiedlichen festen Materialien auf einem Träger aufzubringen, denn feste Materialien verdampfen nicht, sie „kriechen“ nicht auf der Oberfläche davon und auch die darin eingebetteten Aminosäuren diffundieren nicht. Ein weiterer Vorteil ist, dass eigentlich sehr reaktive chemische Bausteine vor der Umwelt geschützt sind, wenn sie in feste Materialien eingebettet sind (Stadler et al. 2008). Dadurch ist genug Zeit vorhanden, die verschiedenen Aminosäurebausteine nacheinander an ausgewählten

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Orten des Trägers aufzubringen. Erst nach einem vollständigen Druckvorgang mit allen notwendigen Aminosäurevorstufen wird die Kopplungsreaktion für alle Peptidspots gleichzeitig gestartet, indem die festen Materialspots mit den unterschiedlichen darin eingebetteten Aminosäurebausteinen verflüssigt werden. Dies geschieht durch einen Hitzeschritt oder ein gasförmiges Lösungsmittel, sodass die jetzt nicht mehr „eingefrorenen“ Aminosäure-Bausteine zur nächstgelegenen Trägeroberfläche diffundieren können, wo sie an freie Aminogruppen koppeln (Abb. 2.13b). Die Chemie entspricht dabei der bewährten Merrifieldsynthese, die nur durch einen kleinen Trick verfeinert wurde. Es gibt viele Wege, um einen Träger mit unterschiedlichen festen Materialien zu bedrucken. In einem Ansatz wurden unterschiedliche „Aminosäurepartikel“ aus dem Aerosol durch Pixelelektroden eines Computerchips angezogen oder abgestoßen – so konnten 40.000 verschiedene Peptide pro cm2 synthetisiert werden (Beyer et al. 2007). Noch mehr Peptide konnten synthetisiert werden, indem einzelne eng fokussierte Laserblitze „Aminosäurepartikel“ hochgenau an „ihrem“ Syntheseort festklebten (Märkle et al. 2014). Besonders einfach ist es aber, einen herkömmlichen Farblaserdrucker zu verwenden, um die >20 verschiedenen Aminosäurepartikel nach dem Prinzip des Fotokopierers auf den Träger zu drucken (Stadler et al. 2008). Ein solcher Peptidlaserdrucker nutzt statt der Partikel für vier Farben eines konventionellen Druckers zwanzig verschiedene Aminosäurepartikel. So hergestellte Peptidarrays werden von der Firma PEPperPRINT hergestellt (https://www.pepperprint.com). Kürzlich wurde eine besonders interessante Variante der festmaterialbasierten Peptidsynthese entwickelt. Dabei werden die in ein Partikel aus festem Material eingebetteten Aminosäurebausteine als eine 1–2 µm dünne Schicht auf einer schwarzen Kaptonfolie aufgebracht. Ein 2D-Laser-Scanning-System schießt dann aus dieser „Donorfolie“ mit Hilfe von einzelnen Laserpulsen winzige Materialmengen heraus, welche so auf den gegenüberliegenden Träger transferiert werden, wo anschließend die Peptidsynthese stattfindet. Diese Methode kann sehr einfach automatisiert werden, indem die unterschiedlichen Donorfolien mit einem Roboterarm nacheinander ausgetauscht werden, nachdem das 2D-Laser-Scanning-System an frei wählbaren Orten die Materialspots ausgestanzt hat. Auf diese Weise konnten Löffler et al. (2016) Arrays mit mehr als 17.000 Peptiden pro cm2 in guter Qualität herstellen. Die schwarze Kaptonfolie „übersetzt“ dabei die einzelnen Laserpulse in Hitzepakete. Diese bewirken letztlich den Transfer der winzigen Materialspots, die sich als Nanometer-dünne Schichten auf dem Syntheseträger ablagern. Da sich nanoskalige Schichten perfekt durchmischen und die Menge an transferiertem Material durch Einstellung der Pulsenergie des Lasers exakt steuerbar ist, kann dieses Verfahren auch für komplexere Array-Synthesen verwendet werden. Damit können geringste Mengen verschiedener Bausteine für chemische Synthesen vollkommen frei kombinierbar übereinander gestapelt werden (Mattes et al. 2018). Diese Technik wird es voraussichtlich erlauben, zukünftig hochdichte Arrays z. B. von Peptiden oder von Glykopeptiden herzustellen (zur Übersicht siehe Mattes et al. 2019).

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

2.7.2.6 Lineare Peptidepitope können einfach mittels Peptidarrays bestimmt werden Mit Hilfe von Peptidarrays (siehe 2.7.2.5) können mittlerweile die genauen Epitope von Antikörpern sehr einfach bestimmt werden – zumindest wenn es sich dabei um lineare Epitope handelt. Alles, was dafür benötigt wird, ist zunächst das Wissen, welches (Protein)antigen erkannt wird, denn mit diesem Wissen kann ein „Scan“ gemacht werden (Abb. 2.13a). Dafür wird das Proteinantigen in viele einander überlappende Peptide zerlegt, um das kleinste Peptid zu finden, an das der Antikörper noch binden kann. Damit ist das Epitop zwar eingegrenzt worden, es fehlt aber immer noch das Wissen, genau welche Aminosäuren des so gefundenen Peptids für die Spezifität der Bindung verantwortlich sind. Auch dies kann mit einem Peptidarray einfach herausgefunden werden: In einer Substitutionsanalyse wird systematisch jede Aminosäure des im Scan gefundenen Peptids ausgetauscht und nochmals mit demselben Serum gefärbt. Dabei findet man bei den meisten Antikörpern nur drei bis fünf Positionen des Peptids, für die es nicht egal ist, welche Aminosäure an dieser Stelle des Peptids steht – diese wenigen Aminosäuren sind es also, die verantwortlich sind für die Spezifität der Bindung des Antikörpers an sein (Peptid)antigen. Mit diesem Wissen kann man anschließend die Frage stellen, ob die Antikörper, die verschiedene Menschen z. B. nach einer Impfung bilden, sich deutlich voneinander unterscheiden. Dies sollte man eigentlich erwarten, denn die Kombination der Antikörpergenfragmente erfolgt ja zufällig. Überraschenderweise ist dies aber zumindest für einige Erkrankungen nicht der Fall. Fast alle gegen Tetanus geimpften Patienten bilden einen Antikörper, der nahezu dasselbe Epitop bindet (Palermo et al. 2017). Ähnliches gilt für einen Anti-Polio-Antikörper, aber auch für Peptidantigene, die zum Genom von Staphylococcus aureus oder zu Borrelia burgdorferi passen (Weber et al. 2017a, b). 2.7.2.7 Die Serumantikörper eines Patienten sind eine wichtige Informationsquelle Jeder Mensch bildet zwar mehr als 108 verschiedene B-Zellen, die alle einen unterschiedlichen Antikörper herstellen, aber diese vielen verschiedenen Antikörperspezies existieren zunächst nur in winzigen Mengen, bevor sie durch klonale Selektion ausgewählt werden. Wenn man annimmt, dass ein Antikörper eine Konzentration von 5–10 µg/mL erreichen muss, wenn er bei einer akuten Infektion therapeutisch wirksam sein soll (dies entspricht auch in etwa den Antikörpermengen, die bei einer Tumortherapie gegeben werden), dann haben wir bei 10–12 mg IgG-Antikörper pro mL in unserem Blut nur „Platz“ für etwa 1000 verschiedene durch klonale Selektion vervielfältigte Antikörperspezies. Dies erklärt auch, warum diese Population von ausgewählten Antikörperspezies dynamisch sein muss: Nur wenn die zu einem früheren Zeitpunkt ausgewählten Antikörper mit der Zeit zum Großteil wieder verschwinden (wobei sie aus Memoryzellen aber schnell wieder abrufbar sind), nur dann können wir flexibel auf neue Infektionen reagieren.

2.7  Analyse von Antikörpern

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Wenn man sich vor Augen führt, dass uns zu einem gegebenen Zeitpunkt nur einige hundert oder maximal wenige tausend verschiedene Antikörperspezies gegen eine akute Infektion verteidigen, dann wird klar, dass ein ausgeklügeltes System vorhanden sein muss, das die „richtigen“ Antikörper zur Vervielfältigung auswählt. Ebenso klar ist, dass Pathogene alle möglichen Strategien entwickeln, um diese Begrenzung der humoralen Immunantwort für ihre Zwecke auszubeuten. Dies könnte zum Beispiel auch erklären, warum der Malariaerreger so viele verschiedenen Antikörper gegen das Erythrocytenstadium induziert (Crompton et al. 2010; Jaenisch et al. 2019). Solange ein Mensch das lebensbedrohliche Erythrocytenstadium des Malariaerregers bekämpfen muss, ist möglicherweise einfach kein Platz mehr im Blut für solche Antikörper, die andere, infektiöse Stadien des Malariaerregers erkennen und somit die primäre Infektion verhindern könnten. Die Infektion mit dem Denguevirus ist ein weiteres Beispiel, dass die „falschen“ Antikörper großen Schaden anrichten können. Die Erstinfektion mit dem Denguevirus ist zwar lästig, aber nur sehr selten tödlich. Wenn jedoch die Erstinfektion die „falschen“ Antikörper hervorgebracht hat, dann helfen genau diese Antikörper dem Virus bei einer späteren Infektion, leichter in die Zellen zu kommen, sodass die Krankheit einen wesentlich schwereren Verlauf nehmen kann (Halstead et al. 2010). Ähnliches mag für Autoimmunkrankheiten, für antikörpervermittelte Abstoßung von Transplantaten, aber auch für unglückliche genetische Situationen wie die Rhesus-Faktor-Inkompatibilität gelten. In diesem Fall wird die Rhesusfaktorneg Mutter während der Geburt des ersten Rhesusfaktorpos Kindes immunisiert, sodass plazentagängige Anti-Rhesusfaktor-IgG-Antikörper der Mutter die vom Vater geerbten Rhesusfaktorpos-Strukturen des zweiten Kindes angreifen. Zusätzlich dazu gibt es in unserem humoralen Immunsystem noch sogenannte „natürliche Antikörper“, die klar festgelegte Funktionen haben. Einige dieser natürlichen Antikörper schützen uns vor Tumoren, aber man weiß bisher nur, dass diese Antikörper gegen bisher nicht identifizierte Zuckerstrukturen auf diesen Tumorzellen gerichtet sind (Schwartz-Albiez 2012). Andere natürliche Antikörper erkennen zum Beispiel, ob eine Zelle längere Zeit ohne Sauerstoff auskommen musste. Sie markieren solche Zellen für die Zerstörung und verhindern so ebenfalls das Wachstum von Tumoren, aber sie verstärken damit auch die Probleme, die durch einen Herzinfarkt ausgelöst werden (Weiser et al. 1996). Zusammen mit der Tatsache, dass kein Mensch längere Zeit ohne funktionierendes humorales Immunsystem überlebt, ist somit klar, dass das Wissen darüber welche Antikörper genau ein Patient vervielfältigt im Blut vorliegen hat eine sehr wichtige Information darstellt. Ein solches Wissen könnte in Zukunft helfen Infektions- oder Autoimmun-Krankheiten zu diagnostizieren, ihren Verlauf zu überwachen oder sogar vorherzusagen. Wir könnten damit viel genauer sagen, wann therapeutisch interveniert werden sollte, aber auch ob ein neu entwickelter Impfstoff tatsächlich die „richtigen“ Antikörper induziert. Sicherlich wäre es auch sehr interessant heraus zu finden, was genau die natürlichen Antikörper binden, die viele Menschen offensichtlich vor Tumoren schützen.

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2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Zwar können schon seit langem viele verschiedene Krankheiten über die vom Patienten gebildeten Antikörper diagnostiziert werden, doch dafür müssen die entsprechenden Antigene bekannt sein, sodass z. B. mit Proteinen des Influenzavirus im ELISA gefragt werden kann, ob in einem Patienten Anti-Influenza-Antikörper vorhanden sind. Schon Konrad Büssow hat mit seinen allerersten Proteinarrays umgekehrt gefragt „Welche Proteine erkennen eigentlich die Antikörper z. B. eines Autoimmunpatienten?“ (Büssow et al. 1998). Dies konnte er tun, weil seine in λgt11-Phagen zufällig exprimierten humanen Genfragmente einen riesigen Suchraum eröffnet haben, sodass eine solche Frage erstmals möglich war. Einen noch größeren Suchraum bieten die Phagendisplay-Bibliotheken, die bis zu 1012 verschiedene Zufallspeptide (Smith 1985) oder auch menschliche Proteinfragmente präsentieren (Larman et al. 2011; Zantow et al. 2016). Mit Hilfe dieser Peptid-Bibliotheken konnten Wang et al. bei Patienten mit Prostata-Karzinom diagnostische Antikörper finden (Wang et al. 2005). Allerdings ist es mühevoll, alle gebundenen Peptidsequenzen einer Phagendisplaybibliothek zu bestimmen. Deshalb haben Legutki et al. für ähnliche Fragestellungen Peptidarrays mit 600.000 verschiedenen Zufallspeptiden verwendet, denn ein Peptidarray zeigt sofort an, welche Peptide gebunden haben und welche nicht (Legutki et al. 2013). Nun stellt sich die Frage, bei welchen Krankheiten wir diagnostische Antikörper finden können und wie groß der Suchraum eigentlich sein sollte, damit wir auch ohne Vorwissen herausfinden können, ob z. B. bestimmte Antikörperspezies vorwiegend in Patienten mit chronique fatigue syndrome vorkommen, oder auch ob es in Malaria-endemischen Gebieten nicht-infizierte Menschen gibt, deren Antikörper das Sporozoitenstadium des Malariaerregers erkennen. Was die Größe des Suchraums betrifft, so bietet die genaue Analyse der Antikörperepitope einen Anhaltspunkt. Meist sind es nur drei bis fünf Aminosäuren innerhalb eines längeren Peptids, die bestimmen, ob ein Antikörper an dieses Peptid noch binden kann oder nicht (Abb. 2.13c). Dies bedeutet, dass 205 = 3,2 Mio. Zufallspeptide ausreichen sollten, um für die meisten Antikörper eines Patientenserums ein spezifisch bindendes Peptid zu finden. Wenn dann auch noch klar ist, genau welche Aminosäuren des Peptids für die Spezifität der Bindung verantwortlich sind, dann ergibt eine Suche in den Datenbanken eine Liste von Proteinen, die Kandidaten für das Antigen sind, das diesen Antikörper ursprünglich induziert hat. So kann für jedes Patientenserum bestimmt werden, welche Antikörperspezies in größeren Mengen vorliegen und was diese Antikörper erkennen (Weber et al. 2017a). Dass sehr viele Krankheiten über Patientenantikörper verlässlich diagnostizierbar sind, ist schon lange bekannt, aber es ist eigentlich ein seltsamer Befund, denn die Vielfalt der Antikörper entsteht weitgehend zufällig. Offensichtlich befolgen die Immunsysteme der meisten Menschen ganz ähnliche Regeln, d. h. aus der Vielzahl der Antigene eines Pathogens werden einige wenige ausgewählt, gegen die fast alle Menschen spezifisch bindende Antikörper bilden, die in einigen Fällen sogar exakt das gleiche Peptidantigen erkennen (Palermo et al. 2017). Damit sind die Voraussetzungen gegeben für eine besonders spannende zukünftige Entwicklung, die sich jetzt schon klar abzeichnet: Billig herstellbare Arrays

2.7  Analyse von Antikörpern

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von Peptid- oder Proteinantigenen werden viele Krankheiten gleichzeitig diagnostizieren können und dies wird vielleicht überraschende Querverbindungen zwischen verschiedenen Krankheitsursachen aufzeigen. Dieses Wissen existiert derzeit aber nur in Bruchstücken. Die zur Charakterisierung von Antikörpern entwickelten Methoden zum Epitopmapping – dabei insbesondere die durch hochdiverse Arrays mögliche parallele Untersuchung vieler Möglichkeiten – werden zukünftig sicher zum besseren Verständnis von Krankheiten beitragen.

2.7.2.8 Epitopbestimmung durch Phagendisplay Das Phagendisplay kann nicht nur zur Selektion von Antikörpern genutzt werden, sondern auch zum Epitopmapping der isolierten Antikörper. Beim Epitopmapping werden Proteinfragmente des Antigens auf der Oberfläche von Phagen präsentiert. Die Verwendung von Zufallspeptid-Genbibliotheken, meist aus sieben, 12 oder 15 Aminosäureresten, hat sich dabei als weniger zweckmäßig erwiesen, da sehr oft Peptide gefunden werden, die der eigentlichen Antigensequenz nur wenig ähnlich sind (Fack et al. 1997). Hier verhindert die enorme Anzahl der verschiedenen Sequenzvarianten, die durch die Kombinatorik von 20 verschiedenen Aminosäureresten möglich ist, die Herstellung von Phagendisplaybibliotheken, welche alle Kombinationen enthalten. Beispiel: Eine Random-Sequenz an sieben Positionen erzeugt bereits 1,2 Mrd. verschiedene Varianten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Peptidsequenz – die dem originalen Epitop des untersuchten Antigens entspricht – in einer Bibliothek mit 12 randomisierten Aminosäuren (errechnete kombinatorische Diversität: 4 × 1015) überhaupt vorhanden ist, ist bei der durch den Transformationsschritt technisch beschränkten typischen Diversität von Phagendisplaybibliotheken von ca. 1010 also extrem gering (eins zu 400.000). Die Chance, das Original-Epitop aus einer 12mer- oder 15mer-Random-Peptidbibliothek zu identifizieren, selbst wenn es darin vorhanden ist, ist also extrem gering. Dazu kommt, dass die meisten Antikörper zahlreiche Varianten von Peptiden binden können, wie in Abb. 2.13c eindrucksvoll zu sehen ist. Random-Peptid-Phagendisplay liefert einem so zwar oft einige Sequenzen, die der Antikörper im ELISA bindet – der Rückschluss von diesen auf die tatsächlich in der Natur erkannte Sequenz kann aber wegen dieser Varianz sehr schwierig sein. Dies illustriert der Vergleich der nachgewiesenermaßen alle den gleichen Antikörper bindenden 7mer-Sequenzen (SEVIVHK, QEEIIIK und REIIVDK) aus Abb. 2.13c: Eine Homologiesuche mit diesen Sequenzen in den Proteindatenbanken bringt jeweils unterschiedliche Treffer, die alle mit 100 % Homologie drei völlig unterschiedliche Proteine identifizieren! Phagendisplay mit randomisierten Sequenzen ist also zur Bestimmung unbekannter Epitope nicht wirklich geeignet. Um viele Größenordnungen bessere Chancen hat man, wenn die Sequenzen, die angeboten werden, nur aus einem Repertoire tatsächlich möglicher Antigene stammen. Dafür wird typischerweise einfach die DNA, welche das Antigen codiert, mittels Ultraschall oder Restriktionsendonucleasen fragmentiert und anschließend die Zufallsfragmente in einen Phagendisplayvektor kloniert. Nach der Verpackung mit einem

80

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

Helferphagen werden dann Zufallsfragmente des Proteins oder des Proteoms auf der Oberfläche präsentiert. Aber auch hier lauert eine Falle: Bei der Klonierung kann DNA umgekehrt oder im falschen Leseraster eingebaut werden und damit wieder unnatürliche Varianten zeigen – sehr viel weniger als bei Random-Sequenzen, aber dennoch können diese die Ergebnisse verfälschen. Eine Verbesserung bringt hier die Verwendung von Hyperphagen (Abschn. 2.6.2.4), sodass die ORF-Selektion möglich ist (Abschn. 2.7.2.9). Diese Bibliotheken mit Antigenfragmenten werden schließlich mit dem zu untersuchenden Antikörper in einem Panning eingesetzt und so können passende Proteinfragmente identifiziert werden. Meist liefert das Panning auf dem Antikörper zahlreiche Klone mit unterschiedlichen Längen von Bruchstücken der Originalsequenz des Antigens. Ein Alignement dieser unterschiedlich langen überlappenden Fragmente gibt Hinweise auf das Epitop. Der Teil der Sequenzen, welche in sämtlichen der bindenden Klone noch enthalten ist, wird dann als „minimale Epitopregion“ (MER) bezeichnet. Da auch konformationelle Epitope erkannt werden können, kann eine MER sehr viel länger sein als die acht bis 12 Aminosäuren, die bei linearen Peptidepitopen ausreichen, um ein Paratop zu überspannen. Die MER ist in solchen Fällen keinesfalls identisch mit dem eigentlichen Epitop, das nach der strukturellen Definition lediglich aus nur jenen in der MER enthaltenden Aminosäureresten gebildet wird, die das Paratop tatsächlich kontaktieren. Denn Phagen können sehr viel größere Proteinfragmente auf den Phagenhüllen präsentieren, und damit hat man die Chance, dass sich diese zu diskreten 3D-Strukturen falten, sodass auch die Antigene für solche Antikörper gefunden werden, die konformationelle Epitope erkennen. Damit werden wesentlich längere Sequenzen (>100 Aminosäurereste) untersuchbar als in Peptidarrays hergestellt werden können. Larman et al. (2011) oder Zantow et al. (2016) haben so Autoantigene sowie Protein-Interaktionspartner gesucht und gefunden. Auch wenn das eigentliche Antigen eines Antikörpers unbekannt ist, weil der Antikörper nicht gegen ein einzelnes Protein, sondern z. B. gegen Zellen generiert wurde, kann eine genomische oder cDNA-Bibliothek dieser Zellen weiterhelfen, das Antigen und das Epitop der gebundenen Antigene zu bestimmen (Moreira et al. 2018; Fühner et al. 2019).

2.7.2.9 ORFeome-Display: Selektion offener Leseraster durch Phagendisplay Modernere Varianten des Phagendisplay ermöglichen es heute, wesentlich effektiver nur „sinnvolle“ Fragmente von Antigenen zu exprimieren. Die übliche Fragmentierung von DNA mittels Ultraschall oder Restriktionsendonucleasen führt bei normaler Klonierung dazu, das die meisten der gebildeten Klone nicht dem Antigen entsprechen, da sie außerhalb des Leserasters oder umgekehrt in den Expressionsvektor eingebaut werden. Solche „Unsinnsfragmente“ können aber den Erfolg eines Phagendisplay-Pannings dramatisch verringern, denn oft werden dadurch hydrophobe und „klebrige“ Sequenzen erzeugt. Da beim Phagendisplay Anreicherungsfaktoren weit oberhalb der für normale Antikörperassays wie den ELISA ausreichenden Rausch:Signal-Verhältnisse benötigt wird, stören solche „klebrigen“ Sequenzen das Panning dramatisch – bis hin zur kompletten Maskierung des Signals und damit Verhinderung der spezifischen Anreicherung.

2.7  Analyse von Antikörpern

81 Pathogen / Metagenom fragmentierte genomische DNA

pelBSekretionssignal ORF-Selektionsvektor (Phagemid)

PmeI ori

PmeI

in frame

mRNA:

ORF

*

pIII

Protein:

+ Hyperphage Phagenproduktion m glich

Phage

Gen f r ORF-pIII Fusionsprotein Phagenh llprotein III (pIII) ORFcodiertes Protein Serum-Antik rper

*

pHORF

Ampicillinresistenz

E. coli

Phagenh llprotein (pIII)

M13-Verpackungssignal

nicht in frame STOPP

*

STOPP

(kein pIII)

+ Hyperphage keine Phagen

*

invertiert STOPP

*

(kein pIII)

*

+ Hyperphage keine Phagen

Phagendisplay in vitro-Selektion auf offene Leseraster + Pr sentation der ORFTranslationsprodukte auf der Phagenoberfl che + Funktionelle Selektion (panning) auf Serum

ELISA der Einzelklone + Sequenzierung immunogenes Protein/ Biomarker

Abb. 2.14   ORFeome-Display. Die Ermittlung von Epitopen von Antikörpern mit unbekanntem Antigen mit Hilfe von Phagendisplay wird durch die Beschränkung auf mögliche offene Leseraster verbessert. Sie kann so auch zum Auffinden neuer Biomarker genutzt werden. Durch den Einsatz von Hyperphagen (Abb. 2.9, Abschn. 2.6.2.4) wird dabei eine Selektion auf offene Leseraster (ORF) erzwungen. Dies verbessert die Chancen für eine erfolgreiche Anreicherung der gesuchten Genprodukte wesentlich

Abhilfe bringt wiederum der Hyperphage (Abschn. 2.6.2.4): Mit seiner Hilfe gelang erstmals, Phagendisplaybibliotheken herzustellen, deren präsentierte Fragmente des Antigens auf korrekte Leseraster vorselektioniert waren (Abb. 2.14). Dies gelang durch den Trick, dass die gebildeten Phagen mit Fragmenten des Antigens nach Verpackung mit Hyperphagen nur dann infektiös wurden, wenn das Antigenfragment in einem durchgehenden Leseraster eingebaut war. Die Methode heißt Anreicherung oder Aufreinigung

82

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

und ermöglicht heute sogar das funktionelle Panning mit Zufallsgenbibliotheken ganzer Metagenome, wie zum Beispiel dem Darm-Mikrobiom (Zantow et al. 2016). Es wird dennoch insgesamt deutlich, dass keine der beschriebenen Methoden allein ein Epitop vollständig strukturell und funktionell definieren kann – unter anderem auch deshalb, weil Antikörper normalerweise mehrere verschiedene verwandte oder manchmal auch völlig unterschiedliche Sequenzen binden können. Am besten setzt man deshalb eine Kombination aus strukturellen und funktionellen Analysen ein. Die Vielfalt der möglichen Definitionen des Epitops hat insbesondere Auswirkungen im Patentrecht – hier gibt es immer wieder Gerichtsverfahren rund um diese Definition, da man Spezifität nicht mit einer einfachen Zahl in den Patentansprüchen quantifizieren kann.

2.7.3 Wie wird die Stabilität bestimmt? Mit Stabilität ist bei Antikörpern das Beibehalten der nativen Konformation und damit der Antigenbindung gemeint. Die Stabilität von Antikörpern ist insbesondere bei der Entwicklung von therapeutischen Antikörpern entscheidend, da in vivo die Halbwertszeit eines Antikörpers etwa zwei Wochen beträgt. Aber auch bei Antikörpern für die Diagnostik ist die Stabilität wichtig, um reproduzierbare Ergebnisse zu gewährleisten, etwa nach unterschiedlichen Lagerzeiten oder falls die Kühlkette beim Transport nicht gewährleistet wird, z. B. bei Diagnostik-Kits für Entwicklungsländer. Dabei gibt es mehrere Aspekte, die beachtet werden müssen: Denaturierung und Aggregation des gesamten Proteins oder von Teildomänen einerseits, aber auch eine Vielzahl kovalenter Modifikationen während der Herstellung und Lagerung können die Integrität der Moleküle beeinflussen. Letztere können z. B. dann durch Änderung der Ladung und/oder Löslichkeit auch wieder das Denaturierungs- und Aggregationsverhalten der Moleküle verändern. Entsprechende Assays zur Langzeitstabilität von Antikörpern sind deshalb insbesondere bei medizinisch angewendeten Antikörpern von den Behörden vorgeschrieben. Auch werden oft bereits die Reinigungsschritte bei der Herstellung oder die spätere Formulierung so gewählt, um diese Änderungen zu minimieren. Einen Überblick über verschiedene regulatorische Anforderungen gibt Rios (2015).

2.7.3.1 Antikörper können durch die Lagerung kovalent modifiziert werden Hochgereinigte Antikörper sind in ihrer molekularen Identität weniger festgelegt, als man wegen ihrer definierten Aminosäuresequenz annehmen könnte. Ihre Glykosylierungen sind in aller Regel von Natur aus heterogen. Aber auch die Proteinstruktur ist oft heterogen: sie ist nicht für alle Zeit unveränderlich, da einige der Aminosäureeinheiten, aus denen sie bestehen, Reaktivitäten im wässrigen Milieu aufweisen. Einige Modifikationen passieren bereits während der Produktion – zum Beispiel unvollständige Abspaltung der Signalsequenzen. Dies führt zu einer initial bereits heterogenen Mischung, die über eine längere Lagerzeit hinweg noch heterogener wird. Die

2.7  Analyse von Antikörpern

83

meisten dieser Modifikationen sind im Bezug auf die Nutzung der Antikörper nicht relevant, einige können aber Änderungen in Funktion und Haltbarkeit hervorrufen – die Beobachtung solcher Veränderungen ist deshalb insbesondere bei Antikörpern für die Therapie notwendig. Typische während der Herstellung und Lagerung von Antikörpern beobachtete konvalente Modifikationen sind die Desamidierung von Asparaginresten, Pyroglutamat-Umlagerung am N-Terminus, Acetylierungen, die Umlagerungen von Disulfidbindungen, die Abspaltung C-terminaler Reste (insbesondere von Lysin), die Methionin-Oxidation, Isomerisierung von Asparaginsäure sowie Änderungen der Glykosylierungen (Liu et al. 2008). Es gibt noch zahlreiche weitere mögliche Reaktionen: Xu et al. (2019) listen 52 verschiedene durch Massenspektrometrie identifizierte kovalente Veränderungen auf. Einige dieser Änderungen haben Auswirkungen auf den isoelektrischen Punkt und können somit oft durch isoelektrische Fokussierung beobachtet werden. Finden Änderungen in den Paratopregionen statt, können sie direkt die Funktion beeinträchtigen. Genaue Auskunft gibt hier nur die Massenspektrometrie.

2.7.3.2 Bestimmung und Vorhersage der Aggregationsneigung Bei der typischen Entwicklung von Antikörpern für therapeutische Anwendungen liegen oft Jahre zwischen der initialen Identifikation der Antikörpersequenzen und dem ersten Einsatz eines dieser Kandidaten bei einem Patienten. In der Vergangenheit gab es Beispiele von Antikörpern, welche eine hervorragende Funktion im Tiermodell zeigten, aber dennoch nicht weiterentwickelt werden konnten, da sie erst bei der Produktion größerer Mengen für die klinischen Studien unangenehme Eigenschaften in Bezug auf ihre Stabilität zeigten. Typischerweise versucht man deshalb heute möglichst früh im Auswahlprozess zwischen mehreren möglichen Entwicklungskandidaten, spätere Probleme in der Produktion oder Formulierung vorherzusagen und so zu vermeiden. Dazu müssen typischerweise viele hundert verschiedene Antikörper verglichen werden, welche man nicht sinnvoll in den erforderlichen großen Mengen und bereits im finalen Produktionssystem herstellen kann. Deshalb wurde eine Vielzahl von Methoden vorgeschlagen und getestet, um unangenehme Überraschungen in Bezug auf Stabilität und Aggregationsverhalten zu vermeiden (Xu et al. 2019). Manchmal ergeben sich schon bei der bioinformatischen Analyse direkt aus der Primärsequenz eines Antikörper Hinweise auf mögliche problematische Eigenschaften, z. B. wenn in den CDR-Regionen eine größere Zahl hydrophober Aminosäureseitenketten oder ungepaarte Cysteinreste gefunden werden. Ein sehr pragmatischer Ansatz ist die Bestimmung der Stabilität von Antikörpern durch Lagerung z. B. in Puffer oder Serum bei 37 °C für mehrere Tagen und Wochen. um anschließend die Entwicklung von Präzipitaten oder die Funktion im ELISA zu überprüfen (Schütte et al. 2009; Thie et al. 2011). Quantifiziert werden kann die Aggregation durch Dynamic Light Scattering. Eine weitere Methode, welche zur Vorhersage der Stabilität vorgeschlagen wurde, ist die Differential Scanning Fluorimetry. Dazu wird für einen Antikörper schrittweise

84

2  Wie werden rekombinante Antikörper generiert und charakterisiert?

und sehr präzise die Temperatur erhöht. Wenn sich der Antikörper bei einer bestimmten Temperatur entfaltet, dann kann das „Schmelzen“ des Antikörpers mit Hilfe eines Stoffes messbar gemacht werden, der sich an die entfalteten und damit hydrophoben Stellen des Antikörpers anlagert, was als Fluoreszenz messbar ist (Lavinder et al. 2009; Chaudhuri et al. 2014; Rosa et al. 2015). Ein höherer Schmelzpunkt insbesondere der variablen Domänen ist oft mit der Stabilität korreliert, allerdings nicht immer oder stets in der gleichen Weise (King et al. 2011). Eine Abschätzung des Aggregationsverhaltens gibt die Hydrophobe Interaktions-Chromatographie (HIC), da die Aggregation meist durch Exposition hydrophoberer Teile des Moleküls nach partieller Denaturierung gefördert wird. Eine direkte Messung der „Klebrigkeit“ von Antikörpern zueinander, welche bei höheren Konzentrationen zu unerwünschter Aggregation führen kann, bietet die Cross-Interaction Chromatography (CIC), bei der die Verlangsamung von Antikörpern, welche durch eine Säule wandern, durch die Interaktion mit festphasengebundenen Immunglobulinen gemessen wird (Jacobs et al. 2010). Eine neuere Methode zur Vorhersage möglicher Aggregationsneigung ist die Affinity Capture Self-Interaction Nanoparticle Spectroscopy (AC-SINS), welche durch Messung der Plasmonresonanz von antikörperbeschichteten Gold-Nanopartikeln die Identifikation von Selbstassoziationsneigung auch bei geringen Mengen in verdünnten Proben ermöglicht. Damit ist der Vergleich einer großen Zahl von Kandidaten ohne umfangreiche Produktions- und Konzentrationsschritte möglich (Liu et al. 2014). Alle Konstrukte mit Linkern zwischen den antigenbindenden Regionen, wie scFvund scFab-Fragmenten oder deren Fusionsproteine (z. B. scFv-Fc, scFv-Toxine oder scIgG) müssen stets darauf untersucht werden, ob sie Dimere bzw. Multimere durch intermolekularen Austausch dieser antigenbindenden Regionen bilden (also z. B. Diabodies (Abschn. 3.1) bei scFv-Fragmenten). Zwar gibt es viele Beispiele sehr stabiler scFv-Fragmente ohne Aggregationsneigung, andere jedoch bilden leicht Diabodies. Leider ist dies nicht aus der Primärsequenz vorhersagbar. Die entsprechende Analyse erfolgt am einfachsten durch Molekularsiebchromatographie (auch: size exclusion chromatography, SEC) (Thie et al. 2011). Eine häufig verwendete Methode zur Verlängerung der Lagerfähigkeit von Antikörpern ist die Lyophilisierung (Gefriertrocknung) (Colandene et al. 2007). Da die meisten kovalenten Modifikationen nach der Herstellung im wässrigen Milieu ablaufen, werden sie durch die Trocknung meist gut verhindert – ebenso wie die Proteolyse. Erst direkt vor der Nutzung wird der gefriergetrocknete Antikörper wieder gelöst. Allerdings sind für die erfolgreiche Lyophilisierung oft Zusätze notwendig, sodass diese Methode für die Lagerung hochreiner Antikörper nicht immer geeignet ist. Antikörperfragmente können dabei deutlich andere Lyophilisationsbedingungen als natürliche Immunglobuline benötigen – dies ist empirisch im Einzelfall zu ermitteln. Nach der Rekonstitution von Antikörpern aus lyophilisierter Form ist es stets empfehlenswert, vor der Verwendung residuale Aggregate abzuzentrifugieren, da diese nie ganz vermieden werden können.

3

Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien für jede Anwendung

3.1 Welche weiteren rekombinanten Antikörperfragmente und Formate gibt es? Durch die Möglichkeit, rekombinante Antikörper herzustellen, anstatt auf die Produktion von Antikörpern in einem Versuchstier oder in Hybridomen angewiesen zu sein, wird der molekulare Aufbau von Antikörpern steuerbar. Das kann beispielsweise genutzt werden, um Antikörper mit verschiedenen Molekülgrößen und Formaten herzustellen (Frenzel et al. 2013). Fv-Fragmente sind nur halb so groß wie die entsprechenden Fab-Fragmente und um ein Vielfaches kleiner als ein IgG (Abb. 1.1). Dieser Größenunterschied kann ein Vorteil sein. Kleinere Moleküle können beispielsweise tiefer in einen soliden Tumor eindringen (Yokota et al. 1992). Allerdings ist diese oft erwähnte Eindringtiere in der Realität auch von der Konzentration der Antigene und Antikörper und der Affinität abhängig – so können auch kleine Antikörper bei einem Überschuss von Antigen bereits am Rand des Tumors komplett weggefangen werden. Im Gegensatz zu IgG sind Fv-Antikörperfragmente so klein, dass sie durch die Niere ausfiltriert werden. Beide Eigenschaften können für die Tumordiagnostik, insbesondere die Darstellung durch Immunszintigrafie vorteilhaft sein. Fv-Fragmente werden jedoch praktisch nicht mehr verwendet, denn sie sind nicht sehr stabil, da ihre beiden Untereinheiten, die VH- und die VL-Domäne, nicht-kovalent verknüpft sind und oft leicht dissoziieren. Die publizierten Affinitäten der beiden variablen Domänen zueinander streuen aber in einem weiten Bereich zwischen etwa 10−5 M bis etwa 10−8 M (Glockshuber et al. 1990) und sind offensichtlich stark von der individuellen Paarung von Sequenzen für VL- und VH-abhängig. Offensichtlich wirkt kein sonderlich großer Selektionsdruck auf eine hohe Affinität zwischen der VH- und der VL-Domäne. Der Grund liegt wohl darin, dass natürliche Immunglobuline keine zusätzliche Stabilisierung durch die © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dübel et al., Rekombinante Antikörper, https://doi.org/10.1007/978-3-662-50276-1_3

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86

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

variablen Domänen benötigen. Sie werden durch die Bindung der konstanten Domänen aneinander und durch eine S = S-Brücke zwischen der leichten und der schweren Kette bereits ausreichend stabilisiert. Die künstlichen Fv-Fragmente aber müssen zusätzlich stabilisiert werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die variablen Domänen der schweren und der leichten Kette mit Hilfe eines kurzen Peptids miteinander zu verknüpfen. Dadurch entsteht ein Einzelkettenantikörper (single chain-Antikörper, scFv, Abb. 1.1). Die Reduktion eines Antikörpers auf die kleinstmöglichen für die Antigenbindung noch notwendigen Teile und die gleichzeitige Verbindung dieser beiden Domänen mit einer Aminosäurekette ist technisch nützlich, weil Antikörper in diesem Format leichter produziert werden können, denn statt zwei Genen muss nur ein einziges Gen abgelesen werden und die Assoziation von VH und VL wird begünstigt (Frenzel et al. 2013), was Klonierungen und die Antikörperproduktion vereinfacht. Damit wird auch die Transfektion eines in Bezug auf die Antigenspezifität funktionellen Antikörperfragments in eukaryotische Zellen erleichtert – es besteht nicht mehr die Gefahr, dass die Gene für die leichte und die schwere Kette an unterschiedlichen Orten ins Genom integrieren und anschließend unterschiedliche Mengen der entsprechenden Proteine gebildet werden. Schließlich ist im scFv die Produktion gleicher Mengen beider Domänen automatisch gewährleistet. Die vorhandenen Daten über die dreidimensionale Struktur vieler Antikörperfragmente zeigen, dass der Peptidlinker in einem scFv-Fragment die Entfernung von 35 bis 40 Å überbrücken muss. Dabei ist die Entfernung vom C-Terminus der VH-Domäne zum N-Terminus der VL-Domäne etwas kürzer als die umgekehrte Verknüpfung – der C-Terminus der VL-Domäne verbunden mit dem N-Terminus der VH-Domäne. Beide Verknüpfungsformen sind machbar, durchgesetzt hat sich das scFv-Fragment mit der VHKette vor dem N-Terminus der VL-Kette, und mit Detektions-/Reinigungs-tags am CTerminus des Fusionsproteins hinter VL (Abb. 1.1). Ausgehend von diesen Strukturdaten sind mittlerweile sehr unterschiedliche Peptidverbindungen publiziert worden, meist mit einer Länge von 15–20 Aminosäuren (Bird et al. 1988; Huston et al. 1988). Auch längere Linker sind möglich: Ein natürliches Linkerpeptid von 28 Aminosäureresten, welches flexibel zwei Domänen der Trichoderma reesei-Cellobiohydrolase I verbindet, wurde erfolgreich zur Verbindung von VH- und VL-Region benutzt (Takkinen et al. 1991). In anderen Studien wurde eine Mindestlänge von nur 12 Aminosäuren bestimmt (Pantoliano et al. 1991; Alfthan et al. 1995) oder ein tag (Abschn. 4.4.3.2) in den Linker mit eingefügt, das einen Nachweis des scFv-Fragments durch einen Antikörper gegen dieses Epitop ermöglicht, welches aus einem hochkonservierten Molekül stammt (Breitling et al. 1991). Alle diese Peptidverbindungen ergeben funktionstüchtige scFv-Antikörper, ein eigentlich erstaunliches Ergebnis in Anbetracht der relativ großen Entfernung der Nund C-Termini voneinander. Sowohl NMR-Daten wie auch die erfolgreiche Strukturaufklärung einiger scFv-Fragmente zeigen, dass die Aminosäuren in der Peptidverbindung zwischen den variablen Domänen sehr flexibel sind. Sie können typischerweise keiner eindeutig festgelegten dreidimensionalen Struktur zugeordnet werden (Raag und Whitlow 1995). In seltenen Fällen verringerte jedoch die Einführung eines Linkers in ein Fv-Fragment dessen Affinität zum Antigen um das Zwei- bis Dreifache (Mallender et al. 1996).

3.1  Welche weiteren rekombinanten …

87

Nach mehr als 30 Jahren Erfahrungen mit scFv-Fragmenten gibt es sehr viele Beispiele sehr stabiler scFv-Antikörper und zahlreiche verschiedene Linker haben sich bewährt. So wurden scFv-Fragmente beschrieben, die nach mehrfacher Inkubation mit 3 M Guanidiniumchlorid noch funktionierten (Al-Halabi et al. 2012). ScFv-Fragmente sind mittlerweile auch Bestandteil zugelassener Medikamente, und erfüllen dafür sehr hohe Anforderungen an Haltbarkeit und Stabilität (Abb. 5.4). Ein überraschendes Ergebnis brachte die Suche nach höher affinen scFv-Antikörpern mit Hilfe eines der in Kap. 2 beschriebenen Selektionssysteme. Nach der Selektion wurde bei einigen der besser bindenden Phagenantikörper eine auf wenige Aminosäuren verkürzte Peptidverbindung zwischen den variablen Domänen beobachtet. Aufgrund der nun zu kurzen Peptidverbindung konnten sich diese Fv-Antikörper nicht mehr als Monomer falten: Je zwei Polypeptidketten lagerten sich zu einem Dimer zusammen. Dies führt zu einer Verdopplung der Bindungsstellen, und damit bei geeigneten Antigenkonstellationen (hohe Konzentration) eine höhere apparente Affinität durch Aviditätseffekte (Abschn. 2.7.1.3). Diese höhere apparente Affinität zum hochkonzentriert angebotenen Antigen war offenbar der Grund für die bevorzugte Selektion dieser sogenannten „Diabodies“ (Schier et al. 1996). Die Diabodies führen auf die Spur einer für IgG nicht bekannten Eigenschaft der scFv-Fragmente. Obwohl es kein generelles Problem der scFv Fragmente zu sein scheint, wurde für zahlreiche scFv-Fragmente Aggregation bei hohen Konzentrationen (1–5 mg/ml) beobachtet. Offensichtlich ist der Grund für diese Aggregation die niedrige Affinität der VH- und der VL-Domäne zueinander. Dadurch kann sich die VH-Domäne eines scFv-Fragments mit der VL-Domäne eines anderen scFv-Fragments zusammenlagern, wodurch Dimere, Oligomere und schließlich unlösliche Aggregate entstehen. Diese Aggregatbildung kann durch die Zugabe von Antigen, L-Arginin, einen niedrigen pH-Wert oder niedrige Temperaturen manchmal reduziert werden, sie bleibt für den jeweiligen individuellen scFv-Antikörper dennoch ein Problem. Ein Vergleich unterschiedlich langer Peptidverbindungen (15, 20, 25, 30 Aminosäuren) zeigte, dass die längeren Peptidverbindungen deutlich weniger Dimere bildeten als der 15 Aminosäuren lange Linker (Raag und Whitlow 1995). Werden die Linker dagegen stark verkürzt, wird die Bildung von Diabodies erzwungen, bei noch kürzeren Linkern (wenige Aminosäuren) entstehen sogar Triabodies und höherzählige Aggregate (Schmiedl et al. 2006). Ein noch kleineres Antikörperformat als die scFv stellen Einzeldomänen-Antikörper dar, auch Nanobodies oder single domain antibodies genannt. Diese sehr kleinen Antikörperformate bestehen nur aus der variablen Domäne der schweren Kette. Weil ein Teil der Antikörper von Lamas und Kamelen von Natur aus nur aus schweren Ketten bestehen, sind diese Tiere besonders interessant zur Gewinnung von Nanobodies (Hamers-Casterman et al. 1993, Abschn. 1.3.2.2). Eine Besonderheit von Nanobodies ist neben der geringen Größe, dass sie besonders thermostabil sind (van der Linden et al. 1999), für einige ist auch der Einsatz als cytoplasmatische Intrabodies beschrieben (Abschn. 5.3.5) (Steels et al. 2018).

88

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Ein Peptidlinker kann auch dazu verwendet werden das „fragment difficult“ (Fd) und die leichte Kette zu einem single chain-Fab-(scFab-)Fragment zu verbinden. Es hat sich dabei gezeigt, dass sich zum Phagendisplay und zur bakteriellen Produktion am besten solche scFab-Fragmente eignen, bei denen Cysteine gentechnisch entfernt werden, die normalerweise eine Disulfidbrücke zum Zusammenhalten der beiden Ketten bilden. Wie bei den scFv können sich auch bei scFab Multimere, sogenannte DiFabodies oder TriFabodies bilden (Hust et al. 2007). Wird an das scFab-Fragment ein Fc-Teil fusioniert, entstehen single chain-IgG (scIgG), welche allerdings aufgrund der gleichen Effekte, die die Bildung von Diabodies ermöglichen, auch zu Aggregaten durch Austausch von Domänen zwischen verschiedenen Molekülen neigen (Schirrmann et al. 2010). Durch die Fusion eines Fc-Teils an dieses Antikörperfragment (scFv-Fc-Antikörper, Abb. 3.11) kann der Vorteil des scFv – die einfachere Klonierung und Produktion – mit Fc- Effektorfunktionen kombiniert werden, die einem IgG-Molekül entsprechen (Frenzel et al. 2013). Die Fusion von scFv mit Fc-Teilen verschiedener Spezies erlaubt zudem eine vielseitige Nutzung des Antikörpers zu Nachweiszwecken, sodass das gleiche Antigen mit dem gleichen scFv-Fragment in verschiedenen Versuchen je nach Bedarf mit Seren verschiedener Spezies-Spezifität nachweisbar gemacht werden kann. Damit sind z. B. Immunfluoreszenzfärbungen mit verschiedenen Farben durch mehrere unterschiedliche monoklonale Antikörper im gleichen Präparat möglich, sogar wenn alle verwendeten Antikörper aus der gleichen Phagendisplaybibliothek gewonnen wurden (Moutel et al. 2009).

3.2 Antikörperhumanisierung 3.2.1 Maus-Mensch-Chimären Eine Vielzahl von potenziell therapeutisch interessanten Hybridom-Antikörpern aus der Maus ist bereits vorhanden. Ein Problem bei ihrer therapeutischen Verwendung ist jedoch ihre Herkunft aus der Maus, denn Proteine aus einer fremden Spezies werden vom menschlichen Immunsystem als fremd erkannt (Courtenay Luck et al. 1986; Lamers et al. 1995). Das gilt auch für Antikörper aus der Maus. Es kommt zur Bildung der sogenannten „HAMA“-Immunantwort (humane Anti-Maus-Antikörper). Diese innerhalb weniger Tage vom menschlichen Immunsystem gebildeten Antikörper neutralisieren oft – aber nicht immer – den therapeutisch eingesetzten Maus-Antikörper und machen ihn damit unwirksam (Abb. 3.1). Eine länger andauernde oder wiederholte Therapie wird so erschwert. Die große Mehrzahl der HAMA-Antikörper sind gegen den konstanten Teil der Antikörper gerichtet. Dies gab den Ansporn zur Herstellung von Antikörperchimären. In Anlehnung an die griechische Mythologie sind dies Antikörpergene, die aus zwei unterschiedlichen Lebewesen zusammengemischt werden: Eine variable Maus-Antikörperdomäne wird gefolgt von den konstanten Antikörperdomänen aus dem Menschen (Wright et al. 1992). Dazu wird zunächst ein menschliches Antikörpergen in

3.2 Antikörperhumanisierung

89

a Antik rper gegen das Maus-Protein (HAMA) werden gebildet und k nnen den therapeutischen Antik rper neutralisieren

Maus-Antik rper aus Hybridom-Technologie

b

Ig-Gene

Gen-Donor

menschliche Antik rper aus rekombinanter Technologie

keine KeineHAMAHAMA, Antik Bildung, rper erreicht und therapeutischer bek mpft sein Target Antik rper erreicht sein Ziel

Patient

Abb. 3.1   HAMA (Humane Anti-Maus-Antikörper). Sie werden vom menschlichen Immunsystem nach der Gabe von therapeutischen oder diagnostischen Maus-Antikörpern gebildet (a). HAMA können die Maus-Antikörper neutralisieren und dadurch unwirksam machen. Einen Ausweg bietet die Verwendung rekombinanter menschlicher Antikörper (b). Methoden zur Herstellung menschlicher Antikörper sind in den Abschn. 2.4 bis 2.6 beschrieben

einen Klonierungsvektor gesetzt. Die einzelnen Antikörperdomänen bilden kompakte Faltungseinheiten, die durch einen Peptidstrang untereinander verbunden sind. Beim Austausch ganzer Antikörperdomänen ist somit die Wahrscheinlichkeit einer Störung der Antikörperfunktion am geringsten. Chimäre cDNAs können durch die Polymerasekettenreaktion hergestellt werden. Die resultierenden „chimären“ Antikörper (Abb. 3.2 links unten) binden immer noch spezifisch an das Antigen, die HAMA-Antwort ist allerdings deutlich herabgesetzt. Da nun die konstanten Domänen aus dem Menschen stammen, aktivieren diese chimären Antikörper auch die Helferfunktionen des menschlichen Immunsystems, wie die antikörperabhängige zelluläre Cytotoxizität (ADCC), deutlich besser. Obwohl die HAMA-Antwort bei chimären Antikörpern deutlich verringert ist, können diese Antikörper vom Immunsystem immer noch als fremd erkannt werden und eine „human anti-chimeric antibody“-(HACA-)Reaktion hervorrufen (Almagro und Fransson 2008; Maeda et al. 2018). Das gab den Ansporn, die Methoden zur Humanisierung von Antikörpern noch zu verbessern und weiterzuentwickeln. Transgene Mäuse, deren Immunrepertoire durch ein humanes ersetzt worden ist, wurden entwickelt, um Antikörper mit humanen Sequenzen im Tier generieren zu können (Taylor et al. 1992;

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3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien … Ger stregionen

FR1 FR2 FR3 FR4

FR1 FR2 FR3 FR4

CDRs der Maus

V-Regionen der Maus

Maus-IgG Ger stregionen (Mensch)

FR1 FR2 FR3 FR4

chim res IgG

Maus-Sequenzen Mensch-Sequenzen

FR1 FR2 FR3 FR4

CDR-grafted IgG

Abb. 3.2   Humanisierungstrategien zur Vermeidung von HAMA (siehe Abb. 3.1). Durch den Austausch der konstanten Domänen eines Maus-Antikörpers gegen menschliche Sequenzen entstehen chimäre Antikörper (links unten). Damit ist der größere Teil des Proteins human und damit für das menschliche Immunsystem weniger auffällig. Durch das Verpflanzen lediglich der sechs CDR (Abb. 1.2 bis 1.4) aus einem Maus-Antikörper in einen menschlichen Antikörper entstehen noch stärker humanisierte Antikörper (rechts unten). Abgesehen von den CDR enthalten diese Antikörper keine Sequenzen des ursprünglichen Maus-Proteins mehr

Ishida et al. 2002; Brüggemann et al. 2015) (Abschn. 2.5). Auch die in vitro-Methoden, um Antikörper durch Protein-Engineering zu humanisieren, wurden weiter verfeinert und verbessert. Monoklonale Antikörper hatten zunächst meist murinen Ursprung, da die Hybridomtechnologie zuerst für Mauszellen entwickelt wurde. Die Humanisierung von Antikörpern weiterer Spezies wurde jedoch spätestens mit der Entwicklung der

3.2 Antikörperhumanisierung

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Hybridomtechnologie zur Herstellung von monoklonalen Kaninchen-Antikörpern 1995 interessant. Weil Kaninchen ein höheres Körpergewicht als Mäuse haben, können Zellen aus der Milz, dem Knochenmark oder dem Blut von Kaninchen in größeren Mengen isoliert werden. Die Hybridomtechnologie wurde für Kaninchen jedoch erst später erfolgreich entwickelt als für Mäuse (Köhler und Milstein 1975; Spieker-Polet et al. 1995; Weber et al. 2017c). Die in vitro-Strategien, um Antikörper anderer Spezies den menschlichen Antikörpern so ähnlich wie möglich zu machen, können in rationale und empirische Methoden unterschieden werden. Zu den rationalen Methoden gehört beispielsweise die Methode des CDR-grafting, bei der Aminosäuren anhand von theoretischen Überlegungen gezielt ausgewählt und in die Antikörperstruktur eingefügt werden, während empirische Methoden wie das Chain Shuffling darauf basieren, aus einer Vielzahl von zufälligen Antikörpervarianten solche mit den besten Eigenschaften zu isolieren.

3.2.2 CDR-grafting Im besten Fall ist genau bekannt, welche Aminosäuren des Antikörpers mit dem Antigen interagieren und wie diese angeordnet sind. Für eine Humanisierung müssten dann nur genau diese Aminosäuren des Antikörpers auf ein möglichst ähnliches humanes Antikörpergerüst so übertragen werden, dass sie passend ausgerichtet sind. Dazu ist aber die Bestimmung der Kristallstruktur des Antikörpers im Komplex mit seinem Antigen notwendig, was aufwendig ist. Oft ist nicht bekannt, welche Aminosäuren essenziell für das Paratop sind, also die Region des Antikörpers, welche mit dem Antigen interagiert. Wenn das Paratop nicht bestimmt wurde, kann stattdessen die Sequenz der „complementarity determining regions“ (CDR, Abb. 1.2 bis 1.4) als kleinste die Spezifität bestimmende Einheit auf ein humanes Antikörpergerüst „verpflanzt“ werden (Abb. 3.2 rechts unten), weshalb die Methode auch ihren Namen „CDR-grafting“ erhält (Jones et al. 1986; Riechmann et al. 1988; Lo 2004; Almagro und Fransson 2008). Die CDR enthalten dabei in der Regel mehr Aminosäuren als tatsächlich an der Bindung beteiligt sind (Mian et al. 1991; Padlan 1994; Tamura et al. 2000). Die Affinität hängt allerdings nicht immer ausschließlich von den CDR ab, sondern Aminosäuren innerhalb der Gerüststruktur können auch direkt oder indirekt einen Einfluss auf die Bindung des Antikörpers haben (Mian et al. 1991; Lo 2004; Steinwand et al. 2014). Die Affinität des humanisierten Antikörpers ist deshalb stark von der Auswahl des humanen Antikörpergerüsts abhängig. Wenn Antikörpergerüste so ausgewählt wurden, dass sie eine hohe Sequenzhomologie zum nicht-humanen Ursprungsantikörper hatten, war die Affinität des humanisierten Antikörpers höher, als wenn die humane Gerüstsequenz nicht gezielt nach Homologie zum Ursprungsantikörper ausgewählt wurde (Graziano et al. 1995; Almagro und Fransson 2008). Obwohl durch die Wahl geeigneter Antikörpergerüste bereits Einfluss auf die Affinität genommen werden kann, müssen Antikörper, die durch CDR-grafting entstanden sind, in aller Regel nochmals mutiert werden, um die Affinität des Antikörpers wiederherzustellen

92

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

oder die Produzierbarkeit der Antikörper zu gewährleisten – dies geschieht typischerweise durch „Rückmutationen“ einzelner Positionen zur originalen Maus-Sequenz (Lo 2004; Almagro und Fransson 2008). Wenn viele Aminosäuren im humanen Gerüst „zurückmutiert“ werden müssen, also die Aminosäuren des humanen Gerüsts gegen die des ursprünglichen nicht-humanen Antikörpers ausgetauscht werden müssen, erhöht sich allerdings auch wieder die Gefahr der Erhöhung der Immunogenität. Alle humanisierten Antikörper, welche in den ersten Jahren nach Einführung der Technologie als Medikamente zugelassen wurden, trugen solche „Rückmutationen“. Die dadurch wieder eingeführte potenzielle Immunogenität ist also offenbar akzeptabel. Das Antikörpergerüst, auf das die CDR verpflanzt werden, ist idealerweise nicht nur human, sondern hat weitere günstige Eigenschaften wie gute Produzierbarkeit und möglichst geringe Immunogenität. Im Vergleich zu humanen Keimbahnsequenzen sind die Gerüststrukturen gereifter humaner Antikörper wegen der Mutationen, die während der somatischen Hypermutation während der Antikörperreifung im Körper eingefügt werden, potenziell stärker immunogen. Im Vergleich zu Maus-Mensch-Chimären enthalten Antikörper, die durch CDR-grafting entstanden sind, jedoch einen sehr geringen Anteil des ursprünglichen nicht-humanen Antikörpers, wodurch das theoretische Risiko der Immunogenität im Vergleich zu den Chimären stark herabgesetzt ist (Lo 2004; Almagro und Fransson 2008). Um Affinitätseinbußen durch eine ungeeignete Gerüststruktur entgegenzuwirken, können CDR statt mit nur einem auch mit einer ganzen Reihe von Gerüststrukturen kombiniert werden. In dieser als Framework Shuffling bezeichneten Methode wird also eine Bibliothek generiert, aus der die Antikörper mit der für die Erhaltung der Affinität am besten geeigneten Gerüststrukturen ausgewählt werden können (Dall’Acqua et al. 2005).

3.2.3 Chain Shuffling zur Humanisierung von Antikörpern Rationale Strategien zur Humanisierung von Antikörpern setzen ein großes Wissen über die dreidimensionale Struktur der Antikörper voraus. Nicht ganz so offensichtlich ist, dass dabei auch viel Wissen über die Dynamik der Proteinfaltung notwendig ist. Oft genug scheitert daher dieses rationale Design: Der Antikörper ist zwar nach der Sequenz humanisiert, wird aber nicht mehr richtig gefaltet oder bindet nicht mehr an sein Antigen. Einfacher ist es, eine große Auswahl an möglichen strukturellen Lösungen auszuprobieren, und durch das Phagendisplay besteht dazu eine naheliegende Möglichkeit. Um vollständig humane Antikörper zu erhalten, wird bei der auf dem Chain Shuffling basierenden „gelenkten Selektion“ (guided selection) beispielsweise die schwere Kette des nicht-humanen Antikörpers mit einer ganzen Phagendisplay-Bibliothek von humanen leichten Ketten kombiniert. Aus der so entstehenden Bibliothek von Antikörpern, die aus der nicht-humanen VH des Ursprungsantikörpers und einer Vielzahl von humanen leichten Ketten (VL) bestehen, werden anschließend die Antikörpervarianten mittels Phagendisplay selektioniert, die noch spezifisch an das Antigen des Ursprungsantikörpers binden können (Abb. 3.3). Bei

ggf. Wiederholung des Vorgangs f r die schwere Kette mit einer humanen Genbibliothek schwerer Ketten

Panning auf Antigenbindung

EinzelklonELISA (Screening) & Klonierung in IgG

teilhumanisierter Antik rper (mit neuer humaner leichter Kette)

Abb. 3.3   Humanisierung von Antikörpern durch Chain Shuffling. Wird eine V-Region des Maus-Antikörpers zusammen mit einem diversen menschlichen Genrepertoire der komplementären Kette kombiniert und in einem geeigneten Oberflächenexpressionssystem (wie z. B. Phagendisplay) selektioniert, kann eine komplett menschliche Kette als Ersatz für die Maus-Kette isoliert werden. Dabei wird die Suche funktionell auf das ursprüngliche Epitop fokussiert. In der Abbildung ist die Humanisierung am Beispiel der leichten Kette eines Fab-Fragments gezeigt – entsprechend kann auch ein scFv-Fragment verwendet werden. Analog zur Humanisierung der leichten Kette kann auch die schwere Kette humanisiert werden. Die Kombination beider Ketten führt dann zu einem vollständig humanen Fab-Fragment, welches eine vergleichbare Spezifität, jedoch keinen Sequenzursprung mehr im verwendeten Maus-Antikörpers hat

Phagemid

Phage

3.2 Antikörperhumanisierung 93

94

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

dem so ausgewählten Antikörper wird nun die bereits humane leichte Kette (VL) mit einer Phagendisplaybibliothek von humanen schweren Ketten kombiniert und es werden erneut die Antikörpervarianten ausgewählt, die spezifisch und möglichst mit ähnlicher Affinität an das Antigen des Ursprungsantikörpers binden können. Dieser Vorgang wird als „guided selection“ bezeichnet, da der nicht-humane Antikörper als Lenker für die Suche nach den entsprechenden humanen Antikörperketten genutzt wird. Statt dieser seriellen Vorgehensweise kann auch parallel nach humanen Entsprechungen beider Ketten gesucht werden, und diese werden anschließend zusammengefügt (Jespers et al. 1994; Osbourn et al. 2005; Almagro und Fransson 2008). Antikörper können so vollständig humanisiert werden, wobei das Auffinden eines vollständig humanen Antikörpers von dem ursprünglichen Maus-Antikörper „geleitet“ wird. Ein weiterer Vorteil dieser Methode gegenüber dem CDR-grafting ist, dass meist mehr als nur ein humaner Antikörper mit dieser Methode generiert wird. Dadurch stehen mehrere Varianten humanisierter Antikörper zur Auswahl, aus denen solche mit den besten Eigenschaften für die Medikamentenentwicklung ausgewählt werden können (Osbourn et al. 2005; Almagro und Fransson 2008). Diese Vorgehensweise wurde zur Entwicklung des Antikörpers Adalimumab genutzt, der bei der Therapie gegen Arthritis und andere entzündliche Erkrankungen eingesetzt wird (Osbourn et al. 2005; Tracey et al. 2008). Obwohl diese Methode geeignet ist, vollständig humane Antikörper zu generieren, die dasselbe Antigen erkennen wie der nicht-humane Ursprungsantikörper, ist es bei dieser Methode möglich, dass sich die genaue Bindungsstelle des neuen humanen Antikörpers von der des nicht-humanen Ursprungs-Antikörpers unterscheidet (Ohlin et al. 1996; Almagro und Fransson 2008). Sofern es wichtig ist, die exakte Bindungsstelle (Epitop, Abschn. 2.7.2 ff.) des Antikörpers am Antigen trotz Humanisierung beizubehalten, können andere Methoden wie das CDR-grafting geeigneter sein. Um dennoch bei der Methode der guided selection möglichst die Bindung des gleichen Epitops beizubehalten, kann auch die nicht-humane CDRH3-Region des Ursprungsantikörpers beibehalten werden, die bei vielen Antikörpern für die Bindung des Epitops besonders wichtig ist (Padlan 1994; Klimka et al. 2000; Almagro und Fransson 2008).

3.2.4 Chain Shuffling auf Proteinebene Eine in der Anfangszeit des Antibody Engineering verwendete Variante dieser Humanisierungsstrategie ist das Chain Shuffling auf Proteinebene. Ausgangspunkt sind Bibliotheken menschlicher Phagenantikörper, die diesmal keine vollständigen Fab-Fragmente auf ihrer Oberfläche tragen, sondern nur den von der schweren Kette codierten Teil des Fab-Fragments. Bei diesem Ansatz wird dann statt des Gens das Protein des Maus-Hybridom-Antikörpers verwendet, um sein menschliches Pendant aufzufinden. Zunächst wird dazu der Hybridom-Antikörper reduziert. Dadurch löst sich die Disulfidbrücke auf, die die Verbindung zwischen der leichten und schweren Kette stabilisiert. Anschließend wird die leichte Kette mit den Phagen der menschlichen Teilbibliothek vermischt. Unter oxidierenden Bedingungen bildet sich eine Vielzahl von neu kombinierten

3.2 Antikörperhumanisierung

95

Fab-Molekülen, die alle auf der Oberfläche eines Phagen präsentiert werden. Aus diesen Kombinationen sucht man sich die Phagen heraus, die an dasselbe Antigen binden wie der Maus-Antikörper und mit diesen hat man das menschliche Gen für eine schwere Kette in der Hand. Im nächsten Schritt kombiniert man diese schwere Kette mit einer Teilbibliothek von menschlichen leichten Ketten und erhält somit ein vollständig humanisiertes Fab-Fragment (Figini et al. 1994). Der Vorteil dieser Strategie in den Anfangstagen des Antibody Engineering war, dass es nicht nötig ist, zuerst einen rekombinanten Maus-Antikörper herzustellen und in Bakterien zu exprimieren. Heute wird diese Methode praktisch nicht mehr verwendet, da dies unproblematisch ist und die rein genetische Kombinatorik heute gut beherrscht wird, dazu effizienter und sehr viel weniger aufwendig ist. Chain Shuffling kann auch für die Stabilitätsreifung oder Affinitätsreifung von Antikörpern eingesetzt werden. So können z. B. komplett humane Antikörper, welche aus Phagendisplaybibliotheken gewonnen wurden, ohne Einführung von Punktmutationen affinitätsgereift werden, oder es lassen sich stabilere Versionen erhalten. In allen diesen Fällen ermöglicht das Chain Shuffling also die Verbesserung von menschlichen Antikörpern durch Antibody Engineering ohne Mutagenese gegenüber dem natürlichen Repertoire, da im gereiften Endprodukt ausschließlich Antikörpersequenzen verwendet werden, die in dieser Form direkt aus dem Menschen gewonnen wurden. Dies ermöglicht bei therapeutischer Anwendung eine Verringerung des Risikos von Nebenwirkungen durch Immunogenität im Patienten.

3.2.5 Keimbahn-Humanisierung (Germlinization, superhumanization) Ein weiterer Ansatz zur Humanisierung von Antikörpern ist die Keimbahn-Humanisierung (Germlinization). Hierbei werden die Antikörpersequenzen an die humane Keimbahnsequenz angepasst. Antikörper individueller Menschen unterscheiden sich geringfügig aufgrund verschiedener Allele, deutlich mehr jedoch durch die zufällig während der in jedem Menschen anderen, bei der Reifung der B-Zellen eingeführten CDR3-Sequenzen und der Mutationen aus somatischen Hypermutationen. Die humane Keimbahnsequenz sollte deshalb bei der Entwicklung eines therapeutischen Antikörpers, der ja für beliebige Patienten kompatibel sein muss, am geringsten immunogen sein, da diese noch keine Mutationen, z. B. durch Hypermutationen, enthalten. Somit können auch humane Antikörper weiter humanisiert werden, deshalb wird die Technologie auch als „super-humanization“ bezeichnet (Pelat et al. 2009). Sie basiert auf einer in silico-Analyse der Sequenzen, ist also eine bioinformatische Methode. Im ersten Schritt werden dazu die beiden humanen Keimbahnlinien für VH und VL gesucht, die am besten zu den vorgefundenen Ausgangsantikörperketten passen. Die CDR werden dabei nicht geändert, nur die Gerüstregionen werden mutiert. Dazu werden die jeweiligen Aminosäureunterschiede an den Positionen in den Gerüstregionen, an denen sich

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3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

die Ausgangssequenzen und die Keimbahnsequenzen unterscheiden, in Abhängigkeit von den Eigenschaften der Aminosäuren in die Kategorien „sehr ähnlich und ähnlich“ (z. B. ein Austausch von Alanin zu Glycin), „unähnlich“ und „sehr unähnlich“ (z. B. Glutaminsäure zu Prolin) eingeteilt. Dann wird jede VH und VL in jeder der jeweils vier unterschiedlichen Varianten als synthetisches Gen hergestellt und alle 16 VH/VL-Kombination (4 VH × 4 VL Varianten) kloniert und produziert. Jede Variante wird bezüglich der Bindung mit dem Ausgangsantikörper verglichen und die Variante für die weitere Entwicklung ausgewählt, die so nah an der humanen Keimbahnsequenz wie möglich ist und keinen Verlust an Affinität zeigt. In einem weiteren Schritt können, wenn nötig, für eine weitere Verbesserung noch einzelne Aminosäureaustausche getestet werden (Miethe et al. 2016; Rassetti-Escargueil et al. 2017).

3.3 Affinitätsreifung in vitro Während einer Immunreaktion werden vom Körper nicht nur Antikörper gegen Krankheitserreger produziert, sondern einmal gebildete Antikörper werden auch in ihrer Bindung an diese weiter verbessert. Das geschieht durch die Erzeugung von Mutationen im Antikörpergen, die zunächst zur Verbesserung oder auch zur Verschlechterung der Affinität des Antikörpers führen können. Ein anschließender Auswahlprozess sorgt dafür, dass Antikörper, die ihr Ziel nicht mehr binden können, aussortiert werden (Janeway et al. 2001) (Abschn. 1.5.1). Der Prozess der Affinitätsreifung kann in vitro mit Hilfe unterschiedlicher Methoden nachgeahmt werden. Der erste Schritt, die Erzeugung von Varianten des Antikörpergens, kann beispielsweise durch eine fehleranfällige (error-prone) PCR, durch bakterielle Mutatorstämme, Chain Shuffling oder DNA-Shuffling erreicht werden. Der zweite Schritt, d. h. der Auswahlprozess, um höher affine Antikörper zu isolieren, kann durch Phagendisplay oder andere Display-Techniken erreicht werden.

3.3.1 Error prone PCR Um die Eigenschaften, etwa die Affinität, eines Antikörpers zu verändern, kann man Mutationen selektiv in das Antikörpergen einführen, z. B. mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (PCR). Dabei werden Versuchsbedingungen gewählt, bei denen die Fehlerrate der Polymerase beim Einbau von Nucleotiden künstlich erhöht wird, z. B. durch suboptimale Salzkonzentrationen. Die Hauptparameter, über die die Fehlerrate der Polymerase beeinflusst werden können, sind neben der Salzkonzentration die Verwendung einzelner DNA-Bausteine (Nucleosidtriphosphate, dNTPs) in erhöhter Konzentration und die Anzahl der PCR-Zyklen. Wenn ein DNA-Baustein in besonders hoher Konzentration bei der PCR vorhanden ist, wird dieser Baustein mit höherer Wahrscheinlichkeit als Fehlpaarung eingebaut. Je mehr PCR-Zyklen stattfinden, desto mehr Mutationen

3.3  Affinitätsreifung in vitro

97

können sich anhäufen (Martineau 2002). Dann wird wiederum die Mischung der so mutierten Antikörpergene in einen Phagendisplayvektor gesetzt und nach besser bindenden Phagenantikörpern gesucht (siehe auch 2.6.2.3). Diese Vorgehensweise ist bereits sehr nahe am Vorbild der Natur, hier wie dort wird von einem schon bindenden Antikörper ausgegangen, der nur durch kleine Veränderungen in seiner Affinität verbessert wird (Hawkins et al. 1992). Eine weitere Methode, die zur Diversifizierung von Antikörpern eingesetzt werden kann, ist eine somatische Hypermutation, die in vitro durchgeführt wird (in vitro-SHM). Es wurde gezeigt, dass die activation-induced cytidine deaminase (AID) nicht nur während der natürlichen Immunreaktion in B-Zellen, sondern auch in Zelllinien in Kultur Mutationen einfügen kann, sodass man die Expression der AID zur in vitro-SHM nutzen kann (Martin und Scharff 2002; King et al. 2014). Alternativ kann der Antikörper auch nur in seinen CDR-Regionen mutiert werden (Barbas et al. 1994; Deng et al. 1995). Dies wird meist bei vorgesehener therapeutischer Verwendung versucht, um keine Mutationen in die Gerüstregionen einzuführen, welche die Immunogenität erhöhen könnten. Die CDR-Region wird durch synthetische Oligonucleotide mit Zufallssequenzen ersetzt. Eine besonders eindrucksvolle Affinitätsverbesserung wurde damit bei einem HIV-1 neutralisierenden Antikörper erzielt. Zunächst wurde nur der CDR I-Bereich der VH-Domäne gegen Zufallsnucleotide ausgetauscht. Dann wurden die mutierten Antikörpergene mit Hilfe des Oberflächenexpressionsvektors nach besser bindenden Varianten durchsucht und im nächsten Schritt der CDR III-Bereich der VH-Domäne gegen Zufallsnucleotide ausgetauscht. Wieder wurde nach den besten Bindermolekülen gesucht und dieser Vorgang mit drei weiteren CDR wiederholt. Dies ergab mehrere unterschiedliche rekombinante Antikörper, die im Vergleich zum Ausgangsantikörper ihr Antigen bis zu 96-fach besser banden. Die nächste Frage war dann, ob die Kombination einiger dieser Mutationen die Affinität des Antikörpers für sein Antigen noch weiter verbessert. In der Regel war das zwar nicht der Fall, doch für eine Kombination mehrerer Mutationen ließ sich eine im Vergleich zum Ausgangsantikörper 420-fach verbesserte Affinität ermitteln. Die so erreichte Affinität von 15 pM zu seinem Antigen gp120 ist für einen Antikörper beachtlich, derart hochaffine Antikörper werden in der Natur nur äußerst selten aufgefunden (Yang et al. 1995). Eine 500-fache Affinitätsverbesserung wurde erreicht, indem die mutierten Antikörpervarianten danach ausgewählt wurden, wie lange sie nach erster Bindung an ihr Antigen gebunden bleiben konnten. Dieser Prozess wird als „off-rate“-Selektion bezeichnet (Thie et al. 2011). Welche Aminosäurereste eines Antikörpers sollte man mutieren, um die Affinität dieses Antikörpers für sein Antigen zu erhöhen? Man vermutet natürlich, dass die Aminosäurereste, die an der Bindung an das Antigen beteiligt sind, besonders geeignet sind. Zunächst müssen also, z. B. mit Hilfe von NMR oder Mutagenese, die Aminosäurereste in der VH und VL des Antikörpers identifiziert werden, die an der Antigenbindung beteiligt sind (Abschn. 2.7.2). Ausgewählte Teile daraus können dann mit Hilfe von Oligonucleotiden gegen Zufallssequenzen ausgetauscht werden. Anschließend wird eine daraus hergestellte Phagenantikörperbibliothek nach den besten Bindermolekülen durchsucht. Mit dieser

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3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Technik konnte die Affinität eines scFv-Fragments an sein Antigen Phenyloxazolon um das 11- bis 14-fache erhöht werden (Riechmann und Weill 1993). Dieses sogenannte semirationale Design kombiniert Strukturvorhersage, 3D-Information aus NMR und Oberflächenexpression, um die Affinität eines Fv-Fragments zu verbessern. Allerdings zeigt sich bei der Analyse von Antikörpern, welche durch Zufallsmutagenese affinitätsgereift wurden, dass hier oft Aminosäuren außerhalb der Antigenkontaktstelle oder in den Gerüstregionen mutiert wurden. Solche Random-Mutagenese kann wesentlich stärkere Affinitätssteigerungen erbringen, z. B. mehr als 400-fach bei einem Antikörper gegen Muc1, obwohl dieser ein sehr kleines lineares Epitop gebunden hat (Thie et al. 2011). Die Effekte der Affinitätsreifung entstehen dabei höchstwahrscheinlich durch eine Stabilisierung der V-Region, insbesondere des Paratops, durch die energetischen Verluste bei der Affinität aufgrund der Flexibilität der Konformation der CDR verringert werden. Bei der Optimierung therapeutischer Antikörper ist dennoch die Mutation ausschließlich in den CDR die Methode der Wahl, da sie geringere Risiken birgt, die Immunogenität des Antikörpers zu vergrößern. Die Anwendung von Hochdurchsatz-Sequenziertechniken erlaubt es inzwischen genauer einzugrenzen, welche Aminosäuren eines Antikörpers mutiert werden sollten, um die Affinität zu erhöhen und welche nicht. Durch den Vergleich aller Sequenzen in einer Bibliothek von mutierten Antikörpervarianten mit den Sequenzen der Varianten, die eine verbesserte Bindung gezeigt haben, lässt sich vermuten, welche Aminosäuren für die Bindung wichtig und welche austauschbar sind. Sequenzbereiche, die beim Ursprungsantikörper und bei affinitätsgereiften Varianten immer gleichbleiben, sind schon optimal für die Bindung, die übrigen Sequenzbereiche können möglicherweise noch optimiert werden (Hu et al. 2015; Rouet et al. 2018).

3.3.2 Mutatorstämme Neben der error-prone PCR zum Einfügen von Mutationen können Antikörpergene auch in speziellen Bakterienstämmen mutiert werden. Die Affinitätsreifung, die Antikörper normalerweise im menschlichen Körper durchlaufen, kann durch solche Mutatorstämme künstlich nachgeahmt werden (Irving et al. 1996; Low et al. 1996). In Mutatorstämmen fehlen ein oder mehrere Gene von E. coli, die für DNA-Reparaturmechanismen verantwortlich sind (Cox 1976; Low et al. 1996). Dadurch ist die Mutationsrate von Genen in solchen Stämmen etwa zehnfach bis zu mehreren tausendfach höher als im Wildtyp-Stamm, was zur Generierung einer großen Vielfalt an mutierten Versionen eines Antikörpergens genutzt werden kann. Der Mutatorstamm XL1-Red hat verglichen mit dem Wildtypstamm beispielsweise eine um 5000-fach erhöhte Mutationsrate (Cox 1976; Greener et al. 1996; Low et al. 1996). Die genaue Mutationsrate kann jedoch auch von den Kulturbedingungen abhängen, so kann die Mutationsrate desselben Mutatorstamms in reichhaltigen Medien deutlich erhöht sein (Degnen und Cox 1974). Je nachdem wie

3.3  Affinitätsreifung in vitro

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viele Mutationen gewünscht sind, müssen die Plasmide unterschiedlich lange in den Mutatorstämmen propagiert werden. Weil Mutatorstämme sich schnell verändern, können sie nicht lange in Kultur gehalten werden, ohne ihre ursprüngliche genetische Identität oder auch wichtige Eigenschaften wie ihre Antibiotikaresistenzen zu verlieren. Wenn eine sehr hohe Anzahl an Mutationen erreicht werden soll, ohne dass der Mutatorstamm über eine zu lang andauernde Zeit kultiviert werden muss, ist die zuvor beschriebene Methode der error-prone PCR besser geeignet. Hinzu kommt, dass Mutationen im ganzen Plasmid vorkommen und nicht nur im Bereich der Antikörpergene. Das führt dazu, dass die mutierten Antikörpergene umkloniert werden müssen, nachdem sie in einem Mutatorstamm verändert wurden, um eine korrekte Sequenz des restlichen Plasmids zu gewährleisten. Im Gegensatz zu chemischen oder PCR-basierten stochastischen Mutationsmethoden haben Mutatorstämme jedoch den Vorteil, dass sich die Zahl der Mutationen pro Gen sehr leicht durch die Kultivierungszeit des Mutatorstamms dosieren lässt (Greener et al. 1996; Muteeb und Sen 2010). Heute werden dennoch kaum noch Mutatorstämme benutzt, da mit in vitro-Methoden wie der PCR oder Gensynthese mit Trinucleotid-Gemischen sehr viel kontrollierter mutiert werden kann.

3.3.3 Chain Shuffling zur Affinitätsreifung von Antikörpern In den vorherigen Abschnitten wurde das Chain Shuffling als eine Methode beschrieben, die es durch Neukombination von Antikörperketten ermöglicht, humane Versionen eines nicht-humanen Antikörpers zu finden (Abschn. 3.2.3). Chain Shuffling kann jedoch auch genutzt werden, um Antikörper mit höherer Affinität, Stabilität oder veränderter Bindungskinetik zu finden. So gelang es durch Chain Shuffling mit rein natürlichen Gen-Repertoires, die kinetischen Eigenschaften der Bindung (kon, koff) bei gleichbleibender Affinität stark zu verändern (Frenzel et al. 2017). Anstatt einzelne Punktmutationen einzufügen, wird also ein ganzes „Modul“ ausgetauscht, sodass auch Mehrfachmutationen kombiniert und getestet werden können. Eine sehr große Vielfalt (Millionen) solcher „Module“ bietet bereits das Antikörperrepertoire eines nicht-immunisierten Spenders (Park et al. 2000). Um Antikörper mit verbesserter Affinität zu erhalten, ist es deshalb besonders interessant, die schweren und leichten Ketten mehrerer bereits affinitätsgereifter Antikörpervarianten miteinander zu kombinieren. Im Gegensatz zu zufälligen Kettenrepertoires von nicht immunisierten Spendern oder völlig zufälligen Mutationen, die durch Stoppcodons zu abgebrochenen Kettenfragmenten oder zum Verlust der Spezifität führen können, haben Ketten aus affinitätsgereiften Antikörpervarianten den Vorteil, dass sie bereits vollständig und funktional sind. So muss bei relativ häufigem Vorkommen brauchbarer Antikörper nur noch nach verbesserten Varianten gesucht werden. Die leichten und schweren Ketten von durch error-prone PCR affinitätsgereiften Antikörpervarianten wurden beispielsweise für die Affinitätsreifung

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3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

unterschiedlicher Antikörperformate kombiniert, um deren Eignung zur Umwandlung ins IgG-Format zu untersuchen. Diese Eignung ist wichtig, weil für das Phagendisplay vor allem das bakteriell produzierbare Antikörperformat des scFv geeignet ist, die Umwandlung dieses Formats ins IgG-Format jedoch manchmal nicht ohne Affinitätsverluste gelingt. Wird nun Phagendisplay verwendet, um Antikörpervarianten mit verbesserter Affinität auszuwählen, dann kann die gewonnene Affinität bei der Umwandlung in einen IgG also wieder verloren gehen. Durch Vergleich der verschiedenen durch error-prone PCR und Chain Shuffling affinitätsgereifter Formate hat sich gezeigt, dass ein scFab-Format mit deletierten Cysteinen sich am besten und ohne Affinitätsverluste in IgG umwandeln lässt (Steinwand et al. 2014). Häufig langt aber sogar die enorme Diversität des naiven Repertoires der V-Regionen eines nicht-immunisierten Spenders aus, um die gewünschten Eigenschaften zu erzielen. Sogar die Bindungskinetik kann angepasst werden: So gelang es, durch Austausch der leichten Ketten Antikörpervarianten herzustellen, die bei gleichbleibender subnanomolarer Affinität sehr stark verschiedene on- und off-Raten aufwiesen (Frenzel et al. 2017). In diesem Fall hat man auch den Vorteil, dass die verwendeten Sequenzen weniger immunogen zu sein versprechen, da sie ohne Mutation direkt aus einem Menschen stammen.

3.3.4 DNA-Shuffling Mit den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Methoden erhält man eine Vielzahl von Antikörpervarianten, die dann erst mühevoll miteinander kombiniert werden müssen, will man die optimale Sequenz finden. Die Kombination zweier Varianten, die jede für sich eine höhere Affinität haben mögen, führt dabei keineswegs zwangsläufig zu einem noch weiter verbesserten Fv-Fragment – im Gegenteil, das ist nur selten der Fall. Auch kann eine Mutation verschiedene Effekte haben: die eine verbessert die Lagerfähigkeit des Antikörpers, die nächste die Produzierbarkeit, eine dritte die Affinität. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, solche Mutationen mit einem einfachen Experiment miteinander zu kombinieren. Oben wurde bereits besprochen, dass durch die error-prone PCR Zufallsmutationen in die Antikörpergene eingeführt werden können. Entsteht jetzt beispielsweise nach dem fünften Zyklus die Mutation A in einem DNA-Molekül, so vererbt sich diese Mutation an dessen Kopien, die in den folgenden Zyklen entstehen. Normalerweise wird diese Mutation aber nicht mit einer anderen Mutation B kombiniert werden, die z. B. nach dem siebten Zyklus in einem anderen DNA-Molekül entstanden ist. Auch diese Mutation wird an ihre Kopien weitergegeben, sodass nach 20 Zyklen viele Moleküle mit der Mutation A vorliegen und gleichzeitig viele Moleküle mit der Mutation B vorhanden sind. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass eines der Antikörpergene beide Mutationen trägt, da bis dahin alle Mutationen zufällig erfolgen und voneinander getrennt an ihre Nachkommen weitergegeben wurden.

3.3  Affinitätsreifung in vitro

101

Die Evolution belegt, wie essenziell wichtig diese Kombination erfolgreicher Mutationen ist, denn sie hat für dieses immer wieder auftretende Problem eine sehr erfolgreiche Lösung gefunden, die sich fast in allen lebenden Wesen durchgesetzt hat: die sexuelle Rekombination. Das DNA-Shuffling imitiert diese im Reagenzglas. In der ersten Auflage dieses Buches hieß die Methode dementsprechend auch noch „Sexuelle PCR“ (Stemmer 1994). Im Rahmen des Erstarkens der political correctness wurde sie später in „DNA-Shuffling“ umbenannt (Abb. 3.4). (

bessere Produktion

= Mutation)

h here Affinit t zum Antigen

ungerichteter DNase-Verdau

Hitzedenaturierung

Renaturierung Primer

Primer PCR

Genrepertoire mit Kombinationen aller Mutationen

Abb. 3.4   Mit Hilfe des „DNA-Shuffling“ können Sätze vorteilhafter Mutationen eines Gens, welche getrennt voneinander gefunden wurden, einfach in allen Kombinationen getestet werden. Voraussetzung ist die Fragmentierung des Gens durch die Einwirkung des Enzyms DNase I. Nach Hitzedenaturierung hybridisieren unterschiedliche Fragmente in beliebigen Kombinationen in Bezug auf die enthaltenen Mutationen, aber basierend auf korrekter Überlappung mit einem Nachbarfragment, aneinander. Im Verlauf der PCR entstehen wieder Gene in voller Länge (entspricht einer assembly-PCR). Mit einem effizienten funktionellen Suchsystem wie dem Phagendisplay kann anschließend nach den gewünschten verbesserten Eigenschaften des Gens gesucht werden

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3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Voraussetzung für eine Imitation einer entsprechenden Rekombination der Mutationen in vitro ist zunächst eine Fragmentierung der DNA-Moleküle. Dafür setzt man mit DNase I einige wenige Schnitte pro DNA-Molekül, d. h. jeder DNA-Strang wird dadurch fragmentiert. Noch sind die Fragmente mit den unterschiedlichen Mutationen nicht durchmischt, doch nach Erhitzen und anschließendem Abkühlen werden die unterschiedlichen Einzelstrang-Fragmente zufällig aneinander hybridisieren, d. h. es findet eine Rekombination statt. Dann wird die durch den DNase I-Verdau unterbrochene PCR einige Zyklen weiter fortgesetzt (Abb. 3.4). Die mutierten und anschließend durchmischten Antikörpergene können dabei wieder über eine assembly-PCR komplette Antikörpergene bilden, bei denen aber nun alle Mutationen zufällig zusammengemischt wurden. Nach Klonierung kann die so hergestellte Genbibliothek durch erneute Selektion auf dem Antigen nach höher affinen oder besser produzierten Antikörpern durchsucht werden (siehe auch 2.6.2.3). Mit dieser Strategie zur Diversifizierung wurde beispielsweise die Affinität eines Antikörpers, welcher mit nanomolarer Affinität bereits hochaffin war, nochmals 30-fach gesteigert (Jermutus et al. 2001). Einfacher noch ist natürlich die Kombination schon vorhandener Antikörpervarianten miteinander. Das gerade beschriebene DNA-Shuffling wird dazu einfach mit einer Mischung der DNA der vorher selektionierten Antikörpervarianten (z. B. aus dem Phagendisplay) durchgeführt. Diese Vorgehensweise besitzt einen sehr großen Vorteil, denn sie baut auf bereits verbesserten Antikörperfragmenten auf. Damit wird die Zahl an sinnvollen Kombinationen im Vergleich zur Kombination von Zufallsmutationen stark erhöht. Man wird wahrscheinlich in einer solchen Bibliothek einen höher affinen Antikörper auffinden als in einer Bibliothek, die aus der Kombination von nicht vorselektionierten Zufallsmutationen besteht. Die Affinität eines niedrig affinen IgM konnte so insgesamt zwischen 800- und 900-fach gesteigert werden. Verbesserte Antikörpervarianten aus einer ersten Runde des DNA-Shuffling wurden dabei als Ausgangsmaterial verwendet, um eine zweite Runde des DNA-Shuffling durchzuführen. Nach der ersten DNA-Shuffling-Runde wurden Klone mit einer um zwei Größenordnungen erhöhten Affinität gefunden, die von einer zusätzlich acht- bis neunfachen Affinitätssteigerung nach der zweiten DNA-Shuffling-Runde gefolgt wurden (Fermer et al. 2004). Außer der auf die gerade beschriebene Weise durchgeführten Rekombinationen von DNA in vitro lässt sich auch die natürliche Rekombination von Genen in Hefe verwenden, um DNA-Shuffling in vivo zu erreichen (Swers et al. 2004). Im Gegensatz zum DNA-Shuffling in vitro ist die Anzahl der Antikörpergenvarianten, die rekombiniert werden können, jedoch durch die Transformationseffizienz der Hefe beschränkt.

3.4 Stabilitätsreifung in vitro Ein oft verwendetes Maß für die konformationelle Stabilität eines Antikörpers ist seine Schmelztemperatur, also die Temperatur, bei der eine Entfaltung des Antikörpers stattfindet (Chaudhuri et al. 2014; Rosa et al. 2015; Redhead et al. 2017). Bei der partiellen

3.4  Stabilitätsreifung in vitro

103

Entfaltung von Proteinen werden hydrophobe Bereiche exponiert, was zur Bildung von Aggregaten führen kann. Antikörper können jedoch auch ohne Entfaltung zur Aggregation neigen, wenn sie beispielsweise bereits hydrophobe Bereiche auf ihrer Oberfläche aufweisen und auch die Ladung von Antikörpern hat einen Einfluss auf ihre Anfälligkeit zur Aggregation (Benjwal et al. 2006; Chennamsetty et al. 2009; Chaudhuri et al. 2014; Rouet et al. 2014; Fukuda et al. 2015; Rosa et al. 2015). Der prädiktive Wert der Schmelztemperatur zur Vorhersage von Lagerstabilität ist deshalb oft nicht gegeben (zur Stabilität von Antikörpern vergleiche auch Abschn. 2.7.3 ff.). Biophysikalische Eigenschaften, wie die thermische Stabilität oder die Neigung eines Antikörpers zur Aggregation, können als Selektionskriterium von Interesse sein, weil sie die Herstellbarkeit und Lagerungsfähigkeit sowie die therapeutischen Eigenschaften eines Antikörpers beeinflussen. Aggregieren Antikörper, dann können die Aggregate bei einer Therapie immunogen wirken (Sassen et al. 1968; Rosenberg 2006; Rouet et al. 2014; Ratanji et al. 2014; Moussa et al. 2016). Methoden zur frühen Vorhersage der Aggregationsneigung finden deshalb mehr und mehr Eingang in das frühe Screening bei der Entwicklung von Antikörpern für die Therapie, um Kandidaten mit unvorteilhaften Aggregationseigenschaften möglichst früh im Entwicklungsprozess zu erkennen und auszuschließen. Auch die Vorhersage oder Messung der vielfältigen posttranslationalen Modifikationen von Immunglobulinen bietet Ansatzpunkte, mögliche zukünftige Stabilitätsprobleme früh zu erkennen (Xu et al. 2019; Abschn. 2.7.3 ff.). Solche Methoden kommen dann bei dem Screening auf verbesserte Varianten nach einem DNA-Shuffling in Kombination zum reinen Affinitätsassay zur Anwendung.

3.4.1 PCR-Mutagenese/DNA-Shuffling zur Stabilitätsreifung Zur Affinitätsreifung sind zunächst Methoden zur Diversifizierung, also zur Generierung möglichst vieler Varianten eines Antikörpergens notwendig. Genau dieselben Diversifizierungsmethoden können auch verwendet werden um weitere Eigenschaften wie die Stabilität des Antikörpers zu beeinflussen. Das Einfügen von Mutationen durch die zuvor beschriebene error-prone PCR, und DNA-Shuffling (Abb. 3.4) können genutzt werden, um Antikörper mit veränderten biophysikalischen Eigenschaften zu generieren (Abb. 3.5). Ein Weg zur Milderung der Aggregationsneigung von scFv ist die Selektion von Antikörpervarianten durch die zuvor beschriebenen Oberflächenexpressionssysteme. Nicht nur höher affine Antikörperfragmente können so gefunden werden, sondern gleichzeitig wird stets dabei auch auf bessere Produktion und Löslichkeit in E. coli selektioniert: Wenn eine Mutation die Produktion und die Löslichkeit des scFv-Fragments in E. coli verbessert, wird dieses mutierte scFv-Fragment mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auf der Oberfläche eines Phagen eingebaut. Unter geeigneten Selektionsbedingungen setzen sich diese Antikörperphagen dann gegenüber ihren Vorläufern durch. In einem

Mutation

Phagemid f r das Phagendisplay

Genrepertoire mutierter Antik rpergene

Transfektion in E. coli und Phagenproduktion

scFvAntik rpergen

scFvFragmente

EinzelklonELISA (Screening) & Klonierung in IgG

Panning unter stringenten Bedingungen

Antik rper mit verbesserten Eigenschaften

Abb. 3.5   In vitro-Evolution mit Hilfe von Phagendisplay. Zufallsmutationen können in Antikörpergenen mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion eingeführt werden. Aus einer möglichst großen Zahl der mutierten Antikörpergene wird anschließend mit Hilfe von geeigneten Oberflächenexpressionssystemen wie dem Phagendisplay auf die gewünschten Eigenschaften selektioniert (Abb. 2.8). Damit werden Antikörper ausgewählt, die zum Beispiel besser produziert werden, stabiler sind oder bessere Affinität zum Antigen aufweisen – oder (z. B. nach DNA-Shuffling anstelle des Mutationsschritts, Abb. 3.4) eine vorteilhafte Kombination all dieser Eigenschaften aufweisen

Antik rper

104 3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

3.4  Stabilitätsreifung in vitro

105

Beispiel bewirkte die Mutation des Isoleucin-77 in der VH-Domäne zu einem Threonin, dass die Produktion des scFv-Fragments in E. coli um das Zehnfache und gleichzeitig die Löslichkeit des scFv-Fragments um das Vierfache stieg. Die Affinität des mutierten scFv-Fragments dagegen hatte sich nicht geändert (Deng et al. 1994). Mit einem solchen Selektionssystem lassen sich auch besser geeignete Linkersequenzen auffinden – statt einer definierten DNA-Sequenz werden Zufallsoligonucleotide zwischen die beiden variablen Domänen eines bekannten Fv-Fragments eingebaut und anschließend mit Hilfe von Antigen die scFv-Antikörperphagen mit der besten Löslichkeit, der geringsten Tendenz zur Aggregation und natürlich auch mit der besten Affinität selektioniert (Stemmer et al. 1994). Offenbar sind jedoch in E. coli viele gleichwertige Lösungen für die Wahl des Linkers möglich. In der wohl systematischsten Arbeit wurden außer einem konservierten Prolin an zweiter Position nach Ende der schweren Kette kaum Einschränkungen der möglichen Sequenzen gefunden (Tang et al. 1996). Ein anderer Weg zur Verminderung der Aggregation von Antikörpern ist die Verwendung von Gerüststrukturen, die für ihre besondere Stabilität bekannt sind. Antikörper von Lamas, die nur aus einer schweren Kette bestehen, lassen sich in der Regel gut produzieren und sind besonders temperaturstabil. Um Eigenschaften von Lama-Antikörpern auf humane VH-Einzeldomänen-Antikörper zu übertragen, wurden Elemente kamelider Antikörper integriert. Die humanen VH-Einzeldomänen-Antikörper wurden „kamelisiert“, wodurch eine verringerte Aggregation und erhöhte thermische Stabilität erreicht werden konnte (Hamers-Casterman et al. 1993; Davies und Riechmann 1994; Davies und Riechmann 1996; Arbabi Ghahroudi et al. 1997; van der Linden et al. 1999; Rouet et al. 2014). Eine ähnliche Strategie verfolgt die zuvor als Humanisierungsstrategie beschriebene Methode des CDR-grafting (3.2.2). Anders als bei der Humanisierung geht es bei der Übertragung der komplementaritätsbestimmenden Regionen (CDR) dann nicht darum, die Gerüstregion gegen eine humane Sequenz, sondern gegen eine Gerüststruktur mit verbesserten biophysikalischen Eigenschaften auszutauschen. So wurden beispielsweise CDR in die Gerüstregion von Trastuzumab integriert, um die gute Produzierbarkeit und thermische Stabilität von Trastuzumab auf Antikörper mit anderer Spezifität zu übertragen (Jung und Pluckthun 1997; Rouet et al. 2014). Auch wurden durch rationales Design entstandene Gerüststrukturen als besonders stabile Grundstruktur vorgeschlagen. Es wurde unter anderem gezeigt, dass bestimmte zusätzliche Intra-Domänen-Disulfidbrücken zu einer Erhöhung der thermischen Stabilität führen können (McConnell et al. 2013; Rouet et al. 2014). CDR-grafting kann mit einer Diversifizierungsmethode wie beispielsweise einer in vitro-SHM kombiniert werden, um eventuelle durch die Übertragung der CDR auf ein anderes Gerüst entstandene Affinitätseinbußen rückgängig zu machen. Affinitätsreifung und Stabilitätsreifung können so auch kombiniert werden (McConnell et al. 2013, 2014). Zur Analyse der Stabilität von Proteinen wurde bereits eine Reihe von Methoden verwendet, einen Überblick gibt Abschn. 2.7.3 ff.

106

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

3.4.2 Fv-Fragmente können durch interne Disulfidbrücken stabilisiert werden Wenngleich scFv-Fragmente stabiler sind als Fv-Fragmente ohne Linker, so sind sie in diesem Punkt einem Fab oder gar IgG noch immer weit unterlegen. Ihre Halbwertszeit im Blutserum bei 37 °C liegt bei etwa zwei Stunden, verglichen mit mehr als 14 h für das entsprechende Fab-Fragment und mehreren Tagen für den IgG-Antikörper. Viel besser sieht es aus, wenn die Fv-Fragmente statt mit einem Peptidlinker mit Hilfe einer internen Disulfidbrücke stabilisiert werden. Diese Disulfidbrücke wird in die Kontaktfläche zwischen VH und VL eingeführt, und zwar durch den Austausch anderer Aminosäuren gegen Cystein an dieser Position (Abb. 3.6). Die sogenannten dsFv-Fragmente (ds für „disulfidstabilisiert“) haben meist eine längere Halbwertszeit als scFv und sind weniger anfällig für chemisch oder thermisch bedingte Denaturierung (Reiter et al. 1994c, 1996; Brinkmann 1996; Reiter und Pastan 1996). Auch ansonsten sind die dsFv-Fragmente erstaunlich stabile Moleküle, einige konnten erst durch 7 M Harnstoff irreversibel denaturiert werden, verglichen mit weniger als 0,5 M für das entsprechende scFv-Fragment. Die verbesserte Stabilität der dsFv-Fragmente hat eine Reihe weniger offensichtlicher Konsequenzen. Sie aggregieren nicht so leicht wie die scFv-Fragmente, wodurch meist die Ausbeute dieser Fragmente in E. coli erhöht wird (Reiter et al. 1994c; Reiter und Pastan 1996). Diese Eigenschaft rührt vermutlich daher, dass Antigenbindungsstelle

N (VL) variable Region der schweren Kette

variable Region der leichten Kette

neue Disulfid-brücke

C (VL )

C (VH)

Abb. 3.6   DsFv-Fragmente. Alternativ zu der Peptidverbindung zwischen den beiden variablen Domänen wie im scFv-Fragment kann zur Stabilisierung eines Fv-Fragments eine neue Disulfidbrücke an der Kontaktfläche zwischen den beiden variablen Domänen eingeführt werden. Dazu werden zwei geeignete gegenüberliegende Aminosäuren an der Kontaktfläche von VH und VL durch Cystein ersetzt

3.4  Stabilitätsreifung in vitro

107

keine Diabodies gebildet werden können, ohne die Disulfidbrücken zu reduzieren. Wichtiger noch ist diese Eigenschaft bei einer therapeutischen oder diagnostischen Anwendung der dsFv-Fragmente. Hier wären aggregierte Antikörper störend, da damit in der Regel die Funktion behindert und die Immunogenität stark erhöht wird. In der Tumortherapie würde so eine todbringende Fracht am falschen Ort abgeladen. Durch die Verbindung über Disulfidbrücken wird außerdem kein Peptidlinker mehr zum Zusammenhalten der Fv-Fragmente benötigt. Dieser kann stattdessen zur Verknüpfung zweier dsFv-Fragmente zu einem bispezifischen Antikörper verwendet werden – und indem bei den beiden unterschiedlichen Fv-Fragmenten zwei verschiedene Positionen gegenüberliegender Aminosäuren am VH-VL-Interface zu Cysteinen mutiert wurden, bot diese Methode eine frühe Lösung zur Vermeidung des „light chain pairing“ Problems (Abschn. 3.6.1) bei der Herstellung von bispezifischen Antikörpern (Schmiedl et al. 2000). Auch beim Bau der dsFv-Fragmente half das Wissen über die dreidimensionale Struktur der Antikörper. Dadurch konnten bei einigen Antikörpern, mit aufgeklärter Kristallstruktur die Abstände zwischen den einzelnen Aminosäuren innerhalb des fertig gefalteten Antikörpers genau vermessen werden. Mit dieser Information konnten einige Aminosäuren identifiziert werden, die umgewandelt in Cysteine genau die richtige Entfernung zueinander haben, um S = S-Brücken auszubilden (Glockshuber et al. 1990). Mit Hilfe von Strukturvorhersagen sind mittlerweile sogar konservierte Aminosäurepositionen innerhalb der Gerüstregionen entdeckt worden, die ausgetauscht gegen Cystein jeden dazu getesteten Antikörper durch eine interne Disulfidbrücke stabilisieren (Jung et al. 1994; Reiter et al. 1994a). In Tab. 3.1 werden acht verschiedene dieser dsFv-Fragmente mit den entsprechenden scFv-Fragmenten verglichen. Dabei war in zwei Fällen die Affinität der dsFv-Fragmente deutlich geringer, in weiteren zwei Fällen war sie etwa gleich. Überraschenderweise jedoch erhöhte sich die Affinität an das Antigen bei vier der untersuchten scFv-Fragmente durch den Einbau der Disulfidbrücke. Wieder zeigt sich damit, dass geringe Verschiebungen im Proteingerüst zu großen Veränderungen in der Affinität des Antikörpers führen können. Diese Technologie hat sich in der praktischen Anwendung nicht sehr weit verbreitet, findet aber dennoch in Fällen Anwendung, in denen sie spezifische Vorteile bietet. So wird das aus einem CD22 spezifischen dsFv-Fragment und einem Fragment eines bakteriellen Toxins (Pseudomonas-Exotoxin) bestehende Fusionsprotein Moxetumomab Pasudotox bereits zur Therapie von Patienten eingesetzt. Das Fusionsprotein wird von CD22-positiven Zellen aufgenommen („internalisiert“), und in der Zelle inhibiert der Toxinanteil durch ADP-Ribosylierung des Elongationsfaktor 2 die Proteinsynthese und tötet so die Krebszellen ab. Das Medikament ist seit September 2018 in den USA zur Behandlung bestimmter Leukämien zugelassen (Kreitman und Pastan 2011; Dhillon 2018; Abb. 5.4).

108

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Tab. 3.1  Vergleich der Affinitäten von acht verschiedenen dsFv-Fragmenten und den entsprechenden scFv-Fragmenten, Fab-Fragmenten und IgG. Die verwendeten scFv- und dsFv-Fragmente sind in diesem Fall an verschiedene Versionen des Pseudomonas-Exotoxins fusioniert worden (Reiter und Pastan 1996) Antikörper

Spezifität

Konstrukt

Affinität (nM)

B3

LewisÁ

IgG

200

Fab

1400

scFv-PE38

1300

dsFv-PE38

24.000

IgG

100–200

scFv-PE38

1000

dsFv-PE38

4000

IgG

1,2

scFv-PE38K

1,4

dsFv-PE38K

1,1

IgG

3

Fab

8

scFv-PE38K

40

dsFv-PE38K

10

IgG

3

scFv-PE38

120

dsFv-PE38

80

IgG

20–25

scFv-PE38KDEL

20–25

dsFv-PE38KDEL

25–35

IgG

10

scFv-PE38K

450

dsFv-PE38K

150

IgG

10

scFv-PE38

90

dsFv-PE38

10

B1

Anti-Tac

e23

55.1

HB21

Y10

RFB4

LewisÁ

IL2R

erbB2

Mucin Carbohydrat

Transferrinrezeptor

mutierter EGFR

CD22

3.5 Fc-Engineering Für die Wirkung von Antikörpern als Therapeutikum ist nicht nur die Antigenspezifität des Antikörpers wichtig, sondern auch welche Effekte er im Immunsystem auslöst. Der für die Effektorfunktionen verantwortliche Fc-Teil spielt deshalb eine wichtige Rolle,

3.5 Fc-Engineering

109

was den Anlass gab, Veränderungen am Fc-Teil vorzunehmen um damit die therapeutische Wirkung des Antikörpers zu beeinflussen (Saxena und Wu 2016). Der Fc-Teil eines Antikörpers kann mit dem Ziel der Verstärkung von Effektorfunktionen, der Verringerung von Effektorfunktionen oder zur Beeinflussung der Serumhalbwertszeit verändert werden (Subedi und Barb 2015; Park et al. 2016). Die Veränderung von Fc-Teilen kann auch zum Ziel haben, dieses Molekülteil dazu zu befähigen wie der variable Teil eines Antikörpers ein anderes Molekül spezifisch zu binden, also ein „Fc mit Antigen-Bindung“ (Fc with antigen-binding, Fcab), jedoch gibt der folgende Teil zunächst einen Überblick über Veränderungen zur Beeinflussung der Effektorfunktionen und Serumhalbwertszeit. Weil sich gezeigt hat, dass die Glykosylierung des Fc-Teils von Antikörpern einen Einfluss auf die Effektorfunktionen hat, wird beim „Glycoengineering“ versucht, gezielt die Verknüpfung von Zuckerresten mit dem Fc-Teil zu steuern. Das kann erreicht werden, indem die Antikörper in speziell veränderten Zelllinien produziert werden, die beispielsweise bestimmte Zuckerreste nur in geringerem Maße an neu produzierte Proteine anhängen als die Wildtyp-Zelllinien (Patnaik und Stanley 2006; Kellner et al. 2017). Eine andere Strategie zur Beeinflussung von Effektorfunktionen beruht auf der Veränderung der Proteinsequenz in dem Bereich, mit dem der Fc-Teil an seinen Rezeptor bindet, sodass die Affinität zum Rezeptor verändert wird (Kellner et al. 2017). Außer der Auslösung von Effektorfunktionen hat die Bindung des Fc-Teils an einen Rezeptor auch Einfluss auf die Halbwertszeit von Antikörpern im Serum, da über diese Bindung der intrazelluläre Transport von Antikörpern reguliert und damit auch deren Schicksal beeinflusst wird (Junghans und Anderson 1996; Ward et al. 2003; Wang et al. 2018). Die Halbwertszeit von Antikörpern im Serum zu beeinflussen, die natürlicherweise sieben bis 21 Tage beträgt (Morell et al. 1970), ist ein weiteres therapeutisch relevantes Ziel des Fc-Engineering.

3.5.1 Glycoengineering Die Konformation des Fc-Teils und wie gut er an seinen Rezeptor binden kann, wird davon beeinflusst, ob und auch mit welchen Zuckerstrukturen der Fc-Teil verknüpft ist (Subedi und Barb 2015; Park et al. 2016) (Abb. 3.7). Die Halbwertszeit eines Antikörpers im Blut kann ebenfalls von der Glykosylierung reguliert werden, beispielsweise führt Galactosylierung dazu, dass der Antikörper über die Leber eliminiert wird (Ashwell und Harford 1982; Higel et al. 2016). Das genaue Glykosylierungsmuster hängt davon ab, in welcher Zelle oder Zelllinie ein Antikörper produziert wird, aber auch von weiteren Faktoren wie beispielsweise dem Gesundheitszustand eines Organismus oder den in vitro-Kulturbedingungen (van de Geijn et al. 2009; Pincetic et al. 2014; Butler und Spearman 2014; Park et al. 2016). Es gibt eine Vielfalt an möglichen Glykosylierungsmustern von Antikörpern (Arnold et al. 2007), wobei die verschiedenen Zuckerreste Fucose, Galactose und Sialinsäure auch

110

a

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Natürliche N-Glykosylierung menschlicher Antikörper

C H2

Asn297

C H2

IgG

Asn297 α1,6

b

β1,4

β1,4

α1,6

α1,3

β1,2

β1,4

α 2,6

β1,2

β 1,4

α 2,6

Glykosylierung

β 1,4

Fc

Glykosylierung in heterologen Produktionssystemen Mannose

N-Acetylglukosamin

Galaktose

N-Acetylneuraminsäure

Fucose

N-Glykolylneuraminsäure

Xylose

Maus (NS0-Zellen)

n

Hamster (CHO-Zellen)

Insektenzellen/ Baculovirus-System

Hefe

Pflanzenzellen

Abb. 3.7   Glykosylierung von Antikörpern. a IgG1 ist an der Aminosäure-297 (Asparagin) der CH2-Domäne glykosyliert. b Der Aufbau dieser Zuckerstruktur beeinflusst die Signale, die der Fc-Teil an das Immunsystem gibt. Unterschiedliche rekombinante Produktionssysteme.glykosylieren deutlich unterschiedlich, was trotz identischer Aminosäuresequenz zu stark unterschiedlicher Wirksamkeit in vivo führen kann (Tab. 4.1)

einen unterschiedlichen Einfluss auf die Effektorfunktionen haben (Park et al. 2016; Kellner et al. 2017). Während eine Erhöhung der Galactosylierung sich affinitätssteigernd auswirken kann (Park et al. 2016; Subedi und Barb 2016), muss Fucose entfernt werden, um affinitätssteigernd zu wirken. Die teilweise oder vollständige Entfernung von Fucose führt

3.5 Fc-Engineering

111

außerdem zu einer Steigerung der antikörperabhängigen zellvermittelten Cytotoxizität (antibody-dependent cell-mediated cytotoxicity, ADCC) (Yamane-Ohnuki et al. 2004; Park et al. 2016; Kellner et al. 2017). Während fehlende Fucosylierung also immunstimulatorisch wirkt, wurden bei Sialylierung anti-inflammatorische Effekte beobachtet (Yamane-Ohnuki et al. 2004; Kaneko et al. 2006; Beyer et al. 2018). Durch gezieltes Eingreifen in die Glykosylierung von Antikörpern könnten also unterschiedliche therapeutische Ziele verfolgt werden. Eine anti-inflammatorische Wirkung kann zur Behandlung von Autoimmun- und entzündlichen Erkrankungen gewünscht sein. Zwar ist die Rolle von Sialylierungen beim anti-inflammatorischen Effekt von intravenösem Immunglobulin (so wird ein von verschiedenen gesunden Spendern vereinigtes Serum bezeichnet, das bei der Therapie von Autoimmunerkrankungen zum Einsatz kommt) nicht abschließend geklärt; jedoch konnten sialylierte autoantigenspezifische Antikörper die Symptome von Kollagen-induzierter Arthritis im Mausmodell mindern (Tjon et al. 2015; Le et al. 2016; Bartsch et al. 2018). Eine immunstimulatorische Wirkung kann dagegen bei der Bekämpfung von Krebszellen gewünscht sein, so wurde beispielsweise ein Antikörper, bei dem die Fucosylierung unterbunden worden war, bereits bei der Therapie von Patienten gegen Lymphome und ein weiterer gegen Leukämie eingesetzt (Subramaniam et al. 2012; Beck und Reichert 2012; Cameron und McCormack 2014; Yu et al. 2017). Eine Möglichkeit, das Glykosylierungsmuster eines Antikörpers gezielt zu verändern, besteht in der „chemoenzymatischen“ Herangehensweise. Dabei werden bereits produzierte Antikörper mit Enzymen behandelt (Huang et al. 2012; Yu et al. 2017). Um schon bei der Herstellung der Antikörper Einfluss auf deren Glykosylierungsmuster zu nehmen, können allerdings auch spezielle gentechnisch veränderte Zelllinien verwendet werden, in denen Gene ausgeschaltet werden, die zur Verknüpfung bestimmter Zuckerreste an Proteine notwendig sind. Durch genetischen Knock-out eines Enzyms das Fucosylierungen katalysiert (Gen FUT8 codiert die α-1,6-Fucosyltransferase) konnten beispielsweise Antikörper ohne Fucosylierungen und mit verstärkter ADCC-Wirkung hergestellt werden (Yamane-Ohnuki et al. 2004). Als eine weitere Möglichkeit kann ein Enzym überexprimiert werden, welches an den Antikörper solche Zuckerreste anhängt, die selbst nicht fucosyliert werden können und dadurch unfucosylierte Antikörpern entstehen (Schachter 2000; Davies et al. 2001; Kellner et al. 2017).

3.5.2 Fc-Rezeptor-Bindung Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, können Glykosylierungen einen entscheidenden Einfluss auf die Funktion von Antikörpern haben. Für die Affinität des Fc-Fragments zu Fc-Rezeptoren und die Effektorfunktionen ist jedoch auch die Proteinsequenz wichtig (Shields et al. 2001; Kellner et al. 2017). Es ist also naheliegend, die Funktion von Antikörpern durch Veränderung der Aminosäuresequenz des Fc-Fragments zu beeinflussen (Abb. 3.8). Es gibt Fc-Rezeptoren mit unterschiedlicher Spezifität und Funktion,

112

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Fab

Fc

Fab

FcRn-Bindung Fc RI-Bindung Fc RIIa/b-Ratio Fc RIII-Bindung C1q-Bindung

Abb. 3.8   Der Fc-Teil eines Immunglobulins ist für zahlreiche Signale an andere Teile des Immunsystems verantwortlich. Durch Mutationen können diese Signale gezielt moduliert werden. Die Darstellung zeigt ein IgG mit farbig markierten Stellen, an denen Mutationen verschiedene Interaktionen beeinflussen. Solche Mutationen können auch genutzt werden, um die Wirkung therapeutischer Antikörper zu verbessern

wobei Rezeptoren für die einzelnen Antikörper-Isotyp mit dem griechischen Buchstaben für den jeweiligen Isotyp bezeichnet werden. Ein Fc-Rezeptor für IgG wird somit FcγR, ein Rezeptor für IgA wird FcαR und ein Rezeptor für IgE wird FcεR genannt. Während ein Teil der Fc-Rezeptoren Effektorfunktionen aktivieren oder inhibieren, hat der neonatale Fc-Rezeptor (FcRn) vor allem die Funktion, den intrazellulären Transport und die Serumhalbwertszeit von Antikörpern zu regulieren (Raghavan und Bjorkman 1996; Bakema und van Egmond 2011a). Bei vielen der therapeutisch genutzten Antikörper handelt es sich um IgG1-Antikörper, welche am besten Effektorfunktionen wie die antikörperabhängige zellvermittelte Cytotoxizität (antibody-dependent cell mediated cytotoxicity, ADCC), antikörperabhängige zellvermittelte Phagocytose (antibody-dependent cell mediated phagocytosis, ADCP) und der komplementabhängigen Cytolyse (complement-dependent cytotoxicity, CDC) vermitteln (Brezski und Georgiou 2016). Bei der ADCC führt die Bindung eines Antikörpers zur Eliminierung kranker Zellen, indem über den Fc-Teil Immunzellen aktiviert werden, die ein Zerstörungsprogramm gegen die kranke Zelle auslösen. Ein solches

3.5 Fc-Engineering

113

Zerstörungsprogramm kann beispielsweise darin bestehen, dass NK-Zellen, während sie an die kranke Zelle gebunden bleiben, Stoffe ausschütten, die den Zelltod der gebundenen kranken Zelle hervorrufen (Murphy et al. 2018). Wie bei der ADCC werden auch bei der ADCP kranke Zellen durch Immunzellen eliminiert, allerdings geschieht das nicht wie bei der ADCC über ein Zerstörungsprogramm das innerhalb der kranken Zelle den Zelltod auslöst, sondern über das „Fressen“ der kranken Zelle (Phagocytose) durch Makrophagen (Gul und van Egmond 2015). Bei der CDC werden kranke Zellen anstatt durch Immunzellen durch das Komplementsystem abgetötet. Das Komplementsystem ist eine Proteasekaskade, deren Bestandteile zunächst an den Fc-Teil von zellgebundenen IgGoder IgM-Antikörpern binden können und die Zelle anschließend für die Phagocytose markieren oder Poren in der Zellmembran verursachen, die zur Abtötung der Zelle führen (Murphy et al. 2018; Kourtzelis und Rafail 2016). Durch den Austausch von Aminosäuren, die sich in der Bindungsregion des Antikörpers an den Fc-Rezeptor befinden, kann die Affinität des Fc-Teils oder auch die Bindungsspezifität verändert werden (Lazar et al. 2006; Richards et al. 2008; Park et al. 2016). Um herauszufinden, welche Aminosäuren für die Bindung wichtig sind, kann man alle dem Rezeptor zugänglichen Aminosäuren nacheinander durch ein Alanin ersetzen (Shields et al. 2001; Kellner et al. 2014). Durch Kombination mehrerer Mutationen konnte eine Fc-Variante erzeugt werden, die eine höhere Affinität für den immunstimulierenden FcγIIIa-Rezeptor und eine niedrigere Affinität für den hemmenden FcγIIb-Rezeptor hat (Lazar et al. 2006; Kellner et al. 2014). Anstelle des gezielten Austauschs von Aminosäuren aufgrund von Vorwissen können Fc-Varianten mit bestimmten gewünschten Eigenschaften auch ohne Vorwissen über die Rolle einzelner Aminosäuren generiert werden. Das ist durch Methoden möglich, wie sie schon zuvor im Abschnitt zur Affinitätsreifung (3.3) beschrieben wurden, also indem eine Bibliothek von zufälligen Sequenzvarianten generiert und deren Funktion dann getestet wird (Stavenhagen et al. 2007). Eine Verstärkung von ADCC, ADCP oder CDC und damit Immunaktivierung ist beispielsweise zur potenteren Abtötung von Krebszellen wünschenswert (Sondermann und Szymkowski 2016). Durch das Austauschen von fünf Aminosäuren im Fc-Teil eines für das Tumorantigen HER2 spezifischen Antikörpers konnte die Auslösung der ADCC deutlich erhöht werden. Die Verträglichkeit dieses Fc-variierten Antikörpers wurde in einer klinischen Studie nachgewiesen (Nordstrom et al. 2011; Bang et al. 2017; Wang et al. 2018). Weitere Fc-Varianten, welche ADCC, ADCP oder CDC verstärken können, wurden beschrieben (Idusogie et al. 2001; Lazar et al. 2006; Richards et al. 2008; Wang et al. 2018) und durch Kombinationen von Mutationen konnten sogar Fc-Varianten generiert werden, die gleichzeitig zu gesteigerter ADCC, ADCP und CDC führen (Moore et al. 2010). Es wurde früh beobachtet, dass für die komplementabhängige Cytolyse eine ausreichend hohe Konzentration des Komplements wichtig sein kann (Idusogie et al. 2000; Sondermann und Szymkowski 2016). Durch Erhöhung der Affinität oder auch der Avidität der Bindungen zwischen Fc-Teil und Komplement kann die komplementabhängige Cytolyse auch bei geringeren Komplement-Konzentrationen ausgelöst werden. So wurde

114

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

beispielsweise die Affinität des Fc-Teils von monomeren Antikörpern zum Komplement erhöht oder als alternative Strategie die Bildung von Antikörper-Hexameren durch Mutationen des Fc-Teils begünstigt, um eine höhere Avidität zu erreichen (Idusogie et al. 2001; de Jong et al. 2016; Sondermann und Szymkowski 2016; Wang et al. 2018). Eine Verringerung von ADCC, ADCP oder CDC und damit der Immuninhibition kann dagegen auch erwünscht sein, zum Beispiel bei entzündlichen Erkrankungen (Sondermann und Szymkowski 2016). Dies kann durch Mutationen im Fc-Teil erfolgen, die zu einer stark reduzierten Bindung an Fcγ-Rezeptoren führen. Am bekanntesten ist die die LALA-Mutation, bei der zwei Leucine am N-Terminus der CH2 Domäne durch Alanine ersetzt werden. Wird diese Mutation mit einer weiteren Mutation (P329G) kombiniert, ist die Bindung an Fcγ-Rezeptoren und C1q komplett ausgeschaltet (Schlothauer et al. 2016). Eine Fc-Variante mit erhöhter Affinität zu dem inhibitorisch wirkenden FcγIIbRezeptor wurde bei einem Antikörper eingesetzt, der die Behandlung einer Autoimmunerkrankung zum Ziel hat (Chu et al. 2014). Die von einem therapeutischen Antikörper gebundene Zelle nicht abzutöten kann jedoch auch bei bestimmten Krebstherapien gewünscht sein, beispielsweise dann, wenn sich das Ziel des Antikörpers auf Immunzellen befindet. Zur Krebstherapie eingesetzte Antikörper gegen inhibitorische Rezeptoren von Immunzellen sollen durch die Rezeptorblockade nur zur Aktivierung der Immunzellen dienen, aber nicht zu deren Abtötung führen. Eine einfache Möglichkeit, Fc-Fragment vermittelte Effektorfunktionen zu verhindern, besteht darin, ein kleineres Antikörperfragment ohne Fc-Teil zu verwenden, jedoch kann das zur unerwünschten Verkürzung der Serumhalbwertszeit führen. Die Verwendung weniger potenter Fc-Subtypen oder die Veränderung der Proteinsequenz des Fc-Teils kann stattdessen dafür sorgen, dass sich die Immunreaktion nicht gegen die Zielzellen des Antikörpers richtet, ohne die Serumhalbwertszeit des Antikörpers zu verkürzen (Hezareh et al. 2001; Wang et al. 2014; Sondermann und Szymkowski 2016; Jacobsen et al. 2017). Der Fc-Teil des Antikörper-Subtyps IgG4 hat beispielsweise verringerte Effektorfunktionen und wurde bei dem Antikörper Nivolumab verwendet, ein Antikörper der bei der Therapie verschiedener Krebsarten eingesetzt wird und dessen immunstimulierende Wirkung auf der Blockade des Rezeptors PD1 von Immunzellen beruht (Bruhns et al. 2009; Wang et al. 2014; Crescioli et al. 2016; Almagro et al. 2017). Auch beim Subtyp IgG4 können die natürlich bereits geringen Effektorfunktionen gentechnisch komplett ausgeschaltet werden (Schlothauer et al. 2016). Der Austausch einer Aminosäure im Fc-Teil des Antikörpers Atezolizumab, der bei der Therapie von Blasenkrebspatienten eingesetzt werden kann, führt dazu, dass der Fc-Teil dieses Antikörpers nicht glykosyliert wird und als Folge davon nicht mehr an Fc-Rezeptoren oder das Komplement binden kann. Das ist gewünscht, weil das Antigen PD-L1, das dieser Antikörper blockieren soll, nicht nur auf Tumorzellen vorkommt, sondern auch auf vielen Immunzellen, die ohne die Ausschaltung der Fc-Funktion angegriffen werden könnten (Inman et al. 2017; Kellner et al. 2017).

3.5 Fc-Engineering

115

Neben Mutationen, die zur Verstärkung oder Abschwächung schon vorhandener Effektorfunktionen führen, können Effektorfunktionen verschiedener Antikörper-Isotyp auch kombiniert werden, wie beispielsweise die Effektorfunktionen der Isotyp IgA und IgG1. IgA und IgG lösen unterschiedliche Effektorfunktionen aus und haben unterschiedliche Serumhalbwertszeiten, da IgA nicht an den FcRn-Rezeptor binden kann (Abb. 3.9). Die Kombination der Effektorfunktionen von IgA und IgG1 in Form eines sogenannten „cross isotype“-Antikörpers ist deshalb besonders interessant, um eine verstärkte Immunstimulation mit langer Serumhalbwertszeit zu verbinden (Bakema und van Egmond 2011b; Kelton et al. 2014; Borrok et al. 2015; Brezski und Georgiou 2016; Kellner et al. 2017).

3.5.3 Serumhalbwertszeit-Engineering Die Signalwirkung auf das Immunsystem ist eine wichtige Funktion des Fc-Fragments, darüber hinaus ist das Fc-Fragment von IgG aber auch an der Regulation der Halbwertszeit des Antikörpers im Serum beteiligt. Der in den Endosomen vorkommende FcRn-Rezeptor bindet das Fc-Fragment abhängig vom pH-Wert mit unterschiedlichen Affinitäten. Bei einem pH-Wert von 6, also einem leicht sauren pH-Wert, wie er in Endosomen vorkommen kann, werden Antikörper mit hoher Affinität gebunden. Bei einem pH-Wert von 7.4, wie er außerhalb der Zelle vorkommt, ist die Affinität der Bindung gering (Rodewald 1976; Roopenian und Akilesh 2007; Ward et al. 2015). Die Aufnahme in die Zelle kann durch Aufnahme extrazellulärer Flüssigkeit geschehen, in der die Antikörper enthalten sind, erst in den Endosomen binden die Antikörper an den FcRn-Rezeptor und werden anschließend wieder zur Zelloberfläche transportiert, wo sie wieder ins extrazelluläre Medium freigesetzt werden (Abb. 3.9). Antikörper, die in den Endosomen wegen zu geringer Affinität oder wegen Absättigung der FcRn-Rezeptoren ungebunden bleiben, werden nicht wieder an die Zelloberfläche zurücktransportiert, sondern zum Lysosom, wo sie abgebaut werden. Der FcRn-Rezeptor „recycelt“ die Antikörper also und umgeht so den normalen proteolytischen Abbau in der Zelle, um die Wirksamkeitszeit von Antikörpern im Plasma zu verlängern (Ward et al. 2003, 2015; Ober et al. 2004). Eine Fc-Variante mit Mutationen, die zur Steigerung der Affinität bei pH 6 geführt haben, wies eine erhöhte Serumhalbwertszeit auf, wodurch Tumorzellen dem Antikörper länger ausgesetzt werden. In einem Tumormodell in transgenen Mäusen mit humanem FcRn-Rezeptor wurde bereits gezeigt, dass die Anti-Tumor-Aktivität durch Antikörper mit derart verändertem Fc-Teil erhöht werden kann (Zalevsky et al. 2010; Ward et al. 2015; Wang et al. 2018). In einer klinischen Studie wurde gezeigt, dass die Halbwertszeit eines Antikörpers mit so modifiziertem Fc-Teil auf bis zu 100 Tage erhöht werden kann und die Behandlung mit diesem Therapeutikum wurde als für Patienten sicher eingeschätzt (Robbie et al. 2013). Es scheint jedoch wichtig zu sein, dass die pH-Abhängigkeit der Bindung zum FcRn-Rezeptor erhalten bleibt, denn Antikörper, die in

116

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

a

IgG

aus dem Blutstrom

Serumproteine

IgG dissoziiert bei neutralem pH

endocytotisches Vesikel FcRn

sekretorisches Vesikel

Cytoplasma Endothelzelle

Proteolyse anges uertes Endosom

Lysosom

Sortierung des FcRn-IgGKomplexes

b FcRn

Fc

Abb. 3.9   Der neonatale Immunglobulin-Fc-Rezeptor (FcRn) ist für die lange Halbwertszeit von Immunglobulinen im Blut verantwortlich. a Er kann von Zellen aufgenommenes IgG dem normalen Protein-Abbauweg entziehen und selektiv wieder ins Blut zurück freisetzen. b Die Interaktion des FcRn erfolgt mit der CH3-Region des Fc-Teils. (Strukturdaten: 1I1A der PDB-­ Datenbank (https://www.rcsb.org)

allen pH-Bereichen, bei leicht saurem wie nahezu neutralem pH-Wert eine gesteigerte Affinität aufwiesen, hatten eine geringere Serumhalbwertszeit in Mäusen (Dall’Acqua et al. 2002; Ward et al. 2015). Anstatt Tumorzellen einem Antikörper länger auszusetzen,

3.5 Fc-Engineering

117

wurde jedoch auch vorgeschlagen, Antikörper mit verlängerter Serumhalbwertszeit einzusetzen, um FcRn-Rezeptoren so abzusättigen, dass die bei Autoimmunerkrankungen entstehenden schädlichen Antikörper daran gehindert werden, von FcRn-Rezeptoren „gerettet“ zu werden und stattdessen dem lysosomalen Abbau zugeführt werden (Petkova et al. 2006). Außer an Antikörper bindet der FcRn-Rezeptor auch an Albumin (Chaudhury et al. 2003; Ward et al. 2015). Dieser Umstand ist vor allem für die Steigerung der Serumhalbwertszeit von kleinen Molekülen wie Peptiden, kleinen Proteinen oder auch Antikörperfragmenten ohne Fc-Teil interessant, deren Halbwertszeit so durch Fusion an Albumin erhöht werden kann (Evans et al. 2010; Sand et al. 2014). Die Halbwertszeit eines Moleküls ist neben seiner Fähigkeit, dem lysosomalen Abbau zu entkommen, auch davon abhängig, ob es über die Niere ausgeschieden werden kann. Die Niere wirkt dabei wie ein Filter, der Moleküle, die größer als etwa 60 kDa sind, im Körper zurückhält (Arturson und Wallenius 1964; Sand et al. 2014). Die Halbwertszeit kleiner Moleküle wie beispielsweise die von Antikörperfragmenten kann deshalb auch durch Vergrößerung des hydrodynamischen Radius erreicht werden. Zur Vergrößerung des hydrodynamischen Radius können die therapeutischen Moleküle beispielsweise mit einem synthetischen Polymer wie dem Polyethylen-Glykol (PEG) konjugiert werden (Chapman et al. 1999; Ueda 2014). Das kann besonders dann interessant sein, wenn zur Therapie statt ganzer Antikörper nur Antikörperfragmente verwendet werden sollen. Um die krankhafte Immunstimulation bei Rheumatoider Arthritis oder Morbus Crohn zu unterdrücken, sollte durch einen Antikörper beispielsweise die Wirkung des Cytokins TNF-α neutralisiert werden, jedoch ohne dabei selbst über seinen Fc-Teil immunstimulierend zu wirken. Um das zu verhindern, wurde der Fc-Teil entfernt und nur ein Antikörperfragment verwendet, dem PEGylierung zu einer längeren Halbwertszeit verhalf (Abb. 3.10 und 5.4 oben links). Das PEGylierte AntiTNF-α-Fab-Fragment (Certolizumab) wird inzwischen schon zur Therapie von Patienten eingesetzt (Goel und Stephens 2010; Sondermann und Szymkowski 2016). Es wird vermutet, dass eine solche PEGylierung auch eine geringere Immunogenität der mit ihnen konjugierten Proteine bewirken könnte, möglicherweise durch Maskierung potenziell immunogener Epitope. Es wurde jedoch auch bereits darüber berichtet, dass Antikörper gegen den körperfremden Stoff PEG gebildet wurden oder eine Einlagerung in gesunde Zellen erfolgt (Lee und Sehon 1977; Ganson et al. 2006; Ueda 2014; Zhang et al. 2016). Als Alternative zur PEGylierung kann eine Vergrößerung des hydrodynamischen Radius auch durch „biologische Polymere“, bestehend aus den Aminosäuren Prolin, Alanin und Serin (PAS), erreicht werden (Abb. 3.10). Eine solche PASylierung hat den Vorteil, dass keine chemische Konjugation des Polymers mehr notwendig ist, sondern Antikörper und Polymer auf genetischer Ebene verknüpft und direkt als ein Fusionsprotein produziert werden können (Schlapschy et al. 2013).

118

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Fab

O

OH n

PAS-Polymer Aminosäuren Prolin, Alanin und/oder Serin ...

Albumin Abb. 3.10   Verschiedene Modifikationen können die Serumhalbwertszeit kleiner Antikörperfragmente stark verlängern, insbesondere, indem sie die Moleküle so vergrößern, dass sie von der Niere nicht mehr einfach ausgefiltert werden. PEGylierung erfolgt durch chemische Kopplung des Polymers Polyethylenglykol an Aminosäure-Seitenketten. PASylierung und Fusion mit Humanem Serumalbumin (HAS) erfolgen durch Verlängerung des Leserasters um die gewünschten Polypeptide (bei PASylierung eine Polypeptidkette aus den Aminosäuren Pro, Ala und Ser). Insert: dreidimensionales Modell eines PASylierten Fab-Fragmentes (Modell: Arne Skerra, XL-protein GmbH). Das Antikörperfragment ist farbig abgesetzt, für das strukturell ungeordnete PAS-Polypeptid (grau) sind zur Illustration des vergrößerten apparenten hydrodynamischen Durchmessers 24 zufällige Konformationen überlagert dargestellt

3.6 Antikörper mit erweiterter Funktion Schon lange sind polyklonale und monoklonale Antikörper in der Diagnose unverzichtbar. Aufgrund ihrer hohen Spezifität können mit ihrer Hilfe eine Vielzahl von Krankheiten und Infektionen diagnostiziert werden. So basierten z. B. die ersten HIV-Tests auf der Bindung von monoklonalen Antikörpern an das Virusantigen. Zur Behandlung von Erkrankungen reicht die Antigenbindung allein jedoch nur in wenigen Fällen aus, um einen therapeutischen Effekt zu erzielen. Beispiele für solche Ausnahmen: ein Antikörperfragment gegen den Tumornekrosefaktor (Orfanoudakis et al. 1993) oder seinen Rezeptor (Moosmayer et al. 1995) kann als Antagonist der Signalübertragung wirken und damit potenziell lebensbedrohliche Entzündungsreaktionen einschränken – allerdings ausschließlich dann, wenn er nur einen Bindungsarm aufweist – ein entsprechendes IgG mit zwei Bindungsarmen stimuliert dagegen durch Rezeptorclustering

3.6  Antikörper mit erweiterter Funktion

119

scFvFragment Diabody

scFv-Fc

scFabFragment

single domainAntik rper/ Nanobodies

Minibody

Kamelid-Ig

scIgG

Abb. 3.11   Single chain-(sc-)Antikörperformate. Die Verbindung der variablen Regionen von schwerer und leichter Kette mit Hilfe eines Linkers (dicke schwarze Linie) zu einem gemeinsamen Polypeptid ermöglicht analog zu dem in der Natur beobachteten Baukasten-Prinzip mit immunglobulin-fold-Regionen (Abb. 1.5) die einfache Erzeugung zahlreicher Antikörpervarianten unterschiedlicher Valenz und Größe. Da jeweils nur ein Polypeptid gebildet werden muss, wird die Vektorkonstruktion und Produktion durch die Verknüpfung stark vereinfacht. Translationsrichtung: von Vx zu Cx). Einzelne single domain-Fragmente der Kamelid-Antikörper bezeichnet man auch als Nanobodies

das Signal. Die rekombinante Antikörpertechnologie ermöglicht hier fast beliebige Formate, um Größe oder Valenz einzustellen (Abb. 3.11). Antikörper, genannt Minibodies, die etwa halb so groß wie ein IgG, aber größer als ein scFv-Fragment sind, haben sich zum Beispiel als besonders vorteilhaft für das Tumorimaging erwiesen (Wu et al. 1996; Wu 2014; Freise et al. 2015). Ein Antikörper gegen Myelin-assoziierte Neuriten-Wachstumsinhibitoren stimuliert die Nervenregeneration durch Neutralisierung der Inhibitoren (Bandtlow et al. 1996). Ein scFv-Antikörper gegen die antidepressive Droge Desipramin kann zur Neutralisation des Arzneimittels im Blutkreislauf eingesetzt werden (Shelver et al. 1996). Zum Problem können allerdings die großen absoluten Mengen von Antikörperfragmenten werden, die zu solchen Neutralisations-Anwendungen benötigt werden (Keyler et al. 1994). Die meisten therapeutischen Ansätze benutzen Antikörper, in denen die Antikörperdomäne nur als Suchkopf, nicht als Effektor dient. Erst die Technologie rekombinanter Antikörper ermöglichte es, größere Mengen an menschlichen Antikörpern herzustellen (Abschn. 2.6). Offensichtlich lösen viele Tumoren eine deutliche und spezifische Immunantwort aus, wobei die Krebspatienten Antikörper gegen tumorassoziierte Antigene bilden (Sahin et al. 1995). Trotzdem wächst bei diesen Patienten der Tumor weiter. Diese Antikörper sind offenbar allein nicht in der Lage, den Tumor erfolgreich zu bekämpfen. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass

120

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

außer der Antigenbindung noch weitere Signale für eine erfolgreiche Zerstörung notwendig sind. So benötigt eine cytotoxische T-Zelle mindestens zwei Signale, bevor sie eine Zielzelle zerstört. Das erste, spezifische Signal ist das Erkennen des Antigens durch den T-Zellrezeptor, aber erst dann, wenn gleichzeitig auch ein costimulatorisches Molekül wie CD28 von der Zielzelle gebunden wird, wird die cytotoxische T-Zelle aktiviert (Überblick bei: Murphy et al. 2018). Diese Rückversicherung des Immunsystems macht Sinn, denn sonst wäre der Schaden nicht zu begrenzen, den einzelne B- oder T-ZellKlone anrichten könnten, die z. B. mit körpereigenen Antigenen kreuzreagieren. Ein weiterer Grund, warum die tumorspezifischen Antikörper der Patienten allein oft nicht ausreichen um den Tumor zu bekämpfen, ist ebenfalls ein Sicherheitsmechanismus des Immunsystems. Regulationsmechanismen, die normalerweise dafür sorgen, dass übermäßige Immunreaktionen nicht dem eigenen Gewebe schaden, können bei einer Krebserkrankung dafür verantwortlich sein, dass das Immunsystem sich an den Tumor „gewöhnt“. Zur Therapie bestimmter Krebspatienten werden deshalb bereits Antikörper verabreicht, die die aktivitätsdämpfenden sogenannten Immun-Checkpoints wie die Rezeptoren PD1 („programmed cell death protein 1“) oder CTLA4 („cytotoxic T-lymphocyte-associated protein 4“) blockieren und die Immunzellen dadurch wieder zum Angriff anregen (Jain et al. 2010; Hodi et al. 2010; Robert et al. 2015; Dyck und Mills 2017), Abschn. 5.4.2 und Abb. 5.5. Ein Sicherheitsmechanismus, der normalerweise verhindert, dass gesunde körpereigene Zellen phagocytiert werden („Escape-Mechanismus“), kann ebenfalls dazu führen, dass Krebszellen nicht vom Immunsystem beseitigt werden. Wenn das „friss mich nicht“-Signal CD47 (cluster of differentiation 47), das normalerweise gesunde Zellen davor schützt, von Makrophagen eliminiert zu werden, auf Tumorzellen blockiert wurde, konnte die Phagocytose von Tumorzellen stimuliert werden (Kinchen und Ravichandran 2008; McCracken et al. 2015; Takahashi 2018). Dass Tumoren oft der Bekämpfung durch das Immunsystem entkommen, liegt aber auch daran, dass sich in der unmittelbaren Umgebung eines Tumors oft ein ganz spezielles Milieu bildet, das durch verschiedene Faktoren zur Dämpfung von Anti-Tumor-Reaktionen führt (Munn und Bronte 2016). Die Schwierigkeit besteht also darin, Immunzellen oder andere Bekämpfungsmittel nicht nur an den Ort des Tumors zu bringen, sondern dort auch eine Aktivierung stattfinden zu lassen. Insbesondere tumorspezifische Antikörper könnten sehr wertvoll werden, wenn es gelänge, mit ihrer Hilfe ein giftiges Prinzip selektiv zum Tumor zu leiten. Gifte sind von den Regulationsmechanismen des Immunsystems unabhängig und können daher in der Tumor-Mikroumgebung nicht auf die gleiche Weise wie Immunzellen „ausgeschaltet“ werden. Je besser der Antikörper dabei das normale Gewebe von dem sehr ähnlichen Tumor unterscheiden kann, desto geringer ist der Schaden für das gesunde Gewebe. Dies wiederum bedeutet, dass der Krebs effizienter bekämpft werden kann, da mehr vom Therapeutikum an den Tumor gelangt. Damit wiederum steigen die Heilungschancen (Bodey et al. 1996).

3.6  Antikörper mit erweiterter Funktion

121

Nicht zuletzt deswegen richten sich große Hoffnungen auf die Therapie mit Hilfe von rekombinanten Antikörpern, denn diese können durch molekularbiologische Techniken vergleichsweise einfach verändert werden. Mit gentechnischen Methoden können vollkommen unterschiedliche Moleküle miteinander verknüpft werden, welche dem rekombinanten Antikörper fast beliebige zusätzliche Eigenschaften verleihen. Einige Beispiele – in diesem Falle in Form von genetisch einfach herzustellenden single chain-Konstrukten, gibt Abb. 3.12. Dies ermöglicht es, die benötigten zusätzlichen Signale mit dem rekombinanten Antikörperfragment zu verbinden, oft in der Hoffnung, damit das Immunsystem spezifisch gegen eine Tumorzelle zu aktivieren (Abb. 3.18; Hartmann et al. 1996; Przepiorka et al. 2015). Es gibt noch fast unzählige andere Formate, von denen einige im weiteren Verlauf dargestellt werden. Die vorherigen Abschnitte beschäftigten sich mit den Eigenschaften der Antigenbindungsstelle: Bindungsspezifität, Affinität, Größe und Stabilität. In den folgenden Abschnitten stehen die meist medizinischen Anwendungen dieser Fragmente im Vordergrund, d. h. die Bindungsspezifität der Antikörperfragmente soll ausgenutzt werden, um

scFv-Maus-Fc

bispezifischer scFv-Fc

scFv-Mensch-Fc

scFv-Kaninchen-Fc

scFv-Fc-RNase

Abb. 3.12   scFv-Fc-Fusionsproteine entstehen durch die Verknüpfung von Immunglobulin Fc-Regionen mit single chain-Fragmenten. Diese Kombination (scFv-Fc) ermöglicht, verglichen mit IgG, eine effizientere Produktion von IgG-funktionsäquivalenten Antikörpern in Säugerzellkultur für den Forschungsbereich. Der Fc-Teil kann dabei leicht ausgetauscht werden (oben), was freie Wahl des Detektionssystems bei Immunassays ermöglicht. Bispezifische Varianten (scFvFc-scFv, unten links) bieten eine schnelle Klonierungsmöglichkeit zum Test der Effektivität von Kombinationen zweier Antikörper. Fusionsproteine mit Enzymen (unten rechts) zeigen gegenüber IgG-Fusionen oft Vorteile bei der Produktausbeute

122

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

den Zielort zu markieren oder zu zerstören, ihn einzukapseln, zurückzuhalten oder zu verändern. Da ein Antikörper nur selten allein aufgrund seiner Bindung an das Antigen wirkt, haben auch schon die normalen in unserem Immunsystem gebildeten Antikörper mindestens zwei Funktionen, sie sind mindestens bifunktional. Die eine Funktion ist das spezifische Erkennen des Antigens und wurde in Kap. 2 umfassend besprochen. Die zweite Funktion dagegen aktiviert das Immunsystem und wurde in den vorangegangenen Abschnitten von Kap. 3 besprochen. Zwar beruht diese Bifunktionalität natürlich auch auf der spezifischen Bindung an zwei verschiedene Moleküle, zum Beispiel das Antigen und einen Fc-Rezeptor. Von bispezifischen Antikörpern spricht man allerdings aus historischen Gründen nur, wenn ein Antikörperkonstrukt zwei verschiedene Antigene binden kann.

3.6.1 Bispezifische Antikörper 3.6.1.1 Bispezifische Antikörper vereinigen die Bindungseigenschaften von zwei unterschiedlichen monoklonalen Antikörpern in einem Molekül Mit der Einführung der Hybridom-Technologie durch Köhler und Milstein im Jahr 1975 standen Moleküle zur Verfügung, die hochselektiv an Zielmoleküle binden konnten. Verbindet man nun zwei solcher monoklonaler Antikörper durch chemische Kopplung (wie zum Beispiel in Abb. 3.12 unten links gezeigt) oder durch die Fusion zweier Hybridomzellen, so erhält man bispezifische Antikörper. Diese Hybridmoleküle vereinigen die Bindungseigenschaften von zwei unterschiedlichen monoklonalen Antikörpern in einem Molekül. Es sind künstliche Moleküle, die in der Natur nicht vorkommen. Schon früh wurden bispezifische F(ab’)2-Fragmente durch die Oxidation von monovalenten F(ab’)-Fragmenten hergestellt (Nisonoff und Rivers 1961). Bispezifische Antikörper können aber auch direkt von Zellen synthetisiert werden. Im Jahr 1983 fusionierten Milstein und Cuello (Milstein und Cuello 1983) dazu erstmals zwei unterschiedliche Hybridomzelllinien miteinander. Die eine Hybridomzelle sezernierte einen Anti-Peroxidase-Antikörper, die andere einen Anti-Somatostatin-Antikörper. Die resultierende Hybrid-Hybridom- (oder Quadrom-)Zelle produzierte neben dem gewünschten bispezifischen Antikörper allerdings noch neun andere Varianten, die von dem gewünschten bispezifischen Molekül abgetrennt werden müssen (Abb. 3.13). Dies ist oft schwierig, da die verschiedenen Moleküle einander meist sehr ähnlich sind, sodass oft nur eine Affinitätsreinigung mit immobilisiertem Antigen das gewünschte Produkt erbringt. Damit verteuert sich die Produktion solcher bispezifischer Antikörper enorm. Dennoch überwogen die Vorteile dieser Methode gegenüber der chemischen Kopplung zweier Antikörper, denn der Ort und die Stöchiometrie der Kopplung ist festgelegt, und es besteht keine Gefahr, dass für die Antigenbindung wichtige Bereiche in den hypervariablen Regionen durch kovalente Modifikation inaktiviert

3.6  Antikörper mit erweiterter Funktion A

B

A

A

B

B

X1

A

X1

A

X2

X1

B

X2

B

monospezifisches IgG B

monospezifisches IgG A gew nschtes Produkt

123

nicht bispezifisch

X1

X2

X2

X1

X2

IgG mit zus tzlichen neuen Paratopen X1 und X2

Abb. 3.13   Unter der Voraussetzung, dass keine Bevorzugung in der Kettenpaarung stattfindet, sekretieren Quadrom-(Hybrid-Hybridom-)Zellen zehn verschiedene IgG-Varianten. Diese umfassen vier verschiedene Antigenbindungsstellen (Paratope, durch Zahlen dargestellt), von denen nur zwei die gewünschten Spezifitäten besitzen (A + B). Nur eine der 10 Varianten ist dabei der gewünschte bispezifische Antikörper, während die Varianten mit Misch-Paratopen (X1 und X2) neue unerwünschte zusätzliche Reaktivitäten erzeugen. Eine ähnliche Situation ergibt sich beim nicht seltenen Vorkommen zusätzlicher Ketten in Hybridomzellen (Abb. 2.2) – der Begriff „monoklonaler Antikörper“ suggeriert zwar Monospezifität, aber das Hybridom sezerniert dann verschiedene Antikörper, selbst aus nur einer Zelle. Das tatsächliche Vorkommen entsprechender Kombinationen wurde auch experimentell bestätigt (Schaefer et al. 2016; Bradbury et al. 2018)

werden. Eine Verbesserung der Quadrom-Technologie mit weniger Nebenprodukten wurde erreicht, indem statt Hybridomen gleicher Spezies Hybridome von unterschiedlichen Spezies fusioniert wurden. Dadurch, dass sich schwere und leichte Ketten bevorzugt Spezies-spezifisch anstatt rein zufällig paarten, konnte eine höhere Ausbeute des gewünschten Produkts erreicht werden. Mit Hilfe der Ratte-Maus-Quadrom-Technologie konnte so ein bispezifischer Antikörper produziert werden, der bereits zur Therapie von Patienten mit malignem Aszites eingesetzt wurde (Catumaxomab, Abb. 5.4) (Lindhofer et al. 1995; Linke et al. 2010). Um das gewünschte Produkt gezielter und möglichst definiert herstellen zu können, wurden zahlreiche auf molekularbiologischen Methoden basierende Strategien zur Herstellung bispezifischer Antikörper entwickelt. Dazu gehört beispielsweise die Entwicklung der im Folgenden näher erläuterten „knob-into-hole“- oder SEED-Antikörper, die auf der asymmetrischen Heterodimerisierung der konstanten Antikörperregionen basieren. Aber auch durch symmetrische Heterodimerisierung von scFv, durch Verknüpfung von Antikörpern mit einem Peptidlinker und durch weitere Methoden lassen sich bispezifische Antikörper definiert und in großer Reinheit herstellen.

124

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Zur Herstellung eines bispezifischen Antikörpers können theoretisch einfach zwei „Antikörperhälften“ bestehend aus je einer schweren und leichten Kette mit unterschiedlichen Spezifitäten zu einem ganzen Antikörper zusammengefügt werden. Eine solche Paarung in einer Produktionszelle zu erreichen, ist allerdings nicht einfach – wie das Beispiel Quadrom zeigt. Es müssen stets zwei unterschiedliche schwere Ketten zusammenkommen, und diese müssen sich dann zur Bildung der korrekten Paratope noch mit „ihren richtigen“ dazugehörigen leichten Ketten paaren. Für die Lösung dieser „heavy chain pairing“- und „light chain pairing“-Problematik wurden zahlreiche verschiedene Lösungen vorgeschlagen. Damit sich nicht zwei Antikörperhälften mit derselben Spezifität zu einem ganzen Antikörpermolekül paaren, sondern immer nur solche mit unterschiedlicher Spezifität, können dazu zum Beispiel die jeweiligen Antikörperhälften so verändert werden, dass sie wie zwei Puzzleteile zusammenpassen (Abb. 3.14). Um Heterodimere zu begünstigen, können die CH3-Regionen der Antikörperhälften zueinander sterisch komplementär gemacht werden (Ridgway et al. 1996; Husain und Ellerman 2018). Das kann erreicht werden, indem eine hervorstehende Noppe („knob“) durch große Aminosäuren wie Tryptophan und Tyrosin erzeugt wird, die dann in ein Loch („hole“) bestehend aus kleineren Aminosäuren wie Threonin und Alanin auf der gegenüberliegenden Seite hineinpasst (Ridgway et al. 1996; Merchant et al. 1998; Krah et al. 2017). Zwar begünstigt der „knob-into-hole“-(KiH-)Ansatz die Bildung von heterodimeren und damit bispezifischen Antikörpern, es können jedoch trotzdem zu einem gewissen Grad homodimere Nebenprodukte wie knob-knob- oder hole-hole- Paarungen entstehen, wobei sich hole-hole-Nebenprodukte leichter bilden (Ridgway et al. 1996; Kuglstatter et al. 2017). Eine andere Methode um zueinander komplementäre Antikörperhälften zu erzeugen, beruht darauf, dass abwechselnd Segmente der CH3-Sequenzen von IgG und IgA kombiniert werden (Abb. 3.14). Bei der Produktion von Antikörperhälften mit solchen „strand-exchange engineered domains“ (SEEDs) bilden sich dadurch bevorzugt Heterodimere, also die gewünschten bispezifischen Antikörper (Davis et al. 2010; Brinkmann und Kontermann 2017; Krah et al. 2017). Wenn die Heterodimerisierung der beiden schweren Ketten begünstigt wird, können sich die leichten Ketten jedoch noch immer zufällig in vier verschiedenen Kombinationen mit den schweren Ketten paaren, was zu weiteren unerwünschten Nebenprodukten führt (Brinkmann und Kontermann 2017). Am einfachsten lässt sich dieses Problem lösen, indem nur eine einzige leichte Kette verwendet wird, sodass es keine unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten mit den jeweiligen schweren Ketten gibt. Da die Antigenspezifität besonders durch die schwere Kette bestimmt wird (Xu und Davis 2000), muss es nicht zum Verlust der Antigenbindung kommen, wenn eine andere als die ursprüngliche leichte Kette verwendet wird. Durch Phagendisplay konnten daher Antikörper mit identischen leichten Ketten aber unterschiedlicher Antigenspezifität isoliert werden (Merchant et al. 1998). Die empirische Selektion und erneute Charakterisierung einer gemeinsam nutzbaren leichten Kette („common light chain“) ist jedoch, verglichen mit der Verwendung der ursprünglichen leichten Ketten, mit einem hohen Aufwand verbunden.

3.6  Antikörper mit erweiterter Funktion

N1

N3

N2

Maus

N4

N1

Ratte

125 N3

N2

Y86T

Triomab

N3

N1

N1

N3

N2

CH3 (IgA)

knob-into-hole-IgG

N1

N4

CH3 (IgG)

T22Y

N1 N1

N4

SEED

N1

N2

N2

N1

N2 VH

N4

CL

VL CH1

Y86T

T22Y scFv2-Fc

CrossMAb -Variante

N1

N2

N2

N1

N1

N2

V-Regionen N2 mit 2 N1 Spezifit ten

DVD-Ig N1

Albumin

neue Bindungsstelle in CH3 IgG mit Fcab (mAb2)

2-in-1-IgG

scFv-HSA-scFv

Abb. 3.14   Eine Auswahl von Möglichkeiten zur Herstellung rekombinanter bispezifischer Antikörper. Obere Reihe: Erste Generation, hier war das Problem der undefinierten Paarung der leichten Ketten noch nicht gelöst. Triomab: ein durch eine Fusion von Maus- und Rattenzellen gewonnenes Quadrom (Abb. 3.13) produziert bevorzugt Hybride. Knob-into-hole-IgG werden durch zueinander passende Mutationen in der CH3-Region erzeugt. SEED-Antikörper (strand-exchange engineered domain) basieren auf CH3-Regionen, welche Hybride aus IgG und IgA sind. Mittlere und untere Reihe: Formate, die das Problem der korrekten Paarung bei mehreren leichten Ketten auf verschiedene Weisen lösen: im DVD-Ig-(dual variable domain immunoglobulin-)Antikörper gibt es nur eine leichte Kette, im scFv2-Fc-Format und in der scFv-HSA-scFv-Fusion sogar überhaupt nur eine Polypeptidkette. Bei CrossMAbs sind in einem der beteiligten Fab-Fragmente die kontanten Ketten CL und CH1 vertauscht. Bispezifische IgG-Fcab nutzen eine zusätzliche, neu in die CH3 eingeführte Bindungsstelle (Abb. 3.15), während bei 2-in-1-IgG durch in vitro-Mutation und Re-Selektion der CDR eine Kreuzreaktivität mit einem gewünschten zweiten Antigen gezielt eingebaut wurde. Es gibt noch zahlreiche weitere bispezifische Formate. „N“ zeigt das aminoterminale Ende der jeweiligen Polypetidkette an. Unterschiedliche schwere bzw. leichte Ketten sind durch verschiedene Farben unterschieden

126

3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Eine Strategie, die mit weniger Aufwand durch Gentechnologie erreicht werden kann, ist das Vertauschen der CH1- und CL-Domänen miteinander („CrossMAb“-Technologie), sodass eine schwere Kette aus VH-CL-CH2-CH3 und eine leichte Kette aus VL-CH1 entsteht (Abb. 3.14). Dies wird mit der knob-into-hole-Technologie verknüpft, sodass ein Antikörperarm ein normales Fab trägt und der andere mittels knob-into-hole-verknüpfte Antikörperarm ein vertauschtes „CrossMAb“-Fab (Schaefer et al. 2011; Klein et al. 2012; Brinkmann und Kontermann 2017). Eine andere Möglichkeit die zufällige Kombination unterschiedlicher leichter mit den schweren Ketten zu verhindern besteht in der Verwendung von scFv oder auch single chain-Fab (scFab), die an heterodimerisierende Fc-Fragmente fusioniert werden. Die asymmetrische aus IgG- und IgA-Sequenzen kombinierte SEED-Struktur wurde beispielsweise nicht nur in Volllängen-Antikörpern verwendet, sondern auch mit kleineren Antikörperformaten fusioniert, sodass SEED-Fab, SEED-scFv und weitere Formate heterodimerisiert werden konnten (Muda et al. 2011; Brinkmann und Kontermann 2017). Durch den Peptidlinker zwischen schwerer und leichter Kette ist dabei eine korrekte Paarung garantiert. Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgen die „Fcab“ (Abb. 3.15). Der Name entstand aus der Kombination von Fc- und Antigenbindung – bei der eine völlig neue Antigenbindungsstelle in eine konstante Domäne des Fc-Teils hereinoperiert wurde. Ziel war die Herstellung von bispezifischen Antikörpern unter Vermeidung des Problems falscher Paarungen im Fc-Bereich. Fcab haben Bindungs-loops in der CH3-Domäne, die diesen Molekülteil dazu befähigen, wie der variable Teil eines Antikörpers ein anderes Molekül spezifisch zu binden, also ein „Fc mit Antigenbindung“ (Lobner et al. 2016; Park et al. 2016; Wozniak-Knopp et al. 2017). zur hinge

Fcab

IgG-Fcab

CH2 CH3 Antigen

CH2

CH3

Fcab EF-loop

AB-loop EF-loop

AB-loop

Antigen

Abb. 3.15   Fcab: Neue Bindungsstellen können im Fc-Teil erzeugt werden. Durch Veränderung von zwei Aminosäureketten-loops (grün und rot hervorgehoben) am „unteren Ende“ des Fc-Teils können neue Bindungsspezifitäten in ein IgG eingeführt werden. Werden die loops „randomisiert“, kann Phagendisplay oder Hefedisplay zur Identifikation geeigneter Bindermoleküle genutzt werden (Struktur: 5K33 in der PDB-Datenbank https://www.rcsb.org/)

3.6  Antikörper mit erweiterter Funktion

127

Bispezifische Antikörper können auch ohne die Hilfe der konstanten Region des Antikörpers, sondern nur mit den variablen Regionen des Antikörpers gebildet werden. Eine Art, wie das erreicht werden kann, ist die Bildung von Diabodies (Abb. 3.11 und 3.16). Wenn die beiden variablen Domänen eines scFv durch eine nur kurze Aminosäurekette von etwa fünf Aminosäuren verbunden werden, dann reicht die Länge der Kette nicht mehr aus, um das Zusammenlagern der beiden variablen Domänen zu einem scFv zu erlauben. Statt der intramolekularen Zusammenlagerung der beiden variablen Domänen des scFv kommt es zur intermolekularen Zusammenlagerung von variablen Domänen zweier scFv. Werden jeweils die variablen Domänen zweier scFv mit unterschiedlicher Spezifität durch einen kurzen Aminosäure-Linker verknüpft (VHA-VLB und VHB-VLA, wobei A und B für unterschiedliche Spezifitäten stehen), lassen sich so Diabodies mit zwei unterschiedlichen Spezifitäten zusammenlagern. Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen asymmetrischen Heterodimeren sind Diabodies symmetrische Heterodimere, was dazu führt, dass sich auch wieder unerwünschte Homodimere als Nebenprodukte bilden können. Statt einem bispezifischen N VH

N2

N3

S S Tandem-scFv (taFv) N1

N

N

S S

VL

scFv A

VH

N1

Tandem-dsFv (tdsFv) N1

N1

VL

scFv B S S hinge

N N2 TandemNanobody

bispezifischer singleDiabody chain(Db) Diabody (scDb)

N2 disulfidstabilisierter Diabody (dsDb)

N2 DART

N TandemDiabody (taDb)

Abb. 3.16   Möglichkeiten zur Herstellung rekombinanter bispezifischer Antikörper ohne Fc-Teil. Bei Diabodies und Tandem-Diabodies sind die zwei Polypeptidketten nicht-kovalent gekoppelt, die spezifische Paarung beruht auf verkürzten Linkern zwischen den jeweiligen VH- und VL-Regionen, welche eine Bildung der ursprünglichen scFv-Fragmente verhindert. In verschiedenen Tandemantikörperformaten sind die Bindungsregionen hintereinander auf einer Polypeptidkette angeordnet. Disulfidstabilisierung (Abb. 3.6) kann zusätzlich mit beiden Ansätzen kombiniert werden. In den Tandem-dsFv-Fragmenten wird das Problem der VH/VL-Paarung durch Disulfidstabilisierung an zwei unterschiedlichen Positionen gelöst. DART: dual-affinity retargeting. „N“ zeigt das aminoterminale Ende der jeweiligen Polypetidkette an. VH1, VH2, VL1 und VL2 sind durch verschiedene Farben unterschieden

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3  Antikörper-Engineering: Maßgeschneiderte Reagenzien …

Heterodimer können so Diabodies entstehen, bei denen sich jeweils die beiden VH- und VL-Domänen unterschiedlicher Spezifitäten zusammenlagern (Brinkmann und Kontermann 2017). Man hat daher auch schon versucht, das KiH-Prinzip auf Diabodies anzuwenden (Zhu et al. 1997). Um Homodimere zu vermeiden und die Paarung von Heterodimeren zu begünstigen, können Diabodies stattdessen auch mit einer Aminosäurekette von etwa 15 Aminosäuren Länge zu einem single chain-Diabody (scDb) miteinander verbunden werden (Müller-Brüsselbach et al. 1999). Zur Verknüpfung der einzelnen Domänen enthalten scDb also insgesamt drei Aminosäure-Linker, von denen zwei kurze Ketten zur Verknüpfung von Domänen mit unterschiedlicher Spezifität dienen und eine längere Kette die beiden Diabody-Hälften verknüpft. Stattdessen können auch zwei scFv mit unterschiedlicher Spezifität zu Tandem-scFv (taFv) miteinander verbunden werden. TaFv enthalten insgesamt ebenfalls drei Aminosäure-Linker, von denen zwei jedoch zur Verknüpfung von Domänen mit der gleichen Spezifität dienen und eine Aminosäurekette die beiden scFv-Moleküle miteinander verbindet (Jost et al. 1996; Brinkmann und Kontermann 2017). Diese einfache Art scFv zu verknüpfen, wurde auch bereits verwendet, um drei Spezifitäten zu kombinieren (Schubert et al. 2011), und durch Verknüpfung von einem Interleukin und drei scFv wurde ein tetraspezifisches Molekül generiert (Schmohl et al. 2016). Tetravalente Antikörper können auch durch das Anhängen von zwei Antikörperfragmenten an den C-Terminus zusätzlich zu zwei Antikörperfragmenten am N-Terminus des Fc-Fragments erzeugt werden. Das dual affinity retargeting-(DART-)Format ist ein weiteres Format, das den Diabodies ähnlich ist, jedoch durch zusätzliche Disulfidbrücken stabilisiert wird (Moore et al. 2011; Kontermann und Brinkmann 2015) (Abb. 3.16). Neben den bisher genannten bispezifischen Formaten wurden bereits über 100 weitere bi-, tri- oder polyvalente Formate beschrieben, die durch unterschiedliche Kombinationen von Antikörperformaten, verschiedenen Verknüpfungsstrategien und deren Kombinationen entstanden sind (Brinkmann und Kontermann 2017). Warum besteht nun aber ein so großes Interesse an diesen bispezifischen Molekülen?

3.6.1.2 Bispezifische Antikörper können unterschiedliche Zellen oder Moleküle selektiv miteinander verbinden Bispezifische Antikörper können zwei Partner, Zellen oder Moleküle, hochspezifisch miteinander verbinden. Damit besteht z. B. die Möglichkeit, in die gestörte Kommunikation zwischen Tumorzellen und dem Immunsystem einzugreifen. Offensichtlich werden einige Tumoren vom Immunsystem toleriert, obwohl sie tumorassoziierte Antigene aufweisen und die Patienten Antikörper gegen diese Antigene besitzen (Sahin et al. 1995). Durch den Einsatz von bispezifischen Antikörpern können Immunzellen und Tumorzellen zusammengebracht werden. Dabei wird ein tumorspezifischer Antikörper mit einem oder mehreren Antikörpern verbunden, die das Immunsystem ­aktivieren. Als Zielstrukturen kommen dabei Oberflächenmoleküle, wie CD2, CD3 und CD28 auf T-Zellen oder CD16 auf NK-Zellen, in Betracht. Makrophagen können auch durch die

3.6  Antikörper mit erweiterter Funktion

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Bindung an CD64 aktiviert werden (Fanger et al. 1994; Fanger 1995; Demanet et al. 1996; Hartmann et al. 1996; Przepiorka et al. 2015). Die Rekombinationstechniken der Molekularbiologie ermöglichen dabei ein Baukastensystem. Ein tumorspezifischer Antikörper kann auch mit anderen Partnern verbunden werden, beispielsweise mit einem Antikörper, der ein radioaktives Hapten erkennt (Lollo et al. 1994). Analog kann auch der „Suchkopf“ ausgetauscht werden und somit ein funktionierendes Effektorsystem mit Hilfe verschiedener Antikörper an unterschiedliche Tumoren geleitet werden. In einer weiteren Anwendung wird die rezeptorvermittelte Endocytose ausgenützt, um eine Giftfracht ins Innere der Tumorzelle zu transportieren. Dabei bindet ein Arm des bispezifischen Antikörpers an den Rezeptor, während der andere Arm eine Fracht bindet, die durch den internalisierenden Rezeptor ins Innere der Zelle transportiert wird. Als ein Beispiel unter vielen sei hier der Transport von Saporin ins Zellinnere von neoplastischen T-Zellen erwähnt. Der Rezeptor war in diesem Fall das T-Zell-Antigen CD25. Saporinkonzentrationen von