Reine praktische Vernunft fühlen: Kants Theorie der Achtung 9783110629170, 9783110628890, 9783110629019, 2019932017

This study argues that while respect does not play a motivating role in Kant’s ethics, it does fulfil a systematically n

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Reine praktische Vernunft fühlen: Kants Theorie der Achtung
 9783110629170, 9783110628890, 9783110629019, 2019932017

Table of contents :
Dank
Inhalt
Zitierweise
Siglenverzeichnis
Einleitung
Teil I: These
Teil II: Positionen
Teil III: Rekonstruktion
Teil IV: Verteidigung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Nora Kassan Reine praktische Vernunft fühlen

Kantstudien-Ergänzungshefte

Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme

Band 208

Nora Kassan

Reine praktische Vernunft fühlen Kants Theorie der Achtung

ISBN 978-3-11-062889-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062917-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062901-9 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2019932017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Ich danke der Evangelischen Studienstiftung Villigst und der Research School Plus (Ruhr-Universität Bochum) dafür, dass sie meine Promotion, zwei Forschungsaufenthalte in den USA und die Einladung von Oliver Sensen möglich gemacht haben. Ohne diese Unterstützung wären mir viele interessante Begegnungen und finanzielle Ruhe versagt geblieben. Für Einladungen, Geduld und wertvolle Anregungen danke ich Dieter Schönecker und Team, Karl Ameriks, Christoph Horn, Steffi Schadow, Jens Timmermann, Andreas Niederberger, Carsten Held, Reza Mosayebi, Martin Sticker und Maria Wargin. Kritische Anmerkungen verdanke ich außerdem den Zuhörerinnen und Zuhörern der DGPhil-Tagungen (2014, 2017) und des Kant-Kongresses (2015). Cord Friebe bin ich zu großem Dank verpflichtet, da er mir bei der Überarbeitung des Manuskripts behilflich war. Oliver Sensen danke ich von Herzen für seine regelmäßigen Besuche, unsere gemeinsame Kant-Lektüre und intensive Gespräche. Mein besonderer Dank gilt Corinna Mieth, die mich den ganzen Weg über mit viel Verstand und Zuversicht begleitet hat. Ihren Kollegen Christoph Bambauer und Klaus Steigleder danke ich für die zusätzliche Betreuung. Sven Stockheim, mein ehemaliger Kommilitone, hat mir gezeigt, wie schön es sein kann, nachzudenken. Auch dafür bin ich ihm sehr dankbar. Dieses Buch ist hauptsächlich in den Jahren 2014 bis 2017 entstanden. Ich danke de Gruyter und den Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe der KantStudien Ergänzungshefte.

https://doi.org/10.1515/9783110629170-001

Inhalt Zitierweise

IX

Siglenverzeichnis Einleitung

XI

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Teil I: These 15  Achtung als notwendiges Nebenprodukt der Vernunft  Moralische Bestimmungsgründe 48

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Teil II: Positionen 82  Affektivisten und Intellektualisten, Phänomenologen und 82 Metaphysiker  Wodurch sind wir moralisch motiviert? 86  Wie erkennen wir unsere Pflicht? 108 152  Eine neue Synthese 163 Teil III: Rekonstruktion  Kants Theorie der Achtung 164  Kants transzendentalphilosophische Theorie der Achtung 248 Teil IV: Verteidigung  Das Konzept der negativen Größen  Natur der Handlung 276  Moralische Glaubwürdigkeit 304 Literaturverzeichnis

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Personenregister Sachregister

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340

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Zitierweise Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung der ersten A(1781) und zweiten B-Auflage (1787) zitiert. Alle übrigen Schriften Kants werden, außer der Vorlesung zur Moralphilosophie Kaehler (Stark 2004), gemäß der Akademie-Ausgabe (Kant 1902 ff.) unter Angabe von Sigle, Band- und Seitenzahl zitiert. Hervorhebungen (Unterstreichung, Sperrung und Kursivierung) aus den Originalzitaten werden einheitlich in kursivierter Schreibweise wiedergegeben. Eigene Hervorhebungen werden durch „m.H.“ (meine Hervorhebung) kenntlich gemacht.

https://doi.org/10.1515/9783110629170-002

Siglenverzeichnis AA Anth EEKU FM

Akademie-Ausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07) Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (AA 20) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA 20) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 04) KpV Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) KrV Kritik der reinen Vernunft KU Kritik der Urteilskraft (AA 05) Log Logik (AA 09) MpVT Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (AA 08) MS Die Metaphysik der Sitten (AA 06) NG Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA 02) Prol Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 04) Refl Reflexionen (AA 14 – 19) RGV Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 06) TP Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 08) UD Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (AA 02) VAMS Vorarbeit zur Metaphysik der Sitten (AA 23) V-Mo/Collins Moralphilosophie Collins (AA 27) V-Mo/Kaehler(Stark) Moralphilosophie Kaehler V-Mo/Mron Moral Mrongovius (AA 27) V-Mo/Mron II Moral Mrongovius II (AA 29) V-MS/Vigil Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (AA 27) V-NR/Feyerabend Naturrecht Feyerabend (AA 27) VT Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 08)

https://doi.org/10.1515/9783110629170-003

Einleitung „Ist es unsere Pflicht, dies oder jenes zu tun, dann ist es wesentlich auch unsere Pflicht, ein solcher zu sein, der so handeln will.“ (Nagel 2012, 330 f.).

Der Sache nach ist das Gefühl der Achtung ein randständiges Element von Kants Ethik. Achtung erfüllt keine motivationale Funktion, wie es in der Forschung häufig angenommen wird. Trotzdem ist dieses Gefühl auch ein notwendiges Element von Kants Ethik, insofern Achtung ein in evaluativer Hinsicht notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung ist. Dies ist die Hauptthese der vorliegenden Arbeit. Diese These wird im ersten Teil erörtert und im zweiten Teil in den Kontext der zeitgenössischen Forschung eingeordnet. Im dritten Teil findet sie ihre Bestätigung in einer systematischen Rekonstruktion von Kants Theorie der Achtung. Im vierten Teil wird diese These abschließend gegen Einwände verteidigt. Auch dem ersten Anschein nach ist das Gefühl der Achtung kein zentraler Begriff von Kants Ethik. In seinen drei moralphilosophischen Hauptwerken taucht der Begriff der Achtung nur am Rande oder in einem Kontext auf, der nicht im Zentrum der Untersuchung steht. In seinem ersten moralphilosophischen Hauptwerk, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785, ist das Gefühl der Achtung der Gegenstand einer ausführlichen Fußnote des ersten Abschnitts, in dem ausgehend von der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß“ (GMS, 4:393) eine Hinführung zur eigentlichen „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ (GMS, 4:392) angestrebt wird. In dieser Fußnote wird der Begriff der Achtung als ein Gefühl bestimmt, das sich von allen sonstigen Gefühlen dadurch unterscheide, dass es ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) sei. Der Inhalt dieser Fußnote wird dann, 1788, in dem zweiten Hauptwerk der Kritik der praktischen Vernunft ausführlich ausgearbeitet, allerdings erst nachdem Kant in den ersten beiden Hauptstücken der Analytik die zentrale These hergeleitet hat, dass reine Vernunft für sich selbst praktisch sei. Dabei weist er nach, dass ihre bloße praktische Form, das Moralgesetz, allein die Maximen des Willens und seinen Gegenstand bestimmen und somit einen schlechthin guten Willen begründen könne. Auch hier, im anschließenden dritten Abschnitt der Analytik mit dem Titel „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, 5:71; kurz: Triebfedernkapitel), wird Achtung als eine Wirkung beschrieben, die das Vernunftgesetz auf das Gefühl ausübe: „Achtung fürs moralische Gesetz“ sei „ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird“, was Kant zufolge seinen Status einer Erkenntnis a https://doi.org/10.1515/9783110629170-004

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Einleitung

priori begründet, denn „dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Nothwendigkeit wir einsehen können“ (KpV, 5:73). Schließlich behandelt Kant die Achtung und das moralische Gefühl in Die Metaphysik der Sitten von 1797 als moralische „Gemütsanlagen“, die er als „Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (MS, 6:399) charakterisiert. Der Zusatz „überhaupt“ verweist erneut auf den besonderen Status a priori, der diesen Vorbegriffen anscheinend zukommt. Diese Vorbegriffe werden ausdrücklich als „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ beschrieben, die nicht mit „objective[n] Bedingungen der Moralität“ (MS, 6:399) verwechselt werden dürfen. Kant charakterisiert das Bewusstsein dieser Vorbegriffe auch hier „als Wirkung“ des Moralgesetzes und betont mit Blick auf das moralische Gefühl, dass es nur auf die Vorstellung des Gesetzes „folgen kann“ (MS, 6:399). Auch in diesem Kontext wird deutlich, dass es sich bei der These vom moralischen Gefühl nicht um das Hauptanliegen der Kantischen Moralphilosophie handelt. Dies ist nicht überraschend, da Kant, wie bekannt, keine Gefühlsethik, sondern eine Vernunftethik vertreten hat. Im Zentrum seiner Ethik steht der Begriff der Pflicht, die kategorisch gebietet, was als das Richtige zu tun ist. Im zweiten Abschnitt der GMS präsentiert Kant verschiedene Formeln, die das Moralgesetz der Vernunft als einen Kategorischen Imperativ zum Ausdruck bringen. Diese Formeln drücken eine „Nöthigung; d.i. das Verhältniß der objectiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen“ (GMS, 4:413) aus. Eine Nötigung richtet sich immer gegen solche Wesen, deren Vernunft einerseits unbedingt gebietet, was formal das Richtige ist, die andererseits aber auch sinnlich konstituiert sind und sich somit in ihren Handlungen gewöhnlich von Neigungen leiten lassen. Wer die unbedingte Pflicht seiner Vernunft einsieht, der handelt als menschlicher Akteur also nicht automatisch auch schon moralisch gut. Hierzu ist zusätzlich zu der Einsicht in das nötigende Moralgesetz eine partikulare Entscheidung erforderlich, die jene moralisch-vernünftige Einsicht gegen den Anspruch der Neigungen als prioritären Bestimmungsgrund auszeichnet. Während Kant die Einsicht in das moralische Gebot als ein „Factum der Vernunft“ (KpV, 5:31) beschreibt, das nicht nur philosophisch gebildete Menschen, sondern jeder gesunde gewöhnliche Mensch unmittelbar einsehen kann, ist die partikulare moralisch-gute Handlungsabsicht eines Menschen weniger gewöhnlich, weil er sich hierzu noch zusätzlich durch das Vernunftgebot zum Handeln motivieren lassen muss. Nur eine Handlung, die aus Pflicht vollzogen wird, ist nach Kant moralisch wertvoll. Eine Handlung, die aus Neigung vollzogen wird, kann Kant zufolge zwar dem Moralgesetz gemäß sein, insofern sie ihm nicht widerstreitet. Sie ist dann „legal“ zu nennen, hat aber keinen moralischen Wert. Die Differenz zwischen einem bloß legalen Handlungsgrund, der zu einer pflichtgemäßen Handlung

Einleitung

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führt, und der moralisch wertvollen Gesinnung einer Handlung aus Pflicht liegt allein in der Motivation begründet, die entweder dem Vorzug der Neigungen oder der Einsicht in die Priorität der Pflicht entspringt. Der gute Wille einer einzelnen, menschlichen Handlungsabsicht liegt also in dem Ursprung der Handlungsmotivation begründet, die Kant auch als Gesinnung bezeichnet. Die richtige Handlungsmotivation entspringt allein der reinen Vernunft, wie Kant seit der GMS vertritt. Die reine Vernunft ist ihm zufolge also autonom, d. h. selbstgesetzgebend, oder praktisch in einem doppelten Sinne: Erstens ist die Vernunft der Ursprung der moralischen Nötigung, insofern das rein formale Moralprinzip der Vernunft entspringt. Zweitens ist die Vernunft aber auch noch in der Hinsicht autonom oder praktisch zu nennen, insofern die formale Nötigung auch zu einem handlungswirksamen Prinzip werden kann, deren nötigende Kraft das Potential hat, auch zur Handlungsmotivation auszureichen. „Das Princip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz inbegriffen seien“ (GMS, 4:440). Diese praktische Regel sei „ein Imperativ“ (GMS, 4:440), wie Kant hinzufügt. Was der Imperativ gebietet, ist, dass die Maximen nach der Maßgabe dieses Prinzips gewählt werden sollen, wobei die Maximen keine normativen, sondern faktische Prinzipien des Handelns sind, die also nicht handlungsgebietend, sondern handlungswirksam sind. Wer seine Maximen aus Pflicht wählt, der handelt aus Pflicht. Denn die Maxime ist derjenige „Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt“ und „muß vom objectiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden“, das „gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d.i. ein Imperativ“ (GMS, 420 f.Anm.) ist. Der Wille eines Akteurs ist also nur dann gut, wenn er nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv allein durch die Vernunft und das Moralgesetz bestimmt wird. Diese Auffassung bestärkt Kant auch zu Beginn des dritten Hauptstücks der Analytik der KpV, wenn er daran erinnert, dass: „die Triebfeder des menschlichen Willens […] (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse, wenn diese nicht bloß den Buchstaben des Gesetzes, ohne den Geist desselben zu enthalten, erfüllen soll.“ (KpV, 5:72).

Kant vertritt also eine Vernunftethik, in der es anscheinend ausgeschlossen ist, dass Gefühle irgendeine positive Funktion für die moralische Willensbestimmung erfüllen. Eine Willensbestimmung, in der Gefühle involviert sind, scheint höchstens eine legale Handlung erzeugen zu können, die aber keinen moralischen Wert hat. Diese intellektualistische Auffassung bringt Kant auch in denjenigen Kontexten zum Ausdruck, in denen er dem Gefühl der Achtung seine Auf-

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Einleitung

merksamkeit widmet. Zu Beginn des Triebfedernkapitels schließt er Gefühle grundsätzlich als moralische Bestimmungsgründe des Willens aus: Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten. (KpV, 5:71).

Hieraus ist zu entnehmen, dass Kant auch die motivationalen Gründe von Handlungen in zwei Gruppen einteilt: Entweder entspringt der motivierende Inhalt der Sinnlichkeit, der dann pathologisch zu nennen ist, oder er entspringt der Vernunft, dem Ursprung von Moralität. Diese Unterscheidung konstituiert zwei wesentlich verschiedene Arten von Handlungen, die menschlichen Akteuren offen stehen, wovon die einen moralisch wertvoll und die anderen moralisch wertlos sind. Moralisch wertlos oder böse sind alle Handlungen, die nicht aus Pflicht vollzogen werden, weil sie entweder nur pflichtgemäß oder pflichtwidrig sind, wohingegen allein die Handlung, die motivational aus Pflicht und somit aus Vernunft vollzogen wird, moralisch „gut“ genannt werden kann. Da es sich bei der Achtung um ein Gefühl handeln soll, Gefühle aber im weitesten Sinne der Sinnlichkeit zuzurechnen sind, ist in Kants Ethik nach 1785 anscheinend ausgeschlossen, dass Achtung im Kontext der moralischen Motivation eine positive Rolle spielt. Dann aber stellt sich die Frage, wieso Kant dieses Gefühl der Achtung in seine Ethik nach 1785 überhaupt noch integriert und zu welchem Zweck er es in allen drei Werken, wenn auch dezentral, zum Gegenstand seiner moralphilosophischen Betrachtung macht. Diese Frage wird durch die Schwierigkeit zugespitzt, dass Kant an einigen Stellen die These andeutet, dass das Gefühl der Achtung mit der so wichtigen Frage nach der moralischen Gesinnung und der Motivation einer Handlung aus Pflicht in Zusammenhang steht. Besonders irritierend sind diesbezüglich jene Stellen, in denen Kant die moralisch-gute Handlung als Handlung aus Achtung bezeichnet, wie in der dritten Folgerung, die er im ersten Abschnitt der GMS anführt: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 4:400). Dies ist irritierend, weil eine Handlung aus Achtung im Unterschied zu einer Handlung aus Pflicht im weitesten Sinne sinnlich motiviert zu sein scheint. In demselben Kontext äußert Kant die These, dass nichts für den guten Willen übrig bleibt, „was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz“ (GMS, 4:400). Im weiteren Verlauf des Triebfedernkapitels wird diese These, dass Achtung der subjektive Bestimmungsgrund des Willens sei, an einer Stelle bestätigt, die besagt: „Achtung

Einleitung

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fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ (KpV, 5:78). Andererseits gibt es auch solche Stellen, die Anlass zu der Annahme bieten, dass das Gefühl der Achtung im zentralen Kontext der Einsicht in die Pflicht relevant ist. In jener gehaltvollen Fußnote der GMS deutet Kant eine epistemische Relevanz der Achtung durch das Verb „erkennen“ an: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung“ (GMS, 4:401Anm.). Kurz darauf formuliert er die These: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung“ (GMS, 4:401Anm.). Das könnte bedeuten, dass die Unmittelbarkeit der Einsicht in das Gesetz, so wie die Unmittelbarkeit als Merkmal der empirischen Erkenntnis, durch ein Gefühl und somit im weitesten Sinne durch die Sinnlichkeit garantiert wird. Auch in der KpV erinnern Kants Formulierungen an die These von einer moralepistemischen Bedeutung der Achtung fürs Gesetz. „Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe“ wird nach seiner Auskunft durch das Gefühl der Achtung „kenntlich gemacht“ (KpV, 5:92). Zuvor stellt er die These auf, dass wir „die Kraft des reinen praktischen Gesetzes als Triebfeder“ im Gefühl der Achtung „erkennen können“ (KpV, 5:78 f.). Auch die Passage über die Gemütsanlagen zeugt von einer moralepistemischen Bedeutung, denn dort heißt es über das moralische Gefühl: „alles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden“ (MS, 6:399). Mit Blick auf die „Achtung (reverentia)“, „ein Gefühl eigener Art“ (MS, 6:402), behauptet Kant, der Mensch müsse „Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“ (MS, 6:403). Achtung scheint also ein Gefühl zu sein, das im Menschen vorausgesetzt werden muss, damit er seine Pflicht überhaupt erst erkennen kann. In Anbetracht dieser Stellen zur motivationalen und zur moralepistemischen Bedeutung drängen sich Fragen auf, die für die Praktische Philosophie, die KantForschung und die Diskussion um Kants moralphilosophische Theorie der Achtung relevant sind. In Anbetracht des moralischen Gefühls kann sich der praktische Philosoph die Frage stellen, welchen Ansatz Kants Ethik handlungstheoretisch repräsentiert. Je nachdem, ob dem Gefühl der Achtung eine philosophische Relevanz zu- oder abgesprochen wird, lassen sich zwei Alternativen denken: Entweder Kant nimmt an, dass die moralisch-gute Handlung von allen anderen Handlungen grundverschieden ist, insofern sie auf der reinen praktischen Vernunft beruht, die epistemisch und motivational hinreichend ist, um einen moralischen Willen zu bestimmen. Dann repräsentiert sein Ansatz die Möglichkeit einer rein vernünftigen Handlung, die menschlichen Akteuren nur seiner moralphilosophischen Theorie nach offen steht. Kant lässt sich in Anbetracht der Andeutung einer motivationalen Relevanz des Gefühls der Achtung

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Einleitung

aber auch als ein moderater Intellektualist auslegen, der in Übereinstimmung mit der Standarddeutung der Handlungstheorie annimmt, dass alle menschlichen Handlungen strukturell auf die gleiche Weise verständlich werden müssen. Alle Handlungen, auch die moralisch-gute Handlung, beruhen nach dieser Interpretation auf der motivationalen Kraft von Gefühlen, wobei die Besonderheit einer moralisch-guten Handlung darin besteht, dass das motivierende Gefühl in diesem Fall der Vernunft entspringt. Hier eröffnen sich zwei verschiedene Modelle für das handlungstheoretische Grundverständnis der Kantischen Ethik. Für den Kant-Experten stellt sich Frage, ob Kant auch im Rahmen seiner Moralphilosophie die These vertritt, dass Erkenntnis immer auf einer Synthese beruht, die auch die Sinnlichkeit einschließen muss. In der theoretischen Philosophie vertritt Kant, dass sich der Verstand und die Sinnlichkeit vereinigen müssen, damit empirische Erkenntnis möglich ist. Eine ähnliche These ließe sich auch mit Blick auf die Erfahrung des Schönen und – in Anbetracht einer moralepistemischen Bedeutung der Achtung – auch mit Blick auf die Erkenntnis des moralisch Guten vertreten. Hier stellt sich die Frage, ob Kant der Auffassung ist, dass die praktische Erkenntnis eine Sonderstellung einnimmt, insofern sie allein dem Vernunftvermögen zuzuschreiben ist. Andererseits ließe sich diese Sonderstellung anzweifeln und vertreten, dass Kant im Rahmen seiner Moralphilosophie annimmt, dass immer auch das Gefühl in den Erkenntnisakt der Vernunft involviert sein muss, damit ein menschliches Subjekt seine Pflicht erkennen kann. In der Forschung zu Kants Moralphilosophie wird besonders die Frage nach Kants Motivationstheorie diskutiert. Ob ein Gefühl als motivationaler Antrieb zur guten Handlung notwendig ist, wird, wie es das skizzierte Interpretationsproblem nahegelegt, entweder positiv oder negativ eingeschätzt. Diese beiden Lager bezeichnet man in der Forschungsliteratur als Affektivisten und Intellektualisten. Affektivisten wie Patrick Frierson (2013), Richard McCarty (1993) oder Dieter Schönecker (2013a) vertreten, dass ein moralisches Gefühl der Achtung notwendig ist, damit Menschen zur moralisch-guten Handlung motiviert sein können. Intellektualisten wie Onora O’Neill (2013), Andrews Reath (2006) oder Oliver Sensen (2012) kritisieren diese Auffassung und verteidigen eine rein intellektualistische Motivationstheorie mit Blick auf das moralisch-gute Handeln. Affektivisten verteidigen, dass alle menschlichen Handlungen motivational auf Antrieben beruhen, die dem Gefühl entspringen. Indem sie das Gefühl der Achtung als moralische, motivationale Triebfeder deuten, stellen sie also eine Parallele zwischen dem moralisch-guten Handeln und allen sonstigen menschlichen Handlungen heraus. Intellektualisten betonen dagegen den handlungstheoretischen Unterschied zwischen einer Handlung aus Pflicht und solchen Handlungen, die aus Neigung vollzogen werden, der darin bestehe, dass nur letztere Handlungen motivational auf Gefühlen beruhen. Entsprechend messen

Einleitung

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sie dem Gefühl der Achtung in Kants Ethik nur eine geringe oder gar keine Bedeutung zu. Entweder das Gefühl der Achtung wird in Analogie zu nicht-moralischen Handlungen als motivationale Triebfeder gedeutet oder es bleibt ein rätselhaftes Element von Kants Ethik, das unwichtig zu sein scheint. Das Hauptanliegen dieser Arbeit ist es, eine Alternative zu diesen beiden Deutungsansätzen aufzuzeigen. Ausgehend von dieser Alternative wird dem praktischen Philosophen und dem Kant-Experten geantwortet. Das Gefühl der Achtung soll nicht die motivationale Funktion der moralischen Triebfeder übernehmen, es soll aber ebenso wenig rätselhaft bleiben. Zur Erarbeitung dieser Alternative wird eine Verteidigung von Vernunft und Gefühl vorgenommen. In motivationaler Hinsicht wird die Vernunft gegen die gefühlsbetonte Deutung von Affektivisten verteidigt. Die Vernunft, nicht das Gefühl der Achtung, ist nach Kant die motivierende Triebfeder. Andererseits ist es zugleich der Anspruch, das Gefühl der Achtung gegen eine intellektualistische Marginalisierung seiner Bedeutung zu verteidigen. Das Gefühl ist trotzdem notwendig, obwohl es nicht zur Motivation beiträgt, weil die Vernunft stattdessen in einer erkenntnistheoretischen Hinsicht durch das Gefühl ergänzt werden muss, um einen partikularen Fall von Moralität konstituieren zu können. Ein Hauptvorteil dieser Deutungsalternative besteht darin, dass sie die Vernunft als eine Kraft deutet, die hinreichend ist, um Moralität hervorzubringen. In dieser Auffassung liegt die Einzigartigkeit von Kants Ethik begründet, die sie im Kontext der praktischen Philosophie von allen anderen Ethikansätzen unterscheidet. Um diese Einzigartigkeit zu verteidigen, ist es wichtig, den Unterschied zwischen einer Handlung aus Pflicht und Handlungen aus Neigung zu erfassen, der darin besteht, dass die Vernunft im Fall der moralisch-guten Handlung nicht nur unbedingt handlungsgebietend ist, sondern auch eine hinreichend motivierende Triebfeder durch das Moralgesetz bereitstellt. Die moralisch-gute Handlung beruht motivational also nicht auf Gefühlen, sondern allein auf der Vernunft. Für diese These lässt sich auf verschiedene Weise argumentieren. Intellektualisten heben in der Regel hervor, dass Handlungen niemals unmittelbar auf der kausalen Wirkung von Gefühlen beruhen, weil die Ursache jeder Handlung Kant zufolge im Willen liegen müsse, der sich selbst dazu bestimmt, gewisse Inhalte, zum Beispiel Gefühle der Lust und Unlust, zu seiner eigenen Triebfeder zu machen. Zudem betonen sie, dass Kants Handlungsverständnis intellektualistisch sei, insofern die handlungsbestimmenden Gründe den Charakter vernünftiger Regeln haben. Handlungen sind nach Kant freiheitlich Maximen-geleitet anstatt auf ursächlich ausschlaggebenden Gefühlen der Lust und Unlust zu beruhen. Diese Einwände gegen eine Deutung der Achtung als Triebfeder sind aber allgemein handlungstheoretisch und nicht speziell auf das moralisch-gute Handeln ausgerichtet. Daher werde ich von diesen intellektualistischen Einwänden weit-

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Einleitung

gehend absehen und mich nur auf das moralisch-gute Handeln konzentrieren. Hierzu wird vorausgesetzt, dass alle Handlungen nach Kant ursprünglich auf einer Kausalität des Willens beruhen, der sich Regel-geleitet zum Handeln bestimmt, dabei aber stets gewisse Inhalte zu seiner Triebfeder macht. Dies vorausgesetzt, stellt sich noch immer die Frage, ob die moralische Triebfeder der Vernunft oder dem Gefühl entspringt. Der zentrale Einwand gegen die affektivistische These, dass Achtung die motivierende Triebfeder sei, lautet, dass sich die moralisch-gute Handlung dadurch in eine pathologische Handlung verkehrt. In der Literatur wird dieser Einwand meistens nur angedeutet, zum Beispiel von O’Neill, die eine Handlung aus Achtung nicht als gefühlsbedingte Handlung deutet, um zu vermeiden, dass sie als eine pathologische Handlung gedeutet wird: To act ‚out of reverence for the law‘ […] is not to act with any peculiar feeling of reverence or awe. […] Pathology, as Kant would have it – psychology, as we would say – is irrelevant to the moral worth of acts (O’Neill 2013, 222).

Die Auffassung, dass eine Handlung, die motivational aus einem Gefühl der Achtung vollzogen wird, pathologisch sei, ist klärungsbedürftig. Affektivistische Interpreten wie McCarty deklarieren sie als ein Missverständnis und verweisen darauf, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung gerade nicht um ein pathologisches Gefühl, sondern um ein solches handelt, das der Vernunft entspringt. Dementsprechend sei auch die Handlung, die auf diesem Gefühl beruht, nicht pathologisch zu nennen. Dennoch hat der Einwand seine Berechtigung, die erst deutlich wird, wenn man sich die Prämisse ansieht, die besagt, wann ein Gefühl nach Kant „pathologisch“ zu nennen ist. Kant unterscheidet das pathologische von dem moralischen Gefühl anhand eines Kriteriums der richtigen Reihenfolge. Pathologisch sei ein Gefühl, ein Interesse oder Wohlgefallen dann, wenn es der Bestimmung des Willens vorhergehe, wohingegen ein moralisches Gefühl als Folge oder Wirkung der Willensbestimmung charakterisiert wird.¹ Auf diese Weise bringt Kant zum Ausdruck, dass wir die moralische Willensbestimmung im Gefühl der Achtung um ihrer

 „Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) notwendig verbunden ist, praktische Lust nennen: sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein.“ (MS, 6:212). Bei der Wirkung handelt es sich um eine moralische Lust: „Die Lust nämlich, welche vor der Befolgung des Gesetzes hervorgehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde, ist pathologisch, und das Verhalten folgt der Naturordnung; diejenige aber, vor welcher das Gesetz hergehen muß, damit sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung.“ (MS, 6:378; vgl. MS, 6:399 und VT, 8:395 f.Anm.).

Einleitung

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selbst willen schätzen. Eine pathologische Willensbestimmung schätzen wir hingegen umwillen von Gefühlen der Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit. Nach diesem Kriterium ist ein Gefühl, und zwar auch das Gefühl der Achtung, „pathologisch“ zu nennen, wenn es der Willensbestimmung vorhergeht. Dann aber ist auch die darauffolgende Willensbestimmung pathologisch, und die Handlung entspricht einer Handlung aus Neigung. Dieses Kriterium, in dem begründet liegt, wann ein Gefühl als „moralisch“ qualifiziert werden kann, widerspricht der affektivistischen Deutung. Es hat zur Folge, dass das Gefühl der Achtung, weil es moralisch ist, nur als eine Folge oder Wirkung und somit nur als ein Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung begriffen werden kann. Aus diesem Grund kann es sich bei dem Gefühl der Achtung nur um ein randständiges Element der Kantischen Ethik, nicht aber um eine motivierende Triebfeder handeln. Denn nur dann lässt sich nachvollziehen, warum es sich bei der Achtung um ein moralisches Gefühl handelt. Für die Frage, warum das Gefühl der Achtung dennoch notwendig ist, lässt sich andererseits, als Antwort auf den Kant-Experten, die Parallele zur theoretischen Philosophie fruchtbar machen. In der empirischen Erkenntnis verbürgt die Anschauung als Element der Sinnlichkeit die Partikularität der Erkenntnis. Aus demselben Grund ist das Gefühl auch in Kants Moralphilosophie ein notwendiges Element der Erkenntnis und der Willensbestimmung, weil die Vernunft allein, so wie auch die reinen Verstandesbegriffe, keine partikulare Erkenntnis konstituieren kann. Die Vernunft ist Kant zufolge ein Vermögen für das Allgemeine. Die Sinnlichkeit repräsentiert hingegen das Partikulare. Auch im Bereich der praktischen Philosophie ist darum ein Element notwendig, das der Sinnlichkeit angehört, nämlich das Gefühl der Achtung, damit eine partikulare moralische Erkenntnis gedacht werden kann. Diese Deutung hat den Vorteil, dass die Rolle der Achtung nicht rätselhaft bleibt, obwohl sie nicht zur moralischen Motivation beiträgt. Achtung erfüllt seine evaluierende Funktion mit anderen Worten im Zusammenhang mit dem Faktum der Vernunft, wenn darunter das partikulare Bewusstsein der Geltung des Gesetzes und der Tat der Vernunft eines gewöhnlichen Menschen verstanden wird. Ist mit dem Faktum der Vernunft hingegen ein allgemeines Bewusstsein der Geltung oder der motivationalen Kraft des Gesetzes gemeint, dann ist dieses Faktum von dem Gefühl der Achtung unabhängig und liegt ihm zugrunde. Insofern gibt es neben dem Streit zwischen Intellektualisten und Affektivisten auch eine Diskussion darüber, ob das Bewusstsein der Geltung des Gesetzes gefühlsabhängig oder gefühlsunabhängig ist. Interpreten wie Dieter Schönecker (2013a) oder Jeanine Grenberg (2013), die das Faktum der Vernunft als ein gefühlsabhängiges Bewusstsein deuten, werden im Folgenden als „Phänomenologen“ bezeichnet. Die Gegenposition stellen die Metaphysiker dar, die betonen, dass die

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Einsicht in die Verpflichtung gefühlsunabhängig ist. In dieser Arbeit wird eine Zwischenposition vertreten, diejenige der moderaten Metaphysiker, die annehmen, dass das gewöhnliche Bewusstsein der Pflicht des partikularen Individuums von dem Gefühl der Achtung abhängig ist, dass diesem Faktum der Vernunft aber zugleich auch ein grundlegendes, gefühlsunabhängiges Bewusstsein der allgemeinen Verpflichtung zugrunde liegen muss. Diese Position wird von Autoren wie Karl Ameriks (2010) oder Dieter Henrich (1973) vertreten. In Anlehnung an den phänomenologischen Anteil ihrer Deutung lässt sich für die Notwendigkeit des Gefühls der Achtung argumentieren, ohne Affektivist zu sein und ohne damit die Annahme aufzugeben, dass die grundlegende Einsicht in die allgemeine Verpflichtung rein vernünftig ist. Zusammengenommen lautet die These, dass das Gefühl der Achtung ein notwendiges Nebenprodukt der moralisch-guten Willensbestimmung ist. Auf diese Hauptthese konzentriert sich der erste Teil der Arbeit. Das erste Kapitel verdeutlicht die Auffassung, dass die besondere Rolle der Achtung in Kants Ethik erst dann verständlich werden kann, wenn man sich nicht nur auf Kants Ethik konzentriert. Denn der randständige Charakter der Achtung zeigt sich mit Blick auf Kants Theorie der drei Arten von Wohlgefallen aus der Kritik der Urteilskraft, in der das Kriterium der richtigen Reihenfolge begründet liegt. Die Notwendigkeit wird hingegen mit Blick auf die Rolle der Anschauung deutlich, die als Element der Sinnlichkeit den Bezug auf Einzelgegenstände möglich macht. Insofern wird mit der These, Achtung sei ein notwendiges Nebenprodukt, ein holistischer Zugang zu Kants Ethik gesucht, der diese Arbeit methodisch auszeichnet. Im zweiten Kapitel des ersten Teils wird die zentrale These über die besondere Funktion der Achtung ausgehend von einer Analyse moralischer Bestimmungsgründe entwickelt. Dabei wird hervorgehoben, dass Kants gelegentliche Charakterisierung, Achtung sei ein subjektiver Bestimmungsgrund und Triebfeder des Willens, mehrdeutig ist. Diese Charakterisierung bringt nicht notwendig, wie es Affektivisten denken, zum Ausdruck, dass Achtung der exekutive Motivationsgrund der Handlung ist. Im Gegensatz hierzu wird argumentiert, dass Achtung subjektiv in einem ontologischen Sinne ist, insofern es sich um ein Gefühl handelt. Dieses Gefühl kann als Triebfeder oder Bestimmungsgrund beschrieben werden, insofern man darunter eine rein phänomenale, epistemische oder evaluierende Funktion versteht, die im Fall der moralischen Bestimmungsgründe nicht mit der kausal-motivierenden Funktion vermengt werden darf. Diese Unterscheidung zwischen einer kausal-motivierenden und einer phänomenal-epistemischen Funktion eines Bestimmungsgrundes wird im zweiten Teil in Bezug auf die Positionen der Forschung wieder aufgegriffen. Mit Blick auf die Positionen der Forschung ist es wichtig, die Diskussion zwischen Intellektualisten und Affektivisten über die Frage nach der motivierenden Triebfeder von

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einer Diskussion zwischen Phänomenologen und Metaphysikern zu unterscheiden, die untersuchen, ob das Moralbewusstsein gefühlsabhängig oder gefühlsunabhängig ist. Denn faktisch sind zwar alle Phänomenologen immer auch Affektivisten, aber systematisch betrachtet ist das keineswegs notwendig. Um die denkbaren Positionen zu erkennen, ist eine systematische und gründliche Aufarbeitung der Forschungsliteratur nötig. In aktuellen Beiträgen wird allerdings häufig erst gegen Ende der Auseinandersetzung, meistens eher beiläufig und nur mit Blick auf Affektivisten und Intellektualisten die Debatte aus der Sekundärliteratur aufgegriffen. Dagegen werden die vier Positionen der Affektivisten, Intellektualisten, Phänomenologen und Metaphysiker in dieser Arbeit ausführlich wiedergegeben und voneinander unterschieden, um auf dieser Grundlage eine neue Synthese zu befürworten: Die Frage nach der moralischen Triebfeder wird von Kant, so die These, in einer rein phänomenologischen Hinsicht bejaht, was sowohl der affektivistischen als auch der intellektualistischen Auffassung widerspricht. Achtung ist also die moralische Triebfeder, darf aber nicht als ein motivierender Bestimmungsgrund verstanden werden. Als „Triebfeder“ kann sie nur bezeichnet werden, wenn man darunter einen rein evaluierenden, moralepistemischen Bestimmungsgrund versteht. Durch das Gefühl der Achtung fühlen und schätzen wir die partikulare moralisch-gute Gesinnung, weil Achtung phänomenal anzeigt, dass die eigenen Motive rein vernünftig sind und nicht aus Neigungen entspringen. Dieser Evaluation liegt jedoch immer schon ein gefühlsunabhängiges Bewusstsein der eigenen Selbstverpflichtung zugrunde, sodass auch Metaphysikern Recht zu geben ist. Sie vertreten, dass das Moralbewusstsein gefühlsunabhängig ist. Mit Blick auf die allgemeine Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens haben sie damit Recht, mit Blick auf das partikulare Moralbewusstsein gewöhnlicher Menschen ist hingegen den Phänomenologen zuzustimmen, die annehmen, dass das Moralbewusstsein gefühlsabhängig ist. Denn das Gefühl der Achtung verbürgt die Partikularität des Moralbewusstseins. In der philosophischen Analyse dieses gewöhnlichen Moralbewusstseins ist hingegen ein rein vernünftiges, gefühlsunabhängiges Moralbewusstsein primär. Im dritten Teil soll im Rahmen einer systematischen Rekonstruktion ein Überblick über die Thesen gewonnen werden, die Kants Theorie der Achtung auszeichnen. Das erste Kapitel dient zur Vorbereitung und klärt die Frage nach den Grenzen und der Einheitlichkeit von Kants Theorie der Achtung. Das Ergebnis lautet, dass Kant in der GMS, der KpV und der MS eine einheitliche Theorie der Achtung vertritt. Diese Theorie wird im zweiten Kapitel systematisch rekonstruiert. Dabei ist die Methode erneut holistisch ausgerichtet, insofern die Grundlage für die Rekonstruktion in einem Argumentationsmodell besteht, das für alle drei Kritiken kennzeichnend sein soll. Dieses Interpretationsmodell charakterisiert auf

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eine systematische Weise das Vorgehen einer transzendentalphilosophischen Argumentation. Das Modell für die Rekonstruktion besteht aus vier Ebenen. Die erste, fundamentale Ebene ist eine Art Faktum der Erfahrung, das mit den basalen Urteilen des gesunden Menschenverstandes übereinstimmt. Achtung repräsentiert diese basale moralische Erfahrung des gewöhnlichen Menschen. Auf der zweiten Ebene werden die Bedingungen dieser Erfahrung analysiert und synthetisiert, wobei Achtung als eine Bedingung a priori thematisiert wird. Auf der dritten Ebene wird eine Metareflexion auf die vorhergehenden zwei Ebenen vorgenommen, die besagt, dass die Erfahrung der ersten Ebene in Anbetracht der philosophischen Theorie auf der zweiten Ebene nur als eine Erscheinung im transzendentalphilosophischen Sinne zu betrachten sei. Achtung entspricht auf dieser dritten Ebene einem durch das Subjekt selbstgewirkten Ansich-Aspekt, der die Wirklichkeit von Moralität repräsentiert. Auf der vierten Ebene wird die gesamte Argumentation der ersten drei Stufen verteidigt und hierzu um einen Vernunftglauben erweitert, der an die Lehre vom höchsten Gut anknüpft. Das Gefühl der Achtung fungiert auf dieser Ebene als eine ästhetische, vorbegriffliche Andeutung des höchsten Guts, insofern es sich um ein Gefühl der moralischen Zufriedenheit handelt, das mit der moralisch-guten Gesinnung einhergeht. Diese vier Betrachtungsebenen machen deutlich, dass man Kant eine umfassende, transzendentalphilosophische Theorie der Achtung zuschreiben kann, auch wenn er sie selber nicht auf diese systematische Weise ausgeführt hat. Indirekt bestätigt die Rekonstruktion auch die Hauptthese aus Teil I und greift die Unterscheidung der Positionen aus Teil II wieder auf. Dabei wird die affektivistische Deutung als eine vorphilosophische, scheinbare Erklärung der moralisch-guten Handlung auf der ersten Ebene angesiedelt und abgelehnt. Metaphysikern, Phänomenologen und Intellektualisten wird teilweise zugestimmt, nämlich derart, dass sich die Grundeinsichten aller drei Positionen miteinander verbinden lassen. So wird die intellektualistische These, dass die motivierende Triebfeder allein der Vernunft entspringt, bejaht, aber um die These ergänzt, dass Achtung dennoch in einer phänomenologischen Hinsicht notwendig für die moralische Willensbestimmung ist, wobei diese phänomenologische Position philosophisch auf einer metaphysischen Grundlage aufbaut. Die Rekonstruktion bestätigt mit anderen Worten, dass Achtung von Kant als ein notwendiges Nebenprodukt konzipiert wird. Im Anschluss an die Rekonstruktion wird die Hauptthese, Achtung sei ein notwendiges Nebenprodukt, im vierten und letzten Teil der Arbeit gegen drei Einwände verteidigt, die hauptsächlich eine motivationale Deutung stützen. Aber auch die Nachteile einer rein phänomenologischen und rein metaphysischen

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Position werden aufgegriffen. Außerdem wird erneut Kritik an der intellektualistischen Auffassung geübt, dass ein Gefühl der Achtung irrelevant sei. Das erste Kapitel richtet sich vorrangig gegen eine affektivistische und eine rein phänomenologische Deutung des Triebfedernkapitels der KpV. Affektivisten nehmen an, dass Kant im Triebfedernkapitel argumentiert, die Vernunft könne nur, indem sie ein Gefühl erzeugt, indirekt als Triebfeder wirken. Phänomenologen vertreten, dass Kant in diesem Kapitel ein ausschließlich phänomenologisches Modell der Achtung präsentiert, in dem geklärt wird, wie sich das Moralbewusstsein anfühlt. Dagegen wird in Anlehnung an Melissa Zinkin gezeigt, dass ein metaphysisches Modell der negativen Größe für Kants Vorhaben im Triebfedernkapitel zentral ist. Dieser Deutung zufolge ist die Vernunft die motivierende Triebfeder, indem sie als eine negative Größe auf einen Hang der Sinnlichkeit des Menschen einwirkt. Dabei erzeugt sie das Gefühl der Achtung als ein Nebenprodukt. Insofern geht es einerseits darum, die Vernunft selber als eine wirkende Kraft zu verstehen und andererseits darum, die Entstehung des gefühlsabhängigen Moralbewusstseins ausgehend von einem rein vernünftigen Moralbewusstsein zu denken. Im zweiten Kapitel der Verteidigung wird das handlungstheoretische Grundverständnis der Kantischen Ethik diskutiert. Auf der einen Seite denken Affektivisten, dass jede menschliche Handlung auch auf affektiven Triebfedern beruhen müsse. Parallel hierzu lässt sich anhand der Metaphysische[n] Anfangsgründe der Tugendlehre aus der MS die Vorstellung erarbeiten, dass auch moralische Handlungen auf materiale Zwecke ausgerichtet sein müssen. Insofern Triebfedern und Zwecke die Natur der Handlung ausmachen, steht also das affektivistische Argument aus der Natur der Handlung im Raum, das besagt, dass auch die moralisch-gute Handlung, weil sie menschlich ist und somit eine Natur haben muss, durch affektive Triebfedern und materiale Zwecke bestimmt sein müsse. Intellektualisten wird auf dieser Grundlage der Vorwurf gemacht, dass sie die Natur menschlicher Handlungen ignorierten, indem sie die Notwendigkeit einer affektiven moralischen Triebfeder leugnen und den Zweck moralischer Handlungen rein formalistisch deuten. Auf der anderen Seite lässt sich aber zeigen, dass Intellektualisten die Natur der Handlung nicht leugnen, sondern als eine Grundlage der moralischen Reflexion begreifen. Als Grundlage ist die Natur der Handlung einerseits unhintergehbar, andererseits liegt sie der moralischen Reflexion lediglich zugrunde. Die affektive Triebfeder und materiale Zwecke gehören nach dieser Auffassung zur Grundlage, nicht zur moralischen Reflexion. Mit Blick auf dieses grundsätzlich andere handlungstheoretische Grundverständnis der Kantischen Ethik verfehlt das Argument aus der Natur der Handlung seine Wirkung.

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Im dritten Kapitel wird gegen die Auffassung argumentiert, dass Kant das Gefühl der Achtung als Reaktion auf ein Motivationsproblem in seine Ethik integriert habe. Stattdessen wird es als Antwort auf ein Erkenntnisproblem gedeutet, das sich mit Blick auf partikulare Fälle von Moralität stellt. Dieses letzte Kapitel ist somit erstens gegen die affektivistische Auffassung gerichtet, der zufolge Achtung motivational relevant sei. Zweitens widerspricht es der intellektualistischen Auffassung, dass ein Gefühl in Kants Ethik irrelevant sei. Drittens wird gegen eine rein metaphysische und somit gefühlsunabhängige Deutung des Moralbewusstseins eingewendet, dass das Gefühl der Achtung ein notwendiger moralepistemischer Bestandteil des partikularen Moralbewusstseins individueller Akteure ist. Diese phänomenologische Deutung besagt, dass Achtung als Grundlage der eigenen Glaubwürdigkeit die Partikularität des Moralbewusstseins verbürgt. Achtung ist demzufolge ein notwendiger Bestandteil eines kohärenten Selbstverständnisses individueller moralischer Akteure. Am Ende der Arbeit sollten insbesondere die folgenden zwei Einsichten deutlich geworden sein. Kants Ethik ist erstens einzigartig, insofern es sich um eine reine Vernunftethik handelt. Denn sowohl die Einsicht in die allgemeine Verpflichtung als auch die motivierende Triebfeder moralisch-guten Handelns ist in Kants Ethik allein dem Vermögen der Vernunft zuzuschreiben. Der Mensch bringt die allgemeine Pflicht hervor und durch diese Einsicht wird er zum Handeln motiviert, indem er sein Vermögen als reines Vernunftwesen gebraucht. Dies begründet die Einzigartigkeit der Kantischen Ethik. Andererseits konzipiert Kant in seiner Ethik, insofern es um die partikulare praktische Erkenntnis des individuellen Menschen geht, auch eine Synthese aus Vernunft und Gefühl, die besonders ist, weil sie der Einzigartigkeit einer reinen Vernunftethik nicht widerspricht. Denn das Gefühl der Achtung wird in dieser Synthese als ein Nebenprodukt der Einsicht in die allgemeine Verpflichtung und der Motivation durch diese Einsicht entworfen. Es begründet nicht die allgemeine Verpflichtung, die das Beurteilungskriterium bereitstellt, und ebenso wenig übernimmt es eine motivationale Funktion. Als ein Nebenprodukt, das der Sinnlichkeit angehört, gewährleistet es, dass die allgemeine Verpflichtung und das allgemeine Motiv auch eine partikulare Gesinnung im Menschen konstituieren können. Aus diesem Grund ist es notwendig, obwohl es sich doch nur um ein randständiges Element von Kants Ethik handelt.

Teil I: These Das Gefühl der Achtung ist zwar motivational irrelevant, begleitet aber notwendigerweise die moralische Willensbestimmung. Dies ist die These der vorliegenden Arbeit, die in den ersten zwei Kapiteln im Vordergrund steht. Diese These wird in einer Auseinandersetzung mit den zwei Standardpositionen der Affektivisten und der Intellektualisten als eine dritte Deutungsmöglichkeit etabliert. Der hauptsächliche Vorteil dieser Deutung besteht darin, dass sie das Gefühl der Achtung als Bestimmungsgrund der Handlung ernst nehmen kann, ohne der Vernunft eine hinreichende motivationale Kraft abzusprechen. Das erste Kapitel fasst die Interpretationsthese zusammen und erläutert die zwei darin enthaltenen Teilthesen der Notwendigkeit und der Randständigkeit des Gefühls der Achtung. Es wird einerseits erkenntnistheoretisch dafür argumentiert, dass das Gefühl der Achtung ein notwendiger Bestandteil der moralischen Willensbestimmung ist, weil sich ein partikulares Moralbewusstsein einzelner Individuen ohne die Annahme eines die Vernunft ergänzenden moralischen Gefühls nicht denken ließe. Andererseits wird der weit verbreiteten Annahme, dass dieses moralische Gefühl, indem es der Handlung vorhergeht, die moralische Motivation bereitstellt, entgegengehalten, dass ein der Willensbestimmung vorhergehendes Gefühl nach Kant per Definition ein pathologisches Gefühl ist. Als ein spezifisch moralisches Gefühl kann das Gefühl der Achtung nur als ein Nebenprodukt der Willensbestimmung durch die Vernunft rekonstruiert werden. Das Gefühl der Achtung begleitet oder folgt auf die moralische Motivation, die allein durch die allgemeine Vernunfteinsicht in das Moralgesetz bewerkstelligt wird. Im zweiten Kapitel liegt der Fokus auf der Komplexität von Kants Theorie moralischer Bestimmungsgründe. Insbesondere sind die Zitate, in denen Kant das Gefühl der Achtung als moralischen Bestimmungsgrund beschreibt, mehrdeutig. Zur Auflösung wird eine Übersicht über moralische Bestimmungsgründe des Willens konstruiert. In dieser Übersicht wird infolge einer Darstellung der intellektualistischen und der affektivistischen Deutung erneut der hier vertretene Vorschlag entwickelt: Achtung sei eine lediglich begleitende Triebfeder des Willens, die eine rein evaluierende, aber keine motivationale Funktion erfülle. Hierzu ist die Unterscheidung zwischen einer motivational-kausalen und einer epistemisch-evaluierenden Funktion des Gefühls zentral. Abschließend wird der Vorschlag anhand des Primärtextes verteidigt und gezeigt, dass sich Kant mit Blick auf das Gefühl der Achtung nicht nur mehrdeutig, sondern mitunter auch unsachlich ausgedrückt hat. In Bezug auf eine Handlung aus Pflicht hätte er besser nur von einer Handlung mit Achtung gesprochen und die auch seiner eigenen

https://doi.org/10.1515/9783110629170-005

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Teil I: These

Meinung zufolge ungenaue, aber gebräuchliche Rede von einer Handlung aus Achtung vermieden.

1 Achtung als notwendiges Nebenprodukt der Vernunft Moral wird in Kants Theorie als eine besondere Art der rein vernünftigen Selbstüberwindung konzipiert. Ausgehend von dieser Grundannahme wird gefragt, welche Funktion das Gefühl der Achtung im Rahmen dieser rationalistischen Moralkonzeption erfüllen kann (1). Der Vorschlag lautet, dass das Gefühl der Achtung in Kants Theorie als ein notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung gedacht werden muss (2). Der erste Teil dieses Vorschlags besagt, dass das Gefühl der Achtung, weil es die Partikularität von Moralität verbürgt, ein notwendiges Element der moralischen Willensbestimmung ist (3). Der zweite Teil des Vorschlags stellt die Randständigkeit dieses Elements heraus und richtet sich gegen eine motivationale Deutung der Achtung (4). Letztlich mündet dieser Vorschlag in ein Verständnis von Autonomie, in dem das nichtmoralische Handeln stets als Grundlage des moralisch-guten Handelns begriffen wird (5).

1.1 Moral als Selbstüberwindung Die Grundannahme lautet, dass Moralität nach Kant eine Form der Selbstüberwindung darstellt.¹ Dies halte ich für die einzig menschliche Betrachtungsweise der Kantischen Moralvorstellung, d. h. für ein Verständnis, das nicht von ‚oben herab‘ den Menschen aus einer göttlichen Perspektive beschreibt, sondern stattdessen das Höhere – und wenn man so will: das Göttliche im Menschen – aus einem wesentlich menschlichen Blickwinkel betrachtet. Denn als Menschen sind  Das positive Pendant zur Selbstüberwindung könnte man Selbstverwirklichung nennen. Beide Tendenzen lassen sich auch beim nicht-moralischen Handeln unterscheiden, insofern wir das Handeln entweder als Folge der Lust oder Unlust verstehen können. Lust motiviert uns nach Kant zur Verwirklichung eines Gegenstandes. Unlust motiviert uns dazu, einen Gegenstand zu überwinden oder zu meiden. Wenn ich Moralität als Selbstüberwindung beschreibe, dann ist aber, im Gegensatz zur Überwindung partikularer Unlust-Zustände, eine prinzipielle Überwindung gemeint, die zudem eine reflexive Struktur hat und somit eine Selbstüberwindung im eigentlichen Sinne ist. Das Prinzip, das reflexiv überwunden wird, besagt, dass die Ansprüche der Selbstliebe, die sich in Lust- und Unlust-Gefühlen manifestieren, nicht nur die ersten, sondern auch die wichtigsten und höchsten Ansprüche darstellen, an die menschliche Akteure gebunden sind. Als prinzipielle und reflexive Form der Selbstüberwindung ist Moralität nach Kant einzigartig.

1 Achtung als notwendiges Nebenprodukt der Vernunft

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wir nach Kant in erster Linie sinnliche, bedürftige und endliche Wesen, die nicht danach streben, die Wirklichkeit zu überwinden, sondern vielmehr auf Anpassung abzielen und eine Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und den eigenen Bedürfnissen herstellen wollen. Bedürfnisbefriedigung ist und bleibt nach Kant der erste, natürliche Zweck menschlichen Handelns.² Dieses Grundverständnis der Kantischen Moralphilosophie ist ausschlaggebend für jene These über moralische Motivation, die das eigentliche Anliegen und den Leitfaden der vorliegenden Arbeit bildet: Wenn Moralität nach Kant immer nur als Selbstüberwindung oder als Widerstand gegen die Wirklichkeit und den natürlichen Zweck des Handelns verständlich werden kann, dann bedeutet das für seine Motivationstheorie, dass es Hindernisse statt positive Antriebe sind, die in moralischer Hinsicht motivational relevant sind. Positiv formuliert bedeutet das, dass die Triebfeder zur moralisch-guten Handlung nicht der Sinnlichkeit des Menschen entspringt, sondern reine praktische Vernunft ist, die als Gegenkraft wirkt. Dies führt zu der Annahme, dass das moralische Gefühl der Achtung, das im weitesten Sinne der Sinnlichkeit angehört, nach Kant nicht motivational relevant ist, und zu der Herausforderung, zu verstehen, was Kant stattdessen dazu bewegt haben mag, dieses Gefühl als ein Gefühl a priori in seine Ethik einzuführen.

1.2 Vorbemerkung zur Hauptthese Da Achtung von Kant als Gefühl eingestuft wird, das wir a priori erkennen können, muss es sich dabei um ein notwendiges Element von Kants Ethik handeln. Zudem wird es von Kant als Folge oder Wirkung der Vernunft charakterisiert. Daher lässt sich zusammenfassen, dass dieses Gefühl ein notwendiges, aber randständiges Element seiner Ethik ist, nämlich ein notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung durch die Einsicht der reinen praktischen

 Bei dieser These handelt es sich meinem Verständnis nach nicht bloß um eine anthropologische oder empirische Beobachtungsthese; sie lässt sich auch transzendentalphilosophisch begründen. Nach Kant ist es aus moralphilosophischen Gründen notwendig, die Bedürfnisbefriedigung als den „ersten“ und „ursprünglichen“ (KpV, 5:74) Zweck menschlichen Handelns anzusehen. Der Grund liegt darin, dass Moral nach Kant als eine praktische, restriktive Selbstreflexion verstanden werden muss, der somit immer schon eine andere Handlungsweise zugrunde liegen muss, auf die reflektiert wird. Ohne einen ersten, ursprünglichen Zweck menschlichen Handelns, der selber jeder Reflexion entbehren kann, lässt sich Moral nach Kant nicht denken. Diesem Gedanke widmen sich näher Teil I, Kap. 1.5 und Teil IV, Kap. 2.

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Teil I: These

Vernunft. Als notwendiges Element ist es ein Teil dieser Einsicht, als Nebenprodukt folgt es darauf. Die These, Achtung sei ein notwendiges Nebenprodukt, ist in verschiedenen Hinsichten missverständlich und eigentümlich, weshalb vorweg einige Vorbemerkungen angebracht sind. Wichtig ist, dass es sich dabei um eine dezidiert philosophische These handelt, die nicht als phänomenologische Aussage missverstanden werden darf. Vielmehr handelt es sich um eine anti-phänomenologische These, die das Ergebnis einer transzendentalphilosophischen Analyse moralischer Phänomene wiedergibt.³ Sie knüpft zwar an eine phänomenale Beschreibung des Moralbewusstseins gewöhnlicher Menschen an, sie folgt aber erst aus einer transzendentalphilosophischen Reflexion auf diese phänomenale Erfahrung. Dies ist wichtig, weil das Ergebnis dieser Reflexion sogar dem Ergebnis widerspricht, zu dem Menschen kommen, wenn sie in einem nicht-transzendentalphilosophischen Sinne auf die Erfahrung von Moralität reflektieren. Der gewöhnliche Mensch wird nämlich auf der Grundlage seiner moralischen Erfahrung den Eindruck haben, dass sein besonderes Gefühl der moralischen Wertschätzung nicht nur der Wertschätzung, sondern auch der Motivation zum moralisch-guten Handeln dient, weil dies diejenige Funktion ist, die seine praktischen Gefühle der Lust und Unlust in allen sonstigen Fällen übernehmen. Aufgrund der Gewohnheit wird er phänomenal den Eindruck haben, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung um die moralische Triebfeder handelt. Dagegen zeigt eine transzendentalphilosophische Analyse der moralischen Erfahrung, dass dieses besondere Gefühl der Achtung gerade nicht als Triebfeder, sondern nur als ein Nebenprodukt moralisch-guten Handelns verstanden werden sollte. In dieser Hinsicht widerspricht die philosophische Analyse dem gemeinen Menschenverstand und zeigt auf, dass ihm ein Fehler unterläuft, wenn er das Gefühl der Achtung mit der moralischen Triebfeder identifiziert.⁴ Des Weiteren folgt daraus, dass auch die beiden charakteristischen Ausdrücke „Notwendigkeit“ und „Nebenprodukt“ in einer philosophischen Bedeutung verstanden werden sollen. Wenn im Rahmen der Hauptthese von ‚Notwendigkeit‘ die Rede ist, dann ist damit eine transzendentalphilosophische Notwendigkeit gemeint, die sich von einer empirischen, anthropologischen oder handlungspsychologischen Notwen-

 Daher lehne ich neuerdings auch die Bezeichnung der Achtung als ‚Epiphänomen‘ anstelle der Rede von einer Wirkung, einer Folge oder einem Nebenprodukt der vernünftigen Willensbestimmung ab, weil sie den Ausdruck ‚Phänomen‘ enthält und damit suggeriert, dass es sich um eine phänomenologische These handelt, was nicht der Fall ist.  Kant analysiert diesen Fehler als einen „Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)“ (KpV, 5:116).

1 Achtung als notwendiges Nebenprodukt der Vernunft

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digkeit unterscheidet. Die transzendentalphilosophische Notwendigkeit beruht ausschließlich auf rein philosophischen Gründen, die a priori eingesehen werden können. Transzendentalphilosophisch notwendig ist das Gefühl der Achtung in seiner Funktion, die allgemeine Willensbestimmung durch die Vernunft zu einer partikularen Gesinnung zu individuieren, wie ich im folgenden Abschnitt unter Rückgriff auf Kants Kritik der reinen Vernunft argumentieren werde. Etwas ganz anderes und m. E. falsch ist es hingegen, die Notwendigkeit des Gefühls der Achtung als moralische Triebfeder zu verteidigen, weil man aus anthropologischen, empirischen oder handlungspsychologischen Gründen der Auffassung ist, dass menschliche Akteure immer durch Gefühle zum Handeln motiviert sein müssten. Wenn Achtung als ‚Nebenprodukt‘ beschrieben wird, dann soll dies lediglich zum Ausdruck bringen, dass es sich dabei nicht um eine der moralischen Willensbestimmung vorhergehende Ursache handelt. Stattdessen kann das Gefühl der Achtung, weil es ein moralisches Gefühl sein soll, nur eine Wirkung oder Folge der Vernunft sein. Indem die Vernunft normativ den Willen oder kausal die Willkür durch ihr Moralgesetz bestimmt, bewirkt sie das Gefühl der Achtung. Diese Auffassung wird im übernächsten Abschnitt unter Rückgriff auf Kants Kritik der Urteilskraft und die drei Arten von Wohlgefallen fundiert, insofern dort auch Kants Unterscheidung zwischen zwei Arten der praktischen Lust begründet liegt. Denn sein Ansatz zur Unterscheidung der moralisch-praktischen von der pathologisch-praktischen Lust besagt, dass die moralische Lust aus philosophischen Gründen notwendigerweise nur als Folge oder Wirkung der Willensbestimmung durch die Vernunft verständlich werden kann. Wenn in diesem Kontext von ‚Wirkung‘ oder ‚Folge‘ die Rede ist, dann ist auch diese kausale Terminologie, ebenso wie der Ausdruck des Nebenprodukts, ebenfalls in einem philosophischen und also nicht-empirischen Sinne zu verstehen, insofern es in diesem Kontext nicht um Naturkausalität, sondern um Spontaneität oder Freiheit geht, d. h. um eine Wirkung der Kausalität der Vernunft. Wäre die kausale Terminologie – „Wirkung“, „Folge“, „Nebenprodukt“, „Ursache“ – hier stattdessen naturkausal gemeint, dann müsste die These über die Stellung des moralischen Gefühls vielmehr lauten, dass es in einem Verhältnis der gegenseitigen Wechselwirkung zur Bestimmung durch die Vernunft steht. Dann aber handelt es sich um eine phänomenologische Beschreibung der Erfahrung des moralischen Gefühls und der Vernunftbestimmung, die wir phänomenal immer gleichzeitig erfahren.⁵ Phänomenal erleben wir das Gefühl der

 Das Gleiche gilt auch für die Verhältnisbestimmung zwischen dem negativen und dem positiven Gefühlsaspekt der Achtung, wie sie Kant in einer Fußnote zur Achtung der GMS und an-

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Teil I: These

Achtung zwar nicht als Nebenprodukt, sondern eher als den Modus (Schadow 2013, 273) der Willensbestimmung. Analysiert man aber die phänomenale Erfahrung der moralischen Willensbestimmung im Sinne von Kants Transzendentalphilosophie, dann ist Achtung immer das letzte Glied einer metaphysischen Hierarchie der Bedingungen a priori moralischer Erfahrung, in der die reine praktische Vernunft allein mit dem Ursprung aller weiteren reinen Elemente identifiziert werden muss. Des Weiteren ist die These, dass das Gefühl der Achtung philosophisch als notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung auftritt, auch darum erläuterungsbedürftig, weil sie kontraintuitiv und auf den ersten Blick auch widersprüchlich erscheint. Auch in der Forschung setzt man gewöhnlich voraus, dass sich die beiden Merkmale, ‚notwendig‘ und ‚randständig‘ zu sein, eher ausschließen,⁶ weil man einerseits meint, dass Notwendigkeit eine zentrale Stellung des Elements miteinschließt und eine randständige Stellung eher ausschließen muss. Andererseits scheint ein Nebenprodukt immer nur eine begleitende, sekundäre oder nebensächliche, aber keine notwendige Funktion zu erfüllen. Dies nenne ich das Paradox der notwendigen Nebenwirkung.⁷ Die These,

schließend ausführlich im Triebfedernkapitel der KpV beschreibt. Aus einer phänomenologischen Perspektive ist Achtung ein ambivalentes Gefühl, in dem wir die negative Demütigung der Selbstliebe und die positive Erhebung der Vernunft immer gleichzeitig erleben. Aus einer metaphysischen Perspektive, die die grundlegende ist, liegt hingegen eine eindeutige Hierarchie und Abfolge vor, in der die reine Vernunft spontan die Selbstliebe demütigt und erst dadurch auch das positive Gefühl der Achtung hervorbringt. Manchmal bringt Kant die phänomenale Gleichzeitigkeit, in der wir das positive und das negative Gefühl und die Bestimmung des Willens durch die Vernunft erleben, auch zum Ausdruck, indem er von einer Identität spricht. In §12 der KU schreibt er im Zusammenhang mit einem Rückblick auf die Ästhetik der KpV: „Der Gemüthszustand aber eines irgend wodurch bestimmten Willens ist an sich schon ein Gefühl der Lust und mit ihm identisch“ (Ku §12, 5:222). Bereits in der Fußnote der GMS deutet er diese (phänomenologische) Identitätsthese in der Formulierung an: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung“ (GMS, 4:401Anm.).  Eine Ausnahme bildet die Abhandlung von Elster über „[s]tates that are essentially by-products“ (Elster 1983, 43 ff.). Diese Zustände haben die Eigenschaft, „that they can only come about as the by-product of actions undertaken for other ends. They can never, that is, be brought about intelligently or intentionally, because the very attempt to do so precludes the state one is bringing about“ (Elster 1983, 43). Dies zeichnet auch das Gefühl der Achtung aus, das immer nur als ein Nebenprodukt der Absicht, das Gesetz einzusehen oder praktisch zu befolgen, auftreten kann.  Man kann dabei auch an ein Paradox der Nebenwirkung eines Medikaments denken, die zur Heilung beabsichtigt wird. In der Forschung zur Achtung wird dieser Einwand wenig thematisiert, aber meistens vorausgesetzt. Ausdrücklich argumentiert Reinhold auf der Grundlage von diesem Paradox der notwendigen Nebenwirkung, dass das Gefühl der Achtung, weil es eine Wirkung sein muss, nicht die Triebfeder und somit auch kein notwendiges Element der moralisch-guten Handlung sein könne (vgl. Reinhold 1792, 236 f.). Dagegen denke ich, dass sich das Gefühl der

1 Achtung als notwendiges Nebenprodukt der Vernunft

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dass Achtung ein notwendiges Nebenprodukt sei, setzt voraus, dass dieses Paradox auflösbar ist, weil die Konsequenz des Arguments keineswegs zwingend ist. Denn es ist denkbar und außerdem charakteristisch für die Herausforderung, vor die uns Kant mit seiner Theorie des moralischen Gefühls der Achtung stellt, dass die beiden Merkmale einen unterschiedlichen Bezug aufweisen und sich daher auch nicht widersprechen. Das Gefühl der Achtung ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht notwendig, in einer motivationalen Hinsicht ist es hingegen nicht notwendig. Ein motivationales Nebenprodukt kann erkenntnistheoretisch notwendig sein.Widersprüchlich wird die Behauptung nur dann, wenn man beide Merkmale, die Notwendigkeit und den randständigen Charakter, in derselben Hinsicht, z. B. beide in motivationaler oder aber beide in erkenntnistheoretischer Hinsicht, zugleich von dem Gefühl der Achtung aussagen will. Die Unterscheidung zwischen den beiden Hinsichten, in denen die Merkmale dem Gefühl der Achtung zukommen, macht die These komplex. Diese Komplexität ist aber kein Nachteil, sondern der Sache geschuldet. Kants Theorie der moralischen Motivation ist in dieser Hinsicht komplex, und das Gefühl der Achtung bringt dies mit seiner eigentümlichen Stellung als notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung und als randständige Bedingung a priori moralischer Erfahrung auf eine konzentrierte Weise zum Ausdruck.

1.3 Das Gefühl der Achtung ist notwendig Das Gefühl der Achtung ist nicht darum notwendig, damit Menschen, wenn sie einsehen, was moralisch geboten ist, auch motiviert sein können, entsprechend zu handeln. Diese negative These wird im nächsten Abschnitt erläutert. Dennoch handelt es sich, anders als intellektualistische Interpreten denken, bei dem Gefühl der Achtung um ein notwendiges Element von Kants Ethik. In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, warum das Gefühl der Achtung, obwohl es nicht motiviert, dennoch notwendig ist. Der Vorschlag lautet, dass nicht etwa ein spezifisch Kantisches Motivationsproblem, sondern ein spezifisch Kantisches Erkenntnisproblem der Grund dafür ist, dass Kant ein moralisches Gefühl in seine Vernunftethik integriert. Dieses Erkenntnisproblem entspringt der Tatsache, dass das Moralgesetz allgemein und nicht anschaulich ist, wobei eine partikulare Erkenntnis wie die einer partikularen Handlung nach Kant immer auch ein partikulares Moment beinhalten muss.

Achtung als epistemische Triebfeder auffassen lässt, solange man betont, dass es sich nur um eine Wirkung handelt, die keine motivierende Funktion erfüllt.

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Teil I: These

Notwendig ist das Gefühl der Achtung in erster Linie, weil es die allgemeine Bestimmung des Willens durch die Vernunft individuiert. Ohne ein solches moralisches Gefühl als Element der Sinnlichkeit wäre eine partikulare moralische Gesinnung menschlicher Wesen nach Kant undenkbar. Der jeweils einzelne Mensch könnte das Faktum der Vernunft, also die Geltung und Notwendigkeit seiner Pflicht, nur als ein allgemeines, philosophisch-reflektierendes Vernunftwesen, aber nicht auch als ein individueller menschlicher Akteur einsehen. Ebenso wenig könnte der jeweils einzelne Mensch nicht den partikularen Zustand erleben, allein durch die Einsicht in seine Pflicht zur Handlung motiviert zu sein. Daher ist das moralische Gefühl also eine notwendige Bedingung partikularer Moralität. Diese These von der Notwendigkeit des Gefühls ist erkenntnistheoretisch begründet und kann daher nur unter Rückgriff auf Kants erste Kritik verständlich werden. Hierzu ist es ausreichend, den berühmten Slogan über die Synthese von Verstand und Sinnlichkeit heranzuziehen, der lautet: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV, A51/B75). Denn, so Kants Erläuterung: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden“ (KrV, A51/B75) können. Die Sinnlichkeit hat mit anderen Worten also die individuierende Funktion, einen Bezug auf Einzelgegenstände herzustellen, wohingegen wir anhand der (Allgemein‐)Begriffe Unterscheidungen treffen, d. h. denken können. Anhand der empirischen Begriffe „rot“ und „Tisch“ können wir beispielsweise eine Menge von Gegenständen unterscheiden von einer solchen, die sich stattdessen durch die Begriffe „blau“ und „Stuhl“ zusammenfassen lässt. Aufgrund der Anschauung können wir hingegen über einzelne Gegenstände aussagen, dass es sich um einen „Tisch“ handelt, der z. B. „rot“ ist. In einem empirischen Erkenntnisurteil wie „Dies ist rot“ repräsentiert „… ist rot“ also den allgemeinen Begriff, wohingegen der Indikator „dies“ die Anschauung repräsentiert.⁸ Kant ist der Auffassung, dass beide Aspekte vorliegen und miteinander verknüpft sein müssen, damit ein Erkenntnisurteil zustande kommen kann: „Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“ (KrV, A51/B75 f.). Diese erkenntnistheoretische Einsicht lässt sich auch auf Kants Moralphilosophie übertragen, wenn gilt: Eine partikulare moralisch-praktische Erkenntnis ist nur möglich, wenn sich Vernunft und Gefühl miteinander verbinden. In Analogie zu dem Erkenntnisurteil „Dies ist rot“ lassen sich die Urteilsfunktionen von Vernunft und Gefühl im Rahmen der praktischen Philosophie an

 Auf diese Weise führt beispielsweise Prauss mit seinem Urteilsmodell in die Grundlagen von Kants Erkenntnistheorie ein (vgl. Prauss 1990, I, 88 – 117).

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dem Urteil „Dies ist gut“ (oder: „Ich bin gut“; „Du bist gut“) erläutern. Der Vernunftbegriff „gut“ leistet die Urteilsfunktion der Unterscheidung und dient der Absonderung aller moralischen ‚Gegenstände‘ von solchen, die nur in prudentieller Hinsicht „gut“ zu nennen sind. Die Vernunft allein kann aber keine partikulare Erkenntnis konstituieren, weil sie ein Vermögen für das Allgemeine ist und somit keine partikulare Indikation gewährleisten kann. Da Partikularität dem allgemeinen Vermögen der Vernunft fremd ist, muss notwendigerweise auch ein Aspekt der Sinnlichkeit beteiligt sein, damit solche Erkenntnis möglich ist. Dieser Aspekt der Sinnlichkeit, der einen partikularen Bezug zur allgemeinen Idee des Guten überhaupt erst möglich macht, ist die ‚Achtung fürs Gesetz‘, die Kant als besonderes moralisches Gefühl in seine Ethik einführt. Die These lautet also, dass das Gefühl der Achtung vor dem Hintergrund der ersten Kritik das Merkmal der Partikularität mit der Anschauung gemeinsam hat.⁹ Daher ist es systematisch notwendig und nicht nur einem pathologischen Systemzwang geschuldet, dass Kant auch im Rahmen der zweiten Kritik eine Ästhetik auf die Logik folgen lässt. Neben der gemeinsamen Funktion der Individuation gibt es natürlich auch Unterschiede zwischen den Merkmalen der Anschauung und der Achtung fürs Gesetz. Diese Unterschiede rühren alle daher, dass es sich bei dem Bezugsrahmen einerseits um empirische Fremderkenntnis, andererseits aber um eine reine praktische Selbsterkenntnis handelt. An manchen Stellen lehnt Kant den Vergleich strikt ab und problematisiert die Ästhetik der zweiten Kritik, weil in diesem Kontext nicht die Rede davon sein könne, dass das Moralgesetz empirisch anschaulich gegeben sei.¹⁰ Im Rahmen der moralisch-praktischen Erkenntnis gibt es keinen empirischen Inhalt, durch den das Subjekt affiziert werden könnte. Die praktisch-moralische Erkenntnis ist nach Kant eine reine Form der Erkenntnis.

 Nach Allais (vgl. Allais 2015, z. B. 156) sind Unmittelbarkeit und Partikularität die Hauptmerkmale der Anschauung. Das neue Kant-Lexikon kennt darüber hinaus auch noch die Merkmale der Synthetizität und der Rezeptivität, die ich hier vernachlässigen werde, weil sie besonders die empirische Rolle der Anschauung betreffen (vgl. Friebe 2015, 100 ff.). Unmittelbarkeit wird von Kant im praktischen Kontext manchmal auch bloß als Synonym für „nicht kontingent“ verwendet und impliziert daher nicht immer notwendig ein Gefühl, wie unten näher ausgeführt wird (vgl. Teil II, Kap. 3.2).  Das sittlich Gute sei etwas „dem Objecte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Correspondirendes gefunden werden kann“ (KpV, 5:68; vgl. KpV, 5:31, 89). Die Sinnlichkeit werde in der praktischen Philosophie „gar nicht als Anschauungsfähigkeit, sondern blos als Gefühl“ (KpV, 5:90) begriffen. Auch zur Einteilung der KpV in Logik und Ästhetik merkt er an, dass er sich erlaube, „diese sonst gar nicht angemessene Benennungen blos der Analogie wegen hier zu gebrauchen“ (KpV, 5:90).

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Auch das Verhältnis zwischen Intellekt und Sinnlichkeit weist in beiden Kontexten Unterschiede auf, die beispielsweise darin sichtbar werden, dass Kant das Verhältnis zwischen Ästhetik und Logik in der zweiten Kritik umkehrt.¹¹ Hier, in der praktischen Philosophie, folgt die Ästhetik auf die Logik, so wie auch das Gefühl der Achtung von Kant eindeutig als eine Wirkung oder als Folge der Vernunft und ihres rein formalen Sittengesetzes charakterisiert wird. Dieser Unterschied lässt sich erneut an dem Urteilsmodell veranschaulichen. Für die empirische Erkenntnis ist es charakteristisch, dass ausgehend von der Anschauung oder dem Indikator „Dies“ ein Prädikat wie „ist rot“ das Erkenntnisurteil wahr oder falsch macht. Da es sich hierbei um Fremderkenntnis im Sinne einer Gegenstandserkenntnis handelt, ist die Wahrheit oder Falschheit der Aussage „Dies ist rot“ auch von dem Gegenstand und nicht nur von dem urteilenden Subjekt abhängig. Die moralisch-praktische Erkenntnis nimmt hingegen umgekehrt ihren Ausgang von dem allgemeinen Vernunftbegriff des Guten, den das Subjekt aus sich heraus individuiert, indem es infolge der reinen Vernunfteinsicht ein partikulares Gefühl erzeugt. Die Wahrheit dieser Erkenntnis kann nur daran scheitern, dass das Subjekt in seiner spontanen Hervorbringung daran gehindert wird, einen nicht nur allgemeinen, sondern auch partikularen Bezug zur allgemeinen Idee des Guten herzustellen. Dies kann daran scheitern, dass ein falscher partikularer Bezug zur Idee hergestellt wird, der die reine Erkenntnis behindert. Die Idee des Guten kann fälschlicherweise z. B. auf historische oder kulturelle, jedenfalls auf sogenannte subjektive (willkürliche), erfahrungsabhängige Gründe zurückgeführt werden oder durch externe Triebfedern, wie die Aussicht auf Belohnung und Bestrafung, ergänzt und dadurch verunreinigt werden.¹²

 Vgl. KpV, 5:90.  In der Methodenlehre der KrV thematisiert Kant einen Philosophie-Lehrling, der einen Inhalt zwar objektiv richtig vorträgt, wobei der subjektive Grund seiner Erkenntnis nur historischer Natur ist, weil er ihn nachsagt, aber subjektiv nicht rational einsieht: „Er bildete sich nach fremder Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d.i. das Erkenntniß entsprang bei ihm nicht aus Vernunft, und ob es gleich objectiv allerdings ein Vernunfterkenntniß war, so ist es doch subjectiv bloß historisch. Er hat gut gefaßt und behalten, d.i. gelernt, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen. Vernunfterkenntnisse, die es objectiv sind […], dürfen nur dann allein auch subjectiv diesen Namen führen, wenn sie aus allgemeinen Quellen der Vernunft, […] d.i. aus Principien, geschöpft worden.“ (KrV, A836 f./B864 f.) Dieselbe Unterscheidung trifft auch auf die sittliche Einsicht zu, insofern Kant vertritt: „Wenn ich von allem Inhalte der Erkenntnis, objektiv betrachtet, abstrahiere, so ist alles Erkenntnis, subjektiv, entweder historisch oder rational“ (KrV, A835 f./B863 f.). Außerdem warnt Kant z. B. in der Fußnote der GMS an Sulzer mit Blick auf die moralische Triebfeder vor Lehrern, die „ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht haben“ (GMS, 4:411Anm.).

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Eine wichtige Besonderheit der moralisch-praktischen Erkenntnis liegt also darin, dass es sich um Selbsterkenntnis handelt, weshalb der Vergleich zwischen den Urteilen „Dies ist rot“ und „Dies ist gut“ nicht falsch verstanden werden darf. Das Urteil „Dies ist gut“ ist immer auf das eigene (oder andere) vernünftige Subjekt bezogen und darf daher nicht als Fremderkenntnis missverstanden werden, wie das Urteil „Dies ist gut“ fälschlicherweise suggerieren könnte. Eigentlich müsste das analoge Urteil zu „Dies ist rot“ in der praktischen Philosophie lauten „Ich bin gut“ oder auch „Du bist gut“, wobei „Ich“ und „Du“ als Indikatoren die reine Selbsterkenntnis anzeigen, da auch das „Du“ im moralischen Kontext ein solches „Du“ ist, das in allen wesentlichen Eigenschaften mit dem „Ich“ übereinstimmt. Das Besondere des moralischen Gefühls der Achtung in seiner Funktion, einen partikularen Bezug zur allgemeinen Idee des Guten herzustellen, besteht darin, dass es vollständig von dieser Idee und dem allgemeinen Subjekt als ihrem Ursprung abhängig ist. Es erfüllt seine eigenständige Funktion, die es mit der Anschauung gemeinsam hat, also nur in vollständiger Abhängigkeit von dem Vernunftbegriff, durch den es erzeugt wird.¹³ Achtung lässt sich daher als eine Art partikulares Backup der allgemeinen Vernunftbestimmung verstehen, das vollständig von seinem ursprünglichen Original abhängt und zusätzlich auch von diesem Original selber initiiert werden muss. Trotz der erheblichen Asymmetrie ist auch in Kants Moralphilosophie eine Synthese zwischen Vernunft und Gefühl notwendig, damit eine partikulare moralisch-praktische Erkenntnis zustande kommen kann. Diese Notwendigkeit einer Synthese lässt sich anhand des Unterschiedes zwischen allgemeinen, einzelnen und einzigartigen Gegenständen nachvollziehen.¹⁴ Gäbe es nur die reine praktische Vernunft, die ein Vermögen der Ideen und somit ein Vermögen für das All-

 Dagegen ist die Abhängigkeit der Anschauung gegenüber der Urteilsfunktion der Begriffe in der theoretischen Philosophie umstritten. Einige Interpreten nehmen an, dass es nach Kant auch eine rein anschauliche Wahrnehmung geben kann; andere denken, dass die Anschauung teilweise oder sogar vollständig von der Urteilsfunktion der Begriffe abhängig ist. Entsprechend unterscheidet man hier zwischen Non-Konzeptualisten und Konzeptualisten (vgl. Allais 2015, 145 – 175).  Friebe argumentiert ausgehend von der These über die Funktion von (unterscheidenden) Begriffen und (individuierender) Anschauung, dass der Unterschied zwischen einzelnen und einzigartigen Gegenständen für ein Verständnis von Kants Transzendentalem Idealismus zentral ist. Auf diese Weise könne Kant gegen Leibniz‘ Prinzip der Identität von Ununterscheidbarem argumentieren, dass zwei einzelne Wassertropfen nur qualitativ identisch, aber numerisch verschieden sind (vgl. Friebe 2017). Mit dieser Deutung strebt er eine Zwischenposition zwischen den Standarddeutungen der Konzeptualisten und Non-Konzeptualisten an. Eine weitere Zwischenposition vertritt Grüne (vgl. Grüne 2009).

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gemeine ist, dann wäre ausgeschlossen, dass es auch eine jeweils einzelne moralisch-praktische Erkenntnis geben könnte. Damit ein partikulares Subjekt das Gute praktisch erkennen kann, muss neben seiner Vernunft auch ein Aspekt der Sinnlichkeit beteiligt sein, den Kant mit der These eines moralischen Gefühls in seine Ethik integriert. Andererseits kann es sich bei Kants Ethik nicht um eine reine Gefühlsethik handeln. Denn das Gefühl allein könnte keine einzelne moralische Gesinnung und erst recht keine allgemeine Moralvorstellung begründen, wenn es keinen Begriff der Moral gäbe, unter den die einzelne Gesinnung als moralisch-gute Gesinnung subsumiert werden könnte. Das Gefühl allein könnte nur eine einzigartige Gesinnung begründen, die nur für ein einziges Subjekt gelten könnte und somit für den anderen ‚blind‘ sein müsste. Andererseits wäre die reine Vernunftidee eines Moralgesetzes ‚leer‘, wenn es nicht auch ein Subjekt gäbe, das diese Idee auch fühlen kann. ‚Leer‘ wäre das Gesetz dann in dem Sinne, dass es nicht als partikularer Gegenstand, nämlich als partikulare Einsicht oder Absicht im jeweils einzelnen Individuum instanziiert sein könnte. Ohne Gefühl wäre es nur als allgemeiner Gedanke, als eine allgemeine Einsicht und als allgemeine Motivation denkbar. Es gäbe aber kein Individuum, das sich mit diesem Gedanken, dieser Einsicht oder Motivation auch jeweils identifizieren könnte. Daher ist der erkenntnistheoretische Slogan, dass Begriffe ohne Anschauungen leer, Anschauungen ohne Begriffe hingegen blind sind, auch auf Kants Ethik übertragbar. Es gilt: Das Gesetz ohne Achtung ist leer, Achtung ohne das Gesetz ist blind. Damit eine partikulare moralisch-praktische Erkenntnis möglich sein soll, müssen die allgemeine Vernunftidee und das partikulare moralische Gefühl in einer Synthese miteinander einhergehen. Diese These unterscheidet sich sowohl von der affektivistischen als auch von der intellektualistischen Deutung des Achtungsgefühls. Denn Affektivisten schreiben dem Gefühl der Achtung eine andere Art von Notwendigkeit zu. Intellektualisten hingegen leugnen die Notwendigkeit eines moralischen Gefühls in Kants Ethik insgesamt. Stattdessen wird hier mit Blick auf die Notwendigkeit eines moralischen Gefühls in Kants Ethik eine phänomenologische Deutung der Achtung aus erkenntnistheoretischen Gründen vertreten. In der phänomenologischen Interpretation geht es nicht um die Frage nach der moralischen Triebfeder, sondern um die Relevanz des Gefühls im Rahmen der moralisch-praktischen Erkenntnis. Nach dieser phänomenologischen Deutung ist das Gefühl der Achtung ein phänomenaler Zugang zur allgemeinen Idee des Moralgesetzes, der notwen-

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dig ist, um ein Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen überhaupt denken zu können.¹⁵

1.4 Das Gefühl der Achtung ist ein Nebenprodukt Während es im vorherigen Abschnitt um die Funktion und Notwendigkeit ging, soll in diesem Abschnitt erläutert werden, inwiefern es sich bei dem Gefühl der Achtung um ein spezifisch moralisches Gefühl handeln kann und welche Stellung diesem Gefühl, insofern es moralisch ist, im Kontext der moralischen Willensbestimmung zukommt. Die Stellung, die das Gefühl der Achtung einnimmt, lässt sich auf zwei Weisen beschreiben, nämlich phänomenal oder philosophisch: Einerseits ist das Gefühl der Achtung der phänomenale Modus der moralischen Willensbestimmung. Mit anderen Worten erleben wir Achtung phänomenal gleichzeitig zu der Bestimmung des Willens durch die Vernunft. Andererseits müssen wir das Gefühl der Achtung aus einer dezidiert philosophischen Perspektive als Folge, Wirkung, als Begleiteffekt oder Nebenprodukt der Bestimmung durch die Vernunft betrachten. Die philosophische Betrachtung ist die grundlegende und begründet die phänomenale Perspektive. Den phänomenalen Modus können wir also nur dann als einen spezifisch moralischen Modus verstehen, wenn wir das Gefühl der Achtung philosophisch als Wirkung oder Folge der Bestimmung des Willens durch die Vernunft charakterisieren. Diese Auffassung begründet die Ablehnung von solchen Ansätzen, die Achtung als vorhergehendes Moment einer moralischen Bestimmung des Willens deuten. Denn nach Kant kann ein moralisches Gefühl per Definition nur als Folge oder Wirkung einer vorhergehenden Vernunftbestimmung gedacht werden. Die Definition eines moralischen Gefühls ist das Ergebnis von Kants eigentümlicher Theorie ästhetischen Urteilens, mit der es ihm auf innovative Weise gelingt, einen Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Gefühlen philosophisch zu begründen. Da Gefühle eigentlich nämlich nur dem Grad nach verschieden sein können, ist die These von einem spezifisch moralischen Gefühl, das sich von sonstigen Gefühlen der Art nach unterscheidet, eine philosophische Herausforderung. Kant begegnet dieser Herausforderung in seiner dritten Kritik erfolgreich, indem er zwischen „drei specifisch verschiedenen Arten des Wohl-

 Weitere Vertreter einer phänomenologischen Deutung sind z. B. Schönecker (2013), Ware (2014), Grenberg (2013) oder Ameriks (2010), die allerdings allesamt auch eine affektivistische Deutung mit Blick auf das Gefühl der Achtung vertreten.

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gefallens“ (KU §5, 5:209) unterscheidet. Sie sind das Wohlgefallen am Guten, am Angenehmen und am Schönen, die er als ästhetische Urteile analysiert. Ästhetische Urteile sind Urteile, in denen die Zweckmäßigkeit eines ‚Objekts‘ (Ding oder Handlung) für ein Subjekt fühlbar wird, sodass es dieses Objekt emotional als „moralisch-gut“, als „angenehm“ oder als „schön“ beurteilt.¹⁶ Dem Wohlgefallen am Guten und dem Wohlgefallen am Schönen ist ein Bezug auf das Erkenntnisvermögen gemeinsam. Beide sind rein und uninteressiert, weil sie auf Gründen a priori beruhen, und beide erheben einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Nur das moralische Wohlgefallen beruht aber ausschließlich auf einer reinen Gesetzmäßigkeit, dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft, und erhebt darum Anspruch auf objektive Allgemeingültigkeit.¹⁷ Des Weiteren unterscheidet sich das Wohlgefallen am Guten von dem Schönen darin, dass für das Gute sowie für das Angenehme ein Bezug auf das Begehrungsvermögen charakteristisch ist.¹⁸ Daher fasst Kant das moralische und das pathologische Gefühl auch unter dem Begriff einer „praktische[n] Lust“ (MS, 6:212) zusammen.¹⁹ Anhand des Merkmals einer praktischen Lust, immer mit einer Bestimmung des Willens oder der Willkür einherzugehen, differenziert er zwischen den zwei Arten. Wiederholt vertritt er auch bereits in seinen moralphilosophischen Werken, dass die praktische Lust entweder einer Willensbestimmung vorhergehen oder auf dieselbe folgen kann.²⁰ Im letzten Fall sei die Folge eine moralische Lust, ein moralisches Gefühl oder ein reines moralisches Interesse. Der Grund für die vorhergehende Bestimmung liegt dann nicht in einer Lust, einem Gefühl oder Interesse begründet, sondern in einer Bestimmung durch die Vernunft und ihr Moralgesetz. Das Gefühl der Achtung ist somit erstens ein praktisch bewirktes Gefühl und zweitens, wie Kant in der GMS schreibt, ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.). Sehr deutlich bringt Kant seine These von der eigentümlichen Stellung des moralischen Gefühls in zwei paradox anmutenden Formulierungen über das moralische Interesse zum Ausdruck. „Interesse“ verwendet er in der GMS und der KU als Synonym für eine praktische Lust vernünftiger Wesen. Interessiert ist ein vernünftiges Subjekt nach Kant also dann, wenn es etwas will, d. h., wenn es ein Wohlgefallen an der Vorstellung hat, die Existenz eines ‚Gegenstandes‘ durch sein

 Vgl. KU §1, 5:203 f., §5, 5:209 f., EEKU VIII, 20:231 f.  Vgl. KU §§6 – 12, 5:211– 222.  Vgl. KU §§2, 4, 5, 5:204 f., 207– 211.  Vgl. KpV, 5:9Anm.  MS, 6:212, 378, 399; VT, 8:395 f.Anm.; KU BXXIVf., 5:178 f.; KU §18, 5:236 f.; KpV, 5:9Anm., 38, 116; GMS, 4:401Anm.

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Handeln zu verwirklichen, zu meiden oder aufrecht zu erhalten.²¹ Das Interesse ist also die Verbindung zwischen dem Begehrungsvermögen und einer Lust nach einer allgemeinen Regel des Verstandes oder der Vernunft, wobei das Verhältnis zwischen der Lust und dem Begehrungsvermögen entweder pathologisch oder moralisch sein kann, je nachdem, ob die Lust dem Begehrungsvermögen vorhergeht oder auf dasselbe folgt.²² Vor diesem Hintergrund beschreibt Kant in der KU das moralische Wohlgefallen als „ganz uninteressirt, aber doch sehr interessant“ und fügt erläuternd hinzu: „d.i. es gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor“ (KU §2, 5:205Anm.). Mit anderen Worten interessieren uns reine moralisch-praktische Urteile unabhängig von allem Interesse. Ein moralisches Interesse und Wohlgefallen stellt sich erst nachträglich oder als Rückwirkung zur Praxis des reinen moralischen Urteilens ein. In einer Fußnote im ersten Abschnitt der GMS identifiziert Kant das moralische Interesse unmissverständlich mit der Achtung fürs Gesetz.²³ In zwei weiteren Anmerkungen fügt er später eine Erläuterung hinzu, die inhaltlich und stilistisch mit der genannten Formulierung aus der KU übereinstimmt: „[D]er menschliche Wille kann woran ein Interesse nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln“ (GMS, 4:413Anm.). Weiter heißt es an späterer Stelle, dass die Vernunft nur dann ein unmittelbares und reines Interesse an einer Handlung nimmt, „wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist“ (GMS, 4:459 f.Anm.). Zumindest in seinen Anmerkungen wird Kant also nicht müde zu betonen, dass wir nicht aus diesem Gefühl oder Interesse heraus moralisch urteilen, handeln und die Allgemeingültigkeit des Gesetzes anerkennen, sondern umgekehrt umwillen der Urteile, Handlungen und umwillen der Allgemeingültigkeit des Gesetzes auch interessiert sind und gefühlsbetont Anteil an dieser Praxis nehmen. Wir urteilen moralisch nicht ‚aus‘ Achtung, sondern bringen dieses Gefühl im moralisch-praktischen Urteil allererst hervor. Das Gefühl der Achtung kann also niemals eine Vorwirkung, sondern immer nur eine Rückwirkung von Moralität sein, weil es sich nur auf diese Weise überhaupt als ein spezifisch moralisches Gefühl begreifen lässt.²⁴

 Vgl. KU §2, 5:204 und §4, 5:209 und GMS, 4:459 f.Anm.  Höwing schreibt, dass das kausale Verhältnis zwischen Begehren und Lust ein Interesse ist, „wenn dieses Verhältnis auch Gegenstand eines Urteils dieses Subjekts ist“ (Höwing 2013b, 34).  „Alles moralische sogenannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 4:401Anm.).  Die Unterscheidung zwischen einer Vorwirkung und Rückwirkung übernehme ich von Lee, der die Stellung des moralischen Gefühls ausführlich problematisiert (vgl. Lee 1987, 186).

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Diese philosophische These lässt sich gegen die weit verbreitete affektivistische Interpretation der Achtung in all ihren Hinsichten und Variationen anführen. Affektivisten deuten Kants Gefühlsthese als Antwort auf ein spezifisch Kantisches Motivationsproblem, das darin besteht, dass Kants Ethik nach einer rein vernünftigen Handlungsmotivation verlangt, obwohl Menschen, weil sie auch sinnliche Wesen sind, nach der herkömmlichen Auffassung immer auch durch Gefühle oder affektive Impulse zum Handeln motiviert sein müssen. Vor diesem Hintergrund deuten sie das Gefühl der Achtung als moralische Triebfeder, die als eine Art psychologische Handlungsursache zur rein vernünftigen Absicht menschlicher Wesen hinzukommen muss, um die moralische Forderung nach einer Handlung aus Pflicht auch wirklich umsetzen zu können.²⁵ Diese These steht im Widerspruch zu der philosophischen Definition eines moralischen Gefühls als Rückwirkung. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Ansätzen ist nötig, weil das Gefühl der Achtung nur entweder die psychologische Ursache oder die Wirkung der moralischen Bestimmung sein kann. Die These, dass Achtung als moralisches Gefühl ursächlich motivierend wirkt, widerspricht der These, dass Achtung nur als Wirkung einer Willensbestimmung ein moralisches Gefühl sein kann. Die Unterschiede zwischen meinem Ansatz und der affektivistischen Deutung werden im Folgenden an drei Aspekten erläutert: Diskutiert wird erstens die affektivistische These zur psychologischen Zugänglichkeit moralischen Handelns, zweitens die These einer vermittelnden Funktion der Achtung und drittens die These von der erkenntnistheoretischen Unzugänglichkeit moralisch-guten Handelns. In allen drei Hinsichten wird widersprochen, weil Achtung erstens überhaupt keinen psychologischen Status hat und daher auch keinen psychologischen Zugang zur moralischen Handlung bereitstellen kann, weil zweitens eine vermittelnde Funktion der Definition eines moralischen Gefühls widerspricht und weil drittens ein erkenntnistheoretischer Zugang zur moralisch-guten Handlung in einem eingeschränkten Sinne notwendig ist.

Erste These: Das Gefühl der Achtung ist konkurrenzlos. Eine positive psychologische Erklärung moralischer Handlungsprozesse ist ausgeschlossen. Die Attraktivität der affektivistischen Deutung liegt vor allem darin begründet, dass sie über das Element des moralischen Gefühls handlungspsychologische  DeWitt fasst diesen Lösungsvorschlag prägnant zusammen: „[T]he key functional feature of emotions is that they are action-initiating judgments, emotions emerge as the centerpiece of Kant‘s motivational account. Reason becomes practical by being emotional. It follows, then, that there is in fact no motivation in Kant without emotion – moral or otherwise.“ (DeWitt 2013, 4).

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Einsichten mit Kants reiner Moralphilosophie verbindet. Der moralische Handlungsprozess soll nach ihrer Auffassung zumindest ansatzweise für eine psychologische Erklärung zugänglich sein, um als plausibel gelten zu können. Hierzu argumentieren sie, dass eine psychologische Erklärung am Gefühl der Achtung ansetzen kann, wenn darunter ein mit anderen Gefühlen konkurrierendes Gefühl und somit eine Triebfeder verstanden wird. Unter Rückgriff auf das handlungspsychologische Modell konkurrierender Kräfte oder das Waagschalenmodell konkurrierender Gewichte wollen sie erklären, wie es sein kann, dass wir unsere Pflicht nur manchmal befolgen, manchmal aber auch den Neigungen gegenüber der Pflicht Vorrang einräumen. Im moralischen Erfolgsfall sei das Gefühl der Achtung einfach stärker als die konkurrierenden Neigungen. Das Phänomen moralischer Willensschwäche könne man entsprechend auf eine Schwäche des moralischen Gefühls zurückführen, das sich in diesen Fällen nicht gegen die stärkeren, konkurrierenden Gefühle und Neigungen durchsetzen kann. Auf diese Weise wird Kants moralische Motivationstheorie in einem bereits vertrauten Modell aus der Handlungspsychologie abbildbar, sodass seine reine Vernunftethik weniger rätselhaft erscheinen muss. Die moralische Motivation wird auf diese Weise im Ansatz erklärbar und dadurch auch besser verständlich. Obwohl dieser Lösungsvorschlag intuitiv plausibel ist, führt er philosophisch betrachtet aus verschiedenen Gründen in die falsche Richtung. In Kants Theorie sollten wir an der zumutenden These festhalten, dass die moralische Motivation und der moralische Handlungsprozess prinzipiell unerklärbar sind, weil die moralisch-gute Handlung nach Kant eine absolut-freie Handlung sein soll. Eine absolut-freie Handlung beruht ausschließlich auf reiner Spontaneität, die daher gar nicht erklärbar ist, wenn mit Erklärung eine im weiten Sinne naturkausale Herleitung gemeint ist. Sowohl Affektivisten als auch Kant verstehen unter einer Erklärung einen solchen Bezug zur empirischen Natur. In GMS III aber lehnt Kant diesen Zugang im Rahmen seiner Moralphilosophie ausdrücklich ab, weil der Versuch einer Erklärung an der „äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ (GMS, 4:455) prinzipiell scheitern müsse. Das zentrale Argument besagt, dass Freiheit ein erfahrungsunabhängiger Begriff ist, sodass eine stets erfahrungsabhängige Erklärung einer absolut-freien Handlung aus Pflicht ausgeschlossen ist.²⁶ In seiner negativen Bedeutung ist der

 „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann.“ (GMS, 4:459). Diese These vertritt Kant auch in anderen Werken, z. B. in der Tugendlehre: „Das Phänomen nun: daß der Mensch auf diesem Scheidewege […] mehr Hang zeigt der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären ist unmöglich: weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von

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Begriff der Freiheit sogar in normativer und in kausaler Hinsicht gleichbedeutend mit ‚Unerklärbarkeit‘, da gilt: „Freiheit, d.i. Unabhängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ (GMS, 4:455). In kausaler Hinsicht sei Freiheit „in diesem einzigen Punkte positiv, daß jene Freiheit als negative Bestimmung zugleich mit einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Causalität der Vernunft verbunden sei, welche wir einen Willen nennen“ (GMS, 4:458). Dieses positive Vermögen einer reinen Kausalität der Vernunft kann aber erst recht nicht erklärbar sein, weil es sich dabei um den realen Gegensatz zur Kausalität nach Naturgesetzen handelt, und „da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung“ (GMS, 4:459). In der Ästhetik der KpV untersucht Kant dieses positive Vermögen einer Kausalität der Vernunft mit Blick auf die Sinnlichkeit. Dabei geht er konsequent vor, indem er das Vermögen der Vernunft als eine ‚negative Größe‘ beschreibt, d. h. als eine reale Kraft der Kausalität, die in Ansehung der Sinnlichkeit als dem realen Gegensatz rein negativ ihre Wirkung ausübt.²⁷ Entsprechend beschreibt er das entscheidende Konkurrenzverhältnis infolge der Einsicht der Pflicht als ein solches, das zwischen den Neigungen und dem Vernunftgesetz stattfindet. Die Vernunft oder das Moralgesetz schränkt nach Kant die Selbstliebe und die Neigungen ein.²⁸ Wenn die Vernunft dabei erfolgreich ist, dann handeln wir moralisch gut. Andererseits beschreibt Kant die Selbstliebe als Gegengewicht oder Hindernis²⁹ der Wirkung der Vernunft und erläutert auf diese Weise, wie es sein kann, dass wir gegen das Gesetz handeln. Von einer Stärke oder Schwäche des Achtungsgefühls im Gegensatz zu den Neigungen ist im gesamten Abschnitt nicht die Rede.³⁰ Den Grundlagen zufolge ist ein solcher Erklärungsansatz auch prin-

einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken würden.“ (MS, 6:379 f.Anm.).  Zum Konzept der negativen Größe vgl. Teil IV, Kap. 1.  Kant schreibt z. B., dass „die Vorstellung des moralischen Gesetzes der Selbstliebe den Einfluß“ (KpV, 5:75) nimmt, dass „die reine praktische Vernunft […] der Selbstliebe im Gegensatz mit ihr alle Ansprüche abschlägt“ (KpV, 5:76), dass diese „Einschränkung“ eine „Empfindung der Unlust“ hervorbringt, die „eine negative Wirkung ist, die, als aus dem Einflusse einer reinen praktischen Vernunft entsprungen“ gedacht wird und „der Meinung seines [des Subjekts] persönlichen Werths Abbruch thut“ (KpV, 5:78), dass das moralische Gesetz „den hindernden Einfluß der Neigungen durch Demüthigung des Eigendünkels schwächt“ (KpV, 5:79); etc. Häufig werden die Stellen aber auch fälschlicherweise, mithilfe von Auslassungen oder Ergänzungen, zugunsten der affektivistischen These angeführt (vgl. Grenberg 2001, 158 f.Anm.15; Guyer 2010, 135; Herrera 2000, 399; McCarty 2009, 181; Schadow 2013, 279; Timmermann 2003, 195).  Vgl. z. B. KpV, 5:75 f. und 78 f.  Nur eine einzige Stelle lässt sich hierfür heranziehen, an der es heißt, dass „Achtung für das moralische Gesetz auch […] als subjectiver Grund der Thätigkeit, d.i. als Triebfeder zu Befolgung

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zipiell unangemessen, weil eine positive Erklärung mit Blick auf die ‚Sinnenwelt‘ dem Verständnis einer absolut-freien Handlung und der äußersten Grenze der praktischen Philosophie widerspricht. Daher lautet die Gegenthese zu dem affektivistischen Lösungsvorschlag, dass der moralische Handlungsprozess in Kants Theorie immer nur in einer negativen Terminologie für psychologische Erklärungsansätze zugänglich sein kann. Als zentraler Zugang erweist sich hierfür z. B. der Begriff der Disziplin. Der Begriff der Disziplin kann als Brücke zwischen Philosophie und Psychologie dienen, weil es sich um ein negatives Vernunftvermögen handelt, das aber auch empirisch erworben und eingeübt werden kann. Eine psychologische Erklärung moralischer Willensstärke oder Willensschwäche kann also an der starken oder mangelnden Ausprägung der Disziplin eines Individuums anknüpfen. Auf diese starke oder schwache Ausprägung lässt sich philosophisch oder empirisch reflektieren. Dieser negative Erklärungsansatz steht dem affektivistischen Lösungsvorschlag um nichts nach, da auch Affektivisten mit dem Gefühl der Achtung meistens nur einen Anhaltspunkt, aber keine lückenlose Erklärung angeben. Denn auch sie vertreten in der Regel kein vollständiges oder gar mechanistisches Handlungsverständnis, in dem man von der Stärke des Gefühls der Achtung auf direktem Weg auf den Erfolgsfall schließen könnte.³¹ Für besonders wichtig halte ich die Ablehnung der These von einem Konkurrenzverhältnis zwischen der Achtung und den Neigungen, denn diese These widerspricht der philosophischen Definition des moralischen Gefühls. Affektivisten nehmen zwar einerseits an, dass Achtung, weil sie ‚vernunftgewirkt‘ ist, einen philosophischen und moralischen Status hat, aber sie betrachten es auch als besonderen Vorzug, dass sich der Achtung Grade und ein psychologischer Status zuschreiben lassen, insofern es sich dabei um ein Gefühl handelt. Die einleitenden Ausführungen über Achtung als moralisches Wohlgefallen, Interesse und Gefühl haben aber gezeigt, dass es spezifisch von anderen Arten von Gefühlen verschieden ist, weil es sich um eine Folge der Willensbestimmung durch die Vernunft handelt. Alle und nur die vorhergehenden Gefühle können miteinander konkurrieren und zur Erklärung von Handlungsprozessen dienen, und in dieser

desselben, und als Grund zu Maximen eines ihm gemäßen Lebenswandels angesehen werden“ (KpV, 5:79) muss. Diese Stelle bereitet Schwierigkeiten, weil sie missverständlich ist. Unten wird der Vorschlag verteidigt, dass Achtung auch, aber in einer anderen, nämlich nicht in kausaler, sondern in epistemischer oder evaluierender Hinsicht neben der Vernunft als Triebfeder und Grund angesehen werden kann.  Daher lässt sich auch immanent kritisieren, dass Affektivisten durch die Annahme dieser moralischen Triebfeder die Erklärungslücke nicht schließen, sondern letztlich nur verschieben.

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Hinsicht kann auch das handlungspsychologische Modell konkurrierender Kräfte hilfreich und angemessen sein. In Abgrenzung zu pathologischen Gefühlen besteht das spezifische Merkmal des moralischen Gefühls aber gerade darin, dass es nicht dem Grad, sondern der Art nach verschieden ist, weil es als Folge gerade keinen psychologischen Status hat und darum auch nicht zur Erklärung dienen kann.³² Weil dieses Gefühl aufgrund seiner eigentümlichen Stellung das einzige moralische Gefühl seiner Art ist, ist es zentral, dass wir dieses Gefühl als konkurrenzloses Gefühl betrachten. Das moralische und das pathologische Gefühl der Lust können aufgrund ihrer definitorisch notwendig unterschiedlichen Stellung im Verhältnis zur Willensbestimmung aus prinzipiellen Gründen nicht miteinander verglichen werden bzw. miteinander konkurrieren. In GMS III bringt Kant diese These zum Ausdruck, indem er die Unmöglichkeit einer Erklärung der Freiheit mit der Unmöglichkeit identifiziert, „ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne“ (GMS, 4:459 f.). Diese Unmöglichkeit bezieht sich aber, wie Kant in dem Folgesatz und in einer Anmerkung zum Interesse präzisiert, nur auf ein der Handlung vorhergehendes Interesse,³³ das zur Erklärung dienen könnte, wenn es sich um eine pathologische Handlung aus Neigung handeln würde. Für die moralisch-gute Handlung aus Pflicht ist es hingegen ausgeschlossen, ein vorhergehendes Gefühl oder Interesse anzunehmen.³⁴ Eine Parallelstelle aus der

 Dasselbe gilt nicht nur für moralische Gefühle in Abgrenzung zu pathologischen Gefühlen, sondern natürlich auch für moralische Handlungen in Abgrenzung zu pathologischen Handlungen: „Hingegen wenn ein gewisser Zweck zum Grunde gelegt wird, mithin kein Gesetz unbedingt (sondern nur unter der Bedingung dieses Zwecks) gebietet, so können zwei entgegengesetzte Handlungen beide bedingterweise gut sein, nur eine besser als die andere (welche letztere daher comparativ-böse heißen würde); denn sie sind nicht der Art, sondern bloß dem Grade nach von einander unterschieden. Und so ist es mit allen Handlungen beschaffen, deren Motiv nicht das unbedingte Vernunftgesetz (Pflicht), sondern ein von uns willkürlich zum Grunde gelegter Zweck ist“ (TP, 8:282).  Der Folgesatz lautet: „und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen“ (GMS, 4:460). In der Fußnote erläutert er den Unterschied zwischen einem empirischen Interesse und einem reinen und unmittelbaren Vernunftinteresse, der oben bereits eingeführt wurde (vgl. GMS, 4:459 f.Anm.).  So lässt sich auch Kants Stellungnahme aus der GMS deuten, dass es unmöglich sei, a priori die Hervorbringung einer Empfindung der Lust und Unlust durch einen Gedanken einzusehen: „Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d.i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn das ist eine besondere Art von Causalität, von der wie von aller Causalität wir gar nichts a priori bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung befragen müssen“ (GMS, 4:460). Allerdings behauptet Kant in der Ästhetik der KpV, dass wir ausschließlich „a priori an-

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Einleitung in das Triebfedernkapitel der KpV bestätigt Kants Auffassung. Dort schreibt er, dass es ein „unauflösliches Problem“ sei, zu verstehen, „wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne“ (KpV, 5:72). Unter anderem ist damit parallel zur These aus GMS III gemeint, dass es unmöglich ist, unter Rückgriff auf ein der Handlung vorhergehendes Gefühl naturgesetzlich zu erklären, wie die moralisch-gute Handlung zustande kommen kann.

Zweite These: Das Gefühl der Achtung kann keine vermittelnde Funktion zwischen Erkenntnis und Handeln erfüllen, weil es ein moralisches Gefühl ist. Affektivisten zufolge erfüllt das Gefühl der Achtung eine vermittelnde Funktion zwischen der Erkenntnis der Pflicht und der Handlung aus Pflicht. Um diesen Übergang zu erklären, sei das Gefühl der Achtung notwendig. Genau genommen vertreten sie hierbei in der Regel auch eine phänomenologische Position, d. h. sie deuten das Gefühl der Achtung als den Modus, in dem man sich der Pflicht bewusst wird. Weil der Inhalt des Pflichtbewusstseins rein vernünftig oder der Modus rein vernunftgewirkt sei, verstehen auch sie unter dem Gefühl der Achtung ein spezifisch moralisches Gefühl. Des Weiteren schreiben sie diesem Gefühl aber auch jene vermittelnde, motivierende Funktion zu, durch die der Übergang von der praktisch-moralischen Erkenntnis zur faktischen Handlung gewährleistet werden soll. Das moralische Gefühl kann sich ihnen zufolge aufgrund von Willensschwäche oder konkurrierenden Neigungen zwar nicht immer erfolgreich durchsetzen. Aber die Annahme, dass Achtung zumindest die Funktion einer Ursache für das moralisch-gute Handeln erfüllt, ist für die affektivistische Deutung charakteristisch. Das charakteristische Merkmal, dass Affektivisten das Gefühl der Achtung als Ursache verstehen, ist allerdings grob formuliert und bedarf der Erläuterung. Einige Vertreter kritisieren nämlich ausdrücklich ein mechanistisches Verständnis zuzeigen haben“ (KpV, 5:72), dass das Moralgesetz eine Wirkung auf die Sinnlichkeit hat: Sowohl die negative als auch die positive Hervorbringung eines Gefühls könne „a priori“ (KpV, 5:78, 79) erkannt werden. Unmöglich sei es nur, wie es schon die Stelle aus der GMS besagt, eine Verbindung des Gefühls „mit irgend einer Idee a priori zu entdecken“, wenn dieses „Gefühl der Achtung pathologisch und also ein auf den inneren Sinn gegründetes Gefühl der Lust“ (KpV, 5:80) wäre. Die Unmöglichkeit bezieht sich also nur auf ein der Willensbestimmung vorhergehendes pathologisches Gefühl der Lust und Unlust, das nur vermittelst der Erfahrung erkannt werden kann, weil es auf einer Kausalität des Empirischen beruht. Dies bestätigt auch Kants Rückblick in den ersten drei Sätzen von §12 der KU. Eine andere Deutung, nach der Kant seine Position nicht beibehält, sondern die äußerste Grenze der Philosophie mit Blick auf die Einsicht in ein Interesse verschiebt, vertritt z. B. Timmermann (vgl. Timmermann 2010, 76Anm.7).

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von Triebfedern und verwenden den Ausdruck „Ursache“ in ihrer Deutung selber gar nicht.³⁵ Wenn ich die affektivistische Deutung hier dennoch unter Rückgriff auf den Ausdruck „Ursache“ charakterisiere, dann nur darum, weil ich den Ausdruck naiv verwende und nichts anderes darunter verstehe als ein der Handlung vorhergehendes Gefühl. Ein der Handlung vorhergehendes Gefühl kann das Gefühl der Achtung aber darum nicht sein, weil der moralische Status definitorisch an das Merkmal gebunden ist, dass es auf die moralische Bestimmung des Willens durch die Vernunft folgt. Daher kann das Gefühl der Achtung keine vermittelnde Stellung einnehmen. Denn eine vermittelnde Stellung würde implizieren, dass es nicht nur eine Folge, sondern auch eine Vorwirkung der Willensbestimmung und somit nicht nur ein moralisches, sondern auch ein pathologisches Gefühl sein müsste. Dieses Gegenargument orientiert sich allein an der Stellung des moralischen Gefühls im Verhältnis zur Willensbestimmung und betrifft daher auch solche affektivistischen Positionen, in denen eine kausale oder gar mechanistische Terminologie vermieden wird. Des Weiteren ist es möglich, das Gefühl der Achtung phänomenologisch zu deuten, ohne ihm eine motivierende Funktion zuzuschreiben. Affektivisten könnten argumentieren, dass jeder, der vertritt, dass mit dem Bewusstsein der Pflicht ein Gefühl der Achtung einhergeht, auch zugestehen muss, dass Achtung der guten Handlung vorhergeht, weil das Bewusstsein der Pflicht ganz offenbar der guten Handlung vorhergehen muss. In dieser Unterstellung wird aber verkannt, dass die Verhältnisthese eine dezidiert philosophische These ist, in der es nicht auf das phänomenale und schon gar nicht auf ein zufälliges Verhältnis ankommt, sondern auf die eigentümliche Stellung des moralischen Gefühls. Dass Achtung nur darum, weil es das Pflichtbewusstsein begleitet, auch der Handlung vorhergehen muss, ist m. E. eine Tatsache, die philosophisch unbedeutend ist, so wie auch die Tatsache, dass ein Subjekt einen Körper hat, nicht die philosophische Verhältnis-These impliziert, dass ein der Handlung vorhergehender Körper notwendig ist. Diese Thesen sind zwar nicht falsch, aber sie sind irrelevant. Philosophisch relevant ist das Argument nur dann, wenn es zum Verständnis des Gefühls, der Handlung oder Motivation notwendig ist, Achtung auch als der Handlung vorhergehendes Gefühl zu deuten, und das ist nicht der Fall. Affektivisten denken hingegen, dass diese vermittelnde Position dem Gefühl der Achtung und Kants Theorie der moralischen Motivation eigentümlich ist. Die Position einer rein phänomenologischen Deutung ist aber keineswegs ausgeschlossen. Die These von einer vermittelnden Stellung der Achtung bringen Affektivisten, ob sie nun von Ursache oder nur von einer motivierenden Rolle sprechen, auf

 Vgl. z. B. Ameriks 2004, Grenberg 2001, Ware 2014.

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verschiedene Weise zum Ausdruck. Patrick Frierson veranschaulicht diese vermittelnde Position in folgendem Schaubild: Cognition → Feeling → Desire/Choice [Action] (Frierson , ).

Karl Ameriks schreibt über die grundlegende Struktur von Kants Rekonstruktion ästhetischer Erfahrung, sie beruhe „auf der richtigen Reihenfolge der vier Bestimmungen: Bewertung, Gefühl,Wollen und Handeln“ (Ameriks 2004, 113). Diese Autoren ziehen ausgehend von einer Auseinandersetzung mit dem Motivationsproblem ihre Schlüsse, wohingegen hier stattdessen das Merkmal des moralischen Gefühls, Folge zu sein, in den Vordergrund gestellt wird. Hierzu bedarf es einer Präzisierung der These, dass Achtung nur als ein Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung auftreten kann. Erstens ist nämlich der Ausdruck „Willensbestimmung“ in der Hinsicht mehrdeutig, dass damit einerseits die Bestimmung des Willens, d. h. des gesetzgebenden Vermögens, andererseits aber auch die Bestimmung der Willkür, d. h. des Vermögens der Maximen, gemeint sein kann.³⁶ Zweitens lassen sich in derselben Weise systematisch und im Text zwei Gefühle der Achtung voneinander unterscheiden, von denen das eine nur im Kontext der Erkenntnis, das andere hingegen nur infolge der guten Handlung auftreten kann. Achtung I folgt auf die allgemeine Bestimmung des Willens, wohingegen Achtung II auf die faktische Bestimmung der Willkür folgt, sodass es eigentlich zwei Manifestationen einer moralischen Willensbestimmung mit zwei jeweils folgenden moralischen Gefühlen gibt.³⁷ Wenn

 Explizit führt Kant diese Unterscheidung in der MS aus (vgl. MS, 6:226). Häufig verwendet er aber auch den undifferenzierten Ausdruck „Wille“ zur Bezeichnung beider Vermögen.  Nur sehr selten thematisiert Kant ausschließlich das moralische Gefühl der Achtung II, aber er tut es (vgl. KpV, 5:38; MS, 6:221, 448; KU, 5:292; zu berücksichtigen sind auch die Stellen über moralische Zufriedenheit, die mit der Pflichtbefolgung einhergeht). Häufiger thematisiert er ausschließlich das moralische Gefühl der Achtung I (vgl. z. B. GMS, 4:424 f., KpV, 5:80, 87, 92; dieses Gefühl bezeichnet er häufig als ‚Achtung fürs Gesetz‘). Die Regel ist aber vielmehr, dass Kant von dieser Unterscheidung absieht und stattdessen eine Art allgemeines Schema und die gemeinsamen Merkmale von Achtung I und II beschreibt, z. B., dass es negativ und positiv sei, ein Gefühl a priori oder vernunftgewirkt sei. Behauptungen wie die folgende aus der GMS-Fußnote treffen häufig auf beide Kontexte zu: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird“ (GMS, 4:401Anm.). Es lässt sich also spezifizieren: 1. Die unmittelbare Bestimmung des Willens heißt Achtung I, sodass Achtung I als Wirkung des Gesetzes angesehen wird. 2. Die unmittelbare Bestimmung der Willkür heißt Achtung II, sodass Achtung II als Wirkung des Gesetzes angesehen wird. In der Ästhetik der KpV weist Kant zwei Mal hintereinander subtil auf diese Doppeldeutigkeit hin, indem er das Gesetz als eines beschreibt, das „Achtung fordert [=Achtung I] und auch einflößt [=Achtung II]“, und eine Seite

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das Kriterium der richtigen Reihenfolge und der randständige Charakter des moralischen Gefühls ins Zentrum der Deutung gestellt werden, dann ist auch die Unterscheidung zwischen diesen beiden Kontexten zentral. Dies lässt sich zum Ausdruck bringen, indem man die Darstellungen von Frierson und Ameriks erstens durch ein Semikolon und zweitens durch ein weiteres Gefühl der Achtung ergänzt: Erkennen → Gefühl I; Wollen → Gefühl II.

Die richtige Reihenfolge ist nach diesem Modell also diejenige, in der das Gefühl immer nur als Folge und niemals als vermittelnde Ursache auftritt. Somit gilt einerseits: Erkennen/Bewerten, Fühlen; und andererseits: Wollen/Handeln, Fühlen. Wichtig ist in diesem abweichenden Schema das Semikolon, das den Kontext der praktischen Erkenntnis und Bewertung von dem Kontext des Wollens und Handelns abgrenzt. Diese Grundstruktur entspricht der Form moralisch-ästhetischen Urteilens, wie sie Kant entwirft. Eine Position, in der das Gefühl stattdessen als Vermittler oder Triebfeder gedeutet wird, widerspricht dieser Grundstruktur der ästhetischen Erfahrung des moralischen Gefühls. Eine Konsequenz meiner Deutung lautet, dass nur das Gefühl der Achtung II, das als Folge der Bestimmung der Willkür auftritt, die Triebfeder der moralischguten Handlung sein kann. Tatsächlich möchte ich Achtung II auch als Triebfeder verstehen, allerdings mit der Einschränkung, dass unter einer „Triebfeder“ dann

darauf wiederholt, dass das moralische Interesse namens Achtung etwas sei, das „die Vernunft durchs praktische Gesetz schlechthin gebietet [=Achtung I] und auch wirklich hervorbringt [=Achtung II]“ (KpV, 5:81). Lee unterscheidet zwischen diesen beiden Gefühlen bei Kant: „I Die Lust oder Unlust an der Übereinstimmung oder dem Widerstreit des Willensaktes mit dem moralischen Gesetz. II. Die Lust und Unlust an der wirklichen Befolgung oder Übertretung der Pflicht.“ (Lee 1987, 185). Ich stütze mich in meiner Deutung primär auf Reinholds siebten Brief über die kantische Philosophie (Bd. 2), in dem er die Frage nach der moralischen Triebfeder diskutiert. Er betont, dass die Unterscheidung zwischen den beiden Kontexten der Erkenntnis und Handlung „für den Gegenstand unserer Untersuchung von entscheidender Wichtigkeit ist“ (Reinhold 1792, 168 f.) und nimmt die Unterscheidung zwischen den beiden Gefühlen vor, um zu klären: „Welche von diesen beyden Arten des Wohlgefallens enthält nun den Grund des sittlichen Wollens, oder desjenigen Vergnügens, durch welches der Wille zu einer sittlichen Handlung bestimmt werden muß?“ (Reinhold 1792, 169). Seine vorläufige Antwort lautet, dass nur das Wohlgefallen, das auf die Handlung folgt, als Triebfeder in Frage kommt, und hierin stimme ich mit ihm überein (vgl. Reinhold 1972, 260). Er allerdings schließt diese Option wegen des Paradox der notwendigen Nebenwirkung aus, wohingegen ich dieses Gefühl aus den genannten erkenntnistheoretischen Gründen für notwendig halte und daher glaube, dass es die Triebfeder ist, wenn auch in einem ungewöhnlichen, nicht-motivationalen, epistemischen oder evaluierenden Sinne.

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kein motivierender, kausaler Bestimmungsgrund der Handlung verstanden werden darf. Kants besondere Einführung des moralischen Gefühls verlangt, eine Triebfeder als ästhetischen (subjektiven) Bestimmungsgrund zu denken, der ausschließlich in erkenntnistheoretischer Hinsicht notwendig ist. Abschließend lassen sich drei Einwände gegen die These ausräumen, dass Achtung II die Triebfeder der moralisch-guten Handlung ist, wobei der letzte Einwand auch zu der dritten abschließenden These gegen die affektivistische Deutung führt. Erstens reagiert Jens Timmermann auf die These, dass Achtung II die Triebfeder sei, mit dem Einwand, dass es sich dabei um ein Missverständnis handle, das darauf beruht, dass Kant in der Regel den Erfolgsfall moralischer Motivation beschreibt. Dies habe zu „schwerwiegenden Missverständnissen in der Kant-Literatur“ (Timmermann 2003, 191) geführt, z. B. zu demjenigen, dass Kant der Ansicht gewesen sei, „daß Achtung als das moralische Gefühl, das zur moralischen Triebfeder dienen kann, in jedem Fall ihres Auftretens tatsächlich die Willkür des Akteurs […] bestimmte“ (Timmermann 2003, 190). Dies trifft nun auch auf die hier vertretene Deutung zu, da sie besagt, dass Achtung II das Gefühl ist, das zur Triebfeder dienen kann, und dass es tatsächlich auch in jedem Fall ihres Auftretens die Willkür bestimmt, nämlich epistemisch. Timmermann sieht darin ein Problem, weil Kant andererseits der Auffassung ist, „daß Achtung nicht bei erfolgreicher moralischer Motivation, sondern – wunderbarerweise – immer auch dann auftritt, wenn wir uns moralischen Forderungen ausgesetzt sehen“ (Timmermann 2003, 192). Es könnte der Eindruck entstehen, dass dies der hier vertretenen Deutung widerspricht.³⁸ Das ist aber nicht der Fall, da nicht von dem Gefühl der Achtung I, sondern nur von Achtung II ausgesagt wurde, dass es immer die Willkür bestimmt, wenn es auftritt. An dieser Stelle liegt das Missverständnis vielmehr auf der Seite derer, die annehmen, dass es nur ein Gefühl der Achtung gibt, was nachvollziehbar ist, da Kant meistens auch nur das eine Schema der beiden Manifestationen von Achtung I und II thematisiert. Ein zweiter wichtiger Einwand ist das Paradox der notwendigen Nebenwirkung, das ich oben bereits erwähnt habe. Es besagt, dass eine Nebenwirkung der Handlung nicht zugleich ihr Bestimmungsgrund sein kann, was bedeuten würde, dass Achtung II als subjektiver Bestimmungsgrund ausgeschlossen wäre. Dagegen wurde oben argumentiert, dass das moralische Gefühl in Kants Ethik die erkenntnistheoretische Funktion erfüllt, die allgemeine Bestimmung der Vernunft wie ein partikulares Backup zu individuieren, und diese Funktion eines episte-

 Timmermanns Diskussion richtet sich gegen Lee, dessen Deutung in einigen Aspekten mit der hier vertretenen Auffassung übereinstimmt.

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mischen Bestimmungsgrundes kann das Gefühl auch als Nebenwirkung oder Nebenprodukt der Handlung erfüllen. Drittens sei auf den Einwand verwiesen, dass es ein Gefühl der Achtung II in Kants Theorie überhaupt nicht geben kann. Viele Kant-Interpreten argumentieren nämlich, dass sich Kant primär nur mit dem Gedanken der Pflicht auseinandersetze und bezüglich philosophischer Aussagen über die Wirklichkeit einer Handlung aus Pflicht hingegen Agnostiker sei. Dagegen lässt sich für die These argumentieren, dass wir nach Kant zwar niemals wissen können, aber notwendigerweise fühlen müssen, ob eine Handlung der Gesinnung nach aus Pflicht vollzogen wird.

Dritte These: Ein eingeschränkter epistemischer Zugang zur moralisch-guten Handlung ist möglich und notwendig. Phänomenologen konzentrieren sich auf das Bewusstsein der allgemeinen Verpflichtung, wenn sie das Gefühl der Achtung untersuchen. Sie vertreten, wie z. B. Dieter Schönecker mit Blick auf ein phänomenales Faktum der Vernunft, dass wir seine „Geltung und Reinheit“ (Schönecker 2013a, 100) durch das Gefühl der Achtung erfahren. Auch Jean Grondin ist, wie die meisten Phänomenologen, der Auffassung: „Die Bewunderung für das Gesetz ist für Kant das Primäre, das Unabweisbare“ (Grondin 2000, 388). Kant bietet Anlass zu dieser These, indem er sich in seiner Untersuchung auf den Gedanken der Pflicht konzentriert und die Feststellbarkeit von schlechthin guten Handlungen wiederholt verneint: Die Erkenntnis einer partikularen Handlung aus Pflicht beurteilt er als „schlechterdings unmöglich“ (GMS, 4:407), als „widersinnisch“ (KpV, 5:68) oder als „verborgen“ (MS, 6:393). Auf dieser Textgrundlage schlussfolgern Interpreten wie Grondin, dass die Kantische Ethik darauf abgestellt sei, „die Wirklichkeit wenigstens dieses Appells, dieses Horizontes nachzuweisen“ (Grondin 2000, 388). Daher liegt die Auffassung nahe, dass sich über das Gefühl der Achtung II, das phänomenal die partikulare Wirklichkeit einer Handlung aus Pflicht anzeigt, in Kants Theorie gar nichts aussagen lässt. Dagegen lässt sich argumentieren, dass auch die Wirklichkeit moralisch-guten Handelns ein systematisch wichtiger Bestandteil von Kants Ethik ist, über den sich auch etwas aussagen lassen muss, weil Kants praktische Philosophie letztlich dem praktischen Zweck dienen soll, dass sich Akteure in moralischer Hinsicht korrigieren, verbessern und vervollkommnen sollen. Daher muss die Verwirklichung des Ideals einer Handlung aus Pflicht aus praktischen Gründen denkmöglich sein. Hierzu ist es, wie oben gezeigt wurde, theoretisch notwendig, ein Gefühl der Achtung II anzunehmen, das die Partikularität verbürgt. Ansonsten wäre eine partikulare moralisch-gute Handlung auch in praktischer Hinsicht

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undenkbar und deren aufrichtige Beabsichtigung letztlich nicht möglich. Kants Moralphilosophie wäre in praktischer Hinsicht selbstwidersprüchlich, wenn sich nicht auch in theoretischer Hinsicht etwas über die Wirklichkeit aussagen ließe. Theoretische Aussagen über die Wirklichkeit von Moralität sind aber nur in einem eingeschränkten Sinne möglich. In einem ‚einschränkten Sinne‘ bedeutet, dass Menschen die partikulare Gesinnung einer schlechthin guten Handlung nur fühlen, aber nicht auch begrifflich einsehen können. Einen gefühlsbezogenen, ästhetischen Zugang halte ich für möglich, weil Kant die beiden epistemischen Zugänge ästhetischen und begrifflichen Urteilens anerkennt und unterscheidet. Ein philosophisch reflektierter Akteur, der eine schlechthin gute Handlung beabsichtigt, muss die Reinheit seiner Gesinnung begrifflich zwar immer in Frage stellen, doch emotional oder ästhetisch ist er sich der phänomenalen Erfahrung seiner eigenen Absicht gewiss, wobei sich allerdings diese subjektive Gewissheit prinzipiell einer begrifflichen Aufarbeitung entziehen muss. Diese gefühlsgebundene Gewissheit in dem Gefühl der Achtung II ist also subjektiv in einem maximalen und vollständig irreduziblen Sinne. Mit anderen Worten lässt sich der subjektiv-rationale Bestimmungsgrund, das Gefühl der Achtung, nur aus einer erst-personalen, phänomenalen Perspektive erleben, aber nicht aus einer dritt-personalen Perspektive beschreiben, ohne den eigentlichen Gegenstand der Beschreibung, das moralische Gefühl, dabei wesentlich zu verfälschen und zu verlieren. Kants agnostische Äußerungen über die Feststellbarkeit einer wirklichen moralisch-guten Handlung werden häufig aufgegriffen. Dabei bleiben die Gründe für Kants Position jedoch meistens im Unklaren. Hier wird dagegen angenommen, dass der Grund für Kants Agnostizismus in der besonderen Beschaffenheit einer partikularen moralischen Handlung liegt, die einen einzigartigen Gegenstand darstellt, insofern sie einerseits auf reinen, allgemeinen Gründen beruht, andererseits aber partikular sein soll, obwohl keine, auch keine reine, Anschauung daran beteiligt ist. Aus diesem Grund muss die partikulare moralische Gesinnung gegenüber allen Erkenntnisarten, die Kant in der KrV anerkennt, prinzipiell unzugänglich sein. Dasselbe gilt auch für die partikulare reine Einsicht in die allgemeine Pflicht.³⁹

 Ebenso gilt dasselbe auch für die partikulare rein philosophische Erkenntnis, wie sie oben (vgl. Anm. 14) in Anlehnung an die Methodenlehre der KrV thematisiert wurde (vgl. KrV, A836 f./ B864 f.). Das gemeinsame Merkmal liegt darin, dass es sich in allen drei Fällen um eine partikulare Erkenntnis handeln soll, die ausschließlich, objektiv und subjektiv, allgemein-rational begründet ist. Das Erkenntnisproblem ist in allen drei Fällen dasselbe. Das würde bedeuten, dass auch im Fall der philosophischen Erkenntnis eine Art Gefühl der Achtung als subjektiver Bestimmungsgrund angenommen werden müsste.

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Eine rein philosophische Erkenntnis der Gesinnung, die sich mit dem Allgemeinen beschäftigt, ist nicht hinreichend, wenn die partikulare Gesinnung eines Subjekts erkannt werden soll. Partikulare Gegenstände können nach Kant entweder mathematisch oder empirisch erkannt werden. Zur mathematischen Erkenntnis wäre reine Anschauung und zur empirischen Erkenntnis eine empirische Anschauung nötig, die beide im Kontext der moralischen Gesinnung nicht vorliegen. Also widerspricht die partikulare moralische Gesinnung den Bedingungen der Möglichkeit philosophischer (d. h. allgemeiner), mathematischer und empirischer Erkenntnis.⁴⁰ Eine solche begriffliche Erkenntnis der Wirklichkeit von Moralität ist andererseits aber auch nicht notwendig, weil Kant immerhin der Überzeugung ist, dass dieser Gegenstand auf eine rein subjektive Weise in der ästhetischen Erfahrung zugänglich ist.⁴¹ Die ästhetische Erfahrung ist also nicht nur aus den zuvor genannten Argumenten, sondern auch infolge der Einsichten der KrV in die Erkenntnisarten und infolge der besonderen Beschaffenheit einer partikularen moralischen Gesinnung ein notwendiger Bestandteil von Kants Ethik.⁴² Im Rahmen der ästhetischen Erfahrung kann Achtung allerdings nur als Folge oder Nebenprodukt der Willensbestimmung in seinem spezifisch moralischen Status verständlich werden.

1.5 Autonomie und Achtung Kant berücksichtigt das Gefühl der Achtung in seinen moralphilosophischen Werken nach der GMS, mit Ausnahme des Triebfedernkapitels der KpV und der Passage über die Gemütsanlagen aus der Einleitung zur Tugendlehre, nur selten ausführlich, meistens in Fußnoten oder Randbemerkungen, weshalb es sich offensichtlich nur um ein Detail von Kants Theorie handeln kann. Daher ließe sich

 „Die philosophische Erkenntniß betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen, gleichwohl doch a priori und vermittelst der Vernunft“ (KrV, A714/B742). „Jene [philosophische] hält sich bloß an allgemeinen Begriffen, diese [mathematische] kann mit dem bloßen Begriffe nichts ausrichten, sondern eilt sogleich zur Anschauung, in welcher sie den Begriff in concreto betrachtet, aber doch nicht empirisch, sondern bloß in einer solchen, die sie a priori darstellt“ (KrV, A715 f./B743 f.).  Kant schließt spätestens seit der KrV zwar aus, dass es eine rein intuitive Erkenntnis von Objekten geben kann, aber andererseits erkennt er an, dass es neben der begrifflichen (philosophischen, mathematischen oder empirischen) objektiven Erkenntnis auch eine rein subjektive Erkenntnis, nämlich ästhetische Urteile geben kann, die keine begrifflichen Erkenntnisurteile sind und somit auch nichts am Objekt, sondern ein Objekt im Verhältnis zum Subjekt anzeigen.  Vgl. hierzu Teil IV, Kap. 3.

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einwenden, dass sich der Aufwand einer ausführlichen Untersuchung und Diskussion nicht lohnt, weil es eigentlich nebensächlich ist, wie genau Kant dieses Gefühl in seine Ethik integriert. Auch wenn es sich nicht um den Kerngedanken von Kants Moralphilosophie handelt, ist das Detail der Achtung dennoch ausschlaggebend dafür, wie man den Kerngedanken versteht. Da Kant systematisch philosophiert, sind alle Aspekte seiner Theorie zusammenhängend miteinander verbunden. Mit einer Umdeutung des Details ändert sich womöglich auch das Verständnis seiner gesamten Theorie. Mit anderen Worten steht vielleicht auch mit dem Verständnis dieses Gefühls alles und nicht nur ein Detailproblem auf dem Spiel.⁴³ Die weitreichenden Konsequenzen lassen sich abschließend mit Blick auf ein Verständnis autonomen Handelns anhand der Unterschiede zwischen der affektivistischen und der hier vertretenen Deutung darstellen. Erstens lässt sich hierzu das Argument anführen, dass eine Handlung in Anlehnung an Kant nicht mehr „autonom“ genannt werden kann, wenn ein Gefühl als motivierende Triebfeder zwischen Wille und Willkür vermittelt. Zweitens lassen sich die Unterschiede an dem eingangs erwähnten Grundverständnis verdeutlichen, demzufolge autonomes Handeln, insofern die reine praktische Vernunft als eine reflexive, einschränkende Kraft gedacht wird, immer auf der Selbstliebe beruhen muss. Hiernach lässt sich das moralische Handeln nicht parallel zur Natur nichtmoralischen Handelns rekonstruieren. Affektivisten betrachten es hingegen als Vorteil, wenn alle Handlungen durch dieselbe Struktur charakterisiert werden können. Sie unterstellen allen Handlungen, einschließlich der schlechthin guten Handlung, eine der Handlung vorhergehende affektive Triebfeder und teilweise auch materiale moralische Zwecke. An dieser monistischen Deutung lässt sich mit Blick auf die oben vorgestellte Definition eines moralischen Gefühls kritisieren, dass sie Kants These vom Dualismus praktischer Gründe nicht gerecht wird, die im Folgenden in einer radikalen Version verteidigt wird. Ein radikales Verständnis autonomen Handelns lässt sich Kant insbesondere darum unterstellen, weil er mit Blick auf die moralische Triebfeder, indem er sie mit dem Vernunftgesetz identifiziert, radikal unserem Alltagsverständnis von Triebfedern widerspricht. Ein der Handlung vorhergehendes (moralisches) Gefühl sowie eine Handlung, die motivational aus einem vorhergehenden Gefühl der Achtung vollzogen wird, lässt sich aus Kantischer Perspektive als ein ‚hölzernes Eisen‘ zurückweisen, weil sich ein solches Gefühl und infolgedessen auch eine  Kant zufolge muss daher jede moralphilosophische Aussage ihrem Gehalt nach „bis auf die Elemente der Metaphysik zurück gehen, ohne die keine Sicherheit und Reinigkeit, ja selbst nicht einmal bewegende Kraft“ (MS, 6:376) zu erwarten sei. Denn unter Philosophie versteht er ein „System der Vernunfterkenntniß aus Begriffen“ (MS, 6:375).

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solche Handlung nicht mehr als ‚moralisch‘ qualifizieren lassen. Denn ‚moralisch‘ können ein Gefühl und eine Handlung nach Kant nur dann genannt werden, wenn sie ausschließlich als eine Folge der spontanen Hervorbringung durch die Vernunft entstehen. An mindestens zwei Stellen lässt sich eine entsprechende Argumentation in Kants Werken nachvollziehen. In §3 formuliert er als Lehrsatz II der Analytik der KpV, dass alle materialen praktischen Prinzipien derselben Art sind und dem Prinzip der Selbstliebe oder der eigenen Glückseligkeit angehören. Seine Folgerung lautet, dass es „bloß formale Gesetze“ geben muss, „die den Willen hinreichend“ (KpV, 5:22) bestimmen, damit auch ein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden kann. Die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, sofern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll“ (KpV, 5:22), zählt er unter die materialen Prinzipien und ergänzt in der folgenden „Anmerkung II“, dass hierunter auch alle dem Ursprung nach vernünftigen Gefühle zu zählen sind, sofern sie als „Bestimmungsgrund der Willkür“ (KpV, 5:23) dienen. Die Anmerkung ist gegen „sonst scharfsinnige Männer“ gerichtet, um ihnen deutlich zu machen, dass es bei solchen Gefühlen, die Bestimmungsgründe der Willkür sind, gar nicht darauf ankomme, worin sie ihren Ursprung haben, – „sie mögen Verstandes-, selbst Vernunftvorstellungen im Gegensatz der Vorstellungen der Sinne sein“ (KpV, 5:23) –, weil diese Klasse von Gefühlen „von jedem anderen Bestimmungsgrunde in nichts als dem Grade verschieden sein kann“ (KpV, 5:23). Mit anderen Worten vertritt Kant erneut, dass ein moralisches Gefühl weder in seinem Ursprung noch durch den Grad, sondern nur in seinem andersartigen Verhältnis zur Willensbestimmung von anderen Gefühlen, die der Willkür vorhergehen, spezifisch unterschieden werden kann. Alle der Bestimmung vorhergehenden Gefühle zählt er zu den materialen Prinzipien, wohingegen das moralische Gefühl, wie man ergänzen muss, moralisch ist, weil es nur als Folge oder Nebenprodukt einer rein formalen hinreichenden Bestimmung der Willkür auftritt. Noch deutlicher bringt er dieses Argument in der Vorrede zur Tugendlehre zum Ausdruck. Hier warnt er, wie auch an anderen Stellen, vor einem zirkulären Fehlschluss infolge der Erfahrung eines positiven Gefühls der moralischen Zufriedenheit, das auf die Pflichtbefolgung folgt.⁴⁴ Der Fehlschluss besteht darin,

 Parallelstellen findet man in KpV, 5:38, oder auch in KpV, 5:116 f., wo Kant einen „Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)“ (KpV, 5:116) analysiert. Es handle sich gleichsam um eine optische Illusion „in dem Selbstbewußtsein dessen, was man thut, zum Unterschiede dessen, was man empfindet“ (KpV, 5:116). Richtig sei zwar, dass „das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung“ sei: „aber diese Lust, dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist [im Fall der guten Handlung] nicht der Bestim-

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dass man denkt, eine Handlung sei schlechthin gut, weil sie dieses positive moralische Gefühl im Akteur bewirkt. Wer so denkt, der ist nach Kant nämlich auch zu der Auffassung gezwungen, dass eine „moralische Glückseligkeit, die nicht auf empirischen Ursachen beruhte“ (MS, 6:377), der guten Handlung auch motivational als Absicht vorhergehen müsse und dass hierin der Grund für den moralischen Wert der resultierenden Handlung liege.⁴⁵ Auf diese Weise wird das positive, gefühlte Nebenprodukt als Motivationsgrund der guten Handlung gedeutet. Kant lehnt diesen Ansatz aber als ein „sich selbst widersprechendes Unding“ (MS, 6:377) ab. Abschließend grenzt er sich von solchen Vertretern und eindeutig auch von affektivistischen Interpreten ab, indem er die Definition eines moralischen Gefühls in Erinnerung ruft: Die Lust nämlich, welche vor der Befolgung des Gesetzes hervorgehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde, ist pathologisch, und das Verhalten folgt der Naturordnung; diejenige aber, vor welcher das Gesetz hervorgehen muß, damit sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung. (MS, 6:378).

Affektivisten denken aber trotzdem, nämlich aus einem anderen Grund, dass Achtung nicht nur als eine nachgehende Lust verstanden werden darf. Wichtig ist

mungsgrund der Handlung, sondern die Bestimmung des Willens unmittelbar, blos durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls der Lust“ (KpV, 5:116). Aus Gewohnheit verwechseln wir das Verhältnis aber leicht „und nehmen die moralische Triebfeder für sinnlichen Antrieb, wie das allemal in der sogenannten Täuschung der Sinne (hier des innern) zu geschehen pflegt“ (KpV, 5:116 f.). Auch in normativer Hinsicht wirft er dem Vertreter einer materialen Ethik den Hang vor, „sich im Cirkel zu drehen“, weil er „die Sittlichkeit, die er erklären soll, insgeheim vorauszusetzen nicht vermeiden kann“ (GMS, 4:443). All diese Fehlschlüsse lassen sich nur in einer rein formalen Ethik vermeiden, in der eine moralische Zufriedenheit bzw. das moralische Gefühl nur als Nebenprodukt denkbar ist.  Affektivisten lehnen zwar häufig ein solches Verständnis der motivierenden Triebfeder ab und vertreten, dass Achtung zwar zur moralisch-guten Handlung motiviert, aber nicht aufgrund der Erwartung einer Annehmlichkeit dieser Handlung (vgl. z. B. Frierson 2014, 150 ff.). Es lässt sich aber argumentieren, dass Kant mit Blick auf solche der Handlung vorhergehenden Gefühle immer der Auffassung ist, dass sie intentional auf die erwartete Handlung Bezug nehmen müssen und nur darum motivieren können, weil damit die Erwartung einer Annehmlichkeit verbunden ist. Die notwendige intentionale Gerichtetheit betont er in seinen Definitionen einer praktischen Lust oder eines Interesses, weil der Bezug zur Existenz eines vorgestellten Gegenstandes für sie wesentlich ist (vgl. KU §2, 5:204; KpV, 5:9Anm.). Mir ist außerdem keine Stelle bekannt, in der Kant mit Blick auf motivierende, der Handlung vorhergehende Gefühle irgendwelche Unterschiede in der Art der Motivation berücksichtigt. Sie folgen alle demselben Schema, demzufolge die Erwartung einer Annehmlichkeit der Existenz des vorgestellten Handlung oder ihres Gegenstandes zur Hervorbringung, Aufrechterhaltung oder im Fall der Unlust-Gefühle zur Vermeidung der Existenz des Gegenstandes motiviert.

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ihnen zufolge nämlich eine andere Einsicht in die Natur menschlicher Handlungen. Menschliche Akteure müssen ihnen zufolge immer, auch im Fall der moralisch-guten Handlung, emotional betroffen sein, um überhaupt motiviert sein zu können, weil sie keine rein vernünftigen Wesen sind. Daher kritisieren sie, dass die Forderung einer rein vernünftigen, gefühlsunabhängigen Motivation die Natur menschlicher Akteure außer Acht lasse und realitätsfremd sei. Dagegen lässt sich zeigen, dass diese Kritik auf einem Missverständnis beruht.⁴⁶ Wie zu Beginn gesagt, versteht Kant unter moralisch-gutem Handeln eine Art der Selbstüberwindung, die das Prinzip der Selbstliebe, nach dem Menschen naturgemäß handeln, immer schon als Grundlage der moralisch-guten Handlung voraussetzt. Das Grundverständnis moralischen Handelns ist nach dieser Deutung einfach ein anderes, aber keines, das realitätsfremd ist. Im Gegenteil lässt sich sogar zeigen, dass diese Rekonstruktion der Realität menschlichen Handelns sehr nahe steht, weil sie das nicht-moralische Handeln voraussetzt und moralisch-gutes Handeln als negative, einschränkende Intentionalität versteht. Dagegen entwerfen Affektivisten mit der Annahme eines motivierenden Gefühls eine Art moralische Parallelnatur zur sonstigen, nicht-moralischen Natur menschlicher Handlungen. Handlungstheoretisch lassen sich Affektivisten als Monisten charakterisieren, die denken, dass für alle menschlichen Handlungen dieselbe Grundstruktur charakteristisch ist. Alle Handlungen beruhen ihnen zufolge auf affektiven Triebfedern, was meistens, in Anlehnung an Kants Tugendlehre, noch durch die These ergänzt wird, dass alle Handlungen auch einen materialen Zweck haben müssen.⁴⁷ Sie konzipieren die Natur menschlichen Handelns parallel zur Natur nicht-moralischer Handlungen und verteidigen diesen handlungstheoretischen Monismus auf der Grundlage anthropologischer oder handlungspsychologischer Prämissen. Dagegen lässt sich argumentieren, dass ein Dualismus praktischer Gründe und Motive für Kants Konzeption charakteristisch ist. Denn einerseits sind moralische Gründe und Zwecke nach Kant rein formal und negativ. Die Rede von materialen moralischen Zwecken vermeidet Kant daher meistens oder er relativiert sie⁴⁸ und beharrt stattdessen auf seiner Position aus der GMS. In der GMS vertritt er, dass alle Maximen eine Materie haben:

 Vgl. zu dieser Diskussion Teil IV, Kap. 2.  In der Einleitung zur Tugendlehre führt Kant den „Begriff eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist“ (MS, 6:389) ein und unterscheidet zwei solche Zwecke: „Sie sind: Eigene Vollkommenheit – fremde Glückseligkeit“ (MS, 6:385, vgl. MS, 6:391, 393).  Tatsächlich relativiert Kant gelegentlich die Rede von den zwei moralischen Zwecken der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit. In der Religionsschrift betont er, dass

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nämlich einen Zweck, und da sagt die Formel: daß das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse (GMS, 4:436).

Zum einen charakterisiert er also mit Blick auf den Menschen als natürliches Wesen alle Zwecke als relativ und willkürlich. Zum anderen unterscheidet er davon mit Blick auf den Menschen als Zweck an sich selbst eine einschränkende Bedingung aller relativen Zwecke. Dies ist ein erheblicher Unterschied, und ein solcher Unterschied lässt sich auch in dem unterschiedlichen Verständnis der Triebfeder nachweisen. Zum einen versteht Kant unter Triebfedern nämlich der Handlung vorhergehende Gefühle der Lust und Unlust. Zum anderen gibt es moralische Triebfedern, die davon sehr verschieden sind. Denn hierbei handelt es sich entweder motivational um die reine praktische Vernunft oder epistemisch um ein Gefühl, das nur als ein Nebenprodukt der Willensbestimmung auftreten kann. Die Natur moralischen Handelns lässt sich also nicht parallel zum nicht-moralischen Handeln, sondern stattdessen in Abgrenzung von der natürlichen Struktur nicht-moralischen Handelns rekonstruieren. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass die motivierende moralische Triebfeder sowie der Zweck moralischen Handelns rein negativ als eine einschränkende Kraft oder Bedingung verstanden werden. Das bedeutet aber nicht, dass die schlechthin gute Handlung von der Natur menschlichen Handelns ganz losgelöst wäre. Im Gegenteil bilden die materialen Zwecke und Triebfedern nichtmoralischen Handelns immer die unhintergehbare Grundlage moralisch-praktischer Reflexion. Die moralisch-gute Handlung lässt sich also niemals parallel zur nicht-moralischen Handlung, sondern immer nur als eine Reflexion auf dieselbe und somit als eine Art Handlung zweiter Stufe verstehen. Dieses Grundverständnis von Moralität als Selbstreflexion oder Selbstüberwindung bestätigt Kant, indem er die Ansprüche der Selbstliebe als „die ersten und ursprünglichen“ (KpV, 5:74) Ansprüche eines menschlichen Akteurs charakterisiert. Die moralische Bestimmung als Zweck an sich selbst kennzeichnet er hingegen als „seine zweite und höchste Bestimmung“ (KpV, 5:87). Demnach steht die Rangfolge der beiden Bestimmungen, die den Menschen als sinnlich-vernünftiges Wesen charakterisieren, fest, und zwar derart, dass die moralischhöchste Bestimmung die zweite ist, die reflexiv auf die ursprüngliche Selbstliebe als die erste Bestimmung des Menschen aufbaut. Auch die Rede von einer moralischen Selbstüberwindung darf demnach nicht so verstanden werden, als könne der Mensch seine ursprüngliche Selbstliebe auch die Beförderung der Glückseligkeit anderer, so wie alle anderen Zwecke, „jederzeit nur bedingter Weise gut“ (RGV, 6:3 f.Anm.) sein können.

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darin vollständig überwinden. Er kann nur ihren gesetzmäßigen Geltungsanspruch überwinden, und zwar immer wieder aufs Neue, indem er seinen Hang, sie zum Gesetz zu machen, auf die Bedingung der moralischen Allgemeingültigkeit seiner nicht-moralischen Maximen einschränkt. Daher ist das Gefühl der Achtung auch dann, wenn tatsächlich aus Pflicht gehandelt wird, immer auch durch einen negativen Gefühlsaspekt der Demütigung charakterisiert. Denn „Achtung fürs Gesetz“ sei immer zugleich auch „Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung“ (KpV, 5:128). Mit anderen Worten ist die Selbstliebe also keine temporäre, sondern eine kontinuierliche Grundlage der moralisch-praktischen Reflexion. Dieses Grundverständnis von Kants Moralauffassung hat gegen den ursprünglichen Verdacht den Vorteil, dass es auch der nicht-moralischen Natur menschlichen Handelns und somit der Endlichkeit und den nicht-idealen Bedingungen, unter denen menschliche Akteure handeln, auf besondere Weise Rechnung trägt. Die unbegrenzten Möglichkeiten, die dem Menschen durch seine höchste moralische Bestimmung offen stehen, kann er nach diesem Handlungsmodell nämlich immer nur im Rahmen der nicht-idealen Möglichkeiten seiner Biografie und Neigungen entfalten. Daher dient Achtung fürs Gesetz als besonderes Gefühl seiner Art auch als Mahnung für Philosophen, die dem Menschen aufgrund seiner moralischen Bestimmung eine göttliche oder vollkommene Perspektive unterstellen. Menschen sind keine göttlichen Wesen, obwohl sie, wie wohl Gott, vernunftbegabt sind. Sie können hingegen als menschliche Wesen im Rahmen ihrer nicht-idealen Bestimmung Achtung gegeneinander bezeugen, indem sie sich umwillen der eigenen Vernunftbegabung und der Vernunftbegabung anderer Subjekte stetig selbst überwinden.

2 Moralische Bestimmungsgründe Kant deutet an einigen Stellen an, dass das Gefühl der Achtung ein moralischer Bestimmungsgrund des Willens ist. Allerdings sind diese Stellen mehrdeutig, wie einleitend gezeigt wird (1). Zur Auflösung dieser Schwierigkeit ist eine Differenzierung zwischen verschiedenen Bedeutungen von objektiven und subjektiven Bestimmungsgründen notwendig (2). Mithilfe dieser Differenzierung wird eine Übersicht entworfen, in der sich die Kontroverse um die moralische Triebfeder, die zwischen Intellektualisten und Affektivisten ausgetragen wird,verdeutlichen lässt (3). Auch diese Differenzierung ist aber noch nicht ausreichend, um das Gefühl der Achtung als besonderen moralischen Bestimmungsgrund zu verstehen. Mit Blick auf den objektiven Bestimmungsgrund wird außerdem zwischen einem Seinsgrund und einem Erkenntnisgrund unterschieden (4). Diese Differenzierung

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muss auch auf das Gefühl der Achtung angewendet werden. Der Vorschlag lautet, dass zwischen einer kausal-motivierenden und einer epistemisch-evaluierenden Funktion des Gefühls unterschieden werden muss. Auf diese Weise lässt sich das Gefühl der Achtung zugleich als ein Bestimmungsgrund und als ein Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung deuten (5). Um diese eigentümliche Stellung und Funktion präzise zum Ausdruck zu bringen, hätte Kant besser einheitlich eine Handlung aus Pflicht als eine solche charakterisiert, die mit Achtung vollzogen wird statt aus Achtung (6).

2.1 Kants mehrdeutige Charakterisierung der Achtung Im Horizont dieses Kapitels steht erneut die These, dass es in Kants Ethik eine nicht-motivierende moralische Triebfeder gibt. Diese These findet man in der Literatur nur selten in aller Deutlichkeit. Eine Ausnahme bildet Béatrice Longuenesse, die sie in I, Me, Mine (2017) im Rahmen einer Anmerkung formuliert. Dort verteidigt sie die Auffassung, dass das Gefühl der Achtung in Kants Ethik keine motivierende Funktion erfülle, in Auseinandersetzung mit dem Hinweis von Allen W.Wood, dass Kant in der KpV doch aber sage, dass Achtung die moralische Triebfeder sei. Ihre Interpretation lautet: Only respect is a properly moral feeling, and thus only it is a moral incentive. But this is because respect is ‘effected only by reason (lediglich durch die Vernunft bewirkt)’ (Pract. Reason, AA 5, 76. Cf. Groundwork, AA4, 31n). […] Thus, if respect is an incentive, it is one only insofar as it is, itself, the effect rather than the cause of the moral law‘s influence on us. (Longuenesse 2017, 228Anm.8).

In diesen wenigen Zeilen formuliert sie die erstaunliche These, dass es eine Triebfeder geben soll, die uns nicht irgendwie ursächlich motiviert, sondern als Wirkung auftritt. Diese These, dass Achtung eine bloße Wirkung und eine Triebfeder sei, unterscheidet sie von Intellektualisten, die verneinen, dass ein Gefühl die Triebfeder sein kann, und von Affektivisten, die unter der Triebfeder, wie gewöhnlich, eine ursächliche Motivation verstehen. Longuenesse hingegen spricht in einem anderen Sinne von einer Triebfeder, wenn sie das Gefühl der Achtung damit identifiziert. Diese moralische Triebfeder soll sich von anderen subjektiven Bestimmungsgründen darin unterscheiden, dass sie gerade keine motivierende Funktion erfüllt. Dies ist ein besonderer Bestimmungsgrund, der im Folgenden ausgehend von Kants abstrakten Thesen über moralische Bestimmungsgründe präzisiert werden soll. Wenn Kant das Gefühl der Achtung charakterisiert, dann häufig auf eine dichte, abstrakte und mehrdeutige Weise. Das Fachvokabular dient ihm zur Be-

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schreibung idealisierter (allgemeiner mentaler) Sachverhalte, es ist aber gerade darum manchmal auch unpräzise, wenn man sich fragt, welcher partikulare Sachverhalt eigentlich beschrieben wird. Diese Dichte und Vagheit wird, aus guten pragmatischen Gründen, häufig in den Forschungsbeiträgen fortgesetzt, denn nicht alle Begriffsdifferenzierungen sind immer relevant und hilfreich, vor allem dann nicht, wenn man allgemeine Merkmale bestimmen möchte und hierzu von allen Einzelheiten abstrahiert, wie es Kant und die meisten Kantianer hauptsächlich tun. Kant stellt insbesondere zwei Merkmale des Gefühls der Achtung immer wieder als zentral heraus. Zum einen betont er, dass das Gefühl der Achtung den moralisch-guten Willen subjektiv „bestimmen“ muss (vgl. GMS, 4:400), zum anderen soll es sich um eine Wirkung der „Bestimmung des Willens durchs Gesetz“ (GMS, 4:401Anm.) handeln. Repräsentativ lassen sich die zwei genannten Stellen aus dem ersten Abschnitt der GMS anführen, in denen Kant, wie auch in Parallelstellen aus Folgewerken, dieselben mehrdeutigen Ausdrücke wie „Wille“, „bestimmen“ und „subjektiv“ verwendet, um Achtung zu charakterisieren. Die erste Stelle folgt auf die von Kant sogenannte dritte Folgerung, die lautet: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 4:400), die er anschließend mit anderen Worten erläutert: Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten. (GMS, 4:400 f., m.H.).⁴⁹

In dieser Stelle spricht Kant nicht von der Vorstellung der Pflicht, sondern von einer Handlung aus Pflicht, und die subjektiven Gründe sind nicht unbedingt subjektiv in dem Sinne, dass es sich um Gefühle handelt, sondern in dem Sinne, dass sie den Willen dazu bestimmen, tatsächlich zu handeln. Diese exekutiven Bestimmungsgründe, die insofern subjektiv den Willen bestimmen, sind im Fall einer Handlung aus Pflicht nach Kant erstens Achtung fürs Gesetz und auch, wie er mit dem „mithin“ hinzufügt, die Maxime, das Gesetz zu befolgen. Auch in der KpV ist nach Kant die „Triebfeder (elater animi)“ der „subjektive Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV, 5:72). Die subjektiven Bestimmungsgründe einer mo-

 Parallelstelle: „Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung objectiv Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber subjectiv Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe.“ (KpV, 5:81).

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ralisch-guten Handlung identifiziert er mit der „Maxime eines reinen Willens“ (KpV, 5:74) und mit „Achtung fürs Gesetz“ (KpV, 5:78). Konträr zu diesem charakteristischen Merkmal, dass Achtung Triebfeder oder subjektiver Bestimmungsgrund des Willens sein soll, beschreibt Kant, wie gesehen, das Gefühl der Achtung in der Fußnote der GMS stattdessen als Wirkung einer Willensbestimmung: Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird. (GMS, 4:401Anm., m.H.).⁵⁰

In dieser Beschreibung kommt die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke „Bestimmung“, „Wille“ und „Subjekt“ (subjektiv) zu ihrer vollen Geltung, sodass die Thesen, Achtung sei eine „Wirkung des Gesetzes aufs Subject“ und die „unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz“ sowie das „Bewusstsein derselben“ (GMS, 4:401Anm.) unterschiedlich verstanden werden können. Mit der Ausdeutung dieser Stellen ändert sich dann aber auch das Verständnis der These aus dem Haupttext, dass Achtung den Willen subjektiv bestimmt. Wenn Kant in der Fußnote von der „Wirkung des Gesetzes aufs Subject“ spricht, dann kann mit dem Subjekt hier speziell das fühlende Subjekt oder allgemein das partikulare Subjekt oder aber das transzendental-ideale Subjekt gemeint sein. Wenn von der „Bestimmung des Willens“ die Rede ist, dann kann das bedeuten, dass der Wille genötigt wird oder dass er tatsächlich zum Handeln bestimmt wird oder beides. Auch der Ausdruck „Bestimmung“ oder „bestimmen“ lässt diese Möglichkeit offen, weil entweder eine formale (normative) oder eine kausale Bestimmung gemeint sein kann. Ebenso ist auch die andere charakteristische These aus dem Haupttext mehrdeutig, dass das Gefühl der Achtung subjektiv den Willen bestimmt, weil „bestimmen“ hier in kausaler oder in epistemischer Bedeutung verstanden werden kann und unklar ist, ob „subjektiv“ immer auch als Anspielung auf ein Gefühl verstanden werden muss. Aufgrund der Mehrdeutigkeit möchte ich einen Schritt von Kant zurücktreten und vorerst Differenzierungen aus der Literatur zusammentragen. Daraus wird hervorgehen, dass ein subjektiver Bestimmungsgrund geltungstheoretisch oder ontologisch subjektiv sein kann. Im weiteren Verlauf wird dann gezeigt, dass zum Verständnis des Gefühls der Achtung noch eine weitere Unterscheidung notwendig ist, die dessen Funktion betrifft. Letztlich kann das Gefühl der Achtung

 Die These aus dem Folgesatz, dass Achtung eine Wirkung sei oder auf die Willensbestimmung folge, vertritt Kant auch noch an anderen Stellen (vgl. GMS, 4:401Anm.; KpV, 5:73, 75, 76, 79; MS, 6:399).

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nämlich keine kausal-motivierende, sondern nur eine epistemisch-evaluierende Funktion erfüllen.

2.2 Begriffsklärung: „subjektiv/objektiv“ Für ein Verständnis der moralischen Bestimmungsgründe sollte man zuerst verstanden haben, dass sich Kant unter moralischer Autonomie ein besonderes praktisches Selbstverhältnis vorstellt. Unter Autonomie (‚Selbstgesetzgebung‘) versteht Kant eine reine praktische Selbstbestimmung, nämlich „die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist“ (GMS, 4:440).⁵¹ „Wille“ bezeichnet in Kants Sprachgebrauch, wie Christoph Horn bemerkt, nicht einen einzelnen Akt der willentlichen Entscheidung, sondern ein allgemeines Strebensoder Begehrungsvermögen,⁵² das Kant auch mit der praktischen Vernunft identifiziert.⁵³ Moralität kann, weil sie universell gültig ist, nach Kant nur diesem Vermögen der Vernunft entspringen, weil die Vernunft ein Vermögen für das Allgemeine ist, das notwendige Wahrheiten bestimmen kann.⁵⁴ Die universelle

 Diese Selbstbestimmung entspricht einer praktischen Erkenntnis, wie Engstrom in The Form of Practical Knowledge (2009) betont: „As practical self-determination, practical knowledge constitutes a relation of the subject to itself that is not found in theoretical knowledge, a relation in which the subject makes itself its own object.“ (Engstrom 2009, 122) „These formal characteristics of practical knowledge – universality, self-relation, and their combination in universal selfrelation, or self-related universality – are all recognizable as such solely in the self-consciousness of practical judgment“ (Engstrom 2009, 124).  „Gemeint scheint bei Kant hingegen der Wille als Begehrungsvermögen (c), das heißt als eine zielgerichtete Tendenz, als Strebensausrichtung bzw. als Orientierung auf ein Objekt. Der Wille wird dabei zugleich als Zielausrichtung wie als die verursachende Größe solcher Entscheidungen und Handlungen gedacht, die der Erlangung oder Realisierung des erstrebten Objekts dienen.“ (Horn 2002, 50). Diese Bedeutung (c) unterscheidet Horn von zwei anderen Willenskonzeptionen: „(a) der Wille im Sinn eines Entscheidungsvermögens, (b) der Wille im Sinn einer Strebensenergie oder eines Kraftpotentials“ (Horn 2002, 49 f.). Auch Höwing weist darauf hin, dass Kant das Begehrungsvermögen im Unterschied zu den Schulphilosophen nicht als Kraftpotential versteht. Denn das Begehrungsvermögen sei dadurch ausgezeichnet, dass die Vorstellung eines Gegenstandes zur erfolgreichen Realisierung des Gegenstandes führe, wie die Definition des Begehrungsvermögens nahelege, die lautet: „Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (MS, 6:211; vgl. Höwing 2013b, 27 und 47).  Vgl. GMS, 4:412.  „Reason in general is characterized throughout Kant‘s philosophy as precisely that faculty which determines (in E[pistemic], F[ormal], C[ausal], and N[ormative] senses) all strictly neces-

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Notwendigkeit des Moralgesetzes muss daher in einem reflexiven Verhältnis des Vermögens begründet liegen.⁵⁵ Typisch ist, dass Kant von Autonomie, aber auch von Würde, Zweck an sich, Gefühlen und anderen Konzepten, in zwei verschiedenen Hinsichten spricht, je nachdem ob er das Vermögen oder dessen Realisierung thematisiert.⁵⁶ Entsprechend unterscheidet Oliver Sensen „two stages: an initial and a realized one“ (Sensen 2011, 168). Über das allgemeine, ursprüngliche Vermögen, die „Autonomie des Willens“ (GMS, 4:446), wie es in der ersten Überschrift heißt, versteht Kant zu Beginn des dritten Abschnitts der GMS „die Freiheit des Willens“ (GMS, 4:446 f.) und darunter eben auch, weil der Wille das Vermögen der praktischen Vernunft ist, „die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ (GMS, 4:447).⁵⁷ In der KpV beschreibt er das allgemeine Vermögen der Freiheit und das moralische Gesetz als Wechselbegriffe, die also koextensiv sind:⁵⁸ „Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können“ (KpV, 5:33). Das Vermögen zur Autonomie ist also eine formale Bedingung der universal gültigen Selbstgesetzgebung. Dies ist die Bedeutung von Autonomie als Vermögen, die nach Kant jedem vernünftigen Wesen Würde verleiht. Mit Blick auf die Realisierung dieses Vermögens lässt sich aber auch vernünftigen Wesen, unter der Voraussetzung, dass sie eine sinnliche Natur haben, in einer anderen Bedeutung Würde absprechen, insofern Autonomie in

sary truths, and hence it only makes sense to say that the practical necessities of morality must be sought within the faculty of practical reason, what Kant also calls Wille.“ (Ameriks 2018, 183 f.).  Ich folge O’Neill in ihrer Beschreibung: „A better reading of Kant‘s conception of autonomy, in my view, is to see the self in self-legislation simply as a reflexive term. Self-legislation is legislation that does not refer to or derive from anything else; it is non-derivative legislation. […] He can and does insist on the equivalence of the universalization and autonomy, and it is on this assumption that he embarks on a vindication of practical reason.“ (O’Neill 2002, 86).  Auch wenn Kant von dem Gefühl der Achtung spricht, dann meint er häufig nicht einen aktualen Gefühlszustand, sondern eine Fähigkeit oder Naturanlage (vgl. KpV, 5:80, MS, 6:399, und KU, 5:265). Genau genommen erscheint es sinnvoll, von einer Dreiteilung auszugehen, wie sie Lee in Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der Kantischen Ethik (1987) vorschlägt: „Der Ausdruck ‚Gefühl‘ wird gemeinhin für drei Ebenen verwandt: Zunächst bezieht er sich auf die emotionale Naturanlage zum Fühlen […] Auf dieser Basis darf man von dem Gefühl im Sinne einer habituellen Eigenschaft sprechen, die durch Ausübung und Kultivierung erworben wird. Aus dieser Eigenschaft ergeben sich gewisse Gefühlszustände“ (Lee 1987, 184).  Dieses ursprüngliche Vermögen lässt sich auch als metaphysische Bedeutung des Selbst von seiner normativen Bedeutung unterscheiden (vgl. Sensen 2013a, 262 f.).  „Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe“ (GMS, 4:450). Vgl. Engstrom 1988, 437.

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dieser Bedeutung nicht immer unter allen Umständen, vielleicht sogar niemals wirklich, realisiert wird.⁵⁹ Horn klärt in seinem Artikel über „Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermögen (§§ 1– 3, 19 – 26)“ (2002) darüber auf, was nach Kant allgemein unter einer Willensbestimmung und speziell unter einer autonomen Willensbestimmung zu verstehen sei. Er betont, dass der Ausdruck „Willensbestimmung“ vage sei, dass es sich nicht „um einen terminus technicus der traditionellen Philosophie handelt“ (Horn 2002, 44), und er bemängelt die seltenen Erklärungsversuche.⁶⁰ Unter „Wille“ verstehe Kant ein allgemeines Strebensvermögen oder Begehrungsvermögen, das bestimmt werde, sodass der Term „Bestimmung des Willens“ als genitivus objectivus verstanden wird, da nicht der Wille bestimme, sondern durch etwas, nämlich das Gesetz, bestimmt werde.⁶¹ Zudem weist er auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Verbs „bestimmen“ hin – „darunter im Sinne von messen, gebieten, festlegen, definieren, abgrenzen, die Beschaffenheit von etwas beschreiben und etwas einer Kategorie zuordnen“ (Horn 2002, 44) – und unterteilt sie in zwei Gruppen: „Man kann ‚bestimmen‘ einerseits aus einer Beobachtungsperspektive verwenden wie in den Formeln ‚den Kohlendioxidgehalt der Luft bestimmen‘ und ‚das Prädikat eines lateinischen Satzes bestimmen‘ und andererseits aus einer Gebotsperspektive wie in den Wendungen ‚jemanden im Testament als Erben bestimmen‘ oder ‚vom Schicksal zu etwas Höherem bestimmt sein‘“ (Horn 2002, 44). Horn zufolge hat Kant in der Regel die zweite Bedeutung im Sinn: „Den Willen zu bestimmen meint, ihn auf etwas festzulegen (determinare), es heißt nicht, seine Beschaffenheit zu beschreiben oder zu klassifizieren (describere)“ (Horn 2002, 44). Diesen normativen Aspekt der Bestimmung des Willens hebt Horn immer wieder hervor. Er weist allerdings darauf hin, dass auch die zweite Bedeutung bei Kant Verwendung findet, wenn bei der „Reinheit“ des Willens „an den fraglichen Stellen eindeutig nicht an ein moralisches, sondern an ein deskriptives Prädikat gedacht ist (vgl. 30 – 34, GMS IV:390, 453 f.)“ (Horn 2002,

 „On a first level all human beings are uplifted over the rest of nature in virtue of being free […]. But only if one makes proper use of one‘s freedom does one in fact lift oneself over the rest of nature.“ (Sensen 2011, 168).  Eine Ausnahme stelle ein Erklärungsansatz von Beck dar, der in seinem Commentary schreibt: „What is general determination of the will? The word Bestimmung is one of Kant‘s favorite words, and he overuses it. […] Here it seems to have the following meanings: [1] a determining cause of an action, in which sense it means ‘motive’ (Bestimmungsgrund), [2] and a decision that is taken, by virtue of which the will is not indefinite volition but a specific or determinate volition with a specific direction and goal.“ (Beck 1960, 78). Die erste Beschreibung ist Horn zufolge unzureichend, weil sie nur auf den subjektiven Bestimmungsgrund zutrifft; die zweite sei hingegen zu knapp (vgl. Horn 2002, 44Anm.1).  Vgl. Horn 2002, 44 f.

2 Moralische Bestimmungsgründe

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48).⁶² Der reine Wille sei derjenige, der lediglich durch die Vorstellung des Moralgesetzes bestimmt sei. Die Reinheit des Willens repräsentiert somit die Realisierung des normativen Vermögens. Das Vermögen zur reinen Selbstbestimmung realisiert sich in verschiedenen Hinsichten: in der Selbstverpflichtung, in einem universalen Gefühl und in der Gesinnung einer Handlung aus Pflicht. In GMS II beschreibt Kant vorrangig die normative Selbstbestimmung des Willens und den Kategorischen Imperativ, der als „Princip“ der Autonomie auch „Autonomie gebiete“ (GMS, 4:440). Wenn der Mensch sein Vermögen zur Autonomie realisiert, indem sich der Wille der Pflicht unterwirft, dann muss er sich zugleich immer auch als Gesetzgeber und somit als aktual autonom betrachten: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.“ (GMS, 4:431). Stephen Engstrom analysiert diese Realisierung der Selbstgesetzgebung als Übergang von einer objektiv universalen Gültigkeit zu einer subjektiv universalen Gültigkeit. Betrachtet man sich selbst als Urheber, dann kommt dem Gesetz eine objektiv universale Gültigkeit zu. Das Gesetz sei hingegen subjektiv universal gültig, insofern man sich ihm unterwirft, da unter gewissen subjektiven Bedingungen auch jedes andere Subjekt unter diesen Bedingungen die universale Gültigkeit des Gesetzes anerkennen würde, wie Engstrom erläutert.⁶³ Weil sich die reine praktische Vernunft im Menschen immer unter kontingenten, aber auch unter universalen subjektiven Bedingungen der menschlichen Natur verwirklicht, ist jede Realisierung von Autonomie in bestimmter Hinsicht nur noch Autonomie, die subjektiv gültig ist, weil sie im partikularen Subjekt stattfinden muss. An anderer Stelle unterscheidet Engstrom daher auch zwischen „‚objective autonomy‘ and ‚subjective autonomy‘“ (Engstrom 1988, 439). Auch Ameriks weist mehrfach auf die verschiedenen Bedeutungen von „Selbstbestimmung“ hin. Er unterscheidet eine allgemeine – formale oder nor-

 „Ein solcher reiner Wille ist unterstellt, wenn Kant gelegentlich den Willen kurzerhand mit der praktischen Vernunft gleichsetzt (GMS IV 412; 441; 448 f.; V 55; MS VI 226 u. ö.)“ (Horn 2002, 48).  „[S]ubjective and objective universal validity perfectly mirror one another. A judgment by a particular subject has subjective universal validity in that any subject that can grasp its concept would, if in the conditions of the judging subject, share the same judgment (the same predicate, so to speak) and so be in agreement with the judging subject. A judgment about a particular object has objective universal validity in that any object to which its concept can be applied would, if in the conditions of the object judged, share the same predicate and so be in agreement with the judgment’s object.“ (Engstrom 2009, 116).

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mative – von einer partikularen – kausalen oder epistemischen – Bedeutung.⁶⁴ Eine kausale oder epistemische Willensbestimmung ist ihm zufolge immer an ein partikulares Subjekt gebunden, das fühlt, handelt, wertschätzt, etwas erkennt oder anerkennt, wohingegen das Vermögen zur allgemeinen Gesetzgebung dem allgemeinen Subjekt zukommt, dem Willen oder der reinen praktischen Vernunft. Noch tiefgründiger rührt eine andere allgemein-metaphysische Unterscheidung an die Komplexität der Selbstbestimmung, nämlich die Unterscheidung zwischen Spontaneität und Rezeptivität. In einem frühen Aufsatz „Kant on Spontaneity“ (1991) schlägt Ameriks vor, dass es sich hierbei um die zwei wesentlichen Momente jeder Selbstbestimmung handeln könnte und empfiehlt daher „to generate a general Kantian theory of the relation of spontaneity and receptivity“ (Ameriks 1991, 479). Dieter Henrich analysiert die Tiefenstruktur sittlicher Einsicht in einer ähnlichen Weise als Beziehung zweier Momente „zwischen Anspruch und Zustimmung“ (Henrich 1973, 229), insofern es sich auch hierbei um ein eher aktives und ein passives Moment handelt. Das Moment der Zustimmung wird daher, wie das Moment der Rezeptivität bei Ameriks, mit dem Gefühl in Verbindung gebracht, das insbesondere dann beteiligt sei, wenn sich die Willensbestimmung wie beim Menschen unter der Voraussetzung einer konstanten „Entleerung des Guten“ (Henrich 1973, 231) durch die sinnliche Natur des Menschen vollziehe. Henrichs Hauptthese lautet jedoch, dass diese „Momente von Anspruch und Zustimmung den Sinn des Guten konstituieren“ und darum „die Beziehung des Bewußtseins zu seinem Akt in der sittlichen Einsicht eine andere als im theoretischen Wissen“ (Henrich 1973, 229) sei. Seine Interpretation hebt also speziell den besonderen praktischen Charakter der Zustimmung hervor, der einerseits auf eine „Passivität“ (Henrich 1973, 229) hinweist, die andererseits aber als „spontane Leistung des Selbst“ (Henrich 1973, 230) verstanden wird.⁶⁵

 „Here, however, one must distinguish between reason‘s general normative (N and F) determination of the standing of a practical law, and the cognitive and appreciative acts in which a particular reasoning subject determines itself, through reason in a concrete E and C sense, to be committed to a maxim in a way that takes an actual stance on the law.“ (Ameriks 2018, 185). In „Pure reason of itself alone suffices to determine the will“ (2003) unterscheidet er die formale von einer wirksamen Bestimmung: „This ‚determination‘ has at least two aspects – formal and efficient – that need to be kept distinct, even though they are closely related.“ (Ameriks 2003, 252). Der formale Aspekt der Autonomie bestimme den rein formalen Inhalt von Moralität, aber nicht „the ultimate causes or actual effects of our intentions“ (Ameriks 2003, 252).  Das theoretische Ich sei „außerstande, einen Akt der Einstimmung zu vollziehen“ (Henrich 1973, 230). Über das praktische Selbst lasse sich hingegen sagen, dass es sich in der Zustimmung „als Selbst allererst konstituiert“ (Henrich 1973, 230). Zum anderen vertritt er, „daß man den Begriff des Guten nicht definieren kann, ohne ein Bedeutungselement in ihn aufzunehmen, das

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Alle diese vier Vorschläge verdeutlichen, dass es sich bei der moralischen Selbstbestimmung um einen selbstreflexiven Akt handelt, in dem sich auf komplexe Weise zwischen einer allgemeinen und einer partikularen Bedeutung unterscheiden lässt: Allgemeine Bedeutung

Partikulare Bedeutung

Vermögen zur Autonomie Objektive Autonomie Spontaneität Anspruch

Realisierung von Autonomie (Sensen) Subjektive Autonomie (Engstrom) Rezeptivität (Ameriks) Zustimmung (Henrich)

Komplex ist diese Angelegenheit, weil sich das Vermögen zur Autonomie schrittweise und in verschiedenen Hinsichten zu einer partikularen Handlung des fühlenden Subjekts realisiert. Die verschiedenen Hinsichten der Realisierung lassen sich alle als Übergang von einem objektiven zu einem subjektiven Aspekt der Selbstbestimmung beschreiben, wobei die Ausdrücke „objektiv“ und „subjektiv“ dann allerdings mehrdeutig sind. Daher kann hier in diesem Kontext auch der Vorschlag von Engstrom nicht helfen, denn er gebraucht „the phrases ‚objective autonomy‘ and ‚subjective autonomy‘ to express respectively the wide and narrow notions of autonomy“ (Engstrom 1988, 439). Wenn Kant die moralische Willensbestimmung als „subjektive“ charakterisiert, dann ist das für den Kontext hier nicht genau genug, weil unklar ist, ob damit die Bestimmung der Willkür oder die Bestimmung des Gefühls gemeint ist. Im Folgenden möchte ich insbesondere diese zwei Bedeutungen von „subjektiv“ unterscheiden. Beschreibt Kant die Bestimmung der Willkür als subjektiv, dann handelt es sich um eine Beschreibung der Sinn- oder Bedeutungsebene von moralischen Bestimmungsgründen. Auf dieser Ebene lässt sich die allgemeine (formale oder normative) Willensbestimmung als eine objektive Willensbestimmung beschreiben, da sie objektiv für alle Subjekte unter allen Umständen gilt. Im Kontrast zu dieser geltungstheoretischen Verwendung der Ausdrücke „subjektiv/objektiv“ verwendet Kant den Ausdruck „subjektiv“ aber andererseits auch dazu, um etwas der bloßen Existenz nach als subjektiv zu charakterisieren. Auf dieser Seinsebene beschreibt er das Gefühl im Unterschied zur Vernunft als eine subjektive Entität.

auf eine Passivität des sittlichen Bewußtseins im Vollzug des Guten hinweist“ (Henrich 1973, 229), weil man keine theoretische Distanz zum Guten einnehmen könne, sodass auch die Zustimmung von einem Reflexionsprozess unabhängig sei. Ohne die Zustimmung könne es zwar keine Erkenntnis geben und das Gute nicht sichtbar werden, aber das Gute sei trotzdem nicht durch die Zustimmung gut (vgl. Henrich 1973, 228).

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Teil I: These

Diese ontologische Verwendung des Ausdrucks „subjektiv“ lässt sich von seiner geltungstheoretischen Verwendung unterscheiden. Denn was auf der Sinn- oder Bedeutungsebene geltungstheoretisch subjektiv ist, muss darum nicht auch zugleich seiner bloßen Existenz nach auf der Seinsebene etwas Subjektives, nämlich ein Gefühl sein. Ein Beispiel hierfür ist die Maxime, die nur geltungstheoretisch subjektiv, aber kein Gefühl ist. Nach einer kurzen Erläuterung werde ich diese beiden Hinsichten der moralischen Selbstbestimmung in einer Übersicht miteinander kombinieren. Auf der Sinn- oder Bedeutungsebene betrifft der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Bestimmungsgründen ihre Geltung. Das klassische Beispiel für diesen Unterschied besteht darin, dass alle Menschen zwar immer moralisch handeln sollen, aber darum nicht immer auch alle tatsächlich so handeln, wie sie sollen. Aufgrund der Endlichkeit und sinnlichen Natur des Menschen besteht eine Kluft zwischen der objektiven, normativen Selbstverpflichtung und der subjektiven Selbstbestimmung des Willens zur Handlung aus Pflicht.⁶⁶ Objektiv gebietet der moralische Bestimmungsgrund eine Handlung, und dieses Gebot gilt unbedingt für alle vernünftigen Wesen unter allen Umständen. Es handelt sich also um einen Bestimmungsgrund, der objektiv gilt. Die tatsächliche Pflichtbefolgung gilt hingegen nur subjektiv, nämlich nur für einige wenige Menschen, deren Maxime dem Gesetz der Vernunft entspricht. Die Maxime ist somit ein Bestimmungsgrund des Willens, der im Gegensatz zum Gesetz nur eine subjektive Geltung hat. Diesen Bedeutungsunterschied zwischen dem Gesetz und einer Maxime erläutert Kant in der GMS, indem er die Unterscheidung „subjektiv/ objektiv“ verwendet: Maxime ist das subjective Princip zu handeln und muß vom objectiven Princip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene […] ist also der Grundsatz, nach welchem das Subject handelt; das Gesetz aber ist das objective Princip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d.i. ein Imperativ (GMS, 4:420 f.Anm.).⁶⁷

 Vgl. z. B. GMS, 4:397, 414, 453 f., KpV, 5:20, 81 f., MS, 6:218.  Praktische Grundsätze „sind subjectiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjects gültig von ihm angesehen wird; objectiv aber oder praktische Gesetze, wenn jene als objectiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird.“ (KpV, 5:19). Maximen bezeichnet Kant daher auch als „subjectiv-praktische Principien“ (KpV, 5:27) oder als „Willensmeinungen des Individuum[s]“ (KpV, 5:66). Diese Unterscheidung zwischen Gesetzen und Maximen „scheint beim ersten Anblicke bloße Wortklauberei zu sein; allein sie ist die Wortbestimmung des allerwichtigsten Unterschiedes, der nur in praktischen Untersuchungen in Betrachtung kommen mag“ (KpV, 5:26).

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Mit anderen Worten realisiert sich im Gesetz die handlungsgebietende, in der Maxime aber die handlungswirksame Kraft der reinen praktischen Vernunft.⁶⁸ In der MS unterscheidet Kant diese beiden Bedeutungen mithilfe der Ausdrücke „Wille“ (gesetzgebendes Vermögen) und „Willkür“ (Vermögen der Maximen) (MS, 6:226). Damit stimmt auch die Unterscheidung zwischen einer legislativen (geltungstheoretisch objektiven) und einer exekutiven (geltungstheoretisch subjektiven) Selbstbestimmung überein.⁶⁹ Wenn wir die moralisch-gute Handlung (exekutiv) ausführen, dann realisiert sich das objektive (legislative) Prinzip der Pflicht in einer (geltungstheoretisch subjektiven) Maxime der Willkür. Die allgemeine Verpflichtung hat eine objektive Bedeutung, wohingegen die Pflichtbefolgung nicht immer unter allen Umständen und somit nur subjektiv gilt: Geltungstheoretische Unterscheidung: Wille: Verpflichtung Willkür: Pflichtbefolgung Diese geltungstheoretische Unterscheidung betrifft die Sinn- oder Bedeutungsebene moralischer Bestimmungsgründe, die entweder subjektiv oder objektiv gelten. Davon lässt sich eine ontologische Beschreibung der Seinsebene von moralischen Bestimmungsgründen unterscheiden. Der bloßen Existenz nach kann ein Bestimmungsgrund entweder der Vernunft oder dem Gefühl zugeordnet werden. Ontologisch subjektiv ist in dieser Hinsicht das Gefühl im Unterschied zur Vernunft. In einem weiten ontologischen Sinne lassen sich nach Kant wohl alle potentiellen Handlungsgründe als subjektiv beschreiben, in dem Sinne, dass sie nicht als empirische Gegenstände in der Welt vorliegen wie der Apfel am Baum. Pflücke ich den Apfel, um ihn zu essen, dann liegen die Bestimmungsgründe dennoch in mir, statt am Baum zu hängen, nämlich in meiner bedürftigen Natur, den Neigungen, in meinem intentionalen Bewusstsein und in meiner Freiheit. Zudem ist der Wille als Handlungsvermögen auch in dem Sinne subjektiv, dass er als ein transzendental-ideales Vermögen vorgestellt wird. Von einem empirischobjektiven Verständnis von Handlungsgründen werde ich daher ganz absehen,

 Vgl. Willaschek 1992, 52.  „Wir haben hier zuerst auf 2 Stücke zu sehn, 1) auf das principium der dijudication der Verbindlichkeit, und 2) auf das principium der Execution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. […] Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das principium der Dijudication, nach welchem ich die Bonitaet und pravitaet der Handlungen beurtheile. Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesem Gesetze gemäß zu leben? So ist das das principium der Triebfeder. Die Billigung der Handlung ist der objective Grund, aber noch nicht der subjective Grund.“ (V-Mo/Collins, 27:274, vgl. V-Mo/Mron II, 29:626).

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Teil I: These

ebenso lasse ich die Freiheit als Grund allen vernünftigen Handelns vorerst unberücksichtigt. In einem engen ontologischen Sinne verwendet Kant den Ausdruck „subjektiv“ aber auch, um Gefühle von der Vernunft abzugrenzen. In dieser ontologischen Bedeutung sind Gefühle ihrer bloßen Existenz nach subjektiv und unterscheiden sich darin von Prinzipien, Regeln und Ideen, die begrifflich-rationale Bestimmungsgründe darstellen:⁷⁰ Ontologische Unterscheidung: Vernunft (z. B. Maxime) Gefühl Die Maxime ist in dieser ontologischen Verwendung, obwohl sie nur subjektiv gilt, ein objektiver Bestimmungsgrund des Willens, weil sie kein Gefühl, sondern eine Regel darstellt und somit dem Wesen nach begrifflich-rational sein muss.⁷¹ Davon lässt sich das Gefühl oder das Wohlgefallen als ästhetisch-reflektiertes Urteil unterscheiden, das ebenfalls nur eine subjektive Gültigkeit haben kann wie eine Maxime, das aber andererseits auch ontologisch subjektiv, nämlich nicht-begrifflich und somit „radically singular“ (Engstrom 2009, 117) ist.⁷² Eine ontologisch subjektive Dimension der moralischen Selbstbestimmung wird von Phänomenologen verteidigt, die im Folgenden noch genauer vorgestellt werden.⁷³ Sie vertreten, dass auch an der praktisch-moralischen Erkenntnis und Willensbestimmung immer ein Gefühl und somit eine wesentlich ästhetische, erst-personale, phänomenale Bestimmung der Vernunft beteiligt sein müsse.⁷⁴

 Subjektiv in einem gefühlsbezogenen Sinne bestimmt uns nach Kant das Gesetz, „so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt und subjectiv in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch afficirten Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt“ (KpV, 5:88). In diesem Sinne versteht Kant auch in der KrV sämtliche Empfindungen, mithin Gefühle, als „subjektive Vorstellung[en]“ (KrV, A166/B207).  Auch Maximen sind Kant zufolge „Praktische Grundsätze“, also „Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat.“ (KpV, 5:19).  „Kant notes that the validity of what he calls aesthetic reflecting judgments—judgments of taste, or of beauty, for instance—has a universality that is subjective only; since these judgments presuppose no concept of their object, no understanding of the kind of thing it is, and hence are radically singular, their validity lacks objective universality even in the implicit sense just noted. Objective universal validity is thus distinctively characteristic of the judgments constituting cognition from concepts.“ (Engstrom 2009, 117). Das Gefühl zeigt „das blos Subjective im Verhältnisse unserer Vorstellung und gar keine Beziehung auf ein Object“ (MS, 6:211) an.  Vgl. Teil II, Kap. 3.1.  Vgl. Grenbergs Kant‘s Defense of Common Moral Experience. A Phenomenological Account (2013) als beispielhafte Verteidigung einer sehr starken Betonung der „attentiveness to felt ex-

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Dabei handelt es sich um eine ontologische Verwirklichung von Autonomie, die den homo phenomenon betrifft, insofern er ein fühlendes Wesen ist. Es lässt sich zusammenfassen: Wenn Kant schreibt, dass Achtung subjektiv den Willen bestimmt, dann kann das bedeuten, dass Achtung die Willkür bestimmt, oder es bedeutet, dass Achtung als Gefühl den Willen oder die Willkür ästhetisch bestimmt. Die beiden Bedeutungspaare – rational/ästhetisch und Wille/Willkür – lassen sich zu einer Übersicht kombinieren, in der vier verschiedene Bestimmungsgründe in Betracht kommen. Die zwei horizontalen Zeilen repräsentieren die geltungstheoretische Unterscheidung zwischen der legislativen und der exekutiven Willensbestimmung; Die vertikale Unterscheidung ist ontologisch und betrifft die Zugehörigkeit zum Vermögen der Vernunft oder des Gefühls: Tab. 1: Moralische Bestimmungsgründe des menschlichen Willens Moralischer Bestimmungsgrund

Wille (Verpflichtung)

Willkür (Pflichtbefolgung)

Vernunft Gefühl

Die vier leeren Felder können entweder mit „Ja“ oder mit „Nein“ belegt werden. Die Frage lautet jeweils, ob es Kant zufolge einen moralischen Bestimmungsgrund des Willens (oder der Willkür) gibt, der dem Vermögen der Vernunft (oder dem Vermögen des Gefühls) angehört.

2.3 Der objektive, vernünftige Bestimmungsgrund In den folgenden Abschnitten soll die Übersicht über moralische Bestimmungsgründe schrittweise im Sinne von Kants Theorie mit den Antworten „Ja“ und „Nein“ belegt werden:

perience“ (Grenberg 2013, 39) in Kants praktischer Philosophie und des Weiteren die Arbeiten von Ware (2014), Schönecker (2013), Ameriks (2010) und Henrich (1973).

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Teil I: These

Tab. 2: Geteilte Ansicht aller Interpreten Moralischer Bestimmungsgrund

Wille (Verpflichtung)

Vernunft

Ja

Willkür (Pflichtbefolgung)

Gefühl

Die erste Frage nach dem Bestimmungsgrund links oben wird von allen Kantianern mit „Ja“ beantwortet werden müssen.⁷⁵ Die Verbindlichkeit moralischer Verpflichtung kann Kant zufolge nur in „unserem formalen obersten Grundsatz der reinen praktischen Vernunft (als einer Autonomie des Willens)“ (KpV, 5:39; vgl. 5:33) liegen. Diesem geltungstheoretisch objektiven Bestimmungsgrund der Vernunft werde ich einige Aufmerksamkeit widmen, bevor ich zur kontroversen Frage nach den subjektiven Bestimmungsgründen übergehe. Kant ist der Auffassung, dass der geltungstheoretisch objektive Bestimmungsgrund nur mit einer reinen gesetzgebenden Form identifiziert werden kann.⁷⁶ Seine Kritik richtet sich gegen empirische und theologische Bestimmungsversuche, weil sie die moralischen Grundsätze, die für jedes Subjekt gelten sollen, außerhalb des Subjekts, in der Erfahrung oder in einem anderen Wesen, suchen.⁷⁷ In der Übersicht wurden solche objektiven Bestimmungsgründe, wie etwa die Erziehung, die Polizei oder die göttliche Vernunft, von vornherein als irrelevant ausgeschlossen und nur noch innerhalb des Subjekts zwischen Bestimmungsgründen der Vernunft und des Gefühls unterschieden.⁷⁸ Aber auch das rationale Prinzip der Vollkommenheit, ein stoisches oder auch hedonistisches Ideal der Glückseligkeit, Prinzipien des eigenen Vorteils und das moralische Gefühl weist Kant zurück, weil sie allesamt „materialen Principien der Sittlich-

 Kant und seine Interpreten sind sich diesbezüglich einig: „Der große Irrtum der Theorien vom moralischen Gefühl ist die Annahme, das Gesetz sei bindend, weil wir Achtung für es empfinden.“ (Paton 1962, 66).  Vgl. KpV, 5:34.  Vgl. V-Mo/Mron II, 29:621; vgl. KpV, 5:41, GMS, 4:441 ff.  „Denn die Bestimmungsgründe eines Begehrungsvermögens sind niemals die Gegenstände selbst, sondern immer Vorstellungen von Gegenständen, und diese liegen als ‚innre Bestimmungen unseres Gemüths‘ (KrV, A197/B242) im begehrenden Subjekt“ (Höwing 2013b, 37). Dass dies Kants Auffassung gewesen ist, vertritt auch Engstrom: „Incentives are carrots or sticks, not the desires and aversions they may trigger. But when Kant speaks of a Triebfeder, he almost always has in mind something in the subject that generates the action, rather than an object or circumstance that prompts it“. (Engstrom 2010, 92). Eine Ausnahme finde man in KU, 5:266, wo Kant das Objekt sinnlichen Begehrens als dessen Triebfeder bezeichne.

2 Moralische Bestimmungsgründe

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keit“ (KpV, 5:39) entsprechen. Im Vergleich zu diesen Prinzipien der Heteronomie kann allein die rein formale Selbstgesetzgebung, das Prinzip der Autonomie, eine allgemeine Verbindlichkeit moralischer Grundsätze begründen. Alle Inhalte der folgenden Übersicht sind Kant zufolge also falsch:⁷⁹ Tab. 3: Materiale Prinzipien der Moral, die Kant ablehnt Moralischer Bestimmungsgrund

objektiv

subjektiv

Außerhalb des Subjekts

Gottes Gesetz

Strafe/Belohnung, Erziehung/ Regierung

Vernunft

Vollkommenheit/ Glückseligkeit

Vorteil/Glückseligkeit

Gefühl

Moralisches Gefühl

Neigungen/Glückseligkeit/ path. Gefühle

Interessant ist, wie Kant das moralische Gefühl als Grundlage der moralischen Verpflichtung zurückweist. Da er unter einem objektiven Bestimmungsgrund entweder einen metaphysischen Seinsgrund (ratio essendi), der die Möglichkeit und das Wesen von etwas begründet, oder einen Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) versteht, argumentiert er einerseits metaphysisch und andererseits erkenntnistheoretisch gegen die moral sense Position. Der Unterschied zwischen einem epistemischen und metaphysischen Bestimmungsgrund lässt sich an einem Feuer veranschaulichen. Der Grund dafür, dass ich das Feuer erkenne, ist zum Beispiel der Rauch, der empor steigt. Das Feuer könnte es aber auch ohne den Rauch geben, den Rauch aber nicht ohne das Feuer, sodass das Feuer hier ratio essendi des Rauches, der Rauch aber ratio cognoscendi des Feuers ist. Ähnlich zweigleisig beschreibt Kant zu Beginn der KpV das Verhältnis zwischen Gesetz und Freiheit, wenn es heißt, dass „die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der

 Diese materialen Prinzipien bildet Kant in einer Übersicht über „Praktische materiale Bestimmungsgründe“ ab (KpV, 5:40), in der er dieselben zwei Unterscheidungskriterien verwendet: „Alle mögliche Bestimmungsgründe des Willens sind nämlich entweder bloß subjectiv und also empirisch, oder auch objectiv und rational; beide aber entweder äußere oder innere.“ (KpV, 5:39). Sehr ausführlich argumentiert Kant jeden einzelnen Vorschlag auch im Abschnitt „Vom Gesetze überhaupt“ in der Vorlesung Mrongovius Moral II (vgl. V-Mo/Mron II 29:619 – 630). Dort unterteilt er die Vorschläge auf dieselbe Weise: „Dieses Princip der Moral hat man gesucht 1. in empirischen 2. in rationalen Ursachen, in subiectiven und obiectiven Begriffen. Die das Princip auf empirischen Gründen bauen, bauen es entweder a) auf innern oder b) auf äußern empirischen Gründen.“ (V-Mo/Mron II, 29:621).

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Teil I: These

Freiheit sei“ (KpV, 5:4Anm.). Ohne Freiheit könnte es demzufolge das Moralgesetz nicht geben, aber wir wissen oder erkennen, dass wir frei sind, wenn wir das Moralgesetz erkennen.⁸⁰ Diese Unterscheidung zwischen einem metaphysischen und einem erkenntnistheoretischen Grund ist auch für die Frage nach den moralischen Bestimmungsgründen des Willens und darüber hinaus, wie ich unten argumentieren werde, auch für die Frage nach dem (ontologisch) subjektiven moralischen Bestimmungsgrund wichtig. Zum Beispiel argumentiert Kant erkenntnistheoretisch und metaphysisch in den ersten zwei Hauptstücken der KpV und in der Mitschrift Moral Mrongovius II dafür, dass das „Princip des Moralischen Gefühls“ als ratio essendi oder ratio cognoscendi der Moral „null und nichtig“ (V-Mo/Mron II, 29:625) sei. Ich beschränke mich hier darauf, exemplarisch ein metaphysisches und ein erkenntnistheoretisches Argument wiederzugeben:⁸¹ Wäre das moralische Gefühl der metaphysische Seinsgrund einer moralischen Verpflichtung, dann hieße das, dass die moralische Verpflichtung ebenfalls Grade zulassen müsste, die sich an der Stärke des zugrunde liegenden Gefühls bemessen. Das aber sei ausgeschlossen, weil moralische Verbindlichkeit für alle gleich und unbedingt gelten müsse.⁸² Ein Beurteilungskriterium, also ein Erkenntnisgrund, könne das moralische Gefühl hingegen deshalb nicht sein, weil es, wie Kant unter anderem vertritt, nicht kommunizierbar ist und daher auch nicht den Anspruch auf Wahrheit und Allgemeinheit begründen kann, der moralische Urteile aber auszeichnet.⁸³

 „Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.“ (KpV, 5:4Anm.).  Einen Überblick über die Argumente gibt Sensen in „Feelings and the Metaphysical Grounding of Morality“ (Sensen 2012, 48 – 51) und „Feelings and the Discovery of Moral Rightness“ (Sensen 2012, 51).  „Aus einem Gefühl einer Empfindung, die bey jedem Geschöpf verschieden sein kann, kann kein allgemein gültiges Gesetz für alle denkende Creaturen hergeleitet werden […] Das Gefühl beim Menschen ist verschieden und das müßte denn auch hier so sein […] Wäre dieß das Princip der Moral, so müßte auch nicht ieder Mensch im gleichen Grade verbindlich seyn, weil nicht ieder gleiches Gefühl hat, sondern dieses im Grade sehr verschieden ist.“ (V-Mo/Mron II, 29:625). Ebenso schließt Kant im ersten Hauptstück der KpV aus, dass der Grund des Moralprinzips ein Gefühl der Lust und Unlust sein könne, „das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet genommen werden kann“ (KpV, 5:26) und „von jedem anderen Bestimmungsgrunde in nichts als dem Grade verschieden sein könne“ (KpV, 5:23).  „[A]ber Criterium des guten kann es [das moralische Gefühl] nicht sein, denn bei iedem ist das Gefühl unterschieden und man kann darüber nicht streiten, weil einer dem andern nicht sein Gefühl communiciren kann. Das Gute aber soll allgemein gelten. Wenn iemand sagt: er fühle die Wahrheit, denn kann ein anderer mit ihm nichts anfangen. Es ist ein Schlupf Winkel der Idioten

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Kant erwägt aber noch eine andere, dritte denkbare Funktion, die das moralische Gefühl, das er hier schon mit der „Achtung fürs Gesetz“ (V-Mo/Mron II, 29:626) identifiziert,⁸⁴ stattdessen in seiner Moralphilosophie erfüllen könnte: „Man könnte das moralische Gefühl noch zulaßen, wenn die Rede wäre von den Triebfedern des Gemüths zur Moral; aber nicht als ein Princip der Beurtheilung der moralischen Handlung“ (V-Mo/Mron II, 29:625). Die dritte Möglichkeit entspricht also der These, dass Achtung als motivationaler Grund zur Moralität beiträgt. Diese Dreiteilung in metaphysische, epistemische und motivationale Gründe wird auch durch die Struktur der Analytik der KpV bestätigt. In der KpV wird das Gesetz in den ersten beiden Hauptstücken der Analytik zum formalen und materialen Bestimmungsgrund erklärt. Als formaler Bestimmungsgrund verlangt es von der Handlung die Form der Allgemeinheit und als materialer Bestimmungsgrund bestimmt es, welche Handlungen als gut oder böse gelten. In der Form der Allgemeinheit des Gesetzes liegt also das Wesen der guten Handlung begründet, wie Kant im ersten Hauptstück zeigt. Außerdem können wir, wie er anschließend im zweiten Hauptstück argumentiert, das Gute durch das Gesetz erkennen. Im dritten Hauptstück will Kant dann zeigen, dass das Gesetz nicht nur der objektive, nämlich formale und materiale, sondern auch der (geltungstheoretisch) subjektive Bestimmungsgrund einer moralisch-guten Handlung ist.⁸⁵ Bei diesem Abschnitt handelt es sich zugleich um die „Ästhetik der reinen praktischen Vernunft“, in der Kant also die Sinnlichkeit behandelt, die im praktischen Kontext „gar nicht als Anschauungsfähigkeit, sondern blos als Gefühl“ (KpV, 5:90) betrachtet werde.⁸⁶ Auch im Kontext dieses dritten Hauptstücks vertritt er die Position, dass das moralische Gefühl der Achtung nur als (geltungstheoretisch) subjektiver Bestimmungsgrund, nämlich als moralische Triebfeder in Frage

zu sagen, daß sie fühlen, daß es wahr ist. Moralitaet muß auf Gründen a priori gebaut sein.“ (VMo/Mron II, 29: 626) Ähnlich argumentiert Kant im zweiten Hauptstück der Analytik der KpV gegen das moralische Gefühl als epistemisches Moralprinzip, weil „das dem Sprachgebrauche schon zuwider ist, der das Angenehme vom Guten, das Unangenehme vom Bösen unterscheidet und verlangt, daß Gutes und Böses jederzeit durch Vernunft, mithin durch Begriffe, die sich allgemein mittheilen lassen, und nicht durch bloße Empfindung, welche sich auf einzelne Subjecte und deren Empfänglichkeit einschränkt, beurtheilt werde“ (KpV, 5:58).  „Das moralische Gefühl ist die innre Achtung fürs Gesetz.“ (V-Mo/Mron II, 29:626).  Er nimmt an, dass „die Triebfeder des menschlichen Willens aber (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse“ (KpV, 5:72). Zeigen möchte er in dem Abschnitt dann ‚nur noch‘, „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde“ (KpV, 5:72).  Vgl. zur Einteilung auch KpV, 5:16.

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Teil I: These

kommt, dass es aber nicht „zu Beurtheilung der Handlungen, oder wohl gar zur Gründung des objectiven Sittengesetzes selbst“ (KpV, 5:76) dienen kann.⁸⁷ Klar ist also, dass Achtung weder in einer metaphysischen noch in einer epistemischen Bedeutung ein geltungstheoretisch objektiver Bestimmungsgrund des guten Willens sein kann. Die Frage ist, ob das Gefühl der Achtung nach Kant uneingeschränkt der (geltungstheoretisch) subjektive Bestimmungsgrund des guten Willens ist.

2.4 Die moralische Triebfeder Mit Blick auf die Triebfeder-Frage herrscht unter den Interpreten Uneinigkeit, die Kant mit scheinbar widersprüchlichen Thesen unterstützt. Hinzu kommt jene Unklarheit in der Verwendung des Ausdrucks „subjektiv“, wenn Kant schreibt, dass nichts übrig bleibe, was den Willen „bestimmen könne“ als „subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz“ (GMS, 4:400). An anderen Stellen verwendet er „subjektiv“ eindeutig zur Bezeichnung des handlungswirksamen Bestimmungsgrundes, versteht darunter aber das Gesetz und vertritt, dass „der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der [moralisch wertvollen] Handlung sein müsse“ (KpV, 5:72). Andererseits schreibt Kant bald darauf wiederum eindeutig, dass „Achtung fürs moralische Gesetz […] die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ (KpV, 5:78) sei. In Vorlesungsmitschriften beschreibt er diesen Aspekt der Handlungsmotivation als „Exekutive“ bzw. „Execution“ (V-Mo/ Collins, 27:274).⁸⁸ Aufgrund der Unklarheit wird in der Forschung darüber gestritten, ob diese Exekutive, die geltungstheoretisch subjektiv ist, der Vernunft oder dem Gefühl zuzuschreiben ist. Wie im vorhergehenden Kapitel bereits angedeutet wurde, vertreten Affektivisten, dass reine Vernunft im menschlichen Willen nur handlungswirksam werden kann, indem sie ein moralisches Gefühl bewirkt, das als Triebfeder in der

 Diese Dreiteilung von Bestimmungsgründen dominiert auch die Forschungsliteratur. Sensen diskutiert in „The Role of Feelings in Kant‘s Moral Philosophy“ (2012) drei mögliche Funktionen und fragt danach, welche Rolle Gefühle und besonders das moralische Gefühl in Kants Ethik spielen können: „For instance, 1. feelings might play a metaphysical role, e. g., in grounding morality; 2. They might be an epistemic tool to find out what is morally right and wrong; or 3. They might be important psychologically to motivate an agent.“ (Sensen 2012, 45 f.). Er zeigt, dass Gefühle nach Kants Auffassung nur die dritte Funktion der Motivation übernehmen können und dies auch nur in einem besonderen Sinne (vgl. Sensen 2012, 46).  Vgl. V-Mo/Mron II, 29:626; V-Mo/Mron, 27:1422; V-NR/Feyerabend, 27:1337.

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Maxime zur Realisierung der guten Handlung motiviert.⁸⁹ Sie bejahen also die untere Zeile der Übersicht und erklären, dass das moralische Gefühl im Bewusstsein der Verpflichtung entsteht und affektiv zur moralischen Bestimmung der Willkür motiviert: Tab. 4: Ansicht der Affektivisten Moralischer Bestimmungsgrund

Wille (Verpflichtung)

Willkür (Pflichtbefolgung)

Vernunft

Ja

Ja, irgendwie

Gefühl

Ja

Ja

Das geltungstheoretisch objektive und das geltungstheoretisch subjektive Gefühl ist Affektivisten zufolge dasselbe Gefühl, das die Erkenntnis der Pflicht begleitet und zur guten Handlung motiviert. Wie unten noch ausführlicher thematisiert wird, interpretieren Affektivisten die Bestimmung der Willkür durch dieses Gefühl allerdings dennoch nicht nur mechanisch oder psychologisch, sondern ebenfalls teilweise intellektualistisch.⁹⁰ Auch sie nehmen in der Regel an, dass freiheitliches Handeln nach Kant immer auch subjektiv durch die Maximen bestimmt ist, die nach affektivistischer Auffassung andererseits aber immer auch Gefühle der Lust und Unlust als Triebfedern beinhalten müssen. Da das Zusammenspiel zwischen Maximen und dem Triebfedern-Modell kontrovers diskutiert wird, belasse ich es hier dabei, stellvertretend für Affektivisten die Frage nach der Bestimmung durch Maximen mit einem noch näher zu explizierenden „Ja, irgendwie“ zu beantworten. Intellektualisten verteidigen dagegen ein rein intellektualistisches Bild freiheitlichen Handelns, das vernünftigen Gründen, Regeln und Gesetzen folgt. Der wichtigste Einwand gegen die These, dass die moralische Triebfeder ein Gefühl sein soll, liegt darin begründet, dass Affektivisten die moralische Motivation in Analogie zur Handlungspsychologie nicht-moralischen Handelns beschreiben. Dagegen betonen Intellektualisten, dass sich moralische Bestimmungsgründe nach Kant dem Wesen nach von nicht-moralischen Bestimmungsgründen unterscheiden und rein vernünftig sein müssen, um als moralisch zu gelten. Praktische Vernunft ist ihnen zufolge auch im Menschen nach Kant autonom in einem legislativen und exekutiven Sinne, da eine rein intellektuelle Anerkennung der

 In Teil II, Kap. 2.1, wird die affektivistische Position ausführlich vorgestellt.  Vgl. Teil II, Kap. 2.1.

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Teil I: These

Pflicht hinreichend sein soll, um moralisch-gute Gesinnungen zu motivieren und hervorzubringen. Ein Gefühl wird als Bestimmungsgrund ausgeschlossen: Tab. 5: Ansicht der Intellektualisten Moralischer Bestimmungsgrund

Wille (Verpflichtung)

Willkür (Pflichtbefolgung)

Vernunft

Ja

Ja

Gefühl

Nein

Nein

Intellektualisten lassen also nur vernünftige Bestimmungsgründe, nicht aber Gefühle als moralische Bestimmungsgründe gelten. Mit dieser Ablehnung des moralischen Gefühls verteidigen Intellektualisten die Überzeugung, dass die Vernunft nach Kant nur dann ‚für sich selbst praktisch‘ genannt werden kann, wenn sie nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv und somit handlungswirksam den Willen (d. h. die Willkür) bestimmen kann.⁹¹ Nur dann, wenn sich der menschliche Wille unabhängig von seinem Gefühlszustand allein umwillen der Einsicht in das Gesetz zum moralisch-guten Handeln entschließt, kann der Handlung auch ein moralischer Wert zukommen. Auch Sensen kommt daher in seiner Untersuchung der Frage nach der Rolle von Gefühlen in Kants Ethik zu dem Schluss, dass Gefühle der Lust und Unlust zwar notwendig involviert sein müssen, wenn Akteure ihr Glück verfolgen, dass aber die moralisch-gute Handlung nur auf solchen Bestimmungsgründen beruhen kann, die sich durch ihre Unabhängigkeit von den Gefühlen des Akteurs auszeichnen. Andernfalls drohe ‚moralischer Enthusiasmus‘, den Kant aus moralischen Gründen strikt ablehnt.⁹² Ein positives Gefühl der Hochschätzung, eine Art gefühlte Liebe zur Moral, in der man sich erhaben oder befreit fühlt und somit gerne tut, was man tun soll, behandelt Kant wie sonstige pathologische Gefühle und Neigungen und weist sie als moralische Bestimmungsgründe zurück.⁹³

 Vgl. KpV, 5:3, 50, 66, 71; MS, 6:221.Vgl. zur ausführlichen Betrachtung der intellektualistischen Position Teil II, Kap. 2.2.  „[I]n order for an action to have full moral worth, this [positive] feeling cannot be what one has in mind or what one aims at in any particular action. One should act out of duty and not in order to experience this uplifting feeling. Otherwise one would be a moral enthusiast and an unreliable moral actor“ (Sensen 2012, 54 f.).  „Wenn Schwärmerei in der allergemeinsten Bedeutung eine nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft ist, so ist moralische Schwärmerei diese Überschreitung der Grenzen, die die praktische reine Vernunft der Menschheit setzt, dadurch sie verbietet den subjectiven Bestimmungsgrund pflichtmäßiger Handlungen, d.i. die

2 Moralische Bestimmungsgründe

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Ein weiterer Kritikpunkt gegen die affektivistische Deutung, den ich für ausschlaggebend halte, problematisiert den moralischen Status des Gefühls. Intellektualisten wollen manchmal nicht akzeptieren, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung um ein moralisches Gefühl handelt, obwohl Kant den rein vernünftigen Ursprung des moralischen Gefühls immer wieder betont.⁹⁴ Tatsächlich kann es sich bei dem Gefühl der Achtung, an Kants eigenen Maßstäben gemessen, nicht um ein moralisches Gefühl handeln, wenn es, wie von Affektivisten, als moralische Triebfeder gedeutet wird. Denn, wie oben bereits ausführlich thematisiert wurde,⁹⁵ unterscheidet Kant zwischen pathologischen und moralischen Gefühlen anhand eines Kriteriums, das er in denjenigen Stellen beschreibt, auf die sich auch Affektivisten berufen. Das Kriterium besagt, dass ein Gefühl der praktischen Lust, ein Interesse oder Wohlgefallen nur dann moralisch genannt werden kann, wenn es der Bestimmung des Willens nicht vorhergeht.⁹⁶ Das bedeutet also, dass ein Gefühl nur dann moralisch sein kann, wenn es als eine Art Nebenprodukt auf eine vorhergehende Willensbestimmung folgt und somit als „Wirkung“ (GMS, 4:401Anm., KpV, 5:81, MS, 6:211) oder Begleiterscheinung der Erkenntnis oder Handlung auftritt. An diesem Kriterium sollte man festhalten, weil es philosophiehistorisch als ein großer Erfolg zu betrachten ist, dass es Kant auf diese Weise gelingt, eine Lust am Angenehmen von einer Lust am moralisch Guten mithilfe seiner neuartigen Theorie der drei Arten von Wohlgefallen zu unterscheiden. Unter der Voraussetzung dieser These, dass ein moralisches Gefühl der Lust oder ein moralisches Wohlgefallen nur auf die Willensbestimmung folgen kann, weil wir sie darin um ihrer selbst willen schätzen, kommt auch Karl Leonhard Reinhold zu dem Schluss, dass es sich bei einem moralischen Gefühl nur um eine Folge und somit nicht um die motivationale Triebfeder handeln kann. Ein moralisches Gefühl, das der Handlung als Triebfeder vorhergeht, ist nach dieser Deutung per Definition ein pathologisches Gefühl der Lust und Unlust und somit „ein sich selbst widersprechendes Unding“ (MS, 6:377) oder ein „Wort ohne Begriff“ (Reinhold 1792, 240). Vor dem Hintergrund der KU lässt sich diese Konsemoralische Triebfeder derselben, irgend worin anders als im Gesetze selbst und die Gesinnung, die dadurch in die Maximen gebracht wird, irgend anderwärts als in der Achtung für dies Gesetz zu setzen“ (KpV, 5:85 f.; vgl. GMS, 4:435, KpV, 5:84– 88 und KU, 5:275).  O’Neill beispielsweise wird von McCarty vorgeworfen, dass sie den besonderen Ursprung der Achtung nicht ausreichend beachtet, wenn sie das Gefühl der Achtung zu den pathologischen Gefühlen zählt (vgl. O’Neill 2013, 222 und McCarty 1993, 424, fn 12). Ausgehend von dem Kriterium, dass ein pathologisches Gefühl der Willensbestimmung vorhergeht, halte ich die Gleichsetzung von O’Neill aber für konsequent, wenn unter dem Gefühl der Achtung ein der Willkür vorhergehendes Gefühl verstanden wird.  Vgl. Teil I, Kap. 1.4.  Vgl. MS, 6:212 f., 378, 399; VT, 8:395 f.Anm.; KU BXXIVf., 5:178 f.

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Teil I: These

quenz auch nicht dadurch vermeiden, dass man die Bedeutung, in der das Gefühl der Achtung als Triebfeder der Handlung vorhergeht, auf eine besondere motivierende Rolle einschränkt.⁹⁷ Denn jede motivierende Rolle, die das Gefühl der Achtung nur als der Handlung vorhergehendes Gefühl erfüllen kann, steht im Widerspruch zu Kants Definition eines moralischen Gefühls. Also lässt sich zusammenfassen, dass das Gefühl der Achtung weder ein objektiver Seinsgrund oder Erkenntnisgrund noch ein Motivationsgrund der moralisch-guten Handlung sein kann. Als Nebenprodukt ist es aus der Übersicht der moralischen Bestimmungsgründe ausgeschlossen, wie es in der intellektualistischen Version zu sehen war. Da Achtung von Kant aber andererseits als Bestimmungsgrund oder Triebfeder beschrieben wird, zeigt dieses Ergebnis an, dass die bisherige Übersicht noch nicht hinlänglich ist, um diesen besonderen Bestimmungsgrund zu erfassen. Daher wird im Folgenden zusätzlich zwischen zwei Funktionen unterschieden, die das Gefühl als ontologisch subjektiver Bestimmungsgrund erfüllen kann.

2.5 Ein Nebenprodukt als Bestimmungsgrund Die bisherige Auseinandersetzung mit Kants Verständnis von Bestimmungsgründen hat ergeben, dass das Gefühl der Achtung in keiner der drei herkömmlichen Bedeutungen als moralischer Bestimmungsgrund des guten Willens in Frage kommt und dass es stattdessen nur ein Nebenprodukt der moralisch-guten Handlung sein kann. Die Tatsache, dass Kant die Achtung aber dennoch als Triebfeder oder subjektiven Bestimmungsgrund des Willens beschreibt, führt zu der Nachfrage, ob nicht auch ein Nebenprodukt die Funktion einer Triebfeder erfüllen kann. Dies ist möglich, so der Vorschlag, indem man zwischen zwei Funktionen einer Triebfeder unterscheidet, nämlich zwischen einer kausal-motivationalen und einer epistemisch-evaluierenden Funktion. Als ein Nebenprodukt kann das Gefühl der Achtung die rein evaluierende Funktion einer Triebfeder erfüllen, ohne zugleich auch motivational den Willen zu bestimmen. Auf diese Weise lässt sich das Gefühl der Achtung als moralische Triebfeder deuten, die als Nebenprodukt auf die moralisch-gute Handlung folgt.

 Diese Strategie verfolgt Frierson, indem er argumentiert, dass Achtung zwar, wie auch andere praktische Gefühle, der Willensbestimmung vorhergehe, dass es sich aber um ein besonderes Gefühl handle, weil es nur in einigen Hinsichten zur Handlung motivieren könne; so will er eine moderate Unterscheidung zwischen pathologischen und anderen praktischen Gefühlen begründen (vgl. Frierson 2014, 150 – 160).

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Diese Option ist auf den ersten Blick kontraintuitiv, da man unter einer Triebfeder gewöhnlich immer eine Art von motivationspsychologischer Ursache versteht, die als eine motivationale Voraussetzung der Handlung vorhergehen muss. Unter einem Nebenprodukt aber versteht man das Gegenteil einer Ursache, nämlich ein Phänomen, das als Effekt bewirkt wird und selber nicht kausal ursächlich wirkt. Abwegig wäre es also, ein Nebenprodukt in einem kausalen Sinne als Bestimmungsgrund einer Handlung zu deuten. Dann nämlich sieht man sich mit dem Paradox der notwendigen Nebenwirkung konfrontiert, wie es oben vorgeführt und aufgelöst wurde.⁹⁸ Eine evaluierende Funktion kann die Achtung aber auch als ein Nebenprodukt erfüllen, weil die evaluierende Funktion im Gegensatz zu der kausalen Funktion nicht impliziert, dass Achtung der Handlung vorhergehen muss. Es mag als abwegig erscheinen, unter einer Triebfeder irgendetwas anderes verstehen zu wollen als einen Motivationsgrund. Genau das ist es aber, was Kants Theorie der moralischen Motivation von uns verlangt. Sie verlangt danach, dass wir das geltungstheoretisch objektive Prinzip der Moral, aber auch die subjektiven Bestimmungsgründe, nämlich die kausale und die evaluative Dimension moralisch-guten Handelns, in ihrer einzigartigen Besonderheit erkennen. Die Besonderheit des Prinzips der Moral besteht darin, dass es gefühlsunabhängig gilt und erkannt werden kann. Die Kausalität dieses Prinzip ist besonders, weil sie gefühlsunabhängig handlungswirksam ist. Das moralische Gefühl oder Wohlgefallen ist besonders, weil es auf die moralische Willensbestimmung folgt. Um diese Besonderheit der Realisierung des Moralprinzips zu verstehen, ist die klassische Vorstellung von Triebfedern ungeeignet. Der (ontologisch) subjektive Bestimmungsgrund von Moralität muss sich, so wie der objektive, vernünftige Bestimmungsgrund auch, von pathologischen Bestimmungsgründen unterscheiden.⁹⁹ In pathologischen Gefühlen und Neigungen werden nicht vorhergehende Handlungen, sondern vorgestellte Objekte (zum Beispiel der Apfel am Baum) wertgeschätzt, deren Existenz wir uns wünschen und anstreben.¹⁰⁰ Dadurch sind wir motiviert, die Existenz des vorgestellten Gegenstandes zu realisieren. Zum Beispiel interessiert uns der Apfel, weil die Vorstellung, ihn zu essen, angenehm ist, und dieses Gefühl oder Interesse erweckt den

 Vgl. Teil I, Kap. 1.2.  „Praktische Gründe und moralische Motivation stellen zwei Seiten ein und derselben Medaille dar“. (Klemme 2006, 113).  Vgl. GMS, 4:400 f., KpV, 5:34. Der „Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehret wird“, ist die „Materie des Begehrungsvermögens“ (KpV, 5:21). Die materiale Bestimmung beruht immer auf der „Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet“ (KpV, 5:22).

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Teil I: These

Wunsch, der uns dazu motiviert, ihn zu pflücken und zu essen.¹⁰¹ Die evaluativepistemische Dimension bedingt in diesem Fall die kausal-motivationale Dimension der Willensbestimmung. Dieses Verhältnis zwischen der kausalen Willensbestimmung und der evaluativen Wertschätzung ist im Fall der moralischguten Handlung umgekehrt. Ein moralisches Gefühl oder Interesse ist Kant zufolge zwar ein praktisches Gefühl der Lust und Unlust, das somit, wie andere praktische Gefühle auch, immer nur im Kontext einer Willensbestimmung auftritt.¹⁰² Es tritt aber erst dann auf, wenn wir uns bewusst sind, was wir tun sollen oder tatsächlich tun, was geboten ist, also nur infolge der Willensbestimmung, aber nicht schon zuvor. Das moralische Gefühl zeichnet sich also dadurch aus, dass es das einzige Gefühl einer praktischen Wertschätzung ist, das nicht als Grund, sondern nur als Folge einer Willensbestimmung gedacht werden kann. Die evaluative Wertschätzung tritt in diesem Fall als eine Folge der kausalen Realisierung einer moralisch-guten Handlung auf, während sie im Fall der pathologischen Handlung die kausale Realisierung bedingt. Dieses besondere Verhältnis zwischen dem Willen und dem Gefühl bringt zum Ausdruck, dass allein in dem moralischen Gefühl eine Handlung um ihrer selbst willen geschätzt wird. An dieser Stelle sei noch einmal an die GMS erinnert, in der Kant schreibt, dass uns in moralischer Hinsicht „kein Interesse treibt“, dass wir aber „notwendig ein Interesse nehmen“ (GMS, 4:449). Rein (und somit moralisch-praktisch) sei ein Interesse nur dann, wenn „die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist“ (GMS, 4:459 f.Anm.). Es gibt also auch im Kontext der moralischen Motivation ein Gefühl, das zwar ein Interesse und insofern auch ein praktisches Gefühl, aber als solches nicht der Motivationsgrund ist, sondern eine ‚reine‘ (rein evaluierende) Wertschätzung der Existenz und Realisierung des Guten, das sich in der moralischen Gesinnung verwirklicht. Praktisch ist das Gefühl der Achtung somit nur in der Hinsicht, dass es auf eine Willensbestimmung Bezug nimmt, aber nicht dadurch, dass es motivational zur Realisierung beiträgt.

 Nach Kant gilt immer, dass „eine pathologisch afficirte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus subjectiven Ursachen entspringt“ (KpV, 5:32). Vgl. Grenberg 2001, 155, 160, 163; Frierson 2014, 52 ff.; und Schadow 2013, inbes. 111– 119, in weniger starker empirischer Ausrichtung. Die subjektive Ursache ist das Gefühl der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit. Alle Handlungen, die darauf beruhen, sind nach Kant pathologisch zu nennen, ganz gleich, durch welche Vorstellungsart diese Gefühle hervorgerufen werden (vgl. KpV, 5:23).  „Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) notwendig verbunden ist, praktische Lust nennen: sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein“ (MS, 6:212). Vgl. KU §5, 5:208, KpV, 5:9Anm., und Höwing 2013a.

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Die kausale Realisierung ist im Fall der moralisch-guten Handlung vollständig der Vernunft zuzuschreiben. Die Funktion des moralischen Gefühls besteht nicht, wie im Fall der pathologischen Gefühle und sonstigen Interessen, in einer Hervorbringung, sondern eher in einer epistemischen Funktion, die aber nicht auf die Beurteilung des Guten, sondern auf die eigenen Motive des Subjekts Bezug nimmt. Es handelt sich um eine wesentlich ästhetische Bestimmung, die es als Wertschätzung oder Wohlgefallen leistet. Epistemisch darf hierbei also nicht missverstanden werden, da gerade keine begriffliche Erkenntnis gemeint ist,¹⁰³ wie auch Sebastian Gardner und Longuenesse betonen: „The feeling of respect is thus a pre-discursive insight“ (Gardner/Longuenesse 2012, 27). Diese prädiskursive Einsicht stellt sich immer nur nachträglich zur vorhergehenden Bestimmung durch die Vernunft ein. Da es geltungstheoretisch zwei Kontexte dieser vernünftigen Bestimmung gibt, muss auch zwischen zwei Gefühlen der Achtung I und II unterschieden werden.¹⁰⁴ Das Gefühl der Achtung I folgt der formal-normativen Bestimmung des Willens durch das Vernunftgesetz und entspricht dem prädiskursiven Bewusstseinszustand, verpflichtet zu sein. Dieses Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen beschreibt Kant in seinen Ausführungen zum Faktum der Vernunft.¹⁰⁵ Das Gefühl der Achtung II folgt der vernünftigen Maximenbildung und entspricht dem Zustand des Bewusstseins, durch das Gesetz motiviert zu sein. Dieses Gefühl der Achtung II beschreibt Kant auch als moralische Zufriedenheit, d. h. als „Zufriedenheit mit seinem persönlichen Werthe“ (KpV, 5:127) oder mit seiner Person.¹⁰⁶ Beide Gefühle erfüllen nach Kant eine epistemisch-evaluierende, prädiskursive Funktion, die nicht mit der formalen oder motivational-kausalen Bestimmung durch die Vernunft verwechselt werden darf. Dieser Vorschlag sprengt gewissermaßen den Rahmen der Übersicht, da zusätzlich zu den bisherigen Differenzierungen zwischen verschiedenen Funktio-

 Gemeint ist eine ästhetische Bestimmung, wie sie Kant allgemein dem Wohlgefallen zuschreibt: „Hier [in der Empfindung des Wohlgefallens] wird die Vorstellung gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen; welches ein ganz besonderes Unterscheidungs- und Beurtheilungsvermögen gründet, das zum [objektiven, philosophischen oder empirischen] Erkenntniß nichts beiträgt, sondern nur die gegebene Vorstellung im Subjecte gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen hält, dessen sich das Gemüth im Gefühl seines Zustandes bewußt wird.“ (KU §1, 5:204).  Vgl. Teil I, Kap. 1.4.  Dieser These zufolge muss man also Achtung empfinden, damit man „den obersten praktischen Grundsatz, als einen solchen, den jede natürliche Menschenvernunft als völlig a priori, von keinen sinnlichen Datis abhängend, für das oberste Gesetz seines Willens erkennt“ (KpV, 5:91).  Vgl. KpV, 5:38, 160 f., MS, 6:377, 391.

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Teil I: These

nen, insbesondere zwischen der kausal-motivationalen und der epistemischevaluativen Funktion von Bestimmungsgründen, unterschieden werden muss. Das Gefühl der Achtung ist nach dieser Auffassung zwar ein Bestimmungsgrund des Willens, aber nicht in formal-normativer (F und N) oder in kausal-motivationaler (K), sondern nur in einer subjektiv-epistemischen oder evaluativen (E) Hinsicht: Tab. 6: Mehrdeutigkeit des moralischen Bestimmungsgrundes Moralischer Bestimmungsgrund

Wille (Verpflichtung)

Willkür (Pflichtbefolgung)

Vernunft

Gesetz (F und N)

Maxime (K)

Gefühl

Achtung I (E)

Achtung II (E)

(K: kausale Bestimmung; E: epistemische/evaluative Bestimmung; F und N: formale und normative Bestimmung)

Für diesen Ansatz ist es nötig, die Unterscheidung zwischen Erkenntnisgrund und Seinsgrund, wie sie mit Blick auf den geltungstheoretisch objektiven, vernünftigen Bestimmungsgrund getroffen wurde, in einem übertragenen Sinne auch für den (ontologisch) subjektiven Bestimmungsgrund geltend zu machen.¹⁰⁷ In der Forschungsliteratur zur Achtung wird diese Unterscheidung bereits getroffen. Dort unterscheidet man eine metaphysische, nämlich eine kausale Funktion, von einer epistemischen, nämlich evaluativen Funktion. Entsprechend wird unten in Teil II die Unterscheidung zwischen einer motivationalen und einer moralepistemischen Bedeutung der Achtung einer Darstellung der Forschungspositionen zugrunde gelegt.¹⁰⁸ Einerseits wird ein motivierendes Gefühl als eine treibende Kraft, andererseits wird es als eine Wertschätzung beschrieben. Ohne die treibende Kraft ließe sich, so die Annahme von Affektivisten, die gute Gesinnung nicht realisieren, ohne die evaluative Dimension könnten wir emotional nicht betroffen sein, wie besonders Phänomenologen betonen.¹⁰⁹

 Entsprechend dieser Unterscheidung lässt sich annehmen, dass Kant eine kausale und eine evaluierende Triebfeder im Bereich der moralischen Willensbestimmung kennt. Die kausale Triebfeder ist die Vernunft, wohingegen das Gefühl der Achtung eine rein evaluierende Triebfeder abgibt. Vgl. zu dieser These „Von den zwei Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (Kassan 2018).  Vgl. Teil II.  Vgl. zur Position der Phänomenologen: Teil II, Kap. 3.1.

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Ina Goy erläutert diese beiden Funktionen in einem Überblick zu „Immanuel Kant über das Gefühl der Achtung“ (2007).¹¹⁰ Auch Thomas Höwing unterscheidet in seiner ausführlichen Analyse der praktischen Lust eine kausale von einer evaluativen Dimension des Gefühls.¹¹¹ Andere Autoren wie Schönecker oder Grenberg, die den phänomenalen Charakter der praktischen Einsicht betonen, konzentrieren sich in einigen Arbeiten sogar fast ausschließlich auf eine „epistemic role“ (Grenberg 2013, 166) des Gefühls der Achtung.¹¹² Auch Owen Ware verteidigt diese phänomenale Bedeutung des Gefühls, die unabhängig von einer kausalen Beschreibung, nämlich aus einer erst-, statt dritt-personalen Perspektive beschrieben wird.¹¹³ Sogar Richard McCarty, einer der prominentesten Affektivisten, reflektiert gegen Ende seines Aufsatzes über „Kantian Moral Motivation and the Feeling of Respect“ (1993) selbstkritisch auf seine kausale Deutung, indem er Intellektualisten vorschlägt, dass sie sich doch zumindest für die ästhetische, phänomenale Bedeutung des moralischen Gefühls interessieren könnten, die er in seiner Interpretation unberücksichtigt lässt.¹¹⁴ All diese Ansätze verweisen auf eine epistemische Funktion, die das moralische Gefühl der Achtung erfüllt, indem es „Zeichen dafür ist, daß das objektive Gesetz tatsächlich subjektiv (in diesem Sinne wie eine Maxime) als Gesetz wirkt“ (Sala 2004, 172).¹¹⁵ Das Gefühl der Achtung zeigt die moralisch-gute Willensbestimmung ungefähr so an wie der Rauch das Feuer oder auch wie das Moralgesetz der KpV zufolge die Freiheit desjenigen anzeigt, dem es bewusst ist. Diese epistemische Funktion erfüllt es allerdings nur ästhetisch im Modus des Fühlens, weshalb sich zur Bezeichnung dieser Hinsicht der Ausdruck „phänomenal“ anbietet. In dieser Hinsicht bestimmt das Gefühl der Achtung den Willen oder die  Kausale Funktion nach Goy: „Das praktische Gesetz ruft die Empfindung der Achtung hervor, diese wiederum bewirkt die Realisierung der moralischen Handlung in der Erfahrungswelt.“ (Goy 2007, 348). Evaluative Funktion nach Goy: „Während empirische Gefühle nur bedingte und relative Werte erfassen können, ist das moralische Gefühl der Achtung das einzige Gefühl, das den unbedingten und absoluten Wert der Idee der Moral, die sich im praktischen Gesetz ausspricht, ermessen kann.“ (Goy 2007, 344).  Vgl. insbes. „§5 Zwei Aspekte der praktischen Lust“ (Höwing 2013a, 76 – 88).  Vgl. Schönecker 2013a/b. Grenberg belegt die These von der epistemischen Funktion mit Verweis auf KpV, 5: 91 f. und 77 f. Schönecker bezieht sich in seiner intuitionistischen Deutung vor allem auf die Passage über das Faktum der Vernunft.  Vgl. Ware 2014, 742 f. Vgl. auch Zinkin 2006, 34.  Der Aufsatz schließt mit dem folgenden Satz über das Gefühl der Achtung: „Perhaps its intellectual etiology and a priori phenomenology will help the many adherents of the prevailing intellectualist view assent to a role for the feeling of respect in Kantian moral motivation“ (McCarty 1993, 435).  An anderer Stelle beschreibt Sala diese Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl auch als „eine Art Feedback“ (Sala 2004, 171).

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Teil I: These

Willkür als ein Nebenprodukt. Die folgende Übersicht bringt noch einmal die hier vertretene Deutung zum Ausdruck. Dieses Mal wird von der Differenzierung der geltungstheoretischen und ontologischen Bedeutung von objektiven und subjektiven Bestimmungsgründen abgesehen und stattdessen die Differenzierung der Funktion moralischer Bestimmungsgründe hervorvorgehoben: Tab. 7: Objektive und subjektive Bestimmungsgründe als metaphysische und epistemische Moralische Bestimmungsgründe Objektive Bestimmungsgründe

Subjektive Bestimmungsgründe

Metaphysisch ratio essendi

Epistemisch ratio cognoscendi

Metaphysisch Kausal

Epistemisch Phänomenal

Seinsgrund

Erkenntnisgrund

Motivationsgrund

Nebenprodukt

Vernunft

Gefühl

Die rechte Spalte dieser Übersicht wird von Kant und seinen Interpreten meistens nur angedeutet, obwohl doch viele Aspekte darauf hinweisen. Intellektualisten weisen auf diese Spalte hin, indem sie das Gefühl der Achtung als Nebenprodukt verstehen; damit schließen sie aber in der Regel aus, dass es sich um die Triebfeder oder um einen subjektiven Bestimmungsgrund handeln kann. Dagegen legen Affektivisten das Gefühl der Achtung in der Regel immer auch phänomenal oder epistemisch aus, wenn sie die Genese des Gefühls der Achtung im Kontext der praktischen Erkenntnis und Nötigung erläutern. Eine echte Alternative besteht hingegen darin, beide Ansätze zu verknüpfen und zu vertreten, dass das Gefühl der Achtung den Willen als Triebfeder nur evaluativ oder phänomenal bestimmt und somit ein Nebenprodukt darstellt. Eine Ausnahme unter den mir bekannten Beiträgen bildet die anfangs zitierte Deutung von Longuenesse, die sie aber nur am Rande entwickelt. Sie vertritt erstens, dass das Gefühl der Achtung phänomenal eine prädiskursive Funktion im Kontext der Bestimmung des Moralbewusstseins erfüllt. Zweitens betont sie, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung immer nur um eine Folge der Bestimmung durch die Vernunft handeln kann.¹¹⁶ Drittens scheut sie sich trotzdem nicht, das Gefühl der Achtung in Anlehnung an Kant als „Triebfeder“ zu bezeichnen.¹¹⁷ Was der Ausdruck „Triebfeder“ bedeutet, wenn darunter eine Folge verstanden wird, führt sie leider nicht mehr aus.

 Vgl. Longuenesse/Gardner 2012, 26.  Vgl. Longuenesse 2017, 228Anm.8.

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Kant hebt eine evaluative Bedeutung häufig hervor, wenn er das Gefühl der Achtung zum Beispiel als besondere „Schätzung“ (GMS, 4:403)¹¹⁸ oder als „Ansehen“ (KpV, 5:76) beschreibt. Er betont, dass das moralische Interesse ein solches ist, das wir an der Handlung nehmen, nicht aber ein Interesse, aus dem heraus wir handeln.¹¹⁹ In ähnlicher Weise heißt es in der KpV, dass „die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit“ sei, sondern „die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet“ (KpV, 5:76). Dies sind Formulierungen, die jene innovative These zum Ausdruck bringen, dass auch bei der moralischen, wie bei jeder vernünftigen Willensbestimmung, immer ein Gefühl und Interesse beteiligt sein muss, das im Fall der moralischen Handlung aber nicht kausal, sondern nur rein evaluativ den Willen bestimmt. Kant muss nach diesem Ansatz zwischen einer kausalen und einer rein evaluativen Beteiligung des Gefühls differenzieren, um die beiden Arten einer praktischen Lust zu unterscheiden. Genau das tut er mit seinem Kriterium der richtigen Reihenfolge, demzufolge eine pathologische Lust der Bestimmung vorhergeht, eine moralische Lust aber nur Folge der Bestimmung durch die Vernunft sein kann. Die Besonderheit von Kants moralischer Motivationstheorie lässt es daher nicht nur zu, sondern erfordert auch, dass wir im Bereich der Moral zwischen einer kausalen und einer evaluierenden Triebfeder unterscheiden. Eine Neigung erfüllt allerdings immer beide Funktionen, eine kausale und eine evaluative, weshalb es uns schwer fällt, diese beiden Aspekte der Motivation auseinander zu halten.¹²⁰ Hinzu kommt, dass Kant seine innovative These umschreibt, aber nirgendwo unmissverständlich formuliert. So kommt es, dass auch Stellen, in denen Kant die epistemische Funktion der Achtung beleuchtet, so

 „Diese Schätzung [einer unmittelbaren Achtung] giebt also den Werth einer solchen Denkungsart als Würde zu erkennen und setzt sie über allen Preis unendlich weg“ (GMS, 4:435). Diesen „Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt […]“ (GMS, 4:397), entwickelt er im ersten Abschnitt der GMS, in dem er später schreibt: „für diese [allgemeine Gesetzgebung] aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt“ (GMS, 4:403). Vgl. KpV, 5:78, 79.  Vgl. GMS, 4:413Anm.  Auf ein ähnliches Problem weist Ameriks hin: „[A] linking complication here is the fact that any principles and choices that are heteronomous in the normative sense also have implications at a causal level. To approve a heteronomous standard as supreme is to be ready, above all, to move one‘s will, as an efficient cause, to generate intentions and external events with an aim to satisfying this standard and attaining what Kant calls merely subjective ends.“ (Ameriks 2018, 189).

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verstanden werden können, als beschreibe Kant das Gefühl der Achtung als kausale Triebfeder. Schönecker formuliert zum Beispiel seine eindeutig affektivistische Pointe, die lautet, „was also als Gegenkraft wirkt, ist das Gefühl der Achtung“ (Schönecker 2013a, 101), indem er eine Passage der KpV interpretiert, in der Kant die Vernunft und die Achtung aber vielmehr als Erkenntnisgründe beschreibt: Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe (der empirischen und rationalen) wird durch diese Widerstrebung einer praktisch gesetzgebenden Vernunft wider alle sich einmengende Neigung, durch eine eigenthümliche Art von Empfindung, welche aber nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeht, sondern vielmehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwang gewirkt wird, nämlich durch das Gefühl einer Achtung, dergleichen kein Mensch für Neigungen hat, sie mögen sein, welcher Art sie wollen, wohl aber fürs Gesetz, […] kenntlich gemacht und […] gehoben und hervorstechend (KpV, 5:92).

Der Hauptsatz besagt, kurz gefasst, dass die Ungleichartigkeit rationaler und empirischer Bestimmungsgründe durch die Vernunft und durch das Gefühl einer Achtung „kenntlich gemacht“, „gehoben“ und „hervorstechend“ wird. Das bedeutet, dass wir durch die Vernunft und durch das Gefühl der Achtung diese Ungleichartigkeit deutlich bemerken, erkennen, fühlen oder wertschätzen. Die Rede ist nicht von Kräften und Gegenkräften, die durch Achtung aus dem Weg geräumt werden. Mit anderen Worten ist nicht die Rede von einem Konkurrenzverhältnis zwischen dem moralischen Gefühl und anderen Gefühlen der Lust und Unlust. Also scheint das moralische Gefühl als Triebfeder auch nicht genau so verstanden werden zu können wie andere, ‚pathologische‘ Triebfedern. Der Unterschied besteht darin, dass nur ein pathologisches Gefühl der Lust oder Unlust der Handlung auch vorhergehen muss, um sie evaluativ bestimmen zu können.

2.6 ‚aus Pflicht mit Achtung‘ Mit der These, dass dasjenige, was den „Willen bestimmen könne […] subjektiv reine Achtung“ (GMS, 4:400) sei, kann gemäß der Mehrdeutigkeit der Ausdrücke „subjektiv“ und „bestimmen“ Verschiedenes gemeint sein: Intellektualisten denken, dass eine intellektuelle Anerkennung des Gesetzes als kausale Triebfeder die Willkür bestimmt. Das moralische Gefühl betrachten sie als Nebenprodukt ohne wichtige Funktion. Affektivisten denken in der Regel, dass ein Gefühl der Achtung epistemisch-phänomenal den Willen bestimmt, wenn wir uns der Verpflichtung bewusst werden. Sie deuten dieses Gefühl als einen Bestimmungsgrund, der ästhetisch und kausal die Willkür bestimmt. In Anlehnung an Affektivisten wurde vorgeschlagen, dass ein Gefühl der Achtung I den Willen ästhetisch

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bestimmt. Darüber hinaus gibt es jedoch noch ein weiteres Gefühl der Achtung II, das die Willkür ästhetisch bestimmt. Dies ist mit der intellektualistischen Auffassung vereinbar, dass die kausale Realisierung von Moralität ausschließlich durch die Vernunft geleistet wird. Der Vorschlag ist andererseits vereinbar mit einer phänomenal-epistemischen Deutung, wie sie Affektivisten in den letzten Jahren verstärkt betonen. Sie widerspricht aber der affektivistischen These einer motivierenden, kausalen Rolle der Achtung. In dieser Hinsicht hat dieser Vorschlag zum Verständnis der moralischen Triebfeder scheinbar einen großen Nachteil. Er widerspricht unserem etablierten Verständnis von Triebfedern. Das Wort „Triebfeder“ hat auch heute noch seine mechanische Bedeutung und es ist dem Wortlaut nach fast unmöglich, sich darunter etwas anderes als einen Antrieb oder eine Sprungfeder vorzustellen. Gefühle sind außerdem ein fester Bestandteil der Alltagspsychologie, die uns alle prägt, weil wir daran gewöhnt sind, uns in unserem Handeln von Gefühlen und Wünschen leiten zu lassen. Kant widerspricht dem gesunden Menschenverstand mit Blick auf das Verständnis der moralischen Triebfeder, und zwar absichtlich. Seine philosophische Theorie verlangt danach, eine Triebfeder zu denken, die gar keine motivierende Rolle erfüllt, die der Handlung nicht vorhergeht, die sie aber als praktisches Gefühl der reinen Wertschätzung begleitet. Dieser eigenartig paradoxe Charakter zeichnet das Gefühl der Achtung philosophisch als subjektiven Bestimmungsgrund aus. Der gemeine Menschenverstand tendiert aber dazu, diesen Unterschied zu übersehen, wenn er im Zuge moralischen Handelns ein besonderes Gefühl empfindet und unter Rückgriff auf dieses Gefühl erklärt, dass er gerade moralisch gehandelt habe, nämlich scheinbar aufgrund eines motivierenden moralischen Gefühls. Kant findet diese Einschätzung nachvollziehbar, weil sie der Gewohnheit, dem Sprachgebrauch und somit auch dem gemeinen Menschenverstand in einem soziologischen Sinne entspricht. Er hält diese Erklärung aber eigentlich für falsch und kritisiert sie als einen „Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)“ (KpV, 5:116). Eigentlich erfahren wir in dem moralischen Gefühl nämlich nur den Effekt, den die Vernunft im Zuge der Willensbestimmung auf das Gefühl ausübt. In motivationaler Hinsicht ist die Triebfeder die Vernunft, die wir darum in dem Gefühl der Achtung schätzen. Affektivisten verteidigen eine ähnliche Erklärung wie der gemeine Akteur in Kants Beispiel, wenn sie dem Gefühl der Achtung eine motivierende Rolle zuschreiben. Allerdings hat sich Kant auch nicht immer deutlich genug ausgedrückt. In mindestens zwei Hinsichten hat er eine Anknüpfung an den gemeinen Sprachgebrauch und die Alltagspsychologie gesucht. In der GMS spricht er von einer „Handlung aus Achtung“ (GMS, 4:400; vgl. KpV, 5:81), was suggeriert, dass Achtung auf dieselbe Weise in eine Handlung aus Pflicht involviert ist, wie eine

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Teil I: These

Neigung in eine Handlung aus Neigung involviert ist, nämlich kausal. Zum anderen beschreibt er das Gefühl der Achtung in der KpV als „die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ (KpV, 5:78). Beide Formulierungen sind philosophisch unpräzise, weil ein moralisches Gefühl der Handlung nicht vorhergehen kann, beide Formulierungen aber genau das andeuten. Andererseits relativiert Kant beide Formulierungen an zwei anderen Stellen, sodass nichts zu der Auffassung zwingt, dass Kant unter Achtung eine Triebfeder im natürlich-sprachlichen Sinne versteht. Zum einen führt er in der KpV in Klammern deutlich aus, was er in diesem Kontext unter „Triebfeder“ versteht, nämlich einen „subjektive[n] Bestimmungsgrund“ (KpV, 5:72). Lässt man sich auf diese weite, weil mehrdeutige Begriffsverwendung ein, dann verliert die These, dass Achtung die moralische Triebfeder sei, ihre problematische Schärfe. Mit Blick auf die Rede von einer Handlung aus Achtung verhält es sich ähnlich, weil „aus“ hier eigentlich nicht kausal verstanden werden darf. Jedenfalls reflektiert Kant an einer anderen Stelle auf diese Redewendung „aus xy“ zu handeln und bewertet sie als eine Formulierung, die unpräzise, aber dem gemeinen Sprachgebrauch gefällig ist.¹²¹ Auf dieselbe Weise relativiert er bereits in der GMS die Rede von einer Handlung aus Achtung, wenn man berücksichtigt, dass er Achtung mit dem moralischen Interesse identifiziert und über das letztere schreibt, dass es rein sei und somit kein Interesse, aus dem heraus gehandelt wird, sondern ein solches, das wir an der Handlung nehmen.¹²² So wie er in der Fußnote präzise schreibt, dass ich „mit Achtung“ (GMS, 4:401Anm.) erkenne, was ich tun soll, ebenso hätte er philosophisch präzise wohl besser auch von einer Handlung aus Pflicht mit Achtung gesprochen. Stattdessen betont Kant, indem er Achtung als Triebfeder bezeichnet und von einer Handlung aus Achtung spricht, die evaluative Bestimmung, die das Gefühl der Achtung prinzipiell mit den Neigungen gemeinsam hat. Denn wir schätzen die moralisch-gute Handlung aus Achtung so wie wir andere Handlungen aus Neigung schätzen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auch motivational ‚aus Achtung‘ handeln. Es bedeutet, wie argumentiert wurde, das Gegenteil, nämlich, dass die motivationalen Gründe, auf deren Grundlage wir Handlungen realisieren, nicht

 „Obgleich, wo ein blos reines Vernunftinteresse angenommen werden muß, ihm kein Interesse der Neigung untergeschoben werden kann, so können wir doch, um dem Sprachgebrauche gefällig zu sein, einer Neigung selbst zu dem, was nur Object einer intellectuellen Lust sein kann, ein habituelles Begehren aus reinem Vernunftinteresse einräumen, welche alsdann aber nicht die Ursache, sondern die Wirkung des letztern Interesse sein würde, und die wir die sinnenfreie Neigung (propensio intellectualis) nennen könnten.“ (MS, 6:213).  „Aber auch der menschliche Wille kann woran ein Interesse nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln.“ GMS, 4:413Anm.

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Achtung und Neigungen, sondern nur die Pflicht und Neigungen sein können. Eine Handlung kann nur aus Pflicht oder aus Neigung realisiert werden, aber sie kann evaluativ aus Achtung geschätzt werden. Der Zugang zu dieser moralischen Wertschätzung zeichnet den gemeinen Menschenverstand nach Kant als einen gesunden Menschenverstand aus.¹²³ Kants philosophische Deutung dieser gemeinen Erfahrung von Moralität widerspricht aber den handlungspsychologischen Vorstellungen, die der gewöhnliche Mensch und der Wissenschaftler teilen. Kant denkt mit Blick auf die moralisch-gute Handlung gerade nicht, dass Menschen emotional motiviert sein müssen, um eine moralisch-gute Handlung realisieren zu können. Kants Moralphilosophie widerspricht dieser Voraussetzung in zwei Annahmen: Erstens müssen wir Kant zufolge nicht immer durch Gefühle zum Handeln motiviert sein. Zweitens sind praktische Gefühle nach Kant nicht immer praktisch in dem Sinne, dass sie handlungsmotivierend sind. Handlungsmotivierend sind Kant zufolge nur die pathologisch-praktischen Gefühle, wohingegen die moralische Wertschätzung im Gefühl der Achtung immer und ausschließlich nur als Folge einer intelligiblen Verursachung ihren Sinn und Zweck erfüllt. Dies zeigt, dass wir die moralischen Bestimmungsgründe absichtlich als besondere Bestimmungsgründe verstehen müssen, die sich von den objektiven und subjektiven Bestimmungsgründen, die uns aus einer sinnlichen Perspektive als Akteure bestimmen, unterscheiden. Diese Eigenart ist kein Nachteil, sondern kennzeichnet notwendigerweise die moralphilosophische Perspektive, in der sich Akteure als Intelligenz betrachten, wie Kant in der GMS schreibt: Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältniß zu bestimmenden Gründen von ganz anderer Art, […] als wenn er sich wie ein Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahrnimmt (GMS, 4:457).

Auch das Gefühl der Achtung ist somit ein Bestimmungsgrund von ganz anderer Art als gewöhnliche motivationale Gefühle, da es sich um ein reines Gefühl handelt, das der Perspektive des Menschen „als Intelligenz“ angehört.

 Vgl. GMS, 4:403.

Teil II: Positionen Die Unterscheidung zwischen Intellektualisten und Affektivisten ist nicht ausreichend, um das Gefühl der Achtung in seiner besonderen Stellung und Funktion zu verstehen. Zusätzlich ist es, wie im vorherigen Kapitel über moralische Bestimmungsgründe argumentiert wurde, wichtig, neben der motivationalen Bedeutung auch eine moralepistemische Bedeutung des Gefühls der Achtung zu berücksichtigen. In Anlehnung an diese Argumentation wird mit Blick auf die Positionen der Forschung vorgeschlagen, dass man zwischen zwei Diskussionen unterscheiden muss (1): Zum einen wird die Frage diskutiert, wodurch wir moralisch motiviert sind (2), wobei Affektivisten (2.1) eine gefühlsbetonte und Intellektualisten (2.2) eine vernunftbetonte Deutung von Kants Motivationstheorie vertreten. Zum anderen wird die Frage nach einer moralepistemischen Bedeutung des Gefühls der Achtung diskutiert (3), und auch diesbezüglich gibt es gefühlsbetonte und vernunftbetonte Interpreten, die sich als Phänomenologen (3.1) und als Metaphysiker (3.2) charakterisieren lassen. Im Anschluss an die Darstellung der Positionen soll deutlich werden, dass in dieser Arbeit eine intellektualistische Intuition und eine moderat phänomenologische bzw. moderat metaphysische Deutung der Achtung miteinander kombiniert werden (4).

1 Affektivisten und Intellektualisten, Phänomenologen und Metaphysiker In der Diskussion des Gefühls der Achtung greifen zwei Fragen ineinander: Einerseits wird diskutiert, welche Rolle die Sinnlichkeit im moralischen Motivationsprozess spielt und welches Verhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit besteht, wenn es um den Übergang von der sittlichen Einsicht zur moralischguten Handlung geht. Diese Frage diskutieren Affektivisten und Intellektualisten.¹ Andererseits wird untersucht, ob das Gefühl der Achtung notwendig ist, um sich der moralischen Pflicht überhaupt bewusst sein zu können. Die Frage, ob das Moralbewusstsein nach Kant gefühlsabhängig oder gefühlsunabhängig ist, führt zur Diskussion zwischen Phänomenologen und Metaphysikern. In beiden Problemkontexten geht es um die Frage, ob die reine praktische Vernunft durch ein Gefühl ergänzt werden muss oder nicht, damit sie erstens im

 Die Unterscheidung zwischen einer gefühlsbetonten, ‚affektivistischen‘ und einer vernunftbetonten, ‚intellektualistischen‘ Beantwortung der Frage wurde von McCarty in seinem Aufsatz „Kantian Moral Motivation and the Feeling of Respect“ (1993) etabliert. https://doi.org/10.1515/9783110629170-006

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menschlichen Subjekt handlungswirksam sein kann, was der Frage nach der moralischen Triebfeder und der motivationalen Funktion des Gefühls entspricht, oder zweitens vom menschlichen Subjekt als handlungsgebietend eingesehen werden kann, was der Frage nach dem Moralbewusstsein und der epistemischen Funktion des Gefühls gleichkommt. In beiden Hinsichten kann man entweder eine gefühlsbetonte (affektivistische oder phänomenologische) oder eine vernunftbetonte (intellektualistische oder metaphysische) Position beziehen. Im Folgenden werden auf der Grundlage dieser Einteilung exemplarisch einige Positionen aus der Literatur aufgearbeitet, wobei ein besonderer Fokus auf der Unterscheidung der beiden Fragestellungen liegt. Eine phänomenologische Deutung des Gefühls der Achtung hat sich in den vergangenen Jahren nämlich insbesondere innerhalb der Beiträge affektivistisch positionierter Interpreten herausgebildet, was den Eindruck erweckt, als müssten die affektivistische und die phänomenologische Deutung des moralischen Gefühls miteinander einhergehen. In der deutschen Kant-Literatur wird diese Verknüpfung, aber auch der Unterschied zwischen den Fragestellungen, in einem Beitrag von Schönecker über „Das gefühlte Faktum der Vernunft“ (2013a) deutlich. Dort beabsichtigt er, dem Vorurteil entgegenzuwirken, „dass Kant in seiner Ethik den Gefühlen gar keinen oder jedenfalls keinen substanziellen Platz einräume“ (Schönecker 2013a, 91). Einerseits sei das falsch, weil es nach Schönecker indisputabel ist, dass Kant das Gefühl der Achtung als notwendiges Element im Rahmen der moralischen Motivation einführt. Damit gibt er sich als ein Affektivist zu erkennen und erwartet dies auch von jedem anderen Kant-Interpreten.² Andererseits will er sich in dem Aufsatz mit einer „viel anspruchsvolleren These“ beschäftigen, die „oft gar nicht adäquat wahrgenommen“ werde, die aber in noch „viel substanziellerer Hinsicht“ klarstellen soll, dass Kant „keineswegs der Rationalist“ sei, der Gefühle ablehnt, sondern vielmehr ein „ethischer Intuitionist“, dessen starke These lautet: „Wir erkennen durch Gefühle die Geltung des moralischen Gesetzes“ (Schönecker 2013a, 92, m.H.).³ Schöneckers Aufsatz repräsentiert auf diese Weise die Verschiebung einer motivationstheoretischen hin zu einer moralepistemischen Be-

 „Jeder weiß (oder müsste wissen), dass auch nach Kant die Vernunft nur motivierend wird über Gefühle“ (Schönecker 2013a, 92).  Diese These wird auch in seinem Beitrag über „Kant über Menschenliebe als Gemütsanlage“ (2010) untersucht. Dort behandelt Schönecker nicht nur die Frage nach der moralepistemischen Bedeutung, sondern erwägt auch die These, dass alle vier Gemütsanlagen in motivationaler, moralischer Hinsicht relevant sind (vgl. zu dieser These auch Guyer 2010, 137 ff.).

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Teil II: Positionen

schäftigung mit dem Gefühl der Achtung, die sich aktuell auch in der angloamerikanischen Literatur nachvollziehen lässt.⁴ Affektivisten sind häufig auch Phänomenologen, weil das Gefühl der Achtung, das uns ihrer Meinung nach zum moralisch-guten Handeln motiviert, im Zuge der Selbstverpflichtung entsteht. Daher nehmen sie häufig auch die These der Phänomenologen an, dass Menschen Achtung fühlen müssen, um sich einer moralischen Nötigung bewusst zu werden. Da die phänomenologische Deutung des Gefühls der Achtung in der Literatur faktisch von Affektivisten vorangetrieben wird, wird sie häufig auch als Unterart der affektivistischen Deutung beschrieben. Bei Autoren wie Frierson, Ware oder Grenberg deutet sich eine Unterscheidung zwischen ‚first-personal-perspective-affectivists‘ und ‚third-personal-perspectiveaffectivists‘ an, die hervorheben soll, dass die phänomenale Bedeutung der Achtung an die erst-personale Erlebnis-Perspektive gebunden ist. Die kausalmotivationale Bedeutung wird hingegen mit der unpersönlichen dritt-personalen Perspektive identifiziert.⁵ Faktisch liegen diese beiden Betrachtungsperspektiven zwar nahe beieinander, nämlich einerseits in den Positionen der Forschungsliteratur und andererseits inhaltlich im gemeinsamen affirmativen Bezug auf das Gefühl. Allerdings ist es systematisch wichtig, die beiden Fragestellungen sachlich und terminologisch zu unterscheiden. Die Frage, ob wir durch Achtung die Geltung des Gesetzes erkennen, und die Frage, ob wir durch das Gefühl der Achtung zum Handeln motiviert sind, lassen sich getrennt voneinander untersuchen und beantworten. Das bedeutet mit anderen Worten, dass sich die Antworten auch unterschiedlich kombinieren lassen. Eine affektivistische Deutung und eine phänomenologische Deutung des Gefühls der Achtung gehören also nicht notwendig zusammen. Eine phänomenologische Position kann ebenso gut auch von Intellektualisten vertreten werden, und Affektivisten können Metaphysiker sein und annehmen, dass wir die Geltung des Kategorischen Imperativs vollständig gefühlsunabhängig einsehen. Metaphysiker argumentieren in methodischer Hinsicht aus einer rein begrifflichen Perspektive und unterscheiden sich dadurch vom Phänomenologen, dass sie die Annahme eines gefühlsunabhängigen Moralbewusstseins als Prämisse einer moralphilosophischen Untersuchung akzeptieren und verteidigen. In dieser moralepistemischen Hinsicht gibt es einige Mischformen und eine weitere Unterscheidung zwischen der gemeinen moralischen Erfahrung und der philosophischen Theorie  Eine ähnliche Tendenz zeichnet die Arbeiten von Grenberg und Ware aus, die eine phänomenale, erst-personale Dimension des Gefühls epistemologisch verteidigen, dabei aber zugleich die affektivistische These teilen, dass das Gefühl auch in motivationaler Hinsicht als Triebfeder relevant ist. Ähnliche Deutungsansätze vertreten auch Timmermann und Ameriks.  Vgl. Grenberg 2013, 25, und 2001; Ware 2014; Zinkin 2006, 34.

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und Methode, sodass die Einteilung in ‚metaphysische‘ oder ‚phänomenologische‘ Ansätze klärungsbedürftig ist und Mischformen zulässt: Daher werde ich diese Debatte in einer systematischen Weise vorstellen. Die Auseinandersetzung zwischen Intellektualisten und Affektivisten ist dagegen exklusiv und bildet die aktuellen Positionen der Forschung zutreffend ab. Insgesamt wird als Grundschema die folgende Zweiteilung mit einer jeweils vernunftbetonten und einer gefühlsbetonten Position vorausgesetzt: 1.

2.

Moralische Triebfeder: Was motiviert uns zum moralisch-guten Handeln? a) Gefühlsbetonte Affektivisten b) Vernunftbetonte Intellektualisten Moralbewusstsein: Wodurch erkennen wir die Pflicht? a) Gefühlsbetonte Phänomenologen b) Vernunftbetonte Metaphysiker

In den nächsten vier Kapiteln werden diese vier Positionen der Reihe nach ausführlich erläutert. Im Anschluss daran folgt ein Kommentar über die Weise, wie die hier vertretene Deutung an die vier Positionen anknüpft. Im Rahmen der zweiten Frage nach dem Moralbewusstsein teile ich die Auffassung, dass Kants Ethik phänomenologische und metaphysische Elemente verbindet, insofern das System einer reinen Metaphysik auf den gesunden Menschenverstand Bezug nimmt.⁶ In der ersten Frage wird eine Abgrenzung von beiden Positionen befürwortet und eine dritte Lösung vorschlagen, die besagt, dass wir das Gefühl der Achtung als eine besondere Triebfeder verstehen sollten, die am moralischen Motivationsprozess als notwendige Folge der Bestimmung durch die Vernunft beteiligt ist. Diese These entspricht dem Leitfaden der vorliegenden Arbeit, die in Teil I erläutert wurde. In Teil II der Arbeit ist es das Ziel, weitgehend neutral die anderen Forschungsbeiträge und die aktuelle Diskussion aufzuarbeiten. Hierzu werden die zwei Fragen und die einzelnen Positionen separat vorgestellt, um die Kombinationsmöglichkeiten und damit auch den Deutungsspielraum besser kennenzulernen. Einleitend geht der Erläuterung der beiden Fragestellungen eine kurze Einführung voran, die auch auf Kants theoretische Philosophie anspielt. Denn die Aufarbeitung der Interpretationslage scheint in der theoretischen Philosophie bereits weiter fortgeschritten zu sein. Dort, in der theoretischen Philosophie, unterscheidet man von einem Streit zwischen ‚Konzeptualisten‘ und ‚Non-Konzeptualisten‘ eine andere Diskussion, nämlich diejenige, die zwischen ‚Phäno-

 In dieser Hinsicht überzeugen mich die Deutungen von Henrich oder Ameriks.

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Teil II: Positionen

menologen‘ und ‚Metaphysikern‘ ausgetragen wird.⁷ Auch in der aktuellen Literatur zur Faktum-Lehre der KpV und dem Gefühl der Achtung konkurrieren eine phänomenologische und eine metaphysische Deutung miteinander. Kurz gesagt, betonen Metaphysiker das An-sich-Sein der Gegenstände oder des moralischen Subjekts, wohingegen Phänomenologen betonen, dass die moralische Pflicht, als praktisches Bewusstsein der Nötigung, vollständig gefühlsabhängig ist. In der theoretischen Philosophie vertritt der Phänomenologe, dass raum-zeitliche Gegenstände vollständig subjektabhängig sind, während der Metaphysiker die subjektunabhängige Existenz von Gegenständen verteidigt. Sowohl im theoretischen als auch im praktischen Kontext werden die Extreme eher selten in Reinform vertreten. Weitaus häufiger wird für eine vernünftige Zwischenposition argumentiert, die Kants theoretische Philosophie moderat-metaphysisch, zum Beispiel im Sinne einer ontologischen Zwei-Aspekte-Deutung interpretiert. Dasselbe gilt auch für das Gefühl der Achtung in Kants Ethik. In der theoretischen Philosophie hat man sich auf eine gemeinsame Einteilung und Unterscheidung der beiden Diskussionen verständigt. Ich schlage vor, diese Einteilung, natürlich in abgewandelter Form, auch zur Einteilung der moralphilosophischen Diskussionen des Gefühls in Kants Ethik zu etablieren, um die Diskussion zu erleichtern.

2 Wodurch sind wir moralisch motiviert? In der Frage, wodurch wir nach Kant moralisch motiviert sind, lässt sich entweder eine vernunftbetonte oder eine gefühlsbetonte Auffassung verteidigen. Intellektualisten⁸ verteidigen eine vernunftbetonte Deutung, indem sie dem Gefühl der Achtung im Prozess der moralischen Willensbestimmung eine philosophisch bedeutsame Funktion absprechen. Affektivisten⁹ argumentieren dagegen, dass Menschen immer auch durch Gefühle zum Handeln motiviert sein müssen. Sie  Einen aktuellen Überblick über beide Diskussionen bietet Allais in Manifest Reality (Allais 2015). Eine Erläuterung der beiden Debatten mit Blick auf die Diskussion der Achtung folgt in den beiden einleitenden Abschnitten zu Teil II, Kap. 2 und 3.  Zu den Intellektualisten zähle ich Allison (1990), Gregor (1963), Kühn (2004), Gardner/Longuenesse (2012), O’Neill (2013), Paton (1948), Prauss (1983), Reath (2006), Reinhold (1792), Sala (2004), Sensen (2012), Stratton-Lake (2000), Walker (1993), Zinkin (2006).  Exemplarische Vertreter sind Ameriks (2004), Bojanowski (2006), Broadie/Pybus (1975), Engstrom (2010), Frierson (2014), Schadow (2013), DeWitt (2013), Grenberg (2001), Goy (2007), ggf. Guyer (2010), Herrera (2000), Horn/Mieth/Scarano (2007), Lauener (1981), McCarty (2009), Nuyen (1991), Scarano (2006), Schönecker/Wood (2007), Schönecker (2013), Timmermann (2007), Ware (2014).

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deuten das Gefühl der Achtung als moralische Triebfeder und somit als Vermittler zwischen der Einsicht und dem Wollen. Mit dieser Annahme versuche Kant seine moralphilosophischen Einsichten mit handlungspsychologischen Erwägungen in Einklang zu bringen.¹⁰ Intellektualisten bezweifeln dies, weil uns ihnen zufolge die Idee der Pflicht gefühlsunabhängig zum moralisch-guten Handeln motivieren muss. Die Debatte um die moralische Triebfeder weist gewisse Parallelen zu einem Streit aus dem Feld der theoretischen Philosophie auf, nämlich dem zwischen Konzeptualisten und Non-Konzeptualisten.¹¹ Sie diskutieren das Verhältnis zwischen Verstand und Sinnlichkeit mit Blick auf die empirische Erkenntnis. Dabei sind sie sich uneinig, ob die Anschauung im Kontext empirischer Erkenntnis eine von den Begriffen unabhängige, eigentümliche und philosophisch bedeutsame Funktion erfüllt oder nicht. Non-Konzeptualisten verteidigen, dass es für Kant so etwas wie nicht-begriffliche Wahrnehmung geben kann, weil er sagt, dass sich die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände bezieht. Sie schreiben der Anschauung somit eine eigenständige und philosophisch bedeutsame Funktion zu.¹² Analog gilt auch für Affektivisten, dass sie dem Gefühl der Achtung eine motivationale Funktion zuschreiben, die ihnen zufolge nur das Gefühl, aber nicht die Vernunft leisten kann. Diese Funktion lässt sich auch als kausale Bestimmung in Abgrenzung zu einer normativen Bestimmung beschreiben. Affektivisten deuten die motivationale Rolle, die das Gefühl der Achtung als Triebfeder spielt, aber trotz der teilweise moralpsychologischen Anreicherung als ein philosophisch bedeutsames Element von Kants Theorie der moralischen Motivation. Die Gegner in der theoretischen Diskussion heißen Konzeptualisten. Sie verteidigen den Primat des Begrifflichen gegenüber der Anschauung und sprechen ihr eine unabhängige, eigenständige und philosophisch bedeutsame Funktion ab.¹³ Mit anderen Worten kann die Anschauung ihnen zufolge nur als begrifflich-strukturierte Anschauung zur Erkenntnis beitragen. Sie erfüllt daher nur eine philosophisch randständige Funktion. In ähnlicher Weise lehnen Intellektualisten ab, dass das Gefühl der Achtung philosophisch relevant ist. Manche Intellektualisten beurteilen das moralische Gefühl als einen Nebeneffekt, den die Vernunft auf die Sinnlichkeit hat, schreiben ihm aber keine eigene Funktion zu.

 Vgl. z. B. Ameriks 2004, 2010.  Zur Einführung in die Interpretationslage vgl. Allais 2015, Kap. 7, und Friebe 2015, 102 f.  Eine non-kognitivistische Position vertritt zum Beispiel Hanna in „Kant and Nonconceptual Content“ (2005).  Die kognitivistische Position wird in der theoretischen Philosophie zum Beispiel vertreten von Allison, Strawson und McDowell.

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Teil II: Positionen

Andere Intellektualisten schreiben der „Achtung fürs Gesetz“ eine motivierende Funktion zu, deuten „Achtung“ dann aber nicht als Gefühl im üblichen phänomenalen Sinne des Wortes, sondern als ‚intellectual aspect‘.¹⁴ Eine weitere Position, die ich als intellektualistisch einordne, die auf den ersten Blick aber auch für eine affektivistische Deutung gehalten werden könnte, wird von Herbert J. Paton vertreten. Paton schlägt in The Categorical Imperative (1948) vor, dem Gefühl der Achtung eine naturale Funktion zuzuschreiben. Im Raum der philosophischen Gründe sei die Vernunft eine hinreichende Triebfeder, im Raum der naturalen Ursachen könne Achtung jedoch motivational als Ursache notwendig sein.¹⁵ Mit dieser These spricht Paton dem Gefühl der Achtung eine eigenständige, philosophisch bedeutsame Funktion ab, aber eine naturale, randständige Funktion zu. Dieser Ansatz ähnelt mitunter fast wörtlich der konzeptualistischen Deutung der Rolle der Anschauung, die nicht im Raum der Gründe, sondern im Raum der Ursachen liegt, da ihr zufolge die Anschauung über Affektion den Kontakt zum Gegenstand herstellt. In dieselbe Richtung weisen auch die Monographie über „Kant‘s Empirical Psychology“ (2014) von Frierson und ein Vorschlag von Paul Guyer. Guyer versteht Kants Theorie der moralischen Gefühle „as an account of Kant‘s final empirical theory of the etiology of moral action“ (Guyer 2010, 132). Trotz der Nähe zur affektivistischen These einer kausalen Funktion zähle ich zumindest Paton zu den Intellektualisten, weil er im philosophischen Kontext ausdrücklich ablehnt, dass ein Gefühl zur moralischen Motivation erforderlich sei.¹⁶ Bei Guyer und Frierson bin ich mir dessen unsicher. Denn beide scheinen die naturale, kausale Funktion der Achtung auch im Raum der Gründe verteidigen zu wollen, weil sie, anders als Paton, gar nicht oder weniger deutlich vertreten, dass die Vernunft aus der philosophischen Perspektive hinreichend ist, um die Willkür zu bestimmen.¹⁷ Au-

 Diese intellektualistische Deutung der Achtung als intellektuelle Anerkennung wird aktuell unter dem Namen einer Zwei-Aspekte-Lesart von Reath, Sensen oder Stratton-Lake vertreten.  Vgl. Paton 1962, 69. Ich zitiere im Folgenden nach der deutschen Übersetzung.  Vgl. Paton 1962, 65.  Immerzu betont Guyer, dass das moralische Gefühl philosophisch betrachtet als „phenomenal effect of the noumenal determination of the will“ (Guyer 2010, 132) verstanden werden müsse, allerdings unterscheidet er die Willkür als Vermögen ausdrücklich vom allgemeinen Vermögen des Willens, sodass er anscheinend nicht annimmt, dass das Gefühl aus einer philosophischen Perspektive auch als phänomenaler Effekt der noumenalen Bestimmung der Willkür betrachtet werden muss. Dies würde für ein affektivistisches Verständnis sprechen. An anderen Stellen betont er aber, dass „we can assume that Kant means everything he is describing to be phenomenal effects of the noumenal determination of the will“ (Guyer 2010, 139) und „everything“ könnte hier so verstanden werden, dass seiner Meinung nach auch die Bestimmung der

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ßerdem beschäftigen sich beide ausführlich mit der empirischen Funktion der Achtung, und sie rechnen alle Aussagen, die Kant diesbezüglich in seinen philosophischen Werken macht, zu einer empirischen Theorie, die sie Kant zuschreiben. Dies erweckt den Eindruck, als habe die empirische Bestimmung der Willkür durch das Gefühl der Achtung eher den Status einer notwendigen Ergänzung der philosophischen Betrachtungsweise. Meines Erachtens steht aber fest, dass auch die Bestimmung der Willkür und eine Handlung aus Pflicht Bestandteile von Kants philosophischer Theorie sind. Wenn sich diese Bestandteile nach Guyer und Frierson nicht unabhängig von einer empirischen Theorie vollständig rekonstruieren lassen, dann lässt sich daraus schlussfolgern, dass sie die von ihnen sogenannte empirische Theorie des Gefühls der Achtung als Bestandteil von Kants philosophischer Theorie betrachten. Somit wären sie in meinen Augen Affektivisten, die eine empirische Ergänzung von Kants Philosophie für notwendig halten. Dies würde sie von Paton als einem Intellektualisten unterscheiden, der ausdrücklich vertritt, dass Achtung, wenn man darunter eine naturale Ursache versteht, philosophisch unbedeutend ist. Er vertritt deutlich die intellektualistische These, dass Kants philosophische Theorie inklusive der Bestimmung der Willkür und der Rekonstruktion einer Handlung aus Pflicht unabhängig von dem Gefühl der Achtung und empirischen Elementen vollständig ist. Andererseits stößt mein Verständnis der Position von Guyer und Frierson hier an ihre Grenzen, da auch sie unter Rekurs auf die zwei Standpunkte manchmal suggerieren, dass auch die Bestimmung der Willkür und alle sonstigen Elemente von Kants Theorie vom philosophisch-praktischen Standpunkt aus lediglich als ein Resultat der noumenalen Bestimmung durch die Vernunft und alle empirischen Momente nur als phänomenale Wirkungen der Vernunft betrachtet werden müssen. Daher betrachte ich diese Positionen als Grenzfälle, die besonders diskussionsbedürftig sind, die vorläufig aber, aufgrund ihrer besonderen Fokussierung der Relevanz von Kants sogenannter empirischer Theorie, eher als Affektivisten einzuordnen sind. Als Grenzfälle zeigen diese Positionen an, wo die Grenze zwischen Intellektualisten und Affektivisten gezogen werden kann. Sie verläuft dort, wo eine rein philosophische Betrachtung an eine empirisch angereicherte Moralbetrachtung grenzt. Intellektualisten nehmen an, dass die philosophische Betrachtung vollständig ist, insofern sie auch die Bestimmung der Willkür und die Handlung aus Pflicht auf eine Bestimmung durch die reine praktische Vernunft zurückführen.

Willkür als Resultat einer noumenalen Bestimmung betrachtet werden kann, was für eine intellektualistische Deutung spräche.

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Teil II: Positionen

Affektivisten denken hingegen, dass Kants philosophische Theorie mit Blick auf die Bestimmung der Willkür auch empirische Elemente und Erwägungen integrieren muss, nämlich das Gefühl der Achtung, das ihnen zufolge immer auch psychologisch oder empirisch relevant ist. Die Probleme, die daraus entstehen, dass sich diese Grenze nicht immer klar ziehen lässt, müssen hier teilweise offen bleiben.¹⁸

2.1 Affektivisten: Das Gefühl ist die moralische Triebfeder Die meisten Kant-Interpreten, die das Gefühl der Achtung berücksichtigen, sind Affektivisten. Sie vertreten, dass Menschen nach Kant durch ein moralisches Gefühl der Achtung motiviert sein müssen, um auf der Grundlage der moralischen Einsicht auch moralisch gut handeln zu wollen. Dem Gefühl der Achtung wird auf diese Weise eine vermittelnde Stellung zwischen dem (noumenalen) Willen und der (empirischen) Willkür eingeräumt. Diese vermittelnde Rolle, die sich auch als kausale oder motivierende Funktion beschreiben lässt, ist für die affektivistische Deutung der Achtung charakteristisch. Affektivist ist man also dann, wenn man annimmt, dass ein Gefühl der Achtung in Kants Moralphilosophie notwendig der moralisch-guten Handlung aus Pflicht vorhergeht. In der Regel entspricht diese Deutung der Lehrmeinung. Sie wird in Einführungswerken und Lexika-Beiträgen präsentiert,¹⁹ aber eher selten problematisiert

 Eine gute Einführung in die Problematik bietet Cramer in „Metaphysik und Erfahrung in Kants Ethik“ (1996), der den Einwand behandelt, dass der Pflichtbegriff nicht a priori gelten kann, wenn er auch auf anthropologischen Voraussetzungen beruht. Eine ausführliche Diskussion der Frage, wo genau bei Kant die Grenze zwischen philosophischer und anthropologischer (empirischer) Erkenntnis verläuft, muss ich hier vernachlässigen. Ich beschränke mich in dieser Hinsicht auf den genannten Vorschlag zur Bestimmung der Grenze zwischen der affektivistischen und der intellektualistischen Position.  Die einleitende Beschreibung der „Achtung, Achtung für das Gesetz“ im neuen Kant-Lexikon lautet: „Unter Achtung für das Gesetz versteht Kant das Bewusstsein freier und vernunftbegabter Handlungssubjekte, unter der Forderung des moralischen Gesetzes zu stehen (vgl. 4:401Anm; 5:80; 5:117). Aufgrund der Wirkung, die das Bewusstsein dieser moralischen „Nötigung“ (5:80) auf die Sinnlichkeit eines endlichen Vernunftwesens ausübt, bezeichnet er diese Achtung auch als ein moralisches Gefühl, durch das das Sittengesetz Triebfeder zur guten Handlung ist (vgl. 5:75).“ (Schadow 2015, 18). Eine ähnliche Beschreibung findet man auch im Stichwortverzeichnis eines einführenden Kommentars zur GMS: „ACHTUNG ist nach Kant ein ‚durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl‘ (401,20 f.), das im Gegensatz zu Gefühlen, die auf Neigung bzw. Furcht beruhen, als moralisch angemessenes Motiv, d. h. als Basis für eine Handlung aus Pflicht, dienen kann. Bei einer solchen Handlung wird der Wille ‚objektiv‘ durch ‚das Gesetz‘ und ‚subjektiv‘

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und daher auch häufig für indisputabel gehalten. Bestätigt wird sie außerdem in vielen Forschungsbeiträgen, unter anderem von Ameriks (2004), Jochen Bojanowski (2006), Alexander Broadie/Elisabeth M. Pybus (1975), Engstrom (2010), Frierson (2014), Steffi Schadow (2013), Janelle DeWitt (2013), Grenberg (2001), Goy (2007), ggf. Guyer (2010), Larry Herrera (2000), Horn/Corinna Mieth/Nico Scarano (2007), Henri Lauener (1981), McCarty (2009), Tuan A. Nuyen (1991), Scarano (2006), Schönecker/Wood (2007), Schönecker (2013, 2018), Timmermann (2007), Ware (2014). Sie alle deuten das Gefühl der Achtung als „ein zwischen dem reinen Willen und der Willkür vermittelndes Glied“ (Lauener 1981, 264). Diese vermittelnde Stellung im Motivationsprozess lässt sich wie folgt illustrieren: Bewertung, Gefühl, Wollen und Handeln (Ameriks , ). Cognition → (of the moral law)

Feeling → (of respect)

Desire/Choice [Action] (to act in accordance with the moral law) (Frierson , ).

Eine Vermittlerrolle als moralische Triebfeder kann die Achtung darum erfüllen, weil ihr Ursprung von Kant mit der reinen praktischen Vernunft identifiziert wird. Affektivisten betonen die innovative Hybridbeschreibung des moralischen Gefühls, das als Gefühl an die Sinnlichkeit, als reines Gefühl mit vernünftigem Ursprung aber an die Vernunft angebunden sei.²⁰ Der Übergang von der moralisch-praktischen Einsicht (Bewertung, Cognition) zur moralisch-guten Handlung (Wollen/Handeln, Desire/Choice/Action) ist problematisch, insofern er nach Kant durch die Annahme einer Kausalität der reinen Vernunft möglich sein soll. Diese Annahme ist einerseits handlungspsychologisch problematisch, weil Menschen nach der gängigen Auffassung immer auch ein Gefühl der Lust und Unlust brauchen, um handlungsmotiviert zu sein. Andererseits wird angezweifelt, dass eine Kausalität der Vernunft Handlungen in der Erfahrungswelt verursachen kann, weil sie transzendentalphilosophisch dem Bereich des Intelligiblen angehört, der nicht wahrnehmbar ist; Handlungen hingegen schon. In beiden Hinsichten stellt sich ein Problem der Vermittlung und in beiden Hinsichten soll das Gefühl der Achtung als sinnlich motivierendes

durch ‚reine Achtung für dieses praktische Gesetz‘ bestimmt (400,32 f.).“ (Horn/Mieth/Scarano 2007, 314).  Vgl. GMS, 4:401Anm. „Thus, in describing respect as the incentive to morality, Kant can be interpreted as making reference both to the a priori origin of respect, which ensures that it is a moral incentive, and to the sensuousness of respect, which ensures that it is an incentive at all“ (Pybus/Broadie 1975, 63).

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Teil II: Positionen

Gefühl die Realisierbarkeit der moralisch-guten Handlung garantieren. Die kausale (vermittelnde) Funktion des Gefühls der Achtung steht daher im Zentrum der affektivistischen Problemlösung.²¹ Handlungspsychologisch wird betont, dass man Kant nicht wörtlich verstehen dürfe, wenn er vertritt, dass „jenes [das moralische Gesetz] ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV, 5:71) sei.²² Diese These, dass allein die Vernunft moralisch-gute Handlungen hervorbringen kann, lehnen Affektivisten mit der Begründung ab, dass menschliche Handlungen motivational immer affektiv oder emotional motiviert sein müssten. Dies bestätige die Alltagserfahrung und die allgemeine Handlungspsychologie. So wie eine Dampflock Kohle verbrennen muss, um eine Fracht von A nach B liefern zu können, so brauche auch der Mensch motivierende Triebfedern, um die Zwecke, die er sich setzt, zu realisieren. Wir müssen nach der affektivistischen Auffassung also, um uns zum Handeln in Bewegung zu setzen, durch irgendeinen inneren Impuls dazu angetrieben werden, und dieser Antrieb ist in der Regel irgendein Gefühl der Lust oder Unlust. Eine solche Triebfeder muss eigentlich auch der moralisch-guten Handlung zugrunde liegen, wenn sie Menschen möglich sein soll, denken Affektivisten. Das Gesetz allein ist ein rein formales Gesetz der Vernunft, und es ist nicht klar, wie bloße Einsicht in dieses formale Gesetz einen Menschen aus Fleisch und Blut motivieren können soll, das Richtige zu tun. Daher sehen sich die Interpreten mit einem Motivationsproblem²³ konfrontiert: [A]n action cannot have moral worth unless it is done for the sake of the moral law. But the moral law cannot by itself be an incentive to any sort of action – only a feeling can be an incentive to action (Pybus/Broadie 1975, 63).

Affektivisten interpretieren Kants These, dass ein besonderes vernunftgewirktes Gefühl der Achtung die moralische Triebfeder sei, als innovative Antwort auf den Motivationseinwand, die es ihm erlaubt, seine moralphilosophische Position mit der allgemeinen Handlungspsychologie zu verknüpfen. Achtung ist seinem Ursprung nach ein reines Gefühl, das von allen Menschen gleich erlebt wird. Weil es

 Diese Darstellung und Auflösung des Problems beschreiben z. B. DeWitt, Bojanowski oder Broadie und Pybus (vgl. DeWitt 2013, 4, Bojanowski 2006, 51 f., Broadie/Pybus 1975, 63).  „Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme.“ (KpV, 5:71, m.H.). Auch Formulierungen, in denen von einer Kausalität der Vernunft die Rede ist, dürften nicht wörtlich verstanden werden, wie z. B. Timmermann vertritt (vgl. Timmermann 2003, 196Anm.2).  Ameriks beschreibt dieses spezielle Motivationsproblem und bemerkt, dass wir an Menschen beobachten, dass sie emotional betroffen sein müssen, um handeln zu können (vgl. Ameriks 2004, 112).

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sozusagen derselben Vernunft aller Menschen entspringt, ist es moralisch. Dennoch habe das Gefühl der Achtung als positives Gefühl eine motivierende Kraft und erfülle damit die Erwartungen einer menschlichen Handlungspsychologie. Die nämlich besagt, dass jeder Handlung, ganz gleich ob sie moralisch oder nichtmoralisch ist, ein Gefühl der Lust oder Unlust vorangehen muss. Affektivisten schreiben Kant diese allgemeine Handlungspsychologie uneingeschränkt zu und stützen sich zum Beispiel auf die folgende Stelle, einen Abschnitt über das moralische Gefühl aus der MS: Alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur That (MS, 6:399).

Schadow verteidigt diese Deutung in Achtung für das Gesetz (2013) mit einem handlungstheoretischen Schwerpunkt.²⁴ Friersons Beitrag aus demselben Jahr ist stärker an Aspekte der empirischen Psychologie angelehnt, dient aber ebenfalls zur Verteidigung dieser affektivistischen These, dass unser allgemeines Handlungsverständnis – „according to which pleasure always precedes determination of the faculty of desire – has no exceptions“ (Frierson 2014, 120). Auch Scarano und Grenberg argumentieren, dass moralisches Handeln, wie es Kant verstehe, nicht aus der allgemeinen Handlungstheorie herausfallen dürfe.²⁵ Demnach stimmen also alle Triebfedern, moralische sowie nicht-moralische, darin überein, dass es sich um Gefühle handelt, die eine motivierende Kraft haben und daher notwendig dem Entschluss zur Handlung und ihrer Realisierung vorhergehen. Schönecker und Wood weisen auf die Stellen aus der GMS hin, in denen Kant die moralisch-wertvolle Handlung als eine Handlung „aus Achtung“ (GMS, 4:400) beschreibt;²⁶ später behandelt er ein moralisches Interesse, nachdem er definiert: „Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d.i. eine den Willen bestimmende

 „Motivation bei Kant verläuft immer von einem Gedanken über ein Gefühl der Lust oder Unlust und ein Interesse zur Tat“ (Schadow 2013, 284).  Scarano nimmt an, dass Kant „eine allgemeine, auf sehr unterschiedliche Handlungstypen gleichermaßen zutreffende Strukturbeschreibung geben möchte“ (Scarano 2006, 449). Diese Interpretation, der zufolge nach Kant eine praktische Lust immer notwendig ist, um als Triebfeder das Begehrungsvermögen zu bestimmen, verteidigt auch Grenberg in „Feeling, Desire and Interest in Kant‘s Theory of Action“ (2001): „[I]t is perhaps worth noting that Kant accepts the need for impulsion to action even in the case of moral action“ (Grenberg 2001, 158, fn 15).  „Denn aus Pflicht zu handeln heißt, subjektiv betrachtet, nichts anderes als aus Achtung zu handeln. Kant hält das rückblickend unmißverständlich fest: ‚Auch haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Wert geben kann.‘ (440, 5, u.H.)“ (Schönecker/Wood 2007, 82).

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Ursache, wird.“ (GMS, 4:459 f.). Kurz darauf betont Kant die Relevanz eines Gefühls der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht: „Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen“ (GMS, 4:460). In der KpV findet man dann ausdrücklich die Aussage, Achtung diene „blos zur Triebfeder“ (KpV, 5:76), und dann erneut eine Schlussfolgerung, die keinen Zweifel zu lassen scheint: „Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, so wie dieses Gefühl auch auf kein Object anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet ist“ (KpV, 5:78). Affektivisten sehen es daher als unstrittig an, dass dem Gefühl der Achtung in Kants Theorie eine motivierende Rolle zukommt, die aufgrund der menschlichen Handlungspsychologie notwendig ist.²⁷ Die affektivistische Deutung wird aber nicht nur handlungspsychologisch, sondern durchaus auch transzendentalphilosophisch begründet. Eine Handlung, deren Realisierung allein auf einer intelligiblen Kausalität der Vernunft beruht, sei nach Kant nämlich auch erkenntnistheoretisch problematisch, weil es sich prinzipiell nicht um einen Gegenstand der Erfahrung handeln könne. Affektivisten argumentieren also, dass eine empirische, sinnliche oder psychologische Ursache auch darum notwendig sei, weil eine wirkliche moralisch-gute Handlung andernfalls vom empirischen oder psychologischen Standpunkt aus als unerklärbar erscheinen würde und daher ausgeschlossen wäre. Das Gefühl der Achtung sei also auch transzendentalphilosophisch zur psychologisch-empirischen Realisierung notwendig.²⁸ Es gibt, eindringlich bei McCarty²⁹ und Lauener die Tendenz, die Achtung als Vermittler zwischen zwei Welten zu deuten und auf diese Weise den Stellenwert des moralischen Gefühls auch systematisch, d. h. transzendentalphilosophisch zu begründen: [A]ls Triebfeder artikuliert es den heiklen Übergang von der noumenalen zu der phänomenalen Sphäre. In dieser Weise wird erst erklärt, wie das Sittengesetz Einfluss auf menschliche Handlungen haben kann (Lauener 1981, 243).

 „The moral law determines the will directly, and then follows the feeling of respect, which subsequently determines the choice to act accordingly.“ (McCarty 1993, 428).  Entsprechend definiert Goy in ihrer Überblicksdarstellung die kausale Funktion der Achtung: „Das praktische Gesetz ruft die Empfindung der Achtung hervor, diese wiederum bewirkt die Realisierung der moralischen Handlung in der Erfahrungswelt“ (Goy 2007, 348).  Vgl. McCarty 2009, 167.

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Auch Guyer interpretiert Achtung als ein vermittelndes, empirisches Gefühl. Es sei ein Epiphänomen oder ein phänomenaler Effekt der noumenalen Willensbestimmung, erfülle aber als empirische Triebfeder zur Bestimmung der Willkür eine kausale Rolle, durch die empirisch nachvollziehbar werde, wie die moralisch-gute Handlung von Akteuren empirisch, also in Zeit und Raum, realisiert werden kann.³⁰ Nach affektivistischer Auffassung muss die moralische Triebfeder aus psychologischer Perspektive nämlich genauso wirken wie auch alle nichtmoralischen Triebfedern.³¹ Dies verdeutlicht noch einmal ein Schaubild von Frierson. In ihrer kausalen Funktion unterscheiden sich das Gefühl der Achtung und alle anderen Gefühle der Lust und Unlust nicht voneinander, sondern nur dem Ursprung nach: Cognition of ML

→ ↑ Moral Feeling

Respect for ML

→ ↑ Nature of (practical) pleasure

Volition to obey ML

(Frierson , ).

Triebfeder einer Handlung ist diesem Modell zufolge also immer ein (praktisches) Gefühl der Lust oder Unlust, und „Respect for ML [Moral Law]“ wird hiervon nicht ausgenommen. Der ursprünglichen Wortbedeutung nach wird unter einer Triebfeder ein mechanischer Antrieb verstanden, oder eine psychologische Kraft, die uns zum Handeln antreibt: Triebfeder is a mechanical term. It designates the ‘spring’ of motion, as in a clock or an oldfashioned toy. In psychology, it is by extension a motivating desire, the force that propels an agent forward if he or she so chooses. (Timmermann 2007, 180 f.).

In Anlehnung an diese ursprüngliche Bedeutung verstehen Affektivisten unter Triebfedern in der Regel „forceful psychological causes of action“ (McCarty 2009, 187), die sich gegen konkurrierende Triebfedern in einem „psychological contest“

 Achtung, das moralische Gefühl sowie die anderen subjektiven Gemütsanlagen der Liebe und des Gewissens haben ihm zufolge eine „causal role […] in making the moral law effective in the phenomenal etiology of action“ (Guyer 2010, 138). Die vermittelnde Funktion des Gefühls der Achtung bestehe darin, „to play a causal role in the transition from the recognition of the fundamental principle of morality to the formulation and commitment to particular maxims“ (Guyer 2010, 138).  McCarty betont, wie auch Frierson ausführlich, „that Kant viewed respect for the law as a psychologically forceful incentive, one that would be capable of explaining actions justified by pure practical reason.“ (McCarty 2009, 168).

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(McCarty 2009, 182) durchsetzen müssen. Man beruft sich insbesondere auf das Triebfedernkapitel der KpV, um zu zeigen, dass es sich bei der Achtung fürs Gesetz und den Neigungen um konkurrierende Triebfedern handelt.³² Alle Affektivisten sind sich einig, dass Kant in diesem Abschnitt die kausale Funktion der motivierenden Achtung beschreibt, die darin bestehe, die konkurrierenden Triebfedern einzuschränken als „Gegenkraft gegen die Kräfte der Neigungen“ (Schönecker 2013a, 101). Im Erfolgsfall setzt sich die moralische Triebfeder durch und realisiert auf diese Weise die gebotene Handlung.³³ Affektivisten sind daher in der Regel auch Empiristen, wie Frierson zeigt,³⁴ zumindest in der einen Bedeutung, dass sie David Hume in der folgenden Annahme zustimmen: „Nichts aber kann den Impuls eines Affektes unterdrücken oder verzögern, als ein entgegengesetzter Impuls.“ (Hume 1987, 153). Sie glauben, dass Kant nicht in einem uneingeschränkten Sinne wörtlich zu verstehen sei, wenn er vertritt, dass reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann. Reine Vernunft könne nämlich genau genommen nur indirekt praktisch werden, indem sie auf unerklärliche Weise ein Gefühl hervorbringt, das sich im psychologischen Konkurrenzkampf der Triebfedern durchsetzen muss. Darin besteht letztlich die motivierende Rolle des Gefühls der Achtung, dass sie psychologisch die Realisierbarkeit der gebotenen Handlung ermöglicht und empirisch erklärbar macht. Reine Vernunft ist für sich selbst praktisch, nur insofern sie ein besonderes motivierendes Gefühl hervorbringen kann: „[T]he feeling of pleasure through which pure reason becomes practical is itself the feeling of respect“ (Schönecker 2013b, 2).³⁵ Mit einer ähnlichen Pointe erläutert Timmermann die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Kausalität der Vernunft“, womit auch ihm zufolge niemals gemeint  Eine detaillierte Deutung des Abschnitts entwickelt Engstrom in starker Nähe zur affektivistischen Deutung (vgl. Engstrom 2010, z. B. 98). Auch Timmermann vertritt die These von der Konkurrenz zwischen der Achtung und Neigungen: „Reverence for the law (Achtung) – the desire to do what is morally required (IV 440.6 – 7) – and inclination (Neigung) are competing Triebfedern“ (Timmermann 2007, 181). Stark deterministisch deutet McCarty dieses Konkurrenzverhältnis: „If I therefore have two incentives for the same action, one of which is the motive of duty, and if that one is stronger than the other, it will cause me to act ‘from duty’“ (McCarty 2009, 187).  „The winner of this psychological contest will be, in every case, the maxim incorporating the motivationally stronger incentive“ (McCarty 2009, 182).  „We might call these two parties the empiricists and the anti-empiricists, taking care not to confuse this empiricism with the throughgoing empiricism about morals found in philosophers such as David Hume or Adam Smith, since even those Kantian who see moral motivation as empirically describable do not see such description as any basis for moral content or justification.“ (Frierson 2014, 117). Empiristen und Anti-Empiristen diskutieren dieser Unterscheidung zufolge, in welchem Ausmaß moralische Motivation empirisch erklärbar ist.  „Achtung ist das ‚Gefühl‘ (GMS: 401; KpV: 75), wodurch die moralische Vernunft im Menschen praktisch wird.“ (Schönecker 2018, 104).

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sein kann, dass der reinen praktischen Vernunft, unabhängig von dem Gefühl der Achtung, eine handlungswirksame Kausalität zukommt.³⁶ Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sich Affektivisten nicht alle einig darin sind, wie sich dieses empirisch-psychologische Modell in Kants Theorie der Freiheit integrieren lässt. Nuyen betont die Nähe, Schadow, sowie fast alle anderen Affektivisten auch, die Entfernung zu Humes Affekt-Theorie. In den aktuellen Beiträgen gehört es zum guten Tonfall einer affektivistischen Deutung, dass sie selbstkritisch gegenüber der affektivistischen Grundidee Stellung bezieht und eine Zwischenposition befürwortet. Es wird argumentiert, dass das mechanische oder psychologische Konzept einer Triebfeder mit Blick auf Kants Freiheitstheorie eigentlich zu kurz greift und daher ergänzt werden muss.³⁷ Frierson verteidigt das mechanistische Modell mit Blick auf Kants Freiheitstheorie auf eine klassische Weise, indem er auf die Unterscheidung zwischen rechtfertigenden Gründen und erklärenden Ursachen verweist, wie sie Paton in die Diskussion eingeführt hat. Der Vorschlag lautet, dass aus einer „internen und praktischen Perspektive“ das Gesetz zwar der bestimmende Handlungsgrund (Bewegungsgrund), die Achtung aus „einem externen oder psychologischen Gesichtspunkt“ (Paton 1962, 69) aber die Handlungsursache (Triebfeder) einer moralisch wertvollen Handlung sei. Eine ähnliche Strategie präsentiert Guyer, indem er argumentiert, dass das Gefühl der Achtung als Ursache nur in empirischer Hinsicht zur Bestimmung partikularer Maximen notwendig sei, wobei es in philosophischer Hinsicht als eine Wirkung der noumenalen Bestimmung allgemeiner Maximen betrachtet werden müsse.³⁸ Philosophisch ‚aus Pflicht‘ zu handeln bedeutet danach, dass man psychologisch ‚aus Achtung‘ handelt. Der Gedanke der

 „Eine analoge Mehrdeutigkeit besteht beim Ausdruck ‚Kausalität der Vernunft‘. Einerseits folgt schon auf das Urteil durch eine (unerklärliche) Kausalität der Vernunft das intellektuell gewirkte Gefühl der Achtung. Andererseits sind in einem schwachen Sinn alle Handlungen der freien Willkür Akte einer intellektuellen Kausalität der Vernunft; und schließlich reden wir von Kausalität der Vernunft, wenn beim moralischen Handeln Achtung erfolgreich die Willkür bestimmt. In diesem Falle ist reine Vernunft praktisch.“ (Timmermann 2003, 196Anm.2).  Abgesehen von der Freiheitsproblematik kritisieren Grenberg und Ware, dass Triebfedern im mechanistischen Modell nur aus einer dritt-personalen Perspektive beschrieben werden können. Der Unterschied zwischen Triebfedern und Kräften bestehe aber gerade darin, dass erstere an eine erst-personale Perspektive gebunden seien, in der sie eine intentionale Struktur oder Gerichtetheit aufweisen (vgl. Grenberg 2001, 159) und phänomenal erlebt werden (Ware 2014, 743).  „[W]e can assume that everything he is describing to be phenomenal effects of the noumenal determination of the will while still seeing these factors as causally indispensable factors in the motion of agents from empirical awareness of the moral law to the performance of particular actions in the phenomenal realm“ (Guyer 2010, 139).

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Pflicht dient zur Rechtfertigung, Achtung zur Erklärung der Handlung, so die Idee. McCarty reagiert 1993 auf den Einwand von Henry E. Allison, dass ein mechanistisches Verständnis von Triebfedern der sogenannten ‚incorporation thesis‘ widerspreche. Gemeint ist mit „incorporation thesis“ (Allison 1990, 5 f.) Kants Lehre, dass der Wille „durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat […]“ (RGV, 6:24). McCarty referiert auf die Unterscheidung von Paton, die er aber nicht für ausreichend hält, um den Streit zwischen Intellektualisten und Affektivisten zu schlichten. Beide nämlich treffen mit ihrer These über die moralische Triebfeder Aussagen über die psychologische Perspektive, weshalb es sich nicht bloß um einen Streit um Worte, sondern um einen wirklichen Streit handle.³⁹ Auf dieser Grundlage argumentiert er einerseits dafür, dass seine psychologisch-mechanistische Interpretation mit dem sogenannten ‚incorporation model‘ vereinbar sei, insofern Triebfedern in einem intellektuellen Akt der Selbsttätigkeit in Maximen aufgenommen werden müssen und nur im Zuge dieser intellektuellen Zustimmung auch psychologisch zum Handeln motivieren können. Andererseits fordert er, dass Intellektualisten ihre These von der gefühlsunabhängigen Handlungswirksamkeit der Vernunft in psychologischer Hinsicht modifizieren sollen, indem sie das Gefühl der Achtung als Triebfeder in ihre Interpretation integrieren.⁴⁰ Auch wenn McCarty wörtlich nur eine Modifikation der intellektualistischen Deutung verlangt, steht fest, dass diese Modifikation eigentlich darin bestehen soll, Affektivist zu werden. Daher halte ich es auch für missverständlich, wenn man unter richtigen Affektivisten nur solche versteht, die uneingeschränkt ein psychologisches oder mechanistisches Verständnis von Triebfedern verteidigen, denn das tut mit Blick auf Kant, zu Recht, (fast) niemand.⁴¹

 „Paton‘s perspectives cannot provide a workable compromise. The reason is that both the intellectualist and affectivist interpretations can be shown to offer conflicting explanations of moral motivation or respect from just the same perspective.“ (McCarty 1993, 429). „The dispute is rather entirely over the attitude of respect, which is not the internal-perspective ground of moral action. […] It is an attitude only to what Paton identifies as the external perspective; and it functions in that perspective to explain actions presumably performed, from the internal perspective, merely for the sake of the law“ (McCarty 1993, 430).  „[T]he prevailing intellectualist interpretation must still be modified. This is because none of the intellectualists named above limits his or her denial of the motivational efficancy of the feeling of respect merely to a certain explanatory perspective.“ (McCarty 1993, 429).  Eine Ausnahme bildet Nuyen in „Sense, Passions and Morals in Hume and Kant“ (1991), der von einem intellektualistischen Kant-Verständnis absieht und ausschließlich die Parallelen zwischen Humes und Kants Theorie betont.

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Ein starkes empiristisches Verständnis der Kategorie „Affektivisten“ wird aber häufig zugrunde gelegt. Schadow merkt in ihrer Literaturübersicht an, dass eine eindeutige Zuordnung daher nicht immer möglich sei, auch weil beispielsweise McCarty mitunter nur als „semi-affectivist“ (Herrera 2000, 396) gilt, insofern er das psychologische Modell konkurrierender Triebfedern nur in einem eingeschränkten Sinne verteidigt, in einem anderen Sinne aber den Intellektualisten Zugeständnisse macht.⁴² Ebenso verteidigt sie, wie auch (fast) alle anderen Affektivisten, eine Zwischenposition, die sie selbst als auch intellektualistisch charakterisiert.⁴³ Tatsächlich gibt Schadow mit ihrer detaillierten Deutung der Achtung auch ein einzigartiges Beispiel für eine affektivistische Deutung, die den Thesen der Intellektualisten weitest möglich entgegenkommt: Sie nimmt unter Rückgriff auf Andrews Reath an, dass es einen intellektuellen Aspekt der Achtung gibt, den sie als ursprüngliches Bewusstsein des Gesetzes deutet;⁴⁴ dieses Bewusstsein des Gesetzes bewirke einen affektiven Aspekt der Achtung, der als Triebfeder zur Handlung motiviert, wobei sie sich von einem mechanistischen Modell distanziert.⁴⁵ Drittens unterscheidet sie von der intellektuellen Anerkennung und dem motivierenden Gefühl der Achtung das moralische Interesse, das ihr zufolge nur eine Folge, Wirkung oder Begleiterscheinung der moralisch-guten Handlung sein kann.⁴⁶ Dennoch lässt sich auch Schadow meinem Verständnis nach eindeutig als Affektivistin einordnen, weil sie vertritt, dass ein motivierendes Gefühl der Achtung der moralisch-guten Handlung vorhergehen muss. Dieselbe affektivistische Grundidee vertreten auch Timmermann und Ameriks, und auch sie integrieren sie auf philosophisch anspruchsvolle Weise in ein  Vgl. Schadow 2013, 276Anm.88.  „Insofern treffen, je nach Perspektive, beide Lesarten, die intellektualistische und die affektivistische, einen wichtigen Punkt, auch wenn keine der beiden für sich in ihrer Ausschließlichkeit überzeugen kann.“ (Schadow 2013, 296).  Diese „Seite der Achtung, nämlich die intellektuelle, nach der diese das Bewusstsein der ‚unmittelbare[n] Bestimmung durchs Gesetz‘ ist (GMS, 4:401Anm.)“ (Schadow 2013, 297), scheint dem Gefühl der Achtung als Bewusstseinsmodus zugrunde zu liegen, weil die intellektuelle Seite der Achtung dazu dient, „zu erkennen und anzuerkennen, was moralisch geboten ist“ (Schadow 2013, 297).  „Das heißt, dass auch die Triebfeder der Achtung erst dann ein echtes Exekutionsprinzip der Handlung ist, wenn sie das Subjekt, dem sie sich darstellt, in seine Maxime aufnimmt und es sich damit zur subjektiven Regel seines Handelns macht.“ (Schadow 2013, 291). „Ihre treibende Kraft geht demnach nicht in der Beschreibung nach einem gleichsam mechanistischen Handlungsmodell auf.“ (Schadow 2013, 292). Vor diesem Hintergrund kritisiert sie zum Beispiel auch Grenbergs Definition und Übersetzung einer Triebfeder als „sensible drive“ (vgl. Schadow 215, fn 54 und Grenberg, 2001, 158).  „Mit dem Interesse geht die Handlung einher.“ (Schadow 2013, 288).Vgl. Schadow 2013, 118 f., 281, 292.

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intellektualistisches Bild von Kants Freiheits- und Moralauffassung.⁴⁷ Timmermann kritisiert die Vorstellung, dass es sich bei den konkurrierenden Triebfedern um kämpfende Kräfte handelt. Was McCarty als „conflict-of-forces-conception‘ beschreibt, diskutiert er als „Waagschalenmodell“, denn: „Das klassische Modell für die rein mechanische Bestimmung der Willkür ist das der Waage, das sich bereits bei Pierre Bayle und Gottfried Wilhelm Leibniz findet“ (Timmermann 2003, 203Anm.1). Timmermann greift in seiner Interpretation der moralischen Triebfeder McCartys Selbstkritik auf und befürwortet eine intellektualistische Ergänzung der mechanischen Beschreibung des Motivationsprozesses, um Raum für Willensfreiheit zu schaffen:⁴⁸ „Nach Kant ist es wie folgt zu ergänzen: Die Waage gehorcht zwar der Verteilung von Gewichten, doch die Verteilung der Gewichte liegt bis zu einem gewissen Grade bei uns“ (Timmermann 2003, 205). Mit dieser Interpretation will aber auch Timmermann eine affektivistische Deutung verteidigen. Er vertritt also ebenfalls, dass Kant im Triebfedernkapitel einen „intricate psychological mechanism of moral motivation“ (Timmermann 2007, 182) beschreibe, in dem Achtung als Triebfeder gegen andere Triebfedern der Neigungen wirkt, die sie im Erfolgsfall einschränkt, wenn sie sich durchsetzt.⁴⁹ Besonders unauffällig kommt die affektivistische Deutung in den Beiträgen von Ameriks daher.⁵⁰ Wie auch in den anderen gemäßigten Versionen der affektivistischen Deutung wird das Gefühl der Achtung in der Funktion einer moralischen Triebfeder kaum als kausale Kraft beschrieben; vielmehr wird der Aspekt der Willensfreiheit betont, der Erklärungslücken notwendig mache, da eine vollständige, psychologische Erklärung der Handlungsmotivation prinzipiell ausgeschlossen sei, wenn man ein freiheitliches Handlungsverständnis voraus Dieser Strategie folgen auch noch andere Autoren wie zum Beispiel Bojanowski. Auch er geht einerseits von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Achtung und Neigung aus (vgl. Bojanowski 2006, 49), betont aber andererseits: „Von welcher Triebfeder wir uns letztlich bestimmen lassen, hängt nicht etwa jeweils von der Stärke der Triebfedern ab, sondern ist Resultat einer freien Entscheidung“ (Bojanowski 2006, 52).  „Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung zeigen, daß McCartys Lesart nicht überzeugend ist. Gegen das ‚Waagschalenmodell‘ in seiner klassischen, vollkommen mechanistischen Form spricht, wie McCarty selbst einräumt, vor allem, daß in ihm für Willensfreiheit nur sehr begrenzt Platz ist.“ (Timmermann 2003, 204).  „So [allein durch die Vorstellung des Gesetzes] entsteht – für uns unerklärlich – das unabhängig von unseren natürlichen Wünschen und Neigungen gewirkte Gefühl der Achtung, das sich einerseits dadurch auszeichnet, daß es den Neigungen, die sich vor dem moralischen Urteil bemerkbar gemacht haben, Abbruch tut, andererseits dadurch, daß es ein positives Gefühl ist, das in Konkurrenz zu den Neigungen tritt und ebenso wie diese zur Triebfeder dienen kann, die Willkür eine Maxime auswählen zu lassen.“ (Timmermann 2003, 199).  Ich stützte mich hier auf den Aufsatz über „Kant und das Problem der moralischen Motivation“ (2004), weil dort seine moderat affektivistische Auslegung am deutlichsten wird.

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setzt.⁵¹ Dennoch deuten sie das Gefühl der Achtung als moralische Triebfeder, die sich in ihrer kausalen Funktion nicht von anderen nicht-moralischen Triebfedern unterscheidet.⁵² In dieser Anschlussfähigkeit an die allgemeine Handlungspsychologie sehen sie den Vorteil einer affektivistischen Deutung der Achtung.

2.2 Intellektualisten: Die Vernunft ist die moralische Triebfeder Intellektualisten denken, ein moralisches Gefühl könne in Kants Ethik keine eigentümliche und philosophisch bedeutsame Funktion übernehmen. Als exemplarische Vertreter betrachte ich Allison (1990), Mary Gregor (1963), Gardner/ Longuenesse (2012), Manfred Kühn (2004), Onora O’Neill (2013), Paton (1962), Gerold Prauss (1983), Reath (2006), Reinhold (1792), Giovanni B. Sala (2004), Sensen (2012), Phillip Stratton-Lake (2000), Ralph C. S. Walker (1993), Melissa Zinkin (2006). Einige davon deuten das Gefühl der Achtung als einen (psychologischen) Begleiteffekt der moralischen Willensbestimmung, andere übergehen oder degradieren Kants These von dem Gefühl der Achtung,⁵³ wieder andere deuten es als intellektuelle Anerkennung und unterscheiden es von einem moralischen Gefühl.⁵⁴ Die meisten Intellektualisten sind der Auffassung, dass die Vernunft nach Kant für sich selbst praktisch sein kann, und zwar in normativer (legislativer) und in kausaler (exekutiver) Bedeutung. Auch mit Blick auf den menschlichen Willen schließen sie darum die Notwendigkeit einer motivierenden Beihilfe durch Gefühle aus und schreiben der reinen Vernunft einen direkten Einfluss auf die Willkür und ihre materialen Bestimmungsgründe, auf patholo-

 „Im Allgemeinen scheint kein Weg um das Zugeständnis von mysteriösen Lücken in der Komplexität von Handlung[en] herumzuführen“ (Ameriks 2004, 105). „Selbst wenn wir ein Gefühl haben, das uns später in einer Handlung unterstützt, ist dieses Gefühl niemals für sich das Motiv bzw. der Beweggrund“ (Ameriks 2004, 114 f.).  Vgl. Ameriks 2004, 112, 114.  Kühn vertritt, dass Kant das moralische Gefühl seit der GMS nur noch in Fußnoten behandelt, weil es unwichtig geworden sei (vgl. Kühn 2004). Prauss berücksichtigt die Ästhetik der KpV nur im Kontext der Kontroverse zwischen Kant und Schiller und behandelt „das Problem einer ‚Neigung zur Pflicht‘“ mit Blick auf die praktische Liebe, ohne viel zur Achtung zu sagen (vgl. Prauss 1983, 240 ff.). Auch in seinem vierbändigen Hauptwerk Die Welt und Wir (1990 ff.), einer systematischen Rekonstruktion der theoretischen und praktischen Philosophie von Kant, wird das Gefühl der Achtung im Grunde gar nicht berücksichtigt.  Diese Strategie wird, mehr oder weniger, von Allison, Gregor, Reath, Sensen, Stratton-Lake und Walker vertreten. Da sie zwischen einem affektiven und intellektuellen Aspekt unterscheiden, lässt sich diese Position auch als ‚Zwei-Aspekte-Deutung‘ bezeichnen.

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gische Gefühle und Neigungen, zu. Ein Gefühl der Achtung wird daher als philosophisch irrelevant beurteilt. Dieses zentrale Merkmal der intellektualistischen Position lässt sich, wie bereits angedeutet, gut anhand der Positionen von Paton und Guyer nachvollziehen, da beide auf den ersten Blick gar nicht intellektualistisch auftreten. Beide schlagen nämlich vor, das Gefühl der Achtung als kausale Ursache im Motivationsprozess zu verstehen: Paton unterscheidet, wie auch Guyer, zwischen einer kausal-psychologischen Erklärung und einer philosophischen Begründung von Handlungen. Paton schlägt vor, dass sich die Frage nach der moralischen Triebfeder einerseits empirisch und andererseits philosophisch beantworten lässt. Zur Erinnerung sei noch einmal seine ursprüngliche Unterscheidung angeführt: Daher kann es der Fall sein, daß von einem externen oder psychologischen Gesichtspunkt aus das Gefühl der Achtung unsere Triebfeder ist, während vom internen und praktischen Gesichtspunkt aus nur das moralische Gesetz unsere Triebfeder ist […] Wir können vielleicht sagen, daß von dem einen Gesichtspunkt aus die Achtung die Ursache unserer Handlung ist, aber vom anderen Gesichtspunkt aus das moralische Gesetz ihr Grund. (Paton 1962, 69).

Auch wenn dieser Vorschlag bisweilen von Affektivisten übernommen wird, handelt es sich meiner Meinung nach um eine intellektualistische Position, und zwar aus dem folgenden Grund: Sie sprechen dem Gefühl der Achtung in einer empirischen Bedeutung zwar eine eigenständige Rolle zu, Paton, indem er das Gefühl mit der Ursache identifiziert, Guyer, indem er Kant eine ausgeprägte moralpsychologische Theorie der Gefühle unterstellt, die auch unabhängig von Kants Ethik für sich stehen könnte.⁵⁵ In philosophischer Hinsicht spricht aber zumindest Paton dem Gefühl der Achtung eine bedeutsame, eigenständige Funktion eindeutig ab. Ihm zufolge hat das Gefühl der Achtung für Kants Philosophie „wenig oder gar keine Bedeutung“ (Paton 1962, 65). Guyer sieht von den philosophischen Aspekten von Kants Achtungstheorie ab, zum Beispiel von der These, dass sich das Gefühl a priori erkennen lasse, und betont aus einer praktisch-philosophischen Perspektive klassisch intellektualistisch: „the feeling of respect can be regarded only as a phenomenal effect of the noumenal determination of the will by the moral law, not as the cause or any part of the cause of the latter“ (Guyer 2010, 132). Gemäß des Transzendentalen Idealismus gelte dies für „everything“ (Guyer 2010, 132, 139) und somit auch für die gesamte empirische Theorie der Entstehung moralischen Handelns, die Guyer ausgehend von dem Primärtext rekonstruiert. Die von ihm rekonstruierte empirische Theorie sei, wie er abschließend nochmal hervorhebt, nicht als „primary and self-sufficient ex-

 Vgl. Guyer 2010, 151.

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planantion“ (Guyer 2010, 151) misszuverstehen, weil sie nicht beansprucht, die praktisch-philosophische Perspektive zu ersetzen.⁵⁶ Allerdings sagt er nicht so deutlich wie Paton, dass er die praktisch-philosophische Perspektive ohne das Gefühl der Achtung als eine für sich stehende vollständige Theorie moralischen Handelns betrachtet. Eine zentrale Gemeinsamkeit aller intellektualistischen Interpreten besteht jedenfalls darin, dass dem Gefühl der Achtung in philosophischer Hinsicht gar keine oder höchstens eine unterstützende Funktion⁵⁷ zugesprochen wird. Philosophisch handle es sich bei dem moralischen Gefühl um ein nebensächliches oder irrelevantes, jedenfalls nicht um ein notwendiges Element von Kants Ethik. Intellektualisten setzen sich mit dem Gefühl der Achtung daher auch hauptsächlich kritisch auseinander, indem sie Einwände gegen eine affektivistische Deutung formulieren. Der prominenteste Einwand ist allgemein handlungstheoretisch und richtet sich gegen ein mechanistisches oder psychologisches Verständnis der Funktion von Triebfedern in Kants praktischer Philosophie und seiner Moralphilosophie im Besonderen. Allison kritisiert die Auffassung, „that an action can have moral worth only if it results from the victory of the duty motive (now specified as respect for the law) in its battle with inclinations“ (Allison 1990, 126).⁵⁸ Allison stützt sich in diesem Kontext auf die Kritik und Deutung von Reath. Speziell mit Blick auf das Triebfedernkapitel der KpV kritisiert Reath die mechanistischen Metaphern konkurrierender Kräfte, mit denen Interpreten den Konflikt zwischen den Ansprüchen der Neigungen und des Moralgesetzes veranschaulichen.⁵⁹ Das intellektualistische Bild für diese Konfrontation der Ansprüche ist, ausgehend von Reath, „that of a struggle between two parties for something like legal authority or political legitimacy“ (Reath 1989, 296; vgl. Allison 1990, 126). Intellektualisten betonen also, dass Kants intellektualistische Handlungstheorie, deren Grundlage die ‚incorporation thesis‘ (Allison) bzw. das ‚principle of election‘ (Reath) sei, nur mit konkurrierenden Gründen, nicht aber mit konkurrierenden psychologischen Kräften assoziiert werden könne.  „I have not questioned here Kant‘s transcendental idealist position that this complex empirical causal process must all be understood only as the phenomenal manifestation of the determination of the noumenal will to abide by the moral law, and is not supposed to be the primary and self-sufficient explanantion of how we go from the mere idea of the moral law to the actual determination of the will to make the moral law its fundamental maxim.“ (Guyer 2010, 151).  Vgl. zur These einer unterstützenden Funktion: Sala 2004, 171 f., Sensen 2012, 56.  Allison geht es vor allem darum zu betonen: „Kant does not adopt a conflict-of-forces conception of agency in his account on respect. Central to such a conception is the assumption that inclinations directly determine the will by exerting an affective force on it“ (Allison 1990, 126).  Die Kantische Handlungstheorie insgesamt „should not be understood on the analogy of a sum of vector forces (or of mechanical forces) acting on the will“ (Reath 1989, 290).

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Speziell mit Blick auf die Frage nach der moralischen Triebfeder verteidigen Intellektualisten ein starkes Autonomieverständnis, indem sie prinzipiell gegen die Relevanz eines motivierenden moralischen Gefühls argumentieren. Ein solches Gefühl könne nicht notwendig sein, weil das bedeuten würde, dass die bloße Einsicht in das Gesetz nicht ausreichend wäre, d. h. reine Vernunft für sich selbst im Menschen also nicht hinreichend praktisch wäre, um das Gute in der Gesinnung zu realisieren. Sie argumentieren auf die eine oder andere Weise, dass die These von der Notwendigkeit eines motivierenden Gefühls die unbedingte Kraft der moralischen Nötigung in Frage stellen würde. Diese unbedingte, für sich selber hinreichende Wirksamkeit der Vernunft markiere die Besonderheit moralisch-guten Handelns in Abgrenzung zu allem sonstigen Handeln. Müsste es ein vorhergehendes Gefühl zur Realisierung geben, dann wäre dieser Unterschied eingeebnet. Versteht man Moralität in diesem starken Sinne, dann kann das moralische Gefühl nur eine Folge oder Begleiterscheinung der moralisch-guten Handlung sein. Sala vertritt in seinem Kommentar zu Kants KpV, dass Achtung nicht die Triebfeder, sondern Effekt und ein „Zeichen dafür sei, daß das objektive Gesetz tatsächlich subjektiv (in diesem Sinne wie eine Maxime) als Gesetz wirkt“ (Sala 2004, 172).⁶⁰ Auch Gardner und Longuenesse sowie Reinhold kommen zu dem Schluss, dass das Gefühl der Achtung nur als phänomenaler Effekt der kausalen Willensbestimmung durch die Vernunft und das Gesetz verstanden werden kann.⁶¹ Denn aus einer vorhergehenden affektiven Triebfeder kann Intellektualisten zufolge immer nur eine pathologisch motivierte Handlung entspringen.⁶²

 „Mit seinen Ausführungen über jenes Gefühl, das Kant Achtung fürs Gesetz nennt, will er offensichtlich einerseits an seiner Grundthese festhalten, daß Motivation des guten Willens ausschließlich das moralische Gesetz als Gesetz der Vernunft ist, andererseits aber möchte er anerkennen, daß in einem moralisch gesinnten Menschen auch die Sinnlichkeit an seiner Moralität teilnimmt, indem die ihn prägende moralische Gesinnung sich auch durch ein entsprechendes Gefühl zeigt.“ (Sala 2004, 171).  „Kant insists that the feeling of respect does not motivate us to act in accordance with the law, but, on the contrary, the fact that the law affects our faculty of desire is the cause of the feeling of respect“ (Gardner/Longuenesse 2012, 26). Bereits Reinhold argumentiert, dass es Uneigennützigkeit nur im Sinne der Unabhängigkeit von Vergnügen geben kann, sodass ein uneigennütziges Vergnügen nur als ein solches denkmöglich sei, „das Folge, nicht Grund der Selbstbestimmung durchs Gesetz [ist], welches weder durch Vergnügen zum Gesetz gemacht, noch durch dasselbe zur Ausübung gebracht wird“ (Reinhold 1792, 260).  „To act out of ‚reverence for the law‘ […] is not to act with any peculiar feeling of reverence or awe. It may be that morally worthy action is accompanied by or induces such feeling. […] Pathology, as Kant would have it – psychology, as we would say – is irrelevant to the moral worth of acts.“ (O’Neill 2013, 22).

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Die am meisten elaborierte Version der intellektualistischen Deutung besteht in einer Zwei-Aspekte-Deutung der Achtung, die von Gregor, Reath, Allison, Sensen oder Stratton-Lake vertreten wird. Sie versuchen, den relevanten Textstellen über das Gefühl der Achtung gerecht zu werden, indem sie vorschlagen, dass Achtung fürs Gesetz nach Kant nicht als phänomenale, sondern als eine intellektuelle Anerkennung zu verstehen sei, wenn er es als Triebfeder bezeichnet. Genau genommen argumentieren diese Interpreten für eine Zwei-Aspekte-Lesart des Ausdrucks „Achtung fürs Gesetz“ und unterscheiden entsprechend zwischen einem intellektuellen und einem affektiven Aspekt der Achtung. Diese Strategie dient dem Ziel, Kants These, dass das Gefühl der Achtung die moralische Triebfeder sei, intellektualistisch umzudeuten und so mit der These zu vereinbaren, dass kein motivierendes Gefühl notwendig ist, damit reine Vernunft im Menschen praktisch werden kann. Gregor unterscheidet zwischen „reverence“, dem moralischen Gefühl der Achtung, und „respect“ (Gregor 1963, 181), der Achtung fürs Gesetz, einer Anerkennung des Gesetzes.⁶³ Reath folgt dieser Unterscheidung zwischen dem moralischen Gefühl und der Achtung fürs Gesetz und deutet letztere als eine intellektuelle Anerkennung des Gesetzes. Damit begründet er die Deutungslinie, der Allison⁶⁴ folgt, auf die Stratton-Lake mit seiner „two-aspect interpretation“ (Stratton-Lake 2000, 34) und Sensen mit seiner „hybrid view“ (Sensen 2012, 53) aufbauen. Obwohl sie alle auch das moralische Gefühl als einen Aspekt berücksichtigen, kann ihnen zufolge allein die (intellektuelle, abstrakte) Achtung fürs Gesetz die moralische Triebfeder sein. Sie verstehen darunter also eigentlich das Bewusstsein, durch die Vernunft motiviert zu sein.⁶⁵

 Diese Unterscheidung wird gewöhnlich analog zu der Unterscheidung zwischen Achtung I und Achtung II vorgenommen, wie sie in Teil I, Kap. 1.4, vorgenommen wurde. Die Achtung fürs Gesetz wird mit Achtung I und das moralische Gefühl mit Achtung II identifiziert. Meiner Auffassung nach handelt es sich aber sowohl bei Achtung I als auch bei Achtung II um ein moralisches Gefühl.  „Respect itself is, therefore, a complex phenomenon, having both an intellectual and a sensible component.“ (Allison 1990, 123). „It should be noted that I am here differing from Paton in translating Achtung as respect rather than as reverence.“ (Allison 1990, 267Anm.34, vgl. Anm.36 und 45).  „Respect is the attitude which it is appropriate to have towards a law, in which one acknowledges its authority and is motivated to act accordingly. I will refer to this attitude as the ‘intellectual’ aspect of respect. [Fn 8:] My aim in introducing this term is to distinguish this aspect of respect from the ‘moral feeling’ of respect.“ (Reath 1989, 287). „Achtung is simply awareness of the moral law itself and to say that we feel Achtung is simply to say that we are aware of the moral law as binding upon us“ (Walker 1993, 98).

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Teil II: Positionen

Walker verteidigt eine intellektualistische Deutung der Achtung fürs Gesetz und macht deutlich, dass es sich dabei um eine revisionistische These handelt, da angezweifelt wird, ob Kant überhaupt eine phänomenale Dimension des Gefühls berücksichtigt.⁶⁶ Auch Sensen betont: „[I]t is not clear in which sense respect is a feeling at all“ (Sensen 2012, 54). Er zweifelt, wie auch Walker und Reath, daran, dass eine phänomenologisch-ästhetische Perspektive, also ein Gefühl im klassischen Sinne, für Kant überhaupt von Bedeutung ist: „Kant‘s concern is not how an action feels from the inside: his concern is whether something is unconditionally or merely conditionally valid“ (Sensen 2012, 50). Diese revisionistische These, dass „Achtung“ in Kants Sprachgebrauch nicht als Gefühl im gewöhnlichen Sinne, nämlich als phänomenaler Zustand, aufzufassen sei, lässt sich im Rahmen ihrer Einbettung in eine Zwei-Aspekte-Unterscheidung auch textbezogen erstaunlich gut verteidigen. Den intellektuellen Aspekt der Achtung fürs Gesetz führe Kant im ersten Abschnitt der GMS ein, wenn er die These formuliert: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 4:400). Sie werde anschließend in der Fußnote erläutert: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung“ (GMS, 4:401Anm.).⁶⁷ Dagegen deuten sie das moralische Gefühl, also den affektiven Aspekt der Achtung, unter besonderer Berücksichtigung des Triebfedernkapitels, primär als ein negatives Gefühl. In diesem negativen Gefühl manifestiere sich die Anerkennung des Gesetzes (Achtung), indem die Vernunft die Maxime der Selbstliebe und moralwidrige Neigungen auf die Übereinstimmung mit dem Gesetz einschränke. Sensen hebt in seiner Analyse der Stellen KpV, 5:74 f. und 78 f. hervor, dass hier einerseits ein negativer Einfluss der Vernunft auf das Gefühl beschrieben werde, nämlich „Demüthigung auf der sinnlichen Seite“ (KpV, 5:79). Den positiven Aspekt einer „Erhebung“ setzt er hingegen gleich mit „der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen [Seite], mit einem Worte Achtung fürs Gesetz“ (KpV, 5:79). Auch in der vorhergehenden Passage KpV, 5:74 ff. verwendet Kant Formulierungen, die „Achtung“ nach einer intellektuellen Anerkennung klingen lassen: Dort ist von einem Vergleich und Urteil, von Selbstbewusstsein und Vorstellungen die Rede.⁶⁸

 „To say that something is blue is to say something about a phenomenal quality, but to say that the recognition of the moral law is prescriptive is not. It is to say only that one cannot recognize a moral obligation without being motivated thereby“ (Walker 1993, 110).  Vgl. Reath 1989, 287, 301. Dieser intellektuelle Aspekt entspreche auch dem „Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze“ und der „Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut“ (GMS, 4:401Anm.).  „Was nun unserem Eigendünkel in unserem eigenen Urtheil Abbruch thut, das demüthigt. Also demüthigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit dem-

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Neben der intellektuellen Achtung fürs Gesetz steht also ein negativer Gefühlsaspekt der Achtung im Zentrum der intellektualistischen Deutung.⁶⁹ Diese negative Demütigung resultiert aus dem praktischen Einfluss der Vernunft, der darin besteht, dass sie konkurrierende Maximen und Neigungen der Selbstliebe einschränkt. Dass der Einfluss der Vernunft auf das Gefühl primär negativ ist, bestätigt also, dass im Prozess der Willensbestimmung die Vernunft für sich selbst praktisch ist. In dieser Hinsicht ist Zinkin eine weitere wichtige intellektualistische Autorin, auf die sich auch Sensen bezieht. In ihrem Aufsatz über „Respect for the Law and the Use of Dynamical Terms in Kant‘s Theory of Moral Motivation“ (2006) deutet sie die reine praktische Vernunft in ihrer Wirkung auf den menschlichen Willen unter Rückgriff auf das metaphysische Konzept einer negativen Größe, mit dem sich Kant in einem Essay (NG) von 1763 auseinandersetzt. Zinkins Interpretation zeigt, dass die Kausalität der reinen Vernunft in ihrer Wirkung auf den Menschen von Kant mit der „Wegräumung eines Hindernisses“ (KpV, 5:75) gleichgesetzt wird und dass Achtung hierzu nicht erforderlich ist, sondern als positiver Effekt auf die Wirkung folgt. Achtung fürs Gesetz zeichnet sich mit anderen Worten durch einen negativen Gefühlsaspekt aus, der die intellektuelle Anerkennung in der Sinnlichkeit des Subjekts repräsentiert. Da für Intellektualisten nur der intellektuelle Aspekt der Achtung als Triebfeder in Frage kommt, erscheint der positive Gefühlsaspekt der Achtung nur noch als Randphänomen. Reath und Sensen zufolge kann dieser positive Effekt manchmal oder auch immer als moralische Begleiterscheinung mitauftreten, er kann ihnen zufolge aber nicht notwendig sein.⁷⁰ Stratton-Lake geht einen Schritt selben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns in unserem Selbstbewußtsein demüthigt, erweckt, so fern als es positiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung.“ (KpV, 5:74). Später heißt es, dass „die Vorstellung des Vorzuges ihres [der Vernunft] objectiven Gesetzes vor den Antrieben der Sinnlichkeit […] im Urtheile der Vernunft hervorgebracht wird“ (KpV, 5:75 f.). Vgl. Sensen 2012, 55.  „Dictating the law has an effect on one‘s feelings. This is in the first instance just a negative effect of frustrating one‘s immoral desires“ (Sensen 2012, 54). Auch Reath konzentriert sich fast ausschließlich auf den negativen Gefühlsaspekt: „But in addition to its intellectual aspect, Kant also makes it clear that respect has an „affective“ side: it is a feeling or emotion that is experienced when the Moral Law checks the inclinations and limits their influence on the will.“ (Reath 1989, 287).  Sensen vertritt, dass ein positiver Gefühlsaspekt der moralischen Hochachtung möglich sei: „This positive effect is not necessarily a felt emotion, but it might be accompanied by one“ (Sensen 2012, 54). Unter diesem positiven Gefühlsaspekt versteht er „a feeling of elevation or esteem, in which case it is analogous with inclination“ (Sensen 2012, 54). Dieses positive Gefühl könne nicht das moralische Handlungsmotiv sein, weil es sich dann um moralischen Enthusiasmus oder Schwärmerei handeln würde, etwas, das Kant strikt ablehnt (vgl. KpV, 5:84, 85 f.; vgl. Sensen 2012, 54). Vgl. Reath 1989, 287.

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Teil II: Positionen

weiter als diese Interpreten, indem er zwar die Zwei-Aspekte-Lesart von Reath übernimmt, aber auch die Relevanz des positiven Gefühlsaspekts der Achtung verteidigt. Unter Achtung versteht er den komplexen Zustand, durch die Vernunft motiviert zu sein.⁷¹ Gegen Walkers einseitig intellektualistische Betonung argumentiert er im Sinne einer Zwei-Aspekte-Deutung, dass auch der Gefühlsaspekt der Achtung notwendig das Moralbewusstsein begleiten müsse, auch wenn dieser Aspekt nicht die moralische Triebfeder sein könne.⁷² Insofern betont er als einziger die Notwendigkeit des positiven moralischen Gefühlsaspekts.⁷³

3 Wie erkennen wir unsere Pflicht? In der Frage, wodurch wir die moralische Pflicht nach Kant erkennen, lassen sich phänomenologisch-gefühlsbetonte von metaphysisch-vernunftbetonten Positionen unterscheiden.⁷⁴ Die Unterscheidung zwischen Phänomenologen und Metaphysikern ist allerdings unscharf und in der Literatur zu Kants praktischer Philosophie nur in Ansätzen präsent. Der Sache nach wird sie aber kontrovers diskutiert. Ich führe die terminologische Unterscheidung hier ein, weil ich es für wichtig halte, diese Thematik von der Motivationsfrage abzugrenzen. Phänomenologen und Metaphysiker streiten, anders als Intellektualisten und Affektivisten, nicht um die motivationale, sondern um eine moralepistemische und eventuell

 „[R]espect is not the moral motive at all, but the state of being morally motivated“ (StrattonLake 2000, 30). Er bezieht sich auf KpV, 5:76: „Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet“.  Die Zwei-Aspekte-Deutung habe, wie alle Vertreter betonen, den Vorteil, dass offen bleibe, welcher Aspekt als moralische Triebfeder wirkt: „For it enables us to maintain that it is not the affective aspect of respect which motivates in morally worthy acts, but the cognitive aspect“ (Stratton-Lake 2000, 34). „Moreover, this [complex view] enables us to see more clearly why Kant can characterize respect as the incentive to morality. If, as indicated, to respect the law is just to regard it as the ultimate norm governing one‘s choice of maxims, then, clearly, to respect it is to have a sufficient reason (although not a desire) to obey it“ (Allison 1990, 127).  „[T]his affective state necessarily accompanies our consciousness of the moral law.“ (StrattonLake 2000, 32; vgl. chapter 2,3). Stratton-Lake führt gegen Walker die folgende Stelle an, in der das moralische Gefühl als ein notwendiger subjektiver Aspekt beschrieben werde: „Die Achtung vor dem Gesetze, welche subjectiv als moralisches Gefühl bezeichnet wird, ist mit dem Bewußtsein seiner Pflicht einerlei.“ (MS, 6:464).  Unter die erste Gruppe zähle ich im Folgenden Heidegger (1991), Grenberg (2013) und Schönecker (2013a). Als exemplarische Vertreter der zweiten Gruppe lassen sich Allison (1990), O’Neill (1989), Prauss (1983) und Sensen (2013a) anführen. Eine Zwischenposition, die der moderaten Metaphysiker, vertreten zum Beispiel Ameriks (2010), Henrich (1973), Łuków (1993) und Ware (2014).

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freiheitsepistemische Relevanz des moralischen Gefühls. Dabei geht es speziell um die Frage, inwieweit die Autorität des Kategorischen Imperativs gefühlsabhängig oder gefühlsunabhängig erkannt wird. Phänomenologen denken, dass das Moralbewusstsein vollständig gefühlsabhängig ist. Metaphysiker verteidigen dagegen ein Moralbewusstsein, das vollständig gefühlsunabhängig ist. Dieses Verständnis der Positionen wird als Arbeitshypothese vorausgesetzt. Im weiteren Verlauf der folgenden Abschnitte wird sie allerdings daraufhin präzisiert werden müssen, was unter „vollständig“ verstanden werden kann. Die These, dass das Moralbewusstsein vollständig gefühlsabhängig oder gefühlsunabhängig ist, werde ich auf folgende Weise präzisieren: Zum einen lässt sich zwischen einem phänomenalen und einem metaphysischen Moralbewusstsein unterscheiden. In der Regel ist von dem phänomenalen Moralbewusstsein die Rede, wie es jedem Menschen eines gewissen Alters vertraut ist, wenn man, wie Kant in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau, ein universalistisches und somit optimistisches Verständnis des gesunden Menschenverstandes voraussetzt. Diese Perspektive ist eine vorphilosophische, für die man Kants Philosophie nicht studiert haben muss. Davon lässt sich eine philosophische Perspektive unterscheiden, in der es um die begriffliche Rechtfertigung der moralischen Urteile des gesunden Menschenverstandes geht. Für Philosophen und speziell für Transzendentalphilosophen stellt sich die Frage nach den notwendigen Bestandteilen der moralischen Erfahrung. Solche Bestandteile der moralischen Erfahrung sind beispielsweise das Moralgesetz der reinen Vernunft und ein Vermögen zur Autonomie, also Grundlagen, die nach Kant gefühls- und auch speziesunabhängig gelten. Im Rahmen der philosophischen Perspektive stellt sich die Frage, was eigentlich den Phänomenologen von dem Metaphysiker unterscheidet. Denn auch Phänomenologen wollen nicht behaupten, dass alle Aspekte, also auch das Moralgesetz und das Vermögen zur Autonomie, die sich in der Analyse des Moralbewusstseins als wesentlich erweisen, vollständig gefühlsabhängig sind. Alle Kant-Interpreten, auch Phänomenologen wie Grenberg und Schönecker, nehmen an, dass der Inhalt des moralischen Gebots gefühlsunabhängig und speziesunabhängig gilt. Der eigentliche Kern der Kontroverse liegt eher in der Methode. Entscheidend für die Unterscheidung ist die hierarchische Verhältnisbestimmung zwischen den gefühlsabhängigen und den gefühlsunabhängigen Aspekten. Phänomenologen und Metaphysiker bestimmen das Verhältnis zwischen gefühlsabhängigen und gefühlsunabhängigen Aspekten des Moralbewusstseins methodisch auf eine unterschiedliche Weise. Methodisch ist für Phänomenologen der gefühlsabhängige Aspekt der grundlegende. Ausgehend von der komplexen gefühlten Erfahrung gelange man durch begriffliche Exposition auch zu ge-

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Teil II: Positionen

fühlsunabhängigen Aspekten, die sich in der Erfahrung offenbaren. Metaphysiker betrachten hingegen den gefühlsunabhängigen Ursprung des Moralbewusstseins als grundlegend und verteidigen diese umgekehrte Hierarchie auch methodisch. Der moderate Metaphysiker kann zwar auch der phänomenologischen These zustimmen, dass das Gefühl der Achtung ein notwendiger Bestandteil der moralischen Erfahrung ist, aber ihm zufolge lässt sich dieser gefühlsabhängige Aspekt nur ausgehend von einem gefühlsunabhängigen Bewusstsein begreifen, das diesem Gefühl zugrunde liegen muss. Mein Verständnis der phänomenologischen und metaphysischen Deutungsansätze orientiert sich an der Unterscheidung zwischen Phänomenologen und Metaphysikern, wie sie in der theoretischen Philosophie getroffen wird. In der theoretischen Philosophie diskutiert man den ontologischen Status raum-zeitlicher (empirischer) Gegenstände vor dem Hintergrund von Kants These, dass die erste Kritik die Erkenntnis dieser Gegenstände und „alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte“ (KrV, BXXIX).⁷⁵ Raum und Zeit sind dem Transzendentalen Idealismus gemäß ursprünglich subjektive Anschauungsformen, die als Bedingungen der Möglichkeit raum-zeitlicher Erkenntnis nach Kant auch die Existenz raum-zeitlicher Gegenstände begründen könnten. Darum stellt sich hier die Frage, ob raum-zeitliche Gegenstände subjektabhängig oder subjektunabhängig existieren.⁷⁶ Phänomenologen werden in der theoretischen Philosophie solche Interpreten genannt, die verteidigen, dass die Gegenstände nach Kant vollständig subjektabhängig existieren und in diesem Sinne bloße Erscheinungen sind.⁷⁷ Dagegen betonen Metaphysiker das Ansich-Sein der Gegenstände und verteidigen die Auffassung, dass ihre Existenz nach Kant subjektunabhängig ist.⁷⁸ In der klas-

 Vgl. KrV, BXXVI, A39/B56, A42/B59, A139/B178 f., A147/B186.  Viele Stellen von Kant lassen sich diesbezüglich unterschiedlich auslegen, zum Beispiel die These „[d]aß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen sind“ (KrV, BXXV), was unter anderem auch daran liegt, dass nicht immer klar ist, wann Kant den Ausdruck „Erscheinung“ in einem empirischen oder transzendentalphilosophischen Sinne verwendet.  „Probably the historically dominant reading of Kant‘s transcendental idealism is that it is a kind of phenomenalism: that Kantian empirically real objects are mental entities or constructions out of mental entities, mental states, or mental activities. A classic example of an extreme idealist interpretation is that of P. F. Strawson.“ (Allais 2015, 37). „For examples of other phenomenalist interpretations, see Turbayne (1955), Bennett (1966: 23, 126), Wilkerson (1976: 180 – 4), Guyer (1987), and Van Cleve (1999).“ (Allais 2015, 37Anm.).  Allais nennt diese Extrem-Position „noumenalism“: „the idea that Kant thinks there exist nonspatio-temporal, non-sensible objects – objects of a completely different kind from the spatiotemporal objects of which we have knowledge.“ (Allais 2015, 59). Die Gruppe der anti-phäno-

3 Wie erkennen wir unsere Pflicht?

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sischen, sogenannten Zwei-Welten-Deutung gehen eine solche extrem phänomenologische und eine extrem metaphysische Position miteinander einher, wobei sich die Frage nach der Verbindung zwischen diesen zwei Welten stellt. In den letzten Jahrzehnten wurden außerdem in kritischer Auseinandersetzung mit der Zwei-Welten-Deutung eine epistemologische und eine moderat metaphysische Deutung entwickelt, die als methodologische Zwei-Perspektiven-Deutung oder „deflationary interpretation“ (Allais 2015, 59) und als ontologische Zwei-AspekteDeutung bekannt sind. Zur Verdeutlichung lässt sich die Position von Lucy Allais anführen: Sie verteidigt in Manifest Reality (2015) eine moderate Zwei-Aspekte-Interpretation ausgehend von einer klassischen Zwei-Welten-Deutung und ihren Problemen.⁷⁹ Die Aspekte-Deutung besagt, dass raum-zeitliche Gegenstände objektiv sind, insofern sie einen Ansich-Aspekt haben, der vollständig subjektunabhängig existiert, dass dieselben Gegenstände aber auch raum-zeitlich konstituiert sind und insofern einen Erscheinungsaspekt haben, der vollständig subjektabhängig ist, sodass es sich bei den Gegenständen nur um Erscheinungen in einem transzendentalphilosophischen Sinne handelt. Der raum-zeitliche Gegenstand wird auf diese Weise also einerseits phänomenologisch, nämlich als subjektabhängige Erscheinung, beschrieben, andererseits aber auch metaphysisch als Gegenstand begründet, dessen Existenz subjektunabhängig ist. Unabhängig von der speziellen Diskussion und ihrem Verlauf denke ich, dass eine ähnliche Unterscheidung zwischen Phänomenologen und Metaphysikern auch vorausgesetzt werden kann, wenn es um die Frage geht, ob das Gefühl der Achtung eine moralepistemische Funktion erfüllt. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Debatten aus der theoretischen und praktischen Philosophie ist sachlich begründet. Sie beruht auf einer Gemeinsamkeit der Subjektabhängigkeit des empirischen Gegenstandes und der Gefühlsabhängigkeit des Moralbewusstseins: Beide, der Erscheinungsaspekt und das Gefühl, setzen Kant zufolge die reine Anschauungsform der Zeit voraus. Dies charakterisiert das Gefühl im Unterscheid zum allgemeinen Vermögen der Autonomie, das den intelligiblen Charakter des Subjekts auszeichnet, der ihm unabhängig von Raum und Zeit zukommt.⁸⁰ Das Gefühl oder die Empfindung ist da-

menologischen Interpreten ist aber nicht darauf beschränkt: „There is also a distinguished line of commentators who have argued in detail against any kind of phenomenalist reading of Kantian appearances, including Bird (1962; 2006), Melnick (1973), Prauss (1974; 1971), Matthews (1982), Pippin (1982), Allison (1983; 1973), Langton (1998), Collins (1999), and Ameriks (2006 Ch. 3).“ (Allais 2015, 37Anm.).  Vgl. Allais 2015, 59 ff.  Vgl. KpV, 5:94, KrV, A540/B568, GMS, 4:447 ff., Ameriks 2010, 42.

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Teil II: Positionen

gegen eine Vorstellung, die den „inneren Sinn“ betrifft und somit als Bewusstsein und Bestimmung „meines Daseins in der Zeit“ (KrV, BXLAnm.) verstanden werden muss.⁸¹ Insofern lässt sich aus demselben Grund – nämlich aufgrund der transzendentalen Idealität von Zeit und Raum – auch mit Blick auf das Moralbewusstsein zwischen gefühlsabhängigen und gefühlsunabhängigen wie in der theoretischen Philosophie zwischen subjektabhängigen und subjektunabhängigen Aspekten unterscheiden.⁸² Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass Kant seine Unterscheidung zwischen ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ auf das praktische Subjekt überträgt. Diesen Eindruck erweckt er zum Beispiel in GMS III, wenn er zwischen zwei Standpunkten des Subjekts unterscheidet, allerdings nicht transzendentalphilosophisch begründet, wieso diese Unterscheidung auch im Rahmen seiner praktischen Philosophie notwendig sein soll.⁸³ Einen Begründungsansatz für diese

 Der innere Sinn unterscheide sich dadurch von dem äußeren, dass er nur innerlich ‚angeschaut‘ werden könne und für die Außenwelt nicht informativ sei (vgl. KrV, A23/B37).  Allerdings behandelt Kant den inneren Sinn in der KrV als empirische Apperzeption oder empirische Affizierung, die in Verbindung mit der reinen Apperzeption aller Erkenntnis zugrunde liegen muss: „Das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der inneren Wahrnehmung ist blos empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der innere Sinn genannt, oder die empirische Apperception“ (KrV, A107). In Abgrenzung dazu kann das Gefühl der Achtung als reines Gefühl nur auf einer reinen Affizierung des inneren Sinnes beruhen. Ob dies überhaupt denkbar ist, gilt als umstritten, weil Kant auch zur Widerlegung des absoluten Idealisten argumentiert, dass der innere Sinn nur Material liefern kann, das auf den äußeren Sinn zurückzuführen ist (vgl. KrV, B275, B277Anm., Allison 2004, 280 ff.). Diese These kann allerdings auch so verstanden werden, dass der innere Sinn unabhängig vom äußeren Sinn kein Material liefern kann (vgl. Ameriks 2000, 243 f.; vgl. Lau 2015). Im moralphilosophischen Kontext gibt es vereinzelte Stellen, in denen Kant das Gefühl der Achtung vom inneren Sinn abgrenzt und ausschließlich dem Vermögen des Gefühls der Lust und Unlust, auch inwendiger Sinn genannt, zuordnet (vgl. Anth, 7:153; KpV, 5:80); auch das Gefühl der Lust und Unlust, zum Beispiel der Genuss eines guten Weines, schließt aber Empfindung mit ein oder beruht darauf (vgl. KrV, A29Anm.), und dies gilt auch für das Gefühl der Achtung (vgl. KpV, 5:75), weshalb meines Erachtens jedes Gefühl, sogar das reine, in enger Verbindung zum Erkenntnisvermögen des inneren Sinnes verstanden werden muss.  Dort untersucht er, „ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, vorstellen“, und er bestätigt diese Annahme, allerdings nur mit der Begründung, dass einerseits der „gemeinste Verstand“ (GMS, 4:450) sie bestätigt, andererseits, indem er Vorstellungen, „dabei wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Tätigkeit beweisen“ (GMS, 4:451) unterscheidet und die zwei Standpunkte damit identifiziert. In der Vorrede zur KpV bestätigt er seine Ansicht im Kontext seiner These vom Faktum der Vernunft: „Hiebei erhält nun zugleich die

3 Wie erkennen wir unsere Pflicht?

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Übertragbarkeit findet man stattdessen in der KrV, zum Beispiel in der Auflösung der dritten Antinomie.⁸⁴ Hier verfolgt Kant aufgrund der Voraussetzung, dass die reinen Anschauungsformen transzendental ideal sind, den Nachweis, dass Freiheit als absolute Kausalität denkmöglich sei.⁸⁵ Diese transzendentalphilosophische Verteidigung bildet die theoretische Grundlage, aber zugleich auch die Grenze aller theoretischen Erkenntnis zur Verteidigung von Freiheit im Bereich der Moralphilosophie. Einerseits wird also theoretisch die logische Möglichkeit von Freiheit begründet, „da ich zur Moral nichts weiter brauche, als daß Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche, und sich also doch wenigstens denken lasse“ (KrV, BXXIX). Andererseits ist jede theoretische Untersuchung auf diese negative Bestimmung der Freiheit als Unabhängigkeit vom Naturmechanismus beschränkt, und die positive Bestimmung von Freiheit als moralische Autonomie kann daher nur die Aufgabe einer Moralphilosophie sein, die sich als praktische Untersuchung von einer theoretischen Untersuchung fundamental unterscheidet.⁸⁶ Nicht nur der moralphilosophische Gegenstand ist praktisch, insofern Moralphilosophie nicht die theoretische, sondern praktische Erkenntnis untersucht, sondern auch die philosophische Untersuchung dieser praktischen Erkenntnis kann nur in praktischer Hinsicht erfolgen.

befremdliche, obzwar unstreitige, Behauptung der speculativen Kritik, daß sogar das denkende Subject ihm selbst in der inneren Anschauung bloß Erscheinung sei, in der Kritik der praktischen Vernunft auch ihre volle Bestätigung, so gut, daß man auf sie kommen muß, wenn die erstere diesen Satz auch gar nicht bewiesen hätte“ (KpV, 5:6).  Eine andere wichtige Passage ist der Abschnitt über die „Paralogismen der reinen Vernunft“, wo Kant unter Bezugnahme auf den inneren Sinn für die Grenze der Möglichkeit von Selbsterkenntnis argumentiert: „ich habe also demnach keine Erkenntniß von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine“ (KrV, B158).  Jede andere Herleitung der Übertragung von Kants transzendentalphilosophischer Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich auf das praktische Subjekt kritisiert Ameriks als ein ‚short argument‘ für Kants Transzendentalen Idealismus, für den ihm zufolge also immer nur ausgehend von der Idealität der reinen Anschauungsformen argumentiert werden kann (vgl. Ameriks 2003, 136).  Auf diesen Zusammenhang macht Kant auf den ersten Seiten des Abschnitts „Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ (vgl. KpV, 5:42 f.) aufmerksam.Wie folgt reflektiert er auf die philosophierende Vernunft in praktischer Hinsicht: „Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und das Wesen, das sich dieses Gesetz bewußt ist, (unsere eigene Person) als zur reinen Verstandeswelt gehörig und zwar sogar mit Bestimmung der Art, wie es als ein solches thätig sein könne, erkennt. So läßt es sich begreifen, warum in dem ganzen Vernunftvermögen nur das Praktische dasjenige sein könne, welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft“ (KpV, 5:105 f.). In der GMS vertritt er, dass der „positive Begriff der Freiheit“ (GMS, 4:447) eine synthetische Verbindung zwischen dem Willen und dem Moralprinzip leistet.

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Teil II: Positionen

Sowohl die moralische Erkenntnis als auch die moralphilosophische Untersuchung müssen also praktisch sein. Um zu klären, was „praktisch“ in beiden Kontexten bedeuten kann, orientiere ich mich an folgendem Schaubild. Im Abschnitt über Phänomenologen stelle ich die Positionen A und C vor, im darauffolgenden Abschnitt konzentriere ich mich auf Gegenargumente, die sich unter B und D einordnen lassen: Praktische Erkenntnis

1

2

3

(unmittelbar, subjektiv, synthetisch, rezeptiv) Phänomenale Erfahrung

Philosophische Rechtfertigung

von Moralität im Alltag

Methode

gefühlsabhängig

gefühlsunabhängig

A

B

phänomenologisch

metaphysisch

C

D

Abb. 1a: Unterscheidung der phänomenologischen und metaphysischen Deutung

Die Unterscheidung zwischen der phänomenalen Erfahrung und der philosophischen Rechtfertigungstheorie (Ebene 2) entspricht dem Unterschied zwischen einer eher subjektiven und objektiven Bedeutung, die der Ausdruck „praktisch“ in Kants Verwendung haben kann.⁸⁷ In einer subjektiven Bedeutung ist die praktische Erkenntnis gemeint, in der uns Moralität im menschlichen Leben bewusst wird. Diese Bedeutung ist subjektiv, insofern es sich um ein Erlebnis des menschlichen Subjekts handelt. Dies bedeutet aber nicht auch notwendigerweise, dass es sich dabei um eine gefühlte Einsicht handeln muss. Die praktische Erkenntnis des gewöhnlichen Menschen lässt sich auch mit Blick auf ihre Merkmale entweder als eine gefühlsabhängige (A) oder als gefühlsunabhängige

 Ich stütze mich hier auf eine Unterscheidung von Ameriks, die er mit Blick auf Kants Postulatenlehre trifft: „There are two directly opposing ways to try to read Kant‘s ‘solely from a practical view‘ phrase, one quite objective, the other quite subjective. On the strong objective reading, all that is required is a distinction between premises and their epistemic strength, and conclusions and their ontological meaning. To say that something is ‘practical’ in this sense is simply to say that part of its justification has to do with considerations that are not entirely theoretical and certain. […] it would just mean that they are based in part on normative or reflective rather than descriptive and determinative judgments. In contrast, a strong subjective reading would say that the postulates are not claimed to be literally objective; they are simply formulae that are invoked for the mere psychological effect of making an agent‘s practical commitment less likely weaken.“ (Ameriks 2012, 257).

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(B) Erkenntnis deuten. Als Vertreter der gefühlsbetonten Deutung (A) betrachte ich unten zum Beispiel Schönecker und Grenberg. Eine Verteidigung der intellektuellen Gegenposition (B) findet man zum Beispiel in den Arbeiten von Martin Sticker und Sensen. Neben der subjektiven Bedeutung praktischer Erkenntnis gibt es andererseits eine objektive Bedeutung von „Praktizität“, die darin besteht, dass eine praktische Untersuchung nach Kant auf Prämissen beruht, die praktischer Natur sind, beispielsweise auf normativen Sätzen oder anderen reflektierten Willensäußerungen. In dieser objektiven Bedeutung unterscheidet sich eine praktische von einer theoretischen Untersuchung also nur in ihren Prämissen. Je nachdem, wie man eine Prämisse als praktische deutet, ändert sich auch das methodische Verständnis.⁸⁸ Entweder man ist Phänomenologe (C), die Prämisse ist dann die gefühlte Einsicht und die Methode eine primär begriffs-analytische, in der ausgehend von der gefühlten Erfahrung, also ‚von oben‘, die wesentlichen Bestandteile herausanalysiert und untersucht werden. Das Anliegen dieser Interpreten ist erkenntniskritisch ausgerichtet, insofern das Ergebnis der Auflösung der dritten Antinomie und das gescheiterte Begründungsprogramm in GMS III zum Anlass genommen wird, um die praktische Untersuchung in radikaler Abgrenzung zur theoretischen Untersuchung phänomenologisch und somit eher ‚subjektiv‘ zu deuten. Daher stützen sich diese Interpreten bevorzugt auf Kants KpV und auf die These von dem Faktum der Vernunft, das sie phänomenologisch, nämlich als vollständig gefühlsabhängiges Bewusstsein, deuten. Eine Verteidigung dieser Herangehensweise suchen zum Beispiel Grenberg in stark phänomenologischer Ausrichtung und Schönecker in seiner intuitionistischen Deutung der FaktumPassage. Dagegen verläuft die Methode des Metaphysikers (D) zumindest auch in umgekehrter Richtung ‚von unten‘ (synthetisch), also ausgehend vom metaphy-

 Es lassen sich zwei methodische Begründungsrichtungen unterscheiden. Mit Blick auf eine transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe unterscheidet Kant zwischen einem objektiven und subjektiven Nachweis (vgl. KrV, AXVI), also zwischen einem Nachweis ‚von unten‘ oder ‚von oben‘ (vgl. Henrich 1969, 643). „In this way he implies a hierarchy of cognitive faculties, the highest of which is the understanding and the lowest sensibility – extremes between which the faculty of imagination establishes a relation of possible coordination, and between which the proofs move in opposite directions“ (Henrich 1969, 643). Entsprechend unterscheidet auch Ameriks zwischen Argumenten, die ‚top-down‘ oder regressiv verlaufen, d. h. „one simply works out the meaning, implications and advantages of being committed to such principles and the basic formula underlying them“ (Ameriks 2012, 165), und solchen, die ‚bottom-up‘ oder progressiv verlaufen, d. h. „from the mere notion of rational agency, to an apodictic conclusion“ (Ameriks 2012, 165).

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sischen Subjekt oder dem Vermögen zur Autonomie.⁸⁹ Als Prämisse setzen sie voraus, dass es ein Moralbewusstsein gibt, das vollständig gefühlsunabhängig ist und dem Gefühl oder dem Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen zugrunde liegen muss. Dieses erstursprüngliche Bewusstsein steht in enger Verbindung mit dem Ansichsein des Subjekts. Allerdings lässt sich auch dieses Bewusstsein ohne Rekurs auf das Gefühl als ein praktisches Bewusstsein deuten, weil auch Metaphysiker argumentieren können, dass es sich auch als ein unmittelbares, subjektives, rezeptives und synthetisches Bewusstsein rein intellektualistisch auslegen lässt.⁹⁰ Eine metaphysische Rekonstruktion wird zum Beispiel von Prauss, teilweise auch von Ameriks und in frühen Aufsätzen von Henrich vertreten. Meines Erachtens sind prinzipiell alle Kombinationen der Positionen A/B und C/D möglich. Zum Beispiel wird die Kombination A/C von Grenberg verteidigt, die Kombination B/C von Sticker, die Kombination B/D von Sensen und die Kombination A/D von Ameriks, Henrich oder Ware. Diese letzte Position des moderaten Metaphysikers und Phänomenologen teile ich in meiner eigenen Deutung. Allerdings bin ich, anders als diese Autoren, darum noch kein Affektivist. Die Funktion des Gefühls der Achtung deute ich rein phänomenal, aber nicht motivational. Auch darum ist es mir wichtig, diese Auseinandersetzung zwischen Phänomenologen und Metaphysikern vorerst von der Frage nach der moralischen Triebfeder abzugrenzen.

3.1 Phänomenologen: Das Moralbewusstsein ist gefühlsabhängig In verschiedenen Hinsichten und Abstufungen wird eine phänomenologische Dimension in Kants Ethik schon lange und häufig vertreten, in der Regel auch faktisch von allen Affektivisten geteilt. Herausragende Vertreter einer phänomenologischen Deutung sind zum Beispiel Martin Heidegger, Schönecker oder

 Zur analytischen und synthetischen Methode vgl. Zimmermann 2018, 110.  Was hingegen fraglich ist und meines Erachtens das Gefühl als Bestandteil des Moralbewusstseins notwendig macht, ist die Singularität oder Partikularität des Moralbewusstseins endlicher Wesen, die ohne einen Aspekt der Sinnlichkeit nicht denkbar ist. Dieses Merkmal der praktischen Erkenntnis, partikular zu sein, und die Funktion des Gefühls, das allgemeine Moralbewusstsein zu individuieren, habe ich in der Literatur gar nicht oder nur unter besonderer Berücksichtigung des Merkmals der Subjektivität angedeutet gefunden. Nur darum führe ich dieses Merkmal der Partikularität praktischer Erkenntnis, wenn ich in den folgenden Abschnitten auf die Sekundärliteratur eingehe, nicht an, obwohl ich dieses Merkmal für das zentrale Merkmal der gefühlsabhängigen praktischen Erkenntnis des gewöhnlichen Menschen halte.

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Grenberg. In einer schwächeren und eher metaphysisch orientierten Variante deuten auch Henrich, Ware oder Ameriks zumindest das Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen als gefühlsabhängiges Bewusstsein. Ungeachtet der Unterschiede und Abstufungen sind alle irgendwie phänomenologisch orientierten Interpreten von Kants Ethik der Meinung, dass eine besondere Gefühlsabhängigkeit für das praktische Moralbewusstsein charakteristisch ist. Dahinter verbirgt sich meistens die Auffassung, dass sich ein moralisch-praktisches Urteil von einem theoretischen, rein begrifflichen Urteil unterscheidet, insofern es sich bei dem moralisch-praktischen Urteil um eine unmittelbare, subjektive, rezeptive und synthetische Erfahrung handeln soll. Unmittelbarkeit, Subjektivität, Rezeptivität und Synthetizität sind Eigenschaften, die in der theoretischen Philosophie als Merkmale empirischer Erkenntnis immer die Beteiligung der Sinnlichkeit voraussetzen. Daher liegt der Schluss nahe, dass die Sinnlichkeit auch eine Bedingung der Möglichkeit praktischer Erkenntnis bereitstellen muss. Phänomenologen argumentieren daher häufig mit Verweis auf das ein oder andere dieser Merkmale. In der Regel stützen sie sich auf die KpV, besonders auf jene Passagen über das Faktum der Vernunft und das sogenannte Galgenbeispiel⁹¹, und auf Kants Thesen aus dem Triebfedernkapitel der KpV über das moralische Gefühl und die Triebfeder, aber auch die Passage aus der MS über ‚Gemütsanlagen‘ und der erste Abschnitt der GMS mit seiner dichten Fußnote über das Gefühl der Achtung bieten Anlass zu der Annahme, dass uns, weil wir sinnlich-vernünftige Wesen sind, der Kategorische Imperativ in seiner unbedingten Geltung nur im Modus des Fühlens bewusst werden kann.⁹² In der Fußnote heißt es: Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewusstsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn, bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung (GMS, 4:401Anm.).

Die Unmittelbarkeit, aber auch die anderen Merkmale praktisch-moralischer Einsicht, lassen sich auf der Grundlage dieser und anderer Textstellen der Ach-

 Das sogenannte Galgenbeispiel wird von Kant angeführt, um zu demonstrieren, dass auch die Erfahrung bestätigt, dass das Sittengesetz die Freiheit anzeigt. Hierzu ist besonders der zweite Teil dieses Beispiels aussagekräftig, in dem jemand unter Androhung der Todesstrafe genötigt wird, ein falsches Zeugnis abzugeben und einsieht, dass er seine Liebe zum Leben überwinden kann, um stattdessen der Pflicht zu folgen, die es verbietet, ein falsches Zeugnis abzugeben. So schlussfolgert Kant: „Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ (KpV, 5:30).  Vgl. KpV, 5:6, 42 f.,47, 55, 91 und 30; KpV, 5:71– 89; MS, 6:399 – 403; GMS, 4:401Anm.

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tung zuschreiben, welche als Gefühl eingeführt wird. Anhand der Merkmale lässt sich also einerseits für eine phänomenologische Deutung argumentieren, die das Moralbewusstsein als gefühlsabhängiges Bewusstsein darstellt. Andererseits lässt sich die praktische Erkenntnis anhand dieser vier Merkmale aber auch als rein intellektuelle Erkenntnis deuten, worauf ich im nächsten Abschnitt über die Metaphysiker eingehen werde. Dort fasse ich Gegenargumente zusammen, mit denen sich die praktische Erkenntnis und ihre Merkmale vernunftbetont auslegen lassen. Im Anschluss an diese Überlegungen stelle ich jeweils einige Hauptvertreter der beiden Positionen vor, wobei ich mich auf die Methode konzentriere. In beiden Abschnitten geht diesem Teil eine systematisch-orientierte Überlegung zur Auslegung der vier Merkmale sittlicher Einsicht vorher. Im Folgenden handelt es sich also um Argumente für die These, dass Moralität, speziell der Kategorische Imperativ, nach Kant gefühlsabhängig erkannt wird.

Unmittelbarkeit Charakteristisch für praktische Erkenntnis ist, dass der Gegenstand unmittelbar erkannt wird. Dieses Merkmal der Unmittelbarkeit nennt Kant in der Fußnote gleich zwei Mal hintereinander, um das Gefühl der Achtung zu charakterisieren: Das Gesetz werde, mit Achtung, unmittelbar erkannt; die unmittelbare Bestimmung und das Bewusstsein derselben heiße Achtung.⁹³ In der KpV verwendet Kant die Wendung „Factum der Vernunft“ (KpV, 5:31, 47), um diese Unmittelbarkeit und das Gegebensein der Vorstellung hervorzuheben. Obwohl das Bewusstsein des Gesetzes „auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist“ und somit klar ist, „daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei“, könne man das Moralbewusstsein ein Faktum nennen, weil „es sich für sich selbst uns aufdringt“ und man es nicht aus anderen Annahmen „herausvernünfteln“ (KpV, 5:31) kann. Ebenso wie die empirische Wahrnehmung von Gegenständen, soll sich also auch die praktische Erkenntnis von einer schlussfolgernden, theoretischen Erkenntnis darin unterscheiden, dass sich etwas unmittelbar offenbart. „Vermittelst der Sinnlichkeit“, schreibt Kant zu Beginn der transzendentalen Ästhetik, werden uns „Gegenstände gegeben“: „Anschauung“ sei dasjenige, wodurch sich die Erkenntnis auf die Gegenstände „unmittelbar bezieht“ (KrV, A19/B33). Auch wenn es sich bei der Achtung nicht um eine Anschauung, sondern um ein besonderes Gefühl handelt, lässt es sich als ein Aspekt der Sinnlichkeit deuten, der notwendig ist, damit uns das Moralgesetz gegeben sein kann, wie

 Vgl. GMS, 4:401Anm.

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beispielsweise Heidegger und Henrich zeigen. Heidegger beschreibt das Gefühl der Achtung als eine transzendentale Erkenntnisbedingung: „[D]ieses achtende Gefühlhaben für das Gesetz und damit diese bestimmende Art des Offenbarmachens des Gesetzes ist die Weise, in der uns das Gesetz als ein solches überhaupt entgegenkommen kann“ (Heidegger 1991, 158). Henrich betont, dass die moralische Zustimmung im Bewusstsein der Pflicht ein Moment der Passivität aufweist, d. h. sie erlaubt „keine theoretische Distanz des Begründens und Erschließens“ (Henrich 1973, 229). Die Legitimität der moralischen Handlungsaufforderung wird unmittelbar verstanden und gebilligt, aber nicht konstatierend, sondern zustimmend: „Die sittliche Einsicht blickt auf das Gute nicht wie auf einen beliebigen Sachverhalt […] Ohne einen Akt der Zustimmung gibt es keine Erkenntnis“ (Henrich 1973, 228).⁹⁴ Diese Besonderheit habe „oft dazu geführt, daß der Einsichtscharakter des sittlichen Bewußtseins geleugnet wurde“ (Henrich 1973, 229). Auch Schönecker verteidigt das Gefühl als eine notwendige Bedeutungskomponente der praktischen Erkenntnis. In „Das gefühlte Faktum der Vernunft“ (2013) argumentiert er für eine intuitionistische Deutung der praktisch-moralischen Erkenntnis. Seine These besagt, dass wir durch das Gefühl der Achtung die Reinheit und Geltung der Pflicht erkennen.⁹⁵ Der Kategorische Imperativ wird als ein praktisches Prinzip vorgestellt, das als ‚Faktum der Vernunft‘ unmittelbar, nämlich durch ein Gefühl erkannt wird. Mit anderen Worten ist das Moralbewusstsein nach Schöneckers intuitionistischer Deutung gefühlsabhängig.

Subjektivität Des Weiteren kennzeichnet die moralische Einsicht eine besondere Bindung an die erst-personale Perspektive eines menschlichen Subjekts. Diese besondere, erst-personale Bindung beschreibt Kant zum Beispiel in der GMS-Anmerkung zur Achtung: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung“ (GMS, 4:401Anm.). Hier erkennt das partikulare Subjekt, wenn auch als allgemein sinnlich-vernünftiges Subjekt, ein Gesetz auf eine Weise, die an die Perspektive eines sinnlich-vernünftigen Subjekts gebunden ist. Zinkin weist darauf hin, dass Kant im ersten Abschnitt der GMS zum ersten Mal dann in der IchForm schreibt, wenn er das Gefühl der Achtung einführt, so wie es der gemeine Menschenverstand erfährt und dadurch die „mögliche allgemeine Gesetzgebung“ erkennt: „[F]ür diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von

 Eine ähnliche Deutung wie Henrich verteidigt auch Ameriks (vgl. Ameriks 2010, 37 f.).  „[W]ir erfassen diese Geltung und Reinheit, so meine abschließende These zur FaktumTheorie, durch das Gefühl der Achtung.“ (Schönecker 2013a, 100).

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der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt“ (GMS, 4:403). Im Anschluss daran betont Zinkin, dass die Gemeinsamkeit aller Gefühle, pathologisch oder moralisch, nach Kant darin liege, dass sie „merely subjective“ (Zinkin 2006, 34) sind.⁹⁶ Die phänomenale Besonderheit des Fühlens wird auch von Ware und Grenberg verteidigt. Sie kritisieren es, wenn sich Affektivisten ausschließlich an einem „mechanical model of competing forces“ (Ware 2014, 743) orientieren und dabei eine phänomenale Bedeutung von Triebfedern unberücksichtigt lassen: „[T]his point of my disagreement, the problem with the traditional affectivist view, is that it only considers respect as a feeling with varying strength, but the notion of strength does not speak to the experience of moral feeling from the agent‘s own point of view“ (Ware 2014, 743). Ware verteidigt die motivationale Relevanz der Achtung dagegen primär im Rahmen einer wesentlich phänomenalen, erst-personalen und praktischen Perspektive⁹⁷ und verweist auf Parallelen zwischen dem Gefühl der Achtung und der reinen Anschauung im Kontext mathematischer Erkenntnis.⁹⁸ Auch Grenberg kritisiert ein mechanistisches Verständnis von Triebfedern und betont dagegen den intentionalen Charakter motivierender Gefühle. Das Gefühl sei im Gegensatz zu einer Kraft „‘intentional‘, at least in the limited sense that it is always directed toward an object.“ (Grenberg 2001, 161). In Kant‘s Defense of Common Moral Experience (2013) verteidigt Grenberg ihre phänomenologische Deutung der praktischen Erkenntnis auch in methodischer Hinsicht. Im Zentrum steht „attentiveness to common, felt, first-personal phenomenological experiences“ (Grenberg 2013, 25). Eine praktische Untersuchung zeichnet sich ihr zufolge also durch den Bezug zur erst-personalen, gefühlten Erfahrung aus.

 „He writes, ‘moral feeling (like pleasure and displeasure in general) is something merely subjective, which yields no cognition’ (6:400). […] When I talk about my feelings, I refer to me, even if the source of the feeling is something external. In this way, feelings can be said to be what are subject‘s own“ (Zinkin 2006, 34).  In „Kant on Moral Sensibility and Moral Motivation“ (2014) kritisiert Ware die reduktionistische Tendenz einiger Affektivisten und argumentiert für eine phänomenologische Ausrichtung: „That is to say, we can affirm that feeling and sensibility have a positive role in Kant‘s ethics without limiting ourselves to the third-person-perspective McCarty and others focus on exclusively“ (Ware 2014, 743).  Ware lässt sich ebenso als moderater Metaphysiker und als Kritiker einer stark phänomenologischen Deutung anführen, der die Grenzen und die Eigenart von Kants Moralphänomenologie betont, insofern sie transzendentalphilosophisch eingebettet ist: „If we are to understand any of this, we need a suitably idealized phenomenology, rather than a model of competing forces“ (Ware 2014, 740).

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Einen anderen Zugang zum Moralgesetz hält sie für ausgeschlossen: „[A]s such, theoretical, third-personal investigation of the things the practical philosopher needs to know is impossible. The philosopher needs to find some other way to access the proper objects of practical philosophy; that other way will be attentiveness to felt experience“ (Grenberg 2013, 25).

Synthetizität Praktische Erkenntnis ist nach Kant für sinnlich-vernünftige Wesen immer eine synthetische Erkenntnis a priori, nämlich die Einsicht in die nötigende Kraft des Kategorischen Imperativs oder der Pflicht.⁹⁹ Mit anderen Worten ist der Anspruch der Moral dem Menschen immer auch fremd.¹⁰⁰ Diese Fremdheit oder Synthetizität wird durch Achtung angezeigt, denn darunter versteht Kant auch das „Bewusstsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze“ und „die Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut“ (GMS, 4:401Anm.). Zwischen dem menschlichen Willen und dem moralischen Anspruch gibt es einen Unterschied, da der menschliche Wille auch sinnlich ist. Darum kann es sich bei der moralischen Erkenntnis, auch wenn es ein Fall der Selbsterkenntnis sein soll, nur um eine synthetische handeln. Dieses Merkmal betont Kant auch in der Faktum-Passage der KpV, wenn seine These lautet, dass man das Grundgesetz ein Faktum nennen könne, „weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori“ (KpV, 5:31). Auf die praktische Einsicht, dass ich etwas unbedingt tun soll, lässt sich nicht analytisch schließen, weil es sich um eine synthetisch-informative Erkenntnis handelt. Eine andere synthetische Erkenntnis ist nach Kant die empirische Erkenntnis, die der KrV zufolge, weil sie synthetisch-informativ ist, auch auf Voraussetzungen der Sinnlichkeit beruhen muss.¹⁰¹ Daher lässt sich auch dieses Merkmal der Synthetizität praktischer Er-

 Vgl. GMS, 4:397, 413 f. Dies vertritt zum Beispiel Schönecker mit Nachdruck, indem er das Moralgesetz vollkommen vernünftiger Wesen im Unterschied zum Kategorischen Imperativ als deskriptiv und analytisch charakterisiert (vgl. Schönecker 2013c, 231).  Vgl. Henrich 1973, 230.  Die Tatsache, dass empirische Urteile synthetisch-informativ sind, beruht allerdings auf der empirischen Anschauung, die Empfindung enthält, welche auf Affektion oder auf der „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit“ (KrV, A19 f./B34) beruht und von der reinen Anschauung verschieden ist, insofern sie die empirisch gegebene Materie, nicht aber die Form der Erkenntnis liefert (vgl. KrV, A20 f./34 f.). In Kants Moralphilosophie ist aber ausgeschlossen, dass das Gefühl die Funktion haben könnte, einen empirisch gegebenen Inhalt zu liefern. Im Gegensatz dazu muss angenommen werden, dass der synthetische Gehalt, der sich im moralischen Gefühl offenbart, ebenfalls vernünftiger und formaler Natur ist, weil das Motiv zur moralischguten Handlung nicht empirisch sein darf.

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kenntnis zugunsten der phänomenologischen These auslegen, dass das Moralbewusstsein endlicher Wesen gefühlsabhängig sein muss. Schönecker macht daher immer deutlich, dass seine intuitionistische Deutung ausschließlich auf den Kategorischen Imperativ, aber nicht auf das Moralgesetz Bezug nimmt, das wir nach Kant überhaupt nur als Pflicht erkennen können.

Rezeptivität Das Moralbewusstsein zeichnet sich außerdem durch ein Moment der Passivität oder Rezeptivität aus. Heidegger schreibt: „Die sich unterwerfende unmittelbare Hingabe an . . . ist die reine Rezeptivität, das freie Sich-Vorgeben des Gesetzes aber ist die reine Spontaneität; beide sind in sich ursprünglich eigen“ (Heidegger 1991, 159).¹⁰² In der KrV unterscheidet Kant die Rezeptivität des Subjekts von der Spontaneität des Verstandes, dem Begriffe entspringen; durch Begriffe werden Gegenstände gedacht, aber nicht gegeben, und das Umgekehrte gelte für die sinnliche Anschauung.¹⁰³ Vor dem Hintergrund dieser These liegt der Eindruck nahe, dass die Sinnlichkeit auch an der moralischen Erkenntnis beteiligt sein muss, weil Kant in der KpV auch „das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft“, als „gegeben“ (KpV, 5:47) und „unvermeidlich“ (KpV, 5:55) beschreibt. In der MS beschreibt Kant das moralische Gefühl, neben drei anderen ästhetischen Vorbegriffen „der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“, als Gemütsanlage, „durch Pflichtbegriffe afficirt zu werden“ (MS, 6:399).¹⁰⁴ Außerdem charakterisiert er in der Einleitung zur Tugendlehre den Begriff der praktischen Lust, unter den er auch ein moralisch-praktisches Gefühl zählt, als eine „Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) notwendig verbunden ist“ (MS, 6:212). Auch diese Thesen deuten auf eine Beteiligung der Sinnlichkeit hin, wie sie von Kant in der KrV beschrieben wird: „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit.“ (KrV, A19/B33).

 Auch Henrich geht auf dieses Moment der Passivität ein und unterscheidet es von einer (theoretischen) Hingabe des Wahren: vgl. Henrich 1973, 229.  Vgl. KrV, A19/B33.  Diese Passage über „Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (MS, 6:399) ist, wie bereits die Überschrift zum Ausdruck bringt, einer der wichtigsten Hauptbelege für eine phänomenologische Deutung. Für eine ausführliche Interpretation vgl. Schönecker 2010 sowie Guyer 2010.

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Achtung wird als Aspekt der Sinnlichkeit von Kant außerdem auch immer wieder auf sinnlich-vernünftige Wesen eingeschränkt, was damit übereinstimmt, dass die Sinnlichkeit in allen Bereichen der Philosophie „für die Endlichkeit und Abhängigkeit des menschlichen Erkennens“ (Friebe 2015, 101) steht. Phänomenologen können somit argumentieren, dass uns, weil wir abhängige, endliche Wesen sind, die Vorstellung der Pflicht immer auch sinnlich affizieren muss, damit wir sie überhaupt erkennen können. Eine interessante Überlegung zu diesem Verhältnis zwischen Spontaneität und Rezeptivität stellt Ameriks in einem Beitrag über „Kant on Spontaneity“ (1991) an, in dem er eigentlich umgekehrt verteidigen will, dass Kant zufolge alles rezeptiv Gegebene auch in der empirischen Erkenntnis immer schon eine grundlegende Spontaneität voraussetzt, die bestimmt, wie uns ein Inhalt affiziert.¹⁰⁵ In diesem Kontext stellt er die Frage nach einer Selbst-Affektion des transzendentalen Subjekts,¹⁰⁶ also danach, „how spontaneity can itself generate something sensible“ (Ameriks 1991, 478), und als angemessene Beispiele hierfür verweist er auf die ästhetische Erfahrung und das besondere Gefühl der Achtung: „For example, when one spontaneously acknowledges the moral law, this can lead to a feeling of an appropriate sort, namely respect, and to other more specific moral feelings or affections (e. g., the pleasures of pure benevolence)“ (Ameriks 1991, 478). Grenbergs phänomenologische Deutung des Faktums der Vernunft beruht, neben ihrer Betonung der Unmittelbarkeit praktischer Erkenntnis, hauptsächlich auf einem Argument, das Rezeptivität als Merkmal der Sinnlichkeit hervorhebt. Dieses Moment der Rezeptivität oder Passivität bringe Kant mit seiner FaktumThese zum Ausdruck, die besagt, dass das Faktum der Vernunft „für sich selbst uns aufdringt“ (KpV, 5:31), dass es als „Factum gegeben“ sei, weil es sich um eine Willensbestimmung handelt, „die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Principien beruht“ (KpV, 5:55). Sie vertritt, dass alles in dieser Weise als Faktum Gegebene nach Kant nur durch das rezeptive Vermögen der Sinnlichkeit erfasst werden kann. Also könne auch das Faktum der Vernunft nur ein solches

 „What Kant seems to have in mind here is a relation where there is a ultimate cause which does not simply react to a presented affecting datum, but rather determines the affection itself, that is, it generates the fact that the affecting takes place in a certain way, even if it doesn‘t generate all the material of the affecting.“ (Ameriks 1991, 478).  Dies sei „a notion which Kant noted in the first Critique as the great ‘paradox’ (B 152) of selfknowledge“ (Ameriks 1991, 479). Er betont, dass wir auch in der praktischen Philosophie in der Lage sein müssen „to conceive of ourselves as simultaneously spontaneous and yet, on the basis of that very activity, as something passive, as affected by ourselves“, und er schlussfolgert „that one could try […] to generate a general Kantian theory of the relation of spontaneity and receptivity“ (Ameriks 1991, 479).

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sein, das wir erkennen, insofern es uns affiziert: Wir erkennen es ihr zufolge durch das besondere Gefühl der Achtung.¹⁰⁷ Insofern ist für sie auch eine Begründung von Freiheit und Gesetz nur ausgehend von der gefühlten Einsicht denkbar. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Phänomenologen verteidigen, dass das Moralbewusstsein gefühlsabhängig ist, weil sie denken, dass das Gefühl der Achtung den unmittelbaren, subjektiven, synthetischen und rezeptiven Erkenntniszugang herstellt, der für eine praktische Erkenntnis charakteristisch ist. Aktuell ist das wachsende Interesse an phänomenologischen und moralepistemischen Positionen der Forschung entscheidend geprägt von Grenbergs phänomenologischer Verteidigung, von Schöneckers intuitionistischer Deutung und von Wares Kritik an der dritt-personalen Beschreibung des moralischen Motivationsprozesses. Speziell Schönecker und Grenberg regen dazu an, neben der motivationalen auch die epistemische Bedeutung des Gefühls der Achtung stärker zu berücksichtigen. Schönecker verteidigt unter anderem mit einer intuitionistischen Deutung der Faktum-Passage der KpV eine moralepistemische Relevanz des Gefühls der Achtung, Grenberg sogar eindeutig auch dessen freiheitsepistemische Relevanz, insofern sie die Begründungsperspektive mit einer praktischen und somit ihrer Deutung nach wesentlich phänomenalen Perspektive identifiziert. Anhand ihrer Beiträge lässt sich gut nachvollziehen, was die phänomenologische Position in methodischer Hinsicht auszeichnet. Charakteristisch für Phänomenologen ist, dass sie alle gefühlsunabhängigen Aspekte, die sich in der Analyse der moralischen Erfahrung offenbaren, in Abhängigkeit von dem gefühlsabhängigen Aspekt des Moralbewusstseins deuten. Daraus folgt auch, dass der Phänomenologe ausschließen muss, dass es ein gefühlsunabhängiges Bewusstsein geben kann. Da nämlich seine Methode analytisch und der Ausgangspunkt ein gefühlsabhängiges Bewusstsein ist, wäre die Begriffsexposition widersprüchlich, wenn sie ein vollständig gefühlsunabhängiges Bewusstsein als begriffliches Merkmal des vollständig gefühlsabhängigen Bewusstseins offenbaren würde. Stattdessen offenbart sich der Ursprung des Bewusstseins, wie in Schöneckers Darstellung, als dessen „Inhalt“. Schönecker kommentiert Kants These, dass Achtung einen Ursprung habe und eine Wirkung der Vernunft sei, indem er anmerkt, es klinge „ganz so, als gebe es ein ‚Bewusstsein des moralischen Gesetzes‘ ohne das Gefühl der Achtung“ (Schönecker 2013a, 102). Anschließend erläutert er aber analytisch ausgehend von der unmittelbaren Erfahrung, was damit nur gemeint sein könne. Das allein zeigt schon, dass er sich gar nicht erst darauf einlassen will, einen metaphysischen

 Ware gibt in seiner Buchbesprechung eine gute Übersicht über die zwei Hauptargumente von Grenberg (vgl. Ware 2015), kritisiert sie aber auch.

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Ursprung als solchen zu denken, weil die eigentliche Bedeutung eines solchen Ursprungs nur erfasst werden kann, wenn man auch methodisch ausgehend von diesem Ursprung den Akt der Hervorbringung denkt. Aus einer phänomenologischen Perspektive kann der Akt der Vernunft nur als Produkt der Vernunft, d. h. als Inhalt der Erfahrung der Nötigung im Gefühl der Achtung erfasst werden: „Führen wir uns den KI vor Augen […] Man sieht sofort, dass der KI zwei Bestandteile hat: Er enthält eine Aufforderung (Handle so) und einen, wenn auch formalen Inhalt“ (Schönecker 2013a, 103). Schönecker betrachtet also nicht nur das Gefühl der Achtung, sondern auch die Vernunft als eine „notwendige Bedingung für die Erkenntnis des KI“ (Schönecker 2013a, 103). Nur kurz wird in einem Nebensatz erwähnt, worum es bei der Rede von der Wirkung oder dem Ursprung eigentlich geht: „[D]er Inhalt des KI ist selbst ein Produkt der Vernunft, und insofern er dies ist, ist die Achtung eine ‚Wirkung‘ der Vernunft.“ (Schönecker 2013a, 103). Unmittelbar darauf wird aber diese Perspektive wieder verlassen und die These umgedeutet: „Das ist aber nicht so misszuverstehen, als hätte derjenige, der ein moralisches Bewusstsein hat, zuerst ein achtungsfreies Bewusstsein des KI, das sich erst dann mit dem Gefühl der Achtung verbindet.“ (Schönecker 2013a, 103). Stattdessen finden wir in dem Gefühl der Achtung den Inhalt der Nötigung als gegeben vor.¹⁰⁸ Weitere Stellen bestätigen, dass der Akt der moralischen Selbstgesetzgebung von Schönecker nicht als Akt, sondern als „Vernunftprodukt“ verstanden wird. Phänomenologisch deutet er den Akt der Vernunft als „Tatsache“, die sich „offenbart“ (Schönecker 2013a, 97). Im Kontext der Stelle KpV, 5:31, die er kommentarisch interpretiert, stellt sich das Problem, dass Kant dieses Faktum der Vernunft einerseits mit dem Gesetz und andererseits mit dem Bewusstsein des Gesetzes identifiziert.¹⁰⁹ Schönecker erinnert daran, dass unter „Faktum“ einerseits eine ‚Tat‘ und andererseits eine ‚Tatsache‘ verstanden werden muss.¹¹⁰ Er berücksichtigt also auch die gesetzgebende ‚Tat‘ der Vernunft: „Denn das moralische Gesetz (der KI) ist ja ohne Zweifel, wie Kant sagt, ein ‚Produkt der Vernunft‘ (KpV, 5:20, 7), und in diesem einen Sinne von ‚Faktum‘ eine Tat oder Handlung der Vernunft (Genitivus subjectivus)“ (Schönecker 2013a, 97). Allerdings kann er diese ‚Tat‘ im Rahmen der phänomenologischen Deutung nur berücksichtigen, insofern sie als ‚Tatsache‘ in der gefühlten Nötigung erscheint: „[D]ie reine praktische

 „Vielmehr finden wir in uns gewisse mentale Aktivitäten und mentale Ereignisse, von denen wir manche als spontan erfahren“ (Schönecker 2013a, 104).  Vgl. Beck 1960, 168.  Vgl. zu dieser These Willaschek 1991. „Diese Frage können wir beantworten, indem wir daran erinnern, dass die Wendung ‚Faktum der Vernunft‘ offenkundig als Genitivus subjectivus wie auch als Genitivus objectivus gelesen werden kann.“ (Schönecker 2013a, 97).

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Vernunft als gesetzgebende Vernunft (und damit die Freiheit) ist also selbst eine Tatsache (Vernunft als Faktum, etwas Wirkliches, Genitivus objectivus), die uns aber als Tatsache ja nur bewusst ist, indem wir eben ein ‚Bewusstsein‘ des Gesetzes haben“ (Schönecker 2013a, 97). Die Hervorbringung des Gesetzes und die Hervorbringung der Achtung können in diesem Rahmen nicht als mentale Akte, sondern nur als gefühlte Tatsachen und Inhalte begriffen werden. Insofern ist ein gefühlsunabhängiger Aspekt zwar vorhanden, ein gefühlsunabhängiges Bewusstsein ist aus der philosophischen Analyse aber ausgeschlossen. Dieselbe Interpretationslinie wird auch schon in einem vorherigen Aufsatz deutlich, wenn Schönecker die Einleitungs-Passage über „Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (MS, 6:399) interpretiert. Über die vier ästhetisch-moralischen Vorbegriffe schreibt Kant, dass es „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ sind und „Anlagen“ des Menschen, „kraft deren er verpflichtet werden kann“ (MS, 6:399). Diese Behauptungen stützen eindeutig die These von Schönecker, dass Menschen die moralische Verpflichtung nach Kant nur fühlend verstehen können. Der letzte Satz der Einleitung aber bringt erneut zum Ausdruck, dass diese Gefühle als „Wirkung“ auf das Bewusstsein des moralischen Gesetzes „folgen“ (MS, 6:399), und Schönecker muss erneut zeigen, dass Kant mit diesem ursprünglichen Bewusstsein nicht wirklich ein Moralbewusstsein meinen kann, das ihm zufolge ja unabhängig vom Gefühl nicht denkbar ist. Schönecker deutet beide relationalen Ausdrücke „Wirkung“ und „folgen“ in einem rein logischen Sinne. Mit Blick auf die Folge-Beziehung schlägt er vor, dass Kant an ein wechselseitiges Verhältnis der materialen Implikation denkt: „Es lässt sich nämlich rasch einsehen, dass die Aussage ‚S befindet sich im Zustand affizierter moralischer Gemütsanlagen‘ und die Aussage ‚S hat ein Bewusstsein des moralischen Gesetzes‘ logisch äquivalent sind (also einander implizieren)“ (Schönecker 2010, 148). Das bedeutet mit anderen Worten, dass es „kein Bewusstsein des moralischen Gesetzes geben kann, ohne das die moralischen Gemütsanlagen aktiviert sind“ (Schönecker 2013a, 148 f.), was erneut seine phänomenologische Deutung bestätigt. Als eine Wirkung des Gesetzes beschreibt Kant das Gefühl der Achtung nach Schönecker, um es von pathologischen Gefühlen abzugrenzen. Es sei in einem logischen Sinne die Wirkung des Gesetzes, wobei unter Gesetz in diesem Zusammenhang gerade nicht das Bewusstsein eines Gesetzes verstanden werden dürfe.¹¹¹ Ein metaphysisch ur Das Ergebnis seiner Interpretation des letzten Satzes lautet: „(1**) Das Bewusstsein der moralischen Gemütsanlagen ist nicht empirischen Ursprungs, sondern eine Wirkung des moralischen Gesetzes aufs Gemüt und kann nur auf das Bewusstsein des moralischen Gesetzes folgen“ (Schönecker 2010, 151). Allerdings bleibe hier, wie er anmerkt, eine „gewisse Irritation durch Kants Verwendung des Verbs ‚folgen‘“ (Schönecker 2010, 151).

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sprüngliches Moralbewusstsein, das der Affizierung der moralischen Gefühle zugrunde liegt, lässt sich in Schöneckers begriffslogischer Untersuchung so nicht denken, und dies wird von ihm auch nicht beabsichtigt, weil er eine phänomenologische Deutung vertritt. Grenberg konzentriert sich in Kant‘s Defense of Common Moral Experience. A Phenomenological Account (2013) ebenfalls auf die zweite Kritik, insbesondere auf das sogenannte Galgenbeispiel und die anschließende Rede von dem „Factum der Vernunft“ (KpV, 5:29 – 31).¹¹² Dort beschreibt Kant eine analytische Methode: „Das vorher genannte Factum ist unleugbar. Man darf nur das Urtheil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen“ (KpV, 5:32). Mit anderen Worten wird das Urteil „Du kannst, denn Du sollst“¹¹³ als ein gegebenes Faktum des gesunden Menschenverstandes vorausgesetzt, und ausgehend davon gilt es dieses Urteil in seine Bestandteile zu zergliedern, um es besser zu verstehen. In einem ausdrücklich begründungstheoretischen Sinne verteidigt sie, dass in Kants praktischer Philosophie methodisch nur „attentiveness to common, felt, first-personal, phenomenological experiences“ (Grenberg 2013, 25) den Ausgangspunkt und den Zugang zur Erkenntnis der Freiheit bilden kann, an dem sich der praktische Philosoph in seiner nicht-induktiven Analyse der Erfahrung, ihrer Bestandteile a priori und deren Verbindung immer orientieren müsse.¹¹⁴ Ausführlich verteidigt Grenberg diesen phänomenologisch-analytischen Ansatz als den einzigen Erkenntniszugang im Feld der praktischen Philosophie, indem sie unter Rekurs auf die dritte Antinomie argumentiert, dass eine theoretische Erkenntnis der Freiheit die Grenzen möglicher Erkenntnis überschreite:¹¹⁵ „[T]he theoretical effort will ultimately fail“ (Grenberg 2010, 120). Daher muss der Kantianer ihr zufolge, wenn er von der transzendentalen Freiheit und dem Moralgesetz dennoch etwas aussagen möchte, seine theoretische Perspektive und den Startpunkt seiner Überlegung grundlegend ändern. Statt an dritt-personalen Aussagen über Freiheit zu scheitern, soll er sich der erst-personalen Perspektive einer unmittelbaren, gefühlten Erfahrung von Moralität zuwenden, wie sie Kant repräsentativ für den gemeinen Menschen in dem Galgenbeispiel illustriere. Dies

 „To assert this is to reveal to the carful reader of Kant‘s texts that I privilege his second Critique account over the Groundwork“ (Grenberg 2013, 25).  Dieses Urteil führt Kant zuvor im Galgenbeispiel ein, in dem ein Untertan einsieht, „daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll“ (KpV, 5:30).  „Practical philosophers thus become a bit like chemists, not introducing anything new to common moral experience, but simply analyzing it more careful – attending to it, now with philosophical tools in hand, for what it is“ (Grenberg 2013, 26).  Vgl. Grenberg 2010.

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sei „our newly born practical philosopher“ (Grenberg 2013, 8), wie ihn Kant in der KpV als Ergebnis der Begründungsproblematik der Freiheit und des Moralgesetzes präsentiere. Dieser gefühlsgebundene praktische Philosoph kann seiner Freiheit gewahr werden, indem er sich auf seine unmittelbare Erfahrung konzentriert und lernt, sie als Ausdruck seines intelligiblen Charakters zu deuten: „Such an expression of the concepts of freedom in a way compatible with the constraints of the phenomenal world thus needs to be a particular determination of the flow of time in that world via the noumenal idea. If such a thing can be identified, then we have proven the possibility of freedom in the relevant sense.“ (Grenberg 2010, 127). Dieser partikulare Ausdruck des Gesetzes und des Vermögens zur Autonomie ist nach Grenberg die unmittelbare Erfahrung der moralischen Nötigung in dem Gefühl der Achtung, die ihr zufolge auch in GMS III als Ausgangspunkt für eine Deduktion der Freiheit von Kant hätte angenommen werden sollen.¹¹⁶ Das Gefühl der Achtung kann ihr zufolge phänomenal die reale Möglichkeit transzendentaler Freiheit anzeigen, weil es sich nicht um eine direkte Anschauung oder Wertschätzung einer spontanen Aktivität handelt, sondern primär um eine gefühlte Einschränkung: „[T]o accept felt experience as the ground of practical philosophy, Kant must turn to a felt experience of constraint, not activity“ (Grenberg 2013, 113, fn11). Grenberg zufolge kann und muss dem Gefühl der Achtung auch im Kontext der Rechtfertigung eine epistemisch grundlegende Rolle zukommen: „[W]e affirm a central epistemic role for felt experience in grounding objective, synthetic a priori practical cognitions of both morality and freedom“ (Grenberg 2013, 137).¹¹⁷ Als eine Art „phenomenal face of freedom“ (Grenberg 2010) biete das Gefühl der Achtung die Grundlage, auf der allein auch die gefühlsunabhängigen Aspekte des Moralbewusstseins genauer bestimmt werden können.¹¹⁸ Ihre Deutung lässt sich somit in der entscheidenden Hinsicht als phänomenologisch charakterisieren: Sie nimmt an, dass das Moralbewusstsein vollständig gefühlsabhängig ist und schließt auch im Rahmen einer philosophischen Rechtfertigungsperspektive aus,

 Vgl. Grenbergs „The Phenomenological Failure of Groundwork III“ (2009).  „The moral feeling of respect plays an enabling instead of an evidential role in ground a priori cognitions affirming the validity of the moral law“ (Grenberg 2013, 69).  In ihrem Aufsatz „In Search of the Phenomenal Face of Freedom“ (2010) beruft sich Grenberg vor allem auf eine Deutung der Passage KrV, A546/B574 f., wo es über den intelligiblen Grund heißt, dass „die Wirkungen dieses Denkens und Handelns des reinen Verstandes in den Erscheinungen angetroffen werden“, die zum empirischen Charakter gehören, der aber auch als „sinnliches Zeichen“ für den „intelligibelen Charakter, der die transzendentale Ursache von jenem ist“ (KrV, A546/B574), angegeben werden könne.

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dass ein Moralbewusstsein angenommen werden kann, das vollständig gefühlsunabhängig ist.¹¹⁹ Die Gefühlsabhängigkeit ist also nach diesen phänomenologischen Interpreten charakteristisch für eine praktische Erkenntnis, die vor dem Hintergrund der Freiheitsantinomie der KrV nach Grenberg den einzig möglichen Erkenntniszugang zu den Grundlagen der Moral darstellt. Des Weiteren gibt es zahlreiche phänomenologische Interpreten, die aber keine phänomenologische Methode vertreten, sondern stattdessen das Gefühl der Achtung aus einer transzendentalphilosophischen Perspektive untersuchen.Ware und Ameriks untersuchen die Parallele zwischen dem Gefühl der Achtung und der reinen Anschauung mathematischer Erkenntnis und die Parallele moralischer Erfahrung zur ästhetischen Erfahrung des Schönen und Erhabenen.¹²⁰ Broadie und Pybus vergleichen es mit einer reinen Anschauungsform: „Respect is the space of morality“ (Broadie/Pybus 1975, 62).¹²¹ Ich werde auf einige dieser phänomenologischen Ansätze gegen Ende des Abschnitts über die Metaphysiker nochmal zu sprechen kommen, weil diese Interpreten zwar Mischformen vertreten, methodisch aber eher eine metaphysische anstelle einer phänomenologischen Methode akzeptieren.

3.2 Metaphysiker: Das Moralbewusstsein ist gefühlsunabhängig Metaphysiker, wie sie hier im Kontrast zu Phänomenologen genannt werden, vertreten, wie zum Beispiel Allison, Ameriks, Henrich, O’Neill, Prauss oder Sensen, dass es ein grundlegendes Moralbewusstsein gibt, das vollständig gefühlsunabhängig ist. Deshalb sollten sie mit Blick auf die einzelnen Merkmale praktischer Erkenntnis zeigen können, wie man sie gefühlsunabhängig auslegen kann.

 Grenberg und Schönecker seien hier nur exemplarisch hervorgehoben, obwohl es noch viele andere phänomenologische Interpreten gibt (vgl. z. B. Grondin 2000 und Guyer 2010). Grondin betont vor allem die Parallele zwischen Achtung und dem Erhabenen, wohingegen Guyer besonders die Passage über die Gemütsanlagen fokussiert und darauf aufbauend eine von ihm sogenannte empirische Theorie über die phänomenale moralische Praxis entwirft.  Zur Parallele mit der reinen Anschauung mathematischer Erkenntnis: vgl. Ware 2014, 733Anm.17, Ameriks 2010, 32. Zur Parallele mit der ästhetischen Erfahrung: vgl. Ameriks 2003, 4; Ware 2014, 738.  „Hence, if there is no feeling of respect for the moral law, there can be no consciousness of the moral law. But for Kant, without such consciousness there can be no moral experience. Hence, the feeling of respect is a necessary ingredient in moral experience, and being necessary it is universally present in such experience. Consequently, respect is a priori. It plays in moral experience the same sort of part that is played in perceptual experience by the a priori forms of intuition.“ (Broadie/Pybus 1975, 62).

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Teil II: Positionen

Während Phänomenologen die praktische Erkenntnis in Kants theoretischer Philosophie eher mit den Merkmalen empirischer oder mathematischer Urteile in Verbindung bringen, weil die Rolle der Achtung gewisse Parallelen zur Rolle der Anschauung aufweist, tendieren Metaphysiker zu einem Vergleich der praktischen Einsicht mit solcher theoretischer Erkenntnis, die vornehmlich begrifflich ist. Die philosophisch-begriffliche Erkenntnis eignet sich für einen Vergleich, weil es sich dabei nach Kant, wie auch bei der praktisch-moralischen Erkenntnis, um eine Form der reinen Selbsterkenntnis handelt. Unter diesem Vorzeichen lässt sich argumentieren, dass die moralisch-praktische Erkenntnis eine unmittelbare, subjektive, rezeptive und synthetische und dennoch eine gefühlsunabhängige Art der Selbsterkenntnis darstellt.

Unmittelbarkeit Die Unmittelbarkeit der praktischen Willensbestimmung lässt sich gefühlsunabhängig so verstehen, dass damit eine notwendige im Unterschied zur kontingenten, extern beinflussten Bestimmung gemeint ist, die auf anderen Triebfedern als dem Gesetz beruht. Wenn es beispielsweise in der Fußnote der Grundlegung heißt, „[w]as ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung“, dann bedeutet das nach einer gefühlsunabhängigen Lesart, dass ich es, wie Kant anschließend erläutert, „ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn“ (GMS, 4:401Anm.) erkenne. Diese Bedeutung der Unmittelbarkeit einer Erkenntnis bringt Kant auch in der KpV deutlich zum Ausdruck: Die „Deduction des moralischen Gesetzes“ betreffe „nicht das Erkenntniß von der Beschaffenheit der Gegenstände, […] sondern ein Erkenntniß, so fern es der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann und die Vernunft durch dieselbe Causalität in einem vernünftigen Wesen hat, d.i. reine Vernunft, die als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögen angesehen werden kann“ (KpV, 5:46). Mit anderen Worten bringt der Ausdruck „Unmittelbarkeit“ in diesem Kontext die negative und positive Freiheit zum Ausdruck, dass der Wille unabhängig von fremden Einflüssen und aus der eigenen reinen Vernunft heraus, nämlich durch das Moralgesetz, bestimmt wird.¹²² Außerdem ließe sich für ein gefühlsunabhängiges Moral-Verständnis dieses Merkmals anführen, dass die praktische Erkenntnis nur darum, weil es sich um Selbsterkenntnis der Vernunft handelt, auch „der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann“ (KpV, 5:46). An weiteren Stellen charakterisiert Kant die praktische Erkenntnis als eine unmittelbare Erkenntnis, weil sie von Gefühlen und externen Einflüssen

 Vgl. GMS, 4:446.

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unabhängig ist. Zu Beginn des Triebfedernkapitels der KpV verwendet er den Ausdruck in dieser Bedeutung, wenn er erläutert, was es heißt, dass „das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme“ (KpV, 5:71). Dann nämlich handle man nicht nur dem Gesetz gemäß, also „nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde“ (KpV, 5:71). Entsprechend schreibt er bereits in der GMS über eine Handlung, die auf materialen Bestimmungsgründen beruht: „[S]o bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen hat“ (GMS, 4:444). Unmittelbarkeit verwendet er also häufig als Gegenbegriff zur mittelbaren Bestimmung des Willens, die auf pathologischen Triebfedern und materialen Bestimmungsgründen beruht. Diese Bedeutung von Unmittelbarkeit ist nicht nur gefühlsunabhängig, sondern sie ist mit einer Gefühlsunabhängigkeit geradezu gleichbedeutend.

Subjektivität Es ist fragwürdig, ob das praktische Bewusstsein, falls es überhaupt in besonderem Maße subjektiv ist, in einem phänomenologischen Sinne charakterisiert werden muss, weil „subjektiv“ nach Kant nicht immer „gefühlvoll“ bedeutet.¹²³ Subjektiv sind nach Kant auch paradigmatische Aussagen der theoretischen Philosophie, insofern sie sich mit transzendental-idealen Inhalten, zum Beispiel mit reinen Anschauungsformen, befassen.¹²⁴ Ob darüber hinaus auch eine gefühlte Subjektivität notwendig ist, geht aus den Textstellen nicht eindeutig hervor. Die Form der ersten Person Singular, die auffällt, wenn Kant das Gefühl der Achtung in der Fußnote thematisiert und zuvor im Haupttext von GMS I einführt, lässt sich als mentale Selbstbezugnahme deuten. Moderate Metaphysiker können diese Stelle auch phänomenologisch deuten, dann aber betonen, dass sie von einem gewöhnlichen Akteur handelt, der philosophisch noch nicht einsieht, dass diese gefühlte Erfahrung auf einem ursprünglichen Bewusstsein der Vernunft beruht.¹²⁵ Auch die wichtige Formulierung aus der Fußnote besagt lediglich, dass ich das Gesetz „mit Achtung“ und „für mich erkenne“ (GMS, 4:401Anm.), was auch bedeuten kann, dass Achtung die reine Selbsterkenntnis nur begleitet. O’Neill weist außerdem darauf hin, dass Kant an einer anderen Stelle aus der Ich „As in other parts of Kant‘s philosophy, this contrast between the subjective and the objective has several overlapping layers of meaning and can easily be misunderstood.“ (Ameriks 2012, 249).  Des Weiteren kann eine Erkenntnis auch in der Hinsicht subjektiv sein, dass sie nicht kommunizierbar ist. Vgl. Ameriks 2012, 249.  Vgl. GMS 4:401Anm. und GMS, 4:403.

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Perspektive schreibt, um anzuzeigen, dass es sich bei der Äußerung nur um eine Behauptung handelt, die er nicht begründen kann.¹²⁶ Auch in diesem Sinne ließe sich die Passage zur Achtung auslegen. Außerdem lässt sich der Vergleich der Achtung mit der Anschauung kritisieren, den Phänomenologen manchmal anführen. Stattdessen könnte Achtung mit der Apperzeption verglichen werden, wie sie von Kant in der KrV eingeführt wird: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ (KrV, B131 f.). Ein Metaphysiker könnte vertreten, dass in der praktischen Philosophie alle meine moralischen Vorstellungen von Achtung begleitet können sein müssen, so wie in der theoretischen Philosophie alle meine Vorstellungen von einem „Ich denke“ begleitet können sein müssen. Ohne dieses „Ich denke“, schreibt Kant, würde die Vorstellung „entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein“ (KrV, B132), was an die Formulierung erinnert, dass ich das Gesetz „für mich“ nur „mit Achtung“ (GMS, 4:401Anm.) erkennen kann. Die reine Apperzeption ist nach Kant „ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden“ (KrV, B132). Dasselbe könnte für Achtung gelten, insofern es „kein durch Einfluß empfangenes, sondern [ein] durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) ist. Des Weiteren charakterisiert Kant die Apperzeption als dasjenige Bewusstsein, dass alle anderen Vorstellungen begleitet, das aber selbst durch keine weitere begleitet sein kann.¹²⁷ Auch dies könnte auf die Achtung fürs Gesetz im praktischen Kontext zutreffen, wenn es um das Moralbewusstsein endlicher Wesen geht. Denn Achtung fürs Gesetz ist nach Kant die höchste Form der Anerkennung des Gesetzes, die ein Mensch erreichen kann.¹²⁸ Im Detail könnte auch die Verbindung zwischen der negativen Wirkung des Gesetzes auf die Sinnlichkeit und der positiven Schätzung der Achtung auf der intellektuellen Seite, wie sie Kant in der KpV analysiert, in Analogie zur ursprünglichen Verbindung zwischen der reinen Apperzeption und dem inneren Sinn gedeutet werden.¹²⁹ Die reine Apperzeption sei eine „Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen“ (KrV, B135). Auch Achtung fürs Gesetz tritt nach Kant

 „Kant uses the first person in two striking and uncharacteristic assertions to show that these claims are ones that he cannot vindicate (at least at this stage).“ (O’Neill 1989, 54). Sie bezieht sich auf zwei Behauptungen in GMS, 4:448.  Vgl. KrV, B132.  „Das moralische Gesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fordert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immer nur Tugend ist, d. i. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung furs Gesetz“ (KpV, 5:128, vgl. 84).  Vgl. KpV, 6:74– 76, 78 f., vgl. KrV, B132.

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nur bei endlichen Wesen und somit immer nur in einer ursprünglichen Verbindung mit einer negativen Wirkung des Gesetzes auf die Sinnlichkeit auf.¹³⁰ Ein Interpret, der diesen Vergleich befürworten könnte, ist zum Beispiel Sensen, der wie auch Reath und andere Vertreter der intellektualistischen ZweiAspekte-Deutung, zwischen einer intellektuellen Achtung des Gesetzes und dem moralischen Gefühl unterscheidet. Diesem Ansatz zufolge begleitet das moralische Gefühl als negativer Gefühlsaspekt die Achtung fürs Gesetz, die als intellektuelle Weise der Zustimmung gedeutet wird, so wie auch die reine Apperzeption nach Kant dem intellektuellen Vermögen zugeschrieben wird. Es lässt sich aber auch unabhängig von Überlegungen zur theoretischen Philosophie bezweifeln, dass die praktische Erkenntnis nach Kant eine erst-personale, gefühlte Erfahrung sein muss. Autoren wie Sticker können die These von der Gefühlsabhängigkeit auch immanent als unzutreffende Beschreibung der moralischen Phänomene kritisieren, zum Beispiel weil wir nach Kant die Handlungen anderer moralisch beurteilen, was phänomenologisch von einer gefühlten erst-personalen Perspektive unabhängig zu sein scheint.¹³¹

Synthetizität Der Kategorische Imperativ ist nach Kant „ein synthetisch-praktischer Satz a priori“ (GMS, 4:420), so wie auch das Faktum der Vernunft, „weil es sich für sich selbst uns aufdringt[,] als synthetischer Satz a priori“ (KpV, 5:31) charakterisiert wird. Die Synthetizität lässt sich entweder ausgehend von dem Begriff eines schlechthin guten Willens nachvollziehen, der in dem Begriff der Pflicht „nur unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen“ (GMS, 4:397) enthalten sei, weil der Mensch auch eine sinnliche Natur habe; oder man begreift die Synthetizität der praktischen Erkenntnis ausgehend von einem Willen, der durch das Moralprinzip synthetisch mit dem Willen anderer vernünftiger Wesen verknüpft ist.¹³² In beiden Hinsichten wird deutlich, dass der moralische An Die Einschränkung der Neigung und der Schätzung der Person durch das Moralgesetz rufe eine „negative Wirkung“, nämlich eine „Empfindung der Unlust“ (KpV, 5:78, vgl. 72 f.) hervor. Daher sei „das sinnliche Gefühl, was allen unseren Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, 5:75).  In „Kant on Engaging Other Agents and Observing Reason at Work“ (2016) argumentiert Sticker, dass moralische Erfahrung nicht nur erst-personale Erfahrung umfasst, was dafür sprechen könnte, dass sie zumindest nicht immer gefühlsabhängig ist.  Der erste Zugang entspricht der orthodoxen Auffassung (vgl. GMS, 4:420). Der zweite Zugang wird zum Beispiel von Seel verteidigt, der den Kategorischen Imperativ in Abgrenzung zu hypothetischen Imperativen als ein synthetisches Prinzip rekonstruiert, wobei er die Normativität

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Teil II: Positionen

spruch, dem das Subjekt in der sittlichen Einsicht zustimmt, auch dadurch charakterisiert ist, „doch ein ihm Fremdes zu bleiben“ (Henrich 1973, 230). Allerdings wird daraus noch nicht ersichtlich, warum es sich um ein Prinzip handeln sollte, das nur gefühlsabhängig erkannt werden kann. Wenn das Moralprinzip synthetisch ist, weil es den Willen mit dem Wollen anderer vernünftiger Subjekte synthetisch verknüpft, dann kann sogar das Moralgesetz rein vernünftiger Wesen als ein synthetisches Prinzip, statt als analytisches Prinzip, verstanden werden.¹³³ Wenn das Moralprinzip synthetisch ist, weil es den rein vernünftigen Willen mit der Sinnlichkeit verknüpft, dann kann diese Verknüpfung immer noch als negative Verknüpfung verstanden werden, sodass das synthetische Prinzip nicht durch die Sinnlichkeit oder durch ein Gefühl, sondern vielmehr durch den Ausschluss der Sinnlichkeit und durch seine Gefühlsunabhängigkeit als synthetisches Prinzip erkannt wird. Phänomenologen könnten, wie gesehen, unter Rekurs auf die empirische Erkenntnis argumentieren, dass an einer synthetischen Erkenntnis immer auch die Sinnlichkeit beteiligt sein muss. Es stimmt zwar, dass die empirische Erkenntnis, wie zum Beispiel das Urteil „Dies ist rot“, immer auch Empfindung voraussetzt, und insofern handelt es bei der empirischen Erkenntnis immer um eine synthetisch-informative Erkenntnis. Die Empfindung als das Empirische der Anschauung, nämlich die gegebene Materie der Erkenntnis,¹³⁴ lässt aber nicht den Schluss zu, dass auch die praktische Erkenntnis, weil sie synthetisch ist, in sinnlicher Form gegeben sein muss. Empirische Erkenntnisurteile sind synthetische Urteile a posteriori, die daher auch einen a posteriori gegebenen Inhalt aufweisen, der in der Empfindung liegt, um als synthetische Urteile verständlich zu werden. Der Kategorische Imperativ soll hingegen ein synthetisches Prinzip a priori sein, sodass es im Gegensatz zur empirischen Erkenntnis zentral erscheint, in diesem Kontext von allen a posteriori gegebenen Inhalten abzusehen, um das Prinzip in seinem synthetischen Gehalt zu begreifen, der rein sein soll. Dieser Unterschied zwischen der empirischen und der praktischen Erkenntnis kann so ausgelegt werden, dass die praktische Erkenntnis a priori und ge-

beider Imperative betont. Ihm zufolge handelt es sich bei beiden Imperativen um praktische, formale Handlungsprinzipien, die sich darin unterscheiden, dass das pragmatische Prinzip der praktischen Widerspruchsfreiheit bloß das eigene Wollen betrifft, wohingegen das moralische Prinzip der praktischen Widerspruchsfreiheit das Wollen aller vernünftigen Wesen zum Gegenstand hat (vgl. G. Seel 1989; vgl. GMS, 4:416 – 419).  Allison schreibt, dass es zwar eine analytische Wahrheit sei, dass der vollkommen vernünftige Wille dem Moralgesetz immer Folge leistet, dass dies aber nicht bedeute, dass auch das Moralgesetz in diesem Fall ein analytisches Prinzip sei (vgl. Allison 2011, 168 und 168Anm.).  Vgl. Friebe 2015, 101.

3 Wie erkennen wir unsere Pflicht?

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fühlsunabhängig verständlich werden muss, so wie es bei synthetischen Urteilen a priori der theoretischen Philosophie der Fall ist. Auf diese Parallele zwischen den synthetischen Urteilen a priori der theoretischen und der praktischen Philosophie macht Kant selber aufmerksam. Zu Beginn von GMS II problematisiert er die Begründung des Kategorischen Imperativs mit Verweis auf theoretische Prinzipien: „Er ist ein synthetisch-praktischer Satz a priori, und da die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen so viel Schwierigkeit im theoretischen Erkenntnisse hat, so läßt sich leicht annehmen, daß sie im praktischen nicht weniger haben werde.“ (GMS, 4:420). In der KpV führt er die Parallele an, um zu erläutern, wie wir uns reiner praktischer Prinzipien bewusst werden können: „Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben“ (KpV, 5:30). Da es sich um Prinzipien handelt, die eine Notwendigkeit a priori bei sich führen, beruht deren Einsicht auf der Absonderung aller empirischen Bedingung. Vor diesem Hintergrund argumentiert Ware ausführlich gegen Grenbergs phänomenologische Deutung, weil unter anderem die zitierten Stellen nahelegen, dass die praktische Notwendigkeit des Kategorischen Imperativs ebenso gefühlsunabhängig einsichtig ist wie die theoretische Notwendigkeit synthetischer Urteile a priori.¹³⁵

Rezeptivität Den Adressaten der Pflicht zeichnet eine gewisse Rezeptivität oder Passivität aus, weil sich dasjenige, was er tun soll, in der sittlichen Einsicht unmittelbar aufdrängt. Sofern man als Akteur andere Subjekte bewusst behandelt, mit anderen Worten also moralisch auf sein eigenes Handeln reflektiert, ist das Bewusstsein mit dem Gedanken der Pflicht konfrontiert, so wie ein Subjekt mit der Röte der Rose oder in Wares Beispiel mit dem Kaffeebecher auf dem Schreibtisch konfrontiert ist.¹³⁶ Um die Röte, den Kaffeebecher oder die Nötigung zu erfahren, braucht es keine Schlussfolgerung oder vermittelnde Gedanken. In diesem Sinne drängt sich der Gegenstand unmittelbar auf, und das Bewusstsein ist demgegenüber passiv oder rezeptiv involviert. Rezeptivität charakterisiert der KrV zufolge die Sinnlichkeit in Abgrenzung zur Spontaneität des Verstandes als Begriffsvermögen.¹³⁷ Darum schlussfolgert Grenberg, dass die Sinnlichkeit

 Vgl. Ware 2015, 303.  Vgl. Ware 2015, 302. Vgl. zum Beispiel der Rose: KrV, A29/B45, B69Anm.  Vgl. KrV, A51/B75.

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Teil II: Positionen

wesentlich an der praktischen Erkenntnis beteiligt sein müsse, weil das Faktum der Vernunft eines sei, das sich „für sich selbst uns aufdringt“ (KpV, 5:31). Gegen ihre Argumentation wendet Ware ein, dass dieses Faktum der Vernunft auch als eine Tatsache verstanden werden kann, die sich uns in einem gefühlsunabhängigen Sinne aufdrängt. Eine andere Tatsache dieser Art sei nach Kant ein synthetisches Urteil a priori, über das er ebenfalls sagt, dass es sich „aufdringt“ (KrV, B6).¹³⁸ Zur Bestätigung verweist Ware außerdem auf die zitierte Passage aus der KpV, in der Kant praktische Prinzipien mit synthetischen Urteilen a priori der theoretischen Philosophie vergleicht. Auch Grenberg und Schönecker berücksichtigen diese Stelle ausführlich. Dort heißt es, viel zitiert, dass wir uns „reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so, wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben“ (KpV, 5:30, m.H.). Sowohl Grenberg als auch Schönecker klammern den kursivierten Nebensatz aus, weil der Verweis auf theoretische Prinzipien ihrer phänomenologischen These widerspricht. Sie nämlich vertreten das Gegenteil: Die Einsicht in die Notwendigkeit des Kategorischen Imperativs ist ihrer Deutung gemäß gefühlsabhängig und unterscheidet sich darin von der Einsicht in die Notwendigkeit theoretischer Grundsätze. Der unberücksichtigte Nebensatz, „eben so, wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind“ (KpV, 5:30), bestätigt an dieser Stelle aber recht eindeutig eine anti-phänomenologische Deutung. Es lässt sich zusammenfassen, dass Kant-Interpreten eine ganz unterschiedliche Vorstellung davon haben können, was Kant im Kontext seiner Moralphilosophie unter einer praktischen Erkenntnis versteht. Sie sind sich weitgehend einig, dass eine theoretische Erkenntnis der moralphilosophischen Grundlagen infolge der KrV ausgeschlossen ist und moralphilosophische Annahmen nur in praktischer Hinsicht untersucht werden können. Was aber „praktisch“ bedeutet, ist umstritten und lässt sich entweder in einem eher subjektiven oder in einem eher objektiven Sinne auslegen. Ein objektives Verständnis der praktischen Erkenntnis entspricht einer philosophischen Theorie der Rechtfertigung, Untersuchung oder Methode, mit der ein begrifflicher Wahrheitsanspruch einhergeht. Davon unterschieden ist die praktische Erkenntnis moralischer Phänomene im Alltag. Sowohl die moralische Erfahrung als auch die Methode der philosophischen Rechtfertigung moralischer Wahrheiten lässt sich entweder gefühlsbetont oder gefühlsunabhängig auslegen. Zur Veranschaulichung sei nochmal an die einleitende Übersicht erinnert:

 Vgl. Ware 2015, 303.

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3 Wie erkennen wir unsere Pflicht?

Praktische Erkenntnis

1

2

3

(unmittelbar, subjektiv, synthetisch, rezeptiv) Phänomenale Erfahrung

Philosophische Rechtfertigung

von Moralität im Alltag

Methode

gefühlsabhängig

gefühlsunabhängig

A

B

phänomenologisch

metaphysisch

C

D

Abb. 1b: Unterscheidung der phänomenologischen und metaphysischen Deutung

Die beiden methodischen Ansätze, im Schaubild: C und D, lassen sich mit dem Verständnis der gemeinen Alltagserfahrung von Moralität gemäß der Positionen A und B kombinieren, wobei systematisch alle Kombinationsmöglichkeiten offen stehen. Nachdem im vorherigen Abschnitt die Positionen A und C und speziell die Kombination A/C vorgestellt wurden, interessieren mich in diesem Abschnitt die Positionen B und insbesondere die Position D und ihre Kombinationsmöglichkeiten. Wer die moralische Alltagserfahrung, wie Sticker oder Sensen, eher anti-phänomenologisch auslegt, der kann methodisch entweder Phänomenologe sein, also wie Sticker die Kombination B/C befürworten, oder aber auch in methodischer Hinsicht eine anti-phänomenologische und metaphysische Position vertreten, also die Kombination B/D, wie es tendenziell von Sensen vertreten wird.¹³⁹ Andererseits kann aber auch ein Metaphysiker mit Blick auf die Alltagserfahrung ein Gefühl für notwendig erachten. Diese Kombination aus den Positionen A/D wird von Ameriks, Henrich oder Ware vertreten. Sie vertreten eine ‚moderate Metaphysik‘, in der auch ein gefühlsabhängiger Ausgangspunkt (A) und die begriffsanalytische Methode zur Herleitung ‚von oben‘ (C) integriert

 Bei genauerem Hinsehen könnte sich aber auch herausstellen, dass Sensen eher zu einer moderat metaphysischen Position (A/D) tendiert, in der dem Gefühl der Achtung eine eingeschränkte Rolle zugesprochen wird. In „Die Begründung des Kategorischen Imperativs“ (Sensen 2015c) gesteht er zu, dass wir durch das Gefühl der Achtung erkennen, dass der moralische Bestimmungsgrund ein anderer sei als die empirische Neigung. In „Kant and Hume on Feelings in Moral Philosophy“ (Sensen 2017) argumentiert er für die Wichtigkeit der Sinnlichkeit im Kontext der Anwendung des Kategorischen Imperativs. Gefühle, auch das Gefühl der Achtung, seien wichtig, wenn aus dem Kategorischen Imperativ partikulare Pflichten abgeleitet werden sollen. Dieser Vorschlag steht der Hauptthese dieser Arbeit, wonach Achtung notwendig ist, weil es die Partikularität des Moralbewusstseins verbürgt, sehr nahe. Allerdings lehnt Sensen ab, dass es sich hierbei um eine epistemische Funktion handelt, weil er die praktische Ableitung partikularer Pflichten terminologisch streng von einer Erkenntnis unterscheidet.

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werden. Ich werde die drei Ansätze im Folgenden der Reihe nach erläutern: zuerst die Position des Anti-Phänomenologen, dann den Metaphysiker und schließlich die Deutung moderater Metaphysiker. Sticker beschäftigt sich intensiv mit moralischen Phänomenen und Urteilen auf der Ebene des gemeinen Menschenverstandes.¹⁴⁰ Meinem Verständnis nach repräsentiert er mit dieser Stoßrichtung eine anti-phänomenologische Position (B). In seiner Untersuchung kommt er moralepistemisch kaum auf das moralische Gefühl oder das Gefühl der Achtung zu sprechen. Außerdem kritisiert er in verschiedenen Aufsätzen Grenbergs phänomenologische Position (A), indem er ihre These von der moralepistemischen Notwendigkeit von Gefühlen in Kants Ethik anzweifelt. In seiner Buchbesprechung kritisiert er, dass Grenberg die Bedeutung des Gefühls überbetone, stattdessen aber die Rolle des begrifflichen Urteilens zu wenig berücksichtige: „Respect does too much work on Grenberg‘s interpretation and threatens to eclipse a very common part of our moral experience: the experience of reasoning, reflecting, weighing reasons and finally arriving at a conclusion regarding what to do“ (Sticker 2014, 318). An anderer Stelle betont er die Bedeutung, die eine dritt-personale Perspektive in der alltäglichen Praxis moralischen Urteilens spielt, weil wir nicht nur uns selber als moralische Akteure fühlen, sondern auch andere moralisch beurteilen, was ihm zufolge phänomenal, in pädagogischer Hinsicht und methodisch für Kant relevant ist.¹⁴¹ Dennoch argumentiert Sticker im weiten Sinne phänomenologisch für eine im engen Sinne anti-phänomenologische These B, indem er vertritt, dass die moralische Erfahrung in erster Linie eine rationale Aktivität, d. h. ein Abwägen, Überlegen oder auch ‚Vernünfteln‘ sei. Er ist also in einem weiten Sinne Phänomenologe, insofern ihn das alltäglich-phänomenale, erfahrbare, nicht aber ein erfahrungsunabhängiges, intelligibles Moralbewusstsein interessiert, aber zugleich ist er gegenüber Phänomenologen in der speziellen Bedeutung des Wortes kritisch eingestellt. Charakteristisch für den Metaphysiker D ist, dass er denkt statt fühlt, doch auch er teilt meistens mit den anderen Interpreten die Auffassung, dass Moral und Freiheit infolge der Auflösung der dritten Antinomie der KrV nur in praktischer

 Vgl. z. B. „Legitimität und Grenzen von moralischer Intuition. Kant über gemeine Menschenvernunft und Vernünfteln“ (Sticker 2012). Hier untersucht er insbesondere auch Kants These, dass Menschen ‚vernünfteln‘, worunter er eine rationale Aktivität versteht, die aber im Dienst der Neigung die moralische Überlegung des Akteurs korrumpiert.  Zum Beispiel argumentiert er mit Blick auf das Galgenbeispiel, dass es Kant an dieser Stelle, aber auch bei den Beispielen moralischer Taten im moralpädagogischen Kontext, nicht primär, jedenfalls nicht ausschließlich, darum geht, dass wir sie aus einer erst-personalen, emotionalen Perspektive nachvollziehen, weil der Leser der KpV oder aber das Kind im pädagogischen Kontext als rationaler Beobachter und somit dritt-personal angesprochen werde (vgl. Sticker 2016).

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Hinsicht untersucht werden können. Ihm zufolge zeichnet sich eine praktische Untersuchung dadurch aus, dass sie auf einer praktischen Prämisse beruht, und diese Prämisse ist, infolge der Umkehrung der Begründungsrichtung, praktisch in einem gefühlsunabhängigen Sinne. Der Ausgangspunkt einer metaphysischen Rechtfertigung der moralischen Erfahrung ist ein gefühlsunabhängiges Selbstbewusstsein des transzendentalen Subjekts, das nicht mit dem phänomenalen und gegebenenfalls gefühlsabhängigen Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen verwechselt werden darf. Die Bedeutung von „Selbst“, die mit dem homo noumenon bzw. mit dem Willen als reiner Vernunft übereinstimmt, kann, muss aber nicht als metaphysisches Selbst in einer starken Bedeutung des Wortes verstanden werden. Darauf macht zum Beispiel Sensen im Rahmen einer Erläuterung des Ausdrucks der Selbst-Gesetzgebung aufmerksam: „According to Kant, this legislator is the will or pure reason. But this does not mean that the will is a separate supersensible metaphysical entity. As Kant explains it, the internal legislator is the idea of oneself as being morally good, that is, as willing a universal rule and not merely one‘s private good“ (Sensen 2013a, 269). Meistens bezieht man sich in der Verteidigung eines metaphysisch grundlegenden Bewusstseins auf die Rede von einem praktischen Standpunkt der Vernunft, die sich selbst als unabhängig von äußeren Einflüssen und als selbstgesetzgebend betrachtet: „This is also how Kant explains what he means by homo noumenon. It is not an obscure metaphysical being, but what a human being conceives himself to be according to the Categorical Imperative“ (Sensen 2013a, 269). O’Neill hat diesbezüglich in Constructions of Reasons (1989) einen Deutungsansatz begründet, der als „constructivist position“ von einem „foundationalist account“ abgegrenzt wird.¹⁴² Sie deutet das gefühlsunabhängige Bewusstsein als gesetzgebendes Bewusstsein der reinen Vernunft, sodass Vernunft grundsätzlich mit Autonomie übereinstimmt. Da sie diese autonome Tätigkeit nicht nur mit dem Prinzip moralischer Autonomie, sondern auch mit dem Prinzip der Selbst-Disziplin der vernünftig wissenschaftlichen Tätigkeit identifiziert, steht fest, dass es sich dabei um eine gefühlsunabhängige Selbstgesetzgebung handelt.¹⁴³ Ausgehend von diesem Bewusstsein der

 Die Ablehnung einer Deutung, die „foundationalist“ ist, repräsentiert bei O’Neill die Ablehnung des Transzendentalen Realismus: „The Kantian grounding of reason, as of morality, cannot be foundationalist. Anything that could count as foundations would has to be transcendent, and so alien.“ (O’Neill 1989, 64).  „Reason, by contrast, depends on nothing separable from an agent. It is merely autonomy in thinking and acting, considered in the abstract. Without autonomy there can be neither practical nor theoretical reasoning. There is no gap between reason and autonomy, because nothing counts

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Selbstgesetzgebung kann, wie Ameriks ausführt, auch auf ein zugrundeliegendes objektives Selbst geschlossen werden, weil das selbstgesetzgebende Verfahren der Vernunft von allen kontingenten Einflüssen unabhängig ist.¹⁴⁴ Auch allgemein handlungstheoretisch lässt sich für die These argumentieren, dass freies Handeln in all seinen Stufen immer nur ausgehend von einem gefühlsunabhängigen Selbstbewusstsein der Vernunft begründet werden kann.¹⁴⁵ Ebenso wie der subjektunabhängige Aspekt von Gegenständen in der theoretischen Philosophie unterschiedlich interpretiert werden kann, so kann auch der homo noumenon als gefühlsunabhängiges Bewusstsein in der praktischen Philosophie unterschiedlich ausgelegt werden. Auch hier lassen sich eine eher methodologische Lesart von einer metaphysischen Zwei-Aspekte-Lesart und einer metaphysischen Zwei-Welten-Lesart unterscheiden.¹⁴⁶ Alle Vertreter lassen sich aber in dem hier gemeinten Sinne des Wortes als Metaphysiker beschreiben, weil sie die Annahme eines gefühlsunabhängigen Bewusstseins auch methodisch für grundlegend halten und sich darin von Phänomenologen unterscheiden. Wenn der Phänomenologe die Grundlagen der Moral untersuchen möchte, dann analysiert er die gefühlte Erfahrung. Der Metaphysiker geht umgekehrt vor, insofern er ein Bewusstsein als Grundlage der Moral denkt, das niemals direkt erfahrbar ist, der moralischen Erfahrung aber immer zugrunde liegen muss und daher auch die Prämisse seiner praktischen Untersuchung bildet. Er betrachtet den gefühlsunabhängigen Aspekt, das metaphysische Selbstbewusstsein des gesetzgebenden Subjekts, gegenüber der phänomenalen Erfahrung von Moralität methodisch als grundlegend. Zur Verdeutlichung einiger zentraler Strategien, Probleme und Merkmale der Metaphysiker sollen der Reihe nach einige Erläuterungen zum Faktum der Vernunft, zu Kants Methode in der GMS und zum Problem einer reinen Selbsterkenntnis vorgebracht werden.

as reason except the principles of self-discipline and autonomy that cannot be wholly dispensed with in any thinking or acting.“ (O’Neill 1989, 64).  „Instead of assuming a bad notion of ‘self‘ and then relying on that hasty assumption to claim that the notion of objective morality has been undermined, one should consider how, by beginning instead with a strict notion of law as a matter of ‘reason‘, one can work back to a notion of ‘self’ that is not worrisome after all, even if it may seem somewhat unusual to us.“ (Ameriks 2013, 67).  Eine Verteidigung findet man zum Beispiel bei Reath, der in Anlehnung an Engstrom vertritt, „that each aspect of volition, and thus volition as a whole, is a spontaneous and self-active capacity that is normatively guided by its own self-consciousness“ (Reath 2013, 48).  Vgl. zu den unterschiedlichen Deutungen z. B. O’Neill (1989, 60 f.), die sich deutlich von einer Zwei-Welten-Auffassung abgrenzt, allerdings auch für einen ontologischen Bezug der zwei Standpunkte argumentiert.

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In der KpV formuliert Kant einen Begründungsansatz ausgehend von dem Faktum der Vernunft. Dieser Begründungsansatz lässt sich nicht nur phänomenologisch, sondern auch als ein eher objektives Argument rekonstruieren. Denn „Faktum der Vernunft“ ist in mindestens zwei Hinsichten doppeldeutig, wie Lewis White Beck in seinem Commentary zur KpV gezeigt hat: Erstens lässt sich Kants These vom Faktum der Vernunft entweder subjektiv oder objektiv auslegen, weil mit dem Faktum der Vernunft entweder ein „moral phenomenon“ (Beck 1960, 169) oder aber ein „tricky argument“ (Beck 1960, 169) gemeint sein kann. Zweitens lässt sich auch mit Blick auf den Ausdruck „Faktum der Vernunft“ zwischen einer subjektiven und objektiven Bedeutung unterscheiden, weil damit entweder ein Bewusstsein von Freiheit und Moralgesetz oder aber die Freiheit und das Moralgesetz selbst gemeint sein können. Entsprechend lässt sich auch der Genitiv in der Formulierung „Faktum der Vernunft“ entweder als Genitivus subjectivus oder als Genitivus objectivus deuten.¹⁴⁷ Das „Factum der Vernunft“ (KpV, 5:31) in seiner doppelt subjektiven Bedeutung thematisiert Kant zum Beispiel im Anschluss an das Galgenbeispiel, wohingegen der Ausdruck „Factum“ (KpV, 5:43) im Abschnitt „Von der Deduction der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, 5:42) auch objektiv verwendet wird. Während die subjektive Bedeutung eher der Bedeutung einer Tatsache entspricht, lässt sich die objektive Bedeutung als Tat der Vernunft übersetzen,¹⁴⁸ und mit dieser objektiven Bedeutung werden Metaphysiker eher sympathisieren.¹⁴⁹ Je nachdem, ob der Ausdruck „Faktum der Vernunft“ primär subjektiv oder objektiv übersetzt wird, lässt sich auch das Argument eher subjektiv, also phänomenologisch, oder objektiv rekonstruieren. Phänomenologen wie Grenberg konzentrieren sich auf die subjektive Bedeutung. Sie vertreten, dass Kant ausgehend von einer gefühlten Anerkennung der Geltung des Gesetzes analytisch auf

 „[I]t may mean the fact that there is pure reason, known by reason reflexively. These may be distinguished as ‘fact for pure reason’ and ‘fact of pure reason’“ (Beck 1960, 168).  Kant spricht auch von einem „Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That praktisch beweiset“ (KpV, 5:42). Willaschek weist in seinem Aufsatz „Die Tat der Vernunft. Zur Bedeutung der Kantischen These vom ‚Factum der Vernunft‘“ (1991) darauf hin, dass Kant den Ausdruck „Factum“ nicht nur im Sinne seiner deutschen Übersetzung als „Tatsache“ versteht, sondern auch im Sinne seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung zur Bezeichnung einer „Tat“ oder „zuschreibbaren Handlung“ verwendet.  Zum Beispiel O’Neill schließt ihre Überlegung zu GMS III mit dem Hinweis ab, dass die Rede vom Faktum der Vernunft damit im Einklang steht, wenn man darunter eine Tat und nicht bloß ein Datum versteht (vgl. O’Neill 1989, 65).

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die Voraussetzung der Freiheit schließe.¹⁵⁰ Dagegen lassen sich aber mindestens zwei Argumente anführen, die für eine objektive Auslegung sprechen. Zum einen lässt sich argumentieren, dass Kants Argument ausschließlich die objektive Bedeutung von „Faktum“, nämlich die Geltung des Gesetzes voraussetzt. Denn das Argument besagt, dass unter der Voraussetzung dieser Geltung auf die Freiheit geschlossen werden kann.¹⁵¹ In dieser Stoßrichtung argumentiert zum Beispiel Allison, dass es für das Argument unerheblich sei, ob wir tatsächlich auch das Gesetz befolgen und Moralität faktisch als Subjekt anerkennen, weil der begriffsanalytische Schluss, dass ein „Sollen“ auch ein „Können“ impliziert, unabhängig davon gelte.¹⁵² Das Argument würde zum Beispiel auch dann gelten, wenn wir nicht für Gefühle empfänglich wären, wie auch Ameriks vertritt: „In this way, the idea of the moral law and recognition of the fact of freedom does not require a pro-moral attitude and can still be claimed to be a unique concrete metaphysical truth that is universally accessible.“ (Ameriks 2012, 248).¹⁵³ Zum anderen lässt sich argumentieren, dass eine phänomenologische Deutung des Arguments, die sich auf die subjektive Bedeutung konzentriert, immer schon die objektive Variante voraussetzen muss. Denn von dem gefühlten Bewusstsein der Nötigung lässt sich nur auf Freiheit schließen, wenn die Geltung des Gesetzes auch objektiv angenommen werden kann. Nach dieser Auffassung lässt sich das gefühlte Bewusstsein des Gesetzes überhaupt nur als ein „Faktum der Vernunft“ bezeichnen, wenn die objektive Geltung des Gesetzes vorausgesetzt werden kann.¹⁵⁴

 Entsprechend kritisiert Grenberg Allison, weil er in seiner Rekonstruktion von einem Gefühl absieht (vgl. Grenberg 2013, 137 ff.). Sie betrachtet das Gefühl als epistemische Voraussetzung des Arguments, weil die gefühlte Erfahrung den Ausgangspunkt bilde.  Vgl. Ameriks 2012, 248.  Vgl. Allison 1990, 248.  Ameriks verweist außerdem auf die wenig bekannten Schlussparagraphen der Kritik der Urteilskraft, in denen Kant seine These vom Faktum der Vernunft nochmal aufgreift, um es unter die Tatsachen, nicht aber unter die Glaubenssachen zu zählen. In Übereinstimmung mit der objektiven Bedeutung spezifiziert Kant diese besondere Tatsache in zwei Hinsichten: Zum einen erweitert er den Begriff der „Tatsache“ so, dass er nicht nur die wirkliche Erfahrung, sondern auch die mögliche Erfahrung bezeichnen kann. Zum anderen fügt Kant im Haupttext innerhalb des Abschnitts über Tatsachen die Einschränkung hinzu, dass absolute Freiheit als Vernunftidee eine besondere und „merkwürdige“ Tatsache sei, weil sie „an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist“ (KU, 5:468). Es sei die einzige Tatsache unter den Vernunftideen. Mit anderen Worten legt das nahe, dass dieses Faktum, obwohl es ein solches ist, nicht subjektiv gegeben ist. Vgl. Ameriks 2012, 248.  „[I]t is a fact for pure reason only inasmuch as it is the expression of the fact of pure reason, i. e., of the fact that pure reason can be practical.“ (Beck 1960, 169). „Consequently, if the fact of

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Das bedeutet nicht unbedingt, dass man auf ein subjektives ‚Faktum der Vernunft‘ für die Argumentation ganz verzichten könnte. Wichtig ist vielmehr die Pointe, dass nur die objektive Annahme der Geltung des Gesetzes die Argumentationslast tragen kann. Auch diese objektive Annahme wird aber nicht hergeleitet, sondern im Rahmen dieses Arguments der KpV dogmatisch vorausgesetzt. Daher stellt das Argument auch in seiner objektiven Interpretation keine Rechtfertigung dar, die den Metaphysiker zufriedenstellen könnte, denn: „[T]his argument still appears to derive rather strong conclusions from minimal premises“ (Allison 1990, 245). Das Faktum-Argument kann nach metaphysischer Auffassung höchstens als Element einer Rechtfertigung betrachtet werden. Mit Blick auf Kants moralphilosophische Begründung werden sich Metaphysiker bevorzugt auf den dritten Abschnitt der GMS konzentrieren. Hier orientiert sich Kant methodisch noch an der theoretischen Philosophie, insofern er eine synthetische Herleitung des Moralgesetzes ausgehend von dem metaphysischen Grundvermögen der Freiheit beabsichtigt. Auf diese Weise will er die Frage beantworten, wie der Kategorische Imperativ als synthetisches Prinzip a priori möglich sei.¹⁵⁵ Aufgrund der Probleme, die Kant bei der Umsetzung dieses metaphysischen Begründungsanspruches hat, und weil er anschließend in der KpV die Begründungsmethode umkehrt und nur noch analytisch verfährt, ist die Verteidigung einer metaphysischen Rechtfertigung im Bereich der praktischen Philosophie problematisch. Sie wird von wenigen Interpreten ausschließlich verteidigt.¹⁵⁶ Charakteristisch für den Metaphysiker ist aber der Versuch, die Relevanz der Methode in GMS III unter diesen erschwerten Bedingungen auf die eine oder andere Art und Weise zu verteidigen. Darin unterscheidet er sich vom Phänomenologen, der ausschließlich eine analytische Methode ‚von oben‘ akzeptiert und das metaphysische Projekt als gescheitert betrachtet. Unter metaphysischen Interpreten gilt umgekehrt: „The general consensus appears to be that even though this deduction failed, it was at least a step in the right direction“ (Allison 1990, 230). Ein weit verbreiteter Vorschlag, wie man der Textgrundlage gerecht werden kann, ohne den dritten Abschnitt der GMS aufzugeben, besteht darin, die Deduktion in juridischer Bedeutung zu interpretieren. Dieser Ansatz integriert auf komplexe Weise die Begründung der KpV und der GMS, ohne die Freiheitspro-

reason is, indeed, the fact of reason then this consciousness cannot be regarded as illusory.“ (Allison 1990, 247).  Vgl. GMS, 4:444 f.  Eine Ausnahme bildet Prauss, auf den ich unten näher eingehe (vgl. Prauss 1983).

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blematik zu ignorieren, die aus der KrV hervorgeht.¹⁵⁷ Diese Freiheitsproblematik ist auch der Grund für die Probleme mit einer synthetischen Deduktion des Moralgesetzes, weil hierzu das metaphysische Vermögen der Freiheit begründet werden müsste, obwohl Kant in der Auflösung der dritten Antinomie gezeigt hat, dass nur die Möglichkeit absoluter Freiheit transzendentalphilosophisch begründet werden kann. Aus der theoretischen Philosophie erwächst für den Metaphysiker zudem das Problem, dass Kant eine metaphysische Selbsterkenntnis des Subjekts ausschließt. Zum Beispiel in GMS III scheint er die These zu vertreten, dass auch die Selbsterkenntnis, so wie es im Kontext der theoretischen Philosophie von der Gegenstandserkenntnis ausgesagt wird, auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt beschränkt sei.¹⁵⁸ Das bedeutet, dass sich ihm zufolge auch das Subjekt selber nur erkennen kann, wie es sich erscheint, aber nicht wie es als metaphysisches Subjekt an sich selbst beschaffen ist. Das wiederum legt nahe, dass ein metaphysisches Selbst gar nicht erkannt werden kann, sodass eine metaphysische Rechtfertigung, die von dieser reinen Selbsterkenntnis ausgeht, unmöglich erscheint. Phänomenologen und Metaphysiker können Kants These von der Idealität der Selbsterkenntnis aber unterschiedlich auslegen und problematisieren.¹⁵⁹ Um den Unterschied kurz zu benennen: Ein Phänomenologe wird, wie es Grenberg in ihren Schriften verteidigt,¹⁶⁰ eher das sogenannte „passivity argument“ vertreten, nach dem die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis darin besteht, dass der äußere oder der innere Sinn affiziert werden. Eine Affektion des inneren Sinnes, also ein Gefühl oder eine Empfindung, wird nach dieser Deutung als eine notwendige Bedingung für Selbsterkenntnis gedeutet. Entsprechend argumentiert Grenberg, dass Kant in GMS III besser ausgehend von einer unmit-

 Vgl. zur juridischen Bedeutung KrV, A84/B116 und KpV, 5:45. Vgl. zur Erläuterung: Henrich 1989, Allison 1990, O’Neill 2002, Beck 1960, 170 ff., Łuków 1993. Timmermann untersucht in seinem Aufsatz „Reversal or Retreat?“ (2010) diese Umkehr der Begründungsmethode und zeigt auf, dass man aus exegetischen Gründen davon ausgehen muss, dass Kant mit der KpV an die GMS anschließt. Die kontroverse Frage laute, ob er nur an die ersten beiden oder auch an den dritten Abschnitt der GMS anschließend möchte, und in dieser Frage werden Metaphysiker die letzte Position beziehen. Eine annäherungsweise metaphysische Methode der Rechtfertigung wird zum Beispiel verteidigt von Henrich und Ameriks (vgl. Henrich 1975; Ameriks 2003).  Vgl. KrV, A255/B311.  Ich werde auch diese Problematik hier nur anschneiden können. Eine ausführliche Beschäftigung mit der These von der Idealität und den verschiedenen Argumenten zur Begründung derselben findet man in Kant‘s Theory of Mind von Ameriks (vgl. Ameriks 2000, 234 ff., insbes. 255 ff.).  Vgl. Grenberg 2013, 111 und Grenberg 2009.

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telbaren, gefühlten moralischen Erfahrung die Freiheit hergeleitet hätte.¹⁶¹ Eine metaphysische Selbsterkenntnis, die gefühlsunabhängig ist, ist ihr zufolge ausgeschlossen. Der Metaphysiker kann aber Kants Transzendentalen Idealismus auch anders deuten und speziell die These von der Idealität der Selbsterkenntnis problematisieren, umdeuten oder ablehnen. Ameriks zum Beispiel kritisiert grundsätzlich das „passivity argument“ als ein „short argument“ (Ameriks 2003, 136 ff.) für den Transzendentalen Idealismus. Ein „short argument“ sei schlecht, weil es Kants Idealismus – „(or at least what is alleged to be its true ‚spirit‘)“ (Ameriks 2003, 136) – begründen soll, ohne die komplexen Argumente der KrV zu berücksichtigen.¹⁶² Die seiner Meinung nach falsche Strategie besteht darin, dass Interpreten ausgehend von Kants These, dass alle Erkenntnis auf Erscheinungen beschränkt sei, meinen, auf die These der Idealität von Raum und Zeit schließen zu können. Stattdessen müsse man aber zu allererst die Argumente für die Idealität von Raum und Zeit nachvollziehen, aus der vorerst nur die Grenze raumzeitlicher Erkenntnis hergeleitet werden könne.¹⁶³ Im Rahmen dessen rekonstruiert er Kants These von der Idealität der Selbsterkenntnis ausgehend von der reinen Anschauungsform der Zeit, nämlich als „time argument“ (Ameriks 2000, 260). Zum einen nämlich argumentiere Kant für die (transzendentalphilosophische) Idealität von Zeit. Zum anderen identifiziert er Zeit mit der Form des inneren Sinnes, der in Verbindung mit der reinen Apperzeption die Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis darstelle.¹⁶⁴ Auch unter dieser Voraussetzung der zeitlichen Verfasstheit jeder Art von Selbsterkenntnis folgt zwar noch immer die problematische These, dass reine

 Vgl. Grenberg 2009.  Vgl. Ameriks 2003, 136. In Kant‘s Theory of Mind wird diese Kritik ausführlich und speziell mit Blick auf die These von der Idealität der Selbsterkenntnis ausgeführt: „[I]n characterizing his transcendental idealism Kant is quite clear that the ideality he argues for does not rest on the mere passivity and variability of our representations (A 30/B 45, A 36/B 53). If it did, he obviously would not have needed to go into the special arguments that he introduces for ideality. The whole complex discussion of a priori intuitions and synthetic a priori knowledge would be unnecessary“ (Ameriks 2000, 260). Das „passivity argument“ sei außerdem zu schwach, um zu begründen, dass theoretische Selbsterkenntnis durch die Bedingung der Affiziertheit prinzipiell begrenzt sein müsse: „[I]t would have to be proven that our passivity makes impossible a corrected or even accidentally adequate representation of what is in itself.“ (Ameriks 2000, 258).  Dieses von Ameriks so genannte „species argument“ ist das Gegenteil dessen, was er unter einem ‚short argument‘ versteht. Es wird so bezeichnet, „because it concerns our species of intuition“ (Ameriks 2003, 70).  Vgl. zum „time-argument“: Ameriks 2000, 260 ff.

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Selbsterkenntnis ausgeschlossen ist.¹⁶⁵ Dennoch kann der Metaphysiker, indem er die Idealität der Selbsterkenntnis an die Form der Zeit bindet, des Weiteren auch für die Möglichkeit einer gefühlsunabhängigen Selbsterkenntnis argumentieren. In einer Weise, die vielen Kantianern überspitzt erscheinen mag, weil sie nicht nur exegetisch, sondern primär systematisch auf eine auch Kant-kritische Kant-Rekonstruktion ausgerichtet ist, wird dies in den Arbeiten von Prauss deutlich.¹⁶⁶ Ihm zufolge ist das metaphysische Selbst nämlich nichts anderes als reine Zeitlichkeit, allerdings nicht im Sinne einer zeitlichen Ordnung oder sukzessiven Abfolge von Momenten, sondern im Sinne eines einzigen gegenwärtigen Moments, der einerseits unteilbar und somit absolut und andererseits dynamisch ist, indem er aus sich selbst heraus immer wieder sich selbst hervorbringt.¹⁶⁷ Unter Rekurs auf die Grundform der Zeit als eine „absolute, innere Bewegung“ begründet und verteidigt Prauss „Subjektivität als Spontaneität“ (Prauss 2015, 185). Prauss problematisiert außerdem, wie auch andere Interpreten¹⁶⁸, Kants These, dass all unsere Erkenntnis überhaupt auf Erscheinungen beschränkt sei. Er lehnt diese These im Zuge einer methodischen Kritik ab, indem er sie auf eine „Stufen-Verwirrung“ (Prauss 1975, 175) zurückführt.¹⁶⁹ In einer ähnlichen Weise wie im Schaubild zwischen einer vorphilosophischen Erfahrung und der philosophischen Erkenntnis unterschieden wurde, unterscheidet nämlich auch Prauss

 Vgl. Ameriks 2000, 239.  Die Methode sei, sich „vorwärts“ auf Kant zu besinnen (Prauss 1974, 12). Prauss befürwortet also ein „Maximum an Konstruktivität“ (Prauss 1974, 94) der Kant-Interpretation, die daher immer auch Kant-Kritik sein müsse (vgl. Prauss 1974, 32). In seiner Rekonstruktion geht er vorgeblich „den Weg über Kant hinaus“, jedoch „von Kant aus“ (Prauss 1974, 27).  Prauss veranschaulicht die „Zeit als erste Stufe sich verwirklichenden Intendierens“ (Prauss 1990, Bd 1, 358; vgl. §16) als Punkt, der sich selbst ausdehnt. Hierzu entwickelt er in Auseinandersetzung mit Kant (vgl. KrV, B154 ff.) das Modell einer gezogenen Linie gefolgt von einem Schwamm auf einer Tafel, auf der somit nur ein dynamischer, sich stets erneuernder Punkt sichtbar ist: Dieser bewegte Punkt veranschaulicht die absolute, dynamische, punktuelle Ausdehnung der Zeit (vgl. Prauss 1990, §16; 1999, §10; 2006, §22). In Die Einheit von Subjekt und Objekt (2015) kritisiert und überwindet er dieses alte Zeit-Modell, weil die Ausdehnung des Punktes darin nur als einseitige Ausdehnung nachvollziehbar werde. Im neuen Modell einer Ausdehnung des Punktes zur Linie in „Flächenland“ (Prauss 2015, 188) steht die zweiseitige Ausdehnung des Punktes im Vordergrund. In beiden Modellen geht es darum, die Zeit als dynamische und absolute, also unteilbare Grundform zu denken, die „das Subjekt als Spontaneität des ständigen Agierens sicherstellt“ (Prauss 2015, 184).  Ameriks verweist auf angloamerikanische Interpreten wie „e. g., Strawson, Bennett, Wolff, Walker“ (Ameriks 2000, 240).  Nach Prauss trägt auch Kant zur Stufen-Verwirrung bei, weil er „die Systematik aller dieser verschiedenen Stufen, insbesondere auch die der transzendental-philosophischen Reflexion selbst, niemals hinreichend durchgeführt hat“ (Prauss 1974, 183).

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zwei Stufen von Erkenntnis, die empirische und die philosophische, und warnt davor, dass eine Vernachlässigung der Unterscheidung zu Missverständnissen führe. Im Sinne dieser methodischen Unterscheidung sei es zum Beispiel ausgeschlossen, dass die Gegenstände der philosophischen Untersuchung, zum Beispiel reine Anschauung oder absolute Freiheit, wie raumzeitliche Gegenstände behandelt werden dürfen. Es sei verboten, diese philosophischen Gegenstände zu verdinglichen, indem man sie so betrachtet, als wären es Gegenstände der empirischen Erkenntnis.¹⁷⁰ Andererseits aber sei die reine philosophische Erkenntnis, weil sie im Gegensatz zur empirischen Erkenntnis nicht der Bedingung raumzeitlicher Anschauung unterliegt, auch nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit raumzeitlicher Erkenntnis beschränkt.¹⁷¹ Die Grenze der philosophischen Selbsterkenntnis liegt vielmehr in dem methodischen Selbstverständnis, dass es sich dabei immer nur um eine nichtempirische Betrachtung nichtempirischer Gegenstände handeln kann. Nach dieser Rekonstruktion müsste die Pointe, die fälschlicherweise als Grenze aller Erkenntnis überhaupt kommuniziert wird, daher eigentlich lauten, dass diese beiden Ebenen streng unterschieden werden müssen.¹⁷² Eine Folge dieser Ablehnung der These von den Grenzen der Selbsterkenntnis ist, dass Prauss auch Aussagen über absolute Freiheit treffen kann, die nach der gängigen Interpretation der erkenntnistheoretischen Restriktionsthese ausgeschlossen sind. Absolute Freiheit lässt sich Kant zufolge als eine besondere Art der Kausalität begreifen, die nicht-zeitlich ist. Diese These ist problematisch, da Kant den Begriff der Kausalität in der KrV begründet, indem er zeigt, dass er allen Aussagen über Ereignisse und ihre sukzessive Abfolge immer schon zugrunde liegen muss. Seine Begründung des Begriffs eines Kausalverhältnisses setzt also immer ein zeitliches Verhältnis voraus, sodass Kant scheinbar gar nichts über ein Kausalverhältnis aussagen kann, das von einem zeitlichen Verhältnis unabhängig ist. Auch dieses Problem lässt sich aber mithilfe der Unterscheidung zwischen

 Philosophie dürfe nach Kant nicht so betrieben werden „als sei sie gleichsam nur verlängerte empirische Erkenntnis“ (Prauss 1974, 179).  Andernfalls müsste man annehmen, dass es Kants Anliegen sei, „legitime Erkenntnis von Gegenständen auf empirische Erkenntnis empirischer Gegenstände einzuschränken und mithin jede Möglichkeit zu philosophischer Erkenntnis zu bestreiten“ (Prauss 1974, 178). Unsinnig sei es ebenfalls, die Restriktionsthese so zu verstehen, als ginge es um die Einschränkung empirischer Erkenntnis auf die Bedingung der Möglichkeit empirischer Erkenntnis, weil die empirische Erkenntnis immer schon auf diese Bedingungen eingeschränkt sei (vgl. Prauss 1974, 177). Daher könne sich Kants Warnung nur auf die Verwechslung der Erkenntnisarten beziehen.  Kants Transzendentalphilosophie richte sich in ihrer Erkenntniskritik eigentlich „gegen die Verbindung, oder besser: gegen die Nichtunterscheidung der beiden, deren sich Philosophie als Metaphysik immer wieder schuldig macht“ (Prauss 1974, 179).

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Teil II: Positionen

einer sukzessiven Zeitordnung und der Grundform reiner Zeitlichkeit umgehen. Denn die reine, elementare Zeitlichkeit eines gegenwärtigen Moments ist keine Zeitordnung wie zum Beispiel eine sukzessive Abfolge von früheren zu späteren Momenten, sondern ein einziges Moment, das als eine innere und absolute, reflexive Bewegung verstanden wird. Auf diese Weise kann Prauss entsprechend auch absolute Freiheit oder Kausalität zeitlich verstehen, ohne auf eine zeitliche Ordnung oder Struktur zu rekurrieren, wie es der Begriff der Naturkausalität verlangt. Prauss veranschaulicht Spontaneität, also Selbstverursachung, als eine kreisförmige Kausalität, die sich in ihrer Selbstbezüglichkeit von der linearen Kausalität einer Fremdverursachung unterscheidet.¹⁷³ Auf diese Weise beschreibt er den reinen Willen oder das metaphysische Selbst par excellence. Darin unterscheidet er sich allerdings von Kant, der aus erkenntnistheoretischen Gründen daran festhält, dass sich das Konzept einer absoluten, moralneutralen Freiheit mithilfe der theoretischen Vernunft nur negativ bestimmen lässt. In der Regel greifen daher auch Kant-Interpreten, die eine metaphysische Interpretationslinie verteidigen, nicht so tief in die systematischen Abgründe der Kantischen Philosophie, sondern folgen stattdessen dem Text, den sie unter exegetischen Gesichtspunkten wohlwollend auslegen. Insbesondere die begründungstheoretische Situation in der KpV, die mit den Ansichten von Prauss unvereinbar ist,¹⁷⁴ stellt eine Herausforderung für eine exegetisch wohlwollende und metaphysische Deutung der Kantischen Moralphilosophie dar. Allen metaphysischen Interpreten ist aber gemeinsam, dass sie Kants moralphilosophische Begründungstheorie als eine objektive, praktische Untersuchung interpretieren, in der ein gefühlsunabhängiger Aspekt des Bewusstseins methodisch grundlegend ist. Dieses Merkmal der Unterscheidung zwischen Metaphysikern (D) und Phänomenologen (A/C) lässt sich abschließend an der Po-

 Im Kontext einer Unterscheidung zwischen der linearen Zweck-Mittel-Relation und einem Zweck an sich selbst schreibt Prauss über die ‚Kausalität der Natur‘: „Sie nämlich tritt von vornherein so wenig zu sich selbst in ein Verhältnis und damit auch von vornherein so wenig als ein solcher Adressat der Freiheit hervor, daß sie sich vielmehr umgekehrt ins Lineare ihrer Kausalität immer weiter zurückzieht und damit auch immer wieder ins Anonyme derselben verliert, worin sie schlechterdings nirgends und niemals sich zurechnungsfähig erweist. Allein das davon prinzipiell verschiedene Zirkulare einer Kausalität, die bei allem, worauf sie sich richtet, zunächst einmal sich eben immer schon auf sich gerichtet hat, ist jeweils überhaupt als so etwas wie Wille ansprechbar und zurechnungsfähig.“ (Prauss 1983, 132).  Prauss kritisiert, dass ein ‚Faktum der Vernunft‘ den Einsichten von Kants Transzendentalphilosophie widerspreche, insofern Apriorisches nur als Deduziertes oder Abgeleitetes angenommen werden dürfe: Ein Faktum a priori entspreche daher einem „Unding“ (Prauss 1983, 68), und zwar auch als Tat, solange sie nicht deduzierbar sei.

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sition der ‚moderaten Metaphysiker‘ verdeutlichen, die nur mit Blick auf die moralische Erfahrung Phänomenologen sind. Metaphysisch-phänomenologische Interpreten, zum Beispiel Ameriks, Henrich, Pawel Łuków, Ware oder Zinkin, deuten den gesunden Menschenverstand phänomenologisch (A), die Methode der Rechtfertigung aber tendenziell metaphysisch (D). Sie vertreten, dass dem gefühlsabhängigen Bewusstsein ein gefühlsunabhängiges, erstursprüngliches Bewusstsein zugrunde liegen muss. Mit anderen Worten gestehen sie den Phänomenologen zu, dass Kant das Gefühl der Achtung, zum Beispiel in der GMS-Fußnote, mit dem Bewusstsein der moralischen Willensbestimmung identifiziert, wenn er schreibt: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung“ (GMS, 4:401Anm.). Diese These, dass das Moralbewusstsein vollständig gefühlsabhängig sei, bildet aber erst den Anfang, insofern die philosophische Analyse zeigt, dass es andererseits auch einen gefühlsunabhängigen Aspekt gibt, der methodisch grundlegend ist. Der gesamte Satz lautet: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird.“ (GMS, 4:401Anm.). Dieses Zitat fasst die phänomenologische Position moderater Metaphysiker zusammen, insofern Kant die phänomenologische These anschließend zugunsten einer metaphysischen Einschränkung präzisiert. Die Erläuterung, wie Achtung oder das gemeine Bewusstsein „angesehen wird“, lässt sich als philosophisch-methodische Anleitung zur Rechtfertigung der Achtung verstehen: In einer philosophischen Untersuchung müssen wir Kant zufolge die Achtung oder das gefühlte Moralbewusstsein immer als metaphysische Wirkung eines gefühlsunabhängigen Aspekts, des Gesetzes, begreifen. Phänomenologen könnten erwidern, dass das Gesetz zwar ratio essendi von Achtung, aber Achtung andererseits ratio cognoscendi von Gesetz und Freiheit ist. Dem würden Metaphysiker sicherlich zustimmen, aber in erkenntnistheoretischer Hinsicht müssten sie meines Erachtens doch auch darüber hinausgehen und verteidigen, dass man Achtung als metaphysische Wirkung nur verstehen kann, wenn man es ausgehend von der Ursache begreift. Die Frage, wie die Vernunft oder der Wille das Gesetz und das Gesetz ein Gefühl hervorbringt, lässt sich nicht auf die Frage reduzieren, wie wir durch das Gefühl der Achtung erkennen, dass Vernunft, Wille und Gesetz in uns wirken. Entsprechend ist zum Beispiel das phänomenologische Verständnis von Ameriks auf die phänomenale Erfahrung von Moralität beschränkt. Auf dieser Ebene fühlen wir zwar alles Wesentliche, aber dies allein versetzt uns noch nicht in die Lage, es auch philosophisch zu begreifen: „Kant is not assuming that by mere common sense we already know that respect demands all the non-empirical

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elements he eventually asserts“ (Ameriks 2010, 32). Die notwendigen, nicht-empirischen Bedingungen, ihre Möglichkeit und ihre Zusammenhänge deckt Kant auf, indem er rein begrifflich argumentiert. Zum Beispiel die These, dass Achtung ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) darstellt, wie Kant in der GMS schreibt, lasse sich gerade nicht phänomenologisch erklären, sondern nur im Rahmen einer Untersuchung des Ursprungs: „[A]n instance of genuine Kantian respect requires nothing less than a non-empirical cause (free will), a non-empirical object (pure law), and a mysterious – and therefore easily misunderstood – non-empirical kind of ‘self-imposition’“ (Ameriks 2010, 31). Daher muss man auch nach Ameriks, um das Gefühl der Achtung verstehen zu können, diese gefühlsunabhängigen Voraussetzungen anerkennen, also Metaphysiker sein und annehmen:¹⁷⁵ „[A]s higher-level theorists, we must explicitly affirm that these pure features (not yet understood in ordinary life) are really there, and that they can at least be defended as such against the attacks of other schools of philosophy“ (Ameriks 2010, 33). Andererseits bringt der phänomenale Ausgangspunkt mit sich, dass auch das reine Gefühl in der philosophischen Theorie untersucht werden muss. Hierzu orientieren sich Interpreten wie Ware und Ameriks an werkübergreifenden Parallelen. Interessant und hilfreich sind zum Beispiel die Parallelen zu Kants Philosophie der Mathematik und zur ästhetischen Erfahrung des Schönen,¹⁷⁶ da auch in diesem Kontext der reinen Sinnlichkeit eine transzendentalphilosophische Funktion zukommt. Sie schreiben dem Gefühl der Achtung in enger Verbindung mit dem gemeinen, gesunden Menschenverstand zwar eine Funktion zu, ohne

 Auch Ameriks versteht diese Position als „interpretive point about Kant‘s method“ (Ameriks 2010, 33). Mit anderen Worten folgt die Methode des Metaphysikers dem Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl, das auch in der praktischen Sphäre in einem weiten Sinne rationalistisch sei: „In general, Kant treats reason as a higher faculty that can build on but also must go beyond mere sense. […] The relationship of the faculties is therefore not entirely symmetric. Kant holds a similarly asymmetric and broadly rationalist view in the practical sphere.“ (Ameriks 2010, 41).  Die phänomenale Erfahrung reicht zur philosophischen Erkenntnis nicht aus: „[O]nly careful philosophical reflection reveals that the nature of such mathematical judgments ultimately has to be classified, all at once, as certain, synthetic, and a priori.“ (Ameriks 2010, 32) Dasselbe gelte auch für die ästhetische Erfahrung des Schönen (vgl. Ameriks 2003, 4) und für das Gefühl der Achtung: „[I]t would be very improper to say that Kant means that we know the truth of the law, that is, that pure practical reason is valid, just on the basis of some sense or feeling – even if that feeling is called ‘pure.’ This would be very misleading because, among other things, to the extent that the proper feeling is there, it is there (according to his theory of respect) only because of something more basic, namely one‘s free, rational, and non-sensory choice.“ (Ameriks 2010, 45).

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aber dem Gefühl in Kants Begründungstheorie eine zentrale Stellung zuzuschreiben.¹⁷⁷ Auch Łuków kommt zu dem Schluss, dass die systematische Bedeutung der beiden Lehrstücke von dem Gefühl der Achtung und vom Faktum der Vernunft zwar eine philosophisch-systematische, aber keine philosophisch-rechtfertigende Funktion erfüllen.¹⁷⁸ Er deutet die These vom Faktum der Vernunft als „philosophical account of how reason is practical in actual lives, and the doctrine of reverence for the law provides a popular account of the same matter.“ (Łuków 1993, 212). Beide, das Gefühl der Achtung und das Faktum der Vernunft, lassen sich daher in ihrer systematischen Funktion als Vermittler deuten. Phänomenologisch ist diese Deutung von Łuków, weil sie den Gefühlscharakter der praktischen Erkenntnis betont: „We not only acknowledge the binding power of the law, but also feel it“ (Łuków 1993, 218). Auf diese praktische Erkenntnis wird in der philosophischen Theorie aber nicht nur phänomenologisch ausgehend von dem Gefühl reflektiert, sondern primär metaphysisch oder konstruktivistisch gefragt, wie es möglich ist, dass diese praktische Erkenntnis a priori zustande kommen kann. Diese Methode ist gefühlsunabhängig, weshalb Achtung und das Faktum der Vernunft in dieser Perspektive der Rechtfertigung immer nachgeordnet erscheinen müssen: „[I]n the order of moral experience reverence may be primary, but it comes after the recognition of law in the order of rational knowledge of morality“ (Łuków 1993, 217). Für diese metaphysische Betrachtung der Hierarchie zwischen Vernunft und Gefühl argumentiert auch Zinkin in „Respect for the Law and the Use of Dynamical Terms in Kant‘s Theory of Moral Motivation“ (2006). Sie argumentiert, indem sie die Kraft der Vernunft unter Rückgriff auf einen frühen Aufsatz von Kant als negative Größe interpretiert, dass wir das Triebfedernkapitel nur verstehen können, wenn wir den metaphysischen Ansatz, der Achtung als Wirkung auszeichnet, gegenüber dem phänomenalen Ansatz, der Achtung als negatives und positives Gefühl auszeichnet, als den grundlegenden betrachten. Andernfalls

 Dies zeigt sich zum Beispiel in der Auslegung der Faktum-Passage: „Finally, with regard to the authority of morality, there is a way in which ‘sense’ might be said to play a key, secondary role here as well, although only in a very extended sense.“ (Ameriks 2010, 45). Entsprechend teilt Ware mit Grenberg die Auffassung, „that moral life has just as much to do with sensibility as it does with reason“ (Ware 2015, 309). Andererseits grenzt er sich von ihrer Deutung ab, weil er denkt, dass wir uns moralischen Prinzipien so bewusst werden können, wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewusst werden, nämlich gefühlsunabhängig.  „The fact of reason, as we see, only testifies to the legitimacy of, but does not prove, the moral law. It constrains what actual agents do (quid facti) and not only what possible agents must acknowledge (quid juris).“ (Łuków 1993, 215).

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stoße man auf das Problem einer unlösbaren Zirkularität, in der sich die Hierarchie zwischen Gefühl und Vernunftgesetz gar nicht mehr festlegen lasse. Henrich betont ebenfalls den Gefühlscharakter der praktischen Erkenntnis, begrenzt dessen Bedeutung aber metaphysisch.¹⁷⁹ Das Gute, so Henrich, werde zwar durch die Zustimmung und die Zustimmung auch durch das Gefühl für uns sichtbar, aber das Gute sei nicht durch die Zustimmung gut und die Zustimmung beruhe auf keinem Gefühl.¹⁸⁰ Letztlich liegt die sittliche Einsicht auch ihm zufolge in einem metaphysischen Selbst begründet: Der Charakter des sittlichen Bewusstseins sei es, „ursprünglich ontologisch zu sein: Die sittliche Einsicht folgt zwar nicht aus einem Gedanken von der Struktur des Seins des Seienden, ist ohne einen solchen Gedanken aber auch unmöglich.“ (Henrich 1973, 231). Daher ist das Gefühl auch nach seiner Deutung rein und ein Gegenstand der Philosophie, wohingegen der psychologische Zugang zu diesem Gefühl problematisiert werden muss: „Die ursprüngliche Einheit der beiden, Erkenntnis und Gefühl, im Phänomen der sittlichen Einsicht macht die traditionelle Psychologie zum philosophischen Problem“ (Henrich 1973, 230 f.). Auch Henrich ist also der Auffassung, dass der Modus des Fühlens für das sittliche Bewusstsein charakteristisch ist, doch auch er arbeitet andererseits heraus, dass es sich bei der These, dass sittliche Einsicht ein Gefühl sei, nur um eine „Teilwahrheit“ (Henrich 1973, 230) handeln kann.

4 Eine neue Synthese Der Vorschlag für eine neue Synthese lautet, dass Achtung ein notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung ist. Die These von der Notwendigkeit lässt sich als eine Anknüpfung an die gefühlsbetonten Deutungen der Affektivisten und Phänomenologen verstehen. Die andere Teilthese, dass das Gefühl der Achtung nur ein Nebenprodukt der Vernunftbestimmung sein kann, bringt hingegen eine Anknüpfung an die vernunftbetonten Deutungsansätzen der Intellektualisten und Metaphysiker zum Ausdruck, die dem moralischen Gefühl in

 „Das Selbst in dem Akt des Sich-Identifizierens ist auch in der Form auf das Gute bezogen, die die Tradition ‚Gefühl‘ genannt hat. Die Legitimität des Anspruchs ist zwar nicht durch ein Gefühl begründet und die Zustimmung nicht durch es motiviert. Aber sie ist doch mit ihm verbunden“ (Henrich 1973, 231).  „Obwohl das Gute nur in der Zustimmung sichtbar wird, ist es doch nicht durch sie gut“ (Henrich 1973, 228). „Die Zustimmung, ohne die das Gute nichts ist, ist Ausdruck seiner Verbindlichkeit für den Vollzug des Selbst […] Infolgedessen ist diese Zustimmung eine spontane Leistung des Selbst.“ (Henrich 1973, 231).

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Kants Ethik höchstens eine randständige Stellung und Funktion zugestehen. Die Verknüpfung dieser beiden Merkmale der Notwendigkeit und Randständigkeit repräsentiert die besondere Synthese zwischen Vernunft und Gefühl, die für Kants Ethik charakteristisch ist. Entsprechend wird hier eine Anknüpfung an die unterschiedlichen Positionen aus der aktuellen Forschung befürwortet, die auf eine Synthese der gefühls- und der vernunftbetonten Positionen abzielt. Im Folgenden wird der Reihe nach verdeutlicht, wie die Grundthese dieser Arbeit in unterschiedlicher Gewichtung an alle vier Positionen, also an die Positionen der Affektivisten, Intellektualisten, Phänomenologen und Metaphysiker, anknüpft und dadurch eine neue Synthese stiftet. Da es sich jeweils um zwei Gegenpositionen einer einerseits gefühlsbetonten und andererseits vernunftbetonten Deutung handelt, bedeutet eine Anknüpfung in der einen Hinsicht immer zugleich auch eine Abgrenzung von der Gegenposition. Affektivisten verteidigen im Anschluss an Kant die Notwendigkeit eines moralischen Gefühls und verweisen hierzu beispielsweise auf eine Stellungnahme von Kant aus dem Abschnitt über das moralische Gefühl als Vorbegriff „der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (MS, 6:399), die lautet: „Alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur That“ (MS, 6:399). Hier ist ausdrücklich von „alle“, d. h. von jeder Bestimmung der Willkür die Rede, auch wenn das Verhältnis zwischen dem Gefühl und der Willkür noch einer weiteren Differenzierung bedarf, um den Unterschied zwischen pathologischen und moralischen Gefühlen der Lust und Unlust zum Ausdruck zu bringen. Auch in einem Rückblick auf das Triebfedernkapitel der KpV bestätigt Kant, dass ein Gefühl notwendigerweise auch im Fall der moralischen Willensbestimmung beteiligt ist. Auch dort heißt es ohne Einschränkung: „Der Gemüthszustand aber eines irgend wodurch bestimmten Willens ist an sich schon ein Gefühl der Lust und mit ihm identisch“ (KU §12, 5:222). Dass auch eine moralische Bestimmung des Willens oder der Willkür nicht ohne die Beteiligung eines Gefühls der Lust und Unlust gedacht werden kann, bestätigt Kant auch mit der These, dass ein moralisches Gefühl der reinen Achtung „subjektiv“ den Willen „bestimmen“ (GMS, 4:400) muss oder subjektiv die „Bestimmungsart“ (KpV, 5:81) des schlechthin guten Willens sei oder „Triebfeder“ (KpV, 5:78, 79) ist, wie Affektivisten zu Recht hervorheben. Diese Textstellen dürfen aber nicht voreilig dafür genommen werden, dass ein Gefühl im Fall der moralisch-guten Handlung dieselbe Funktion erfüllt wie ein pathologisches Gefühl im Fall der nicht-moralischen Handlung, nämlich eine motivierende Funktion. Denn Intellektualisten haben andererseits Recht damit, dass Kant seit 1785 vertritt, dass nicht nur das Prinzip der Legitimation, sondern auch die Motivation moralisch-guten Handelns allgemein und vernünftig sein

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muss. Zum Beispiel in der Autonomieformel bringt Kant zum Ausdruck, dass er auch die motivationale Triebfeder mit der allgemeinen Vernunft und ihrem rein formalen Moralgesetz identifiziert und auf diese Weise von seiner vorhergehenden Position abweicht und nicht mehr vertreten will, dass ein Gefühl als principium executionis die Motivation moralisch-guter Handlungen verbürgt.¹⁸¹ Die Stellen, in denen Kant behauptet, dass Achtung die Triebfeder sei, werden von Kant zugleich auch immer wieder zugunsten seiner intellektualistischen These relativiert, indem er zum Beispiel in demselben Kontext ebenso deutlich schreibt: „Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet“ (KpV, 5:76). An zahlreichen Stellen bestätigt er die Position der Intellektualisten, die mit Blick auf eine schlechthin gute Handlung besagt, „daß der Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt werde“ (GMS, 4:419). Auch zu Beginn des Triebfedernkapitels kündigt er an, dass das Gesetz „unmittelbar den Wille bestimme“, d. h. also nicht „vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde“, weil die Handlung ansonsten „zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten“ würde (KpV, 5:71). Seine Position entspricht also eindeutig einer intellektualistischen Lehre, die besagt, dass: die Triebfeder des menschlichen Willens […] niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse (KpV, 5:72).

Auch inhaltlich bestätigt er diese These im Verlauf des Triebfedernkapitels, indem er den realen Gegensatz zur Selbstliebe und den Neigungen, die motivational die Pflichtbefolgung behindern, durchweg mit der Vernunft und dem Gesetz identifiziert. Das Gegenteil, nämlich, dass Achtung als Gegenkraft wirke, wird von Affektivisten zwar oft behauptet, aber es lässt sich nicht sauber belegen.¹⁸² Daher ist

 In der Autonomie-Formel bringt Kant zum Ausdruck, dass „Moralität“ in „der Beziehung aller Handlungen auf die Gesetzgebung“ besteht, denn sie besagt, „keine Handlung nach einer anderen Maxime zu tun, als so“, „daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“ (GMS, 4: 434). Der Wille soll sich also durch seine Maxime und somit durch seine subjektiven Motive und durch seine Motivation als gesetzgebend betrachten und nicht nur durch das Gesetz und die Gesetzgebung selber.  Häufig wird dem Gefühl der Achtung eine Leistung zugeschrieben, die Kant im Original der reinen praktischen Vernunft zuschreibt. Zum Beispiel schreibt Kant, dass „die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbstliebe im Gegensatz mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft“ (KpV, 5:76). Einige Interpreten zitieren diese Stelle im Zuge der Behauptung, dass Achtung alle Ansprüche abschlage und dem Gesetz

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die intellektualistische These, dass das Gefühl der Achtung nach Kant nicht die motivierende Kraft einer schlechthin guten Handlung sein kann, überzeugend. Es muss eine andere Erklärung für die Stellen geben, in denen Kant ausnahmsweise die Achtung mit der Triebfeder oder mit dem subjektiven Bestimmungsgrund identifiziert. Hierfür spricht außerdem auch die Tatsache, dass Kant die These vertritt, dass das moralische Gefühl der Lust und Unlust nur als Folge der moralischen Willensbestimmung auftritt und sich darin von allen pathologischem Gefühlen, die der Willensbestimmung vorhergehen, unterscheidet.¹⁸³ Die These, dass nur das Gesetz die motivierende moralische Triebfeder sein kann, wird durch diese These, dass das Gefühl der Achtung nur auf die Bestimmung des Willens oder der Willkür folgt, bestätigt. Für das moralische Gefühl ist es zentral, dass es diese randständige Stellung im Verhältnis zur Willkür oder zum Willen einnimmt, weil Kant mit dieser Verhältnis-These den moralischen Status dieses Gefühls in Abgrenzung zu pathologischen Gefühlen begründet. Daher lässt Kant in seiner Definition einer praktischen Lust auch offen, „ob die Lust dem Begehrungsvermögen jederzeit zum Grunde gelegt werden müsse, oder ob sie auch unter gewissen Bedingungen nur auf die Bestimmung desselben folge“ (KpV, 5:9Anm.). An anderen Stellen erläutert er, dass die praktische Lust „nun Ursache oder Wirkung vom Begehren sein“ (MS, 6:212) mag. Die Notwendigkeit der Beteiligung einer Lust an der Bestimmung des Begehrungsvermögens sagt noch nichts darüber aus, in welcher Stellung und Funktion die Lust daran beteiligt ist. Da die moralische oder intellektuelle Lust „nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann“ (MS, 6:212), kann die Funktion dieser Lust nicht motivational verstanden werden. Das moralische Gefühl unterscheidet sich in seiner Bedeutung von der motivationalen Bedeutung aller sonstigen vorhergehenden Lust-Gefühle. Daher stellt sich die schwierige Frage, warum speziell ein moralisches Gefühl an der Bestimmung des Begehrungsvermögens beteiligt sein soll.

dadurch Ansehen verschaffe: „This passage seems to suggest […] that it is the reweighting of empirical feelings or preferences by the feeling of respect that ‘supplies authority to the law’“ (Guyer 2010, 135). Oder: „Die Achtung tut das ihrige […], indem sie […] „dem Gesetze […] Ansehen verschafft“ (KpV 5:76). Diese positive Funktion übernimmt sie, indem sie die ‚Hindernisse‘ der Wirkung des Gesetzes auf den Willen eines unvollkommenen Wesens ‚vermindert‘.“ (Schadow 2013, 279). Diese Leistung wird im Original aber der Vernunft, nicht der Achtung zugeschrieben. Es gibt viele Beispiele für eine solche schiefe Zitierweise zugunsten der affektivistischen These (vgl. Grenberg 2001, 158 f.Anm. 15; McCarty 2009, 181; Herrera 2000, 399; Timmermann 2003, 195).  Vgl. VT, 8:395 f.Anm.; MS, 6:212, 378, 399; KU BXXIVf., 5:178 f., 237; KpV, 5:38, 116; GMS, 4:401Anm.

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Der Grund für die Unklarheit in Kants Ausführungen scheint darin zu liegen, dass Kant selber die beiden Streitfragen nach der motivationalen und der moralepistemischen Relevanz des Gefühls nicht sauber voneinander unterscheidet. Die Schwierigkeit lässt sich nämlich auflösen, indem man einsieht, dass Kant, wenn er Achtung als Triebfeder oder als subjektiven Bestimmungsgrund beschreibt, eigentlich nicht auf die erste motivationale Streitfrage, sondern auf die zweite moralepistemische Frage antwortet. Er identifiziert Achtung mit dem Modus, in dem jedem gewöhnlichen Menschen das Moralgesetz bewusst wird, so wie es Phänomenologen vertreten. In diesem Sinne lassen sich die eingangs von Affektivisten hervorgehobenen Stellen über die Notwendigkeit der Beteiligung eines moralischen Gefühls an der Willensbestimmung phänomenologisch auslegen. Achtung „heißt“ (GMS, 4:401Anm.) also, wie Kant entsprechend in der Fußnote des ersten Abschnitts der GMS betont, das Bewusstsein der unmittelbaren Bestimmung des Willens durchs Gesetz, wie es der gewöhnliche partikulare Mensch erlebt.¹⁸⁴ Phänomenologen heben also, indem sie Achtung mit dem phänomenalen Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen identifizieren, zugleich auch die Relevanz der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß“ (GMS, 4:393) als den Ausgangspunkt der Kantischen Ethik hervor. Sie identifizieren diesen Ausgangspunkt als einen gefühlsabhängigen Ausgangspunkt, weil der gemeine Menschenverstand noch nicht begrifflich, aber auf eine andere dunkle, nämlich gefühlte Weise denselben vollständigen Zugang zur moralischen Einsicht haben muss wie der Philosoph.¹⁸⁵ Zum Beispiel stellt Kant heraus, dass wir auf der Grundlage eines Gefühls das moralisch Gute von allen materialen Bestimmungsgründen unterscheiden können, auch wenn diese Unterscheidung nicht begrifflicher Natur ist, sondern nur eine Unterscheidung der Bestimmungsgründe mit Blick auf unsere Affiziertheit sein kann.¹⁸⁶ Diese ästhetische Empfänglichkeit

 „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung“ (GMS, 4:401Anm.).  So sei auch die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich mit Blick auf das Subjekt „eine Bemerkung, welche anzustellen eben kein subtiles Nachdenken erfordert […], sondern von der man annehmen kann, daß sie wohl der gemeinste Verstand, obzwar nach seiner Art durch eine dunkele Unterscheidung der Urtheilskraft, die er Gefühl nennt, machen mag“ (GMS, 4:450 f.). Auch von einer „Metaphysik der Sitten“ sagt Kant explizit aus: „[J]eder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art in sich“ (MS, 6:216).  „Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe (der empirischen und rationalen) wird […] durch eine eigenthümliche Art von Empfindung, welche aber nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeht, sondern vielmehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwang gewirkt wird, nämlich durch das Gefühl der Achtung, dergleichen kein Mensch für Neigungen hat, sie mögen sein, welcher Art sie wollen, wohl aber fürs Gesetz, so kenntlich gemacht und so ge-

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für Pflichtbegriffe überhaupt und für die Übereinstimmung und die Nichtübereinstimmung unserer Handlungen mit diesem Pflichtbegriff hebt Kant auch in der MS mit Blick auf das moralische Gefühl hervor.¹⁸⁷ Die gemeine Einsicht unterscheidet sich Kant zufolge also nicht im Umfang oder der Leistung von der philosophischen Erkenntnis, sondern nur in der Art der Einsicht, weil sie gefühlt wird. Hierfür argumentieren Phänomenologen ausgehend von den Merkmalen der Unmittelbarkeit, der Subjektivität, der Synthetizität und der Rezeptivität der praktisch-moralischen Einsicht. Das besondere Merkmal, das ein Gefühl der Achtung als notwendigen Modus der gemeinen Vernunfterkenntnis auszeichnet, ist aber insbesondere das Merkmal der Partikularität. Weil das Gesetz allgemein ist, der Ausgangspunkt der Kantischen Ethik aber das Moralbewusstsein jedes einzelnen Menschen sein soll, das einzelne Bewusstsein hingegen ein Moment der Partikularität notwendig macht, wie es das Gefühl gewährleisten kann, ist nach der hier vertretenen Deutung das Gefühl notwendigerweise der Modus der gemeinen sittlichen Erkenntnis des Menschen. Die moralische Erkenntnis des gewöhnlichen Menschen, die gefühlte Einsicht und das partikulare Bewusstsein des einzelnen Akteurs sind in Kants Theorie miteinander identisch und bilden den Ausgangspunkt seiner Ethik, der im Zuge der moralphilosophischen Reflexion zur Bestätigung wieder eingeholt werden soll. Auf diese Weise lässt sich die phänomenologische Deutung des gewöhnlichen Moralbewusstseins auch für eine Auslegung der Stellen fruchtbar machen, in denen Kant das Gefühl der Achtung als Triebfeder, als subjektiven Bestimmungsgrund oder als subjektive Bestimmungsart des schlechthin guten Willens beschreibt. Was dadurch hervorgehoben werden soll, ist nicht die motivationale Funktion des Gefühls, sondern der Erfolgsfall eines partikularen Moralbewusstseins, das sich beim moralischen Erkennen und Bewerten oder aber beim Wollen und Handeln des einzelnen Menschen einstellt. Als ein moralisches Wohlgefallen repräsentiert das Gefühl der Achtung somit einen spezifisch moralischen Zugang des Einzelnen zur Bestimmung durch das Gesetz, der ohne ein Gefühl nicht denkbar wäre. Erneut lässt sich hier an das Schaubild aus Teil I, Kap. 1.4, erinnern, das den phänomenalen, erst-personalen Zugang als notwendige Folge der moralischen Bestimmung des Einzelnen zum Ausdruck bringt:

hoben und hervorstechend“, dass man dem „gemeinste[n] Menschenverstand“ (KpV, 5:92) zumuten könne, dem Vernunftgesetz zu gehorchen.  Das moralische Gefühl sei „die Empfänglichkeit für Lust und Unlust blos aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze“ (MS, 6:399). Bei dem moralischen Gefühl, der Achtung, dem Gewissen und der Menschenliebe, handle es sich um „Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (MS, 6:399).

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Erkennen/Bewerten → Fühlen; Wollen/Handeln → Fühlen

Die phänomenologische Deutung hat aber auch ihre Grenzen, da der gefühlte Ausgangspunkt nur ein Ausgangspunkt, aber nicht die eigentliche Richtlinie oder die ausschließliche Methode der Kantischen Reflexion festlegen soll. Gegen eine rein phänomenologische Deutung lässt sich anführen, dass es Kant nicht nur um einen phänomenologischen Zugang zu den Grundlagen der Moralphilosophie, sondern anschließend um Metaphysik geht, das heißt um ein System aus Begriffen, das methodisch sowie inhaltlich größtenteils von Gefühlen und der gefühlten erst-personalen Perspektive absieht. Im Zentrum der Kantischen Philosophie steht die reine Metaphysik, die systematisch, vernunftorientiert, begrifflich und somit allgemein sein soll. Das Verständnis der phänomenalen Perspektive des gewöhnlichen moralischen Akteurs ist somit nicht seinerseits phänomenologisch, sondern metaphysisch begründet, was sich auch mit Blick auf das reine Gefühl der Achtung zeigen lässt. Während das Gefühl der Achtung aus einer phänomenalen Perspektive einen unhintergehbaren epistemischen Modus des Moralbewusstseins darstellt, ist dieses reine Gefühl aus der philosophisch-begrifflichen Perspektive ein Gegenstand der Betrachtung, der zudem als bloßes Nebenprodukt der moralischen Bestimmung des Willens durch das Gesetz auftritt. Denn es gilt, wie Kant in der Tugendlehre schreibt: Allein kein moralisches Princip gründet sich in der That, wie man wohl wähnt, auf irgend einem Gefühl, sondern ist wirklich nichts anderes als dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt (MS, 6:376).

Daher müsse auch jeder Gedanke zur Moral „bis auf die Elemente der Metaphysik zurückgehen, ohne die keine Sicherheit und Reinigkeit“ (MS, 6:376) zu erwarten sei. Dies macht Kant auch bereits in der Fußnote des ersten Abschnitts der GMS deutlich, wenn er die erste Behauptung über das phänomenale Bewusstsein der Achtung zugunsten seiner rein begrifflich-metaphysischen Darstellung einschränkt. Der gesamte Satz lautet: Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird. (GMS, 4:401Anm.).

Diese Stelle lässt sich so verstehen, dass Achtung nicht schlechthin mit dem Bewusstsein der moralischen Bestimmung identifiziert wird, sondern nur vorläufig, nämlich mit Blick auf den Ausgangspunkt der Untersuchung, der dem einzelnen Bewusstsein des gewöhnlichen Menschen entspricht. In der philoso-

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phischen Reflexion wird Achtung hingegen als Wirkung des Gesetzes betrachtet, was zugleich auch bedeutet, dass das phänomenale, einzelne Moralbewusstsein als Wirkung eines reinen, allgemeinen Moralbewusstseins des Gesetzes verstanden wird. Entsprechend geht dem gefühlten Bewusstsein ein Bewusstsein der Bestimmung des Begehrungsvermögens vorher:¹⁸⁸ „Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervorgebracht wird“ (KpV, 5:116). Im Fall der moralischen Willensbestimmung, der ein moralisches Wohlgefallen folgt, charakterisiert Kant dieses ursprüngliche Bewusstsein als ein Bewusstsein der unmittelbaren Bestimmung durch das Gesetz. Er fährt fort: [A]ber diese Lust, dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist nicht der Bestimmungsgrund der Handlung, sondern die Bestimmung des Willens unmittelbar, blos durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls der Lust, und jene bleibt eine reine praktische, nicht ästhetische Bestimmung des Begehrungsvermögens. (KpV, 5:116).

Insofern sich „jene“ auf die „Bestimmung des Willens unmittelbar, bloß durch die Vernunft“ bezieht, geht aus dieser Stelle deutlich hervor, dass eine praktische unmittelbare Bestimmung durch die Vernunft der ästhetischen Bestimmung des Wohlgefallens vorhergeht. Unmittelbarkeit ist also nicht, wie Phänomenologen vertreten, mit Gefühlsabhängigkeit gleichzusetzen. Das Bewusstsein der unmittelbaren Bestimmung ist ein Bewusstsein der gesetzgebenden Vernunft: Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. (KpV, 5:31).

Das Bewusstsein der unmittelbaren Bestimmung des Willens durch die gesetzgebende Vernunft liegt begründungstheoretisch, wie Metaphysiker vertreten, dem phänomenalen Moralbewusstsein zugrunde. Insofern können das phänomenale Bewusstsein sowie das Gefühl der Achtung auch philosophisch nur verstanden werden, wenn sie auch ausgehend von diesem reinen Bewusstsein des Gesetzes, also ausgehend von dem gesetzgebenden Bewusstsein, synthetisch als Wirkung verstanden werden. Dasselbe Argument lässt sich auch mit Blick auf die Selbst Dies bestätigt auch der Schlusssatz des Einleitungsparagraphen über moralische Gemütsanlagen, der lautet: „Das Bewußtsein derselben [Gemütsanlagen] ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Gemüth, folgen“ (MS, 6:399). Das Bewusstsein der Gemütsanlagen folgt also auf das Bewusstsein des moralischen Gesetzes.

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Teil II: Positionen

gesetzgebung vorbringen, die als solche nicht bloß als Inhalt einer phänomenalen Erfahrung, sondern als Tätigkeit gedacht werden muss, die der phänomenalen Erfahrung zugrunde liegt. Rein analytisch lässt sich zwar ausgehend von der phänomenalen Erfahrung auf die Notwendigkeit ihrer Bestandteile schließen, aber ein Verständnis dieser Bestandteile, ihrer Verbindung und Hierarchie erfordert immer auch eine methodisch metaphysische Herleitung, die von dem grundlegenden ausgeht und synthetisch ihren weiteren Verlauf nimmt.¹⁸⁹ Daher kann eine phänomenologische Betrachtung immer nur in Ansätzen zur Begründung der moralischen Erfahrung beitragen, weil so etwas wie Selbstgesetzgebung und ein rein vernunftgewirktes Gefühl, wie schon deren Ausdrücke deutlich machen, einer synthetisch-metaphysischen Perspektive angehören. In der zweiten Frage knüpft die Untersuchung der Achtung als notwendiges Nebenprodukt daher nicht nur an eine phänomenologische, sondern auch an eine metaphysische, das heißt an die bereits weitläufig vertretene moderat-metaphysische Position an. Im Rahmen der ersten Frage knüpft sie hingegen nur teilweise an eine affektivistische und intellektualistische Deutung an, formuliert vielmehr eine dritte eigenständige Antwort, die auf ein phänomenologisches Verständnis der gefühlsbetonten Triebfeder aufbaut. Achtung kann zwar als „Triebfeder“ beschrieben werden, aber dieser Ausdruck darf dann nicht synonym zur Bedeutung eines motivationalen Bestimmungsgrundes, sondern nur in einem weiten und eher epistemischen Sinne als Ausdruck für einen subjektiven Bestimmungsgrund verstanden werden, weil es sich nur um ein Nebenprodukt, aber nicht um ein der Handlung vorhergehendes Gefühl handelt. Als ein Nebenprodukt der moralisch-guten Handlung ist dieses Gefühl jedoch notwendig, weil es als Gefühl die partikulare Gesinnung verbürgt, die aber durch das allgemeine Bewusstsein des Gesetzes konstituiert wird. Üblicherweise versteht man unter „Triebfeder“ schon dem Wortlaut nach eine mechanische Kraft, einen Antrieb oder eine Sprungfeder. Dies lässt sich als kausale Bedeutung beschreiben, die sich grammatikalisch durch die dritte Person auszeichnet. In den letzten Jahren ist immer häufiger darauf hingewiesen worden, dass diese kausale (affektivistische) Deutung der Achtung der Kantischen Theorie unangemessen und zu reduktionistisch sei, weil sie den phänomenalen Charakter des Gefühls unberücksichtigt lasse. Phänomenologen betonen stattdessen die phänomenale Dimension des Gefühls, die sich grammatikalisch in der ersten  Diese Methode beabsichtigt Kant in der GMS: „Ich habe meine Methode in dieser Schrift so genommen, wie ich glaube, daß sie die schicklichste sei, wenn man vom gemeinen Erkenntnisse zur Bestimmung des obersten Princips desselben analytisch und wiederum zurück von der Prüfung dieses Princips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntniß, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will.“ (GMS, 4:392).

4 Eine neue Synthese

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Person beschreiben lässt. Diese phänomenale Perspektive, die auch als evaluative oder ästhetische von einer kausalen oder affektivistischen Bedeutung unterschieden werden kann, wird aber in der Literatur häufig nur zur Ergänzung einer affektivistischen Deutung befürwortet. Dagegen wird hier eine rein phänomenologische Bedeutung des Gefühls als Alternative zur affektivistischen Deutung und als Antwort auf die Frage nach der moralischen Triebfeder verteidigt. Das Gefühl der Achtung muss nämlich als moralisches Gefühl eine besondere Art von Triebfeder sein, die der Handlung nicht vorhergehen kann. Dies zeichnet die hier vertretene Deutung als eine „neue“ Synthese aus. Einige einzelne affektivistische und intellektualistische Autoren beschäftigen sich mit diesem Phänomen der Achtung als einem notwendigen Nebenprodukt. Schadow versteht auf diese hier angestrebte Weise das moralische Interesse, unterscheidet es aber von dem Gefühl der Achtung, das sie ebenfalls affektivistisch als der Handlung motivational vorhergehendes Gefühl deutet.¹⁹⁰ StrattonLake betont, dass ein Gefühlsaspekt der Achtung notwendig als Modus des Motiviertseins an der moralischen Bestimmung beteiligt sein muss, unterscheidet diesen Aspekt aber von der Achtung fürs Gesetz, die er intellektualistisch im Sinne der Zwei-Aspekte-Deutung als rein intellektuelle Triebfeder deutet.¹⁹¹ Die Besonderheit der hier vertretenen These besteht hingegen darin, dass das Gefühl Achtung nur mit diesem teilweise in der Forschung umrissenen notwendigen Nebenprodukt identifiziert wird, ohne die These von der motivationalen Funktion, den zwei Aspekten und die These von einer rein intellektuellen Achtung fürs Gesetz zu teilen. Die Auffassung, dass das Gefühl der Achtung retrospektiv zur moralischen Bestimmung auftritt und insofern als epistemische Triebfeder verstanden werden kann, ist weitgehend neu und grenzt sich als eigenständige Antwort auf die erste Streitfrage nach der moralischen Motivation von affektivistischen und intellektualistischen Vorschlägen ab. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Notwendigkeit dieses Nebenproduktes der Vernunft betont werden soll. Häufig wird dem Gefühl der Achtung sowohl von Intellektualisten wie Paton, von Affektivisten oder von uneindeutigen Interpreten wie Guyer eine naturale, empirische Funktion zugeschrieben. Dagegen wurde vorgeschlagen, die Funktion des Gefühls erkenntnistheoretisch zu begründen, sodass eine transzendentalphilosophische Interpretation des moralischen Gefühls möglich wird. Eine naturale, empirische Funktion des moralischen Gefühls wird hier also ausgeschlossen. Ebenso wird hier ausgeschlossen, dass es sich bei der Achtung fürs Gesetz, wie intellektua-

 Vgl. Schadow 2013.  Vgl. Stratton-Lake 2000.

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Teil II: Positionen

listische Vertreter der Zwei-Aspekte-Deutung verteidigen, um eine rein intellektuelle Einstellung oder Anerkennung handelt. Unter dem Gefühl der Achtung versteht Kant nach der hier vertretenen Deutung immer ein Gefühl oder ein Wohlgefallen, das als ein sinnlicher und insofern partikularer Zugang zur moralischen Willensbestimmung notwendig ist.

Teil III: Rekonstruktion Kant vertritt seit der GMS eine Theorie des moralischen Gefühls, die einheitlich und eigentümlich ist. Auf diesen Gegenstand richtet sich die Rekonstruktion dieses dritten Teils. Das erste Kapitel thematisiert die Einheitlichkeit, das zweite Kapitel die Eigentümlichkeit von Kants Theorie der Achtung. Das erste Kapitel widmet sich werkgeschichtlichen Fragen nach der kritischen Wende in Kants Moralphilosophie und der Frage nach der Einheitlichkeit von Kants reifer Theorie der Achtung. Dabei zeigt sich, dass die Frage nach der kritischen Wende mit der Frage verzahnt ist, welche Rolle dem Gefühl der Achtung in Kants reifer Theorie zugesprochen wird. Hier wird erneut auf den Interpretationsspielraum hingewiesen, der im zweiten Teil bereits ausführlich in der Darstellung der Positionen der Forschung sichtbar wurde. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Kant auch während seiner reifen moralphilosophischen Theoriephase verschiedene Positionen zur Achtung vorträgt, die nicht den Charakter einer ausgearbeiteten Theorie haben, sondern eher beiläufig in Anmerkungen stehen oder schwer verständlich sind. Daher lässt sich anzweifeln, dass Kant in der GMS, der KpV und der MS eine einheitliche Theorie der Achtung vertritt. Gegen diesen Zweifel wird argumentiert, dass die verschiedenen Positionen nur scheinbar einen werkübergreifenden Bruch signalisieren, da es sich stattdessen um werkinterne Brüche handelt, die sachliche Schwierigkeiten andeuten, welche einheitlich auftreten. Auffällig ist, dass es in den drei Werken Schnittstellen gibt, die stabilen Thesen über das moralische Gefühl der Achtung entsprechen. Diese stabilen Thesen zeigen, dass man Kant in seinen moralphilosophischen Hauptwerken eine einheitliche Theorie des moralischen Gefühls der Achtung unterstellen kann. Im zweiten Kapitel wird die eigentliche Rekonstruktion von Kants Theorie der Achtung vorgenommen. Diese Rekonstruktion orientiert sich systematisch an einer Argumentationsstruktur bestehend aus vier Ebenen, die für eine transzendentalphilosophische Untersuchung charakteristisch sind. Dabei liegt der Fokus der Untersuchung auf dem Gefühl der Achtung, das auf allen vier Ebenen der moralphilosophischen Argumentation auftritt. Bemerkenswert ist, dass die These aus dem ersten Teil, Achtung sei ein notwendiges Nebenprodukt der moralischen Willensbestimmung, in dieser eigenständigen Rekonstruktion eine Bestätigung erfährt. Denn die Besonderheit einer moralphilosophischen Rekonstruktion besteht im Unterschied zu einer erkenntnistheoretischen Rekonstruktion darin, dass das Moralgesetz, anders als der Verstandesbegriff, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wirklichkeit seines Gegenstandes begründet. Das Gefühl der Achtung hat in diesem Kontext die besondere Funktion einer Bedingung der https://doi.org/10.1515/9783110629170-007

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Teil III: Rekonstruktion

Wirklichkeit von Moralität, die a priori eingesehen werden kann. Dies zeichnet es einerseits als ein notwendiges und andererseits als ein randständiges Element aus, was der These, es sei ein notwendiges Nebenprodukt der Vernunft, entspricht. Die Untersuchung des Gefühls auf den vier Ebenen wird diese besondere Stellung verdeutlichen. Die abschließende Auswertung hebt hervor, dass das Gefühl der Achtung, stellvertretend für den gemeinen, moralischen Menschenverstand, und die Vernunft, stellvertretend für den moralphilosophierenden Verstand, in Kants Ethik eine synthetische Einheit bilden. In diesem Kontext wird außerdem ausgewertet, wie sich die in Teil II genannten Positionen zu der Rekonstruktion verhalten.

1 Kants Theorie der Achtung Immer vorausgesetzt, dass sich der Fokus von Kants moralphilosophischer Betrachtung in jeder Schrift verschiebt, werde ich Textstellen aus der GMS (1785), der KpV (1788) und der MS (1797) so interpretieren, als vertrete der kritische Kant seit der GMS eine einheitliche Theorie über das moralische Gefühl der Achtung, die auf eine kritische Wende in seiner Moralphilosophie folgt. Dies ist, wie so vieles in der Philosophie, alles andere als selbstverständlich. Einschätzungen von Kühn, Sensen und Schönecker sollen im Folgenden dazu dienen, den vielfältigen Interpretationsspielraum anzudeuten, der in diesem Kapitel auf die Hypothese eingeschränkt wird, dass Kant seit der GMS eine einheitliche Theorie der Achtung vertritt. Diese Hypothese wird in einer Auseinandersetzung mit den folgenden fünf Fragen entwickelt: (1.1) Worin besteht die kritische Wende in Kants Moralphilosophie? (1.2) Welche Rolle spielt Achtung in Kants reifer Theorie? (1.3) Vertritt Kant nach der Wende eine einheitliche Theorie der Achtung? (1.4) Ist die Unterstellung einer einheitlichen Theorie gerechtfertigt? (1.5) Welche sind die stabilen Thesen in Kants Theorie der Achtung?

1.1 Worin besteht die kritische Wende in Kants Moralphilosophie? Schon 1764 beschäftigt Kant in seiner ersten Schrift über den Gegenstand der Moral Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze von Theologie und Moral (UD) die Frage, „ob lediglich das Erkenntnißvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide“ (UD, 2:300). Noch in deutlicher Nähe zur Moral-Sense-Theorie Shaftesburys und

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Hutchesons¹ hinterfragt Kant dieselbe dort auch bereits mit Blick auf den Grund des höchsten Moralprinzips. Bis zu seiner zweiten Schrift der GMS (1785) entwickelt sich seine Auffassung dann ausgehend von einer Betonung des Gefühls schrittweise hin zu einer intellektualistischen Position. Allerdings ist nicht klar, wie weit sich Kant in den beiden grundlegenden Schriften seiner kritischen oder reifen Phase, der GMS und der KpV, von seiner anfänglichen Position entfernt.² Kühn charakterisiert in seiner „Einleitung“ (2004) zur Herausgabe der Vorlesung zur Moralphilosophie Kaehler (V-Mo/Kaehler(Stark)) Kants reife Position als eine radikal intellektualistische und formalistische Ethik. Er vertritt, dass sich anhand dieser Vorlesungs-Mitschrift des Wintersemesters 1773/74, spätestens des Winters 1774/75, eine Entwicklung in Kants Denken nachvollziehen lasse, die mit der GMS abgeschlossen sei. Seine These lautet: daß Kant der Sinnlichkeit als solcher oder dem Gefühl als solchem in der Grundlegung keinerlei Rolle oder Platz in der Moral einräumen möchte und daß die Begriffe ‚Achtung‘, ‚Neigung‘ und ‚Interesse‘ von allem empirischen (und nur gefühlsmäßigen) Inhalt befreit werden sollen (Kühn 2004, 15).

Die Abkehr von „der Sinnlichkeit als solcher“ markiert nach Kühn Kants letzten entscheidenden Bruch mit seinem vorkritischen Denken. Darin vollzieht sich ihm zufolge die kritische Wende. Noch in der Kaehler- und Collins-Vorlesung unterscheide Kant zwischen einem principium diiudicationis und einem principium executionis. Geht es um das erste Prinzip als Antwort auf die Frage, was gut ist, dann trete Kant bereits vor der GMS deutlich für eine rein intellektualistische Position ein. Mit Blick auf das principium executionis, also die Frage, warum man sein Leben und Handeln am principium diiudicationis ausrichten sollte, hat Kant hingegen Schwierigkeiten,  Er betont zum Beispiel, dass „daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniß, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und daß beide ja nicht mit einander müssen verwechselt werden“ (UD, 2:299).  Ameriks denkt (in Auseinandersetzung mit Kühn) umgekehrt, dass Kant immer schon moralischer Purist gewesen sei, sodass sich eigentlich gar nicht von einer kritischen Wende in Kants Moralphilosophie reden lasse: „I will present a complex mixed position, namely, that, from the early 1760s on, Kant was, at the base level of his theory, an ethical purist (never seriously tempted by empiricism), and yet he always supplemented his purism to some degree, and for the most part in a fitting way, when, at a secondary level, he incorporates broadly anthropological considerations and modified his views on various epistemological issues.“ (Ameriks 2010, 29). Dieser Grundgedanke bestimmt dann auch noch das Ziel in Kant‘s Elliptical Path (2012). Zumindest im Sinne einer heuristischen Annahme halte ich die Unterstellung einer kritischen Wende in Kants Moralphilosophie aber dennoch für hilfreich und werde sie hier auch primär nur als solche behandeln.

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Teil III: Rekonstruktion

aber er unterscheidet es eindeutig von dem Prinzip der Vernunft und identifiziert es mit dem moralischen Gefühl und der Annahme eines austeilenden Gottes. Insofern zeigt Kühn zufolge die Kaehler-Vorlesung, „wie nahe Kant der kritischen Ethik in vielerlei Hinsicht schon war“ (Kühn 2004, 9). Dort angelangt sei er aber erst dann, wenn er die Anlehnung an das Gefühl, das Herz und die Religion zur Erläuterung der Motivationsfrage aufgibt (oder erheblich abschwächt) und das principium executionis mit dem principium diiudicationis, der reinen Einsicht in das Vernunftgesetz, identifiziert. Das charakteristische Merkmal von Kants reifer Position in der GMS und der KpV fasst Kühn daher wie folgt zusammen: „Der kategorische Imperativ hat im Vergleich mit der Position der Vorlesung zugleich den Status des principium diiudicationis und den Status des principium executionis.“ (Kühn 2004, 29). Zu dieser Einschätzung gelangt auch Sensen,³ der Kants reifes Konzept eines Kategorischen Imperativs – im Kontrast zu Kühn⁴ – als Errungenschaft ansieht, weil er der Auffassung ist, dass sich Autonomie erst auf der Grundlage dieser Gleichsetzung des gebietenden und des motivationalen Prinzips konsequent konzipieren lasse. Dieses deontologische Verständnis von Autonomie als rein vernünftiger Selbstbestimmung charakterisiert Sensen zufolge Kants Ethik seit der GMS und auch noch das der Tugendlehre: ⁵ In the lectures before the Groundwork – the Herder notes as well as a set of thirteen notes, such as Collins and Kaehler – Kant does not yet display the concept of autonomy, which makes it doubtful that he had found the solution to his long-standing problem of moral obligation, and he did not yet have the conception of respect for the moral law as the proper motivation (Sensen 2015a, 179).

Demnach gibt es also einen wichtigen Unterschied zwischen dem Kategorischen Imperativ der Vorlesungsnotizen und der GMS sowie anschließenden Schriften, der, wie auch Kühn betont, „von nicht zu überschätzender Wichtigkeit“ (Kühn 2004, 27 f.) ist. Das oberste Moralprinzip in den Vorlesungen sei nur ein principium diiudicationis, in der Grundlegung aber zugleich auch das principium executionis. Dies vertritt auch Allison, der in der KrV eine höchstens „‘semi-critical‘ moral theory“ (Allison 1990, 67) verwirklicht sieht, weil Kant den Motivationsaspekt

 „In sum: there is a break between the Collins notes and Kant‘s mature writings regarding moral motivation. Whereas Kant had sharply distinguished the principium diiudicationis and executionis in the Collins lectures, he now combines them in the Formula of Autonomy.“ (Sensen 2015a, 198).  Vgl. Kühn 2004, 25, 35.  „It is important to note that Kant‘s view on the grounding of moral laws have not changed in the Doctrine of Virtue.“ (Sensen 2013, 347).

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moralischen Handelns dort nicht konsequent dem Vermögen der Vernunft zuschreibt. Andere Interpreten wie Schönecker⁶ widersprechen dieser Auslegung und versuchen nachzuweisen, dass Kants Autonomiebegriff bereits vor der GMS, zum Beispiel in der Kaehler-Vorlesung und der KrV, ausgereift ist, obwohl einige Passagen einen anderen Anschein erwecken könnten.⁷ In seiner entwicklungsgeschichtlichen Studie Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit (2005) behandelt Schönecker die Frage, wie ausgreift Kants früher Autonomiebegriff sei, als Aspekt des sogenannten „Kanonproblems“.⁸ Auch er unterscheidet hierzu zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis. ⁹ „Klar und unumstritten“ sei, wie Schönecker in Übereinstimmung mit Kühn, Sensen und anderen annimmt, „daß Kant in der KrV und auch in der Ethik-Vorlesung Kaehler hinsichtlich des principium diiudicationis die wichtigsten Bestandteile seiner Ethik schon kennt“ (Schönecker 2005, 119). Die Frage beschränke sich darauf, ob Kant die Vernunft auch bereits als ein principium executionis und somit als ein Vermögen begreift, dass „nicht nur Gesetze formuliert, sondern diese zugleich auch mit Geltung versieht und handlungswirksam macht“ (Schönecker 2005, 121). Vereinzelte Stellen erwecken den Anschein, dass Kant den moralischen Motivationsaspekt in der KrV und der Kaehler-Mitschrift noch nicht der Vernunft zuschreibt, sondern der Hoffnung auf jenseitige Glückseligkeit, dem Glauben an

 Vgl. auch Ameriks 2010, 2012. Auch wenn beide dieselbe entwicklungsgeschichtliche These vertreten, habe ich den Eindruck, dass sie das Konzept der Achtung in diesem Kontext unterschiedlich auslegen. Entsprechend wurde Schöneckers Deutung in Teil II als phänomenologisch aufgearbeitet, wohingegen Ameriks einen moderaten Metaphysiker repräsentiert (vgl. Teil II, Kap. 3).  „Nicht nur sind Kants Ausführungen zum principium diiudicationis bereits auf der Höhe der späten ethischen Schriften. Auch was er zum principium executionis sagt, kommt dem Autonomiebegriff schon sehr nahe.“ (Schönecker 2005, 127).  Vgl. „5.2 Was ist ‚das Praktische‘ und wie ausgereift ist der frühe Autonomiebegriff?“ (Schönecker 2005, 113 – 134). Schönecker verfolgt diese Frage mit Blick auf den zweiten Aspekt des Kanonproblems, der darin bestehe, „daß in der Dialektik die transzendental-praktische Freiheit als Grundlage der Moral verstanden wird“ (Schönecker 2005, 166), wohingegen es im Kanon heißt: „Die Frage wegen der transscendentalen Freiheit betrifft bloß das speculative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig bei Seite setzen können, wenn es um das Praktische zu thun ist“ (KrV, A803 f./B831 f.). Die Frage nach dem Autonomiebegriff ist hierfür interessant, weil es sein könnte, dass Kant im Kontext der zweiten Stelle mit dem ‚Praktischen‘ nicht die Handlung aus Pflicht und insofern nur das principium diiudicationis meinen könnte (vgl. Schönecker 2005, 116).  „Z 35 Der praktische Vernunftgebrauch ist zweifach: Als principium diiudicationis erkennt die Vernunft, was moralisch ist; als principium executionis ist sie eine praktische Triebfeder.“ (Schönecker 2005, 115).

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Teil III: Rekonstruktion

Gott und die Unsterblichkeit der Seele und somit der Verheißung von Belohnung und Strafe.¹⁰ Schönecker berücksichtigt diese semi-kritischen Stellen und gesteht einerseits zu, dass sie so klingen, als könnte das moralische Gesetz nicht ohne die Annahme eines Gottes und eines zukünftigen Lebens als Triebfeder wirken. Es sei „nicht leicht, diese Lesart und damit die These zu vermeiden, Kants Theorie sei hier noch ‚semi-critical‘“ (Schönecker 2005, 131). Schönecker gelingt es aber, diese Deutung zu vermeiden, indem er sich anderen Stellen der KrV zuwendet, die eine religiöse Motivation als sekundären und vernunftabhängigen Aspekt ausweisen.¹¹ Schöneckers Überzeugung von einem ausgereiften Autonomieverständnis vor der GMS lässt sich allerdings nicht direkt der These von Kühn und Sensen, dass die GMS eine kritische Wende markiere, entgegenstellen. Das ausgereifte Autonomiekonzept ist zwar auch nach Schönecker dadurch charakterisiert, dass die Vernunft das principium executionis sei, er versteht darunter aber etwas anderes als Kühn und Sensen. Ihre unterschiedliche entwicklungshistorische Einschätzung divergiert auch darum, weil sie den ausgereiften Autonomiebegriff unterschiedlich auslegen. Wenn Schönecker vertritt, dass die Vernunft das principium executionis sei, dann meint er, dass ein vernunftgewirktes moralisches Gefühl die Triebfeder moralischen Handelns ist, nicht aber die reine praktische Vernunft als solche.¹² Insofern wendet er gegen anscheinend unkritische Stellen eine „relativierende Lesart“ (Schönecker 2005, 125) an und vertritt, dass man sie nicht normativ verstehen dürfe, so, als sollte man mit Blick auf Belohnung oder Bestrafung moralisch handeln, und so, als könnte man nicht autonom handeln: „d. h. allein aus Achtung vor einem Gesetz, dessen Gültigkeit nicht von Gottes Willen abhängt“ (Schönecker 2005, 124). Diese Lesart stützt er durch andere Stellen, in denen Kant

 „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.“ (KrV, A813/B841). Vgl. auch KrV A815/B843. „Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effect wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkenntniß Gottes ist in Ansehung der Ausübung der moralischen Gesetze notwendig.“ (V-Mo/Kaehler(Stark), 61 f.).  Ähnlich argumentiert er auch an anderen Stellen, zum Beispiel wenn er vertritt: „Kant ist im Kanon durch eine ältere und eigentlich überwundene Phase seines Denkens beeinflußt, und zwar so stark, daß dies zu theoretischen Spannungen innerhalb der KrV geführt hat – zum Kanonproblem.“ (Schönecker 2005, 98). – Das Problem sei da, Kant habe es aber eigentlich schon überwunden.  Der praktische Vernunftgebrauch sei zweifach: „als principium executionis ist sie (vermittelst des Gefühls der Achtung) eine praktische Triebfeder“ (Schönecker 2005, 170 f.).

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vertritt, dass ein moralisches Gefühl die Triebfeder sei.¹³ Was sich mit der GMS verändert, ist Schöneckers Deutung zufolge also ausschließlich die Bezeichnung des moralischen Gefühls als Achtung, nicht aber das Autonomieverständnis.¹⁴ Auch in der KrV, so Schönecker, sei das Gefühl der Achtung „im sachlichen Sinne“ (Schönecker 2005, 171) mit dem moralischen Motivationsaspekt identisch, wenn Kant die Notwendigkeit religiöser Konzepte relativiert: nämlich „so, daß die moralische Gesinnung, als Bedingung, den Anteil an Glückseligkeit, und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache“ (KrV A813/B841). Des Weiteren merkt er relativierend an, dass wir „Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbunden sind“ (KrV A819/B847). Diese Rede von der „moralischen Gesinnung“ und davon, dass wir „innerlich verbunden sind“, rechtfertigt nach Schönecker die Schlussfolgerung, dass Kant bereits vor der GMS „klar den Begriff der ‚moralischen Gesinnung‘ im sachlichen Sinne von Achtung“ verwendet und insofern über „einen weitgehend ausgereiften Autonomiebegriff verfügt“ (Schönecker 2005, 134).¹⁵ Schönecker vertritt also, dass Kant schon vor der GMS ein ausgereiftes Autonomieverständnis habe, insofern er bereits zuvor vertrete, dass eine Handlung aus Pflicht „nichts anderes“ sei „als ‚aus Achtung‘ zu handeln“ (Schönecker 2005, 127). Sensen und Kühn hingegen setzen Kants ausgereiftes Autonomieverständnis mit der GMS an, weil sie im Gegensatz zu Schönecker denken, dass sich Kant seitdem nicht mehr auf ein moralisches Gefühl beruft, um den moralischen Motivationsaspekt zu klären. Die unterschiedlichen Stellungnahmen zur kritischen Wende implizieren die eigentlich strittige Frage nach der Relevanz und Funktion des moralischen Gefühls in Kants ausgereiftem Autonomieverständnis.

 Vgl. V-Mo/Kaehler(Stark) 57, 68 f.  „[…] das moralische Gefühl (in der GMS heißt dieses Gefühl dann ‚Achtung‘)“ (Schönecker 2005, 126).  Diese These erscheint mir mit Blick auf den starken methodischen Anspruch einer „kommentarischen“ Interpretation etwas problematisch, weil Kant in der KrV Achtung nicht nennt, Schönecker daher Stellen zur Achtung aus späteren ethischen Schriften heranziehen muss, die kontrovers sind (vgl. Schönecker 2015, 115Anm.23). Darüber hinaus sagt er nicht, was er unter dem „sachlichen Sinne von Achtung“ versteht, obwohl dieser ‚sachliche Sinn von Achtung‘ in besonderem Maße erläuterungsbedürftig ist. Diesen Aspekt kritisiert auch Bojanowski in seiner Buchbesprechung: „Zwischen ‚innerlich verbunden‘ zur ‚Achtung vor dem moralischen Gesetz‘ liegt noch ein Weg analytischer Arbeit, den Schönecker nicht geht.“ (Bojanowski 2009, 406).

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Teil III: Rekonstruktion

1.2 Welche Rolle spielt Achtung in Kants reifer Theorie? Es ist interessant, wie die drei genannten Autoren das Konzept der Achtung fürs Gesetz in ihre Überlegung mit einbeziehen. Da ausgeschlossen ist, dass Achtung als moralisches Gefühl den Status eines principium diiudicationis haben kann, muss es mit dem principium executionis zusammenhängen. Die Frage ist aber, wie sich Kants Konzept der Achtung mit der These vereinbaren lässt, dass dem reifen Kant zufolge allein das Gesetz das principium executionis sei. Diese These vertritt Kant nämlich ausdrücklich in der GMS, der KpV und auch noch in der Tugendlehre, wie hier nochmal durch drei repräsentative Zitate in Erinnerung gerufen werden soll: [Vorausgesetzt wird, dass] die Triebfeder des menschlichen Willens aber (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse (KpV, 5:72), daß der Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt werde. (GMS, 4:419), daß das Gesetz die Pflicht zur Triebfeder macht (MS, 6:218).

Wie im ersten Teil bereits deutlich wurde, lässt sich andererseits nur schwer ignorieren, dass Kant in allen drei Werken auch die Achtung fürs Gesetz und das moralische Gefühl als Theorieelemente behandelt, die er mitunter sogar als moralische Triebfeder, als Gesinnung oder als subjektiven Bestimmungsgrund des guten Willens beschreibt.¹⁶ Die Kant-Interpreten nehmen hierzu unterschiedlich Stellung. Diese Interpretationsvielfalt, die oben bereits in Teil II über die Positionen der Forschung abgebildet wurde, lässt sich anhand der drei genannten Autoren noch einmal sehr gut nachvollziehen. Sensen deutet Achtung in Kants ausgereifter Theorie primär als eine intellektuelle Einstellung und verneint die Relevanz eines (positiven) moralischen Gefühls. Kühn teilt mit Sensen die intellektualistische Linie, indem er Kants Behauptungen über das Gefühl der Achtung wissenschaftlich abwertet. Wohingegen Schönecker Kants Thesen zur Achtung, wie auch Sensen, wissenschaftlich ernst nimmt, indem er dem Gefühlsaspekt der Achtung in Kants ausgereifter Theorie philosophische Relevanz beimisst.¹⁷ Zur

 Vgl. KpV, 5:78, 86; MS, 6:410.  Ich sympathisiere einerseits mit der intellektualistischen Linie von Sensen und Kühn, denke aber, wie Schönecker, dass das Gefühl der Achtung als Gefühl für Kants Konzeption relevant ist, und deute das Gefühl der Achtung daher so, dass es mit der intellektualistischen Deutung vereinbar ist, ohne seine Relevanz einzubüßen (als notwendiges Nebenprodukt).

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Erinnerung werden hier die wichtigsten Merkmale dieser drei Standarddeutungen noch einmal wiedergegeben. Sensen vertritt eine „hybrid view“ (Sensen 2012, 54), also die These, dass eine intellektuelle Anerkennung (Achtung fürs Gesetz) auch einen affektiven Aspekt (moralisches Gefühl) haben kann, der davon aber unterschieden ist.¹⁸ Die Pointe dieser Unterscheidung zwischen einem intellektuellen und einem affektiven Aspekt der Achtung lautet, dass ein Gefühl der Achtung für Kants moralphilosophisches Projekt irrelevant sei, wohingegen eine intellektuelle Achtung fürs Gesetz als moralische Triebfeder in Frage komme.¹⁹ Im Zuge seiner intellektualistischen Deutung der Achtung fürs Gesetz lässt sich an der These festhalten, dass in Kants reifer Theorie das Prinzip der Ausführung auch dem Wesen nach mit dem rein intellektuellen Prinzip der Dijudikation übereinstimmt. Kühns Interpretationsstrategie ist in gewisser Weise noch radikaler, widerspricht der von Sensen aber nicht. Er deutet Kants Verweis auf ein Gefühl der Achtung fürs Gesetz als Symptom der neuen radikalen Gleichsetzung, die Kant in Verlegenheit bringe, zu erläutern, wie ein allgemeines Prinzip zum partikularen Motiv einer Handlung werden könne. Kant bietet Kühn zufolge keine befriedigende Antwort auf diese Frage, sondern, insbesondere in der GMS, Fußnoten,²⁰ in denen Kant lediglich behaupte, dass es ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) gebe, was ebenso „fraglich“ sei wie ein „objektives Vernunftbedürfnis“ (Kühn 2004, 33). Kühn beurteilt diese Behauptungen der Fußnoten aus der GMS als bloße „Symptome ungelöster oder nicht völlig bewältigter Probleme […], die auf Spannungen, Brüche, Dissonanzen verweisen“ (Kühn 2004, 11). Letztlich wertet er sie wissenschaftlich ab und stellt abschließend fest, „daß Kant der Sinnlichkeit als solcher oder dem Gefühl als solchem in der Grundlegung keinerlei Rolle oder Platz in der Moral einräumen möchte“²¹ (Kühn 2004, 15).

 Der affektive Aspekt wird von Sensen bevorzugt als negatives Gefühl gedeutet. Zu dieser ZweiAspekte-Interpretation vgl. Teil II, Kap. 2.2.  „This positive effect is not necessary a felt emotion, but it might be accompanied by one.“ (Sensen 2012, 54).  Vgl. insbes. GMS, 4:401Anm. und 414 f.Anm.  Von einem Gefühl als solchem scheint er Kühn zufolge das Gefühl der Achtung, aber auch Neigung und Interesse abzugrenzen, insofern sie im Sinne einer reinen Metaphysik „von allem empirischen (und nur gefühlsmäßigem) Inhalt befreit werden sollen“ (Kühn 2004, 15). Die These, es gebe ein rein moralisches Gefühl der Achtung, die Kant seit der GMS vertritt, kann aber, wie ich denke, nicht als Abkehr vom Gefühl ausgelegt werden, da Kant auf diese Weise vielmehr transzendentalphilosophisch das Gefühl in seine reife Moraltheorie integriert. Obwohl Kühns Stilanalyse der Fußnotennennung bestechend ist, könnte es auch hierfür einen ernsthaften, sachlichen Grund geben, zum Beispiel den, dass die Fußnote eine philosophische Reflexion auf das

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Teil III: Rekonstruktion

Ganz anders sieht das Schönecker. Er vertritt – wie bereits gezeigt – eine affektivistische Deutung von Kants reifer Moralphilosophie, die impliziert, dass Kant auch in und nach der GMS in gewisser Weise an der Unterscheidung zwischen dem principium diiudicationis und dem principium executionis festgehalten habe. Die affektivistische These besagt, dass das Gefühl der Achtung nach Kant die motivierende Triebfeder sei, und zwar notwendigerweise, weil Menschen als sinnlich-vernünftige Wesen auch gefühlsmäßig betroffen sein müssten, um handlungsmotiviert zu sein. Vor dem Hintergrund dieser These wird geschlussfolgert, dass das principium executionis mit dem moralischen Gefühl übereinstimmen muss. Aber: Das moralische Gefühl der Achtung wird als ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) eingeführt, sodass der Grund für das motivierende Gefühl allein die reine praktische Vernunft sei. Die Unterscheidung zwischen Vernunft und Gefühl lässt sich aufgrund dieser notwendigen Verknüpfung als ein positives Selbstverhältnis verstehen, in dem die Vernunft das principium diiudicationis und executionis bereitstellt. Schöneckers Aufsätzen lässt sich entnehmen, dass er diese Position bereits dem Kant der GMS zuschreibt: So schreibt er schon in der Grundlegung: „Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich […], ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen. (GMS, 460). (Schönecker 2013a, 91).

In einem früheren Text über die Liebe weist Schönecker andererseits auf die besondere Schwierigkeit von Kants Lehre der „Gemüthsanlagen“ (MS, 6:399) aus der Tugendlehre hin. Es handelt sich dabei um eine Lehre, die Kant in der Tugendlehre zum ersten Mal (zumindest unter diesem Titel) formuliert, die außerdem wenig erforscht ist und irritiert, weil sie vier „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ (MS, 6:399) umfasst: „Sie sind das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung)“ (MS, 6:399). Diese Passage stellt die Kontinuität von Kants These über Achtung und das moralische Gefühl in Frage, die er zuvor, in der GMS und auch im dritten Hauptstück der KpV, weder deutlich voneinander unterscheidet noch als „Gemütsanlagen“ bezeichnet und außerdem auch nicht so eng mit der Liebe und dem Gewissen in Verbindung bringt. Schönecker äußert sich 2010 sehr zurückhaltend zu dieser werkgeschichtlichen Frage, nämlich in einer Fußnote: Gefühl der Achtung beinhaltet, wohingegen der Haupttext primär von der gemeinen menschlichen Erfahrung der Achtung handelt.

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Und auch der Frage, ob Kant mit der Theorie von den moralischen Gemütsanlagen seine Achtungstheorie aufgibt oder diese durch jene ersetzt oder ergänzt, ist eine der Fragen, denen wir hier aus Platzgründen nicht nachgehen können. (Schönecker 2010, 135Anm.7).

Ein weiterer Aufsatz über das Gefühl der Achtung im Kontext der ‚Faktum-Lehre‘ erscheint 2013, und hier scheint Schönecker im Vergleich zu der zurückhaltenden Äußerung von 2010 davon auszugehen, dass Kant eine einheitliche Theorie der Achtung zugeschrieben werden kann. Er setzt voraus, dass sich Kants Bemerkung über das „Factum der Vernunft“ (KpV, 5:31) aus der KpV unter Rückgriff auf die Lehre von den moralischen „Gemüthsanlagen (praedispositio)“ (MS, 6:399) aus der Tugendlehre interpretieren lässt. Das „Affiziertsein der moralischen Gemütsanlagen“, nicht nur der Achtung, sei „eine notwendige Bedingung dafür, motiviert zu werden“ (Schönecker 2013a, 92), wie er erklärt.²² Das also hieße, dass Kant seit der GMS davon ausgeht, es brauche ein motivierendes (aber der Vernunft entspringendes) Gefühl als moralische Triebfeder, dass Kant diese These in der KpV dann bestätigt und in der Tugendlehre mit steigender Tendenz beibehält, insofern er dort sogar vier Gefühle annimmt, die jene moralische Motivation ermöglichen.²³

1.3 Vertritt Kant nach der Wende eine einheitliche Theorie der Achtung? Einerseits vertritt Kant seit der GMS ein Konzept der Autonomie, in dem das Gebot und dessen Ausführung demselben Prinzip folgen müssen. Andererseits gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten, dieses Konzept der Autonomie auszulegen. Dies hat der Einblick in die werkgeschichtliche Beurteilung der drei Kant-Interpreten gezeigt. Insbesondere wurde deutlich, dass die These, dass das principium executionis nicht unabhängig von dem principium diiudications verstanden werden darf, verschiedene Schlüsse mit Blick auf Kants Konzept der Achtung erlaubt. Dieser Interpretationsspielraum wird zusätzlich dadurch vergrößert, dass ungewiss ist, ob Kant seit der GMS sein Verständnis von Autonomie als Vermögen, Handlungen nach der eigenen Gesetzgebung zu vollziehen, werkübergreifend  Tatsächlich sagt Kant auch, dass diese Gemütsanlage eine Bedingung dafür sind, „durch Pflichtbegriffe afficirt zu werden“ (MS, 6:399), allerdings ist fraglich, ob „Affiziertsein“ damit gleichbedeutend ist, „motiviert zu werden“ (Schönecker 2013a, 92). Dies muss jedenfalls nicht der Fall sein, insofern Kant an anderer Stelle Autonomie als „Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegursachen unseres Begehrens“ (KpV, 5:117) beschreibt.  Die These lautet, „dass der Mensch kraft ihrer überhaupt erst nur zur Moralität motiviert werden kann“ (Schönecker 2013a, 144).

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Teil III: Rekonstruktion

beibehält oder verändert. Es könnte ja, wenn auch gegen den Anspruch der Interpreten, wahr sein, dass mit Blick auf die GMS Kühn, mit Blick auf die KpV Sensen und mit Blick auf die Tugendlehre Schönecker Recht zu geben ist. Diese Option ist gar nicht so abwegig, wenn man berücksichtigt, wie unterschiedlich Kants Zugang zum Konzept der Achtung in allen drei Werken ausfällt. In der GMS thematisiert Kant das Gefühl der Achtung und Achtung fürs Gesetz in wenigen, dem Charakter nach eher beiläufigen Fußnoten und Anmerkungen, wohingegen er in der KpV ein eigenes Kapitel von knapp 20 Seiten darauf verwendet, zu erläutern, was das Gesetz (negativ und positiv) „im Gemüthe wirkt“ (KpV, 5:72). Auffällig ist insbesondere, dass Kant im Zuge seiner Erläuterung eines negativen und positiven Effekts des Gesetzes auf das Gefühl im Triebfedernkapitel der KpV schreibt: „Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ (KpV, 5:78). Zumindest terminologisch scheint diese Behauptung mit der GMS in Konflikt zu stehen. Den Ausdruck „Triebfeder“ verwendet Kant hier fast ausschließlich in Abgrenzung zu moralischen Bestimmungsgründen des Willens.²⁴ Der moralisch-gute Wille werde „ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt“ (GMS, 4:419). Ansonsten, beim nicht-moralischen Handeln, „bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen hat“ (GMS, 4:444). Der menschliche Wille stehe also „mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege“ (GMS, 4:400). Diesen Scheideweg skizziert Kant als Unterscheidung zwischen der Bestimmung des Willens durch (subjektive) Triebfedern und den (objektiven) Bewegungsgrund: Der subjective Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objective des Wollens der Bewegungsgrund; daher der Unterschied zwischen subjectiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und objectiven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche für jedes vernünftige Wesen gelten. (GMS, 4:427).

Auf dieser terminologischen Grundlage müsste eine moralische Triebfeder, wie sie Kant in der KpV dann diskutiert, in der GMS noch als ‚hölzernes Eisen‘ gelten.²⁵

 Vgl. u. a. GMS, 4:400, 410Anm.2, 419, 427, 432, 444, 461, 439. Eine Ausnahme bildet der Schluss von GMS II, wo es heißt: „Auch haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht, noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Werth geben kann.“ (GMS, 4:440).  „Since an incentive, so understood, is inherently subjective, reflecting an agent‘s contingent desires, there could be no such thing as an incentive to obey the moral law, which as an objective

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Ebenso ließen sich auch Kants Konzepte der Achtung aus der Tugendlehre im Widerspruch zu denen aus der KpV rekonstruieren. Abgesehen von der neuartigen Lehre von den Gemütsanlagen weicht Kant von der These aus der KpV ab, dass Achtung ein Gefühl sei, indem er Achtungspflichten formuliert. Im zweiten Teil des zweiten Buches der Tugendlehre unterscheidet Kant gemäß seiner für die Tugendlehre charakteristischen Distinktion der unvollkommenen und vollkommenen Pflichten von der „Liebespflicht gegen andere Menschen“ (MS, 6:448) die „Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung“ (MS, 6:462). Hierbei handelt es sich um eine „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein Anderer von mir fordern kann (observantia aliis praestanda)“ (MS, 6:462). Entsprechend unterscheidet sich diese Achtung, die Kant ausdrücklich als Maxime von einem Gefühl abgrenzt,²⁶ von der „Achtung (reverentia)“, die ein „Gefühl eigener Art sei“ (MS, 6:402), wie es in der KpV und zuvor in der GMS behandelt wird.²⁷

1.4 Ist die Unterstellung einer einheitlichen Theorie gerechtfertigt? Trotz mancher Unstimmigkeit ist es sinnvoll, Kant eine einheitliche Theorie der Achtung zu unterstellen. Denn die Gründe für die Annahme werkgeschichtlicher Brüche in Kants Darstellung der Achtung seit 1785 sind nicht stark genug, um Zweifel an der systematischen Einheitlichkeit von Kants Schriften zu rechtfertigen. Erstens widerspricht die These gravierender Brüche der naiven Überzeugung, dass einer wie Kant in seinen moralphilosophischen Hauptwerken systematisch eine Idee verfolgt und dieser Idee in ihren wesentlichen Facetten treu bleibt, wenn er nicht grundsätzliche Fehler bemerkt, die er dann aber auch öffentlich zur Rede stellt oder korrigiert. Stellen, in denen Kant darauf aufmerksam macht, dass er sich in einer vorhergehenden Darstellung der Achtung geirrt habe und nun einen neuen

principle of practical reason serves as a motive in the sense of a Bewegungsgrund.“ (Allison 2011, 96). Dagegen betont Timmermann in seinen Kommentar die eine Stelle, in der Kant Achtung als Triebfeder bezeichnet (vgl. GMS, 4:440; Timmermann 2007, 180).  „Die Liebe wird hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch), […] sondern muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohlthun zur Folge hat. Eben dasselbe muß von der gegen Andere zu beweisenden Achtung gesagt werden: daß nämlich nicht blos das Gefühl […], sondern nur eine Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines Anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne (observantia aliis praestanda) verstanden wird“ (MS, 6:449).  Vgl. KpV, 5:74; GMS, 4:401Anm.

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Teil III: Rekonstruktion

Ansatz entwickeln möchte, sind mir nicht bekannt.²⁸ Wenn das nicht der Fall ist, dann kann die Annahme tiefgreifender werkgeschichtlicher Brüche aber dennoch gerechtfertigt sein, nämlich dann, wenn Widersprüche zwischen den verschiedenen Thesen verschiedener Werke auftreten. Dieses Argument ist meines Erachtens aber zu schwach, um den Anspruch auf eine einheitliche Interpretation aufzugeben, weil es nicht so ist, dass die Thesen für sich genommen verständlich wären und nur der werkgeschichtliche Zusammenhang Unklarheit stiftete. Würde Kant, rein hypothetisch, in der Tugendlehre behaupten, dass Achtung die Bezeichnung einer gebotenen Maxime sei und nichts mit moralischen Gefühlen zu tun habe, würde er einen einsichtigen Grund dafür nennen und bestenfalls sich selbst mit Blick auf seine Thesen aus der KpV korrigieren, dann wäre die Rede von einem Bruch klarerweise gerechtfertigt. Das Gegenteil ist aber der Fall: Kant korrigiert sich nicht, seine Thesen, zum Beispiel die aus der Tugendlehre über die Gemütsanlagen und die Achtungspflichten, sind für sich genommen schwer zu verstehen und umstritten, sodass es immer auch am Unverständnis der werkinternen Zusammenhänge liegen kann, wenn werkübergreifende Brüche vermutet werden. Die Argumentationslast liegt, so betrachtet, bei jenen, die denken, dass Kant in der GMS, KpV und MS drei unterschiedliche Theorien der Achtung formuliert. Diese Einschätzung ist zwar nicht zwingend. Es ließe sich auch ein anderer Kant denken, der weniger systematisch und eher in den Tag hinein schreibt, bei dem schon ein Anzeichen für eine neue Perspektive ein wahrscheinliches Anzeichnen für eine neue Theorie wäre. Dieser Kant wäre aber so weit wie möglich entfernt von demjenigen, um dessen Verständnis diese Arbeit bemüht ist. Zweitens ist es nicht überzeugend, die Unstimmigkeiten in Kants Theorie als werkübergreifende Brüche auszulegen. Diejenigen Brüche nämlich, die Anlass zur Unterscheidung von drei unterschiedlichen Theorien der Achtung in der GMS, KpV und MS bieten könnten, stellen sich bei näherem Hinsehen als werkinterne Brüche dar. Es ist daher näherliegend, diese Spannungen, wenn sie häufiger auftreten, als Brüche zu deuten, die für Kants einheitliche Theorie der Achtung charakteristisch sind. Vertritt Kant, um das Beispiel aufzugreifen, in der Tugendlehre die These, dass Achtung (und Liebe) Maximen statt Gefühle sind, wobei er die „Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung“ (MS, 6:462) als vollkommene Pflichten spezifiziert, dann könnte das gegen die KpV und GMS gerichtet sein, in denen Achtung erstens als ein Gefühl und zweitens als ein  Nimmt man beispielsweise an, dass Kant seinen Begründungsentwurf aus der GMS, Moralität aus Freiheit herzuleiten, in der KpV mit der „Faktum“-These ausdrücklich verwirft oder korrigiert (vgl. KpV, 5:42 ff.), warum gibt er dann keinen Hinweis auf eine Korrektur seiner Thesen zur Achtung, falls er sie mit verändert?

1 Kants Theorie der Achtung

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wesentliches Element jeder Art von Pflichtvorstellung beschrieben wird. Neben seiner These von den Achtungspflichten greift Kant aber auch in der Tugendlehre das Gefühl der Achtung und die eine Tugendgesinnung affirmativ wieder auf. Er behauptet erstens mit Blick auf die Maximen der Liebe und der Achtung, „Liebe und Achtung sind die Gefühle, welche die Ausübung dieser Pflichten begleiten“ (MS, 6:448).²⁹ Zweitens vertritt er auch in der Tugendlehre noch, es gebe eine, die Distinktion zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten umfassende „Eine Tugendverpflichtung“: Die „Achtung vor dem Gesetze überhaupt“ sei die „eine tugendhafte Gesinnung als subjectiver Bestimmungsgrund seine Pflicht zu erfüllen“ (MS, 6:410) und „die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung“ (MS, 6:394). Drittens bringt er offenbar die „Achtung vor dem Gesetz“ (MS, 6:403), die er im Abschnitt über die Gemütsanlage als „Achtung (reverentia)“ und als „Gefühl eigener Art“ (MS, 6:402) bestimmt, mit der „schuldige[n] Achtung (observantia debita)“, die „von jedem gefordert werden kann“ (MS, 6:468),³⁰ in Verbindung, indem er schreibt, sie sei „Grund gewisser Pflichten“ (MS, 6:403). Mit der Beschreibung der Tugendgesinnung und des Gefühls der Achtung schließt Kant, nur so viel soll hier deutlich werden, offensichtlich an die Thesen aus seinen vorherigen Werken an. Was ein werkübergreifender Bruch sein könnte, die Beschreibung der Achtung als Maxime einerseits und als Gemütsanlage andererseits in Abgrenzung zur Achtung als einem Gefühl und Bestimmungsgrund der guten Gesinnung, stellt sich bei näherem Hinsehen, wenn überhaupt noch, als ein Bruch innerhalb der Tugendlehre dar. Innerhalb des einen Werks wird behauptet, Achtung sei die eine moralisch-gute Gesinnung, eine Gemütsanlage und ästhetische Vorbedingung der Moralität, eine Maxime der vollkommenen Tugendpflichten gegen Andere und ein Gefühl, das die Ausübung dieser Pflichten begleitet. Die Unklarheit dieser Thesen kann nicht dafür sprechen, dass Kant hier eine neue Theorie entwickelt, da die wichtigen Aspekte aus der KpV und GMS, die Verbindung der Achtung zum Gefühl und zur guten Gesinnung, ohne Einschränkung auch in der Tugendlehre noch zur Geltung kommen. Das Argument lässt sich auch auf den Übergang von der GMS zur KpV anwenden. Ein weiterer Einwand gegen die Kontinuität von Kants Denken könnte

 Vgl. auch MS, 6:436.  „Alle Achtung, zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor dem Gesetz überhaupt (reverere legem), und dieses, nicht aber andere Menschen überhaupt zu verehren (reverentia adversus hominem), oder hierin ihnen etwas zu leisten, ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen Andere, welche als die ihnen ursprünglich schuldige Achtung (observantia debita) von jedem gefordert werden kann.“ (MS, 6:467 f.; vgl. zur Diskussion der schuldigen Achtung Sensen 2012b: „Duties towards Others from Respect (TL: 6:462– 468)“.

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Teil III: Rekonstruktion

aus der unterschiedlichen terminologischen Verwendung des Begriffs „Triebfeder“ folgen. Während Kant den Ausdruck „Triebfeder“ in der GMS fast ausschließlich in Abgrenzung zur moralischen Willensbestimmung verwendet, thematisiert er im dritten Hauptstück der KpV, wie der Titel „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, 5:71) bereits ankündigt, die Triebfeder als Bestimmungsgrund des guten Willens. Dieser terminologische Unterschied ist allerdings nicht tragfähig, um die These zu begründen, dass Kant erst in der KpV und gegen die GMS gerichtet zeigen möchte, dass Achtung die moralische Triebfeder sei. Terminologisch zeigt sich das alleine schon daran, dass Kant bereits in der GMS Achtung als Triebfeder beschreibt.³¹ Außerdem definiert er in der KpV den Begriff der Triebfeder zu Beginn des Kapitels über die Triebfedern der reinen praktischen Vernunft als subjektiven Bestimmungsgrund: Wenn nun unter Triebfeder (elater animi) der subjective Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens verstanden wird, dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Gesetze nothwendig gemäß ist […] (KpV, 5:71 f.).

Bereits in der GMS beschreibt Kant die Achtung fürs Gesetz als den subjektiven Bestimmungsgrund des guten Willens, was der genannten Definition der KpV zufolge gleichbedeutend mit dem Ausdruck „Triebfeder“ ist.³² Abgesehen von der terminologischen Abweichung stimmt diese These aus der GMS, Achtung bestimme den Willen subjektiv, mit der These aus der KpV, Achtung sei die moralische Triebfeder, also überein. Es ist daher wenig glaubwürdig, dass Kant diese These erstmals in der KpV vertrete, und ebenso wenig überzeugend ist es, ihm in der GMS ausschließlich die These zuzuschreiben, dass das Gesetz den Willen bestimme. Denn es gibt mindestens zwei Belege dafür, dass Kant bereits in der GMS die These vertritt, Achtung sei der subjektive Bestimmungsgrund bzw. die Triebfeder des guten Willens.³³

 Vgl. GMS, 4:440. Dies ist allerdings die einzige Stelle, in der Kant Achtung als Triebfeder beschreibt und insofern könnte dagegen noch eingewendet werden, dass ein Beleg kein Beleg ist (insbesondere weil Kant an zahlreichen anderen Stellen Triebfedern von moralischen Bestimmungsgründen abgrenzt).  „[…] also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz“ (GMS, 4:400). Er identifiziert Achtung mit dem moralischen Interesse (vgl. GMS, 4:401Anm.) und schreibt (in Übereinstimmung mit der Definition einer Triebfeder aus der KpV) in einer Fußnote: „Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Principien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken.“ (GMS, 4:413Anm.).  Vgl. GMS, 4:400 und 440.

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Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass sowohl in der GMS als auch in der KpV jeweils für sich genommen unklar ist, ob Kant die Achtung fürs Gesetz oder das Gesetz zum subjektiven Bestimmungsgrund des Willens erklärt. Diesbezüglich lässt sich tatsächlich eine Art Bruch in Kants Beschreibung feststellen, der aber in der Sache auftritt. Dieser Konflikt ist kein werkhistorisches Problem, sondern ein sachliches Interpretationsproblem. Es handelt sich um einen Bruch, der für Kants reife Theorie der Achtung überhaupt, also jeweils für die GMS, die KpV und die MS, charakteristisch ist. Die Probleme sind also solche, die der Sache nach immer wieder in einer ihren Grundzügen nach einheitlichen Schaffensphase auftreten, deren Grundzüge allerdings undeutlich, problematisch und klärungsbedürftig sind.³⁴

1.5 Welche sind die stabilen Thesen in Kants Theorie der Achtung? Dennoch gibt es Zweifel an der Unterstellung einer einheitlichen Theorie des moralischen Gefühls. Angemessener, weil vorsichtiger, könnte es sein, von vornherein überhaupt nur von einheitlichen Thesen zu sprechen, weil uns faktisch keine ausgearbeitete Theorie des moralischen Gefühls von Kant vorliegt, sondern nur Fußnoten, verstreute Kommentare und vereinzelt längere, aber schwer erschließbare Passagen, die entsprechend kontrovers in der Forschung diskutiert werden. Kontrovers ist auch die Bezeichnung des Gegenstandes einer solchen Theorie als moralisches Gefühl der Achtung, weil sie uns mit der Frage konfrontiert, ob in Kants Theorie zwischen Achtung und dem moralischen Gefühl unterschieden werden muss. Unklarheiten dieser Art erzeugen den Verdacht, dass Kant keine klare Position vertritt und seine Meinung von Kontext zu Kontext ändert. Anlass zu dieser Annahme bietet Kant, wenn er Achtung mal als dunkles Gefühl, dann als Triebfeder, dann aber als subjektive Gemütsanlage, als Gefühl, das eine Pflicht begleitet, als Tugendverpflichtung oder als gebotene Maxime beschreibt. Gründe zu dieser Annahme bieten außerdem auch die vielen guten Forschungsbeiträge, die einander nicht selten widersprechen. Dennoch wird Kant in dieser Arbeit eine einheitliche Theorie über das moralische Gefühl der Achtung unterstellt und dies als gerechtfertigt betrachtet. Versteht man unter Theoriebildung, „sich gewisse Prinzipien (die eigentlich das

 Dieselbe Einschätzung vertritt auch Lee, der in seiner entwicklungsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem moralischen Gefühl zu dem Schluss kommt, dass „die Konzeption des moralischen Gefühls in GMS ihre endgültige systematische Stellung angenommen hat“ (Lee 1987, 183).

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ausmachen, was man Theorie nennt) zu sammeln“ (TP, 8:276),³⁵ dann lässt sich Kant aus folgendem Grund eine solche Theorie über das moralische Gefühl zusprechen: Er schreibt zwar nie systematisch im Stil einer Theorie, aber er schreibt über eine lange Zeitspanne hinweg immer wieder auch das Gleiche über diesen Gegenstand. Es gibt eine Schnittmenge der verschiedenen Thesen aus den verschiedenen Jahren, in denen Kant die Achtung und das moralische Gefühl anspricht. Dass es diese stabilen Thesen gibt, die immer wieder bestätigt werden, ist ein klares Anzeichen für eine einheitliche und stabile Theorie. Stabil ist zum Beispiel die These, dass das moralische Gefühl der Achtung ein besonderes Gefühl sei, dass sich von allen pathologischen Gefühlen unterscheide.³⁶ Diese These vertritt Kant mit Blick auf die Achtung und mit Blick auf das moralische Gefühl. Damit verbunden ist die These, dass es sich um ein Gefühl handeln soll, das die moralische Erkenntnis „überhaupt“ (MS, 6:403)³⁷ betrifft, was andeutet, dass es sich um ein reines Element von Kants Ethik handelt. In der GMS wird Achtung in Übereinstimmung damit als „reine Achtung“ (GMS, 4:400) bezeichnet.³⁸ In der KpV vertritt Kant ausdrücklich und mehrfach, dass dieses Gefühl „a priori“ (KpV, 5:72, 73, 74) erkannt werden kann. Außerdem fällt in allen drei Werken auf, dass Kant das moralische Gefühl der Achtung in einer engen Verbindung zum gemeinen Menschenverstand beschreibt, indem er zum Beispiel Kindern als Adressaten einer Moralpädagogik dieses Gefühl zuschreibt.³⁹ Typisch für das moralische Gefühl und das Gefühl der Achtung ist außerdem sein subjektiver Status, der es in eine Nähe zum Gefühl, Wohlgefallen oder Interesse, aber auch zur Maxime, Gesinnung oder Triebfeder stellt.⁴⁰ Diesem subjektiven Status entsprechend betont Kant in allen drei Werken, dass das Gefühl der Achtung keine grundlegende Funktion habe. Es diene weder zur Beurteilung noch zur Begründung moralischer Inhalte.⁴¹ Durchgehend bietet Kant andererseits allerdings Anlass zu der Annahme, dass das moralische Gefühl der Achtung

 An anderen Stellen verwendet Kant allerdings auch einen engen naturwissenschaftlichen Theorie-Begriff (vgl. MS, 6:217). Eine Unterscheidung zwischen empirischer und nicht-empirischer Theorie folgt im nächsten Abschnitt.  Vgl. GMS, 4:401Anm., 4:413 f.Anm.; KpV, 5:75, 80; MS, 6:399.  „[E]r muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können.“ (MS, 6:403).  Zudem identifiziert er Achtung mit dem moralischen Interesse (vgl. GMS, 4:401Anm.), über das es heißt: „Ein unmittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdann an der Handlung, wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein genugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist. Ein solches Interesse ist allein rein.“ (GMS, 4:459 f.Anm.).  Vgl. GMS, 4:410, 396, 403; KpV, 5:154; MS, 6:399 f., 466.  Vgl. GMS 4:401Anm., 459, 460Anm., 413 f.Anm.; KpV, 5:73; MS, 6:399, 402.  Vgl. GMS, 4:459; KpV, 5:76; MS, 6:399, 400, 402.

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eine Funktion habe. Es sei eine subjektive Bedingung, Triebfeder, Bestimmungsart, Grund zu Befolgung und Maximen, dasjenige, was subjektiv den guten Willen bestimme.⁴² Stabil ist außerdem die These, dass es sich bei dem moralischen Gefühl der Achtung um eine moralische Wertschätzung handelt.⁴³ Dieses Gefühl ist also evaluierend auf ein Objekt bezogen, und dieses Objekt der Wertschätzung identifiziert Kant in noch näher zu spezifizierender Weise mit dem Gesetz. Entsprechend bezeichnet er das Gefühl auch als Achtung für das oder vor dem oder gegen das Gesetz.⁴⁴ Der Ursprung des Gefühls ist mit dem Objekt dieser Wertschätzung identisch, und dieser Ursprung ist somit intellektuell und intelligibel, nämlich die Vernunft, das Gesetz oder das Subjekt in seiner transzendental-idealen Bedeutung.⁴⁵ Das moralische Gefühl der Achtung gibt es außerdem nur unter der Voraussetzung von Endlichkeit. Nur Wesen mit einem endlichen Willen, deren Sinnlichkeit affiziert werden kann, empfinden Achtung.⁴⁶ Zudem werden Achtung und das moralische Gefühl als ambivalente Gefühle beschrieben, die einen positiven und einen negativen Gefühlsaspekt beinhalten.⁴⁷ In Übereinstimmung damit behandelt Kant dieses Gefühl auch im Zusammenhang mit dem Gefühl des Erhabenen, das ebenfalls eine negative und eine positive Komponente umfasst.⁴⁸ Diese Übereinstimmungen zeigen Kernthesen an, denen Kant seit der GMS treu bleibt. Sie bieten sich daher als Pfeiler für eine Rekonstruktion von Kants Theorie der Achtung an. Hierzu ist es außerdem wichtig, auch methodisch den eigentümlichen Charakter von Kants Theorie Rechnung zu tragen, denn Kant ist ein Systematiker. Er orientiert sich systematisch an gewissen Leitprinzipien und Argumentationsstrukturen, die zusammengenommen seinen eigentümlichen Ansatz einer Transzendentalphilosophie charakterisieren. Daher wird im nächsten Abschnitt eine systematische Rekonstruktion von Kants Theorie der Achtung angestrebt, die sich an einem Grundmodell seiner transzendentalphilosophischen Argumentationsstruktur orientiert. Auf diese Weise soll nicht nur die Einheitlichkeit, sondern auch die Eigentümlichkeit von Kants Theorie der Achtung hervorgehoben werden.

      

Vgl. GMS, 4:400; KpV, 5:78, 79, 81; MS, 6:399, 400, 403. Vgl. GMS, 4:435, 441, 403; KpV, 5:75; MS, 6:399. Vgl. GMS, 4:400, 401Anm.; KpV, 5:76; MS, 6:403, 410, 464. Vgl. GMS, 4:401Anm.; KpV, 5:73, 75, 76; MS, 6:399. Vgl. GMS, 4:413Anm.; KpV, 5:76, 79; MS, 6:399. Vgl. GMS, 4:401Anm.; KpV, 5:73, 74 f., 77, 80, 80 f.; MS, 6:399. Vgl. GMS, 4:439, 440, 442, 425, 426; KpV, 5:77, 161; MS, 6:435, 436, 437.

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Teil III: Rekonstruktion

2 Kants transzendentalphilosophische Theorie der Achtung Es ist das Ziel dieses zweiten Kapitels, einen Überblick über die Stellung, die verschiedenen Bedeutungen und die Funktion des Gefühls der Achtung im Rahmen von Kants moralphilosophischer Argumentation zu gewinnen. Dabei dient das Interpretationsmodell als systematische Orientierungshilfe, die auch die Struktur des Kapitels vorgibt. Insgesamt lassen sich in dem Modell vier Theorieebenen voneinander unterscheiden. Einleitend wird das Interpretationsmodell skizziert und auf eine Eigentümlichkeit von Kants Moralphilosophie hingewiesen, die seine These von dem Gefühl der Achtung ausschlaggebend prägt (2.1). Achtung wird von Kant nicht nur als ein Gefühl a priori, sondern auch als Repräsentant der Wirklichkeit von Moralität ausgewiesen, was der These geschuldet ist, dass die reine Vernunft durch das Moralgesetz für sich selbst praktisch sein soll. Die Vernunft bringt also nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wirklichkeit moralischer Willensgesinnungen selbst hervor. Entsprechend hat das Gefühl der Achtung die eigentümliche Funktion einer Bedingung a priori der Wirklichkeit einer reinen Vernunftidee. Das 4-Ebenen-Modell der Achtung bestätigt diese eigentümliche Stellung (2.2). Auf der ersten Ebene ist Achtung gleichbedeutend mit der Erfahrung von Moralität des gewöhnlichen Menschen (2.2.1). Es repräsentiert das Faktum der Vernunft. Auf der zweiten Ebene gerät Achtung im Rahmen der eigentlichen Theoriebildung als Bedingung a priori in den Fokus (2.2.2), die, wie auf der dritten Ebene gezeigt wird, die Vernunfttätigkeit phänomenal repräsentiert (2.2.3). Auf der vierten Ebene ist Achtung gleichbedeutend mit einer moralischen Zufriedenheit, die vorphilosophisch einen Zusammenhang zwischen der moralischen Gesinnung und der eigenen Glückseligkeit ankündigt, der in der Lehre von dem höchsten Gut entworfen wird (2.2.4). Abschließend wird auf die Synthese zwischen Vernunft und Gefühl in Kants Ethik hingewiesen und eine Auswertung der Untersuchung mit Blick auf die verschiedenen Positionen der Forschung vorgenommen (2.3).

2.1 Das Interpretationsmodell Kant hat sich in seinen Schriften einer besonderen Wissenschaft gewidmet, die einem System der Vernunft entspricht. Unter Vernunft versteht er „das Vermögen, welches die Principien der Erkenntniß a priori an die Hand giebt“ (KrV, A11/B24). Seine Philosophie folgt der Einsicht, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (KrV, BXIII), und dies gilt nicht nur für die Inhalte, sondern auch für das Verfahren einer Vernunftwissenschaft. Sie folgt

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gewissen Prinzipien und Grundsätzen, die von der Vernunft selber vorgegeben werden. Auf diese Weise entwickelt Kant eine „Philosophie nach ihrem eigenen Plane“ (MS, 6:207), die sich als kritische Metaphysik oder als Transzendentalphilosophie beschreiben lässt. Die Methode, der Kants Überlegungen in allen seinen kritischen Hauptschriften folgt, lässt sich als ein vierschichtiges Argumentationsmodell rekonstruieren.⁴⁹ Dabei nimmt die theoretische Philosophie eine gewisse Vorrangstellung ein, da die KrV die Idee einer Philosophie entwirft und prüft, wobei unter Philosophie ein „System der Vernunfterkenntniß durch Begriffe“ (EEKU, 20:195) verstanden wird.⁵⁰ Das Interpretationsmodell lässt sich daher ursprünglich als ein Modell der theoretischen Philosophie nachvollziehen, das sich aber, mehr oder weniger, auch auf die anderen Bereiche der Philosophie übertragen lässt. Der Ausgangspunkt von Kants Philosophie ist immer eine Art Faktum der Erfahrung, also eine Überzeugung, die ihrerseits nicht erst argumentativ begründet wird. Dieses Faktum der Erfahrung entspricht basalen Erkenntnisurteilen, die der gesunde Menschenverstand des gewöhnlichen Menschen fällt. Der gewöhnliche Menschenverstand urteilt, dass es empirisch wahre Erkenntnis gibt, er erfährt die moralische Nötigung eines unbedingt geltenden Imperativs und er macht die ästhetische Erfahrung, dass etwas schön ist. Diese basalen Erkenntnisurteile setzt Kant in seiner Philosophie voraus. Sein Anspruch ist nicht darauf gerichtet, den Skeptiker zu widerlegen, der diese Grundannahmen in Frage stellt. Stattdessen akzeptiert er diese Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes als Ausgangspunkt seiner Theorie und beansprucht im weiteren Verlauf der Theoriebildung, die Möglichkeit dieser Erfahrungsurteile transzendentalphilosophisch zu fundieren. Die erste Ebene der Theoriebildung entspricht somit den basalen Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes.⁵¹ Ausgehend von dieser Ebene der Erfahrungsurteile über das empirisch Wahre, das moralisch Gute oder das ästhetisch Schöne wird auf der zweiten Theorieebene eine Reflexion vorgenommen, die transzendentalphilosophisch ist, insofern sie nach den prinzipiellen Bedingungen der Möglichkeit dieser Erfah-

 Die Rekonstruktion dieses Modells orientiert sich an methodischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu Kants philosophischem Wissenschaftsverständnis von Prauss und Ameriks (vgl. Prauss 1974, 69 – 86 und Ameriks 2003, 1– 10 und 2000b, 61).  Die KrV sei von dem System der Philosophie dadurch unterschieden, dass sie „eine philosophische Untersuchung der Möglichkeit einer dergleichen Erkenntniß enthält, aber nicht als Theil zu einem solchen System gehört, sondern so gar die Idee desselben allererst entwirft und prüfet“ (EEKU, 20:195).  Vgl. zur Voraussetzung basaler Erfahrungsurteile Ameriks 2003, 7– 12 und Timmermann 2007, 12.

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rung fragt. Auf dieser zweiten Ebene sollen die Erfahrungsurteile in ihrem reinen Gehalt betrachtet werden, also geht es um jene Begriffe von Bedingungen a priori, die den basalen Erfahrungsurteilen zwar zugrunde liegen, die selber aber unabhängig von aller Erfahrung gelten. Die reinen Grundbestandteile der komplexen Erfahrungsurteile, zum Beispiel die Verstandesbegriffe und Anschauungsformen oder das reine Moralgesetz, werden von allem empirischen Gehalt und voneinander isoliert. Kant zieht für dieses Verfahren der Isolierung gerne das Beispiel des Chemikers heran, der alle empirischen Elemente von den wesentlichen nichtempirischen Elementen trennt.⁵² Auf diese Weise werden argumentativ in hierarchischer Abfolge die allgemeinen Bestandteile der Erfahrung hergeleitet. Diese Tiefenstruktur der Erfahrungsurteile des gewöhnlichen Menschen wird analytisch erarbeitet. Die Grundbestandteile werden im Verhältnis zum komplexen Erfahrungsurteil also wie Teile im Verhältnis zum Ganzen betrachtet. Zudem wird mithilfe von einzelnen Deduktionen die Frage geklärt, wie synthetische Urteile a priori möglich sind. Des Weiteren wird die Begründungsrichtung im Rahmen der Theoriebildung auf der zweiten Ebene umgekehrt, indem ausgehend von den grundlegenden Vermögen gefragt wird, wie sie als Ursache der komplexen Erfahrung gedacht werden können. Die zugrundeliegenden Vermögen werden dann als Ursache und das Zustandekommen der komplexen Zusammenhänge als Folge einer synthetischen Verbindung der Grundbestandteile untersucht.⁵³ Die analytische Begründungsrichtung lässt sich in Anlehnung an eine Bemerkung von Kant zur transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe auch als ein objektiver Nachweis ‚von oben‘ beschreiben. Ein subjektiver Nachweis ‚von unten‘ entspricht hingegen einer synthetischen Herleitung, in der ausgehend von den Erkenntnisvermögen gefragt wird, wie die komplexe Erfahrung zustande kommen kann.⁵⁴ Der analytische Nachweis ‚von oben‘ zeigt die Zusammensetzung der komplexen Erfahrung und zielt auf den Nachweis der Notwendigkeit der prinzipiellen Bedingungen ab. Der synthetische Nachweis ‚von unten‘ dient dem

 „Es ist von der äußersten Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und Ursprunge nach von andern unterschieden sind, zu isolieren […]. Was Chemiker beim Scheiden der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Größenlehre tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob“ (KrV, A842/B870). Vgl. KpV, 5:92.  Entsprechend schreibt Kant über die synthetische und analytische Verknüpfung: „Zwei in einem Begriffe nothwendig verbundene Bestimmungen müssen als Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder so, daß diese Einheit als analytisch (logische Verknüpfung) oder als synthetisch (reale Verbindung), jene nach dem Gesetze der Identität, diese der Causalität betrachtet wird.“ (KpV, 5:111).  Vgl. KrV, AXVI und Henrich 1969, 643.

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Verständnis des Zustandekommens der Erfahrung und zeigt die Wirklichkeit der zentralen Begriffe auf.⁵⁵ Auf einer dritten Ebene entfaltet Kant die Lehre des transzendentalen Idealismus, die speziell den Umfang und die Grenzen der Theoriebildung der zweiten Ebene genauer bestimmt. Diese Lehre lässt sich auch als kritische Metaphysik beschreiben, die mit Blick auf die empirische Erfahrung fragt, wie sich Vorstellungen a priori auf Gegenstände beziehen können. Kants Antwort ist erkenntniskritisch, insofern sie auf der transzendentalphilosophischen Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich aufbaut. Seine Antwort besagt: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ (KrV, A111). Entsprechend können wir über die Gegenstände nur aussagen, wie sie uns transzendentalphilosophisch erscheinen. Alle sachhaltig darüber hinausgehenden Aussagen von den Gegenständen, wie sie als Ding an sich selbst betrachtet existieren, sind erkenntnistheoretisch ungerechtfertigt und im Sinne einer kritischen Metaphysik verboten. Allerdings ist auch die Tatsache, dass die Gegenstände als Ding an sich selbst gedacht werden können, eine weitere Bedingung der Existenz der Gegenstände, insofern sie auch nach Kant empirisch real sind und nicht nur rein ideal existieren. Auf diese Weise unterscheidet er subjektive Bedingungen der Erkenntnis der Gegenstände und eine subjektunabhängige Bedingung ihrer Wirklichkeit, über die sich nichts weiter aussagen lässt, da ansonsten die Grenze der theoretischen Philosophie überschritten wäre. Diese dritte Ebene der Theoriebildung lässt sich als eine Metareflexion auf die Deduktion synthetischer Urteile a priori der zweiten Ebene verstehen. Auf der dritten Ebene wird nicht bloß wiederholt, was auf der zweiten Ebene ausgesagt wurde. Die dritte Ebene erweitert die Theorie systematisch, indem sie die Aussagen der Theorie über synthetische Urteile a priori auf die Erfahrung bezieht. Der Ausdruck „Erscheinung“ zum Beispiel hat als transzendentalphilosophischer Fachausdruck eine ganz andere Bedeutung als „Erscheinung“ im empirischen

 In der GMS beabsichtigt Kant, eine analytische und synthetische Methode anzuwenden, wie er gegen Ende der Vorrede ankündigt: „Ich habe meine Methode in dieser Schrift so genommen, wie ich glaube, daß sie die schicklichste sei, wenn man vom gemeinen Erkenntnisse zur Bestimmung des obersten Princips desselben analytisch und wiederum zurück von der Prüfung dieses Princips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntniß, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will“ (GMS, 4:392). Entsprechend bemerkt er am Ende von GMS II, nachdem die Begriffsanalyse abgeschlossen und ein besseres Verständnis des obersten Prinzips der Moral erlangt worden ist, dass der Nachweis, dass Sittlichkeit „kein Hirngespinst sei“, also ein Nachweis der Wirklichkeit, „einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft“ (GMS, 4:446) erfordert.

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Sinn, wie Kant am Beispiel einer Rose erläutert.⁵⁶ Eine Rose kann uns, im empirischen Sinne, zum Beispiel rot erscheinen. Wird von der Rose hingegen ausgesagt, dass sie eine Erscheinung im transzendentalphilosophischen Sinne ist, dann wird damit etwas Nicht-Empirisches über etwas Empirisches ausgesagt, nämlich dass ein empirisches Ding wie die Rose transzendentalphilosophisch subjektabhängig und in diesem Sinne eine „Erscheinung“ ist.⁵⁷ Auf der vorherigen Ebene wird hingegen Nicht-Empirisches über Nicht-Empirisches ausgesagt, indem die reinen isolierten Grundbestandteile der Erfahrung hergeleitet und begründet werden. Erst auf der dritten Ebene kommt nach dieser Rekonstruktion die eigentümliche Intention einer Transzendentalphilosophie, Nicht-Empirisches über Empirisches aussagen zu wollen, systematisch zu ihrem Abschluss.⁵⁸ Die drei genannten Theorieebenen bilden dem Anspruch nach eine streng wissenschaftliche Argumentationsstruktur, in der die Ausgangserfahrung durch ein „System der Kritik“ (KpV, 5:8) legitimiert werden soll. Zu diesem System gehören drei Aufgaben, nämlich erstens die Anzeige der Möglichkeit, der Quellen oder Bedingungen a priori, zweitens die Deduktion der Prinzipien oder Inhalte der Erkenntnisvermögen in ihrem eingegrenzten Umfang und drittens die Bestimmung der Grenzen und des Umfangs der Erkenntnisse a priori. Dies betont Kant im theoretischen sowie im praktischen Kontext seiner Philosophie.⁵⁹

 „Denn in diesem Fall gilt das, was ursprünglich [philosophisch] selbst nur Erscheinung ist, z. B. eine Rose, im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst, welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders [empirisch] erscheinen kann. Dagegen ist der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raume eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre“ (KrV, A29 f./B45). Kant führt später noch den Regen und Regenbogen als Beispiel für Erscheinung und Ding an sich in empirischer Bedeutung an (vgl. KrV, A46/B63). Als weiteres Beispiel ließe sich auch ein Tisch denken, der (an sich) rechteckig ist, aber perspektivisch bedingt trapezförmig erscheint.  „Was gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhältnis desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung“ (KrV, B70Anm.).  Vgl. Prauss 1974, 69 – 86.  „Auf diese Weise wären denn nunmehr die Principien a priori zweier Vermögen des Gemüths, des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens, ausgemittelt, und nach den Bedingungen, dem Umfang und Grenzen ihres Gebrauchs, bestimmt, hierdurch aber zu einer systematischen, theoretischen sowohl als praktischen Philosophie als Wissenschaft sicherer Grund gelegt.“ (KpV, 5:12). Sein Anliegen sei eine „Kritik der praktischen Vernunft überhaupt, die nur die Principien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur angeben soll“ (KpV, 5:8) Dabei gehe um die „Bestimmung eines besonderen Vermögens der menschlichen Seele nach seinen Quellen, Inhalte und Grenzen“ (KpV, 5:10). In der Einleitung zur B-Auflage der KrV lautet der Titel eines Unterabschnitts: „Die Philosophie bedarf

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Zusätzlich zu dieser dreistufigen Struktur einer geschlossenen Argumentation lässt sich noch eine vierte, abgesonderte Ebene der Argumentation rekonstruieren, in der menschliche Autonomie auf eine umfassende Weise verteidigt wird. Diese vierte Ebene setzt die abgeschlossene philosophische Theoriebildung voraus, erweitert sie aber zum Zweck der Verteidigung. Zum Beispiel lässt sich auf dieser vierten Ebene Autonomie auch methodologisch verteidigen, indem man ästhetisch oder wissenschaftstheoretisch darauf aufmerksam macht, dass Kants Argumentation als eine „Philosophie nach ihrem eigenen Plane“ (MS, 6:207) entworfen wird. Auf dieser vierten Ebene lässt sich auch die Postulaten-Lehre aus der KpV einordnen, weil der Glaube an Gott und die Unsterblichkeit der Seele zwar auf reinen Vernunftgründen beruhen soll, weil ihm andererseits aber nur eine „subjective Nothwendigkeit (Bedürfniß der reinen Vernunft) sie anzunehmen“ (KpV, 5:4) zukommt, die sich von einer objektiven Notwendigkeit der streng wissenschaftlichen Argumentation unterscheidet. Der von Kant so genannte „Vernunftglaube“ (KpV, 5:126) baut zwar auf die vorhergehenden Ebenen auf, er entspricht aber einer praktischen Erweiterung ihrer Grenzen, die zugleich der Verteidigung der vorhergehenden Ebenen der Theoriebildung dient. Insgesamt lassen sich somit vier Ebenen in Kants Untersuchung unterscheiden: 1. 2.

3. 4.

Erfahrungsurteile (Bedingungen ausgehend von den Erfahrungsurteilen analytisch isolieren) Transzendentale Deduktionen (Bedingungen ausgehend von den Erkenntnisvermögen synthetisch verbinden) Transzendentaler Idealismus Verteidigung von Autonomie

Dieses vierstufige Modell legt Ameriks der Interpretation aller drei Kritiken zugrunde.⁶⁰ Im Folgenden werde ich anhand dieses Modells Kants praktische Phi-

einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit, die Principien und den Umfang aller Erkenntnisse a priori bestimme“ (KrV, B6).  „1. a starting point in common experience (E); 2. a transcendental derivation (TD) from this of various pure forms, categories, or principles; 3. an ultimate metaphysical account of all this in turn as making sense only on the basis of transcendental idealism (TI); and, finally, 4. a guiding idea and concluding argument that these first three steps are the essential prerequisites for vindicating the ultimate goal of human autonomy (AUT), in various key practical and methodological as well as theoretical senses. (In schematic form: E only if TD, and this only if TI; and then, given E and TD, AUT also only if TI.)“ (Ameriks 2003, 5).

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losophie mit besonderer Berücksichtigung des moralischen Gefühls der Achtung näher betrachten. Die These wird lauten, dass dem Gefühl der Achtung auf allen vier Ebenen eine notwendige Funktion zugeschrieben werden kann. Dabei ist allerdings zentral, dass das Gefühl der Achtung seine jeweilige Funktion immer nur als ein randständiges Element von Kants Moralphilosophie erfüllt. In dem Modell tritt es nämlich einerseits als Repräsentant der Wirklichkeit der moralischen Gesinnung auf der ersten und dritten Ebene auf, aber zugleich handelt es sich um eine Bedingung a priori derselben Gesinnung, die auf der zweiten Ebene untersucht wird. Der tiefere Grund für diese eigenartige Doppelfunktion liegt in einer Besonderheit von Kants praktischer Philosophie im Unterschied zur theoretischen Philosophie begründet. In beiden Disziplinen geht es zwar um eine Wissenschaft der reinen Vernunft und um Prinzipien a priori, allerdings wird in der theoretischen Philosophie untersucht, wie es a priori möglich ist, dass sich die reine Vernunft in ihrem Gebrauch erkenntnistheoretisch auf Gegenstände bezieht, wohingegen die reine praktische Vernunft stattdessen als Grund einer unbedingten Willensbestimmung untersucht werden soll. Im Zentrum der moralphilosophischen Schriften steht also der praktische Gebrauch der reinen Vernunft. Einleitend in die KpV weist Kant darauf hin, dass sich der theoretische Gebrauch der Vernunft „mit Gegenständen des bloßen Erkenntnißvermögens“, der praktische hingegen „mit Bestimmungsgründen des Willens“ (KpV, 5:15) beschäftigt. Unter „Wille“ versteht er dabei das Vermögen, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben […], d.i. seine Causalität zu bestimmen“ (KpV, 5:15). In der Analytik der KpV beansprucht Kant dann zu zeigen, dass die reine Vernunft allein „unbedingterweise praktisch“ (KpV, 5:15) sein kann, indem sie den Willen durch ein rein formales Prinzip bestimmt. Die zweite Kritik ist daher, wie er in der Vorrede klarstellt, nicht auf das Vermögen der reinen Vernunft, sondern auf die empirisch-bedingte praktische Vernunft gerichtet, die einen Hang zu dem dogmatischen Anspruch hat, dass sie allein praktisch sei.⁶¹ Die Kritik der praktischen Vernunft richtet sich daher gegen ein einseitiges empiristisches Verständnis der praktischen Vernunft. Die reine praktische Vernunft bedarf Kant zufolge keiner Kritik, weil sie „selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält“, nämlich das Moralgesetz, dessen Gebrauch „immanent“ (KpV, 5:16) sei. Mit anderen Worten

 „Die Kritik der praktischen Vernunft überhaupt hat also die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.“ (KpV, 5:16).

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kann sich die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch nur innerhalb des reinen Prinzips verwirklichen, weil sie in ihrem praktischen Gebrauch auf die Realisierung dieses Prinzips ausgerichtet ist. Der Grund liegt also erneut darin, dass der normative Maßstab der reinen Vernunft zugleich der Maßstab ihrer Realisierung ist. Das bedeutet umgekehrt, dass die Wirklichkeit einer moralischen Gesinnung auch nur nach der Maßgabe des reinen Prinzips hervorgebracht werden kann. Die Bedingungen a priori der Möglichkeit moralischer Erfahrung sind also zugleich auch die Bedingungen der Wirklichkeit dieser Erfahrung. Während die erste Kritik den Gebrauch der Vernunft auf die Erfahrung beschränken muss, richtet sich die zweite Kritik umgekehrt gegen einen exklusiven empirischen Gebrauch der Vernunft.⁶² Einen weiteren Unterschied zur theoretischen Philosophie hebt Kant hervor, indem er in der KrV von dem Moralischen aussagt, dass es „der transzendentalen Philosophie fremd ist“ (KrV, A801/B829), wobei er dort unter Transzendentalphilosophie die Wissenschaft von Erkenntnissen a priori versteht. Alle praktischen Begriffe seien hingegen „wenigstens indirekt, auf Gegenstände unseres Gefühls“ (KrV, A801/B829Anm.) bezogen. Denn Begriffe der Lust und Unlust, die empirischen Ursprungs sind, werde er „notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen“, weil sie „im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll“ (KrV, B29), enthalten sind. Daher behauptet er einerseits sehr streng, dass „die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft“ (KrV, B29) sei. Andererseits lässt sich die Abgrenzung der praktischen Philosophie aber auch relativieren. Denn das Gefühl, auf das Kant im Triebfedernkapitel der KpV direkt Bezug nimmt, bestimmt er als ein Gefühl a priori, das nicht empirischen Ursprungs ist.⁶³ Außerdem folgert er aus der indirekten Beteiligung der Sinnlichkeit im Pflichtbegriff nur, dass deswegen „Behutsamkeit“ (KrV, A801/B829) erfordert sei. Die Philosophie der Sittlichkeit lässt sich insofern als eine erweiterte Transzendentalphilosophie⁶⁴ beschreiben, in der Kant beabsichtigt, dass er sich „so nahe als möglich am Transzendentalen halte, und

 „Während die Kritik der reinen Vernunft die Möglichkeit der Erkenntnis auf Erfahrung begrenzt und sich somit gegen einen Gebrauch der Vernunft nur aufgrund ihrer selbst richtet, will die Kritik der Vernunft in ihrer praktischen Gestalt gerade ihren empirisch bedingten Gebrauch treffen. Die Titel der beiden Werke sind also nicht einfach analog, sondern eher gegenseitig zu lesen.“ (Henrich 1982, 12).  Vgl. KpV, 5:73.  Vgl. Förster über die „Erweiterung des Begriffs der Transzendentalphilosophie“ (Förster 2015, 2322– 2323).

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das, was etwa hiebei psychologisch, d.i. empirisch sein möchte, gänzlich bei Seite setze“ (KrV, A801/B829). Die Tatsache, dass die Ästhetik in der zweiten Kritik nicht zu Beginn der Analytik steht, sondern der letzte Teil derselben ist, folgt ebenfalls aus der Besonderheit, dass reine Vernunft nach Kant für sich selbst praktisch ist. Die reine Vernunft ist in ihrem praktischen Gebrauch nicht darauf angewiesen, dass der Bezug auf einen Gegenstand durch Anschauung möglich gemacht wird, da sie auch den sinnlichen Aspekt der Willensbestimmung, nämlich das Gefühl der Achtung, selbst hervorbringen kann. Diese Hervorbringung des Gefühls der Achtung ist selber noch Teil des immanenten Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft. Dies schlägt sich auf eine Besonderheit der Annahme des Gefühls der Achtung nieder, die sich am besagten Interpretationsmodell nachvollziehen lässt. In der Ästhetik der KpV leistet Kant mit Blick auf das Gefühl der Achtung, was im Interpretationsmodell der zweiten Theorieebene entspricht. Er leitet das Gefühl der Achtung als ein Element a priori her und formuliert in Ansätzen eine Deduktion dieses Gefühls, wie ich unten im Abschnitt zur synthetischen Methode auf der zweiten Ebene zeigen werde. Insofern es sich bei dem positiven Gefühl der Achtung um ein Gefühl handelt, „das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird“ (KpV, 5:73), kommt der Achtung eine die Erfahrung der moralischen Willensbestimmung mitkonstituierende Funktion zu. Andererseits ist dieses Gefühl ein Anzeichen dafür, dass die Vernunft nicht nur sich selbst das Prinzip gibt, sondern auch noch selbst die Triebfeder zur moralisch-guten Handlung ist, sodass es sich bei dem Gefühl der Achtung um ein Anzeichen dafür handelt, dass reine praktische Vernunft in einem starken, nämlich in einem legislativen und exekutiven Sinne, für sich selbst praktisch ist.⁶⁵ Mit anderen Worten konstituiert das Gefühl der Achtung nicht, wie die Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erkenntnis, die Möglichkeit der praktischen Erkenntnis, sondern es ist eine hinreichende Bedingung a priori der Wirklichkeit einer moralischen Willensgesinnung. Damit nimmt Achtung als Gefühl a priori eine randständige konstituierende Funktion ein, wie es sie überhaupt nur in Kants Moralphilosophie geben kann. Denn nur in Kants Moralphilosophie beruht die in diesem Fall praktische Erkenntnis allein auf Bedingungen a priori und nicht auch noch auf einer Bedingung der Wirklichkeit dieser Erkenntnis, die nicht dem Subjekt entspringt.

 Denn Kant setzt, wie bereits gesehen, im Triebfedernkapitel der KpV voraus, dass „die Triebfeder des menschlichen Willens aber (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse“ (KpV, 5:72).

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Dies zeigt sich auch daran, dass Achtung nicht nur, wie speziell in der Ästhetik der KpV, als ein Gefühl a priori untersucht wird. Der Lektüreeindruck der GMS erweckt einen anderen Eindruck. Die Struktur dieses Werks stimmt weitgehend mit der Struktur des Interpretationsmodells überein. Denn die Überschriften der drei Abschnitte kündigen schrittweise die Übergänge von der „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ zur „Metaphysik der Sitten“ und von dort aus zur „Kritik“ an.⁶⁶ Das Gefühl der Achtung wird im ersten Abschnitt eingeführt und repräsentiert dort die moralische Erfahrung des gemeinen Menschen.⁶⁷ Im zweiten Abschnitt stehen das Moralprinzip und dessen Formulierungen im Zentrum, und Achtung wird nicht mehr eigens thematisiert, wenn auch weiterhin genannt.⁶⁸ Allerdings scheint im dritten Abschnitt der Ausgangspunkt der gemeinen Erfahrung wieder aufgegriffen zu werden, wenn Kant problematisiert, ob und wie wir erkennen können, dass die Vernunft eine repräsentative Wirkung auf die Sinnlichkeit ausübt.⁶⁹ Dieses Auftreten legt den Eindruck nahe, dass das Gefühl der Achtung primär ein Element der ersten und entsprechend der dritten Ebene ist. Andererseits thematisiert Kant das Gefühl der Achtung in der KpV als ein reines Element a priori und somit als einen Bestandteil der zweiten Theorieebene. Entsprechend lässt sich annehmen, dass er das Gefühl der Achtung auch dedu-

 „Erster Abschnitt: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß zur philosophischen“ (GMS, 4:393); „Zweiter Abschnitt: Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten“ (GMS, 4:406); „Dritter Abschnitt: Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft“ (GMS, 4:446). Vgl. zur Methode GMS, 4:392. „There [in der Ethik], too, one finds, for example in the three-part-structure of the Groundwork, an initial exposition of what is taken to be the set of common or ‘popular’ examples of moral judgment, followed by a regressive argument for underlying pure principles, and then a concluding reference to at least the outline of a unified metaphysics that would anchor these principles in Kant‘s general system.“ (Ameriks 2000b, 62).  Vgl. GMS, 4:400, 401Anm., 403.  Am häufigsten wird Achtung im Zusammenhang mit der objektiven Geltung des Kategorischen Imperativs genannt (vgl. GMS, 4:407, 408, 424, 436, 439, 440). Einmal spricht Kant von einer „schuldigen Achtung“ (GMS, 4:426); an zwei weiteren Stellen identifiziert er den Gegenstand der Achtung mit dem Willen, der die Handlungen „ausübt“ (GMS, 4:435), d. h. mit der moralisch eingeschränkten „Willkür“ (GMS, 4:428).Wenn Kant gegen Ende schreibt, „[a]uch haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Werth geben kann“ (GMS, 4:440), dann meint er damit den ersten Abschnitt.  Vgl. „Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt“ (GMS, 4:448 ff.) und „Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ (GMS, 4:455 ff.). Achtung wird im dritten Abschnitt nicht wörtlich genannt, sondern als moralisches Interesse und Wohlgefallen aufgegriffen.

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zieren muss. Dabei ist es als Element der reinen Sinnlichkeit dasjenige formale Element, das in der transzendentalen Argumentationskette analytisch zuerst und synthetisch zuletzt hergeleitet wird, insofern es der komplexen Erfahrung auf der ersten und dritten Ebene am nächsten steht.⁷⁰ Insofern handelt es sich um ein randständiges Element in Kants Theorie der reinen Grundbestandteile moralischer Erfahrung. Doch zugleich muss von diesem reinen Element auch ausgesagt werden, dass es die moralische Erfahrung repräsentiert, weil es von Kant auf der ersten und dritten Theorieebene eingeführt und behandelt wird. Die Zuordnung zur zweiten Ebene ersetzt oder wiederlegt nicht die andere Einschätzung, dass Achtung den Ausgangspunkt und Endpunkt der philosophischen Reflexion repräsentiert. Das Gefühl der Achtung erfüllt eine Doppelrolle, indem es die moralische Erfahrung repräsentiert und zugleich als Gefühl a priori mitkonstituiert.⁷¹ Diese Doppelrolle der Achtung ist eine bemerkenswerte und der Kantischen Moralphilosophie eigentümliche Besonderheit. Denn die Doppelrolle kommt der Achtung nur darum zu, weil „die praktischen Begriffe a priori in Beziehung auf das oberste Princip der Freiheit sogleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen, und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen“ (KpV, 5:66). Diesen „merkwürdigen Grund“ spiegelt das Gefühl der Achtung als merkwürdiges Theorieelement wieder. Es kann als ein reines Element a priori doch zugleich Repräsentant der Wirklichkeit sein. Das kann nur darum der Fall sein, weil in Kants Moralphilosophie, anders als in Kants theoretischer Philosophie, die notwendigen Bedingungen, die zusammengenommen die Möglichkeit der Erfahrung konstituieren, zugleich auch hinreichend für die Verwirklichung dieser Möglichkeit sind. Die Existenz der empirischen Gegenstände hängt im Fall der empirischen Erfahrung nicht allein vom Subjekt ab. In dem Vokabular der Forschung ausgedrückt ist noch ein An-sichAspekt als hinreichende Bedingung der empirischen Wirklichkeit erforderlich, der einen kontingenten Aspekt der empirischen Wirklichkeit beschreibt. Die moralische Wirklichkeit ist hingegen nicht nur ihrer Möglichkeit, sondern auch ihrer

 „[I]n the order of moral experience reverence may be primary, but it comes after the recognition of law in the order of rational knowledge of morality“ (Łuków 1993, 217).  Auch Ameriks problematisiert diese besondere Doppelfunktion: „The interpretative problem here is that, if Kant‘s special notion of respect is not simply an odd and arbitrary speculative invention – as Kuehn sometimes suggests – but is ultimately rooted – as Kant insists – in commonsense feelings accessible to any ordinary person, then it can be difficult to see how this notion could have all the remarkable non-empirical implications that Kant attaches to it.“ (Ameriks 2010, 31).

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Wirklichkeit nach vollständig auf das transzendentale Subjekt zurückzuführen.⁷² So wie der An-sich-Aspekt in Kants theoretischer Philosophie die Wirklichkeit empirischer Gegenstände repräsentiert, so repräsentiert das Gefühl der Achtung, allerdings als Erscheinungs-Aspekt, die Wirklichkeit der moralischen Erfahrung. Das Gefühl der Achtung hat in dieser Überlegung einen sonderbaren Status, weil es sich erkenntnistheoretisch um einen Erscheinungs-Aspekt und ontologisch zugleich um einen An-sich-Aspekt der moralischen Willensbestimmung handelt. Einerseits nimmt man also an, dass Achtung erfahrungskonstituierend ist (zweite Ebene), andererseits nimmt man an, dass es diese Erfahrung repräsentiert (erste und dritte Ebene). Das ist merkwürdig, weil die konstituierende Funktion zu implizieren scheint, dass Achtung der Erfahrung zugrunde liegt, wohingegen die repräsentierende Funktion nahelegt, dass die Erfahrung der Achtung zugrunde liegt. Diese doppelte Stellung charakterisiert das Gefühl der Achtung als ein Element, das notwendig angenommen werden muss und rein ist, das aber andererseits eine randständige Stellung in der Theorie einnimmt, weil es nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wirklichkeit der Willensbestimmung repräsentiert. Mit anderen Worten handelt es sich bei dem Gefühl der Achtung um ein notwendiges Randphänomen der moralischen Willensbestimmung. Mit Blick auf diese eigentümliche Stellung lässt sich erneut nachvollziehen, warum sowohl eine affektivistische als auch die intellektualistische Position unbefriedigend ist. Affektivisten sind nämlich der Auffassung, dass eine moralisch-gute Willensgesinnung nur dadurch möglich ist, dass die Vernunft ein Gefühl bewirkt, das den Menschen zur Verwirklichung von Moralität motiviert. Insofern deuten sie das Gefühl der Achtung als eine Bedingung der Möglichkeit einer moralisch-guten Willensgesinnung. Ihnen zufolge ist die Vernunft nicht in der Lage, die Wirklichkeit von Moralität selbst hervorzubringen, weil Menschen immer auch durch Gefühle zum Handeln motiviert sein müssen. Ohne Gefühl könnte es ihnen zufolge nur die Erkenntnis der Pflicht, aber keine Handlung aus Pflicht geben. Dies widerspricht der Annahme, dass das Gefühl der Achtung die Funktion hat, die moralisch-gute Willensbestimmung zu repräsentieren, weil diese repräsentierende Funktion voraussetzt, dass Achtung eine Wirkung der vorhergehenden Willensbestimmung durch die Vernunft ist. Affektivisten deuten das Gefühl der Achtung stattdessen als eine motivationale Grundlage der Willensbestimmung. Auf diese Weise überschätzen sie die Rolle der Achtung und übersehen, dass dieses Gefühl in Kants Ethik nur eine randständige Funktion einnimmt.

 Vgl. KpV, 5:66.

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Andererseits wird die intellektualistische Position der eigentümlichen Stellung des Gefühls in Kants Ethik nicht gerecht. Denn Intellektualisten widersprechen der Annahme, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung um ein notwendiges Element von Kants Ethik handelt. Aus der Tatsache, dass die Willensbestimmung motivational allein durch die Vernunft bewerkstelligt werden muss, schließen sie auf die Annahme, dass das Gefühl der Achtung unwichtig sei. Sie übersehen, dass Achtung, auch wenn es nicht motivational notwendig ist, dennoch notwendig sein kann, um die partikulare Wirklichkeit der moralisch-guten Gesinnung phänomenal zu repräsentieren. Diese phänomenale Bedeutung der Achtung wird auch von solchen Intellektualisten geleugnet, die Achtung als eine rein intellektuelle Einstellung deuten. Ihrer Auffassung nach handelt es sich bei der Achtung nicht um ein Gefühl a priori, das die Sinnlichkeit in der reinen Moraltheorie repräsentiert. Dagegen zeigt die Rekonstruktion, dass Achtung auf der ersten, zweiten, dritten und vierten Stufe als ein Gefühl konzipiert wird, das eine phänomenale Bedeutung hat. Der phänomenale Aspekt des Moralbewusstseins wird von Phänomenologen herausgearbeitet. Die erste Ebene der gemeinen moralischen Erkenntnis wird diese Position bestätigen, insofern das Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen durch eine ambivalente Gefühlserfahrung ausgezeichnet ist. Das gewöhnliche Moralbewusstsein ist somit gefühlsabhängig. Auch die dritte Ebene, auf der Achtung als Erscheinungsaspekt des Vernunftaktes wiederaufgegriffen wird, bestätigt diese phänomenologische Position. Die philosophische Reflexion auf der zweiten Ebene lässt sich allerdings inhaltlich und methodisch nicht auf die phänomenologische Position reduzieren. Die phänomenologische Methode dient lediglich als ein Einstieg in die transzendentalphilosophische Reflexion. Auf der zweiten Ebene wird anschließend ein metaphysischer Ansatz der Achtung deutlich, in dem das Gefühl ausgehend von dem Vernunftakt synthetisch hergeleitet wird. In diesem synthetischen Nachweis der zweiten Ebene wird eine metaphysische Position bestätigt, die besagt, dass dem Gefühl der Achtung ein Vernunftakt und somit ein Moralbewusstsein zugrunde liegt, das gefühlsunabhängig ist. Dies entspricht einer moderaten metaphysischen Position, in der das Gefühl der Achtung zwar als ein phänomenaler Aspekt integriert wird, allerdings mit der Einschränkung, dass es sich dabei um ein Nebenprodukt eines gefühlsunabhängigen Vernunftaktes handelt. Auf diese Weise bestätigt die moderat metaphysische Position jene eigentümliche notwendige, aber randständige Stellung, die das Gefühl der Achtung auszeichnet.

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2.2 Das 4-Ebenen-Modell der Achtung Die Betrachtung des Gefühls der Achtung auf allen vier Ebenen soll einen Überblick über die verschiedenen Bedeutungen verschaffen, in denen Kant den Ausdruck „Achtung“ verwendet. Es wird zwischen sechs verschiedenen Bedeutungen von „Achtung“ unterschieden, die sich den verschiedenen Theorieebenen zuordnen lassen. Auf der ersten Ebene ist das Gefühl der Achtung gleichbedeutend mit der moralischen Erfahrung des gewöhnlichen Menschen (1). Auf der zweiten Ebene geht es um die begriffliche Verdeutlichung dieser Erfahrung, sodass „Achtung“ als Begriff eines Gefühls untersucht wird. Dabei verwendet Kant den Begriff mitunter auch zur Bezeichnung des komplexen Moralbewusstseins (2), das auf der begrifflichen Ebene die moralische Erfahrung des gewöhnlichen Menschen repräsentiert. Außerdem behandelt er Achtung als ein reines Gefühl, das a priori erkannt werden kann, wobei er darunter entweder ein ambivalentes, also ein negatives und positives Gefühl (3), oder aber ausschließlich einen positiven Gefühlsaspekt (4) der moralischen Wertschätzung versteht. Auf der dritten Ebene versteht Kant unter Achtung einen Erscheinungs-Aspekt der moralischen Willensbestimmung (5), der die Wirklichkeit derselben repräsentiert. Auf der vierten Ebene ist das Gefühl der Achtung mit einer moralischen Zufriedenheit (6) identisch, die ästhetisch den Zweck des höchsten Guts andeutet. Insgesamt unterteilt sich das Kapitel also in vier Unterabschnitte, in denen sechs verschiedene Bedeutungen der Achtung unterschieden werden: Erste Ebene: Achtung als gemeine Erfahrung (1) Eine moralische, phänomenal ambivalente Erfahrung Zweite Ebene: Achtung als Bedingung a priori (2) Das Moralbewusstsein als ein komplexes Gebilde (3) Eine ambivalente Bedingung a priori (4) Eine rein positive Bedingung a priori Dritte Ebene: Achtung als Repräsentant einer aktiv gegebenen Wirklichkeit (5) Ein selbstgewirkter Erscheinungs-Aspekt der Wirklichkeit Vierte Ebene: Achtung als moralische Zufriedenheit (6) Moralische Zufriedenheit

2.2.1 Erste Ebene: Achtung als gemeine Erfahrung Auf der ersten Ebene sind wir noch keine Philosophen, sondern gemeine Menschen, die partikulare, moralische Erfahrungen machen. Einige Interpreten haben darauf hingewiesen, dass Kant diese partikulare Perspektive hervorhebt, indem er

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das Gefühl der Achtung in GMS I aus einer erst-personalen Perspektive des gewöhnlichen Menschen thematisiert.⁷³ Der Startpunkt philosophischer Reflexion sei keine begriffliche Einsicht, sondern Achtung, die zuvor als „Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 4:400), als „Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) und als moralisches „Interesse“ (GMS, 4:401Anm.) eingeführt wird: Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit […]; für die [allgemeine Gesetzgebung] aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), wenigstens aber doch soviel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines an sich guten Willens ist, dessen Werth über alles geht. (GMS, 4:403).

Dieser Abschnitt ist reichhaltig und der Versuch, die Perspektiven des gemeinen und des philosophischen Menschenverstandes klar voneinander zu trennen, ist schwierig. Allerdings bringt Kant doch immerhin deutlich zum Ausdruck, dass er unabhängig von philosophischer Reflexion bereits ein basales, erst-personales Erfahrungswissen habe. Es umfasse Achtung und das Bewusstsein, dass diese Achtung „eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt“ (GMS, 4:403). Kant weiß als gemeiner Akteur also nicht nur, dass Achtung eine moralische Schätzung sei, insofern ihm in dieser Schätzung bewusst ist, was er notwendigerweise tun soll, „damit [s]ein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 4:403). Er weiß dadurch auch, dass der Wert eines an sich guten Willens „über alles geht“ (GMS, 4:403) und versteht, dass Handlungen, die wir in dem Gefühl der Achtung schätzen, praktisch notwendig (geboten) sind. Irritierend ist das, weil Kant andererseits in demselben Satz behauptet, dass er „jetzt noch nicht einsehe, worauf“ sich Achtung „gründe (welches der Philosoph untersuchen mag)“, und damit bezieht er sich auf die vorhergehende Behauptung, dass mir „die Vernunft unmittelbare Achtung“ (GMS, 4:403) abzwinge. Auf der ersten Ebene der gemeinen Erfahrung hat man also ein Bewusstsein der Pflicht und ihrer unbedingten Autorität, man scheint aber noch nicht zu wissen, dass diese Erkenntnis in der Vernunft gründet.⁷⁴ Man sieht sich als Akteur in der gemeinen erst-personalen Erfahrung in der unbedingten moralischen Wertschätzung, genannt „Achtung“, mit einem absoluten Wert oder kategorischen Gebot konfrontiert, ohne aber den Ursprung desselben genauer zu  Vgl. Zinkin 2006, 35; Ware 2014, 734, Grenberg 2009, 340.  Mit anderen Worten: dass sie auf „Metaphysik gründen“ muss (vgl. GMS, 4:409).

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verstehen. Der gemeine Akteur kann auf seine moralische Erfahrung, die Kant zufolge jeder Mensch macht, auf unterschiedliche Weise oder auch gar nicht philosophisch reflektieren. So verstanden scheint Kant anzunehmen, dass die erste Ebene der gemeinen moralischen Erfahrung frei von metaphysischen Annahmen ist. Die These, dass das Bewusstsein der unbedingten Autorität des Gesetzes auf der Ebene der gemeinen Erfahrung frei von metaphysischen Annahmen ist, lässt sich aber auch anzweifeln. In der MS vertritt Kant, dass bereits auf der ersten Ebene der gemeinen moralischen Erfahrungsurteile eine „Metaphysik der Sitten“ angenommen werden müsse, dass sie dem gemeinen Menschen aber „nur auf dunkle Art“ bewusst sei:⁷⁵ Wenn daher ein System der Erkenntniß a priori aus bloßen Begriffen Metaphysik heißt, so wird eine praktische Philosophie, welche nicht Natur, sondern die Freiheit der Willkür zum Objecte hat, eine Metaphysik der Sitten voraussetzen und bedürfen: d.i. eine solche zu haben ist selbst Pflicht, und jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art, in sich; denn wie könnte er ohne Principien a priori eine allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben glauben? (MS, 6:216).

Auf den ersten Blick widerspricht sich Kant, denn zuerst sagt er, eine Metaphysik der Sitten „zu haben ist selbst Pflicht“, dann aber fügt er hinzu: „und jeder Mensch hat sie auch“ (MS, 6:216); es kann aber keine Pflicht sein, etwas zu haben, was jeder schon hat. Diesen Widersinn löst er dann aber auf, indem er die zweite Aussage einschränkt auf die Behauptung: „jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art, in sich“ (MS, 6:216). Daher lässt sich annehmen, dass die genannte Pflicht in einer Aufklärungsleistung besteht, sich diese Metaphysik der Sitten, die auf dunkle Art in jeder Vernunft angelegt sei, durch kritische Selbstreflexion bewusst zu machen.⁷⁶ Die Annahme einer solchen dunklen Metaphysik der Sitten des gemeinen Menschenverstandes begründet Kant damit, dass ein Bewusstsein der praktischen Notwendigkeit von Handlungen, also ein Bewusstsein der allgemeinen Gesetzgebung, wie es jeder einsehen könne, auch ein Bewusstsein von Prinzipien a priori voraussetze. Mit diesem Bewusstsein meint Kant das Moralprinzip, das dem Menschen als „Factum gegeben“ (KpV, 5:55) sei.⁷⁷ Das Faktum der Vernunft lässt sich als ein unmittelbares Bewusstsein

 Vgl. auch KrV, A43 f./B61.  Die gilt für das gesamte System einer Philosophie der Vernunft, die zeigen soll, „daß […] ich es lediglich mit der Vernunft selbst und ihrem reinen Denken zu tun habe, nach deren ausführlicher Kenntnis ich nicht weit um mich suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe“ (KrV, AXIV).  „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen“ (KpV, 5:31).

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der Verpflichtung durch ein Prinzip a priori beschreiben, das sich dem gesunden Menschenverstand offenbart und somit nicht erst das Ergebnis einer philosophischen Argumentation ist. Die Einsicht in die Geltung des Moralprinzips sei ein Faktum, weil es „vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht“ (KpV, 5:91). Dieses Faktum lässt sich einerseits der philosophischen Theorie zuordnen, weil es als eine Bedingung a priori der komplexen Erfahrung moralisch guter und böser Handlungen vorhergeht. Andererseits kann es aber nicht nur einer Theorie der Metaphysik der Sitten zugeordnet werden, da es auch bereits vom gemeinen Menschenverstand unmittelbar eingesehen werden muss, wenn seine gemeine moralische Erfahrung möglich sein soll.⁷⁸ Wenn aber die Annahme einer dunklen Metaphysik des gemeinen Verstandes notwendig ist, weil ein Bewusstsein von Prinzipien a priori vorausgesetzt werden muss, dann stellt sich erst recht die Frage, was es hier heißt, etwas ‚dunkel‘ in sich zu haben. Naheliegend ist zunächst, dass Kant „dunkel“ als Gegenbegriff zu „klar“ und „bewusst“ verwendet, sodass eine dunkle Metaphysik der Sitten eine in gewissem Grad unbewusste (unreflektierte) und insofern unklare Metaphysik wäre. Die Stelle darf meines Erachtens aber nicht so verstanden werden, als traute Kant dem gemeinen Verstand nur eine unklare, unbewusste und undeutliche Vorstellung von Moralität zu. Kant zufolge hat der gewöhnliche Mensch das Moralprinzip „zwar freilich nicht so in einer allgemeinen [begrifflichen] Form […], aber doch jederzeit wirklich vor Augen“ (GMS, 4:403). Das praktische Beurteilungsvermögen des gemeinen Verstandes verdiene sogar „Bewunderung“, weil es nicht, wie die philosophisch-theoretische Erkenntnis, in „ein Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand“ führe, sondern „sogar subtil“ und treffsicher den moralischen Wert von Handlungen bestimmen könne (GMS, 4:404). Daher ist es näherliegend, dass Kant das Adjektiv „dunkel“ hier nicht als Gegenbegriff zu „klar“, „bewusst“ und „deutlich“ verwendet, sondern als Synonym für „intuitiv“ oder „ästhetisch“ und somit als Gegenbegriff zu „begrifflich“ und „objektiv“ gebraucht.⁷⁹

 „Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt. Nur so fern sie als a priori gegründet und nothwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze, ja die Begriffe und Urtheile über uns selbst und unser Thun und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich blos von der Erfahrung lernen läßt, enthalten, und wenn man sich etwa verleiten läßt, etwas aus der letztern Quelle zum moralischen Grundsatze zu machen, so geräth man in Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrthümer.“ (MS, 6:215).  Eine klare Vorstellung lässt sich nach Kant von anderen unterscheiden und als einzelne identifizieren: „[E]ine Vorstellung ist klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht“ (vgl. KrV, B414 f.Anm; vgl. Refl, 16:80). Kant beschreibt

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In der Jäsche-Logik unterscheidet Kant zwischen einer ästhetisch-intuitiven und einer logisch-begrifflichen Vollkommenheit unserer Erkenntnis in ähnlicher Weise, in der sich auch die moralische Erkenntnis des gewöhnlichen und des philosophierenden Verstandes voneinander unterscheiden lassen.⁸⁰ Seine These besagt nach dieser Deutung, dass sich auch die moralische Vorstellung des gewöhnlichen Menschen durch Allgemeinheit, Deutlichkeit, Wahrheit und Gewissheit auszeichnet, die allerdings ästhetisch ist. Die philosophische Reflexion zielt hingegen auf eine logisch-begriffliche Allgemeinheit, Deutlichkeit, Wahrheit und Gewissheit derselben Erkenntnis ab.⁸¹ Bei dieser Schrift handelt es sich zwar um eine Mitschrift aus der sogenannten vorkritischen Phase von Kant. Allerdings unterscheidet Kant auch noch in der Vorrede zur KrV eine „diskursive (logische) Deutlichkeit, durch Begriffe“ und eine „intuitive (ästhetische) Deutlichkeit, durch Anschauungen, d.i. Beispiele oder andere Erläuterungen, in concreto“ (KrV, AXVIIf.) voneinander. Er hebt hervor, dass sowohl der begrifflich allgemeine als auch der ästhetisch partikulare Erkenntnisaspekt für den Leser wichtig sei. In einem übertragenen Sinne ist eine intuitive Deutlichkeit auch mit Blick auf das Phänomen der Moralität relevant, da es dem gewöhnlichen Menschen auf der Grundlage des Gefühls der Achtung gegeben ist. Auf dieser Grundlage kann er zwar eine gleichermaßen klare und bewusste Vorstellung von Moral haben wie der Philosoph, aber nur der Philosoph kann eine begrifflich differenzierte Vorstellung von dem Gegenstand gewinnen.⁸² Berücksichtigt man diese Bedeutung von „dunkel“, dann lautet die These, dass jeder Mensch auf gefühlsmäßige (subjektive) Art eine Metaphysik der Sitten in sich habe. ein solches Bewusstsein des Unterschiedes immer wieder als wesentliches Merkmal der Achtung, zum Beispiel in der Passage aus der GMS, wenn er schreibt, dass er von Achtung doch so viel verstehe, dass es eine Wertschätzung sei, die sich von allem, was durch Neigung geschätzt wird, unterscheide (vgl. GMS, 4:403; vgl. KpV, 5:92, 155). Er versteht darunter also eine klare und bewusste Vorstellung und nicht bloß einen dunklen Dämmerzustand.  Der Ausdruck philosophierender Verstand wird in diesem Kontext nicht im Sinne von Kants Fachterminus verstanden, in dem der Verstand gerade nicht auf die philosophisch-begriffliche Ebene beschränkt ist, sondern empirische Begriffe liefert. In diesem Kontext wird der Ausdruck „philosophierender Verstand“ als Gegenbegriff zu dem gesunden Menschenverstand des gewöhnlichen Menschen verwendet.  Kant unterscheidet in Beziehung auf die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität vier Hauptmomente und speziell auch vier „ästhetische Vollkommenheiten“ (Log, 9:38) der Erkenntnis, nämlich: „1) die ästhetische Allgemeinheit. […] 2) die ästhetische Deutlichkeit. […] 3) die ästhetische Wahrheit […] 4) die ästhetische Gewißheit.“ (Log, 9:39).  Auch in der „Stufenleiter“ der Vorstellungsarten (KrV, A320/B376 f.) unterteilt Kant alle klaren und bewussten Vorstellungen in solche der Empfindung und Erkenntnis. Kant wendet sich gegen die Tradition, Sinnlichkeit in Abgrenzung zur Klarheit und Deutlichkeit als verworren zu denken (vgl. Prol, 4:290, Bondeli 2015, 2572 f., Stuhlmann-Laeiz 2015, 394 f.).

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Dieselbe These lässt sich auch ausgehend von dem Faktum der Vernunft entwickeln. Damit der Mensch das Faktum der Vernunft als Prinzip a priori einsehen kann, muss er auch bereits ein Bewusstsein seiner Kausalität aus Freiheit auf ‚dunkle‘ Art in sich haben. Genauso nämlich wie das Bewusstsein einer unbedingten praktischen Autorität ein Prinzip a priori voraussetzt, genauso setzt das Bewusstsein von einem Prinzip a priori das Bewusstsein einer unbedingten Spontaneität des Subjekts voraus. Die Vernunft kündigt sich durch das Faktum „als ursprünglich gesetzgebend“ (KpV, 5:31) an, sodass „dieses Factum mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei“ (KpV, 5:42). All dies muss nach Kant jedem Menschen deutlich und klar bewusst sein, weil er jedem Menschen echte, reine moralische Überzeugungen zutraut, die nur aus dieser Quelle des Selbstbewusstseins entspringen können. All dies ist dem gemeinen Menschen nach Kant allerdings nicht auf dieselbe Art bewusst wie dem Philosophen, nämlich nicht rein begrifflich. Dieser Unterschied muss aufrechterhalten werden, da nach Kant nur wenige Philosophen, aber alle gewöhnlichen Menschen eine Metaphysik der Sitten in sich haben. Kant sucht daher zur Unterscheidung des gemeinen vom philosophischen Verstand und insofern aus einem wichtigen Anlass (und nicht „nur“) „Zuflucht in einem dunkelen Gefühle“ (GMS, 4:401 Anm.) der Achtung.⁸³ Grundsätzlich scheint Kant der Auffassung zu sein, dass die Überzeugungen des gemeinen Menschen immer auch auf Gefühlen, die Überzeugungen des Philosophen hingegen allein auf Begriffen beruhen. Dies bestätigt er im dritten Abschnitt der GMS, wenn er eine Bemerkung zur Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich anführt, die „der gemeinste Verstand obzwar nach seiner Art durch eine dunkele Unterscheidung der Urtheilskraft, die er Gefühl nennt, machen mag“ (GMS, 4:450 f.).⁸⁴ Der gewöhnliche Mensch fühlt sich durch

 An dieser Stelle stellt sich erneut die Frage, was „dunkel“ heißt. Da Kant „Begriff“ und „Gefühl“ in demselben Zusammenhang explizit nennt, denke ich, dass der Gegenbegriff zu „dunkel“ hier „klar“ ist und dass Kant ablehnt, dass das Gefühl der Achtung dunkel sei: „Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Auskunft zu geben. Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein…“ (GMS, 4:401Anm.) dunkles Gefühl, weil es Bewusstsein voraussetzt und eine klare und deutliche Unterscheidung moralischer Vorstellungen gestattet, wie sich ergänzen ließe.  Sticker liest diese Stelle anders: „Kant here does not claim that common understanding is identical to, or concerned with a special kind of feeling. Common understanding is part of our common rational capacities, but it can, falsely, appear to a common agent who lacks a clear insight into her rational endowments, as a feeling.“ (Sticker 2014, 246, fn 27). Sticker untersucht auch in anderen Arbeiten ausführlich eine rationale Aktivität des gemeinen Verstandes, die Kant auch „Vernünfteln“ nennt. Dies steht aber nicht im Widerspruch zu der These, dass „Vernünfteln“

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das Gefühl der Achtung kategorisch verpflichtet, wohingegen der Philosoph auf der Grundlage ihrer Bedingungen argumentativ und begrifflich die kategorische Verpflichtung einsieht und zu erklären versucht. Beide sprechen unterschiedliche Sprachen, sodass die Annahme, dass Philosophen keine gewöhnlichen Menschen sind, in gewisser Weise gerechtfertigt ist, weil sie einer rein begrifflichen Methode folgen, die von anderen Aspekten der menschlichen Erfahrung, zum Beispiel von einem phänomenalen Gefühlserlebnis (oder Anschauung), abstrahieren. Berücksichtigt man diese unterschiedliche Grundlage der Urteile des gemeinen und philosophierenden Verstandes, dann ist nicht verwunderlich, dass Konflikte zwischen den gemeinen und philosophischen Überzeugungen entstehen können. Insbesondere geht von den vielen unterschiedlichen Philosophen die Gefahr einer falschen begrifflichen Aufarbeitung aus. Kant geht es primär darum, die moralische Erfahrung des gemeinen Verstandes gegen solche falsche Begriffe zu verteidigen, wobei sich diese Verteidigung insbesondere gegen Philosophen richtet, die naturgemäß ihren gesunden Menschenverstand begrifflich anzweifeln und damit gefährden.⁸⁵ Die „Stimme der Vernunft“ sei zwar „in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich“ (KpV, 5:35). Aber der praktische Widerstreit zwischen der empirisch bedingten und der reinen praktischen Vernunft und die Anmaßung begrifflicher Schulen, die allein die empirisch-bedingte Vernunft als praktische Vernunft verteidigen, könnte „die Sittlichkeit gänzlich zu Grunde richten“ (KpV, 5:35), wenn die Stimme der Vernunft nicht so deutlich wäre. Die größte Gefahr liegt Kant zufolge in den „kopfverwirrenden Speculationen der Schulen“, die immer auch auf Gefühlen beruht, wohingegen philosophische Urteile rein begrifflich sind. Sticker sieht hingegen erstens in seiner Definition des gemeinen Verstandes von dieser Gefühlsgrundlage ab: „I will call a common agent someone who is endowed with common rational capacities and who did not receive any special philosophical training or education“ (Sticker 2014, 229). Er scheint nur eine irgendwie untergeordnete Verbindung zwischen dem Gefühl und dem gemeinen Verstand zuzulassen (vgl. Sticker 2014, 230; 246 fn 27). Im Kontrast zu dieser Darstellung denke ich, dass die moralische Erkenntnis, weil das Moralgesetz rein begrifflich ist, eigentlich eine philosophische Erkenntnis sein muss. Davon unterscheidet sich die gemeine Erfahrung von Moralität, insofern sie immer auch auf einem Gefühl beruht. Insofern widerspreche ich Sticker, wenn er meint: „Philosophy […] never becomes something that is alien to our ordinary practices. […] Ordinary agents and philosophers do not speak two radically different languages“ (Sticker 2014, 242).  Allerdings wohnt diese Tendenz, die gemeine moralische Überzeugung begrifflich anzuzweifeln, nach Kant auch dem gemeinen Menschen naturgemäß inne; wie der philosophierende Verstand kann der gemeine Verstand im Vernünfteln einen objektiven Anspruch auf der Grundlage subjektiver Gründe anzweifeln oder erheben (vgl. GMS, 4:405; KpV, 5:73 f.; KrV, A820/B848; Sticker 2012, 2014, 2015). Insofern haben der gemeine und der philosophische Menschenverstand eine wechselseitige Korrekturfunktion.

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„dreist genug sind, sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen, um eine Theorie, die kein Kopfbrechen kostet, aufrecht zu erhalten“ (KpV, 5:35). Auf die Fähigkeit zur begrifflichen Reflexion jedes Menschen kann Kant daher nicht sein Vertrauen in das moralische Urteilsvermögen jedes Menschen gründen. Er begründet sein optimistisches Vertrauen in das moralische Urteilsvermögen des Menschen stattdessen mit der Annahme des universalen Gefühls der Achtung. Aufklärung ist in Anbetracht dieser universalen Voraussetzung nicht nötig, um eine klare Vorstellung von Moralität zu erzeugen. Sie dient vielmehr dazu, die moralische Überzeugung des gesunden Menschenverstandes argumentativ zu stützen und vor Verunreinigung und Verführung zu schützen.⁸⁶ Hierzu müssen ausgehend von der moralischen Überzeugung des gewöhnlichen Menschen die reinen Grundbestandteile isoliert werden,⁸⁷ die in der eigentümlich unbedingten moralischen Wertschätzung der Achtung dem gesunden Menschenverstand krypto-präsent innewohnen. Auf der ersten Ebene spielt die philosophische Theorie allerdings noch keine Rolle, und ebenso gut ließe sich, wie Kant zu verstehen gibt, auf dieser basalen Ebene die Idee von Moralität auch mit Hutcheson, also rein non-kognitivistisch, verteidigen. Denn die Grundannahme auf der ersten Ebene der moralischen Erfahrung besagt lediglich, dass ausschließlich Moralität unbedingt (um ihrer selbst willen) praktisch geschätzt wird.⁸⁸ Die Annahme eines besonderen moralischen Sinnes widerspricht dieser Erfahrung nicht; sie widerspricht Kant zufolge aber den philosophischen Erwartungen an eine Theorie, die diese Erfahrung erklären soll.⁸⁹ Die Frage, worauf „Achtung gründe“, ist Gegenstand der philosophischen Diskussion. Um sie zu klären, muss man die erste Ebene des gemeinen Men-

 Die „Unschuld“ des gemeinen Verstandes werde leicht „verführt“ und bedarf „[d]eswegen“ der „Wissenschaft“ (GMS, 4:404 f.). Eine besondere Gefahr sei eine „vermischte Sittenlehre“ (GMS, 4:411), in der „die Lehrer selbst ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht haben“ und damit das praktische Vermögen des gemeinen Verstandes „verderben“ (GMS, 4:410Anm.2).  Wie ein Chemiker soll die spekulative Vernunft die Erkenntnise a priori „isolieren“ und verhüten, dass sie mit andern in ein Gemisch zusammenfließen (KrV, A842 f./B870 f.); das gilt auch für „eine völlig isolierte Metaphysik der Sitten“ (GMS, 4:410).  Am meisten „verwerflich“ sei „das Princip der eigenen Glückseligkeit“: „[D]agegen das moralische Gefühl, dieser vermeintliche besondere Sinn* [vgl. Bezug auf Hutcheson in der Anm.], (so seicht auch die Berufung auf selbigen ist […]) dennoch der Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher bleibt, daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohlgefallen und die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschreiben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt, daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vortheil sei, der uns an sie knüpfe“ (GMS, 4:442 f.).  „Kant is not assuming that by mere common sense we already know that respect demands all the non-empirical elements he eventually asserts.“ (Ameriks 2010, 32, vgl. 31).

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schenverstandes verlassen, da hierzu „ausholende Scharfsinnigkeit“ (GMS, 4:403) erfordert ist. Insofern kritisiert Kant auch immer nur „scharfinnige Männer“ (KpV, 5:22), womit er Philosophen meint,⁹⁰ – in Abgrenzung zur „gemeinen sittlichen Beurteilung (die hier sehr achtungswürdig ist)“ (GMS, 4:412) – oder solche gemeinen Menschen, die auf ihre moralische Erfahrung reflektieren, dabei aber nicht systematisch vorgehen, sondern ‚herumtappen‘.⁹¹ Kant warnt davor, dass die gemeine Erfahrung „gleichsam einer optischen Illusion in dem Selbstbewußtsein dessen, was man thut, zum Unterschiede dessen, was man empfindet“ (KpV, 5:116), die begriffliche Reflexion in die Irre führen kann.⁹² Ein Beispiel hierfür ist die affektivistische Deutung, die Achtung, weil es das Bewusstsein der moralischen Motivation begleitet, zum Motivationsgrund erklärt.⁹³ Dass man Achtung empfindet, wenn man umwillen der Pflicht handelt, bedeutet nicht, dass man umwillen der Achtung handelt. Umwillen der Wertschätzung werden Handlungen vollzogen, die nicht um ihrer selbst willen wertgeschätzt werden, und solche Handlungsprozesse sind wir in unserem praktischen Selbstbewusstsein gewohnt. Darum anzunehmen, dass eine Handlung moralisch gut sei, weil wir Achtung dafür empfinden, wäre jedoch ein „Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)“ (KpV, 5:116), weil die gemeine Erfahrung der moralischen Wertschätzung einer Handlung auf diese Weise nicht erklärt werden kann, sondern als Erklärungsgrund erschlichen wird. Dann nämlich werde moralische Erfahrung im Zuge der begrifflichen Reflexion, wie Kant auch an anderer Stelle gegen Empiristen und Eudämonisten argumentiert, „ein sich selbst widersprechendes Unding“ (MS, 6:377). Man könne sich nur „wundern, wie sonst scharfsinnige Männer einen Unterschied zwischen dem unteren und oberen Begehrungsvermögen darin zu finden glauben können, ob die Vorstellungen, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen, oder dem Verstande ihren Ursprung haben“ (KpV, 5:22 f.). Ein moralisches Gefühl der Lust kann, ganz gleich welchen Ursprungs es ist, nicht zur philosophischen Erklärung moralischer Phänomene beitragen, weil moralische Phänomene um ihrer selbst willen geschätzt werden müssen und daher per Definition nicht auf einer Wertschätzung beruhen können. Das moralische Gefühl kann hingegen als ein Gefühl unbedingter Schätzung die philosophische Erklä-

 Vgl. KpV, 5:53, 140 f.  Vgl. KrV, BVII; GMS, 4:412, 411Anm.  Ameriks weist daraufhin, dass Kant analog hierzu auch in der dritten Kritik eine optische Illusion thematisiert, die zur empiristischen Deutung ästhetischer Urteile verleitet und transzendentalphilosophisch durch eine Umkehrung der Begründung korrigiert werden muss (vgl. Ameriks 2003, 22Anm. 31 und KU §9).  Zur Kritik an der affektivistischen Deutung vgl. Teil I, Kap. 1.4.

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rung auf dunkle Art repräsentieren. Auf diese dunkle Art ist nach Kant einigermaßen Verlass, auf die begriffliche Aufarbeitung hingegen nur dann, wenn sie sich systematisch an den Prinzipien einer reinen Vernunftwissenschaft orientiert. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen zur moralischen Erfahrung des gewöhnlichen Menschen soll noch ein Blick auf Kants detaillierte Beschreibung der Achtung erfolgen, wie sie für die erste Ebene der Theorie charakteristisch ist. Da es noch nicht um den Begriff der Achtung und seine begrifflichen Grundlagen geht, dominiert auf der ersten Theorieebene eine phänomenologische Darstellung des moralischen Gefühls. Dabei liegt der Fokus von Kants phänomenologischer Beschreibung auf einem weiten Begriff der Achtung, der sich von einem engen Begriff unterscheiden lässt. Während der enge Begriff nur ein positives Gefühl der moralischen Wertschätzung umfasst, beinhaltet der weite Begriff der Achtung eine negative und eine positive Gefühlskomponente. Dieser weite Begriff des Gefühls der Achtung entspricht, wie im Folgenden vertreten wird, dem phänomenologischen Ansatz der Achtung, wohingegen der enge Begriff eines rein positiven Gefühls erst in Kants metaphysischer Herleitung des vernunftgewirkten Gefühls betrachtet wird. Diese Herleitung der isolierten Gefühlsaspekte wird unten als synthetischer Nachweis auf der zweiten Ebene des Modells rekonstruiert. Auf der ersten Ebene der Erfahrung des gewöhnlichen Menschen erleben wir das Gefühl der Achtung hingegen immer als ein Gefühl, das zugleich eine negative und eine positive Qualität hat. Die phänomenologische These der ersten Theorieebene lautet also: Das moralische Gefühl der Achtung zeichnet sich phänomenal durch eine ambivalente Qualität aus. Die These von der Ambivalenz des Gefühls der Achtung deutet Kant bereits in der Fußnote aus dem ersten Abschnitt der GMS an, indem er auf eine Analogie zwischen dem Gesetz und den Gegenständen der Neigung und der Furcht hinweist. Es handle sich bei dem Moralgesetz um etwas, „was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas Analogisches hat“ (GMS, 4:401Anm.). In demselben Stil beschreibt Kant im Triebfedernkapitel der KpV das Gefühl der Achtung als etwas, was weder als Lust noch als Unlust betrachtet wird, obgleich es in Analogie zu beiden stehe. Die ausführliche Stelle wird im Folgenden nur verkürzt und schlagwortartig wiedergegeben, um die stilistische Raffinesse anzuzeigen, mit der Kant die Ambivalenz des Gefühls beschreibt: Die Achtung ist so wenig ein Gefühl der Lust, daß man sich ihr in Ansehung eines Menschen nur ungern überläßt. […] Last […] Demüthigung […] Kritik […] der abschreckenden Achtung; die uns unsere eigene Unwürdigkeit so strenge vorhält […]. Gleichwohl ist darin doch auch wiederum so wenig Unlust: daß […] man sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen kann, und die Seele sich in dem Maße selbst zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht. (KpV, 5:77).

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Kant bemüht sich hier erfolgreich darum, seine These, Achtung habe Analogie mit Furcht oder Unlust einerseits und mit Neigung oder Lust andererseits, nicht so klingen zu lassen, als wäre Achtung ein Konglomerat aus Lust und Unlust. Dazu müsste es sowohl Lust als auch Unlust sein. Stattdessen bringt Kant zum Ausdruck, dass Achtung weder Lust noch Unlust sei, sowie auch das Gesetz weder ein Gegenstand der Neigung noch der Furcht sei. Behauptet wird lediglich eine Analogie, die in einem negativen und in einem positiven Aspekt besteht. Im Triebfedernkapitel untersucht Kant sehr detailliert diese beiden Gefühlsaspekte. Dort bezeichnet er Achtung einerseits als „negative Wirkung aufs Gefühl“, als „Schmerz“ (KpV, 5:73), als „Demüthigung (intellectuelle Verachtung)“ (KpV, 5:75) oder kurz „Demüthigung“ (KpV, 5:77, 79), als „Empfindung der Unlust“ (KpV, 5:78) oder kurz „Unlust“ (KpV, 5:80), als „Unterwerfung“ (KpV, 5:80) oder (sanftes) „Joch“ (KpV, 5:85); andererseits beschreibt er Achtung aber auch als „positive[s] Gefühl[]“ (73, 79), als „Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz“ (KpV, 5:75), als „Erhebung“ (KpV, 5:79, 80), „praktische[…] Schätzung des Gesetzes“ (KpV, 5:79), „positive, aber indirecte Wirkung desselben [des Gesetzes] aufs Gefühl“ (KpV, 5:79), als „grenzenlose[…] Hochschätzung des reinen, von allem Vortheil entblößten moralischen Gesetzes“ (KpV, 5:79), als „Interesse“ (KpV, 5:80), „Selbstbilligung“ (KpV, 5:81), „Trost“ (KpV, 5:88) oder „innere Beruhigung“ (KpV, 5:88). Stärker und häufiger fokussiert Kant im Triebfedernkapitel den negativen Effekt. Er betont die negative Wirkung auf das Gefühl so sehr, dass man zu der Auffassung kommen könnte, dass die Vernunft überhaupt nur dieses negative Gefühl hervorbringe, das Kant manchmal als „Demütigung“ und manchmal als „Achtung“ bezeichnet.⁹⁴ Das könnte bedeuten, dass Achtung eben doch nicht durch eine ambivalente Gefühlsqualität, sondern nur durch eine Analogie mit Furcht auszuzeichnen sei. Dieser Eindruck rührt daher, dass der negative Gefühlsaspekt der Achtung in der philosophischen Analyse eine dem positiven Aspekt vorgeordnete Stellung einnimmt. Faktisch oder phänomenal liegen aber

 Sensen verteidigt diesen Eindruck: „The power of the will has a negative effect on the inclinations, and as an effect on feelings Kant calls it ‘respect’.“ (Sensen 2012, 56). Er stellt die Frage, „whether respect is in itself a positive emotion, or whether it is not an emotion at all, but merely the removal of a hindrance to morality.“ (Sensen 2012, 56). Mit Blick auf diejenige Achtung, die Triebfeder sein soll, entscheidet er sich für die zweite These: „[T]he mere humiliation and removal of inclinations is in itself the positive effect, without any additional positive emotion.“ (Sensen 2012, 56). „The effect does not cause a separate feeling of respect but respect is already identical with the law‘s effect on feeling.“ (Sensen 2012, 56). Er fügt aber stets hinzu: „This interpretation does not rule out that there is also a positive uplifting emotion of awe, esteem or reverence that might arise at some times.“ (Sensen 2012, 56).

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Teil III: Rekonstruktion

immer beide Aspekte zugleich vor, wenn es sich dabei um ein moralisches Gefühl handeln soll. Diesen „engen Zusammenhang“ zwischen beiden Effekten betont auch Elke Elisabeth Schmidt in ihrer Skizze einer kommentarischen Interpretation zu Kants Begriff der Demütigung in der KpV: Immer wenn nämlich Achtung im Menschen entsteht, muss notwendigerweise auch Demütigung im Menschen entstehen (und auch umgekehrt muss gelten, dass, wann auch immer Demütigung entsteht, notwendigerweise Achtung entstehen muss, da auch die Demütigung nur aufgrund einer Empfänglichkeit für das moralische Gesetz entstehen kann, die bei sinnlich-vernünftigen Wesen zur Achtung führt). (Schmidt 2013, 67).

Es kann auf der phänomenalen Ebene nicht das eine ohne das andere geben. Wenn es ein moralisches Gefühl gibt, das dem Moralgesetz angemessen ist, dann muss dieses Gefühl ambivalent sein. Wenn Kant dagegen die beiden Aspekte isoliert betrachtet, dann tut er das nur zu Erläuterungszwecken und zur philosophischen Verhältnisbestimmung, aber niemals um das Phänomen zu beschreiben. Denn das ambivalente Erlebnis von Moralität lässt sich phänomenal ebenso wenig in seine zwei Bestandteile auflösen wie der Akt der Selbstverpflichtung, der in dem Gefühl der Achtung zum Ausdruck kommt. Wir können im gewöhnlichen Alltag nicht einerseits das Gesetz hervorbringen und uns andererseits dem Gesetz unterwerfen! Dies ist nur in der philosophischen Analyse der Selbstverpflichtung denkbar. Auf der ersten Ebene der phänomenalen Erfahrung des gewöhnlichen Menschen sind die beiden Aspekte hingegen immer zugleich gegeben und nicht voneinander zu trennen. Die notwendige Ambivalenz des moralischen Gefühls wird deutlich, wenn man sich die Kontrastfälle einer unfreien, obrigkeitlichen Achtung und einer unfreien, kriecherischen Unterwerfung vor Augen führt. Harald Köhl regt zu diesem Vergleich an, um zu demonstrieren, dass moralische Achtung nicht nur Analogie mit Furcht, sondern auch mit Neigung oder Lust haben muss: Klarerweise aber ist Achtung, die nur die emotionale Reaktion auf die Tatsache ist, daß etwas (oder jemand) die Macht hat, unsere Neigungen einzuschränken und uns dadurch zu demütigen, nicht Achtung in einem moralischen Sinn. Es ist Achtung in einem obrigkeitlichen Sinn, wie die Achtung gegenüber jemandem, ‚der mächtiger ist als man selbst oder einen höheren Status hat‘ und deshalb ‚mit besonderer Rücksicht behandelt‘ wird. (Köhl 1990, 132).

Diese Achtung in einem obrigkeitlichen Sinn ist häufig nur eine äußerliche Achtungsbezeugung, die Kant im Triebfedernkapitel explizit von der „inneren“ Achtung abgrenzt, indem er die Verbeugung des Geistes von der äußerlichen Verbeugung vor jemandem abhebt:

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Seine [irgend eines Menschen] scherzhafte Laune, sein Muth und Stärke, seine Macht, durch seinen Rang, den er unter anderen hat, können mir dergleichen Empfindungen einflößen, es fehlt aber immer noch an innerer Achtung gegen ihn. Fontenelle sagt: Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht. (KpV, 5:76 f.).

Unterwerfe ich mich dem Gesetz oder einem Menschen von Rang, dann erkenne ich ihre Autorität an. Diese Anerkennung der Autorität beruht zum Beispiel auf Zwang oder auf Bewunderung. Die entscheidende Frage ist aber, ob der Zwang oder die Bewunderung auf zufälligen Umständen oder auf einem Ursprung beruht, der Notwendigkeit bei sich führt. Eine innere freie Achtung kann der Mensch nur dann empfinden, wenn er einsieht, dass die Autorität auf einer moralischen Notwendigkeit beruht. Eine äußerliche oder obrigkeitliche Achtung zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass die Autorität, der wir Achtung beimessen, immer auch auf Zufall beruht. Kant diskutiert diese Form der Pseudo-Achtung unter dem Titel der „Bewunderung“ von großen Talenten anderer Menschen: Zwar können große Talente und eine ihnen proportionirte Thätigkeit auch Achtung oder ein mit derselben analogisches Gefühl bewirken, es ist auch ganz anständig es ihnen zu widmen, und da scheint es, als ob Bewunderung mit jener Empfindung einerlei sei. Allein wenn man näher zusieht, so wird man bemerken, daß […] immer ungewiß bleibt, wie viel das angeborne Talent und wie viel Cultur durch eigenen Fleiß an der Geschicklichkeit Theil habe (KpV, 5:77 f.).

Wir können einen Menschen für seine großartigen Fähigkeiten in einem nichtmoralischen Sinne bewundern, wenn wir der Auffassung sind, dass dieser Mensch in seiner Natur oder durch glückliche Zufälle besonders ausgezeichnet wurde. Wir können ihn aber auch für diese Fähigkeit bewundern, weil sie zeigt, dass er sich die Kultivierung seiner Vermögen zur Aufgabe gemacht hat. Der tiefere Grund für die Bewunderung liegt dann darin, dass wir diese Aufgabe, die er bewunderungsvoll bejaht und bewältigt, als unsere eigene Aufgabe anerkennen. Die Bewunderung gilt dann einem Beispiel, das unsere reine praktische Vernunft anspricht und nicht unsere Sinne oder Vorlieben. Wir stellen uns dann vor, wie viel Kampf, Disziplin, Beharrlichkeit und Unbestechlichkeit nach festen Grundsätzen diese Kulturleistung erfordert haben muss, und dabei setzen wir voraus, dass diese Unbestechlichkeit gegen alles gerichtet ist, was mit angeborenen Voraussetzungen, Glücksumständen und sozialen Rangvorstellungen zu tun hat.⁹⁵ Wir bewundern diesen Menschen, weil er uns die Anerkennung einer un-

 „Es lassen sich wohl Handlungen anderer, die mit großer Aufopferung und zwar blos um der Pflicht willen geschehen sind, unter dem Namen edler und erhabener Thaten preisen, und doch

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Teil III: Rekonstruktion

bedingten Autorität demonstriert, die uns nur aus der Vorstellung des Moralgesetzes bekannt ist. Insofern können solche Beispiele der Talente oder Rechtschaffenheit eines Charakters als Beispiele für ein unbedingtes Gesetz verstanden werden.⁹⁶ Das Charakteristische dieser moralischen Achtung für das Gesetz in Anbetracht eines Beispiels ist, dass sich der Mensch dadurch immer auch auf eine negative, demütigende Weise angesprochen fühlt.⁹⁷ Denn das Exempel, das uns jemand gibt, erscheint uns als Beispiel der Ansprüche unserer eigenen Vernunft, die den unbegrenzten Geltungsanspruch unserer Selbstliebe demütigt: [S]o stellt uns die Vernunft die letztere [Geschicklichkeit, die auf Fleiß beruht statt auf angeborenen Talenten] muthmaßlich als Frucht der Cultur, mithin als Verdienst vor, welches unseren Eigendünkel merklich herabstimmt und uns darüber entweder Vorwürfe macht, oder uns die Befolgung eines solchen Beispiels in der Art, wie es uns angemessen ist, auferlegt. (KpV, 5:78).

Unter allen Umständen, so Kants Betonung, empfinden wir solche Beispiele einer moralischen Achtung als demütigend, sogar dann, wenn wir uns eigentlich nicht als unterlegen betrachten müssten.⁹⁸ Denn die Vorstellung des Gesetzes ist für Menschen immer mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit verbunden, da ihm das Gesetz nur als Pflicht erscheinen kann. Insofern ist Achtung von einer Neigung oder auch von der Liebe zur Pflicht streng zu unterscheiden, wie Kant im Triebfedernkapitel seitenweise⁹⁹ ausführt. Die „Liebe zur Ordnung“ (KpV, 5:82) kritisiert Kant als moralische Schwärmerei.¹⁰⁰ Sie zeugt von einer geheuchelten und arroganten Einstellung, die der Pflicht widerspricht, da bei dieser Vorstellung des Gesetzes der Aspekt der Unterwerfung in Anbetracht der eigenen Endlichkeit und Fehlbarkeit unberücksichtigt bleibt.Wer sich das Gesetz auf diese Weise ohne

auch nur so fern Spuren da sind, welche vermuthen lassen, daß sie ganz aus Achtung für seine Pflicht, nicht aus Herzensaufwallungen geschehen sind.“ (KpV, 5:85).  Auch diese These findet man bereits in der Fußnote der GMS (vgl. GMS, 4:401Anm.).  Eine weitere Konsequenz ist, dass die moralische Achtung in Abgrenzung zur Bewunderung stabil sei: „Sie ist also nicht bloße Bewunderung, diese Achtung, die wir einer solchen Person (eigentlich dem Gesetze, was uns sein Beispiel vorhält) beweisen; welches sich auch dadurch bestätigt, daß der gemeine Haufe der Liebhaber, wenn er das Schlechte des Charakters eines solchen Mannes (wie etwa Voltaire) sonst woher erkundigt zu haben glaubt, alle Achtung gegen ihn aufgiebt, der wahre Gelehrte aber sie noch immer wenigstens im Gesichtspunkte seiner Talente fühlt, weil er selbst in einem Geschäfte und Berufe verwickelt ist, welches die Nachahmung desselben ihm gewissermaßen zum Gesetze macht.“ (KpV, 5:78).  Vgl. KpV, 5:77.  Vgl. KpV, 5:81– 86.  Vgl. KpV, 5:85 f.

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den Effekt der Demütigung vorstellt, der leugnet damit seine Endlichkeit und meint sich auf eine Stufe mit Gott stellen zu können.¹⁰¹ Andererseits unterscheidet sich die moralische Achtung durch ihre positive Bedeutung von einer heteronomen Demütigung, die entweder auf äußerem Zwang, zum Beispiel der Androhung von Strafe, oder auf inneren Ursachen, zum Beispiel auf Feigheit und Faulheit, beruht. Diese Art der Demütigung hat mit dem moralischen Gesetz nichts zu tun. Weil sie einfältig negativ ist, ohne Selbstachtung zu implizieren, gilt insbesondere die „Kriecherei (humilitas spuria)“ in Abgrenzung zur freien, moralischen „Demuth (humilitas moralis)“ (MS, 6:435) Kant als Laster, wie er in der Tugendlehre ausführt.¹⁰² Wer sich moralischen Wert abspricht, der unterwirft sich wie ein „Wurm“ (MS, 6:437) bzw. wie ein „Thiermensch“, der „das Bewußtsein seiner Würde als Vernunftmensch“ (MS, 6:435) verleugnet.¹⁰³ Während der Mensch, der das moralische Gesetz ausschließlich als etwas Positives erlebt, hierzu seine Endlichkeit als Tiermensch verleugnet, ignoriert derjenige, der ausschließlich Demütigung kennt, seine Begabung als Vernunftmensch und degradiert sich zum Wurm. Die verschiedenen Kontrastfälle kritisiert Kant allesamt als einfältig, weil den Betroffenen entweder das Bewusstsein der Demut, d.i. der eigenen Begrenztheit, oder das Bewusstsein der eigenen Unbedingtheit, der Fähigkeit zur eigenen praktischen Gesetzgebung, fehlt. Daran wird deutlich, dass die Ambivalenz des moralischen Gefühls der Achtung Wesentliches über Kants Ethik aussagt. Reduziert man das Gefühl der Achtung auf die negative oder positive Komponente, dann kann es sich nicht mehr um ein moralisches Phänomen handeln.

 „[D]ie Verkennung unserer niederen Stufe als Geschöpfe und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben dem Geiste nach, wenn gleich der Buchstaben desselben erfüllt werde“ (KpV, 5:82 f.).  Die Kehrseite der Kriecherei ist der Hochmut, den Kant auch als ein Verlangen danach beschreibt, das andere vor einem „kriechen“ (MS, 6:466). Den Hochmut führt Kant als eines von drei „die Pflichten der Achtung für andere Menschen verletzenden Lastern“ (MS, 6:465) an. Zu den Tugendpflichten aus Achtung gegen andere Menschen und zu den sie verletzenden Lastern: vgl. Sensen 2013b.  In Deutschland gehöre es allerdings in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch immer zum guten Ton, sich zum Wurm zu machen, und Kant stellt zumindest kasuistisch den moralischen Wert dieser Kulturleistung der Kriecherei in Frage, indem er sie mit dem indischen Kastensystem vergleicht (vgl. MS, 6:437).

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Teil III: Rekonstruktion

2.2.2 Zweite Ebene: Achtung als Bedingung a priori Auf der zweiten Ebene setzt die philosophische Reflexion ein. Sie dient der begrifflichen Verdeutlichung, die im Zuge einer Isolation und Rechtfertigung der wesentlichen formalen Merkmale erreicht werden soll. Dabei lässt sich zwischen einem objektiven und einem subjektiven Nachweis unterscheiden. Der objektive Nachweis ist objektiv, insofern er von der Erfahrung seinen Ausgang nimmt. Dieser Nachweis wird analytisch gewonnen. Sind auf diese Weise die reinen Grundbestandteile der Erfahrung analytisch isoliert worden, so folgt der subjektive Nachweis, der subjektiv ist, insofern er von den Erkenntnisvermögen des Subjekts seinen Ausgang nimmt. Dieser subjektive Nachweis wird auf eine synthetische Weise gewonnen und führt auf diese Weise wieder zu der Ausgangserfahrung hin, die nun ausgehend von den reinen Bestandteilen als komplexer Zusammenhang dieser Bedingungen hergeleitet wird. Beide Nachweise dienen der begrifflichen Verdeutlichung der Ausgangserfahrung von Moralität. Die intellektuelle „Deutlichkeit in Begriffen oder Verstandesdeutlichkeit“ beruhe auf der „Zergliederung des Begriffs in Ansehung des Mannigfaltigen, das in ihm enthalten liegt“ (Log, 9:35). In der Jäsche-Logik demonstriert Kant diese Verdeutlichungsarbeit anhand des Begriffs der Tugend: „Lösen wir nun so den Begriff der Tugend in seine einzelnen Bestandtheile auf, so machen wir ihn eben durch diese Analyse uns deutlich“ (Log, 9:35). Seine Analyse des Tugendbegriffs umfasst drei formale Bestandteile: So sind z. B. in dem Begriffe der Tugend als Merkmale enthalten 1) der Begriff der Freiheit, 2) der Begriff der Anhänglichkeit an Regeln (der Pflicht), 3) der Begriff von Überwältigung der Macht der Neigungen, wofern sie jenen Regeln widerstreiten. […] Durch diese Deutlichmachung selbst aber setzen wir zu einem Begriffe nichts hinzu; wir erklären ihn nur. (Log, 9:35).

Die drei formalen Merkmale, die Kant hier nennt, lassen sich den drei Grundvermögen Wille, Intellekt und Sinnlichkeit zuordnen. Hierbei handelt es sich um die wesentlichen Bedingungen, auf die sich die transzendentalphilosophische Reflexion konzentriert. Das dritte Merkmal, „der Begriff von Überwältigung der Macht der Neigungen, wofern sie jenen Regeln widerstreiten“ (Log, 9:35), entspricht dem Begriff der Achtung in seiner negativen Bedeutung. Durch die Isolierung der Bedingungen a priori in ihrer argumentativen Reihenfolge – Achtung (reine Sinnlichkeit), Moralprinzip (reine Vernunft) und Freiheit (Wille) – wird der komplexe Begriff des Moralbewusstseins analytisch verdeutlicht.Wie Kant bemerkt, gibt es aber nicht nur eine analytische, sondern auch eine „synthetische Deutlichkeit“ (Log, 9:63). Hierbei gehe es nicht darum, einen Begriff deutlich zu machen, sondern darum, einen deutlichen Begriff zu ma-

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chen.¹⁰⁴ Letzteres sei nur auf synthetischem Weg zu erreichen, wie er anschließend erläutert: Denn wenn ich einen deutlichen Begriff mache: so fange ich von den Theilen an und gehe von diesen zum Ganzen fort. Es sind hier noch keine Merkmale vorhanden; ich erhalte dieselben erst durch die Synthesis. Aus diesem synthetischen Verfahren geht also die synthetische Deutlichkeit hervor (Log, 9:63).

Bei einem synthetischen Nachweis werden die Bedingungen, die sich aus dem Ganzen der komplexen Erfahrung isolieren ließen, ausgehend von den Erkenntnisvermögen wieder synthetisch miteinander verknüpft. Auf diese Weise wird die Wirklichkeit der Begriffe und nicht nur ihre Notwendigkeit nachgewiesen. Im Triebfedernkapitel der KpV ist es Kants Anspruch, dem Leser auch einen deutlichen Begriff von dem Gefühl der Achtung zu vermitteln. Er bemüht sich um einen synthetischen Nachweis, wie hier vertreten wird. Dieser synthetische Nachweis beschränkt sich allerdings darauf, dass gezeigt werden soll, wie aus der reinen praktischen Vernunft und ihrer Selbstgesetzgebung in der Sinnlichkeit ein Gefühl a priori erzeugt werden kann. Dagegen ist es im Triebfedernkapitel nicht mehr Kants Anspruch, auf die problematische Frage einzugehen, wie aus dem Willen ein Gesetz hervorgehen kann. Dieses Problem einer synthetischen Begründung des Sittengesetzes bleibt in Kants Moralphilosophie wohl ungelöst. Dagegen denke ich, dass Kant mit Blick auf das Gefühl der Achtung durchaus den Versuch einer synthetischen Herleitung unternimmt. Diese Herleitung entspricht dem metaphysischen Modell der Achtung, in dem die Frage beantwortet wird, wie das Gefühl der Achtung entsteht. Aufgrund der Unterscheidung zwischen einer analytischen und einer synthetischen Argumentationsrichtung ist auch das Unterkapitel über die zweite Ebene in zwei Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt geht es um ein analytisches Verständnis, im zweiten Teil um das synthetische Verständnis der Achtung. Die analytische Untersuchung der Erfahrung von Moralität beginnt mit einer phänomenologischen Analyse des Moralbewusstseins. Darüber hinaus zeigt eine transzendentalphilosophische Analyse nicht nur die wesentlichen Bestandteile der Ausgangserfahrung auf, sondern leitet sie auch in einer hierarchisch eindeutigen Reihenfolge her. Anschließend zeigt die synthetische Untersuchung, wie die Vernunft als Bestimmungsgrund des Willens ein Gefühl der Achtung hervorbringt. Hier stellt sich die Frage nach dem synthetischen Zustandekommen des rein vernunftgewirkten Gefühls.  „Und es ist also ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sätzen: Einen deutlichen Begriff machen und einen Begriff deutlich machen.“ (Log, 9:63).

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Teil III: Rekonstruktion

Analytische Methode Mit der Verdeutlichung auf der zweiten Ebene geht einher, dass nicht mehr die phänomenale Erfahrung eines Gefühls beschrieben wird, sondern Begriffe argumentativ untersucht werden. Denn auf der zweiten Ebene wird rein Begriffliches über Begriffliches ausgesagt, und insofern kann Achtung hier nicht dieselbe Bedeutung einer gemeinen moralischen Erfahrung wie auf der ersten Ebene haben. „Achtung“ muss von nun an als Begriff eines Gefühls verständlich werden. Innerhalb der philosophischen Analyse verwendet Kant den Begriff „Achtung“ allerdings nicht immer einheitlich. Insgesamt lassen sich mindestens drei verschiedene Bedeutungen unterscheiden. Erstens bezeichnet „Achtung“ ein komplexes Bewusstseinsgebilde, das eine Art philosophisches Äquivalent zur moralischen Erfahrung darstellt. Das moralische Bewusstsein (als ein philosophisches Gebilde) heiße oder sei „Achtung“, wie Kant in der Fußnote des ersten Abschnitts der GMS schreibt.¹⁰⁵ Insofern „Achtung“ das ganze komplexe Gebilde bezeichnet, müssen Freiheit, das Gesetz und das moralische Gefühl als Teile desselben verständlich werden. Zweitens lässt sich das moralische Gefühl als Teil dieser komplexen Erfahrung ansprechen, insofern es sich dabei um eine subjektive Bedingung a priori handelt. Entweder beschreibt Kant mit dem Ausdruck „Achtung“ ein ambivalentes Gefühl der moralischen Wertschätzung, das die negative und die positive Qualität umfasst oder aber er verwendet den Ausdruck in einem engeren Sinne und bezeichnet nur den positiven Gefühlsaspekt als Achtung. Auch innerhalb der zweiten Ebene lassen sich also drei Verwendungen von „Achtung“ unterscheiden, die nicht mehr die phänomenale Erfahrung von Moralität (1), sondern Begriffe (2, 3, 4) bezeichnen: 1) Eine moralische Erfahrung 2) Das Moralbewusstsein als komplexes Gebilde 3) Ein ambivalentes Gefühl als Bedingung a priori 4) Ein rein positives Gefühl als Bedingung a priori Ausgangspunkt der Analyse ist das Moralbewusstsein, also das Bewusstsein der Pflicht, das Kant mit der Achtung fürs Gesetz oder der Achtung vor dem Gesetz identifiziert: Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung (GMS, 4:401Anm.). Pflicht, d.i. Achtung fürs Gesetz (KpV, 5:85). Die Achtung vor dem Gesetze, welche subjectiv als moralisches Gefühl bezeichnet wird, ist mit dem Bewußtsein seiner Pflicht einerlei (MS, 6:464).

 Vgl. GMS, 4:401Anm.

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In der Forschungsliteratur zur Achtung unterscheidet man mit Blick auf das komplexe Moralbewusstsein zwischen einem Bewusstseinsmodus und einem Bewusstseinsinhalt, wobei sich der Modus als ein Gefühl der Achtung und der Inhalt als Gesetz oder Pflicht beschreiben lässt.¹⁰⁶ Entweder beschreibt Kant den Modus als ein ambivalentes Gefühl für das Moralgesetz, das er dann allerdings ausschließlich positiv bestimmt. Oder er bestimmt den Inhalt des Bewusstseins als Pflicht und den Modus des Gefühls als ein rein positives Gefühl. Wir schätzen in einem ambivalenten Gefühl der moralischen Wertschätzung ein positives Moralgesetz. Oder wir schätzen in einem positiven Gefühl der moralischen Wertschätzung die ambivalente Selbstverpflichtung. Die Einschränkung der sinnlichen Bestimmungsgründe, die Kant auch als Demütigung oder Einschränkung von Hindernissen bezeichnet und die für das Moralbewusstsein charakteristisch ist, wird also entweder mit Blick auf den Inhalt oder mit Blick auf den Modus des Moralbewusstseins zum Ausdruck gebracht. An einigen Stellen entwirft Kant das Gefühl der Achtung fürs Gesetz als ein ambivalentes Gefühl, das einen negativen und einen positiven Gefühlsaspekt umfasst.¹⁰⁷ Diese zwei Gefühlsaspekte führt Kant auf die zwei Aspekte der menschlichen Natur zurück, sinnlich und vernünftig zu sein: Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen aber nur durch eigene Vernunft angethan wird, verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz. (KpV, 5:80).

Die beiden Gefühlsaspekte geben also Auskunft darüber, dass sich der Mensch als vernünftiges Wesen ein Gesetz gibt, dem er sich als sinnliches Wesen unterwirft. Achtung in seiner positiven Bedeutung ist Achtung für die unbedingte Geltung eines Gesetzes, das die „eigene Vernunft“ (KpV, 5:80) spontan hervorbringt. Achtung in seiner negativen Bedeutung ist Achtung für die „Unterwerfung“ des Willens und den „Zwange, der allen Neigungen“ (KpV, 5:80) angetan wird, wobei die Einschränkung aller Neigungen die Reinheit dieser Willensbestimmung anzeigt. Als ein ambivalentes Gefühl impliziert das Gefühl der Achtung begriffsanalytisch das Vermögen der reinen praktischen Vernunft und die Endlichkeit des Willens, insofern er sinnlich durch Neigungen affiziert ist. Daher ist ausge-

 Vgl. Heidegger 1991, 158; Henrich 1973, 229 f.; Schönecker 2013a; Beck 1960, 222; StrattonLake 2000, 38; Schadow 2013, 273; Timmermann 2003, 192 ff.  Vgl. z. B. KpV, 5:77, 80 f. In dieser Hinsicht gibt es eine Analogie zwischen der Demütigung und Erhebung im Gefühl der Achtung und dem Gefühl des Erhabenen, weil sich „die Seele sich in dem Maße selbst zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht“ (KpV, 5:77).

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Teil III: Rekonstruktion

schlossen, dass rein vernünftige Wesen wie Gott oder aber vernunftlose Geschöpfe wie Tiere ein Gefühl der Achtung erleben können.¹⁰⁸ Dieselbe Pointe formuliert Kant an anderen Stellen, wenn er den Bewusstseinsinhalt als Pflicht analysiert. In diesem Fall ist die Pflicht das intentionale Objekt einer positiven Achtung, weil die Einschränkung der Sinnlichkeit dann in dem Bewusstseinsinhalt verortet wird. Der Begriff der Pflicht enthält nämlich den Begriff eines guten Willens nur „unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen“ (GMS, 4:397). Aufgrund von subjektiven Hindernissen sei das Moralgesetz für den Menschen niemals ein „Gesetz der Heiligkeit“, sondern ein „Gesetz der Pflicht, der moralischen Nöthigung“ (KpV, 5:82).¹⁰⁹ Das Gefühl der Achtung, verstanden als der Modus des Moralbewusstseins, ist also eine positive Schätzung, wenn der Gegenstand dieser Wertschätzung nicht die Vorstellung eines unbedingten Werts ist, sondern die „Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut“ (GMS, 4:401Anm.). Diese Vorstellung ist eine Vorstellung der Nötigung, die der eigenen Vernunft entspringt. Auch die Analyse der Pflicht führt also notwendig auf die reine praktische Vernunft und auf die Endlichkeit desjenigen Subjekts, das sich selbst nötigt. In dieser Begriffsanalyse verweisen die einzelnen Merkmale des komplexen Moralbewusstseins wechselseitig aufeinander, sodass keines ohne die anderen verständlich werden kann.¹¹⁰ Für eine transzendentalphilosophische Begriffsanalyse ist es aber charakteristisch, dass sie die wesentlichen Bestandteile des Moralbewusstseins in einer argumentativen Reihenfolge isoliert und anschließend wieder miteinander verknüpft.¹¹¹ Der Anspruch der zweiten Ebene des  Vgl. KpV, 5:76.  Vgl. z. B. auch KpV, 5:80; 81; 82; 83 oder Kants emphatische Darstellung der „Pflicht!“ (KpV, 5:86).  Eine solche Analyse demonstriert Schönecker, wenn er verteidigt, dass uns das Gesetz nicht ohne das Gefühl (als Bewusstsein des Gesetzes) bewusst sein könne: „[D]ie reine praktische Vernunft als gesetzgebende Vernunft (und damit die Freiheit) ist also selbst eine Tatsache (Vernunft als Faktum, etwas Wirkliches, Genitivus objectivus), die uns aber als Tatsache ja nur bewusst ist, indem wir eben ein ‚Bewusstsein‘ des Gesetzes haben.“ (Schönecker 2013a, 97). Er erwähnt zwar auch an einer Stelle die Lesart der Wendung ‚Faktum der Vernunft‘ als Genitivus subjectivus: „Denn das moralische Gesetz (der KI) ist ja ohne Zweifel, wie Kant sagt, ein ‚Produkt der Vernunft‘ (KpV 20, 7), und in diesem einen Sinne von ‚Faktum‘ eine Tat oder Handlung der Vernunft (Genitivus subjectivus).“ (Schönecker 2013a, 97). Von einer begründungstheoretischen Reihenfolge der Begriffsmerkmale wird in seiner Begriffsanalyse aber weitgehend abgesehen.  „Um aber […] bis zur Metaphysik […] durch die natürlichen Stufen fortzuschreiten, müssen wir das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich darstellen.“ (GMS, 4:412). Dies kann eine phänomenologische Methode meines Erachtens nicht leisten, ebenso wie sie nicht erklären kann, ob das Gesetz oder die Freiheit, der negative oder positive Gefühlsaspekt be-

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Modells ist wesentlich auf die Verdeutlichung dieser Begründungshierarchien und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Formen ausgerichtet. Die bisherige Begriffsanalyse kann also nur als eine erste Annäherung an Kants Theorie der Achtung betrachtet werden. Im Folgenden verlasse ich daher den Fokus auf das komplexe Moralbewusstsein und gehe zur Betrachtung der isolierten Bestandteile a priori über, zu der auch das Gefühl der Achtung zählt. Achtung ist, als Bedingung a priori der Möglichkeit moralischer Erfahrung, eine universale Form der Sinnlichkeit, die als solche aber subjektiv, nämlich ästhetisch, ist und sich darin von dem formalen Moralprinzip der Vernunft als Bedingung a priori unterscheidet. Als universale sinnliche Form bestimmt Achtung nur den Willen endlicher Subjekte, insofern der endliche Wille ein Vermögen der Sinnlichkeit voraussetzt, das gewissermaßen kontingent ist und rein theoretisch auch anders beschaffen sein könnte. Dieser gewissermaßen kontingente Status einer Bedingung a priori, die Sinnlichkeit voraussetzt, ist in Kants Philosophie nicht einzigartig, wenn auch etwas irritierend: Auch zu den reinen Anschauungsformen Raum und Zeit merkt Kant an, dass sie kontingent sind mit Blick auf das Gedankenexperiment, dass es andere Erkenntnissubjekte mit einer andersartigen Sinnlichkeit geben könnte.¹¹² Einen ähnlichen Status wie dem Gefühl der Achtung müssten auch der reinen Anschauung mathematischer Erkenntnis und der reinen ästhetischen Form der Sinnlichkeit zukommen. Im Kontext von Kants Moralphilosophie ist besonders deutlich, dass sich das Gefühl der Achtung durch seinen Bezug auf einen endlichen Willen von dem Moralprinzip unterscheidet, denn das Moralgesetz gilt für alle vernunftbegabten

gründungstheoretisch als primär anzusehen sind. Zur Herleitung der begründungstheoretischen Reihenfolge der Elemente ist eine transzendentalphilosophische Methode notwendig.  Die Formen der Sinnlichkeit sind „Kant zufolge a priori und kommen der Sinnlichkeit wesentlich zu. Ihre je spezifische Bestimmung aber ist kontingent.“ (Engelhard 2015, 2117; vgl. KrV, B72, A252, A27/B43; 7:399). In seiner Schrift Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804) beschreibt Kant die Kategorien hierarchisch als allgemeine im Gegensatz zu den Formen der Sinnlichkeit. Er betont, dass die Kategorien „keine bestimmte Art der Anschauung (wie etwa die uns Menschen allein mögliche), wie Raum und Zeit, welche sinnlich ist, voraussetzen, sondern nur Denkformen sind für den Begriff von einem Gegenstande der Anschauung überhaupt, welcher Art diese auch sey, wenn es auch eine übersinnliche Anschauung wäre, von der wir uns specifisch keinen Begriff machen können“ (FM, 20:272). Das bedeute, dass „die Kategorie für sich von den Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, nicht abhängig ist, sondern auch andre für uns gar nicht denkbare Formen zur Unterlage haben mag, wenn diese nur das Subjective betreffen, was a priori vor aller Erkenntniß vorhergeht, und synthetische Urtheile a priori möglich macht“ (FM, 20:272).

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Wesen.¹¹³ Dies zeigt sich auch daran, dass Achtung immer auch einen negativen Gefühlsaspekt voraussetzt, den Kant eben als Demütigung der Ansprüche der Selbstliebe beschreibt. In dieser Demütigung der sinnlichen Bestimmungsgründe des endlichen Willens demonstriert nach Kant die reine praktische Vernunft ihre Kausalität und verschafft sich erst dadurch auch in der Sinnlichkeit Ansehen, nämlich Achtung.¹¹⁴ Kant behauptet ausdrücklich, dass die sinnlich-praktische Natur des Subjekts daher als eine Bedingung der Entstehung des Gefühls der Achtung betrachtet werden müsse.¹¹⁵ Weil die Achtung einen solchen, wenn auch nur negativ-indirekten Bezug zur kontingenten Sinnlichkeit des Menschen hat, handelt es sich um eine Bedingung a priori, die auf sinnlich-vernünftige Wesen beschränkt ist und die daher in der argumentativen Reihenfolge ausgehend von dem komplexen Moralbewusstsein die erste Bedingung a priori ist. Kant thematisiert nur vereinzelt den Status der Achtung als Bedingung a priori. Eine bemerkenswerte Passage ist der Abschnitt „XII. Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ (MS, 6:399) aus der Einleitung zur Tugendlehre, in der Kant mehrfach betont, dass es sich um eine „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ (MS, 6:399) handelt.¹¹⁶ Zwar verwendet er hier nicht die Ausdrücke „transzendental“ und „a priori“, aber er umschreibt diesen Status des moralischen Gefühls mit der These: „[A]lles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zum Grunde, um sich der Nöthigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden“ (MS, 6:399). Ebenso gelte für die „Achtung (reverentia)“: Man müsse „Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“ (MS, 6:403). Die These, dass es sich bei dem moralischen Gefühl der Achtung um eine subjektive (oder ästhetische) Bedingung a priori handelt, ist keine Innovation der

 Das Gesetz sei „not at all contingent – not even in the general sense in which the universal Kantian structures of space and time, or even of human socialbility and legality, are transcendentally contingent insofar as they, unlike the absolutely necessary moral law, rest on forms of sensibility“ (Ameriks 2010, 34).  „Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbstliebe im Gegensatze mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft.“ (KpV, 5:76).  „Vielmehr ist das sinnliche Gefühl, das allen unseren Neigungen zu Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der Bestimmung derselben liegt in der reinen praktischen Vernunft.“ (KpV, 5:75).  Eine sehr hilfreiche und die wohl genaueste Analyse dieser wenig beachteten Passage erarbeitet Schönecker unter besonderer Berücksichtigung der Menschenliebe (vgl. Schönecker 2010).

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Tugendlehre. Dieselbe These findet man bereits in der GMS, wo es heißt, dass „objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz“ (GMS, 4:400) übrig bleiben, wenn man alle empirischen Bestimmungsgründe des Willens absondert. Im dritten Hauptstück der Analytik der KpV wiederholt und vertieft Kant diese These, indem er nachzuweisen versucht, „wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß das moralische Gesetz […] eine Wirkung aufs Gefühl ausüben könne, welche einerseits blos negativ ist, andererseits und zwar in Ansehung des einschränkenden Grundes der reinen praktischen Vernunft positiv ist“ (KpV, 5:74 f.).¹¹⁷ Mehrfach schlussfolgert er, dass das Gefühl der Achtung a priori erkannt werden könne.¹¹⁸ Somit muss das Gefühl der Achtung als isoliertes Gefühl a priori zum Kern einer Metaphysik der Sitten hinzu gehören. Deutlich wird außerdem auch immer wieder auf den Unterschied zwischen den subjektiven und objektiven Bedingungen a priori hingewiesen. In der Einleitung zur Tugendlehre wird betont, dass Achtung und das moralische Gefühl als „natürliche Gemüthsanlagen (praedispositio) durch Pflichtbegriffe afficirt zu werden“ (MS, 6:399)¹¹⁹ dadurch ausgezeichnet sind, dass sie „als subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, nicht als objective Bedingungen der Moralität zum Grunde liegen“ (MS, 6:399). Als subjektive Bedingungen, durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden, unterscheiden sie sich von dem Moralprinzip und der Freiheit als den objektiven Bedingungen a priori. Auch in der KpV bestätigt Kant die Asymmetrie der Bedingungen a priori und grenzt das Gefühl der Achtung als subjektive Bedingung erstens von dem Moralprinzip und zweitens von der Gründung des Gesetzes in der transzendentalen Freiheit ab: „Es dient [erstens] nicht zu Beurtheilung der Handlungen, oder [zweitens] wohl gar zur Gründung des objectiven Sittengesetzes selbst“ (KpV, 5:76). Achtung setzt also erstens, als reine moralische Form der Sinnlichkeit, das objektive Sittengesetz voraus. Zweitens setzen sowohl das Gefühl der Achtung als auch das Sittengesetz einen formalen Grund voraus, dem sie entspringen. Die letzte isolierte Form, die sich isolieren lässt, ist daher das Selbst in seiner spon-

 Vgl. KpV, 5:72.  Vgl. KpV, 5:73; 78 f.; 80. Zinkin kritisiert, dass Achtung als Gefühl a priori rätselhaft bleiben muss, wenn man Kants synthetisch-progressiven (nach Zinkin seinen „physical“ statt „psychological“) Ansatz unberücksichtigt lässt. Sie schlägt vor, dass sich Kants metaphysische Erklärung der Achtung im Triebfedernkapitel in Anlehnung an Kants frühen Aufsatz über das Konzept der negativen Größen verstehen lässt. Ich teile ihre Kritik und werde unten ausführlich diesen wenig beachteten Interpretationsvorschlag aufgreifen und verteidigen (vgl. Teil IV, Kap. 1).  ‚Affiziert zu werden‘ bedeutet hier allerdings nicht dasselbe wie motiviert zu werden, wie Schönecker annimmt (vgl. Schönecker 2010, 29 ff.). Kant bietet m. E. in der gesamten Passage keinen Anlass zu dieser Gleichsetzung.

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tanen Leistung verstanden als ein „auf sie [die Person] selbst gerichteter Wille“ (KpV, 5:87). Diese Bedingung muss sowohl dem Sittengesetz als auch der Achtung als Ursprung zugrunde liegen, wenn das Gesetz als ein selbstgegebenes Gesetz und die Achtung als ein selbstgewirktes Gefühl verständlich werden sollen.¹²⁰ Das selbstgegebene Gesetz und die selbstgewirkte Achtung implizieren also die letzte Bedingung a priori in der Argumentationskette: das Selbst oder den Willen.¹²¹ Entsprechend erklärt Kant auch in der KpV, dass das Gefühl der Achtung als eine Wirkung „vom Bewußtsein des moralischen Gesetzes, folglich in Beziehung auf eine intelligibele Ursache, nämlich das Subject der reinen praktischen Vernunft als obersten Gesetzgeberin“ (KpV, 5:75), verstanden werden muss. Analytisch oder ‚von oben‘ lassen sich aus dem komplexen Moralbewusstsein also ein Gefühl der Achtung und der Demütigung, daraus ein Gesetz als Pflicht und daraus einerseits die Endlichkeit und andererseits ein unbedingter Ursprung herleiten, nämlich der Wille oder die reine praktische Vernunft als ein Vermögen absoluter Spontaneität.

Synthetische Methode Kant setzt im dritten Hauptstück der Analytik voraus, dass reine Vernunft für sich selbst praktisch ist. Er setzt also voraus, dass „ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne“ (KpV 5:72). Der Aufgabe einer philosophischen Erklärung der Freiheit und des Moralgesetzes widmet er sich in diesem Abschnitt nicht mehr. Stattdessen nimmt er an, dass das Moralgesetz den Willen objektiv und subjektiv hinreichend bestimmen kann.¹²² Ausgehend davon konzentriert er sich auf die Frage, wie das Gesetz, insofern es den Willen bestimmt, auf die Sinnlichkeit wirkt: Also werden wir nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, so fern es eine solche ist, sie im Gemüthe wirkt (besser zu sagen, wirken muß), a priori anzuzeigen haben (KpV, 5:72).

 Insofern muss das Gesetz als solches gedacht werden, das „wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen“ und das Gefühl der Achtung muss als moralisches Gefühl ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401 Anm.) sein. Zu Kants Verwendung der Ausdrücke „selbst“ und „eigen“: vgl. Prauss 1983, 128 – 136.  Vgl. GMS, 4:446; KpV, 5:9Anm.; MS, 6:211. Den Willen als Grund des Moralgesetzes beschreibt Kant in der GMS als Zweck an sich: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen.“ (GMS, 4:428).  Vgl. KpV, 5:71 f.

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Im anschließenden Abschnitt formuliert Kant mehrfach dasselbe metaphysische Argument, und er beansprucht damit, einen a priori gültigen Nachweis zu erbringen, wenn er schlussfolgert: „[S]o begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß das moralische Gesetz […] eine Wirkung aufs Gefühl ausüben könne“ (KpV, 5:74). Er möchte also nicht bloß zeigen, wie das Gesetz eine Wirkung auf das Gefühl ausübt, sondern auch metaphysisch nachweisen, dass das Gesetz einen Einfluss auf das Gefühl ausübt, indem es als Triebfeder im Menschen wirkt.¹²³ Hierzu arbeitet Kant erstens heraus, wie das Gesetz in endlichen Wesen als Triebfeder wirkt. Zweitens leitet er die Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl her, insofern es „eine solche“ (KpV, 5:72) Triebfeder ist. Diese beiden Fragen greifen zwar ineinander, allerdings ist die Frage, wie das Gesetz in endlichen Wesen als Triebfeder wirkt, der Frage, welche Wirkung es dabei auf das Gefühl ausübt, vorgeordnet. Um zu verstehen, welche Wirkung die Vernunft auf das Gefühl ausübt, muss man verstehen, wie sich praktische Vernunft in endlichen Wesen verwirklicht. Dabei ist Kants Prämisse intellektualistisch. Denn Kant setzt in diesem Kapitel voraus, dass reine Vernunft auch in endlichen Wesen praktisch wirksam werden kann und will nur erklären, „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe, vorgehe“ (KpV, 5:72). Der Einfluss auf das Gefühl darf also nicht als ein Argument für die These missverstanden werden, dass reine Vernunft auch in endlichen Wesen praktisch werden kann. Denn: Dass reine Vernunft auch in endlichen Wesen praktisch ist, wird von Kant bereits vorausgesetzt. Charakteristisch für diesen Abschnitt ist also die Strategie, dass der Einfluss auf das Gefühl als eine notwendige Wirkung oder Folge der praktischen Wirkung des Gesetzes in endlichen Wesen untersucht werden soll.¹²⁴ Da diese praktische Wirkung des Gesetzes als ein Vernunftakt verstanden werden muss, ist es außerdem naheliegend, dass diesem Entstehungsprozess ein gefühlsunabhängiges Moralbewusstsein zugrunde liegt, wie es Metaphysiker behaupten. Das gefühlte Moralbewusstsein des

 Andere Interpreten wie Ware denken hingegen, dass sich Kant in diesem Abschnitt ausschließlich um eine Phänomenologie des moralischen Gefühls bemüht: „Yet on closer inspection we can see that Kant is bracketing the question of reason‘s causal efficacy, from a third-person perspective, focusing instead on the question of what the moral law must feel like, from a firstperson perspective.“ (Ware 2014, 734). Dagegen wird hier vertreten, dass Kant außer einer phänomenologischen Beschreibung auch einen philosophischen Nachweis für den kausalen Einfluss der Vernunft auf das Gefühl formulieren möchte. Kant zufolge ist es philosophisch also nicht unerklärbar, wie eine rein vernünftige Idee einen Einfluss auf das Gefühl ausüben kann.  Die Kernaussage fasst Kant bereits zusammen, wenn er Achtung als „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ einführt (GMS, 4:401Anm.).

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Menschen entsteht auf der Grundlage eines rein vernünftigen Moralbewusstseins, indem die Vernunft als Triebfeder wirkt. Im Triebfedernkapitel konzentriert sich Kant auf die Frage, wie das gefühlsabhängige Bewusstsein zustande kommt. Um das Gefühl als Wirkung zu erklären, muss man also zuvor verstehen, wie sich reine Vernunft in endlichen Wesen praktisch verwirklicht. Dies tut sie, wie Kant auf einigen Seiten scheinbar endlos wiederholt, indem sie „mit Abbruch“ und „Abweisung“ (KpV, 5:72) wirkt, „Neigungen Eintrag thut“ (KpV, 5:73), niederschlägt, „demüthigt“ (KpV, 5:74), „einschränkt“ (KpV, 5:78), „den Widerstand aus dem Wege schafft“, „Hindernisse“ wegräumt, „vermindert“ (KpV, 5:75). Die Form der praktischen Wirkung reiner Vernunft in endlichen Wesen entspricht mit anderen Worten dem metaphysischen Konzept einer negativen Größe. Darunter versteht man eine Kraft, die sich manifestiert, indem sie ihren realen Gegensatz aufhebt.¹²⁵ Das Gesetz manifestiert seine Wirkung im Bewusstsein des Menschen, indem es in einen praktischen Widerstreit zu den Neigungen gerät. Dieser Widerstreit beruht auf der Besonderheit, dass der moralische Bestimmungsgrund alle anderen Bestimmungsgründe aus seiner Geltung ausschließt. Auf diese Weise demonstriert das Gesetz in endlichen Wesen seine unbedingte Geltung und Reinheit als Pflicht. Der Pflichtgedanke stellt das Gute nicht in seiner Reinform dar; es erscheint in der „Abstechung“ (GMS, 4:397) von den ihm wesensfremden Elementen. Diese für den Begriff der Pflicht charakteristische „Abstechung“ greift Kant im Triebfedernkapitel als „Ausschließung“ wieder auf, wenn er den Gedanken der Pflicht einführt:¹²⁶ Die Handlung, die nach diesem Gesetze mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung objectiv praktisch ist, heißt Pflicht, welche um dieser Ausschließung willen in ihrem Begriffe praktische Nöthigung, d.i. Bestimmung zu Handlungen so ungerne, wie sie auch geschehen mögen, enthält. (KpV, 5:80).

In diesem Zitat nennt Kant das wesensfremde Moment. Es sind die Bestimmungsgründe aus Neigung, die durch das Gesetz ausgeschlossen werden, wenn es sich dem Menschen als Pflicht offenbart. Pflicht bedeutet also eine Bestimmung

 Dieser Vorschlag, die Wirkung des Gesetzes, wie sie Kant im Triebfedernkapitel beschreibt, als Wirkung einer negativen Größe zu verstehen, wie sie von Kant in einem frühen Essay von 1763 über negative Größen beschrieben wird (vgl. NG, 2:167– 204), geht auf Zinkin zurück (vgl. Zinkin 2006). Er wird unten in Teil IV, Kap. 1, ausführlich aufgegriffen.  Weil der Begriff der Pflicht indirekt auch die Sinnlichkeit eines endlichen Wesens betrifft, thematisiert Kant den Begriff der Pflicht in der KpV ausführlich erst im Rahmen der Ästhetik: „Während die Grundlegung den für den Gedanken eines kategorischen Imperativs vorausgesetzten Begriff der Pflicht schon zu Beginn (vgl. GMS, IV 397) einführt, taucht er in der zweiten Kritik erst spät, im dritten und letzten Hauptstück der Analytik, auf“ (Höffe 2012, 83).

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zum Handeln umwillen der Ausschließung aller bedingten Bestimmungsgründe. Die Entgegensetzung zwischen dem unbedingten Gesetz und bedingten Bestimmungsgründen ist die Form des spezifischen Verhältnisses des Menschen zur Moralität. Auch die Aufgabe, zu bestimmen, wie das Gesetz zur Triebfeder werde, steht unter diesem Vorzeichnen der Endlichkeit menschlicher Wesen. Denn eine „Triebfeder (elater animi)“ sei der „subjektive Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens […], dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Gesetz nothwendig gemäß ist“ (KpV, 5:72). Daraus folgt, wie Kant fortfährt, „daß man dem göttlichen Willen gar keine Triebfedern beilegen könne, die Triebfeder des menschlichen Willens aber (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas anderes als das moralische Gesetz sein könne“ (KpV, 5:72). Was dem göttlichen Willen fehlt, um eine Triebfeder von Kant beigelegt zu bekommen, ist eine subjektive Natur zur Bestimmung des Willens, die den objektiven Bestimmungsgründen als Gegenkraft und Hindernis entgegensteht. Dies bestätigt Kant einige Seiten später, wenn er vertritt, die Begriffe „einer Triebfeder, eines Interesse und einer Maxime, können nur auf endliche Wesen angewandt werden“ (KpV, 5:79). Wenn das Gesetz im Menschen als Triebfeder wirkt, dann schränkt es also die Hindernisse, die seiner sinnlichen Natur entspringen, ein. Aus diesem Verhältnis der realen Entgegensetzung schlussfolgert Kant, dass diese rein vernünftige Triebfeder, indem sie die Neigungen einschränkt, auch ein Gefühl hervorrufen muss: Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag thut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältniß eines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten. (KpV, 5:73).

Kants Antwort auf die Frage, wie die Vernunft eine Wirkung aufs Gefühl haben kann, lautet: Das Gesetz tut allen unseren Neigungen Eintrag. Diese Entgegensetzung ist keine bloß logische, sondern eine reale Entgegensetzung, wie Kant in dem Satz zuvor durch seine Prämisse deutlich macht, die lautet: „Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl.“ (KpV, 5:72 f.). Die negative Wirkung des Gesetzes ist selbst ein Gefühl, weil die Neigungen nicht bloß in einem logischen Sinne aufgehoben werden. Es geschieht ihnen ein realer Abbruch, der sich in einem negativen Schmerzgefühl äußert. Die Wirkung der zwei einander entgegengesetzten Kräfte ist also selber eine reale Größe, die reale Größe des Gesetzes, die eine reale Wirkung zur Folge

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hat, nämlich ein negatives Gefühl. Auf diese Weise ist nachgewiesen, dass das Gesetz eine Wirkung auf das Gefühl ausübt, indem es die Neigungen einschränkt. Dieses Argument kann als ein erster Schritt in der Herleitung des moralischen Gefühls verstanden werden, aber nur als ein erster Schritt, denn noch ist nicht klar, wieso das Gesetz immer den Neigungen Abbruch tut, da nur einige Neigungen gesetzeswidrig sind. Die entscheidende Prämisse für das Argument besteht darin, dass dem Gesetz ein Hindernis entgegensteht, doch warum dies a priori der Fall sein muss, ist bislang noch nicht gesagt. Außerdem ist bisher nur von einer negativen Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl die Rede gewesen, obwohl es Kants Anspruch ist, zu zeigen, dass das Gesetz auch ein positives Gefühl der moralischen Wertschätzung hervorruft. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, Kants Argument auf eine Weise zu rekonstruieren, die dem Nachweis einer Wirkung a priori, die auch positiv ist, Rechnung trägt. Zuerst soll gezeigt werden, warum es sich um ein transzendentalphilosophisches Argument handelt, das zeigt, dass das Gesetz notwendig eine negative Wirkung auf das Gefühl ausübt. Anschließend wird der Übergang zu einer positiven Wirkung auf das Gefühl rekonstruiert. Dass dem Gesetz immer ein Hindernis entgegensteht, ist nicht selbstverständlich, da nur die Inhalte einiger Neigungen in einem praktischen Widerspruch zum Moralgesetz stehen, das insofern nur fordert, die Befriedigung der Selbstliebe auf die Bedingung der Übereinstimmung mit dem Gesetz einzuschränken.¹²⁷ Der Nachweis einer notwendigen Wirkung der Vernunft auf das Gefühl kann nicht von der kontingenten Tatsache abhängen, welche konkreten Neigungen jemand hat, und daher kann der Grund für die notwendige Wirkung auf das Gefühl auch nicht inhaltlich in der Selbstliebe begründet liegen. Kant löst dieses Problem mit der Annahme eines natürlichen „Hang[es] zur Selbstschätzung“ (KpV, 5:73) der Selbstliebe, wobei diese These anthropologisch klingt und obskur ist: Einerseits nämlich beschreibt Kant diesen Hang als eine Art Maxime zweiter Stufe und insofern nicht als Neigung; andererseits schreibt er diesem Hang den Status einer Neigung zu.¹²⁸ Auf diese Weise rechtfertigt er, dass die Nichtbefriedigung dieses Hanges damit gleichbedeutend sei, allen Neigungen

 Vgl. KpV, 5:72 f.  „Nun gehört der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch thut, so fern jene blos auf der Sinnlichkeit beruht.“ (KpV, 5:73). „Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Princip macht, Eigendünkel heißen kann.“ (KpV, 5:74).

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oder der Selbstliebe insgesamt Abbruch zu tun.¹²⁹ Weil sich der Hang als eine natürliche Selbstschätzung kontinuierlich im Menschen regt, so das Argument, muss die Selbstliebe immer auf die Bedingung der Einstimmung des Gesetzes eingeschränkt werden. Der Konflikt zwischen dem Gesetz und diesem besonderen Hang ist also der entscheidende Rechtfertigungsgrund für die These, dass die Vernunft notwendig ein Gefühl bewirkt: [S]o begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß das moralische Gesetz, indem es die Neigungen und den Hang, sie zur obersten praktischen Bedingung zu machen, d.i. die Selbstliebe, von allem Beitritte zur obersten Gesetzgebung ausschließt, eine Wirkung aufs Gefühl ausüben könne (KpV, 5:74).

Der Hang zur Selbstschätzung der Selbstliebe, den Kant auch als „Eigendünkel“ (KpV, 5:73) bezeichnet, verfolgt den Anspruch, die Neigungen noch vor dem Gesetz „als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen“ (KpV, 5:74). Dieser Hang tendiert dazu, die subjektiven Bestimmungsgründe der Willkür als objektive Bestimmungsgründe des Willens auszuweisen, sodass also der faktische Anspruch der Neigungen zum normativen unbedingten praktischen Prinzip erhoben wird.¹³⁰ Die reine praktische Vernunft demonstriert dagegen, dass „alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugniß sind“ (KpV, 5:73). Sie demütigt in diesem Urteil der moralischen Selbstschätzung den Menschen (seinen Hang zur Selbstschätzung der Selbstliebe), indem sie „der Meinung seines persönlichen Werths Abbruch tut (der ohne Einstimmung mit dem moralischen Gesetz auf nichts herabgesetzt wird)“ (KpV, 5:78). Diese beiden Beurteilungsmaßstäbe widersprechen einander. Aus der Perspektive der reinen praktischen Vernunft hingegen handelt es sich nicht um einen Widerspruch, sondern um einen „Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft (antagonismus)“ (GMS, 4:424). Auf diesem Konzept einer ‚natürlichen Dialektik‘¹³¹ oder „Realrepugnanz“ (NG, 2:175) beruht der Nachweis einer Wirkung auf das Gefühl. Eine wichtige Prämisse ist daher die Annahme, dass es einen solchen Hang zur Selbstschätzung der Selbstliebe im Menschen überhaupt gibt, weil allein dieser Hang begründet,  „Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag thut, ein Gefühl bewirken müsse“ (KpV, 5:72).  Vgl. KpV, 5:74.  Aus der Konfrontation der Selbstliebe mit dem Gesetz „entspringt eine natürliche Dialektik“, die er auch in der GMS als „Hang“ beschreibt, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen“ (GMS, 4:405).

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dass die reine praktische Vernunft in der Selbstliebe immer auf Widerstand stößt.¹³² Eine anthropologische Begründung dieser Prämisse stünde im Konflikt zu der These, dass es sich um ein Argument handeln soll, das eine Notwendigkeit nachweist.¹³³ Der reale Gegensatz zwischen dem Gesetz und dem Hang der Selbstliebe lässt sich aber auch als ein formales Argument rekonstruieren. Führt Kant auf die folgende Weise den Hang der Selbstliebe ein, dann lässt sich der Rekurs auf die Natur sinnlicher Wesen auch als eine formale Voraussetzung moralischer Reflexion rekonstruieren: Nun finden wir aber unsere Natur als sinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei (KpV, 5:74).

Die Tatsache, dass sich die Materie des Begehrungsvermögens zuerst aufdringt, sodass die Ansprüche der Neigungen als die ersten und ursprünglichen Bestimmungsgründe anzusehen sind, entspricht dem Wesen menschlichen Handelns. Auf dieses Wesen menschlichen Handelns baut die reine praktische Vernunft als eine Tätigkeit der Selbstreflexion auf, indem sie ein formales Gesetz zur Beurteilung der einzelnen Maximen bereitstellt. Neigungen und Maximen, in denen wir uns Zwecke setzen, sind und bleiben, als Materie des Handelns, die unhintergehbare Grundlage moralischer Reflexion, und auf diese materiale Grundlage nimmt eine rein formale Ethik notwendigerweise Bezug.¹³⁴ Unabhängig davon, wie eifrig der Mensch seinen Charakter und sein natürliches Streben nach Glückseligkeit moralisch kultiviert, so wird er seine Selbstliebe und die Inhalte der Neigungen, die sich fortwährend aufdrängen, niemals ablegen können, weil dann die moralische Selbstreflexion des Willens als auf sich selbst gerichteter  „Also demüthigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht.“ (KpV, 5:74).  Engstrom deutet die Bemerkungen über den Hang als „empirical observation about our sensible nature“ (Engstrom 2010, 102). Er vertritt, dass Kant zweistufig vorgeht, wobei er erstens das Konzept unserer sinnlichen Natur empirisch anreichert, um zweitens a priori zu zeigen, welche Wirkung das Gesetz auf diese empirisch spezifizierte Natur haben muss (vgl. Engstrom 2010, 103).  Dass dieser Hang – mit anderen Worten „die Neigungen, die doch allemal das erste Wort haben“ (KpV, 5:146) – im Sinne einer materialen Voraussetzung primär ist, wird auch in Kants Argumentation gegen Ende der Dialektik deutlich (vgl. KpV, 5:146 f. und hierzu Timmermann 2015, 232– 235). Vgl. hierzu Teil IV, Kap. 2.

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Wille sinnlich-vernünftiger Wesen ihre inhaltliche Grundlage verlöre. Insofern liegt der Hang, die Ansprüche der Neigungen als die ersten anzusehen, in der formalen Struktur der praktisch-moralischen Selbstreflexion begründet, in der die Ansprüche der Neigungen immer die Grundlage bilden. Das Bewusstsein der Pflicht ist daher immer auch das „Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung“ (KpV, 5:128). Weil die Ansprüche der Selbstliebe naturgemäß die Grundlage menschlichen Handelns bilden, ist es naheliegend, sie auch der Geltung nach „als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen“ (KpV, 5:74). Hierbei handelt es sich aber um einen Seins-Sollens-Fehlschluss: Weil die Neigungen faktisch immer die Grundlage allen Handelns bilden, wird geschlussfolgert, dass sie auch normativ die Grundlage der praktischen Reflexion bilden sollen.¹³⁵ Sobald der gesetzgebende Anspruch der Selbstliebe erhoben wird, kündigt die reine praktische Vernunft ihren Widerspruch an und demonstriert, dass der normativ unbedingte Geltungsanspruch der Selbstliebe praktisch illegitim ist. Der Hang wird im Zuge der weiteren normativen Selbstreflexion gedemütigt. Dieser Hang geht der moralischen Reflexion voraus, weil die moralische Bestimmung des Menschen als seine „zweite und höchste Bestimmung“ (KpV, 5:87) auf die Inhalte der Selbstliebe aufbaut. Insofern ist in der formalen Struktur der moralischen Selbstreflexion immer auch notwendig ein Konflikt integriert, da dasjenige, was natürlicherweise die Grundlage bildet, der Vernunft zufolge nur eine nachgeordnete Geltung beanspruchen darf. Der moralische Anspruch der reinen praktischen Vernunft ist zwar der Entstehung nach der zweite, er führt aber der vernünftigen Geltung nach den ersten und höchsten Anspruch auf eine praktische Willensbestimmung mit sich. In dieser realen Entgegensetzung zwischen dem Hang zur Selbstschätzung der Selbstliebe und dem moralischen Anspruch des Gesetzes muss die natürliche Ordnung im Zuge der Selbstreflexion immer wieder erneut in eine moralischvernünftige Ordnung umgekehrt werden. Aus diesem Grund ist die praktische Wirksamkeit der moralischen Selbstreflexion immer der Grund für ein negatives Gefühl infolge einer Demütigung des natürlichen und formal begründeten Hanges der Selbstliebe. Von der Hervorbringung eines positiven Gefühls der Achtung ist im Triebfedernkapitel weniger deutlich die Rede. Doch Kant vertritt, dass die negative

 Ware vertritt die These, dass der Eigendünkel auf einer Art transzendentalen Illusion beruht, wie sie dem psychologischen Rationalismus zugrunde liegt, „i. e. inferring objective knowledge of the soul from merely subjective conditions of thought“ (Ware 2014, 737). Analog hierzu beruhe der Eigendünkel auf einer Illusion, die zu einem Fehlschluss führt: „We think the claims of our sensible nature should have priority in deliberation because they are the first in time to make demands on us“ (Ware 2014, 736).

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Wirkung auf das Gefühl auch eine positive Seite hat. Das positive Gefühl tritt als eine weitere Ebene des Gefühls zu der negativen Einschränkung der Sinnlichkeit hinzu. Dies wird daran deutlich, dass Kant das „sinnliche Gefühl, was allen unseren Neigungen zum Grunde liegt“, als „die Bedingung derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen“ (KpV, 5:75), auszeichnet. Das negative Gefühl sei, „wie jedes Gefühl überhaupt, pathologisch“ (KpV, 5:75). Das Gefühl, das wir Achtung nennen, könne hingegen „mit keinem pathologischen in Vergleichung gezogen werden“ (KpV, 5:76). Dabei ist es auffällig, dass Achtung erstens die negative Wirkung auf das Gefühl als Bedingung voraussetzt, dass es andererseits aber als ein Gefühl beschrieben wird, das dem Ursprung dieser Wirkung gilt: Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns in unserem Selbstbewußtsein demüthigt, erweckt, so fern als es positiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung. (KpV, 5:74).

Das negative Gefühl der Achtung entsteht durch eine praktische Beurteilung der Neigungen durch die reine praktische Vernunft. Das positive Gefühl beruht hingegen auf einem Urteil, das der reinen praktischen Vernunft in Anbetracht ihrer negativen Wirkung gilt. Positiv sei das Gefühl „in Ansehung des einschränkenden Grundes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, 5:75). Das positive Gefühl setzt also ein negatives Gefühl der Einschränkung bereits voraus. Was den einschränkenden Grund außerdem auszeichnet, ist, dass er „allen Neigungen insgesammt in der Selbstliebe Abbruch thut“ (KpV, 5:74). Darin zeigt sich die Reinheit des Ursprungs, der in dem Gefühl der Achtung wertgeschätzt wird. Denn nur das moralische Gesetz schließt „den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Prinzip gänzlich aus“ (KpV, 5:74). Bemerkenswert ist, dass Kant der Auffassung ist, dass diese Reinheit noch nicht im negativen Gefühl zum Ausdruck kommt. Er schreibt, dass wir in der negativen Wirkung der Demütigung „nicht die Kraft des reinen praktischen Gesetzes als Triebfeder, sondern nur den Widerstand gegen Triebfedern der Sinnlichkeit erkennen können“ (KpV, 5:78). Daraufhin stellt er heraus, dass die Reinheit des Ursprungs erst im positiven Gefühl der Achtung erlebt wird: Weil aber dasselbe Gesetz doch objectiv, d.i. in der Vorstellung der reinen Vernunft, ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens ist, folglich diese Demüthigung nur relativ auf die Reinigkeit des Gesetzes stattfindet, so ist die Herabsetzung der Ansprüche der moralischen Selbstschätzung, d.i. Demüthigung auf der sinnlichen Seite, eine Erhebung der moralischen, d.i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen, mit einem Worte Achtung fürs Gesetz, also auch ein seiner intellectuellen Ursache nach positives Gefühl, das a priori erkannt wird. (KpV, 5:79).

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Die moralische Schätzung des Gesetzes gilt dem Gesetz als dem intellektuellen, unmittelbaren Bestimmungsgrund der Demütigung auf der sinnlichen Seite. Was im positiven Gefühl geschätzt wird, ist also die sinnliche Seite der Demütigung in Relation zur intellektuellen Seite des Gesetzes als der intellektuellen Ursache dieses negativen Gefühls. Die negative Wirkung wird in moralischer Hinsicht, also auf der intellektuellen Seite, mit Blick auf ihren Ursprung interpretiert und positiv evaluiert.¹³⁶ Es wird geurteilt, dass das negative Gefühl mit Blick auf seinen Ursprung etwas moralisch Gutes ist, da der Ursprung rein und vernünftig ist. Dies bringt Kant zufolge das positive Gefühl der Achtung zum Ausdruck. Es handelt sich um eine moralische und ebenfalls gefühlte Umdeutung des negativen Schmerzgefühls: „Denn eine jede Verminderung der Hindernisse einer Thätigkeit ist Beförderung dieser Thätigkeit selbst“ (KpV, 5:79). Die „Verminderung der Hindernisse einer Thätigkeit“ erzeugt zwar ein Schmerzgefühl, aber dieses Schmerzgefühl ist außerdem auch der Gegenstand einer moralischen Schätzung, weil das sinnliche Schmerzgefühl eine moralische „Beförderung der Thätigkeit“ (KpV, 5:79) anzeigt. Was den Gegensatz der moralischen Kraft aufhebt, ist aus einer moralischen Perspektive schätzenswert.¹³⁷ Unklar ist allerdings, wie dieser positive Aspekt einer moralischen Wertschätzung zustande kommen soll. Die Entstehung der positiven Qualität lässt sich nicht direkt durch den einschränkenden Akt der Vernunft erklären. Daher erweckt Kant im Triebfedernkapitel den Eindruck, als könne er nur den negativen Gefühlsaspekt formal herleiten, wobei der positive Aspekt der moralischen Wertschätzung lediglich postuliert zu werden scheint. Die Entstehung der positiven Wertschätzung scheint komplizierter zu sein als die Entstehung der negativen Wirkung, was dadurch bestätigt wird, dass Kant den positiven Effekt als eine indirekte Wirkung der Vernunft beschreibt: Also muß die Achtung fürs moralische Gesetz auch als positive, aber indirecte Wirkung desselben aufs Gefühl, so fern jenes den hindernden Einfluß der Neigungen durch Demüthigung des Eigendünkels schwächt, […] angesehen werden (KpV, 5:79).

 Diesen komplizierten Prozess, der sowohl affektive als auch kognitive Elemente beinhalte, beschreibt Höwing mit den Worten, „dass das moralische Gefühl zugleich das Bewusstsein seiner eigenen rationalen Angemessenheit beinhaltet. Wir sind uns in diesem Gefühl unmittelbar bewusst, dass wir uns in einem affektiven Zustand befinden, der im Lichte unseres eigenen Urteils rational angemessen ist“ (Höwing 2013a, 225 f.).  Jörg Noller beschreibt diese Umdeutung des Gegensatzes wie folgt: „Kant konzipiert hier also einen Negativismus der Achtung, deren letzte Bestimmung er aus einer Negation der Negation gewinnt“ (Noller 2012, 219).

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Teil III: Rekonstruktion

Diese Tatsache, dass es das Gesetz ist, das die negative Wirkung erzeugt, muss dem Subjekt bewusst sein, damit ein positiver Gefühlsaspekt der Achtung entstehen kann. Es muss sich einerseits um ein Selbstbewusstsein der Vernunft handeln, die einen Akt vollzieht, andererseits aber muss es sich um ein Bewusstsein der partikularen Wirkung handeln, die negativ ist. Weder die Vernunft noch das Gefühl allein kann der Ursprung einer positiven Bewertung dieses einschränkenden Aktes sein, weil die positive Bewertung die Relation zwischen dem reinen, vernünftigen Ursprung und der partikularen Demütigung betrifft. Sollte die Vernunft dieses Urteil, dass eine negative Wirkung auf das Gefühl aus moralischer Perspektive gut zu nennen ist, hervorbringen, dann ist die Frage, wie dieses Urteil wiederum einen Effekt auf das Gefühl ausüben kann. Außerdem ist das Vernunfturteil auf das Allgemeine gerichtet, wogegen in dem Gefühl der Achtung der partikulare Akt der Einschränkung der Neigungen moralisch wertgeschätzt wird. Andererseits lässt sich auch dem Gefühl der Achtung nicht der Vergleich der negativen Wirkung mit ihrem positiven Ursprung zusprechen, weil das Gefühl kein Beurteilungsvermögen ist. An dieser Stelle zeigt sich eine Lücke in Kants Herleitung der Entstehung des positiven Gefühls der Achtung. Diese Lücke lässt sich durch ein Vermögen schließen, das Kant in der KpV kaum berücksichtigt, das er an dieser Stelle seiner Argumentation aber vorauszusetzen scheint. Was die Entstehung des positiven Gefühls der Achtung erklärt, ist ein Akt des Gewissens, das von Kant als ein partikulares moralisches Selbstbewusstsein beschrieben wird. Dieses moralische Selbstbewusstsein zeichnet sich dadurch aus, dass es mit Blick auf partikulare Akte zwischen dem allgemeinen Urteil der Vernunft und dem moralischen Gefühl vermittelt: Denn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft. Seine Beziehung also ist nicht die auf ein Object, sondern bloß aufs Subject (das moralische Gefühl durch ihren Akt zu afficiren); also eine unausbleibliche Thatsache. (MS, 6:400).

Die These lautet, dass das Gefühl der Achtung eine Wirkung der Lossprechung von der Demütigung ist. In diesem Akt des Gewissens affiziert die praktische Vernunft das moralische Gefühl auf eine positive Weise durch ihren Akt der Demütigung. Das Gewissen leistet dabei die Verbindung zwischen der allgemeinen Vernunft, dem partikularen Akt und der Affizierung des moralischen Gefühls, denn es hat eine Beziehung auf die Vernunft, auf den einzelnen Fall und auf das moralische Gefühl. Das Gewissen äußert sich in dem positiven Gefühl der Achtung und bringt damit zum Ausdruck, dass der Mensch in Anbetracht der umfassenden Demütigung seiner Natur freizusprechen sei, weil der Ursprung dieses negativen Aspekts mit dem Anspruch der Vernunft übereinstimmt.

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Über das Gewissen wird außerdem gesagt, dass der Mensch „sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen oder als pflichtwidrig vorwerfen“ (MS, 6:400 f.) könnte, wenn er kein Gewissen hätte. Das erklärt, warum Kant im Triebfedernkapitel schreibt, dass wir an der negativen Wirkung auf das Gefühl „nicht die Kraft des reinen praktischen Gesetzes als Triebfeder, sondern nur den Widerstand gegen Triebfedern der Sinnlichkeit erkennen können“ (KpV, 5:78). Erst im positiven Gefühl der Achtung wird über den Akt des Gewissens ein Selbstbewusstsein erreicht, in dem wir die Demütigung als pflichtmäßig beurteilen und sie uns selber zurechnen. Kant nimmt an, dass das Gewissen und somit auch das moralische Gefühl an jeder Tat der praktischen Vernunft als eine partikulare Stufe des praktischen Selbstbewusstseins beteiligt sind: „[W]enn es […] zur That kommt oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich“ (MS, 6:401). Sobald die Vernunft den Anspruch der Neigungen demütigt, tritt ihm zufolge das Gewissen auf und verknüpft diesen Akt mit einer Affizierung des moralischen Gefühls. Diese Annahme liegt zugrunde, wenn er im Triebfedernkapitel das positive Gefühl der Achtung herleitet und vertritt: „[E]in solches Gefühl sei unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen Wesen verbunden“ (KpV, 5:80). Dass die Vernunft in ihrer praktischen Wirkung auf endliche Wesen auch ein positives Gefühl der moralischen Wertschätzung zur Folge hat, lässt sich also nur anzweifeln, indem man in Frage stellt, dass bei jeder moralischen Tat auch das Gewissen als untere Stufe des Selbstbewusstseins beteiligt ist.

2.2.3 Dritte Ebene: Achtung als Repräsentant einer aktiv gegebenen Wirklichkeit Auf der dritten Ebene des Modells wird das Ergebnis der philosophischen Reflexion auf die moralische Erfahrung, die den Ausgangspunkt bildete, bezogen und im Sinne der Lehre des Transzendentalen Idealismus geklärt, wie sich die philosophischen Aussagen der zweiten Ebene von der moralischen Erfahrung aussagen lassen. Insgesamt geht es auf der dritten Ebene des Modells nicht mehr darum, das Wesentliche der menschlichen Erfahrung durch eine Herleitung der formalen Bestandteile philosophisch zu erklären. Die Funktion dieser dritten Ebene besteht vielmehr darin, die Theorie systematisch zu vollenden, insofern erst auf dieser dritten Ebene Aussagen über eine Theorie (2. Ebene) der Erfahrung (1. Ebene) gemacht werden. Eine, wenn nicht die zentrale These dieser zweitstufigen Reflexion lautet, dass der Erfahrungsgegenstand, zum Beispiel der empirische Gegenstand der

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Wahrnehmung, nur eine Erscheinung sei.¹³⁸ Kant verteidigt diese Lehre auch im Rahmen seiner Moralphilosophie. Er vertritt, dass auch der praktische Gegenstand der moralischen Erfahrung nur als Erscheinung erkannt werden kann. Hierzu führt er das Gefühl der Achtung als Erscheinungs-Aspekt moralischer Selbstbestimmung ein, aber er zeichnet diesen Erscheinungs-Aspekt zugleich als eine hinreichende Bedingung der Wirklichkeit von Moralität aus, sodass ihm eine systematisch abschließende Funktion zukommt. In GMS III deutet Kant diese These mit Blick auf das moralische Interesse in Form eines Arguments an, das in der Literatur als „passivity argument“ diskutiert wird.¹³⁹ Dieses Argument setzt die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich mit Blick auf das moralphilosophische Subjekt voraus. Auch mit Blick auf das Subjekt soll gelten, dass „alle Vorstellungen […] uns die Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns afficiren, wobei, was sie an sich sein mögen, uns unbekannt bleibt“ (GMS, 4:451). Entsprechend unterscheidet Kant zwischen zwei Gesichtspunkten der Selbsterkenntnis, nämlich „zwischen den Vorstellungen, die uns anders woher gegeben werden, und dabei wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Thätigkeit beweisen“ (GMS, 4:451). Er unterscheidet also zwischen gegebenen

 Die These der Analytik seiner theoretischen Philosophie lautet, dass „wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d.i. als Erscheinung Erkenntnis haben können“ (KrV, BXXVI). Vgl. KrV, A39/B56, A139/B178 f.  Ameriks versteht darunter, „that the mere passivity of our sensible representations entails there being something in itself distinct from them and hence that even our own self, which we know through sensibility, has a distinct non-sensible nature in itself“ (Ameriks 2003, 175; vgl. 181 ff.). Er vertritt, dass dieses Argument für Kants Vorhaben einer Deduktion nutzlos und daher im Kontext von GMS III auch befremdlich sei (vgl. Ameriks 2003, 175). Ihm zufolge hat es lediglich eine „suggestive function“: „It rather serves to introduce a supposedly helpful association between the passive and merely phenomenal on the one hand and the active and noumenal on the other hand“ (Ameriks 2003, 181). Allison betrachtet das Argument immerhin als „a part of a deliberate (and ultimately unsuccessful) strategy to present his views in a manner accessible to ordinary understanding“ (Allison 2011, 318, Anm. 36). Letztlich sei dieses Argument, wie auch Grenberg vertritt, nicht erfolgreich, weil der passive Zugang nur einen Schluss auf die negative Freiheit, aber nicht auf die Rationalität und die Autonomie des Subjekts zulasse. Grenberg befürwortet jedoch prinzipiell diese Methode einer phänomenologischen Begründung des Moralgesetzes in GMS III (vgl. z. B. Grenberg 2009, 352). Ich denke, dass Kants Anspielung auf das moralische Interesse vor dem Hintergrund seiner tiefergehenden Ausführungen in der KpV einen phänomenalen Zugang bereitstellt, der die Autonomie des Subjekts in der Sinnlichkeit repräsentieren kann. Allerdings trägt dieses Argument nicht zur Begründung des Moralgesetzes bei, sondern zum systematischen Abschluss einer Theorie, deren Begründung womöglich gar nicht erfolgreich gelungen ist. Mit anderen Worten ordne ich das Argument nicht auf der zweiten, sondern auf der dritten Ebene des Theoriemodells ein.

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Vorstellungen, die das Subjekt als Erscheinung passiv erleidet, und zwischen einer aktiven Tätigkeit, die das Subjekt als noumenales Wesen aktiv hervorbringt. Wenn eine Vorstellung aktiv hervorgebracht ist, dann gelange sie „unmittelbar zum Bewußtsein“, wenn sie hingegen passiv erlitten wird, dann beruhe die Vorstellung auf einer „Afficirung der Sinne“ (GMS, 4:451), wie Kant erläutert.¹⁴⁰ Interessant und für unseren Kontext relevant ist, dass eine Vorstellung nicht bloß aktiv hervorgebracht oder passiv gegeben sein kann. Sie kann mit Blick auf moralische Vorstellungen endlicher Wesen auch ‚aktiv gegeben‘ sein. Die Vorstellung der Pflicht und der moralisch-guten Gesinnung beruht auf einer aktiven Tätigkeit des Hervorbringens. Sie wird hingegen als Erscheinung erkannt, insofern der Gedanke der Pflicht den Menschen als sinnliches Wesen adressiert und affiziert. Dieser moralische Erscheinungsaspekt ist aber gerade nicht passiv gegeben, da er nicht auf der Affizierung der Sinne durch ein Objekt beruht.¹⁴¹ Er ist stattdessen aktiv gegeben, da die Vernunft in der Wirkung auf die Sinnlichkeit ihre spontane Tätigkeit demonstriert.¹⁴² Im moralischen Gefühl erkennt sich das Subjekt als spontane Tätigkeit, indem es sinnlich affiziert wird. Hinreichend viele Stellen bestätigen, dass Kant einen moralischen Erscheinungs-Aspekt für notwendig hält, dass es ihm zufolge also notwendig eine Empfindung, ein Gefühl oder ein Interesse geben muss, welches die intelligible Welt in der phänomenalen Welt repräsentiert.¹⁴³ Der intelligible Grund der Willensbestimmung verwirklicht

 Der Mensch gehöre „in Absicht auf die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Thätigkeit sein mag, (dessen, was gar nicht durch Afficirung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewußtsein gelangt)“ müsse er „sich zur intellectuellen Welt zählen […], die er doch nicht weiter kennt“ (GMS, 4:451).  Das moralische Gefühl beruht nicht auf einer Affizierung der Sinne durch ein praktisches Objekt. „Nun aber ist es ein Gefühl, was blos aufs Praktische geht und zwar der Vorstellung eines Gesetzes lediglich seiner Form nach, nicht irgend eines Objects desselben wegen anhängt, mithin weder zum Vergnügen, noch zum Schmerze gerechnet werden kann“ (KpV, 5:80). Daher ist es „von allen Gefühlen der ersteren [pathologischen] Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden“ (GMS, 4:401Anm.).  Mir scheint, dass Ameriks etwas Ähnliches meint, wenn er schreibt: „Yet even though the passivity argument as such can play no valid essential role, Kant clearly needs something like it to set up the suggestion that, instead of speaking merely negatively about what is not merely sensible, we should think that there is a distinct order of non-sensible things that have their own way of being constituted, namely, by themselves rather than passively or heteronomously.“ (Ameriks 2003, 181).  Vgl. z. B. GMS, 4:403, 460 oder eben das Triebfedernkapitel der KpV: „Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d.i. der Freiheit, so ist es […] mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs

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sich unter Einwirkung auf die Sinnlichkeit „als reine Selbstthätigkeit“ oder „Spontaneität“ (GMS, 4:352) und wird infolgedessen in der Sinnlichkeit durch ein besonderes „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) repräsentiert. Der Abschnitt, in dem Kant das sogenannte „passivity argument“ vorträgt, ist überschrieben mit dem Titel „Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt“ (GMS, 4:448). Ich werde das Interesse und die Ideen zum Einstieg voneinander unterscheiden, um anschließend den engen Zusammenhang zu klären, der asymmetrisch ist, derart, dass immer das Interesse den Ideen anhängt. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass es sich bei diesen Ideen um praktische Begriffe a priori handelt, die „nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen, und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen“ (KpV, 5:66).¹⁴⁴ Unter den Ideen der Sittlichkeit versteht Kant erstens die „Idee seiner Freiheit“ – also die Idee, dass ein vernünftiges Wesen „mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d.i. mit einem Willen begabt“ ist (GMS, 5:449); zweitens versteht er darunter die Idee „unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung“, also „das Bewußtsein eines Gesetzes“ (GMS, 4:449). Beide Ideen werden dem Vermögen der „Vernunft“ zugeschrieben, die „unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt“, dass das Subjekt in Anbetracht dieser reinen Selbsttätigkeit „als zur intelligiblen Welt gehörig“ (GMS, 4:452) betrachtet werden muss.¹⁴⁵ Unter den Ideen der Sittlichkeit denken wir den Menschen, wie er als vernünftiges Wesen „an sich selbst sei“ (GMS, 4:451). Das Interesse wird in Abgrenzung zu den Ideen der Sittlichkeit nicht der Vernunft, sondern dem „Sinn“¹⁴⁶ zugerechnet. Es steht in einem engen Zusammenhang mit dem „Gefühl“ (GMS, 4:451): Denn das moralische Interesse wird im ersten Abschnitt mit dem Gefühl der Achtung identifiziert¹⁴⁷ und später auf das „moralische Gefühl“ als

ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellectuellen Grund gewirkt wird“ (KpV, 5:73).  Kant zufolge kann nur die Vernunft als reine Selbsttätigkeit Begriffe hervorbringen, die für sich selbst praktisch sind, wohingegen die Begriffe des Verstandes „bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen“ (vgl. GMS, 4:452).  Unten wurde allerdings im Kontext der Aufarbeitung der Position der Metaphysiker gesagt, dass auch reine Zeitlichkeit als eine absolute Selbsttätigkeit des Subjekts verstanden werden kann, wobei Zeitlichkeit gerade nicht zum Intelligiblen gehört. Insofern scheint reine Selbsttätigkeit nicht bloß im Intelligiblen stattfinden zu können.  „Sinn“ definiert er als dasjenige, was „bloß Vorstellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen affiziert (mithin leidend) ist“ (GMS, 4:452).  Vgl. GMS, 4:401Anm.

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„Grundlage in uns“ (GMS, 4:460) zurückgeführt. Dieses Interesse repräsentiert den Willen als Erscheinung autonomer Selbsttätigkeit und insofern repräsentiert es nicht die intelligible Möglichkeit, sondern eine sensible Wirklichkeit von Moralität. Kant beurteilt das moralische Interesse oder Gefühl als sensible Wirkung nämlich in zweierlei Hinsichten als notwendig: Einerseits müsse der Mensch notwendig ein Interesse am Gesetz nehmen, um sich dem Prinzip zu „unterwerfen“ (GMS, 4:449); andererseits beurteilt er es als notwendig, „um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt“; also müsse es auch „ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht geben“ (GMS, 4:460). In beiden Hinsichten handelt es sich um eine moralische Gesinnung und insofern um eine Wirklichkeit, die durch die reinen Ideen der Sittlichkeit hervorgebracht wird. Wichtig ist das asymmetrische Verhältnis, wie es im Titel von dem Interesse, das den Ideen „anhängt“, zum Ausdruck kommt und immer dann bestätigt wird, wenn Kant das moralische Interesse näher bestimmt als ein Interesse, das wir notwendig an einer gebotenen Handlung nehmen, das uns aber nicht zum Handeln antreibt.¹⁴⁸ Im übernächsten Abschnitt „Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ (GMS, 4:455) greift Kant das moralische Interesse und Gefühl wieder auf und bestimmt es mehrfach im Haupttext und einer Fußnote als eine, mit anderen Worten, notwendige Wirkung der (intelligiblen) Vernunft, was dem eigentümlichen Status einer Vorstellung entspricht, die wir aktiv erleiden. Allgemein definiert er in dieser Fußnote „Interesse“ als „das, wodurch Vernunft praktisch, d.i. eine den Willen bestimmende Ursache wird“ (GMS, 4:459 f.Anm.). Ein Interesse in dieser Bedeutung sei etwas, womit man die Freiheit des Willens subjektiv erklären könne, indem man die Handlung nämlich auf ein subjektives Interesse zurückführt. Eine solche subjektive Erklärung der moralischen Handlung ist unmöglich, und gleichermaßen ist auch ein solches Interesse an der moralischen Handlung ausgeschlossen.¹⁴⁹ Kant grenzt aber in derselben Fußnote hiervon ein „unmittelbares Interesse“ oder „reines Vernunftinteresse“ ab und bestimmt es erneut als ein Interesse, das wir an einer Handlung nehmen, „wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein gnugsamer Bestimmungsgrund

 Vgl. GMS, 4:449.  „Die subjective Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch am moralischen Gesetz nehmen könne, einerlei“ (GMS, 4:459 f.). Dabei versteht Kant unter Erklärung eine naturgesetzliche Erklärung: „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objective Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgendeiner Erfahrung dargetan werden kann“ (GMS, 4:459).

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des Willens“ (GMS, 4:459 f. Anm.) ist. Auf der folgenden Seite wiederholt er noch drei weitere Male die These, dass dem reinen Vernunftakt ein moralisches Interesse folgt: Es sei ein Interesse, das „als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergibt“ (GMS, 4:460); es setze „eine Causalität derselben [Vernunft], die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen“ (GMS, 4:460) voraus; es gelte asymmetrisch, dass das Gesetz nur darum interessiert, weil es gilt, dass es aber „nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessirt“ (GMS, 4:460). Die Kernaussage, die auf diese Weise am moralischen Interesse verdeutlicht wird, fasst Kant anschließend als hervorgehobene Pointe zusammen: „[W]as aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft nothwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet“ (GMS, 4:461).¹⁵⁰ Dies gilt in besonderem Maße für das moralische Interesse und Gefühl, insofern es sich um eine aktiv gegebene Erscheinung der intelligiblen Vernunft handelt. Weil das Gefühl der Achtung eine Vorstellung ist, die durch die Vernunft aktiv gegeben wird, ist es der Vernunft nicht nur untergeordnet, sondern bildet eine besondere Einheit mit ihr. Besonders deutlich bringt Kant diesen Gedanken einer Einheit des phänomenalen moralischen Selbstbewusstseins in der KpV zum Ausdruck.¹⁵¹ Dort verteidigt er die These, dass „die Vernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibelen Existenz (das moralische) ankommt, keinen Zeitunterschied anerkennt und nur frägt, ob die Begebenheit mir als That angehöre, alsdann aber immer dieselbe Empfindung damit moralisch verknüpft, sie mag jetzt geschehen oder vorlängst geschehen sein“ (KpV, 5:99). Das aber bedeutet, dass die moralischen Gefühle der Achtung und Verachtung überzeitlich und insofern in einer intelligibelen Einheit mit ihrem Ursprung, der Vernunfthandlung, verknüpft sind. Eine solche intelligible Einheit von Vernunft und Sinnenleben setzt allerdings voraus, dass die Empfindungen dabei als intelligibel verursachte Empfindungen gedacht werden, die wir aktiv erleiden. Der intelligible Grund erscheint in dem Gefühl jedoch nicht als solcher, sondern immer nur als eine praktische Wirkung der Vernunft, die einen negativen Einfluss auf die Sinnlichkeit hat. Nur die Tätigkeit der negativen Einflussnahme des Gesetzes auf die Sinnlichkeit wird in dem Gefühl der Achtung repräsentiert. Das moralisch Gute wird also niemals auf direktem Weg wahrgenommen, und das moralische Gefühl darf daher auch nicht als Sinn missverstanden werden:

 Dies ist eine Konsequenz der zuvor genannten Voraussetzung, dass „die Verstandeswelt, den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält“ (GMS, 4:453).  „[D]as Sinnenleben hat in Ansehung des intelligibelen Bewußtseins seines Dasein (der Freiheit) absolute Einheit eines Phänomens“ (KpV, 5:99).

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Wir haben aber für das (Sittlich‐) Gute und Böse eben so wenig einen besonderen Sinn, als wir einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt, sondern Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es, was wir das moralische Gefühl nennen. (MS, 6:400).

Hier wiederholt Kant eine wichtige Pointe des vorigen Abschnitts über die besondere Auszeichnung der Demütigung als Bedingung für die Genese der Achtung, die lautet, dass der Gegenstand der Achtung genau genommen nicht das Gesetz, sondern das demütigende Gesetz ist. Kant vertritt im Triebfedernkapitel, dass für das „Gesetz gar kein Gefühl stattfindet“ (KpV, 5:75). Die Passage, aus der diese Aussage stammt, handelt von der Genese des ambivalenten Gefühls. Dort erläutert Kant, dass dieses Gefühl einerseits eine negative „Demüthigung (intellectuelle Verachtung)“ sei; andererseits heiße diese negative Demütigung: in Beziehung auf den positiven Grund derselben, das Gesetz, zugleich Achtung für dasselbe, für welches Gesetz gar kein Gefühl stattfindet, sondern im Urtheile der Vernunft, indem es den Widerstand aus dem Wege schafft, die Wegräumung eines Hindernisses einer positiven Beförderung der Causalität gleichgeschätzt wird. Darum kann dieses Gefühl nun auch ein Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz […] genannt werden. (KpV, 5:75)

Das positive Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz kann also nur darum ein Gefühl der Achtung fürs Gesetz genannt werden, weil es Achtung für eine Tätigkeit des Gesetzes, die Demütigung, ist, und allein diese Tätigkeit ist dasjenige, was dem gewöhnlichen Menschen im Gefühl bewusst werden kann. Die Kausalität der Vernunft erscheint, indem das Gesetz als Nötigung oder als Triebfeder wirkt, wobei diese Wirkung der Wegräumung eines Hindernisses im Urteil der Vernunft entspricht. Es ist also wichtig, dass Kant das Gefühl „in Beziehung auf den positiven Grund derselben“ (KpV, 5:75), nämlich der Demütigung, Achtung nennt. Menschen haben keine Achtung für den Grund, unabhängig davon, dass es sich um den Grund der Demütigung handelt, sondern Achtung für den Grund der Demütigung. Nicht das Gesetz, sondern das demütigende Gesetz wird geachtet. Was in dem Gefühl der Achtung repräsentiert wird, ist also kein Gegenstand der intelligiblen Welt, sondern eine Tätigkeit der reinen praktischen Vernunft. Dies ist wichtig, weil reine Spontaneität nicht erkannt werden kann und alle Versuche, eine unbedingte Kausalität sinnlich zu erkennen, die äußerste Grenze der Erkenntnis überschreiten und phantastisch sein würden. Kant spricht diesbezüglich bereits in der GMS die deutliche Warnung aus: „Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte.“ (GMS, 4:458).

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Im Triebfedernkapitel präsentiert Kant eine Theorie des moralischen Gefühls, die beansprucht, diese erkenntnistheoretische Grenze nicht zu überschreiten. Darum vertritt er, dass es für das Gesetz kein Gefühl gibt. Das nämlich würde bedeuten, dass es einen Sinn für Moralität gäbe. Irgendetwas in der Art muss zwar vorausgesetzt werden, um einen partikularen Zugang zur Idee der Moralität denken zu können, aber ein Sinn, eine Erfahrung oder Wahrnehmung dieser Idee ist erkenntnistheoretisch ausgeschlossen, weil dies immer Anschaulichkeit voraussetzen würde, die unbedingte Forderung der reinen praktischen Vernunft aber gerade in dem Sinne unbedingt ist, dass sie keiner Anschaulichkeit bedarf und keiner fähig ist. Wäre das Gesetz der reinen praktischen Vernunft anschaulich, dann wäre es ohne diese Anschauung ein bloßes Hirngespenst. Es könnte entsprechend auch, wie die reinen Verstandesbegriffe, nur in der Anschauung, die immer partikular ist, und somit nur bedingt gelten. Sobald man das Unbedingte als etwas Anschauliches zu begreifen versucht, begreift man doch nur das anschaulich Bedingte. Daher kann das Gefühl der Achtung als Erscheinungsweise des unbedingten Gesetzes auch nicht auf den inneren Sinn gegründet sein: Wäre dieses Gefühl der Achtung pathologisch und also ein auf den inneren Sinn gegründetes Gefühl der Lust, so würde es vergeblich sein, eine Verbindung derselben mit irgend einer Idee a priori zu entdecken. (KpV, 5:80).

Es gibt also keinen inneren Sinn und kein Gefühl für das Gesetz. Mit anderen Worten kann das Gesetz kein Gegenstand der Lust und Unlust und kein Gegenstand der Neigung und Furcht sein. Kant kritisiert die innere Veranschaulichung von Moralität, der sich ‚Lehrer‘ behelfen. Wer das Motiv der Pflicht in Beispielen zur Befolgung mit anderen Triebfedern vermischt, um es anschaulich zu machen, der verfehlt eindeutig die Pointe und trägt mit seiner Schwärmerei und dem Aufruf zum Verdienstlichen eher zum Untergang als zum Fortschritt der Sitten bei.¹⁵² Das empirisch-Unbedingte lässt sich nicht empirisch verdeutlichen.¹⁵³ Daher ist die Frage, wie es überhaupt ein partikulares Bewusstsein des allgemeinen Gesetzes geben kann, heikel. Ein Gefühl für die reine Vernunft und ihr Gesetz kann es nur geben, insofern „Vernunft“ und „Gesetz“ als etwas „Praktisches“ gedacht werden. Insofern ist die Redewendung einer Achtung für das oder vor dem Gesetz irreführend und missverständlich, wenn Kant behauptet, „das bloße Gesetz für sich kann ein Gegen-

 Vgl. KpV, 5:84 f.  Aus demselben Grund könne auch Gott kein Gegenstand der Neigung sein: „Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne.“ (KpV, 5:83).

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stand der Achtung und hiemit ein Gebot sein“ (GMS, 4:400). Wenn sich Kant auf diese Weise ausdrückt, dann versteht er unter Achtung ein ambivalentes Gefühl, das einen Akt der Demütigung beinhaltet. Ein Gefühl der Achtung fürs Gesetz verstanden als eine positive Schätzung oder als direkte Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl ist hingegen ausgeschlossen. Die Kausalität der reinen Vernunft lässt sich Kant zufolge nicht auf direktem Weg positiv schätzen.¹⁵⁴ Achtung sei ein Gefühl, „was bloß aufs Praktische geht“ (KpV, 5:80). Dieses Praktische sei kein Begriff oder Gegenstand, der unseren inneren Sinn affizieren und dadurch erkannt werden könnte. Das intentionale Objekt der Achtung ist, wie Kant in der GMS und KpV vertritt, weder ein Objekt des Willens, wie zum Beispiel die reizvolle Vorstellung eines Apfels, noch eine intellektuelle Idee als solche, wie ein formales Gesetz oder reine Spontaneität als Gegenstand spekulativer Vernunft, sondern die „Thätigkeit eines Willens“ (GMS, 4:400) im realen Gegensatz zum natürlichen Hang der Selbstliebe.¹⁵⁵ Auf diese Weise überschreitet der Philosoph nicht die Grenze der Erkenntnis, sondern er erweitert sie in einer praktischen Hinsicht. Auch zum Abschluss der Reflexion muss sich der Philosoph auf diese besondere praktische Hervorbringung eines Gefühls einlassen, um die gewöhnliche Erfahrung von Moralität zu verstehen, die den Ausgangspunkt seiner Reflexion bildete. Zum Schluss der Argumentation wird das Gefühl der Achtung, insofern es die moralische Erfahrung repräsentiert, nicht mehr nur als gemeine Erfahrung, sondern als eine Wirkung innerhalb einer intelligiblen Einheit begriffen. Das Gefühl der Achtung erfüllt darin seine transzendentalphilosophisch notwendige, abschließende Funktion.

2.2.4 Vierte Ebene: Achtung als moralische Zufriedenheit Die Postulate der reinen praktischen Vernunft lassen sich als Elemente der vierten Theorieebene einstufen, auf der die Leitidee und das oberste Ziel menschlicher Autonomie, wie es die vorherigen drei Ebenen begründen, in praktischer, methodischer und theoretischer Hinsicht verteidigt werden.¹⁵⁶ In der Dialektik der KpV definiert Kant, dass er unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er

 Vgl. KpV, 5:79, 73.  „Zum Objecte als Wirkung meiner vorhabenden Handlung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung, eben darum weil sie bloß eine Wirkung und nicht Thätigkeit eines Willens ist.“ (GMS, 4:400, m.H.).  Vgl. Ameriks 2003, 5.Wichtig ist mit Blick auf die vierte Ebene die holistische Ausrichtung, in der Autonomie nicht nur in praktischer Hinsicht, sondern auch in methodologischer und theoretischer Hinsicht verteidigt wird.

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einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV, 5:122). Es gibt entsprechend zwei Bedingungen, die ein theoretischer Satz erfüllen muss, um als ein Postulat zu gelten. Es muss sich um einen theoretischen Satz handeln, der erstens theoretisch nicht beweisbar ist, der zweitens jedoch praktisch notwendig ist.¹⁵⁷ Diese beiden Bedingungen charakterisieren die Postulate der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Sie liegen außerhalb der Reichweite philosophischer Beweisbarkeit. Hierbei handelt es sich also nicht um eine im strengen Sinne wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um eine Art Weisheit, die Kant auch als vernünftige „Hoffnung“ (KpV, 5:123, 128) oder als „Vernunftglaube“ (KpV, 5:126, 144) bezeichnet. Dieser Glaube entspricht einer praktischen Erweiterung der reinen Vernunft, die mit ihrer spekulativen Einschränkung einhergeht.¹⁵⁸ Bereits in der zweiten Auflage der KrV beschreibt Kant diese Strategie: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (KrV, BXXX). Der Weg zur Weisheit und zum Glauben müsse aber „unvermeidlich durch die Wissenschaft durchgehen“ (KpV, 5:141), wie Kant erklärt. Von der praktischen Erweiterung der Wissenschaft um einen Vernunftglauben könne man nur „nach Vollendung derselben überzeugt“ (KpV, 5:141) sein. Die Elemente der vierten Ebene zeichnen sich also dadurch aus, dass sie nicht mehr Teil der strengen Wissenschaft sind, aber notwendig daraus hervorgehen. Sie dienen zur Verteidigung der begrifflichen Einsicht, die über ihre Grenzen hinausgeht, die aber dennoch begrifflich ist, insofern die praktische Erweiterung argumentativ aus den ersten drei fundamentalen Ebenen der Theorie hergeleitet wird.¹⁵⁹ Begrifflich ist die Annahme der Postulate der reinen praktischen Vernunft in der Lehre vom höchsten Gut verankert, die zur Auflösung einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft eingeführt wird. Wie auch in der KrV lässt sich die Dialektik der reinen praktischen Vernunft als „ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst verstehen“ (KpV, 5:107), der eine Antinomie offenbart. Im praktischen Gebrauch der Vernunft zeigt sich dieser Widerstreit darin, dass die Vernunft als reine praktische Vernunft das Unbedingte „zu dem Praktisch-Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht)“ sucht, das nicht als Bestimmungsgrund, sondern als Gegenstand des Willens verstanden wird: nämlich „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“ (KpV, 5:108). Indem sie diese praktische Idee sucht, gerät sie in  Vgl. Willaschek (08.04. 2016).  „Spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben bringen dieselbe allererst in dasjenige Verhältnis der Gleichheit, worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann“ (KpV, 5:141). Vgl. zum Glauben Teil IV, Kap. 3.2.  Vgl. KpV, 5:113 f., 132 f., 138 f, 141 f.

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eine Antinomie, denn das höchste Gut hat zwei Bestandteile, die Maxime der Tugend und die Glückseligkeit, die in der Idee der unbedingten Totalität des Gegenstandes notwendig miteinander verknüpft sein müssen und doch so ungleichartig sind, dass ihre notwendige Verknüpfung unmöglich erscheint.¹⁶⁰ Im Rahmen der ersten drei Ebenen ist eine Lösung dieser Antinomie unmöglich. Sie ist andererseits a priori notwendig und widerlegt daher auch die vorherigen Theorieebenen, sollte sie nicht gelöst werden können.¹⁶¹ Die Auflösung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft muss nach Kant in einer praktischen Erweiterung der spekulativen Vernunft gesucht werden. Um den notwendigen Zusammenhang zu denken, der in der Natur gar nicht oder höchstens zufällig vorkommen kann, sind zwei Bedingungen notwendig: erstens Postulate, insbesondere jene der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes; zweitens die Ursache, nämlich die Sittlichkeit der Gesinnung. Denn Kant argumentiert, „daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar nothwendigen Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe“ (KpV, 5:115). Das höchste Gut ist also nur auf der Grundlage der Sittlichkeit der Gesinnung und der Annahme eines intelligiblen Urhebers, nämlich eines gerechten Gottes im Jenseits, denkbar. Die Postulate erfüllen, so Kant, eine konstitutive Funktion mit Blick auf das höchste Gut, das wiederum der praktisch notwendige Zweck des reinen Willens ist, während sie für die spekulative Vernunft eine nur regulative Funktion besitzen und somit praktisch notwendig, aber theoretisch nicht beweisbar sind.¹⁶² Mit anderen Worten beruhen die Postulate nicht auf objektiven Gründen, sondern auf subjektiven, nämlich auf einem „Bedürfniß“ (KpV, 5:142) der reinen praktischen Vernunft, das der Gesinnung entspringt, das höchste Gut befördern zu wollen.¹⁶³

 „Also bleibt die Frage: wie ist das höchste Gut praktisch möglich? noch immer unerachtet aller bisherigen Coalitionsversuche eine ungelöste Aufgabe“ (KpV, 5:112), – Kants Analytik der KpV als mögliche Versuchsgrundlage inbegriffen.  „Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ (KpV, 5:114).  „Hier werden sie immanent und constitutiv, indem sie Gründe der Möglichkeit sind, das nothwendige Object der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) wirklich zu machen, da sie, ohne dies, transcendent und blos regulative Principien der speculativen Vernunft sind, die ihr nicht ein neues Object über die Erfahrung hinaus anzunehmen, sondern nur ihren Gebrauch in der Erfahrung der Vollständigkeit zu näheren auferlegen.“ (KpV, 5:135).  Vgl. KpV, 5:140 ff.Vgl. zur weiterführenden Auseinandersetzung mit den subjektiven Gründen die Arbeiten von Chignell 2007a, 2007b, ebenso Chignell 2010 zu dem Inhalt, der objektiven Realität und realen Möglichkeit der Postulate.

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Dieses Bedürfnis beruhe auf der „Pflicht […], etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern“ (KpV, 5:142). Denn hierzu muss man einen Gott, Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele subjektiv für wahr halten, auch wenn sich diese Annahmen theoretisch nicht beweisen lassen. Kant beschreibt diese Gesinnung der Annahme Gottes und der Unsterblichkeit umwillen der Beförderung des höchsten Guts auch als Vernunftbedürfnis, als reinen praktischen Vernunftglauben oder kurzweg als Glauben.¹⁶⁴ Der vernünftige Glaube sei ein „subjective[r] Effect des Gesetzes“ (KpV, 5:143), eine Gesinnung, die „aus einem objectiven Bestimmungsgrunde des Willens, nämlich dem moralischen Gesetze“, entspringe (KpV, 5:143 f.Anm.). Der Vernunftglaube kann aber nicht geboten werden, weil er nicht intentional hervorgebracht wird.¹⁶⁵ Es handelt sich vielmehr, wie auch bei dem Gefühl der Achtung, um ein notwendiges Nebenprodukt der Pflicht. Die Merkmale, ein subjektiver Effekt zu sein und nicht geboten werden zu können, treffen beide auch auf das Gefühl der Achtung zu,¹⁶⁶ das Kant zuvor in der Analytik ebenfalls als ein „Interesse“ (KpV, 5:90) und als „Gesinnung“ (KpV, 5:86) beschreibt. Diese Parallele deutet an, dass das Gefühl der Achtung auf der vierten Ebene in einer engen Verbindung zu dem Vernunftglauben steht, und zwar derart, dass die Achtung als ein Grund und somit auch als ein Bestandteil des Vernunftglaubens betrachtet werden kann, wobei dieser Grund irreduzibel ästhetisch ist und als solcher, wie auch der Vernunftglaube selber, von der unmittelbaren Bestimmung des Willens durch das objektive Vernunftgesetz abhängt. Um den notwendigen Zusammenhang zwischen Tugendgesinnung und Glückseligkeit zu denken, müssen nämlich nicht nur erstens die Postulate angenommen werden, die, wie gesehen, „unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören“ (KpV, 5:121), sondern zweitens muss auch die „Sittlichkeit der Gesinnung“ als „Ursache“ (KpV, 5:115) der Glückseligkeit vorausgesetzt werden. Hierbei handelt es sich um das ‚erste Stück‘ des höchsten Guts, das Kant in der Analytik entwickelt, die dem Durchgang durch die ersten drei Ebenen des Modells entspricht. Das Ziel der

 Vgl. KpV, 5:143 ff.  „Ein Glaube aber, der geboten wird, ist ein Unding.“ (KpV, 5:144). „Belief itself cannot be obligatory because it cannot be produced at will. […] We feel compelled to believe because we see that we must take an interest in the highest good, which we know to be possible only if we assume that the objects of religion exist.“ (Timmermann 2015, 230).  Das Gefühl der Erhebung sei eine „subjective Wirkung aufs Gefühl“ (KpV, 5:81). Für alle ästhetischen Vorbegriffe, also auch für Achtung und das moralische Gefühl, gelte: „Es sind solche moralische Beschaffenheiten, die, wenn man sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann, sich in ihren Besitz zu setzen.“ (MS, 6:399).

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ersten drei Theorieebenen, das auf der vierten Ebene als Ursache der Glückseligkeit relevant wird, ist „die Maxime der Tugend“ (KpV, 5:113), also die „moralischen Gesinnungen des Willens“ (KpV, 5:113). Nichts ehre Gott mehr, so Kants Idee der reinen Vernunft, als diese „Achtung für sein Gebot“ (KpV, 5:131), die er darum mit angemessener Glückseligkeit krönt.¹⁶⁷ Den entscheidenden Grundstein für diese Lehre des höchsten Guts und die Postulaten-Lehre legt Kant in Abschnitt „II Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft“ (KpV, 5:114), und ausgerechnet in diesem Abschnitt diskutiert er ausführlich den Stellenwert eines Wohlgefallens im Rahmen seiner kritischen Moralauffassung, um das Verhältnis zwischen Moralität und Glückseligkeit zu klären, wie es zuvor noch nie gelungen sei. Dabei gelangt er auch zu einer positiven Antwort, die er letztlich „Zufriedenheit“ nennt. Zwar lehnt er ab, dass der moralischen Willensbestimmung ein ästhetisches Moment zugrunde liege, weil in moralischer Hinsicht „die Bestimmung des Willens unmittelbar, blos durch die Vernunft“ (KpV, 5:116) vollzogen werden müsse. Man müsse sich „in Acht nehmen“ und dürfe dem Gesetz als der eigentlichen und echten Triebfeder keine „Gefühle“ unterlegen, weil sie mit Blick auf die moralische Willensbestimmung „doch nur Folgen sind“ (KpV, 5:117). Allerdings bringt er ebenso deutlich zum Ausdruck, dass „das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung“ und die reine Willensbestimmung „der Grund des Gefühls der Lust“ (KpV, 5:116) sei. Unmittelbar darauf identifiziert er dieses ästhetische Moment einer Handlung „aus Pflicht“ mit der „Achtung“ und fragt dann weiter, ob man für diese ästhetische Achtung, „welche das Bewußtsein der Tugend notwendig begleiten muß“, „nicht [bereits in der Alltagssprache] ein Wort“ (KpV, 5:117) zur Verfügung habe. Seine Antwort lautet: Ja! dieses Wort ist Selbstzufriedenheit, welches in seiner eigentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz andeutet, in welchem man nichts zu bedürfen sich bewußt ist. (KpV, 5:117).

Eigentlich charakterisiert Kant im Folgenden zur Vermeidung von Missverständnissen diese moralische Zufriedenheit dann als „intellektuell“ und grenzt davon die „ästhetische (die uneigentlich so genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigungen“ (KpV, 5:118) beruht, ab. Damit soll aber nur der Ursprung dieser moralischen Zufriedenheit betont werden, die dem Wesen nach durchaus ästhetisch ist und mit dem Gefühl der Achtung übereinstimmt. Des Weiteren ist es wichtig, dass es hierbei explizit um eine ästhetische Begleiterscheinung der Be Vgl. KpV, 5:131.

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folgung der Pflicht geht. In dieser Zufriedenheit sei ich mir meiner „Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht afficirenden) Bewegursachen“ des Begehrens „in der Befolgung meiner moralischen Maximen bewußt“ (KpV, 5:117). Erneut betont er anschließend, dass „das Bewußtsein dieses Vermögens einer reinen praktischen Vernunft durch That (die Tugend) […] Zufriedenheit hervorbringen könne, welche in ihrer Quelle Zufriedenheit mit seiner Person ist“ (KpV, 5:118). Die folgende schlussfolgernde Bemerkung, die Kant gegen Ende des Abschnitts zur Auflösung formuliert, ist für die Frage nach der Funktion des Gefühls der Achtung im Kontext der vierten Ebene beachtlich: Aus dieser Auflösung der Antinomie der praktischen reinen Vernunft folgt, daß sich in praktischen Grundsätzen eine natürliche und nothwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionirten Glückseligkeit, als Folge derselben, wenigstens als möglich denken (darum aber freilich noch nicht erkennen und einsehen) lasse (KpV, 5:119).

Diese „natürliche und notwendige Verbindung“ ist diejenige zwischen der reinen Willensbestimmung und dem Gefühl der Achtung. Sie begründet die Erwartung einer ihr angemessenen Glückseligkeit nicht als präpositionale oder reflektierte, weil sie auf einem ästhetischen Moment beruht, aber sie ist doch neben dem objektiven Bestimmungsgrund des Willens ein weiterer notwendiger Grund des Vernunftglaubens, der diese Erwartung auch in theoretischen Sätzen, den Postulaten, aufarbeitet und verteidigt. Im weiteren Verlauf der Dialektik schreibt Kant noch deutlicher, dass es sich bei dem Vernunftglauben, verstanden als Gesinnung, das höchste Gut zu befördern, um eine „durch die Achtung fürs moralische Gesetz nothwendige Absicht aufs höchste Gut“ (KpV, 5:132, m.H.) handelt: „Dieser [ein reiner praktischer Vernunftglaube] ist also […] selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen“ (KpV, 5:146). Die praktische Erweiterung der spekulativen Vernunft ist insofern „nur in praktischer Absicht“ (KpV, 5:133) möglich, nämlich nur in der moralischen Gesinnung, also auch nur in dem Gefühl der Achtung. Das Gefühl der Achtung repräsentiert also im Sinne der Selbstzufriedenheit auf der vierten Ebene eine Art ästhetische Gewissheit, die sich nicht begrifflich einfangen, aber aufarbeiten lässt, indem sie eine vierte Ebene eröffnet, auf der sich Autonomie in praktischer Absicht verteidigen lässt. Auf der Grundlage dieser moralischen Erfahrung, die Ausgangspunkt und Endpunkt der streng wissenschaftlichen Argumentation ist, wird das höchste Gut notwendig „zum Gegenstande der Hoffnung gemacht“ (KpV, 5:129). Auf den letzten Seiten der Dialektik schreibt Kant dann über die „uneigennützige Achtung“ zwar nur nebenbei, aber immerhin deutlich, dass „übrigens aber, wenn diese Achtung thätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des

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Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt“ (KpV, 5:147) sei. Somit lässt sich annehmen, dass die Postulate auch dadurch charakterisiert sind, dass sie, wie der Vernunftglaube, auf der moralischen Gesinnung und somit immer auch auf dem praktisch notwendigen, aber theoretisch nicht nachweisbaren Gefühl der Achtung in der Befolgung der Pflicht beruhen. All diese Einsichten der vierten Ebene mögen einen Physiker und streng rationalen Philosophen vielleicht irritieren, aber der rechtschaffene Kantianer darf und wird gegen jede noch so raffinierte „Sophisterei“ (KpV, 5:134) vernünftigerweise, nämlich infolge seiner argumentativen Entwicklung, sagen: [I]ch will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlich sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen; denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urtheil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten, wo wenig ich auch darauf zu antworten oder ihnen scheinbarere entgegen zu stellen im Stande sein möchte (KpV, 5:143).

Also führt die Antinomie auf der Grundlage der moralischen Gesinnung „in die wohlthätigste Verirrung“, „in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf“, nämlich die vierte Ebene, als „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind“ (KpV, 5:107).

2.3 Synthese aus Vernunft und Gefühl Abschließend lässt sich die Beobachtung anstellen, dass Kants Überlegungen zur Moralphilosophie in verschiedenen Facetten auf eine Synthese von Vernunft und Gefühl hinauslaufen. Dieselbe Tendenz betrifft auch die einheitsstiftende Synthese zwischen der partikularen Einsicht des gesunden Menschenverstandes gewöhnlicher Menschen und der allgemeinen begrifflichen Einsicht des philosophierenden Verstandes. Denn die gefühlte praktische Einsicht repräsentiert die moralische Wirklichkeit des gewöhnlichen Menschen, wobei die Vernunfteinsicht die allgemein-begriffliche Einsicht des Philosophen repräsentiert, der nach der Möglichkeit und der Notwendigkeit der reinen Elemente dieser gewöhnlichen Vorstellung von Moralität fragt. Der Anspruch einer Synthese lässt sich zum einen anhand des methodischen Vorgehens feststellen: Ausgehend von der partikularen moralischen Erfahrung des gewöhnlichen Menschen wurde zuerst eine Analyse der Erfahrung in ihre

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reinen Bestandteile vorgenommen, zu denen auch das Gefühl und die Vernunft gehören. Anschließend wurde eine Synthese hergeleitet, indem geklärt wurde, wie man einsehen kann, dass die reine Vernunft ein Gefühl hervorbringt, das diesen Akt dann repräsentiert. Diese synthetische Einheit zwischen dem rein vernünftigen Akt und dem positiven Gefühl der moralischen Wertschätzung wird nach Kant letztlich durch das Gewissen gestiftet, wie vorgeschlagen wurde. Das Gefühl ist als Bestandteil dieser praktischen Einheit notwendig, aber es handelt sich um dasjenige Element, das den äußersten Rand der philosophischen Theorie markiert und zugleich die gemeine Erfahrung von Moralität repräsentiert, auf die reflektiert wird. Das Gefühl ist in dieser Einheit aus Vernunft und Gefühl also ein notwendiges, aber randständiges Element. Zum anderen bringen die ersten drei basalen Theorieebenen diesen Verlauf in Richtung einer Synthese zum Ausdruck. Die erste Theorieebene entspricht einer klaren und bewussten Vorstellung von Moralität, die gefühlsgebunden ist. Begrifflich ist diese gemeine, vorphilosophische Vorstellung von Moralität hingegen tendenziell blind. Der gewöhnliche Mensch hat zwar eine unmittelbare, klare Vorstellung von Moralität, seine begrifflich vermittelte Vorstellung von Moralität ist hingegen unsicher, weil er zu einer begrifflichen Aufarbeitung tendiert, die unsystematisch, unreflektiert und daher häufig auch falsch ist.¹⁶⁸ Seine gefühlsgebundene Vorstellung wird auf der zweiten Theorieebene begrifflich in ihre Grundbestandteile zerlegt und dadurch verdeutlicht. Allerdings geht es hierbei um einen Begriff, der mit Blick auf die wirkliche, partikulare Erfahrung von Moralität leer sein könnte. Denn die Einsicht in die Möglichkeit und Notwendigkeit der reinen Elemente schließt noch nicht die Annahme der Wirklichkeit dieser Begriffe mit ein, weshalb nach diesem ersten Schritt auf der zweiten Ebene nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei den theoretischen Annahmen um bloße Hirngespenster handelt.¹⁶⁹ Erst auf der dritten Ebene der Theorie wird in-

 Ein Beispiel hierfür bietet GMS III: Der gemeine Mensch sei zwar geneigt, hinter den Erscheinungen auch eine unsichtbare Tätigkeit anzunehmen, durch deren Annahme er sich auch zur intellektuellen Welt zählt, aber er ist auch dazu geneigt, dass er diese Einsicht „wiederum dadurch verdirbt, daß er dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht, d.i. zum Gegenstande der Anschauung machen will, und dadurch also nicht um einen Grad klüger wird.“ (GMS, 4:452). Einen anderen voreiligen Schluss kritisiert Kant, wenn er den Fehlschluss analysiert, dass ein Akteur aus der Tatsache, dass er ein moralisches Wohlgefallen empfindet, schlussfolgert, dass dieses Wohlgefallen die Triebfeder der Handlung gewesen sei (vgl. KpV, 5:116).  „Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft“ (GMS, 4:445). Kant ringt in in der GMS und der KpV mit dem Nachweis der Wirklichkeit von Freiheit und Moralgesetz. Hiervon sehe ich an dieser Stelle ab und konzentriere mich auf die

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folge einer synthetischen Herleitung des Gefühls ausgehend von der Vernunft eine wirkliche und begrifflich deutliche Vorstellung von Moralität gewonnen, die weder blind noch leer ist. Diese Vorstellung entspricht der philosophisch-begrifflich aufgearbeiteten, wirklichen und gefühlsgebundenen Erfahrung von Moralität, in der die gemeine mit der philosophierenden Vorstellung von Moralität in Übereinstimmung gebracht wird. Dieser Aufbau einer Synthese ästhetisch-gefühlsgebundener und rationalbegrifflicher Elemente ließ sich auch in der Argumentation auf der vierten Ebene herausarbeiten. Der Vernunftglaube baut einerseits auf der philosophischen Annahme des höchsten Guts, andererseits aber auf der unmittelbaren Erfahrung eines Gefühls der moralischen Zufriedenheit auf. Auch in diesem Kontext lässt sich annehmen, dass der Glaube an das höchste Gut ohne die ästhetische Gewissheit der moralischen Zufriedenheit in der guten Gesinnung leer wäre, dass die moralische Zufriedenheit ohne die Lehre des höchsten Guts hingegen nur einen blinden Glauben bergründen könnte. Der Überblick zeigt also, dass Kants Moralphilosophie methodisch, systematisch und inhaltlich auf eine Synthese zwischen Vernunft und Gefühl ausgerichtet ist. In dieser Synthese sind die Vernunft sowie die philosophisch-begriffliche Erkenntnis begründungstheoretisch als primär anzusehen. Dagegen nehmen das Gefühl sowie die gemeine moralische Erkenntnis eine randständige Position ein, in der sie als Ausgangspunkt und als komplementierender Abschluss der Theorie dienen. Die Besonderheit der Achtung besteht darin, dass sie andererseits zugleich auch ein wesentlicher Bestandteil der reinen Begriffsbildung ist, da sie nicht nur als eine phänomenale Erfahrung, sondern darüber hinaus auch als eine Bedingung a priori konzipiert wird. Insofern bestätigt die Untersuchung, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung um ein notwendiges, aber randständiges Element von Kants Ethik handelt. Mit Blick auf die Positionen der Forschung lautet das Ergebnis dieser Untersuchung, dass Kant eine moderat phänomenologische bzw. eine moderat metaphysische Position zugeschrieben werden kann. Einerseits vertritt er nämlich, wie auf der ersten Ebene gezeigt wurde, eine phänomenologische Position, insofern das Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen als ein gefühlsabhängiges Bewusstsein konzipiert wird. Das gewöhnliche Moralbewusstsein drückt sich in einem ambivalenten Gefühl der Achtung aus. Die zweite Ebene, auf der die philosophische Begriffsbildung einsetzt, hat jedoch verdeutlicht, dass dieses Gefühl

These, dass eine synthetische Herleitung des moralischen Gefühls und somit der Nachweis der Wirklichkeit dieses Begriffs zumindest im Ansatz von Kant im Triebfedernkapitel durchgeführt wird.

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die Wirkung eines Vernunftaktes ist. Insofern setzt das phänomenale Erlebnis von Moralität immer schon ein rein vernünftiges Moralbewusstsein dieses Vernunftaktes voraus, was auf eine metaphysische Position hindeutet. Daher kann auch das Moralbewusstsein des gewöhnlichen Menschen nicht non-kognitivistisch als ein reines Gefühlserlebnis gedeutet werden. Es unterscheidet sich von dem philosophischen Moralbewusstsein vielmehr darin, dass es nicht rein begrifflich ist, sondern stattdessen eine Synthese aus Vernunft und Gefühl voraussetzt. Infolge der philosophischen Betrachtung stellt sich heraus, dass das gewöhnliche Moralbewusstsein ein rein vernünftiges Moralbewusstsein ist, das auch eine phänomenale Gefühlskomponente umfasst. Dies entspricht einer moderat metaphysischen Deutung des Moralbewusstseins. Das affektivistische Verständnis ist nach der hier vertretenen Deutung als eine scheinbare Erklärung der Handlungsmotivation auf der ersten Ebene des Modells zu verorten. Es handelt sich um eine vorphilosophische Auffassung, die sich daraus speist, dass der gewöhnliche Mensch ein Gefühl empfindet, wenn er sich der Pflicht oder aber seiner moralisch-guten Handlungsgesinnung bewusst wird. Daraus wird geschlossen, dass dieses Gefühl motivational ausschlaggebend für die moralisch-gute Handlung sei. Denn gewöhnlich sind diejenigen Gefühle, die im Zuge einer Handlung auftreten, auch an der Handlungsmotivation beteiligt. Daher wird aus Gewohnheit geschlossen, dass auch im Fall der moralisch-guten Handlung das Gefühl der Achtung, das diese Handlung begleitet, motivational ausschlaggebend sein müsse. Diese vorphilosophische Erklärung der moralischen Handlungsmotivation wird durch die philosophische Reflexion auf den folgenden Ebenen korrigiert. Die Ausführung zur synthetischen Herleitung der Achtung auf der zweiten Ebene widerspricht einer affektivistischen Deutung der Achtung. Denn Affektivisten nehmen an, dass das Gefühl der Achtung im Konflikt mit den Neigungen als moralische Triebfeder wirkt. Stattdessen hat sich gezeigt, dass das Gefühl der Achtung seiner Entstehung nach einen Konflikt zwischen der Vernunft und den Neigungen und dem Hang, sie zur obersten Bedingung zu machen, voraussetzt. Dies zeichnet die Vernunft als moralische Triebfeder aus, die als solche einen Effekt auf das Gefühl ausübt. Dieser Gefühlseffekt ist keine Triebfeder, die ursächlich an der moralischen Motivation beteiligt wäre, sondern ein phänomenaler Erscheinungsaspekt, wie auf der dritten Ebene erörtert wurde. Daher ist Intellektualisten zwar darin Recht zu geben, dass die Vernunft allein die motivierende Triebfeder ist, allerdings ist das Gefühl der Achtung darum nicht irrelevant, sondern ein phänomenal notwendiger Bestandteil der Willensbestimmung durch die Vernunft. Das Gefühl repräsentiert phänomenal die reine Selbsttätigkeit der Vernunft.

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Die Untersuchung bestätigt also die Hauptthese dieser Arbeit, die besagt, dass man Intellektualist und Metaphysiker sein kann und dennoch das Gefühl der Achtung als ein notwendiges, wenn auch nur randständiges Element der moralischen Willensbestimmung ernst nehmen kann.

Teil IV: Verteidigung In Teil IV wird eine Erwiderung auf drei Argumente entwickelt, die hauptsächlich eine motivationale Deutung des Gefühls der Achtung stützen. Das erste Argument ist textbezogen und besagt, dass Kant im Triebfedernkapitel die These etabliert, dass es sich bei dem Gefühl der Achtung um die moralische Triebfeder handle. Häufig wird angenommen, dass er dort die Auffassung vertritt, dass reine Vernunft nur, indem sie ein Gefühl erzeugt, in endlichen Wesen praktisch wirksam werden kann. Dagegen wird im ersten Kapitel über das Konzept der negativen Größen die These gesetzt, dass Kant im Triebfedernkapitel primär einen metaphysischen Ansatz entwickelt, der zeigt, wie die reine Vernunft, indem sie für sich selbst praktisch ist, ein Gefühl erzeugt. Nach dieser Lesart beantwortet Kant die Frage, wie die reine Vernunft in endlichen Wesen zur Triebfeder wird, mit dem Verweis auf das Konzept einer negativen Größe, wobei das Gefühl der Achtung als ein Nebenprodukt dieser Wirkungsweise hergeleitet wird. Dieses metaphysische Modell, in dem die Vernunft in der Form einer negativen Größe als Triebfeder wirkt, stützt die intellektualistische Deutung und begründet das phänomenologische Modell der Achtung, in dem geklärt wird, wie sich Achtung anfühlt. Insofern ist dieser Abschnitt auch gegen eine rein phänomenologische Deutung des Moralbewusstseins gerichtet, da diesem gefühlsabhängigen Bewusstsein ein gefühlsunabhängiges Bewusstsein zugrunde liegen muss, das als negative Größe wirkt. Das (zweite) Argument aus der Natur der Handlung besagt, dass jede menschliche Handlung motivational auf Gefühlen beruhen muss, weil dies für die Natur menschlicher Handlungen charakteristisch sei. Aus dieser handlungspsychologischen Auffassung wird geschlussfolgert, dass auch die moralisch-gute Handlung notwendigerweise auf einer affektiven Triebfeder beruhen müsse, die Kant eben als Gefühl der Achtung beschreibt. Außerdem müsse auch die moralische Handlung auf materiale Zwecke ausgerichtet sein, wie sie Kant in der Tugendlehre formuliert. Alles andere würde der Natur menschlichen Handelns widersprechen. Auf diese Weise wird der Verdacht begründet, dass eine intellektualistische Konzeption der moralischen Motivation unmenschlich und realitätsfremd sei, weil sie scheinbar leugnen muss, dass Menschen auch einen Körper haben, der zum Handeln immer auch durch affektive Impulse angetrieben wird, um materiale Zwecke zu verwirklichen. Gegen dieses Argument wird eine formale Interpretation von Moralität vorgestellt, auf deren Grundlage das Argument aus der Natur der Handlung seine Wirkung verfehlt. Denn nach dieser Auffassung muss das natürliche Handeln, in dem wir uns materiale Zwecke setzen und affektiv durch Triebfedern zum Handeln angetrieben werden, immer https://doi.org/10.1515/9783110629170-008

1 Das Konzept der negativen Größen

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als eine Grundlage der moralischen Reflexion betrachtet werden. Somit ist auch die moralisch-gute Handlung immer an die Natur der Handlung gebunden, die aber als Grundlage und nicht etwa im Sinne einer moralischen Parallelnatur verstanden wird. Ein weiteres Argument für eine motivationale Deutung des Gefühls der Achtung besteht schließlich darin, dass man ein Verständnis der Funktion dieses Gefühls an den Problemkontext der moralischen Motivation bindet. Fast immer wird vorausgesetzt, dass Kant das Gefühl der Achtung in diesem Problemkontext der Frage nach der menschlichen moralischen Motivation in seine Ethik eingeführt habe, sodass es rätselhaft erscheinen muss, wie Achtung überhaupt irgendeine andere Funktion erfüllen könne als diejenige einer motivationalen Triebfeder. Dagegen wird im dritten Kapitel verteidigt, dass Kant das Gefühl der Achtung im Rahmen eines anderen zentralen Problemkontextes in seine Ethik eingeführt hat. Nicht das Motivationsproblem, sondern das Erkenntnisproblem, das die Wirklichkeit einer partikularen moralisch-guten Handlung erkenntnistheoretisch in Frage stellt, bietet den Anlass dazu, ein moralisches Gefühl als notwendigen Bestandteil der Absicht moralischer Akteure anzunehmen. Das Gefühl der Achtung wird also nicht affektivistisch, sondern phänomenologisch oder moralepistemisch als Bestandteil des Moralbewusstseins gedeutet. Dieses dritte Kapitel ist somit auch gegen eine rein metaphysische Deutung des Moralbewusstseins ausgerichtet, da gezeigt wird, dass das Moralbewusstsein durchaus auch gefühlsabhängig ist. Zum anderen bedeutet das, dass Intellektualisten falsch liegen, wenn sie vertreten, dass ein moralisches Gefühl in Kants Ethik keine eigenständige Funktion einnehme. Denn das Gefühl der Achtung garantiert die Partikularität einer moralisch-guten Gesinnung und begründet die eigene Glaubwürdigkeit individueller moralischer Akteure. In diesem Problemkontext erfüllt Achtung die Funktion einer notwendigen Bedingung für ein kohärentes Selbstverständnis individueller moralischer Akteure.

1 Das Konzept der negativen Größen In einem frühen Essay führt Kant das Konzept der negativen Größe in seine Philosophie ein, das, wie in Anlehnung an Melissa Zinkin gezeigt werden soll, für ein Verständnis der Wirkung des Moralgesetzes in endlichen Wesen zentral ist. Anhand dieses Konzepts lassen sich das phänomenologische und das metaphysische Modell der Achtung besser verstehen. Im vorherigen Teil III wurde das phänomenologische Modell der Achtung auf der ersten Ebene und einleitend im analytischen Nachweis der zweiten Ebene, hingegen das metaphysische Modell der Achtung im synthetischen Nachweis der zweiten Ebene des Interpretations-

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Teil IV: Verteidigung

modells verortet. Phänomenologisch wird geklärt, wie endliche Wesen das Gefühl der Achtung erleben, während im synthetischen Nachweis die metaphysische Entstehung dieses Gefühls im Zentrum steht. Der Begriff der negativen Größe wird den bisherigen Ergebnissen dabei eigentlich nichts Neues hinzufügen. Er soll vielmehr dazu dienen, eine Einheit in den gewonnenen Thesen zu stiften, die den Kern von Kants metaphysischer Theorie der Achtung auszeichnet, die zugleich aber auch Kants phänomenologischen Ansatz besser verständlich werden lässt. Dabei lautet die Kernthese, dass das Moralgesetz in endlichen Wesen als negative Größe wirkt. Um diese Kernthese zu erhellen, wird einleitend der metaphysische Charakter des Konzepts der negativen Größen betont und ein intuitiver Zugang über Kants Metapher der Stimme der Vernunft gesucht (1.1). Anschließend werden Kants (1.2) und Zinkins (1.3) Überlegungen zu dem Konzept der negativen Größe vorgestellt. Auf dieser Grundlage wird abschließend anhand der zentralen metaphysischen und phänomenologischen Thesen aus dem Triebfedernkapitel dafür argumentiert, dass die Kausalität der reinen praktischen Vernunft in endlichen Wesen von Kant als eine negative Größe konzipiert wird, die als solche auch eine Wirkung auf die Gefühle endlicher Wesen ausübt, wobei der metaphysische Ansatz gegenüber dem phänomenologischen Ansatz als grundlegend betrachtet werden muss (1.4).

1.1 Das metaphysische und das phänomenologische Modell der Achtung Zinkin hat in einem Aufsatz von 2006 die These aufgestellt, dass Kants Ausführungen im Triebfedernkapitel nur verständlich werden, wenn man einen frühen vorkritischen Aufsatz von Kant – seinen „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“ (NG, 2:167– 204) von 1763 – zur Interpretation heranzieht. Eigentümlich für Kants Beschreibung der Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl sei das Konzept einer negativen Größe. Tatsächlich gibt es insbesondere im Triebfedernkapitel Passagen, in denen Kant in verblüffender Nähe zu seiner Definition einer negativen Größe die Wirkung der Vernunft beschreibt.¹ Dennoch ist Zinkins Vorschlag zumindest in der Literatur zur Achtung auf eine eher geringe Resonanz gestoßen. Sensen nimmt in einer Anmerkung affirmativ Bezug auf Zinkins Vorschlag.² Eine weitere Ausnahme bildet Schadow,

 Zum Beispiel nimmt Kant im folgenden Satz das Konzept einer realen Entgegensetzung als Begründung in Anspruch: „Denn eine jede Verminderung der Hindernisse einer Thätigkeit ist Beförderung dieser Thätigkeit selbst.“ (KpV, 5:79).  Vgl. Sensen 2012, 55Anm.2.

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die eine „Kräftemetaphorik“ (Schadow 2013, 249) aus dem Aufsatz über negative Größen für ein Verständnis der Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl fruchtbar macht.³ Zinkin konzentriert sich jedoch keineswegs nur auf eine Metaphorik oder auf eine Analogie zwischen dem Gesetz und dem Konzept der negativen Größe. Sie vertritt in einem metaphysischen Sinne: „But my argument is stronger than this: Kant thinks that the will is a force“ (Zinkin 2006, 45). In dieser metaphysischen Orientierung liegt geradezu die Pointe von Zinkins Vorschlag zur Deutung des Gefühls der Achtung. Daher soll im Folgenden noch einmal mit Nachdruck der Versuch unternommen werden, dieses Konzept der negativen Größe als ein metaphysisches Konzept in Kants Moralphilosophie und speziell in die Diskussion um Kants Theorie der Achtung einzuführen. Zinkin argumentiert, dass anhand des Begriffs der negativen Größe nicht nur Kants Thesen zur Wirkung des Gesetzes auf das Vermögen des Gefühls verständlich werden, sondern insbesondere vertritt sie, dass sie auf diese Weise als metaphysische Thesen verständlich werden.⁴ Mit dem Begriff der negativen Größe wird immerhin nichts anderes beschrieben als die spezifisch moralische Kausalität des Willens, der sich selbst verpflichtet oder gar sich selbst zum moralischguten Handeln bestimmt. Im Zuge dieser moralischen Selbstbestimmung bewirkt die reine praktische Vernunft, so Kants These nach dieser Lesart, das moralische Gefühl der Achtung, und insofern müsse Kants Theorie der Achtung in erster Linie als eine metaphysische Theorie verstanden werden. Dies ist nicht selbstverständlich, weil Kant zugleich auch einen phänomenologischen Ansatz der Achtung präsentiert,⁵ den man als zentral und darüber hinaus auch als primär oder sogar als hinreichend ansehen könnte. Die phänomenologische Kernthese besagt, dass das Gefühl der Achtung eine negative und eine positive Gefühlskomponente aufweist. Ausgehend davon lässt sich analytisch auf den Ursprung und den Gegenstand des Gefühls reflektieren. Hiervon unterscheidet sich das metaphysische Modell, in dem das Zustandekommen des Gefühls der Achtung auf eine synthetische Weise erklärt wird. Zinkin vertritt, dass Kants metaphysischer Ansatz der Achtung unverzichtbar sei, weil es sich bei dem Gefühl der Achtung um eine notwendige Wirkung handeln soll, die wir a priori erkennen können, doch „[p]sychological arguments

 Vgl. Schadow 2013, 250 – 252, 254, 260 – 263.  Zinkin selber verwendet nicht den Ausdruck „metaphysisch“, sondern „physical“ (Zinkin 2006, 41), womit aber ebenfalls eine „ontologische“ Betrachtung in Abgrenzung zur „psychologischen“ Betrachtung gemeint ist.  Zinkin grenzt diesen phänomenologischen Ansatz als „psychological model“ (Zinkin 2006, 41) von einem physischen (ontologischen) Modell ab.

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cannot be arguments for necessity“ (Zinkin 2006, 43 f.).⁶ Für sich genommen sei der phänomenologische oder psychologische Ansatz „incomplete“ (Zinkin 2006, 43) und führe in eine Zirkularität, wenn man erklären möchte, wie das Gesetz in uns das moralische Gefühl erzeugt: Kant seems to be assuming what he wants to prove – that the moral law has this necessary effect on our will, and that the will necessarily feels respect for the law. Unless he provides a separate argument for the possibility of an a priori moral feeling, Kant cannot show that we must necessarily feel respect for the moral law. (Zinkin 2006, 43).

Dieses „separate argument“ (Zinkin 2006, 43), das die Zirkularität auflösen und die notwendige Wirkung des Gesetzes erklären können soll, sei „implicit in Kant‘s discussion“ (Zinkin 2006, 42) im Triebfedernkapitel enthalten und lasse sich als „theory of dynamical forces“ (Zinkin 2006, 43) explizieren.⁷ Speziell das Konzept einer negativen Größe als einer besonderen dynamischen Kraft soll dieses metaphysische Argument liefern und die notwendige Wirkung des Gesetzes erklären. Die metaphysische Kernthese lautet also: Das moralische Gefühl der Achtung ist die Wirkung einer negativen Kraft der reinen praktischen Vernunft. Inwiefern in dem Konzept der negativen Größe sowohl das metaphysische als auch das phänomenologische Modell der Achtung aufgegriffen werden, lässt sich für einen ersten Zugang anhand der Metapher der Stimme der Vernunft verdeutlichen. Stellen wir uns hierzu praktische Inhalte als Stimmen vor, die uns dazu auffordern, sie zur Triebfeder unserer Handlung zu machen. Die Stimme der reinen Vernunft sagt uns nach Kant, was wir unbedingt tun sollen.⁸ Für Menschen

 Beschränkte man sich auf den psychologischen bzw. phänomenologischen Ansatz, dann gelte: „Kant‘s argument so far for the necessary effect of the moral law on the will fails. He has not explained, why the moral law must infringe upon the inclinations or why the person of selfconceit must feel humiliated by the moral law.“ (Zinkin 2006, 42).  „This account solves the apparent circularity of the psychological account.“ (Zinkin 2006, 43). Das Problem der Zirkularität lässt sich auch anhand der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gesetz, dem negativen und dem positiven Gefühlsaspekt verdeutlichen. Auf der Grundlage der phänomenologischen These gibt es ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen dem Gesetz, dem negativen und dem positiven Gefühlsaspekt, da keines davon ohne die anderen zwei Aspekte gedacht werden kann. Phänomenal ist das ambivalente Erlebnis des Gesetzes ein Phänomen. Daher führt der Versuch einer Begründung der einzelnen Aspekte im Rahmen des phänomenologischen Modells in eine Zirkularität der Argumentation. Im metaphysischen Modell lässt sich hingegen eine eindeutige Hierarchie annehmen, in der begründungstheoretisch zuerst das Gesetz eine negative und auf dieser Grundlage eine positive Wirkung in dem Gefühl des Subjekts hervorruft. Insofern löst der metaphysische Ansatz das Zirkularitätsproblem der Begründung, das sich stellt, wenn man allein das phänomenologische Modell der Achtung ansetzt.  Vgl. KpV, 5:35.

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ist es allerdings typisch, dass sie unzählige Stimmen hören, die nicht selten Widersprüchliches von uns als Akteuren fordern. Wie können wir die reine Stimme der Vernunft unter den vielen anderen erkennen? Wie unterscheiden wir zwischen moralischen und pathologischen Ansprüchen? Diese Frage stellt und beantwortet Kant in zwei unterschiedlichen Hinsichten, je nachdem, ob er den philosophischen Verstand oder den gemeinen Menschenverstand im Blick hat. Die größte Aufmerksamkeit widmet Kant der Aufgabe, die Stimme der Vernunft philosophisch zu identifizieren und sie ihrem Anspruch und ihrer Möglichkeit nach zu begründen. Kant beschäftigt sich aber ebenfalls ausführlich damit, wie der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen und als gemeiner Akteur von diesem Gesetz betroffen ist, wie sich die Stimme anhört, wenn sie uns nötigt, und was subjektiv in uns geschieht, wenn die Stimme erfolgreich ist und unser Handeln tatsächlich leitet. Diesen Themen widmet sich Kant explizit im dritten Hauptstück der KpV. Hier beschreibt er, wie die Stimme der Vernunft in einem sinnlich-vernünftigen Wesen ‚ankommt‘. Kant behauptet, dass wir die Stimme der Vernunft nicht erst dann oder besser hören, wenn alle anderen Stimmen verstummen. Ganz im Gegenteil: Die anderen Stimmen, die im Dienst unserer Selbstliebe stehen, die so genannten moralischen „Hindernisse“ (KpV, 5:79), betrachtet er als Bedingung dafür, dass die Vernunftforderung auch von sinnlich-vernünftigen Wesen unmissverständlich als solche identifiziert werden kann. Indem die Vernunft alle anderen Ansprüche gegen sich aufmischt, sie einschränkt, entwertet und zum Zittern bringt, und weil uns bewusst ist, dass so etwas keine andere außer der Stimme der reinen Vernunft kann, verschafft sie sich eine einzigartige Aufmerksamkeit, die er „Achtung“ nennt.⁹ Diese Achtung fürs Gesetz haben nach Kant nur Menschen, nicht aber rein vernünftige Wesen, weil nur Wesen, deren Natur auch ein Hindernis für die Moral darstellt, in dieser Weise auf das moralische Gesetz aufmerksam werden.¹⁰ Nur sie erleben das Gesetz ausschließlich als eine negative Kraft, wenn sie sich einerseits selbst verpflichten und andererseits das Gesetz als handlungswirksame Triebfeder anerkennen. Mit anderen Worten ist es typisch für Menschen, dass sie ihre moralische Freiheit als ambivalent erleben, und dieses ambivalente Erlebnis ist das moralische Gefühl bzw. das Gefühl der Achtung fürs Gesetz. Wer ausschließlich die Stimme der Vernunft hört und automatisch danach handelt, für den ist diese speziell moralische Freiheit nicht ambivalent, sondern eine eindeutige Tatsache  Kant behauptet von dem „von allem Vortheil entblößten moralischen Gesetzes, so wie es praktische Vernunft uns zur Befolgung vorstellt“, dass „deren Stimme auch den kühnsten Frevler zittern macht“ (KpV, 5:79 f.). Vgl. KpV, 5:92.  Vgl. KpV, 5:77.

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und daher auch kein Gegenstand der Achtung. Nur Menschen (bzw. nicht rein vernünftige Wesen), so Kants These, erleben ihre Freiheit als eine negative Größe, indem sie sich als endliche, abhängige Wesen mit einer unbedingten Forderung konfrontiert sehen.¹¹ Die Endlichkeit des Menschen ist demnach der Grund, warum seine moralische Selbstbestimmung als eine negative Art der Kausalität aus Freiheit verstanden werden muss. Das Moralgesetz bzw. die Stimme der Vernunft ist, so die These, nur dann Gegenstand der Achtung, wenn es als negative Größe wirkt, weshalb nur der Mensch Achtung für das Gesetz empfinden kann.

1.2 Kant über negative Größen Kant selber formuliert die These, dass die Vernunft in endlichen Wesen ein Gefühl der Achtung bewirkt, in seinem frühen Aufsatz über negative Größen noch nicht. Zwar erläutert er den Begriff der negativen Größe mitunter auch an moralphilosophischen Überlegungen, die machen allerdings deutlich, dass er damals, 1763, noch nicht seine ‚reife‘ Moralkonzeption zugrunde legt, in der lediglich das Gesetz zur Triebfeder dienen kann.¹² Grundsätzlich betont Kant aber, es gehe ihm in diesem Aufsatz nur um „erste Blicke“ (NG, 2:189), darum, den Begriff der negativen Größe einzuführen und anhand allgemeiner Sätze und einiger Beispiele zu erläutern,¹³ die auf eine „Anwendung des gedachten Begriffs auf die Gegenstände der Weltweisheit vorbereiten können“ (NG, 2:189). In verschiedenen Formulierungen muntert er zu weiteren Betrachtungen und Anwendungen auf, die über seinen „Versuch […], der sehr unvollkommen“ (NG, 2:189) sei, hinausgehen. Ausdrücklich betrachtet er solche Fortsetzungen seines Versuchs auch für den

 Eine ähnliche Erfahrung der Freiheit inszeniert Sartre in seiner einzigartigen Analyse vom Blick des Anderen, in dem Kontingenz und Freiheit (An-sich-Sein und Für-sich-Sein) des menschlichen Bewusstseins in einem Verhältnis der wechselseitigen Aufhebung erfahrbar werden (Sartre 2009, 457 ff.). Auch Darwall greift in seiner Monographie The Second-Person Standpoint den gegenseitigen Blickaustausch auf und legt ihn als ein Phänomen aus, das die Bedeutung der reziproken Anerkennung für eine Moraltheorie zeigt (vgl. Darwall 2006, 9). Das ambivalente Erlebnis des Gefühls der Achtung ließe sich in einer Nähe zu Darwalls Analyse des moralischen zweit-personalen Standpunkts auch als interpersonale Erfahrung des anderen sinnlich-vernünftigen Menschen auslegen, wovon ich hier allerdings aus Platzgründen absehen muss.  Im Gegensatz zu einem unvernünftigen Tier sei der Mensch „durch inneres moralisches Gefühl zu einer guten Handlung getrieben“ (NG, 2:183).  Vgl. NG, 2:169, 189, 197, 201.

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Bereich der Moralphilosophie als nützlich:¹⁴ „Man könnte die Anwendung der angeführten Begriffe auf die Gegenstände der praktischen Weltweisheit noch sehr erweitern.“ (NG, 2:184). Die Anwendung dieses Begriffs auf Kants Ausführungen im Triebfedernkapitel ist also zwar nicht inhaltlich, aber zumindest dem Gegenstand und der Methode nach von Kant selber antizipiert worden.¹⁵ Kant legt den Fokus in seinem frühen Aufsatz darauf, den Begriff der negativen Größe als einen Inhalt der Mathematik für die Metaphysik fruchtbar zu machen.¹⁶ Das Verhältnis einer negativen Größe entlehnt er dem mathematischen Verhältnis der Subtraktion (vgl. NG, 2:172 f.): Sie sei ein „Gegenverhältniß“ zwischen + und – und „ein Aufheben […], welches geschieht, wenn entgegengesetzte Größen zusammen genommen werden“, wie in dem Beispiel „+9 – 5=4“ (NG, 2:173). Von der mathematischen Bedeutung und dem damaligen Forschungskontext¹⁷ möchte ich hier absehen und mich nur auf die negative Größe als Gegenstand der Metaphysik in seiner allgemeinen Bedeutung konzentrieren. Die Pointe, auf die es Kant in erster Linie ankommt, ist mit Blick auf den mathematischen und metaphysischen Kontext anscheinend dieselbe, nämlich die, dass eine negative Größe als etwas Positives, nämlich als eine reale Größe verstanden werden muss, die sich aber nur in der Negation einer anderen, ihr entgegengesetzten Größe äußert: Denn es sind die negative Größen nicht Negationen von Größen, wie die Ähnlichkeit des Ausdrucks ihn hat vermuthen lassen, sondern etwas an sich selbst wahrhaftig Positives, nur was dem andern entgegengesetzt ist. (NG, 2:169).

Diese Pointe verdeutlicht Kant an zahlreichen Beispielen und begrifflich in zwei Hinsichten. Erstens sei eine negative Kraft nicht schlechthin negativ, sondern  „Die Begriffe der realen Entgegensetzung haben auch ihre nützliche Anwendung in der praktischen Weltweisheit.“ (NG, 2:182).  Ähnlich interpretiert Schnepf: „Vor dem Hintergrund der knappen Methodenreflexionen in der Vorrede ist der Nachweis, daß sich der Begriff der negativen Größen für die Metaphysik nutzbar machen läßt, zugleich der Nachweis der Notwendigkeit und Legitimität, dies zu tun.“ (Schnepf 2001, 133).  „Ich habe für jetzt die Absicht, einen Begriff, der in der Mathematik bekannt genug, allein der Weltweisheit noch sehr fremde ist, in Beziehung auf diese zu betrachten.“ (NG, 2:169).  Bereits Newton hatte vorgeschlagen, Kräfte der Attraktion und Repulsion im Verhältnis der Entgegensetzung anhand der arithmetischen Zeichen + und – auszudrücken (vgl. Schnepf 2001, 138). Dem mathematischen Forschungskontext widmen sich z. B. Wolff oder Schnepf: „So war beispielsweise umstritten, ob ‚(‐a) (‐b) =+(ab)‘ richtig ist oder nicht. Die Frage hängt unter anderem daran, daß nicht recht einzusehen ist, wie ‚weniger als nichts‘ mal ‚weniger als nichts‘ ‚mehr als nichts‘ ergeben können soll – also an einer sauberen Trennung von Rechenregel und Vorzeichen“ (Schnepf 2001, 138, fn 15; vgl. Wolff 1981, 64 ff.).

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negativ in einem nur relationalen Sinne, was klarer wird, wenn man sich, zweitens, verdeutlicht, dass mit einer negativen Größe nicht die einer logischen, sondern einer realen Entgegensetzung gemeint ist. Daher sei hier zunächst die Unterscheidung zwischen realen und logischen Gründen erläutert, um anschließend die relationale Bestimmung darzustellen. Der Unterschied zwischen einem logischen Grund und einem Realgrund wird von Kant in einer allgemeinen Anmerkung seines Aufsatzes behandelt, wenn er zu verstehen versucht, „daß, weil Etwas ist, etwas anderes sei“ (NG, 2:202). Diesen Fall einer synthetischen Beziehung zwischen Grund und Folge grenzt Kant von einem logischen Verhältnis ab. Im logischen Verhältnis werde „eine Folge durch den Grund nach der Regel der Identität gesetzt“ (NG, 2:202), sodass die Folge „einerlei ist mit dem Grunde“ (NG, 2:202), insofern sie analytisch, nämlich „durch die Zergliederung der Begriffe“ (NG, 2:202), aus ihm gewonnen werden könne. Die Unterscheidung zwischen logischen und realen Gründen in Kants frühem Aufsatz über die negativen Größen ist sowohl historisch als auch systematisch von Bedeutung. Sie soll von Kant im Umkreis dieser Schrift erfunden worden sein.¹⁸ Zudem übt er anhand dieser Unterscheidung eine frühe Metaphysik-Kritik, wenn er einleitend in der Vorrede vertritt, der Wert der Mathematik für die Philosophie könne nicht „in der Nachahmung ihrer Methode“ (NG, 2:167) bestehen, womit er sich gegen ein rationalistisches Metaphysik-Verständnis richtet, dessen Aussagen sich auf analytische Urteile beschränken. Inhaltlich geht es Kant entsprechend darum, dass die Kausalrelation nicht als analytisches Urteil begriffen werden kann.¹⁹ Insbesondere die Allgemeine Anmerkung macht deutlich, dass sich Kant bereits in diesem Aufsatz auch mit Humes Position kritisch auseinandersetzt, indem er postuliert, dass ein Kausalverhältnis als ein notwendiges, aber nicht als logisches Verhältnis gedacht werden müsse. In seinem Aufsatz über negative Größen entwickelt Kant zwar noch keine Antwort auf die Frage, wie ein solches synthetisches Verhältnis a priori gedacht werden könne, aber er bezieht doch bereits eindeutig Position gegen seine Vorgänger, indem er reale Gründe in Ab-

 Watkins meint, es sei mit Blick auf Kants Konzept eines realen Grundes in NG und mit Blick auf Vorgänger wie Baumgarten und Crusius „quite plausible to think that it originates with Kant“ (Watkins 2005, 163). Diese These vertritt auch Schnepf: „Zu Recht ist vermutet worden, daß diese Schrift einen entscheidenden Schritt für die Entdeckung der Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen dokumentiert.“ (Schnepf 2001, 130). Vgl. auch Henrich über „Kants Denken 1762/63. Über den Unterschied synthetischer und analytischer Urteile“ (1967).  Vgl. Schnepf 2001, 130.

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grenzung zu logischen Gründen postuliert.²⁰ Diese These ist historisch und systematisch von Interesse, weil sie die sogenannte ‚kopernikanische Revolution‘ in Kants Denken vorbereitet.²¹ Auf der Grundlage dieser Unterscheidung von realen und logischen Gründen betrachtet Kant speziell das Verhältnis der Negation und den Unterschied zwischen einer „logischen und realen Entgegensetzung“ (NG, 2:203).²² Die reale Entgegensetzung, auf die es hier ankommt, muss ebenfalls als eine synthetische Verknüpfung zwischen Realgrund und Folge gedacht werden, die dann aber nicht besagt, „daß, weil Etwas ist, etwas anderes sei“ (NG, 2:202), sondern, dass „darum, weil etwas ist, etwas anderes aufgehoben werde“ (NG, 2:203). Eine reale Entgegensetzung lässt sich dadurch charakterisieren, dass „zwei Prädicate eines Dinges entgegengesetzt sind, aber nicht durch den Satz des Widerspruchs“ (NG, 2:171). Warum diese Entgegensetzung real genannt wird, lässt sich Kants Erläuterung und ihrer Veranschaulichung anhand eines Beispiels entnehmen: Es hebt hier auch eins dasjenige auf, was durch das andere gesetzt ist; allein die Folge ist Etwas (cogitabile). Bewegkraft eines Körpers nach einer Gegend und eine gleiche Bestrebung eben desselben in entgegengesetzter Richtung widersprechen einander nicht und sind als Prädicate in einem Körper zugleich möglich. (NG, 2:171).

Es wäre ein logischer Widerspruch, würde man bejahen, ein Körper bewege sich in eine Richtung und zugleich verneinen, dass er sich in diese Richtung bewegt. Für diese Opposition lässt sich nicht behaupten, dass die „Folge […] Etwas“ (NG, 2: 171) ist, da sie vielmehr nichts ist, wie zum Beispiel „[f]inster und nicht finster in einerlei Verstande zugleich sein“ (NG, 2:172) nicht gedacht werden kann.²³ Ein bejahendes Prädikat A wird durch sein kontradiktorisches Gegenteil non-A logisch verneint. Befindet sich ein Gegenstand hingegen in Ruhe, weil in ihm eine Kraft A zur Bewegung durch eine entgegengesetzte Kraft B aufgehoben wird, dann

 „[W]hile he is attracted to the postulation of real grounds over and against Humean and Leibnizien skepticism about extralogical necessary connections, he also has no good account of either the metaphysics or the epistemology of these connections“ (Chignell/Pereboom 2010, 578).  „Kant sees the need to identify which principles they [real grounds] are based on, which eventually leads to a number of other crucial discoveries that, taken together amount to the ‘Critical turn’“ (Watkins 2005, 180). Vgl. hierzu auch Wolff (1981, Kap. 4).  „Die von uns oben vorgetragene Unterscheidung der logischen und realen Entgegensetzung ist der jetzt gedachten vom logischen und Realgrunde parallel.“ (NG, 2:203).  „Kommt einem Ding ein Prädikat und dessen logische Negation zu, handelt es sich nämlich um kein reales Ding mehr. Gerade deshalb gilt der Widerspruch positiver und negativer Kräfte als ein ‚realer‘.“ (Schnepf 2001, 138). „Es läßt sich denken, daß eine gewisse Bewegung nicht sei, daß sie aber zugleich sei und nicht sei, läßt sich garnicht denken.“ (NG, 2:172).

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ist diese Ruhe eine reale Folge der entgegengesetzten Wirkung beider Kräfte und insofern etwas Reales, eine „Ruhe, welche Etwas (repraesentabile) ist“ (NG, 2:171). Eine solche Realrepugnanz bewirkt Etwas, weil „beide Prädicate A und B […] bejahend“ (NG, 2:172) sind, obgleich sie einander „entgegengesetzt sind, aber nicht durch den Satz des Widerspruchs“ (NG, 2:171). Diese Pointe formuliert Kant als eine erste Grundregel der Realentgegensetzung: „Die Realrepugnanz findet nur statt, in so fern zwei Dinge als positive Gründe eins die Folge des andern aufhebt.“ (NG, 2:175). Zweitens verdeutlicht Kant diese Pointe, indem er betont, dass eine negative Größe, A oder B, immer nur in Ansehung einer ihr entgegengesetzten Größe, A oder B, negativ zu nennen sei. Entsprechend bezeichnet er die Folge einer realen Entgegensetzung als ein „verhältnißmäßiges Nichts“, das sich durch „Zero=0“ ausdrücken lasse (NG, 2:172). Zero sei dann eine reale Folge und nicht wie „bei der Aufhebung durch den Widerspruch schlechthin Nichts“ (NG, 2:172). Darin besteht die zweite Regel, „welche eigentlich die umgekehrte der ersten ist“: Allenthalben, wo ein positiver Grund ist und die Folge ist gleichwohl Zero, da ist eine Realentgegensetzung, d.i. dieser Grund ist mit einem andern positiven Grunde in Verknüpfung, welcher die Negative des ersteren ist. (NG, 2:177).

‚Die Negative‘ verwendet Kant hier als Ausdruck für ein „reales Gegentheil“ (NG, 2:175) und meint damit, wie er später anmerkt, einen Grund der „Beraubung (privatio)“ (NG, 2:177) und nicht bloß das Negative im Sinne eines „Mangel[s] (defectus, absentia)“ (NG, 2:178).²⁴ Zum einen ist die Negative also eine Größe, nämlich ein realer Grund der Beraubung; zum anderen ist sie eine wesentlich relationale Größe, und zwei einander entgegengesetzte positive Gründe kommen insofern beide als die Negative des anderen in Betracht. Diese beiden Bestimmungen einer negativen Größe, sie sei [1.] eine ‚relationale‘ und [2.] eine ‚reale‘ Größe, fasst Kant in seiner Definition einer negativen Größe zusammen: [1.] Eine Größe ist in Ansehung einer andern negativ, in so fern sie mit ihr nicht anders als durch die Entgegensetzung kann zusammen genommen werden, [2.] nämlich so, daß eine in der andern, so viel ihr gleich ist, aufhebt. (NG, 2:174).

Die relationale Bestimmung bringt mit sich, dass unbestimmt ist, welche Größe in Anbetracht ihres Gegensatzes mit der negativen Größe identifiziert werden soll.

 „Beraubung“ nennt Kant die „Verneinung, in so fern sie die Folge einer realen Entgegensetzung ist“ (NG, 2:177); unter „Mangel“ versteht er „jede Verneinung, die nicht aus einer realen Entgegensetzung folgt“ (NG, 2:178).

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Entsprechend kommentiert Kant den ersten Teil seiner Definition [1.] mit der Anmerkung „daß man also eigentlich keine Größe schlechthin negativ nennen kann, sondern sagen muß, daß + a und – a eines die negative Größe der andern sei“ (NG, 2:174). An dem realen Gegensatz zwischen „Aufgehen“ und „Untergehen“ veranschaulicht er, dass man „ebenso sowohl das Untergehen ein negatives Aufgehen, wie das Aufgehen ein negatives Untergehen nennen kann“ (NG, 2:175). Die Bezugnahme auf die negative Größe lässt sich Kant zufolge aber durch den Kontext festlegen: Allein es ist etwas wohlgereimter, demjenigen, worauf in jedem Falle die Absicht vorzüglich gerichtet ist, den Namen des Negativen beizufügen, wenn man sein reales Gegentheil bezeichnen will. (NG, 2:175).

Kant diskutiert diese relationale Gerichtetheit am Beispiel von „Schulden“ und „Capitalien“ (NG, 2:174), in dem „Capitalien eben sowohl negative Schulden, wie diese negative Capitalien sind“ (NG, 2:175). Habe ich die Intention, Kapital anzuhäufen, dann sind die Schulden mit Blick auf meine Absicht dasjenige, was mich meines Kapitals beraubt, und insofern gibt man den Schulden in diesem Kontext den Namen des Negativen,²⁵ „obzwar in dem Gegenverhältniß selbst kein Unterschied liegt“ (NG, 2:175). Damit sollte deutlich geworden sein, dass eine negative Größe nicht nur als realer Grund, sondern als ein wesentlich relationaler realer Grund gedacht werden muss. Wie das Beispiel, Schulden sei negatives Kapital, und viele weitere Beispiele belegen, möchte Kant das mathematische Konzept der negativen Größe nicht nur auf physikalische Gegenkräfte anwenden.²⁶ Im zweiten Abschnitt geht es auch um Beispiele des Mentalen. Kant vertritt, „daß, was die Aufhebung eines existierenden Etwas anlangt, unter den Accidenzien der geistigen Naturen desfalls kein Unterschied sein könne von den Folgen wirksamer Kräfte in der körperlichen Welt“ (NG, 2:191). Auch „ein Gedanke der Seele[…] kann nicht aufhören zu sein, ohne eine wahrhaftig thätige Kraft eben desselben denkenden Subjekts“, ohne

 „So ist es etwas schicklicher, Schulden negative Capitalien, als sie umgekehrt zu nennen“ wegen „der Beziehung, die das Resultat dieses Gegenverhältnisses auf die übrige Absicht hat.“ (NG, 2:175).  Im zweiten Abschnitt geht es auch dem Titel zufolge um „Beispiele aus der Weltweisheit“. Neben naturwissenschaftlichen Beispielen diskutiert Kant unter anderem: „Unlust“ als eine „negative Lust“ (NG, 2:180); „Verbote sind negative Gebote, Strafen negative Belohnungen usw.“ (NG, 2:184); er nennt „die Verabscheuung eine negative Begierde, den Haß eine negative Liebe, die Häßlichkeit eine negative Schönheit, den Tadel einen negativen Ruhm“ (NG, 2:182); „Nehmen ist ein negatives Geben […] Irrthümer sind negative Wahrheiten […] eine Widerlegung ist ein negativer Beweis“ (NG, 2:182); „Untugend (demeritum) ist […] eine negative Tugend“ (NG, 2:182).

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„die entgegengesetzte Bewegkraft eines andern“ Gedankens (NG, 2:191). Andererseits nennt Kant zwei Unterschiede zwischen den Kräften der mentalen und der körperlichen Welt: Erstens gebe es „verschiedene Gesetze“, und entsprechend könne der „Zustand der Materie niemals anders als durch äußere Ursache, der eines Geistes aber auch durch eine innere Ursache verändert werden“ (NG, 2:191 f.). Zweitens vertritt Kant, dass wir die negativen Kräfte des Geistes, nicht aber die negativen Kräfte der körperlichen Welt, ‚wahrnehmen‘ können. Handelt es sich bei einer negativen Größe um eine Anstrengung des Geistes, dann ist das nach Kant ein potentieller Fall, in dem „man sich dieser entgegengesetzten Thätigkeit sogar bewußt ist“ (NG, 2:191). Er nimmt an, dass wir mentale negative Größen „in uns klar bemerken“ (NG, 2:191) können und beschreibt das Bewusstsein dieser Kraft als eine „innere Erfahrung über die Aufhebung der durch die Thätigkeit wirklich gewordenen Vorstellungen und Begierden“ (NG, 2:190): Man empfindet es in sich selbst sehr deutlich: daß, um einen Gedanken voll Gram bei sich vergehen zu lassen und aufzuheben, wahrhafte und gemeiniglich große Thätigkeit erfordert wird. (NG, 2:190).

Diese entgegengesetzte Tätigkeit des Geistes bezeichnet Kant unmittelbar darauf als „Abstraktion“ und als „negative Aufmerksamkeit“: Eine jede Abstraction ist nichts anders, als eine Aufhebung gewisser klaren Vorstellungen, welche man gemeiniglich darum anstellt, damit dasjenige, was übrig ist, desto klärer vorgestellt werde. Jedermann weiß aber, wie viel Thätigkeit hiezu erfordert wird, und so kann man die Abstraction eine negative Aufmerksamkeit nennen, das ist, ein wahrhaftes Thun und Handlen, welches derjenigen Handlung, wodurch die Vorstellung klar wird, entgegengesetzt ist. (NG, 2:190).

Bei der Abstraktion handelt es sich Kant zufolge um ein wirkliches Tun und nicht lediglich um einen Mangel oder eine Unterlassung im Sinne des Nichts-Tuns. Körperliche und mentale Kräfte unterscheiden sich als real entgegengesetzte Kräfte gleichermaßen von einer logischen Entgegensetzung. Der Unterschied liegt darin, dass wir die reale Kraft einer negativen Größe im Bereich des Mentalen wahrnehmen können, weil die mentale entgegengesetzte Kraft, indem sie den Gegensatz verringert oder aufhebt, unseren inneren Sinn affiziert. Kant argumentiert in NG, aber auch in der KrV, nicht ausführlich und unproblematisch dafür, aber er hält es für unproblematisch, dass nicht nur Wahrnehmungsgehalte der Außenweltwahrnehmung, sondern auch die mentale Kraft der Aufmerksamkeit den inneren Sinn affiziert:

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Ich sehe nicht, wie man so viel Schwierigkeiten darin finden könne, daß der innere Sinn von uns selbst affiziert werde. Jeder Actus der Aufmerksamkeit kann uns ein Beispiel davon geben. Der Verstand bestimmt darin jederzeit den inneren Sinn (KrV, B156Anm.).

Diese Annahme setzt Kant in NG voraus, mit der Folge, dass er den Bereich des Mentalen gegenüber dem naturwissenschaftlichen Bereich als einen privilegierten Anwendungsbereich für das Konzept der negativen Größe ansieht, weil im Bereich des Mentalen nicht nur eine negative Größe, sondern auch die innere Erfahrung einer negativen Größe denkbar ist. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds lässt sich auf Kants vorhergehende Überlegung verweisen, dass sich anhand der Erfahrung nicht unterscheiden lasse, ob zum Beispiel der Ruhezustand eines Körpers auf einem Mangel an Kräften oder auf einer Beraubung entgegengesetzter Kräfte beruht.²⁷ Ebenso kann der Grund für das Zero auf meinem Konto darin liegen, dass Schulden vom Kapital getilgt wurden, oder es drückt einen Mangel aus: sowohl an Kapital als auch an Schulden. Dasselbe gelte auch für einen Gedanken, den man nicht habe, weil man es logisch unterlasse, ihn zu denken, der also auch vorher nicht war, wohingegen der praktische oder reale Akt der Unterlassung gleichbedeutend sei mit der „Aufhebung einer Thätigkeit, die kurz vorher war“ (NG, 2:192). Das Besondere am letzten Beispiel der negativen Aufmerksamkeit ist, dass die negative Größe hier ihrerseits als eine mentale Anstrengung spürbar werden kann, auch wenn wir diese Kraft der Aufhebung im Wechsel unserer Gedanken und Vorstellungen häufig „nicht bemerken, darum weil der Handlungen sehr viel sind, jede einzelne aber nur sehr dunkel vorgestellt wird“ (NG, 2:191).

1.3 Zinkin über negative Größen Zinkin hat vielseitig über Kants Aufsatz über negative Größen und dessen Bedeutung für Kants frühes und spätes Schaffen gearbeitet und dabei zwei Neuzugänge formuliert, auf die ich mich in meiner Deutung der Achtung stützen möchte. Erstens betont sie in „Kant on Negative Magnitudes“ (2012), dass Kant dem Mentalen und insbesondere den spezifischen Tätigkeiten des Geistes in NG eine besondere Beachtung schenkt. Zweitens bezieht sie sich in „Respect for the Law and the Use of Dynamical Terms in Kant‘s Theory of Moral Motivation“ (2006)

 „Ruhe ist in einem Körper entweder bloß ein Mangel, d.i. eine Verneinung der Bewegung, in so fern keine Bewegkraft da ist: oder eine Beraubung, in so fern wohl Bewegkraft anzutreffen, aber die Folge, nämlich die Bewegung, durch eine entgegengesetzte Kraft aufgehoben wird.“ (NG, 2:178).

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auf Kants Moralphilosophie und interpretiert die Analyse der Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl aus der KpV unter Rückgriff auf das Konzept der negativen Größe. In ihrem Aufsatz über negative Größen von 2012 kritisiert Zinkin den starken Fokus der Forschung auf physische Kräfte und stellt dagegen den mentalen Anwendungsbereich in den Fokus ihres Aufsatzes, so wie es auch Kant in NG getan habe, was bislang aber vernachlässigt worden sei: To my knowledge, no commentary on NG has remarked that, for Kant, the importance of negative magnitudes has to do with how they can help us understand our mental activity. […] However, a close reading will show that Kant’s main interest in negative magnitudes is in what they can reveal to us about mental activity (Zinkin 2012, 399).

Im Anschluss an Kants Ausführungen in NG über „Abstraction“ als „negative Aufmerksamkeit“ (NG, 2:190) spezifiziert Zinkin diese mentale Aktivität als die Tätigkeit des Reflektierens, Vergleichens und Abstrahierens.²⁸ Diese mentale Aktivität, „by which the mind gradually moves from what is empirically given to a pure, general, concept“ (Zinkin 2012, 410), entspricht insbesondere auch der Tätigkeit des Philosophierens. Daher sei das Konzept der negativen Größe, so Zinkin 2012, für die Philosophie insbesondere mit Blick auf mentale statt physische Kräfte relevant.²⁹ In NG formuliere Kant die These, dass das Konzept der negativen Größe eine synthetische Form a priori sei, die unserer mentalen Aktivität zugrunde liege.³⁰ Dabei geht es um solche mentale Akte wie das Abstrahieren, Reflektieren, Vergleichen, Sich-Konzentrieren oder Aufmerksam-Sein oder auch um das Sich-Disziplinieren. Das Konzept einer negativen Größe sei eine formale Bedingung der Möglichkeit dieser mentalen Akte: It is necessarily true that if a negative magnitude is in a relation of real opposition to something else, ‘the one magnitude (will cancel) as much in the other as is equal to itself.’ Since this is necessarily true, it is a priori. And, since this truth is not based on the analysis of a concept, it is also synthetic. (Zinkin 2012, 404).

 „By comparing representations we note the differences. By reflecting, we note the similarities. Abstraction is the activity by which we separate the one from the other by omitting the differences and thus isolate a concept – what the representations have in common.“ (Zinkin 2012, 410).  „What makes negative magnitudes relevant for philosophy, therefore, is that the form of negative magnitudes is a form of our own mental activity.“ (Zinkin 2012, 404).  „In fact, just as Kant will later argue that space and time are subjective forms of our own intuition, so, in NG, does Kant consider the form of negative magnitudes to be a form of our own cognition“ (Zinkin 2012, 404).

1 Das Konzept der negativen Größen

263

Angenommen, ich lenke meine Aufmerksamkeit von x auf y. Das setzt voraus, dass sich meine Aufmerksamkeit für y verringert, je mehr ich meine Aufmerksamkeit auf x konzentriere. Ohne die Annahme, dass hier etwas in dem Grade nicht sei, weil in demselben Grade etwas anderes sei, ließe sich die reale Verknüpfung im Wechsel der Vorstellungen nicht denken, die vorliegt, wenn in einem gehaltvollen Sinne ein mentaler Akt oder eine Handlung unterlassen wird.³¹ Abgesehen davon, dass die besagte mentale Aktivität die Form einer negativen Größe haben soll, wird sie sowohl bei Kant als auch bei Zinkin eher vage bestimmt. Zinkin bezeichnet, wie auch Kant, die mentale Kraft der negativen Aufmerksamkeit als „effort“ (Zinkin 2012, 413) oder „Anstrengung einer Kraft“ (NG, 2:191) des Geistes. Sie betont, dass Abstraktion oder negative Aufmerksamkeit weder mit einer rein verstandesmäßigen Leistung noch mit einer sinnlichen Rezeptivität gleichgesetzt werden könne. Abstrahieren sei zwar eine aktive Leistung des denkenden Subjekts, die aber nicht darin bestehe, Objekte anhand von Begriffen zu bestimmen, sondern eher Begriffe zu erzeugen.³² Die mentale Aktivität des Abstrahierens ist nicht auf die Außenwelt ausgerichtet und wird daher als „inward mental effort“ (Zinkin 2012, 143) charakterisiert.³³ Daran schließen zwei Thesen an: Erstens handle es sich bei negativen Größen immer um intensive Größen, also um solche, die verschiedene Grade, aber nicht, wie extensive Größen, verschiedene Teile haben können.³⁴ Zweitens gelte dies auch für „an ‘effort’ of the mind, of which we are conscious through a feeling“ (Zinkin 2012, 400). Zinkin behauptet also zweitens, dass wir uns der Kraft mentaler Akte des Reflektierens durch ein Gefühl im Sinne einer inneren Erfahrung bewusst sein können. Den ersten Komplex des Konzepts der negativen Größe, der intensiven Größe und der stufenweisen Abstraktion in Graden, verwendet Zinkin zur Interpretation

 „Und so ist zu urtheilen, daß das Spiel der Vorstellungen und überhaupt aller Thätigkeiten unserer Seele, in so fern ihre Folgen, nachdem sie wirklich waren, wieder aufhören, entgegengesetzte Handlungen voraussetzen, davon eine die Negative der andern ist“ (NG, 2:191).  „Rather than being purely spontaneous as is the kind of thinking involved in the analysis that produces determinative judgments, the form of mental activity that Kant describes in NG takes effort and has degrees of magnitude. This form of mental activity is what makes possible the generation of concepts rather than the determination of objects by means of concepts.“ (Zinkin 2012, 399).  „I will also argue that negative magnitudes suggests to Kant that there is a kind of cognitive activity that is neither the spontaneity of discursive thought nor the receptivity of the senses.“ (Zinkin 2012, 400).  „As causal powers, negative magnitudes are also intensive magnitudes and are measured in degrees. […] For Kant, force is measured intensively precisely because the ‘parts’ of a force are not external to one another as are the parts of space.“ (Zinkin 2012, 402).

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Teil IV: Verteidigung

einer Stelle aus der KrV über die Antizipation der Wahrnehmungen³⁵, in der unklar ist, wie Kant argumentativ nachweist, dass alles Reale unserer Wahrnehmung eine intensive Größe hat. Zinkin vertritt, dass sich auf der Grundlage von Kants Ausführungen über die mentale Aktivität der Abstraktion in NG ein transzendentales Argument für die intensive Größe rekonstruieren lasse,³⁶ das Kant so formuliert: Nun ist vom empirischen Bewußtsein zum reinen eine stufenartige Veränderung möglich, da das Reale desselben ganz verschwindet, und ein bloß formales Bewußtsein (a priori) des Mannigfaltigen im Raum und Zeit übrig bleibt: also auch eine Synthesis der Größenerzeugung einer Empfindung, von ihrem Anfange, der reinen Anschauung = 0, an, bis zu einer beliebigen Größe derselben. (KrV, B208).

Kant thematisiere hier eine mentale Aktivität, die er selber hauptberuflich ausübe und die darin bestehe, von dem empirischen Bewusstsein und aller Empfindung zu abstrahieren, sodass ein bloß formales Bewusstsein von Raum und Zeit, ‚der reinen Anschauung = 0‘, übrig bleibe. Da wir stufenweise von der Mannigfaltigkeit der Anschauung absehen können, argumentiert Zinkin, dass diese Aktivität etwas sei, das Grade habe und daher eine intensive Größe ist.³⁷ Insgesamt nimmt sie dabei drei Ebenen an: Erstens die Empfindungen, von denen abgesehen wird; zweitens die intensive Größe der Tätigkeit, sie verschwinden zu lassen, und drittens ein Bewusstsein dieser Aktivität, das ihr zufolge mit einer Empfindung identisch ist, die durch die mentale Einwirkung auf die Empfindung erster Stufe entsteht. Insbesondere ihre These zur dritten Ebene, dass es ein Gefühl sei, in dem uns die mentale Aktivität als negative Größe bewusst sei, charakterisiert Zinkins Ansatz.

 „Das Prinzip derselben ist: In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d.i. einen Grad.“ (KrV, B207).  „Kant’s insights in NG are presupposed in his argument for the Anticipations of Perception in the first Critique.“ (Zinkin 2012, 408). „Kant’s point is not that we know that the real has an intensive magnitude because we can sense this in empirical consciousness, which itself has varying degrees. That would be an empirical argument and not a transcendental one. Rather, Kant is saying that we possess a pure form of mental activity, which is intensive and which is what make possible the attribution of a degree to what affects us.“ (Zinkin 2012, 411).  „If there were a form of mental activity, which is neither thought nor sense, by which the mind could gradually make the transition from what is empirically given to a pure form of thought, and from what is material and particular to what is formal and universal, then this form would indeed be an intensive form that could make possible the ascription of a degree of magnitude to a representation. And indeed, I think that Kant does think that there is such a form of mental activity. This is the activity of reflection, abstraction and comparison on what is empirically given“ (Zinkin 2012, 210).

1 Das Konzept der negativen Größen

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Eine innere Erfahrung der mentalen Kräfte sei möglich, weil die Anstrengung des Geistes, von einem affektiven Gedanken abzusehen, ihrerseits einen affektiven Effekt haben müsse. Dieser Effekt sei „a feeling of their activity“ (Zinkin 2012, 207) und eine innere Erfahrung mentaler kausaler Kräfte.³⁸ Dabei schränkt sie die Möglichkeit einer solchen Erfahrung der kausalen Kräfte negativer Größen auf solche Fälle ein, „in which we are inwardly affected“ (Zinkin 2012, 207). Das Argument dafür, dass das Bewusstsein einer mentalen Aktivität in Form einer negativen Größe ein Gefühl sein müsse, beruht also auf der Annahme, dass die reale Negation eines Gefühls oder gefühlsgebundener Gedanken im Gegensatz zur logischen Negation immer auch einen gefühlsbezogenen Effekt haben muss. In diesen Fällen, in denen von vornherein schon Gefühle in der entgegengesetzten Tätigkeit des Geistes involviert sind, sei kein theoretisches Bewusstsein, aber eine innere Erfahrung der mentalen Aktivität möglich, insofern wir die reale Kraft der Beraubung, der Verringerung oder Aufhebung anhand der Wirkung auf das Gefühl spüren: The ‘effort’ required to cancel out an affective thought is itself inseparable from its effect on our feeling. We can therefore be directly aware of our mental efforts since they affect us and are inseparable from this effect […]. Thus, in NG, Kant’s view is that we can have access to causal powers through that feeling which is of the effectiveness of their activity. (Zinkin 2012, 207).

Mit dieser These positioniert sich Zinkin in einer Debatte um Kants Metaphysik der Kausalität. Mit Eric Watkins vertritt sie, dass Kant, anders als Hume, empirische Kausalität nicht anhand von Ereignissen, sondern anhand einer Kräfte-Terminologie versteht.³⁹ Mit Derk Pereboom und Andrew Chignell problematisiert sie Watkins Vorschlag, dass wir ein Bewusstsein mentaler Aktivität, der reinen Apperzeption, und insofern auch ein Bewusstsein kausaler Kräfte haben können.⁴⁰ Während Pereboom und Chignell annehmen, dass uns nur die Idee kausaler Kräfte durch die Idee der transzendentalen Freiheit bewusst sei,⁴¹ argumentiert

 „My awareness that a thought has been cancelled is just the awareness of the inner force that has cancelled it. Yet, the awareness of an inner force is not a mere ‘consciousness’ of this force. Rather this awareness is the feeling of the effectiveness of this force.“ (Zinkin 2012, 405).  Vgl. Zinkin 2012, 400; Watkins 2005, 13 ff., 264; Zinkins Anlehnung an Watkins beinhaltet aber auch eine „revision“, insofern sie gegen Watkins Darstellung einwendet, dass nicht Kants, sondern Humes These revisionär gewesen sei (vgl. Zinkin 2012, 400).  Vgl. Zinkin 2012, 407; Pereboom/Chignell 2010, 589 ff. und Watkins 2005, 272– 277.  Sie denken mit Blick auf Watkins, dass „rather than being given to us through apperception, we get the idea of a causal power through reason which gives us the idea of transcendental freedom“ (Zinkin 2012, 407). Vgl. Pereboom/Chignell 2010, 591.

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Teil IV: Verteidigung

Zinkin, dass wir die Kraft unserer mentalen Aktivität als eine negative Größe spüren, insofern diese Aktivität notwendig immer mit dem Effekt auf dasjenige, was sie verringert, einhergeht.⁴² Interessant ist Zinkins Vorschlag auch darum, weil er eine fruchtbare Nähe zwischen den Tugenden der Einsicht und der moralischen Tugend aufzeigt: „This inward mental effort by which we reflect, abstract, compare representations can be described as a ‘virtue’ of cognition, comparable to the strength of the will.“ (Zinkin 2012, 413). Diese Nähe zwischen Prinzipien des vernünftigen Denkens und dem moralischen Prinzip vernünftigen Handelns betont auch O’Neill in Constructions of Reasons (1989). Unter Autonomie versteht sie „disciplining thinking or action in ways that are not contingent on specific and variable circumstances“ (O’Neill 1989, 59). Aus dieser autonomen Tätigkeit des Denkens und Handelns, die sich als negative Größe beschreiben lässt, speist sich ihr zufolge die Autorität der Vernunft. Auf der Grundlage dieser Parallele lässt sich mit Blick auf Kants schwierige Argumentation in GMS III argumentieren, dass zwischen der Autonomie vernünftiger Wesen und ihrer Rationalität ein enger Zusammenhang besteht, der lautet: Vernunft gründet in Autonomie, nicht umgekehrt.⁴³ Autonomie aber lässt sich als mentale, reflexive Aktivität begreifen, die die Form einer negativen Größe hat, insofern in einer autonomen Anstrengung des Denkens und Handelns von allen kontingenten Aspekten abstrahiert wird. Für unseren Kontext ist Zinkins Vorschlag von besonderem Interesse, weil Kant im Triebfedernkapitel eine ähnliche Argumentation entwirft, wie sie Zinkin mit Blick auf das gefühlte Bewusstsein mentaler Aktivität verteidigt. Im Folgenden werde ich Zinkins Interpretation des Triebfedernkapitels zwar nicht mehr nachskizzieren, aber ihre These verteidigen, dass sich Kants Ausführungen über die Wirkung des Gesetzes auf das Gefühl nur mithilfe des Konzepts einer negativen Größe nachvollziehen lassen.

 „In NG, I believe Kant is responding directly to Hume and arguing that we do in fact have an impression of force, and moreover that the force of which we have an impression – negative magnitudes – is a necessary component of our mental activity.“ (Zinkin 2012, 399). „The perception of this energy, or force, for Kant, is, however, not a cognition, but rather a feeling.“ (Zinkin 2012, 400).  „The task of closing the gap between reason and autonomy (which the analytic passages left open) can now be seen in a new light. This gap is to be closed not by establishing that human beings are rational, and then providing that they are free, and hence also (given the analytic argument) autonomous. Kant‘s strategy is the reverse. He argues not from reason to autonomy but from autonomy to reason. Only autonomous, self-disciplining beings can act on principles that we have grounds to call principles of reason“ (O’Neill 1989, 57).

1 Das Konzept der negativen Größen

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1.4 Das Moralgesetz als negative Größe Im Triebfedernkapitel geht es speziell um die moralische Willensbestimmung eines Subjekts, das endlich und somit auch fehlbar ist. Charakteristisch für ein vernünftiges Wesen, das einen endlichen Körper hat, ist ein Spannungsverhältnis zwischen zwei praktischen Prinzipien, die einander real entgegengesetzt sind: Das empirisch unbedingte Moralprinzip, nach dem eine rein formale Übereinstimmung der Willen aller vernünftigen Subjekte der oberste Grundsatz ist, und die ursprüngliche Selbstliebe, nach der es in jeder Handlung um die erfolgreiche Verwirklichung der eigenen, empirisch bedingten Zwecke gehen soll. Das Prinzip der ursprünglichen Selbstliebe bezeichnet Kant auch als Eigendünkel oder als Hang der ursprünglichen Selbstliebe.⁴⁴ Beide Prinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine objektive Geltung für die Willensbestimmung beanspruchen,⁴⁵ die sich entweder nach den partikularen Neigungen oder nach dem universalen Gesetz richten soll, was einander widerspricht. Also sind diese beiden Handlungsprinzipien einander real entgegengesetzt, was gleichbedeutend damit ist, dass sie sich nicht zusammenbringen lassen, ohne dass sie einander in ihrem Geltungsanspruch aufheben. Eben solche Größen bestimmt Kant, wie gesehen, als negative Größen. Je nachdem, worauf sich die Absicht des Subjekts richtet, lässt sich der Hang der Selbstliebe oder das Moralprinzip als die negative Größe des anderen beschreiben. Im Triebfedernkapitel konzentriert sich Kant auf den Fall der moralisch-guten Willensbestimmung. Daher lässt sich das Moralgesetz in Anlehnung an Kants Definition als die negative Größe der Selbstliebe oder als negative Selbstliebe beschreiben:

 Vgl. KpV, 5:74. Vgl. hierzu auch die ausführliche Analyse von Engstrom, der den Unterschied zwischen Selbstliebe und Eigendünkel primär darin sieht, dass Eigendünkel im Gegensatz zur Selbstliebe ein Hang ist, die eigenen Bestimmungsgründe als primär anzusehen, obwohl ein Bewusstsein des Moralgesetzes bereits vorausgesetzt werden kann (vgl. Engstrom 2010, 102 ff.).  „Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen Princip macht, Eigendünkel heißen kann.“ (KpV, 5:74). Mit diesem Hang, dem Prinzip der Selbstliebe oder des Eigendünkels sind keine Neigungen, sondern Maximen der Willensbestimmung gemeint, die vorgeben, wie Neigungen als Bestimmungsgründe zu behandeln sind, wie z. B. Reath herausarbeitet. Ihm zufolge ist „self-love a tendency to treat one‘s inclinations as objectively good reasons for one‘s action, which are sufficient to justify them“ (Reath 2006, 15). Damit stimmt auch die Analyse von Engstrom überein: „Self-love and self-conceit are closely bound up with the inclinations, but they are distinctive in that they involve, in their maxims, certain claims, which contain an essential presumption of and concern for their own validity“ (Engstrom 2010, 102).

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Teil IV: Verteidigung

Das Moralgesetz ist in Ansehung des ursprünglichen Hanges der Selbstliebe des Menschen negativ, insofern es mit ihm nicht anders als durch die Entgegensetzung zusammen genommen werden kann, nämlich so, daß das Moralgesetz den Hang der Selbstliebe aufhebt.

Wichtig und in Anbetracht der hypostasierten Redeweise von dem Moralgesetz womöglich irreführend ist, dass es sich hierbei um eine metaphysische Entgegensetzung realer Kräfte handeln soll. Die These lautet, dass in dieser Realentgegensetzung „darum, weil etwas ist, etwas anders aufgehoben werde“ (NG, 2:203). Es handelt sich also um eine negative Form der Beziehung eines Realgrundes auf die Folge. Diese negative Form der Kausalität entspricht, so die These, Kants Antwort auf die Leitfrage, die er im Triebfedernkapitel beantworten will. Im zweiten Absatz des Triebfedernkapitels formuliert Kant auf einer knappen Seite sein Programm für diesen Abschnitt. Dabei bestimmt er positiv und negativ den Gegenstand in Form von Fragen. Im allerersten Absatz erinnert er an den Unterschied zwischen Legalität und Moralität und definiert, was er unter einer (moralischen) Triebfeder versteht. Daran knüpft er im zweiten Absatz an, um sein Vorhaben zu beschreiben: [1.] Da man also zum Behuf des moralischen Gesetzes, und um ihm Einfluß auf den Willen zu verschaffen, keine anderweitige Triebfeder, dabei die des moralischen Gesetzes entbehrt werden könnte, suchen muß, weil das alles lauter Gleißnerei ohne Bestand bewirken würde, und sogar es bedenklich ist, auch nur neben dem moralischen Gesetze noch einige andere Triebfedern (als die des Vortheils) mitwirken zu lassen: [2] so bleibt nichts übrig, als blos sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe. (KpV, 5:72).

Wichtig für ein Verständnis der Fragestellung ist Teil [2] des Zitats, in dem Kant ankündigt, er wolle im Folgenden zweierlei „sorgfältig […] bestimmen“ (KpV, 5:72). Zum einen kündigt er an, sorgfältig bestimmen zu wollen, „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde“ (KpV, 5:72). Hierauf nimmt er Bezug, wenn er zum zweiten Mal ansetzt, sein Vorhaben zu beschreiben: Sorgfältig bestimmen wolle er zweitens, „was, indem sie [die Triebfeder] es [das Gesetz] ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe“ (KpV, 5:72). Insofern „jenes Bestimmungsgrundes“ Bezug auf das Gesetz als Triebfeder nimmt, ließe sich an dieser Stelle auch die ausführliche Definition einer Triebfeder als Bestimmungsgrund ergänzen, die Kant einen Absatz zuvor anführt. Das Vorhaben lautete dann, sorgfältig zu bestimmen, welche Wirkung es auf das Begehrungsvermögen habe, wenn das Gesetz Triebfeder sei, d. h. „der subjective Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens […], dessen Vernunft nicht schon vermöge seiner Natur dem objectiven Ge-

1 Das Konzept der negativen Größen

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setze nothwendig gemäß ist“ (KpV, 5:72.). Zur Diskussion stehen also die folgenden zwei Fragen: Frage 1: Auf welche Art wird das Gesetz zur Triebfeder? Frage 2: Welche Wirkung hat das Gesetz auf das Begehrungsvermögen, insofern es Triebfeder bzw. subjektiver Bestimmungsgrund des Willens eines endlichen Wesens ist? Ebenso wichtig ist aber auch, dass Kant mit dem ersten Teil des Zitats und der Einleitung von [2], „so bleibt nichts übrig, als bloß sorgfältig zu bestimmen…“ (KpV, 5:72), eine andere denkbare Frage ausschließt. Im ersten Teil des Zitats sowie im vorhergehenden Absatz nennt Kant eine Voraussetzung, die lautet: dass im Fall von Moralität das Gesetz die Triebfeder sei und keine anderweitige Triebfeder gesucht werden dürfe, „dabei die [Triebfeder] des moralischen Gesetzes entbehrt werden könne“ (KpV, 5:72). Er warnt, dass die Erwägung „anderweitige[r] Triebfedern“ in lauter „Gleißnerei, ohne Bestand“⁴⁶ führe, sodass die Aufgabe nicht mehr darin bestehen kann, die moralische Triebfeder zu „suchen“ (KpV, 5:72). Es lässt sich also festhalten, dass es Kant nicht um die Frage geht, was die moralische Triebfeder ist. Er setzt voraus, dass das Gesetz die Triebfeder ist, und möchte ausgehend davon zwei Sachverhalte bestimmen, die sich als metaphysisch beschreiben lassen. Denn die Fragen nehmen darauf Bezug, wie das Gesetz in endlichen und zugleich vernünftigen Wesen wirkt, wobei diese Wirkung einer kausalen Kraft der Vernunft entspricht. Mit den zwei Fragen umreißt Kant also einen metaphysischen Ansatz in zwei Teilen, die sich in den folgenden Fragen und Antworten M1 und M2 zusammenfassen lassen. Außerdem lässt sich innerhalb von M2 zwischen einer metaphysischen und einer phänomenologischen Ausrichtung unterscheiden, wobei die metaphysische Frage M2 lautet, wie das Gesetz als negative Größe ein Gefühl bewirkt, wie also das Gefühl entsteht, wohingegen die phänomenologische Teilfrage P lautet, wie endliche Subjekte diese Wirkung auf das Gefühl erleben: Frage M1: Antwort 1:

Auf welche Art wird das Gesetz in endlichen Wesen zur Triebfeder? Als eine negative Größe.

 ‚Gleisnerei, ohne Bestand‘ entspräche einer heuchlerischen Befolgung des Gesetzes um des eigenen Vorteils willen. In der Tugendlehre thematisiert Kant den „Hang zur Gleißnerei“ im Kontext der Lüge (vgl. KpV, 5:288).

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Frage M2:

Teil IV: Verteidigung

Antwort 2:

Welche Wirkung hat das Gesetz als Triebfeder (d. h. als negative Größe) auf das Gemüt/Begehrungsvermögen? Ein moralisches Gefühl der Achtung.

Frage P: Antwort 3:

Wie fühlt sich das moralische Gefühl an? Ambivalent.

Die erste Frage lässt sich nach dieser Deutung auch unabhängig von der zweiten Anschlussfrage beantworten, wenn auch nicht ganz vollständig, wohingegen die Beantwortung der zweiten Frage den metaphysischen Ansatz der Wirkungsweise des Gesetzes voraussetzt.⁴⁷ Ausgehend von der Antwort auf die Frage M1 erläutert Kant die Genese der Achtung, bestimmt den Ursprung und das Objekt der Achtung und entwirft einen phänomenologischen Ansatz. Insofern setzt das metaphysische Modell (der Entstehung) der Achtung immer auch ein metaphysisches Verständnis der Form der Wirkung des Gesetzes voraus. M2 setzt M1 voraus. Daher werden im Folgenden zuerst einige Annahmen zu M1 formuliert, anschließend werden die Implikationen von M1 im Kontext der Frage M2 aufgegriffen und schließlich wird das phänomenologische Modell des moralischen Gefühls kommentiert, das vor dem Hintergrund von M2 verständlich wird. Die Betonung in der Frage, auf welche Art das Moralgesetz in endlichen Wesen zur Triebfeder wird, liegt auf dem Aspekt der Endlichkeit. An dieser Endlichkeit bemisst sich die Art der Wirkung des Gesetzes im Unterschied zu der Art seiner Wirkung in nicht-endlichen, rein vernünftigen Wesen. Ist der Wille rein vernünftig, dann wirkt das Moralgesetz als eine positive Größe. In der Bestimmung des endlichen, sinnlich-vernünftigen Willens kann das Gesetz seine Kraft hingegen nur als eine negative Größe manifestieren. Insbesondere die folgenden drei Argumente unterstützen diese Lesart: M1.a) In Gott wird das Gesetz nicht zur Triebfeder, weil in Gott keine Hindernisse des Gesetzes vorliegen. In ihm gibt es keine subjektiven Bestimmungsgründe, die mit den objektiven nicht übereinstimmen würden, sodass die Ausdrücke „Triebfeder“ wie auch „Interesse“ und „Maxime“, weil es sich um subjektive Bestimmungsgründe handelt, nach Kant ausdrücklich nicht auf Gott angewendet werden können.⁴⁸ In seinem frühen Aufsatz über negative Größen argumentiert er mit denselben Gründen dafür, dass sich das Konzept der negativen Größe nicht auf Gott anwenden lasse:

 Ähnlich stellt Höwing die Aussagen aus Kants Triebfedernkapitel dar (vgl. Höwing 2018, 253).  Vgl. KpV, 5:76, 79.

1 Das Konzept der negativen Größen

271

In dem höchsten Wesen können keine Gründe der Beraubung oder einer Realentgegensetzung statt finden. Denn weil in ihm und durch ihn alles gegeben ist, so ist durch den Allbesitz der Bestimmungen in seinem eigenen Dasein keine innere Aufhebung möglich. (NG, 2:200).

Der Grund dafür, dass sich das Konzept der negativen Größe nicht auf Gott anwenden lässt, lautet auch in diesem Kontext, dass Gott keine Hindernisse und Spannungen, keine einander real entgegengesetzten Prädikate zugeschrieben werden können.⁴⁹ Im Triebfedernkapitel fokussiert Kant den Unterschied zwischen der Wirkung des Gesetzes als Heiligkeit und der Wirkung des Gesetzes als Pflicht. Wenn die Ausgangsfrage lautet, „auf welche Art das Gesetz zur Triebfeder werde“ (KpV, 5:72), dann hat Kant also nicht den Kontrastfall einer pathologischen Triebfeder im Sinn, sondern eine Art, in der das Gesetz in Wesen wirkt, die vollkommen vernünftig sind. Er setzt die Wirksamkeit des Gesetzes also voraus und spezifiziert dann die Art dieser Wirksamkeit mit Blick auf den Willen endlicher Wesen. Die komplementäre These dazu, dass das Gesetz in endlichen Wesen als negative Größe wirkt, lautet, dass es in vollkommen vernünftigen Wesen als eine positive Kraft wirkt, die etwas setzt, was vorher nicht war, statt aufzuheben, was vorher da war. M2.b) „Das Gesetz“ ist letztlich eine hypostasierte Redeweise für die Bezeichnung einer dynamischen Kraft. Achtung fürs Gesetz ist entsprechend nicht Achtung für ein statisches Objekt, sondern für die dynamische, negative Wirkung der reinen praktischen Vernunft, die zugleich auch der Ursprung dieses besonderen Gefühls sein soll. Auf diese Weise wird verständlich, dass es für das Gesetz überhaupt kein Gefühl geben kann,⁵⁰ wie Kant beiläufig bemerkt, weil das Objekt und der Ursprung der Achtung nämlich eine ‚einschränkende‘, ‚schwächende‘, ‚hindernde‘, ‚demütigende‘ „Thätigkeit der praktischen Vernunft“ (KpV, 5:79) sein muss.⁵¹ Diese dynamische Beschreibung ist die Beschreibung einer Kraft oder Tätigkeit, die in Relation zu ihrem realen Gegensatz oder Hindernis wirkt: Die Anerkennung des moralischen Gesetzes aber ist das Bewußtsein einer Thätigkeit der praktischen Vernunft aus objectiven Gründen, die blos darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjective Ursachen (pathologische) sie hindern. (KpV, 5:79).

 Vgl. NG, 2:200 f.  In einem Nebensatz, in dessen Kontext Kant die Demütigung als negative und positive Wirkung beschreibt, bringt er die These hervor, dass für das „Gesetz gar kein Gefühl stattfindet“ (KpV, 5:75).  Vgl. insbesondere KpV, 5:75, 79.

272

Teil IV: Verteidigung

Für das Gesetz als statisches Gebilde findet also gar keine Achtung statt. Ein positives Gefühl der Achtung empfindet das endliche Subjekt für das Gesetz als negative Größe. M3.c) Kant formuliert auf Seite 79 des Triebfedernkapitels einen theoretischen Grundsatz der negativen Größe und führt diesen Grundsatz als Begründung für seine Analyse der Wirkung des Gesetzes an. Im Anschluss an die Analyse, dass „die Demüthigung auf der sinnlichen Seite, eine Erhebung der moralischen, d.i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen“ (KpV, 5:79) Seite sei, lautet die Begründung: „Denn eine jede Verminderung der Hindernisse einer Thätigkeit ist Beförderung dieser Thätigkeit selbst.“ (KpV, 5:79). In NG diskutiert Kant zahlreiche Beispiele, die diesen Grundsatz veranschaulichen sollen, zum Beispiel den „Streit zweier einander aufhaltenden Bewegkräfte“ (NG, 2:184) eines daher ruhenden Körpers, in dem die Verminderung der einen Bewegkraft eine Beförderung der anderen Bewegkraft ist.⁵² Mit seiner Begründung im Triebfedernkapitel bestätigt Kant zweifelsfrei, dass die „Thätigkeit“ der reinen praktischen Vernunft und die „Hindernisse“ (KpV, 5:79) einer „Realrepugnanz“ entsprechen, die gemäß der „Grundregel“ nur statt findet, „in so fern zwei Dinge als positive Gründe eins die Folge des andern aufhebt“ (NG, 2:175). In Anlehnung an Zinkin halte ich daher die Annahme für gerechtfertigt, dass Kants Begründung im Triebfedernkapitel das formale Konzept der negativen Größe aus NG voraussetzt. Das Konzept der negativen Größe ist demnach die notwendige, synthetische Form der Wirkweise des Gesetzes in endlichen Wesen. Im Anschluss an diese These, dass die Kraft der reinen praktischen Vernunft in endlichen Wesen als negative Größe wirkt, kann die Anschlussfrage M2 nach der Wirkung des Gesetzes auf das Gemüt oder Begehrungsvermögen beantwortet werden. Im Vordergrund steht dabei insbesondere die Beschreibung der Genese des moralischen Gefühls der Achtung, mit der Kant die Frage beantwortet, welche Wirkung das Gesetz als Triebfeder, d. h. als negative Größe, auf das Gemüt oder Begehrungsvermögen des endlichen Wesens habe. M2.a) Kant vertritt im Triebfedernkapitel, dass das moralische Gefühl der Achtung nur endlichen Wesen zugeschrieben werden kann,⁵³ diesen allerdings „a priori“ (KpV, 5:80), und er beschreibt das Gefühl der Achtung als eine „indirecte Wirkung“ (KpV, 5:79) des Gesetzes. Alle drei Merkmale lassen sich dadurch erklären, dass er voraussetzt, Achtung sei die Wirkung einer negativen Größe. Als Wirkung der negativen Größe kann Achtung nur endlichen Wesen zugeschrieben

 Vgl. den gesamten zweiten Abschnitt, in „welchem Beispiele aus der Weltweisheit angeführt werden“ (NG, 2:179 – 188).  Vgl. KpV, 5:76.

1 Das Konzept der negativen Größen

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werden, weil das Konzept der negativen Größe nur auf endliche Wesen angewendet werden kann. Wenn sich diese Wirkung aus der bloßen Form der Wirkung des Gesetzes erklären lässt, dann lässt sich „a priori doch noch so viel einsehen“, dass dieses Gefühl „unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden“ (KpV, 5:80) sein muss, vorausgesetzt, dass diese Vorstellung des moralischen Gesetzes der Form einer negativen Größe entspricht. Zudem ist die These, dass Demütigung eine Bedingung für die Entstehung und Achtung darum eine indirekte Wirkung des Gesetzes sei, verständlich, wenn man voraussetzt, dass auch die Größe oder Kraft des Gesetzes nur indirekt über die Negation, das heißt über die Demütigung der ursprünglichen Selbstliebe, wirkt. M2.b) Das Argument dafür, dass die Wirkung einer negativen Größe ein Gefühl ist, ist in beiden Texten, dem Triebfedernkapitel und NG, dasselbe. In beiden Kontexten wird es von Kant nicht gründlich formuliert, sondern angedeutet. Zwei Voraussetzungen lassen sich rekonstruieren: Erstens handelt es sich bei der negativen Größe um eine mentale Aktivität oder „inner[e] Thätigkeit unsers Geistes“ (NG, 2:199), da nur in diesem Fall überhaupt eine Wirkung auf das Gefühl und insofern auch anhand dieses Effektes ein Bewusstsein der negativen Größe möglich ist, wie Kant in NG vertritt. Zweitens wird dem Argument damit die weitere Voraussetzung untergelegt, dass es sich bei den entgegengesetzten Kräften um solche handeln muss, die in Verbindung zur Sinnlichkeit, zu Gefühlen oder Empfindungen stehen, wie zum Beispiel Lust und Unlust, aber auch empirische Vorstellungen oder, im Kontext der KpV, alle subjektiven Bestimmungsgründe und der Hang des Menschen, diese subjektiven Bestimmungsgründe unter dem Anspruch der Selbstliebe als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen.⁵⁴ Auf diesen Hang wirkt der moralische Anspruch der reinen praktischen Vernunft ein, sodass die Folge die Aufhebung oder Demütigung dieses Hanges ist. Diese Folge lässt sich als ein Gefühl beschreiben, wofür die Begründung lautet: „Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl.“ (KpV, 5:72 f.).⁵⁵ Dies stimmt mit der vorherigen Rekonstruktion überein, die gezeigt hat, dass der Effekt einer negativen Größe ein Gefühl sein muss, wenn dasjenige, was verringert wird, selbst ein Gefühl ist.⁵⁶ Dieses Argument wird vor dem Hintergrund  „Nun gehört der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch thut, so fern jene blos auf der Sinnlichkeit beruht.“ (KpV, 5:73).  In NG betont er übereinstimmend: „Nun lehrt gleich anfangs die innere Empfindung: […] daß die Unlust nicht lediglich ein Mangel, sondern eine positive Empfindung sei.“ (NG, 2:180).  Vgl. die Ausführungen im vorhergehenden Abschnitt über Zinkin 2012.

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Teil IV: Verteidigung

der Ausführungen in NG besser verständlich, weil es dort als Merkmal einer realen in Abgrenzung zur logischen Entgegensetzung behandelt wird. Real ist die Entgegensetzung dann, wenn die Folge etwas ist, obwohl sie darin besteht, dass etwas nicht mehr ist. Ist der Wille nicht durch seinen ursprünglichen Hang zur Selbstschätzung bestimmt, dann kann das entweder an einem Mangel oder an einer Beraubung liegen.⁵⁷ Gott beispielsweise mangelt es an dieser Selbstschätzung, und er wird diesen Mangel, weil es bloß ein Mangel, aber keine reale Beraubung ist, nicht spüren können. Der menschliche Wille, der nicht durch den ursprünglichen Hang zur Selbstschätzung bestimmt ist, muss sich dieser Negation bewusst sein, und er muss sie spüren, weil dieser Hang vor der realen Beraubung da war und mit mentaler Anstrengung aufgehoben wurde.Weil es sich in diesem Fall um eine reale und nicht bloß logische Entgegensetzung, um eine Beraubung und nicht bloß um einen Mangel handelt, hat seine Wirkung einen affektiven Effekt. Dieser affektive Effekt ist erstens das negativ gefühlte Resultat der Demütigung durch das Gesetz und zweitens ein Gefühl, in dem sich das Subjekt dieser Demütigung als einer mentalen Anstrengung bewusst wird. M2.c) In einer Hinsicht geht Kant im Triebfedernkapitel über seine Ausführungen in NG hinaus: Die Wirkung des Gesetzes als negative Größe wird von Kant hier nicht als eine graduelle Verringerung des Gegensatzes beschrieben, sondern als eine vollständige Aufhebung des Hanges zur Selbstschätzung der Selbstliebe gedacht. Achtung in seiner positiven Bedeutung ist charakteristisch für die moralische Kraft, insofern es sich um eine besondere negative Größe handelt, die keine graduelle, sondern eine vollständige Aufhebung ihres Gegensatzes bewirkt. Insofern ist für Kants Analyse wichtig, dass es nicht um die Aufhebung einzelner Neigungen geht, die im Widerspruch zu dem Gebotenen stehen, sondern um die Aufhebung des ursprünglichen Hanges, alle Neigungen als prioritäre Bestimmungsgründe des Willens anzusehen. Das Gesetz gebietet zwar nicht die Einschränkung und Aufhebung aller Neigungen, sondern nur ihre Einschränkung auf die Bedingung der Befolgung des Gesetzes, aber in dieser Einschränkung werden dennoch alle Neigungen auf eine Bedingung eingeschränkt und nicht nur diejenigen, die jene Bedingung nicht erfüllen.⁵⁸ Dem Hang zur unbedingten Selbstschätzung der Selbstliebe wird dadurch vollständig entgegengewirkt. Erst vor dem Hintergrund dieser Besonderheit lässt sich auch der positive Aspekt verstehen.  Vgl. NG, 2:177 f.  „Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objectiv und unmittelbar den Willen im Urtheile der Vernunft; Freiheit, deren Causalität blos durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mithin die Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt.“ (KpV, 5:78).

1 Das Konzept der negativen Größen

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Positiv schätzen wir die Demütigung nach Kant darum, weil diese vollständige Aufhebung des realen Gegensatzes nur die Wirkung einer absoluten Größe sein kann. Die Grundlage dieser besonderen Aufhebung kann, weil sie alle subjektiven Bestimmungsgründe betrifft, ihrerseits kein subjektiver Bestimmungsgrund sein. Es muss sich um einen qualitativ anderen, objektiven Bestimmungsgrund handeln, der dieser Demütigung zugrunde liegt. Nur darum, weil „diese Demüthigung nur relativ auf die Reinigkeit des Gesetzes stattfindet“ (KpV, 5:79), entstehe der Effekt der „Erhebung der moralischen, d.i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen, mit einem Worte Achtung fürs Gesetz, also auch ein seiner intellectuellen Ursache nach positives Gefühl, das a priori erkannt wird“ (KpV, 5:79). Das moralische Gefühl ist aber nicht nur Bestandteil der Reflexion auf die Erfahrung, sondern zugleich ein wesentlicher Bestandteil der moralischen Erfahrung, auf die reflektiert wird. Kant entwickelt neben dem metaphysischen auch einen phänomenologischen Ansatz der Achtung, der die moralische Erfahrung beschreibt. Der metaphysische Ansatz und die These, dass er auf dem Konzept einer negativen Größe basiert, lassen sich im phänomenologischen Modell des Gefühls der Achtung überprüfen und bestätigen: P.a) Zentral für den phänomenologischen Ansatz ist die These, dass Moralität von endlichen Wesen immer als ambivalent erlebt wird. Diese ambivalente Erscheinung lässt sich unter Rückgriff auf die metaphysische These, dass Moralität für uns sinnlich-vernünftige Wesen nur in der Form einer realen Entgegensetzung erscheint, näher analysieren und fundieren. In der negativen Gefühlskomponente erleben wir, dass es sich um eine negative Größe handelt, in der positiven Gefühlskomponente erleben wir, dass es sich um eine reale Größe handelt. Beide Aspekte sind phänomenal untrennbar miteinander verbunden, und daher ist es auch kein Zufall, dass Kant sowohl im Triebfedernkapitel als auch in NG „Trost“⁵⁹ als Beispiel für eine solche ambivalente Erfahrung einer realen Entgegensetzung anführt. Es ist durchaus möglich, dass man Kants phänomenologischen Ansatz nicht für überzeugend hält. Zum Beispiel könnten moralische Enthusiasten bezweifeln, dass Moralität immer auch eine negative (innere) Erfahrung impliziert. Kant würde diese Erfahrung nicht leugnen, aber widersprechen, dass es sich dabei nicht um eine moralische Erfahrung handelt. Das zeigt aber nur, dass die Beobachtungsbeschreibung jedes Phänomenologen immer schon theoriegeladen ist,  Im Triebfedernkapitel empfindet jemand „Trost“ (KpV, 5:88), weil er das Gesetz befolgt hat, auch wenn er sich damit unglücklich gemacht hat. In NG behandelt Kant das Beispiel einer spartanischen Mutter, die Trost bei der Nachricht vom Tod ihres Sohnes erfährt, weil er ehrenvoll gestorben sei (vgl. NG, 2:180).

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Teil IV: Verteidigung

und Kant würde gerade an dieser zugrunde gelegten Theorie ansetzen und die Beobachtung anders deuten. P.b) Eine zentrale These im Triebfedernkapitel und in Kants Moralphilosophie insgesamt lautet, dass die reale Entgegensetzung zwischen den zwei Wesenszügen des sinnlich-vernünftigen Menschen eine Bedingung für das Bewusstsein des Gesetzes darstellt, insofern das Moralgesetz als Pflicht erscheint. Dieses Bewusstsein der Pflicht heiße Achtung und Achtung sei ein Gefühl, wie Kant in der GMS⁶⁰, aber auch im Triebfedernkapitel⁶¹, nahelegt. Dieses Gefühl lässt sich als ein Bewusstsein einer negativen Größe auslegen, weil es sich bei der Einschränkung durch das Moralgesetz um eine mentale statt physische Kraft handelt. Stellen wir uns das Gesetz vor und empfinden dabei keine Achtung wie zum Beispiel dann, wenn wir im Seminar den Kategorischen Imperativ diskutieren, dann lässt sich das vor dem Hintergrund von NG darauf zurückführen, dass wir uns der Verpflichtung durch den Kategorischen Imperativ nicht als einer negativen Größe bewusst sind, oder, was hier wahrscheinlicher ist, dass wir uns den Kategorischen Imperativ so als eine negative Größe vorstellen, als sei es eine physische Kraft. Kants moralphilosophische Schriften, aber insbesondere auch die Ausführungen in NG legen nahe, dass die Wirkung einer negativen Größe nur dann ein Gefühl ist, wenn diese negative Größe einer mentalen Aktivität entspricht. Dies ist etwas anderes als die mentale Vorstellung einer äußeren physischen Kraft. Zusammenfassend lautet der Vorschlag: Das metaphysische Modell der Achtung erklärt, wie das Gesetz im Menschen wirkt und dadurch ein Gefühl erzeugt. Das phänomenologische Modell der Achtung erläutert das ambivalente Erlebnis dieser moralischen Freiheit. Das phänomenologische Modell der Achtung wird nur vor dem Hintergrund des metaphysischen Modells der Achtung verständlich. Sollte es sich bei dem Konzept der negativen Größe um die Form der Wirkung des Gesetzes in endlichen Wesen handeln, wofür hier argumentiert wurde, dann ist dieses Konzept der negativen Größe für ein Verständnis von Kants Modell der Achtung unerlässlich.

2 Natur der Handlung Zwecke und Triebfedern sind aus unserem etablierten Handlungsverständnis in Alltag und Wissenschaft nicht wegzudenken. Im Kontext von Kants praktischer

 Vgl. GMS, 4:401Anm.  Vgl. KpV, 5:73.

2 Natur der Handlung

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Philosophie lassen sich diese beiden Bestandteile als die materiale Bestimmung einer Handlung klassifizieren. Das Materiale einer Handlung, Zwecke und Triebfedern, entspricht der Natur der Handlung. Im Folgenden lautet die Frage, wie sich Kants Moralvorstellung zu dieser Natur der Handlung verhält: Konzipiert Kant auch eine moralische ‚Parallelnatur‘, denkt er also, dass es auch eine moralisch-motivierende, affektive Triebfeder und moralische, materiale Zwecke gibt? Das Argument aus der Natur der Handlung suggeriert, dass man diese Frage bejahen muss (2.1). Diese materiale Interpretation lässt sich aber problematisieren, wie im zweiten Abschnitt anhand einer Gegenüberstellung der GMS und der Tugendlehre verdeutlicht wird (2.2). Anschließend wird eine formale, intellektualistische Interpretation von Kants Ethik vorgestellt, die dem Argument aus der Natur der Handlung widerspricht (2.3). Im letzten Abschnitt werden Konsequenzen betrachtet, die das Verhältnis dieser formalen Deutung zur Natur der Handlung betreffen (2.4).

2.1 Die materiale Deutung & die Parallelnatur der Handlung Menschliches Handeln beruht immer auch und auch nach Kant auf materialen Voraussetzungen, auf die im Folgenden mit dem Ausdruck „Natur der Handlung“ referiert wird. Die Grundannahme lautet, dass zur Natur jeder menschlichen Handlung ein Zweck und eine Triebfeder gehören. Der Zweck gibt der Handlung eine Richtung, die Triebfeder trägt zur Verwirklichung dieses Zwecks in der empirischen Welt bei. Ein Kohledampfschiff kann zur Veranschaulichung dienen. Zum einen hat seine Reise ein Ziel – sie ist teleologisch bestimmt –, zum anderen ist es durch die Mechanik der Fortbewegung – kausal – bestimmt. Wird gefragt, warum das Schiff den Fluss entlang fährt, dann lässt sich antworten (erklären), dass es fährt, weil es Kohle verbrennt, oder man antwortet (rechtfertigt), dass es fährt, weil es den Hafen erreichen soll. Das Dampfschiff bewegt sich physisch zwar immer nur durch die Verbrennung der Kohle, aber es wäre unsinnig zu behaupten, es bewegte sich fort, um Kohle zu verbrennen.⁶² Ähnlich lässt sich eine Handlung verstehen, wenn z. B. jemand in den Hafen rennt, weil er dort etwas Wichtiges vergessen hat, und angetrieben durch das Gefühl der Unlust bei der Vorstellung,  Feinberg führt dieses Argument gegen die Lehre des „psychological Egoism“ an: „Pleasure may well be the usual accompaniment of all actions in which the agent gets what he wants; but to infer from this that what the agent wants is his own pleasure is like arguing, in William Jame‘s example, that because an ocean liner constantly consumes coal on its trans-Atlantic passage that therefore the purpose of this voyage is to consume coal.“ (Feinberg 1926, 531).

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Teil IV: Verteidigung

es nicht wiederzufinden, sein Ziel schnellstmöglich erreichen will. Sowohl der Zweck, den Hafen schnell zu erreichen, als auch die Triebfeder, das Unlustgefühl bei der Vorstellung des Misserfolgs, bestimmen die Natur dieser Handlung. Zwecke und Triebfedern repräsentieren den Inhalt, das Materiale einer Handlung.⁶³ Der hier so genannte materiale Interpretationsansatz beruht auf dem Argument, dass es für Kant, weil es zur Natur einer jeden Handlung gehört, auch eine speziell moralische Natur der Handlung geben müsse, die allein durch die reine praktische Vernunft gegeben sei. Die materiale Deutung (MD) besagt also, dass auch der gute Wille einer Triebfeder und einer Zweckausrichtung bedarf, die nicht rein formal bestimmt sind: MD: Materiale Zwecke und (kausal-motivierende) affektive Triebfedern können entweder nicht-moralisch oder moralisch sein, wobei der Ursprung der moralischen Natur der Handlung die reine praktische Vernunft ist.

Die These besagt näher, dass es in Kants Theorie, in Analogie zur Materie nichtmoralischer Handlungen, erstens materiale moralische Zwecke, die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit, und zweitens eine moralische Triebfeder, das Gefühl der Achtung, gibt. Diese These lässt sich anhand von zwei Überlegungen verdeutlichen. Die erste Überlegung betrifft den Zweck und besagt, dass ein Wille ohne Inhalt leer ist; die zweite Überlegung betrifft das Gefühl der Achtung als motivationale Triebfeder und die These, dass Menschen immer auch emotional betroffen sein müssen, um als sinnlich-vernünftige Wesen handlungsmotiviert zu sein. Erstens: Grundsätzlich ist nach Kant der Bestimmungsgrund jeder Handlung der Wille, verstanden als „eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind“ (GMS, 4:446). Terminologisch bezeichnet Kant unser Vermögen zu handeln nicht immer einheitlich. In der MS versteht er den Willen in Abgrenzung zum Wunsch und zur Willkür und fasst diese drei Vermögen unter dem Oberbegriff des Begehrungsvermögens zusammen: „Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (MS, 6:211). Ungeachtet der terminologischen Unterschiede lässt sich an beiden Definitionen nachvollziehen, dass das Subjekt, wenn es handelt,

 „Zu jeder Handlung aus freyer Willkühr gehört erstlich der Gegenstand der letzteren (das Materiale) der Zweck: zweytens dasjenige im Zweck was den objectiven Bestimmungsgrund der Willkühr ausmacht (das Formale) d.i. die Absicht (intentio animi) drittens die Triebfeder als der subjective Bestimmungsgrund derselben (elater animi).“ (VAMS, 23:389).Vgl. GMS, 4:427, KpV, 5:27, MS, 6:385.

2 Natur der Handlung

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auf etwas anderes, einen Inhalt, ausgerichtet sein muss. Dass der Wille eine Art von Kausalität ist, bedeutet, dass er das Vermögen ist, etwas zu verwirklichen, wobei sich dieses Etwas allgemein als Inhalt des Willens beschreiben lässt. Der Wille ist insofern nicht die einzige Voraussetzung, da es außerdem auch Inhalte braucht, auf die er als Vermögen der Kausalität gerichtet sein kann. Deutlicher wird diese materiale Voraussetzung noch in der zweiten Definition des Vermögens, „durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (MS, 6:211). Das Vermögen, Ursache zu sein, ist an gewisse Vorstellungen geknüpft, deren Gegenstände verwirklicht werden, sodass sich ein formaler Aspekt, das Vermögen der Kausalität, und ein materialer Aspekt, der Inhalt einer Vorstellung, der (im Erfolgsfall) verwirklicht wird, voneinander unterscheiden lassen. Andererseits kann aber auch der Inhalt einer Vorstellung allein nicht zum Handeln führen, weil hierzu ein Vermögen der Kausalität erforderlich ist, das dem Inhalt einer Vorstellung allein, zum Beispiel einem Wunsch oder einer Neigung, nicht zugesprochen werden kann, sondern nur einem vernünftigen Subjekt. Wünsche und Neigungen tauchen als praktische Inhalte überhaupt nur vor dem Hintergrund auf, dass ein Subjekt einen Willen hat. Ähnlich wie Kant in der theoretischen Philosophie Begriffe und Anschauungen miteinander verknüpft, lassen sich diesem Gedanken zufolge auch der Wille und praktische Inhalte nur in der Theorie voneinander isolieren, weil für den wirklichen Willen gilt: Ein Wille ohne praktische Inhalte ist leer, praktische Inhalte ohne einen Willen sind blind.⁶⁴ Aus der Annahme, dass auch der gute Wille als kausales Vermögen auf etwas anderes gerichtet sein muss und insofern einen teleologischen Inhalt braucht, den er intendieren kann, lässt sich schließen, dass es auch moralische Inhalte geben muss.⁶⁵ Mit anderen Worten muss es nach einer materialen Interpretationslinie neben den subjektiven Zwecken auch objektive (moralische) materiale

 Diese These ist mir so in der Forschungsliteratur noch nicht begegnet, ich denke aber, dass insbesondere die erste Aussage, dass der Wille ohne Inhalte leer sei, eine wenig beachtete, zugleich aber auch wenig kontroverse und dennoch sehr wichtige Grundannahme von Kant zum Ausdruck bringt. Als eine These über die Natur der Handlung verhält sie sich neutral gegenüber der formalen und der materialen Interpretationslinie, weil man vertreten kann, dass nicht nur materiale Zwecke, sondern auch formale Inhalte, das Moralgesetz, eine hinreichende Triebfeder sein können. Kontrovers ist hingegen die zweite Behauptung, dass praktische Inhalte ohne einen Willen blind seien. Diese Behauptung ist radikal intellektualistisch; sie schließt aus, dass Lustund Unlust-Gefühle eine natürliche Ausrichtung haben, und fordert, dass sie nur in Abhängigkeit eines Willens als Antriebe verstanden werden können.  Vgl. hierzu insbesondere Kants Ausführungen aus der Einleitung III der Tugendlehre „Von dem Grunde, sich Zwecke zu denken, die zugleich Pflicht sind“ (MS, 6:384 f.).

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Teil IV: Verteidigung

Zwecke geben, weil der gute Wille ansonsten leer wäre.⁶⁶ Zur Bekräftigung bietet sich Kants materiale Pflichtenlehre an. In der Tugendlehre benennt er zwei Zwecke der reinen praktischen Vernunft, nämlich Zwecke „die zugleich (d.i. ihrem Begriffe nach) Pflichten sind“ (MS, 6:385): „Sie sind: Eigene Vollkommenheit – fremde Glückseligkeit“ (MS, 6:385). Diese beiden Zwecke scheint Kant als materiale Bestimmungsgründe des guten Willens einzuführen, die den formalen Bestimmungsgrund ergänzen: Daß ich aber auch verbunden bin mir irgend etwas, was in den Begriffen der praktischen Vernunft liegt, zum Zwecke zu machen, mithin außer dem formalen Bestimmungsgrunde der Willkür (wie das Recht dergleichen enthält) noch einen materialen, einen Zweck zu haben, der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden könne: dieses würde der Begriff von einem Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist (MS, 6:381).

Diese Stelle lässt sich so verstehen, als behaupte Kant, dass „außer dem formalen Bestimmungsgrunde der Willkür“ (MS, 6:381), also außer dem Gesetz, auch noch ein moralischer Inhalt erforderlich sei, um einem „Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden“ (MS, 6:381) zu können. Dann gäbe es einerseits prudentielle oder im Fachsinne pathologische Zwecke, den Zweck der eigenen Glückseligkeit inklusive altruistischer Interessen, und andererseits moralische Zwecke, die Beförderung fremder Glückseligkeit und der eigenen Vollkommenheit. Der Unterschied zwischen pathologischen und moralischen Zwecken besteht danach darin, dass die moralischen Zwecke dem Ursprung nach rein vernünftig sind, wohingegen alle sonstigen Inhalte dem Ursprung nach immer (auch) empirisch sind. Daher könnte man auch sagen, dass die reine praktische Vernunft mit diesen Inhalten eine Art moralische Parallelnatur der Handlung kreiert, nämlich materiale moralische Zwecke. Zweitens: Auch mit Blick auf die Triebfeder einer Handlung gibt es die Annahme einer moralischen Parallelnatur. Mithilfe der Natur der Handlung wird argumentiert, dass der gute Wille motivational (oder: exekutiv) auch auf materialen Voraussetzungen beruhen müsse, nämlich auf einem Gefühl, dessen Ursprung die reine praktische Vernunft sein müsse und das uns zur Pflichtbefolgung motiviere. Diese Interpretationslinie entspricht der affektivistischen Deutung, die

 Paton schreibt repräsentativ für diesen Ansatz über das „Verhältnis zwischen Zwecken und kategorischen Imperativen“: „Es muß ein solches Verhältnis bestehen, denn jeder kategorische Imperativ gebietet zu handeln, und jede Handlung muß einen Zweck haben. Wenn das richtig ist, muß es Zwecke geben, die uns von der bloßen Vernunft an sich gegeben werden“ (Paton 1962, 202 f.).

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von Intellektualisten kritisiert wird, weil sie ablehnen, dass ein moralisches Gefühl nach Kant die moralische Triebfeder ist.⁶⁷ Die intuitiv attraktive Vorstellung, die Affektivisten vereint, liegt in der psychologischen Annahme, dass menschliches Handeln immer auch auf affektiven Triebfedern beruht. Darin zeige sich der sinnliche oder subjektive Wesenszug des Menschen, der ihn nach Kant als sinnlich-vernünftiges Wesen auszeichnet. Denn der Mensch ist keine reine Vernunft, sondern ursprünglich auch ein Tier, Körper oder Natur. Die Intuition lautet daher: Der Mensch hat einen Körper und dieser Körper muss, wenn wir handeln, auch dann, wenn wir eine Handlung unterlassen wollen, durch irgendetwas angetrieben werden, was seinerseits irgendwie somatisch ist wie zum Beispiel Gefühle und Neigungen.⁶⁸ Die Notwendigkeit eines Antriebs wäre dann eine moralpsychologische oder anthropologische, jedenfalls empirisch bedingte Notwendigkeit, die darauf beruht, dass der Mensch, so wie das Dampfschiff, einen Körper hat. Wie das Kohledampfschiff die Kohle zur Fortbewegung braucht, so braucht der Mensch affektive Impulse zur Verwirklichung seiner Absicht. Diese Argumentationslinie lässt sich am Unterschied zwischen menschlichen und göttlichen Handlungen veranschaulichen. Wenn Gott einen Felsen zerschlagen möchte, dann reicht es aus, dass er die Absicht hat, zuzuschlagen, um diese Tat zu vollbringen. Wenn aber ein Mensch, nehmen wir an ein Boxer, zuschlagen möchte, dann reicht es nicht aus, dass er die Absicht hat, dies zu tun. Dieser Boxer hat nämlich einen Körper, den Gott nicht hat, und der menschliche Akteur ist zum Handeln darauf angewiesen, diesen Körper durch Triebfedern in Bewegung zu setzen. Als Mensch muss man eben auch noch den Arm ausstrecken, den Daumen krümmen usw., um zu schaffen, was Gott aus reiner Willenskraft kann. Dies ist zugegebenermaßen eine recht simplifizierte Version der affektivistischen Vorstellung, aber ihre Pointe sollte doch deutlich werden: Auch eine Theorie des moralisch-guten Handelns muss mit diesen Bedingungen der menschlichen Natur vereinbar sein. Ob wir boxen oder Gutes tun, menschliche Akteure müssen nach dieser Lesart immer auch einen hinreichenden affektiven Antrieb dazu haben, einen Zweck in die Tat umzusetzen.⁶⁹

 Vgl. hierzu Teil II, Kap. 2.  Oder anders formuliert: Die Handlung muss, insofern sie empirisch-phänomenal und damit wirklich ist, anders als das reine Gebot, auch als empirisch-phänomenal verursacht gedacht werden können.  Grundsätzlich soll der Vergleich zeigen, dass Menschen im Gegensatz zu Gott zum Handeln auch affektive Triebfedern brauchen, so wie das Dampfschiff zur Fortbewegung Kohle braucht. Zum Beispiel im dritten Hauptstück der KpV betont Kant, „daß man dem göttlichen Willen gar keine Triebfedern beilegen könne“ (KpV, 5:72). Diesen Unterschied zwischen dem menschlichen

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Die handlungspsychologische Notwendigkeit einer Triebfeder stellt Affektivisten zufolge speziell für Kants Theorie der moralischen Motivation ein Problem dar, weil diese Motivation, um eine rein moralische Handlung aus Pflicht denken zu können, ebenfalls rein vernünftig sein muss. Die gängige Meinung hierzu besagt, dass Kant dieses Problem gesehen und ernst genommen hat: Kant räumt ein, dass die intellektualistische Antwort des Rationalisten auf dieses Problem nicht ausreichend ist. An der Phänomenbasis der Alltagserfahrung lässt sich ablesen, dass Menschen in der Regel emotional betroffen sein müssen, um etwas zu wollen und entsprechend zu handeln. Es ist in diesem Zusammenhang nicht hinreichend, einfach zu sehen, dass etwas getan werden sollte. (Ameriks 2004, 112).

Kants These von der moralisch-motivierenden Triebfeder der Achtung wird von Affektivisten als Reaktion auf diesen moralpsychologischen Einwand gedeutet. Die Originalität und Einzigartigkeit von Kants Achtungs-These wird darin gesehen, dass sie den moralphilosophischen mit dem moralpsychologischen Anspruch versöhnt. Diese Versöhnung gelinge über eine Hybridbeschreibung: Achtung sei einerseits ein Gefühl und damit ein potentieller Handlungsantrieb, andererseits aber, wie Kant schon in der GMS vertritt, ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, 4:401Anm.) und darin der Herkunft nach von pathologischen Gefühlen unterschieden. Auch in dieser zweiten Überlegung argumentiert man ausgehend von der Natur der Handlung dafür, dass eine moralische Parallelnatur der Handlung notwendig sei, weil der gute Wille ohne motivierende Triebfeder nicht handlungswirksam (und ohne Inhalte leer) wäre. Ein Mensch sei zwar als sinnlichvernünftiges Wesen in seinem Handeln an gewisse psychologische und empirische Voraussetzungen gebunden, aber als moralischer Akteur könne er diese Voraussetzungen, materiale Inhalte und Triebfedern, selbst hervorbringen. Auf diese Weise könne er, obwohl er im Gegensatz zu Gott auf Triebfedern zur Handlungsmotivation angewiesen sei, dennoch autonom handeln, nämlich aus Achtung, die selbstgewirkt ist. Das scheint die Auffassung nahezulegen, dass wir entweder moralisch oder aus Eigeninteresse handeln, je nachdem ob wir uns moralische Zwecke setzen und der moralischen Triebfeder folgen oder uns von empirischen Inhalten leiten lassen.

und dem göttlichen Willen könnten radikale Intellektualisten allerdings auch darauf zurückführen, dass Gott immer Erfolg hat und daher auch keine Absicht haben kann, weil eine Absicht etwas ist, das immer auch fehlgehen kann. Auf diese Weise ließe sich der Unterschied zwischen der göttlichen und der menschlichen Absicht erklären, ohne auf die Annahme einer Triebfeder zurückzugreifen.

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Dieser materialen Interpretationslinie wird aber auch widersprochen, mit Blick auf die Frage nach der moralischen Triebfeder von intellektualistischer Seite her, allgemein immer ausgehend von einer formalen Interpretationslinie, in der moralische Bestimmungsgründe in Abgrenzung zu materialen Zwecken und affektiven Triebfedern als rein formale Bestimmungsgründe rekonstruiert werden. Unklar ist jedoch, was man dem Argument aus der Natur der Handlung entgegenhalten kann. Wie lässt sich die Relevanz einer dem sinnlichen Wesen des Menschen angemessenen moralischen Triebfeder leugnen? Wollen Intellektualisten tatsächlich behaupten, dass Menschen, etwa wie Gott, als moralische Akteure von ihrer sinnlichen Natur vollständig unabhängig sind? Ohne die Annahme von materialen Zwecken und einer affektiven Triebfeder scheint dem moralischen Handeln die Substanz zu fehlen.

2.2 Materiale Pflichtzwecke und formaler Selbstzweck Die materiale Interpretationslinie ist insbesondere dann nachvollziehbar, wenn man von einigen Passagen aus Kants Spätwerk ausgeht, in denen von materialen, moralischen Handlungszwecken die Rede ist. Das neue Kant-Lexikon bestätigt: „Tugendlehre ist insofern eine materiale Lehre, als ihr oberstes Prinzip dazu auffordert, sich einen Zweck zu eigen zu machen, den zu haben zugleich Pflicht ist.“ (Mieth 2015, 2340). Affektivisten können mit dieser materialen Lehre ihre handlungspsychologische Überzeugung von der Notwendigkeit moralischer Zwecke und motivierender Triebfedern untermauern und tugendethisch argumentieren wie Gregor im Vorwort zur Meiner-Ausgabe: Vorausgesetzt, 1) es gibt einen kategorischen Imperativ und 2) es kann keine Handlung zwecklos sein, so kann die reine Vernunft die Handlungen nicht bestimmen, ohne auch Zwecke zu setzen [und Triebfedern hervorzubringen]. Es ist die Natur der Handlung selbst, die dazu nötigt, in der Ethik über das bloß formale Prinzip der Handlungen verbunden mit dem Selbstzwang der reinen Vernunft hinauszugehen. (Gregor 1990, 51).

Dieses Argument für die Notwendigkeit moralischer Inhalte von einzelnen Handlungen, Zwecken und Triebfedern, entspricht dem Argument aus der Natur der Handlung. Intellektualisten scheinen sich auf diese Art von Argument aus der Natur der Handlung nicht einlassen zu wollen, wenn sie Kants Formalismus verteidigen. Es liegt nahe, sie als Interpreten der früheren Schriften zu verstehen, die deontologisch ausgeprägt sind.⁷⁰ In der GMS grenzt Kant das oberste Prinzip

 Die GMS und die KpV sind deontologisch ausgerichtet, insofern ihr Fokus nicht auf allge-

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der Moralität von materialen Zwecken und Triebfedern grundsätzlich ab und identifiziert sie allesamt mit subjektiven Zwecken:⁷¹„Praktische Principien sind formal, wenn sie von allen subjectiven Zwecken abstrahiren; sie sind aber material, wenn sie diese, mithin gewisse Triebfedern zum Grunde legen.“ (GMS, 4:427). Den Unterschied zwischen pathologischen und moralischen Bestimmungsgründen konzipiert er als Scheideweg zwischen einem formalen Prinzip und materialen Triebfedern: „[D]er Wille ist mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welches materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege“ (GMS, 4:400). Ausgehend von dieser Unterscheidung zwischen subjektiven materialen Zwecken und einem objektiven formalen Zweck ist der Begriff von einem objektiven materialen Zweck aus der Tugendlehre irritierend, weil selbstwidersprüchlich, wenn man voraussetzt, dass beide Werke dieselbe Thematik behandeln. Man könnte meinen, Kant vertrete, eine Tugendlehre könne unmöglich material und eine materiale Lehre keine Tugendlehre sein, weil er an anderen Stellen schreibt: „Die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlungen nach Belieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind insgesamt nur relativ.“ (GMS, 4:427). Es kann aber nicht stimmen, dass Kant seinen Formalismus mit der materialen Lehre von den Tugendpflichten in der MS aufgibt. Es muss sich um ein terminologisches oder thematisches Missverständnis handeln, denn er bekennt sich auch im späten Kontext zur rein formalen Konzeption der praktischen Vernunft, wenn er sich beispielsweise mit dem „allgemeinen ethischen Gebot“ auseinandersetzt: „Handle pflichtmäßig aus Pflicht“ (MS, 6:391). Diese „Eine Tugendverpflichtung“ (MS, 6:410) der ethischen Gesinnung ist diejenige, der Kant in der GMS noch seine gesamte Aufmerksamkeit widmet und die dann in der MS zu einem Nebenschauplatz der materialen Tugend- und Rechtslehre wird. Hier grenzt er die „tugendhafte Gesinnung als subjectiver Bestimmungsgrund seine

meinen Zwecken liegt, die das gute Leben näher charakterisieren, sondern auf der Richtigkeit der einzelnen Handlung.  Gregor warnt die Leser der Tugendlehre vor dieser terminologischen Schwierigkeit: „In der ‚Grundlegung‘ (IV, 426 ff.) scheint Kant unter einem ‚subjektiven Zweck‘ einen Zweck zu verstehen, den sich a) ein vernünftiges Wesen als Wirkung seiner Handlung vorsetzt, und der b) auf eine Triebfeder, d. h. einen subjektiven Grund des Begehrens, zurückgeht (IV, 427). Ein ‚objektiver Zweck‘ hingegen ist ein davon unabhängiger ‚selbstständiger‘ Zweck (IV 428, 437), der einen ‚Bewegungsgrund‘, einen ‚objektiven Grund‘ des Wollens darstellt, der ‚die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll‘ (IV 431). Dies ist nicht der Begriff des ‚objektiven Zwecks‘ aus der ‚Tugendlehre‘.“ (Gregor 1990, 31 f. Anm.).

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Pflicht zu erfüllen“ (MS, 6:410) von den Tugend- und Rechtspflichten ab, wie das folgende Schaubild⁷² verdeutlicht. Rechtspflichten

Ethik: Tugendpflichten

Tugend im engeren Sinn: tugendhafte Gesinnung (Mieth 2015, 2340).

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Perspektiven bestimmt Kant zu Beginn seiner Einleitung zur Tugendlehre, wenn er schreibt, dass nicht alle „ethischen Pflichten“, also nicht jede Tugendverpflichtung, auch „Tugendpflichten“ sein können (MS, 6:383). Anschließend erläutert er diesen Unterschied: Diejenige [ethischen Pflichten] nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck (Materie, Object der Willkür), als blos das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, kann Tugendpflicht genannt werden. Daher gibt es mehrere der letztern (auch verschiedene Tugenden); dagegen von der ersteren nur eine, aber für alle Handlungen gültige (tugendhafte Gesinnung) gedacht wird. (MS, 6:383).

Auch an späterer Stelle der Einleitung bestätigt Kant, dass es ihm bei dieser Unterscheidung auf die „Unterscheidung des Materialen vom Formalen (der Gesetzmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit)“ (MS, 6:410) ankommt. Es gebe nur eine Tugend, aber viele Pflichten, „weil es zwar viel Objecte giebt, die für uns Zwecke sind, welche zu haben zugleich Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung“ (MS, 6:410). Das Formale dieser tugendhaften Gesinnung bestehe einerseits darin, dass von allen materialen Zwecken abstrahiert werde, und andererseits darin, dass hierbei „das Gesetz uns zur Triebfeder dienen müsse“ (MS, 6:480). Die rein formale deontologische Perspektive, für die Kants GMS berühmt ist, wird im Zuge der späteren Bemühung in der MS, empirisch gehaltvolle moralische Zwecke tugendethisch festzulegen, beibehalten. Diese Doppelperspektive erzeugt eine Spannung.⁷³

 Mieth erweitert in diesem Schaubild Ludwigs Illustration der Pflichteneinteilung aus der Einleitung der Meiner-Ausgabe um die ‚Tugend im engeren Sinne‘ (vgl. Ludwig 1990, 22). Sie beschreibt diese Tugendverpflichtung an anderer Stelle auch als eine „Metapflicht“ (Mieth 2012, 87).  „[D]ie Unterscheidung vom Formalen und Materialen der Tugendlehre, d.i. die Unterscheidung von Verpflichtung und Pflichten, findet sich gleich zu Anfang und ist im Rahmen der Kantischen Handlungstheorie nicht unproblematisch“ (Gregor 1990, 40). Vgl. hierzu auch folgende Bemerkung: „Kants Unterscheidung zwischen Form und Materie ist komplex und zugleich

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Diese je nach Blickwinkel werkgeschichtliche oder handlungstheoretische Problematik lässt sich auch an verschiedenen Interpretationslinien der Menschheitsformel nachvollziehen, wenn man umgekehrt fragt, ob die Unterscheidung zwischen positiven Tugendpflichten und negativen Rechtspflichten aus der MS bereits in der GMS angelegt sei. Das Problem betrifft dabei vor allem die Klasse der positiven Tugendpflichten, die materiale Zwecke gebieten, die zugleich Pflicht sind. Im Vergleich zu den negativen, vollkommenen Pflichten, zum Beispiel dem Lügenverbot, und der allgemeinen positiven, aber unvollkommenen Tugendverpflichtung einer moralisch wertvollen Gesinnung scheinen positive Tugendpflichten, insofern sie materiale Zwecke gebieten, mit vollkommenen positiven Pflichten identifiziert werden zu müssen. Unter einer vollkommenen Pflicht wird dabei eine wohlbestimmte Pflicht verstanden, die eindeutig konkrete Handlungen vorschreibt, wohingegen eine unvollkommene Pflicht in dieser Hinsicht unterbestimmt ist. Das Problem lässt sich zu der Frage zuspitzen, ob sich auf der Grundlage der Menschheitsformel aus der GMS auch positive, vollkommene Tugendpflichten, zum Beispiel positive Hilfspflichten, oder nur negative vollkommene Pflichten und eine allgemeine unvollkommene Tugendverpflichtung ableiten lassen. Die Menschheitsformel lautet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, 4:429). Kant diskutiert im Anschluss an diese Formel, ob sich aus diesem obersten Prinzip alle vier Pflichtenklassen, die Ausübungs- und Unterlassungspflichten gegen andere und sich selbst, ableiten lassen. Die beiden Beispiele für Unterlassungspflichten, das Selbstmordverbot und das Lügenverbot, bereiten dabei keine Probleme, da sie mit der Forderung übereinstimmen, sich selbst und andere „niemals bloß als Mittel“ (GMS, 4:430) zu gebrauchen.⁷⁴ Schwierig wird es dann, wenn Kant über diese negative Übereinstimmung hinausgeht und die „positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst“ (GMS, 4:430) behandelt. Dann nämlich geht es um die Frage, was es für ein Zweck ist, die Menschheit in der eigenen und in der Person eines jeden andern als Zweck zu behandeln und nicht bloß als Mittel. Ist dieser Zweck, den es zu befördern gilt, für Kant ein positiver, gehaltvoller Zweck, der über die Merkmale seiner negativen Bestimmung

flexibel. Was in einem Kontext ‚formal‘ ist, kann in einem anderen ‚material‘ sein – und etwas derartiges scheint hier vorzuliegen.“ (Gregor 1990, 43).  Die Unterlassungspflichten lassen sich anhand der Menschheitsformel klar umschreiben, wie auch Steigleder festhält: „Dass jeder Handlungsfähige für sich selbst und für jeden anderen Handlungsfähigen als ein unbedingt notwendiger Zweck ‚existiert‘, führt nach Kant einerseits zu klar umschriebenen Unterlassungspflichten, andererseits zu positiven Pflichten, deren konkrete Bestimmung Urteilskraft verlangt und legitime Spielräume verstattet.“ (Steigleder 2002, 156).

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inhaltlich hinausgeht oder handelt es sich um einen rein formalen Zweck, der sich nur negativ bestimmen lässt, sodass man ihn immer zugleich auch schon befördert, indem man eine Person nicht bloß als Mittel gebraucht? In der Forschung findet man beide Interpretationslinien, wie in Anbetracht zweier Begründungen der Pflicht, anderen in Not zu helfen, deutlich wird: Die einen Interpreten berufen sich auf die Menschheitsformel, um zu zeigen, dass Kant auch vollkommene positive Ausübungspflichten kennt und somit materiale Zwecke annimmt, die zu befördern Pflicht ist, wie zum Beispiel den Zweck, anderen in Not zu helfen. In diesem Fall behandle man die Menschheit in der Person des Anderen positiv als Zweck, d. h. man befördert diesen Zweck und erhält ihn nicht bloß wie dann, wenn man lediglich seinen Unterlassungspflichten nachkommt und niemanden instrumentalisiert.⁷⁵ In einer Nähe zur formalistischen Kritik an der materialen Interpretationslinie gibt es andere Interpreten, die betonen, dass ein objektiver Zweck kein materialer Zweck sein könne, der sich direkt befördern ließe, und dass positive Ausübungspflichten nach Kant immer nur unvollkommene Pflichten sein können, die sich ausgehend von dem Moralprinzip inhaltlich nur negativ bestimmen lassen: Der Mensch ist als vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst, und dieser Zwecknatur entsprechend handeln heißt nach allgemeingültigen und gesetzgebungsfähigen Maximen zu handeln; der Menschheitszweck wird, so sagt Kant ausdrücklich, ‚nicht als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck, mithin nur negativ gedacht werden müssen, d.i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß‘ (4, 437). (Kersting 1997, 100 f.).

Wenn die Pflicht, anderen in Not zu helfen, eine vollkommene Pflicht ist, dann kann sie im Rahmen dieser formalen Interpretationslinie auch nur als eine negative Unterlassungspflicht verständlich werden. Helfe ich nicht, dann bedeutet dies nach der formalen Variante, dass ich das Subjekt bloß als Mittel behandle, während es nach der materialen Variante möglich ist, dass ich es zwar nicht als  O’Neill unterscheidet in diesem Sinne soziale Tugenden von Gerechtigkeitstugenden (vgl. O’Neill 1996, 249). Interessant ist dabei insbesondere ihre Grundannahme einer sozialen „Conditio Humana“ der Verletzlichkeit und Abhängigkeit der Menschen untereinander (O’Neill 1996, 247), die der tiefere Grund sei, warum kein „verletzbarer Akteur es widerspruchsfrei gelten lassen kann, dass Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit verallgemeinert werden sollten“, obwohl beides „nicht ungerecht“ sei (O’Neill 1996, 249). Repräsentativ für die materiale Variante schreibt Paton: „Wir verletzen vollkommene Pflichten, wenn wir eine Person nur als Mittel behandeln. Wir verletzen unvollkommene Pflichten, wenn wir eine Person nicht als Zweck behandeln, auch wenn wir sie tatsächlich nicht bloß als Mittel behandeln.“ (Paton 1962, 208). Als Beispiel für unvollkommene Pflichten nennt er die Pflichten, die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer anzustreben.

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bloßes Mittel behandle, ohne es aber damit zugleich auch schon als Zweck zu behandeln. Mieth verteidigt in Positive Pflichten (2012) eine schwache Version der materialen Interpretation der Menschheitsformel,⁷⁶ die an dem Beispiel eines ertrinkenden Kindes veranschaulicht wird. Wenn ich ein Kind, das zu ertrinken droht, nicht aus dem Teich ziehe, dann verletze ich ihr zufolge keine Unterlassungspflicht, sondern eine positive Ausübungspflicht, die von ihr als vollkommene, strenge Pflicht rekonstruiert wird. Die Pflicht, das Kind als Zweck zu behandeln, werde verletzt, ohne dass ich das Kind als bloßes Mittel gebrauche.⁷⁷ Diese Interpretation muss nicht dazu im Widerspruch stehen, dass Kant die positiven Ausübungspflichten sowohl in der GMS als auch in der MS als unvollkommene Pflichten klassifiziert, wenn man berücksichtigt, dass mit der Not des Kindes eine empirische Bedingung genannt wird, die, weil es sich bei dem Leben des Kindes um ein basales Gut handelt, in der Anwendung zu einer vollkommenen Spezifizierung der Ausübungspflicht führen kann.⁷⁸ Die positiven Pflichten, die sich aus der Menschheitsformel ableiten lassen – die Menschheit in der eigenen und in der

 Sie betont zwar, dass ausgehend vom Kategorischen Imperativ eine positive Übereinstimmung mit dem Menschheitszweck von der Nicht-Übereinstimmung mit diesem Zweck unterschieden werden muss, verteidigt dies aber primär mit Blick auf die Nothilfepflicht, wobei sie andererseits kritisch nachfragt, welche Zwecke mit der positiven Übereinstimmung mit dem Menschheitszweck gemeint sein könnten, und im Sinne der formalen Linie antwortet: „Bei genauerer Hinsicht stellt sich heraus, dass keine bestimmten Zwecke gemeint sind. […] In der Tat geht es hier [in der Menschheitsformel] noch gar nicht um die Beförderung partikularer Zwecke, die in der Tugendlehre Gegenstand der Tugendpflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit sind.“ (Mieth 2012, 91).  Der Kategorische Imperativ dürfe nicht als ein bloßes „Instrumentalisierungsverbot“ missverstanden werden, wie das Teich-Beispiel zeige: „Die Pointe besteht hier nicht im Instrumentalisierungsverbot, sondern in der Forderung, den anderen immer als Zweck an sich zu behandeln. […] Wir können wohl kaum sagen, dass der Passant in Singers Teichbeispiel das Kind als Mittel für seine Zwecke gebraucht, wenn er ihm nicht hilft“ (Mieth 2012, 90). Dass es sich nicht um ein bloßes Instrumentalisierungsverbot handelt, betont auch Horn (vgl. Horn 2004, 204). Es ist noch nicht klar, ob sich diese beiden Interpreten der materialen oder formalen Linie zuordnen lassen, weil es einerseits bei Horn (vgl. Horn 2004), aber auch bei Mieth (vgl. Mieth 2012, 91), zum Teil so klingt, als sei der Selbstzweck ein rein formaler Zweck, andererseits aber abgelehnt wird, dass man eine Person bereits dann als Zweck behandelt, wenn sie nicht bloß als Mittel behandelt wird, und vielmehr gütertheoretische Erwägungen mit einbezogen werden.  Vgl. Gilaberts Argumentation dafür, dass man ausgehend von der Menschheitsformel vollkommene, positive Hilfspflichten formulieren kann: „Basic positive duties can be so construed as yielding perfect duties, if we specify certain circumstances of application. Since this can be done for a range of cases, the discussion as to whether some positive duties yield perfect duties turns into a discussion as to whether they should, in some cases, be construed as doing so.“ (Gilabert 2010, 396).

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Person eines jeden andern als Zweck zu behandeln – können unvollkommen sein, insofern unklar ist, wo und wie viel ich wovon tun muss, um diesen Zweck zu befördern, und dennoch in der Anwendung auf anthropologische Grundannahmen, wie die Unterscheidung zwischen basalen und nicht-basalen Gütern, mitunter zu einer vollkommenen Spezifizierung von Ausübungspflichten führen. Insofern lasse sich, so Mieth, innerhalb der Klasse positiver Pflichten zwischen vollkommenen Nothilfepflichten und unvollkommenen Wohltätigkeitspflichten unterscheiden.⁷⁹ Wolfgang Kersting diskutiert in seiner Abhandlung über „Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit“ (1997) die These, dass sich aus der Menschheitsformel eine vollständige Pflichtenklassifikation ableiten lasse. Er fasst die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, wie sie Kant in der GMS andeutet und später in der MS entwickelt, zusammen: Die vollkommenen bestimmt der Grundsatz: Behandle die Menschheit weder in dir noch in anderen je als bloßes Mittel, die unvollkommenen der Grundsatz: Behandle die Menschen in dir und in anderen als Zweck. (Kersting 1997, 99).

Kersting kritisiert, dass sich der zweite Grundsatz der positiven Ausübungspflichten nicht als ein separater Grundsatz aus der Menschheitsformel ableiten lasse: „Dieses Ableitungsargument ist falsch, so elegant es auch Begriffe, Formeln und Prinzipien der Grundlegung verknüpft.“ (Kersting 1997, 100). Sein Einwand lautet, dass es sich bei dem positiven Zweck der Menschheit in der Person um einen formalen, objektiven Zweck handle, der sich inhaltlich nur negativ oder unvollkommen spezifizieren lasse, sodass aus der Menschheitsformel prinzipiell keine positiven Ausübungspflichten abgeleitet werden könnten.⁸⁰ Er vertritt, dass  Die Prioritätsthese, der zufolge negative Unterlassungspflichten immer starke, prioritäre, dagegen positive Ausübungspflichten schwache Pflichten darstellen, müsse daher modifiziert und mit Blick auf positive Nothilfepflichten zurückgewiesen werden; man dürfe beispielsweise fremdes Eigentum schädigen, um das Kind aus dem Teich und damit dessen Leben zu retten (vgl. Mieth 2012, 7 f.). Dies lässt sich rechtfertigen, indem man positive von negativen Pflichten handlungstheoretisch, starke von schwachen Pflichten hingegen gütertheoretisch unterscheidet (vgl. Mieth 2012, 95).  „[S]ondert die Gesetzesformel des Imperativs alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Maximen aus, so sondert die Zweck-Mittel-Formel des Imperativs alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Zwecke aus.“ (Kersting 1997, 101). Steigleder diskutiert Kerstings Aufsatz ausführlich (vgl. Steigleder 2002, 149 – 158) und spricht von „Kerstings Missverständnis“; er verkenne „den Sinn der Formalität des Moralprinzips“, wenn er anzweifelt, „dass das Moralprinzip beide Teilprinzipien zu begründen vermag und notwendig umfasst (etwas, wovon Kant mit Sicherheit als Selbstverständlichkeit ausgegangen ist)“ (Steigleder 2002, 155).

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jeder Versuch, die positiven Ausübungspflichten als Gebote der Güte aus den Formeln der Grundlegung abzuleiten, scheitern müsse und pointiert mit Blick auf die Tugendlehre, „daß das Alterswerk Kants die pflichtentheoretische Skizze der systemvorbereitenden Grundlegung nicht fortschreibt“ (Kersting 1997, 78).⁸¹ Aus dem Kategorischen Imperativ der GMS ließen sich nur verbotene und erlaubte Maximen ableiten, während ein Gebot als das praktische Gegenteil eines Verbots nur unvollkommen bestimmt werden könne, ohne auf die Erfahrung zurückzugreifen.⁸² Die Pointe der Kritik von Kersting lautet also, dass Kants Ethik anhand der Menschheitsformel als eine rein formale Ethik rekonstruiert werden muss. Daraus folge, dass keine Inhalte (materialen Zwecke) aus dem formalen Prinzip abgeleitet werden können, sondern nur negative Inhalte, nämlich Verbote. Eine materiale Lehre sei zwar als Ergänzung notwendig, aber sie könne niemals dem formalen Prinzip entspringen.⁸³ Positive Pflichten können daher auch prinzipiell nur als unvollkommene Pflichten gedacht werden. Ihre Spezifizierung ist nur unter empirischen Bedingungen möglich. Eine inhaltlich spezifische Pflicht zur Ausübung einer Handlung kann dann allerdings keine unbedingte, sondern nur noch eine empirisch bedingte Geltung haben. Eine unbedingte Geltung können Ausübungspflichten nach dieser formalen Deutung nur haben, insofern sie entweder negativ oder inhaltlich unvollkommen bestimmt werden. Dieser Exkurs zur Diskussion der Pflichtenklassifikation und der Menschheitsformel in der GMS bietet ein weiteres Beispiel für die systematisch und werkgeschichtlich interessante Spannung zwischen einer materialen und einer formalen Interpretationslinie. Die allgemeine Problematik, wie materiale und formale Elemente in Kants Ethik miteinander verknüpft sind, hat zahlreiche Facetten. Die textbezogenen Beispiele für die Spannung zwischen diesen beiden Gesichtspunkten dienen hier zur Verdeutlichung der systematischen Frage, ob sich mit Blick auf die Natur der Handlung eine materiale von einer formalen Deutung unterscheiden lässt. Diese textbezogenen Interpretationsprobleme so „Von der Überzeugung, mit dem kategorischen Imperativ ein den gesamten Pflichtenkatalog des neuzeitlichen Naturrechts neubegründendes Erkenntnisprinzip zu besitzen, rückt Kant mit der Ausarbeitung des moralphilosophischen Systems ab“ (Kersting 1997, 78).  Die erlaubte Maxime lässt sich als das logische Gegenteil einer verbotenen Maxime ohne Umwege feststellen: Verboten ist, was nicht universalisierbar, erlaubt, was universalisierbar ist. Die problematische These, auf die ich unten im letzten Abschnitt dieses Kapitels näher eingehe, lautet, dass nur das praktische Gegenteil einer verbotenen Maxime als geboten gelten kann.  „Zwar hat Heydenreich darin Recht, daß zu dem negativen und formalen Sittengesetz ein materielles Zweckprinzip hinzutreten, das Gesetz des allgemein gesetzgebenden Willens mit einer materialen Teleologie verknüpft werden muß, […], doch ist in der herangezogenen Zweck-MittelFormel dieser Zweckbezug nicht zu finden.“ (Kersting 1997, 100).

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wie auch die Diskussion um die moralische Triebfeder deuten an, dass es tatsächlich (mindestens) zwei grundverschiedene Deutungen von Kants Ethik gibt.

2.3 Die formale Deutung & die Natur der Handlung Wir haben im ersten Abschnitt gesehen, dass Affektivisten vertreten, die Natur der Handlung mache es erforderlich, ein motivierendes Gefühl der Achtung anzunehmen, was, wie anschließend gezeigt wurde, an Kants Argument für die Notwendigkeit einer material moralischen Zwecksetzung aus der MS erinnert. Intellektualisten, wurde gesagt, lehnen dieses Argument aus der Natur der Handlung ab und argumentieren für eine ausschließlich formale Interpretation von Kants Ethik. Dieser zweiten Interpretationslinie möchte ich mich nun zuwenden und fragen, wie man sich das formale Verständnis der Intellektualisten vorzustellen hat. Behaupten sie – und wenn ja: wie –, dass es menschliches Handeln geben kann, das von aller Natur der Handlung gänzlich unabhängig ist? Wird hier eine übermenschliche Art von Handlung entworfen? Leugnen Intellektualisten etwa die Relevanz, dass wir einen Körper haben? Das Gegenteil ist selbst dort der Fall, wo man sich radikal intellektualistisch gar nicht erst auf die Debatte um die Achtung und ihre Fragestellung einlässt. In „Kants kritischer Begriff der Gesinnung“ (2006) verdeutlicht Hans-Ulrich Baumgarten, dass auch Intellektualisten, womöglich noch radikaler als Affektivisten, die Notwendigkeit der Natur der Handlung für ein Verständnis moralischen Handelns voraussetzen. Betont wird dort die „Naturnotwendigkeit“ der „Absicht auf Glückseligkeit“ (GMS, 4:415): Er [Kant] bestimmt den Inhalt, den jede Handlung als Zweck verfolgt, in einem allgemeinen Sinne. Darauf verweist der Begriff der Naturnotwendigkeit. Ganz gleich, welchen besonderen Zweck ein Mensch mit einer Handlung verwirklichen will, er erstrebt damit grundsätzlich seine Glückseligkeit. (Baumgarten 2006, 64).

Zu dieser Natur der Handlung, der Ausrichtung des Handelns auf die eigene Glückseligkeit, gehört nach Baumgarten auch der Begriff der Triebfeder: Mit diesem Aspekt wird die spezifische Abhängigkeit des handelnden Subjekts von seiner körperlichen Natur thematisiert. Denn welchen spezifischen Inhalt das handelnde Subjekt sich tatsächlich zum Zweck setzt, welches Handlungsziel verwirklicht werden soll, hängt von den jeweiligen Neigungen und Bedürfnissen ab, die dem Subjekt auf die eine oder andere Weise durch seinen Körper erwachsen. (Baumgarten 2006, 67).

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Nun lässt sich im Anschluss an diese Beschreibung aber fragen, wie eine Handlung dann überhaupt moralisch sein kann, wenn sie doch immer auf eigene Glückseligkeit abzielt und dies mit Moralität nach Kant anscheinend unvereinbar ist. Die These lautet immerhin, dass „jede Handlung letztlich auf die eigene Glückseligkeit gerichtet ist“ (Baumgarten 2006, 64). Moralität wird hier allerdings in Abgrenzung zu dieser Natur als ein besonderer reflexiver Selbstbezug des Akteurs verstanden. Dieser Selbstbezug setze immer bereits einen Willen voraus, der a priori (d. h. naturnotwendig seiner Form nach⁸⁴) auf Glückseligkeit ausgerichtet sei. Moralische Freiheit tritt nach dieser Lesart also erst in der spontanen Bezugnahme auf die eigene Natur der Handlung auf: Es muß demzufolge einen Unterschied geben zwischen dem, was man will, was man aufgrund seiner Absichten verwirklichen will, und dem, wie man zu diesen seinen Absichten Stellung bezieht, wie man seine Absichten bewertet. (Baumgarten 2006, 68).

Dass speziell diese Selbstthematisierung Kants Moraltheorie zugrunde liegt, wird an anderer Stelle unter Rekurs auf die Formeln des Kategorischen Imperativs veranschaulicht:⁸⁵ Kant‘s ethics of dispositions demands a differentiation between respective intentions of acting and moral intentions of self-thematization. This difference shows itself already in the second formulation of the Categorical Imperative: ‘So act that you use humanity […]’ With this ‘so … that’ Kant addresses only the moral level, in contrast to the acting level, for by ‘act’ is already addressed the goal of acting as determined with respect to its content; this goal is the intended respective concrete which is addressed through the intention of achieving success. (Baumgarten 2002, 249).

Diese strikte Unterscheidung zwischen ‚acting level’ und ‚moral level’ bringt den strukturellen Unterschied zwischen moralischem und nicht-moralischem Handeln zum Ausdruck. Auf dem ‚acting level‘ beabsichtigt ein Subjekt, erfolgreich einen intendierten Inhalt zu verwirklichen, zum Beispiel erfolgreich einen Apfel zur Einverleibung vom Baum zu pflücken. Auf dem ‚moral level‘ wird nicht der Erfolg, sondern die formale Einstimmung der eigenen Erfolgsabsichten mit denen aller anderen Subjekte zum praktischen Leitprinzip erhoben, zum Beispiel die prinzipielle Zustimmung desjenigen, der den Baum gegossen hat, dessen einzigen Apfel man essen will. Der Argumentation, wie sie oben mit Blick auf das Beispiel vom Boxer skizziert wurde, müsste von diesem Ansatz ausgehend widersprochen werden: Dass der Boxer zur Verwirklichung seiner Absicht auch eine Triebfeder  Vgl. Baumgarten 2006 64 ff.  Vgl. auch Baumgarten 2006, 70.

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braucht, weil er, anders als Gott, einen Körper hat, lässt nur dann Rückschlüsse auf das Verständnis moralischen Handelns zu, wenn man Moral ebenfalls auf dem ‚acting level‘ ansiedelt. Moralisch zu handeln bedeutet nach Kant aber nicht zu handeln, wie Baumgarten betont, sondern auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Dies könnte zum Beispiel heißen, nicht den nächsten Passanten, sondern den Box-Sack zu schlagen, und auf diese Weise praktisch Stellung dazu zu nehmen, dass man als empirisches Handlungssubjekt zuschlagen will. Die moralische Stellungnahme ist eine praktische Stellungnahme, die keine eigenen materialen Inhalte erzeugt, sondern immer auf gegebene empirische Inhalte reflektiert und sie einschränkt. Der Formalismus besagt also erstens, dass sich aus dem rein formalen Prinzip der Vernunft keine materiale Parallelnatur ableiten oder erzeugen lässt, und zweitens, dass die Bezugnahme auf die nicht-moralische Natur der Handlung dem Moralprinzip wesentlich ist. Eine vollständige moralische Zurückweisung der empirischen Natur ist entsprechend unmöglich. Das Moralprinzip kann daher immer nur eine vernünftig-moralische Organisation und partielle Einschränkung der praktischen Inhalte der Selbstliebe gebieten.⁸⁶ Selbst der radikale Intellektualist, in diesem Fall Prauss, denkt, dass eine Handlung aus Pflicht immer auch eine Natur der Handlung voraussetzt, wie sie auch für das Tier charakteristisch ist: So ein Mensch muß so ein Tier dann darin sein, daß er sich selbst als dieses Tier, das nicht zu unterschätzen ist, bekannt wird, so daß er dann zu sich selbst als diesem Tier auch Stellung nehmen muß: so oder so. (Prauss 2006, 1066).

Typisch für Intellektualisten ist also anscheinend die Annahme, dass wir uns von unserer empirisch-sinnlichen Natur niemals befreien können. Auch dann, wenn wir einen gegebenen Zweck aus Pflicht erfüllen, handelt noch dieses Tier in uns, wenn auch auf eine moralische Art und Weise, wie Prauss nicht müde wird zu betonen:

 In „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793) heißt es: „Denn an sich ist Pflicht nichts anders, als Einschränkung des Willens auf die Bedingung einer allgemeinen, durch eine angenommene Maxime möglichen Gesetzgebung, der Gegenstand desselben oder der Zweck mag sein, welcher er wolle (mithin auch die Glückseligkeit); von welchem aber und auch von jedem Zweck, den man haben mag, hiebei ganz abstrahirt wird.“ (TP, 8:279 f.). Kurz zuvor schreibt Kant ausdrücklich, dass „dem Menschen nicht angesonnen werde, er solle, wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen; denn das kann er nicht, so wie kein endliches vernünftiges Wesen überhaupt; sondern er müsse, wenn das Gebot der Pflicht eintritt, gänzlich von dieser Rücksicht abstrahiren“ (TP, 8:279).

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Nur dadurch nämlich ist ein Tier ein Mensch, daß es als Tier sich auch noch Thema ist, während ein Tier, das nicht sich auch noch Thema ist, ein bloßes Tier ist. Folglich ist ein Tier ein Mensch durchaus nicht dadurch, daß sein Menschsein etwa an die Stelle seines Tierseins tritt, als ob es Tiersein ablegt, wenn es Menschsein annimmt. Vielmehr geht sein Tiersein in sein Menschsein voll mit ein, so daß ein jeder von uns so ein Tier in sich hat. Und so fallen Tier und Mensch auch weder einfach auseinander noch einfach zusammen, sondern eben unterscheidbar ineinander. (Prauss 2006, 1066 f).⁸⁷

Diese innere Struktur der unterscheidbaren Einheit, so kompliziert sie letztlich auch zu rekonstruieren ist, scheint die handlungstheoretische Idee zu sein, die Intellektualisten gegen die These einer moralischen Parallelnatur verteidigen. Ein Gefühl als moralischen Handlungsantrieb sowie auch inhaltlich bestimmte moralische Zwecke kann es nach dieser Interpretation nicht geben, weil dann die Handlungsebene und die moralische Ebene zusammenfielen und keine in sich unterscheidbare Einheit mehr bildeten. Die praktische Vernunft könnte demnach nicht bloß praktisch Stellung zum Handeln beziehen, sondern eine eigene vollständige moralische Natur der Handlung inklusive materialer Zwecke und Triebfedern hervorbringen. Der Mensch wäre, mit anderen Worten, in der Lage, sich von seiner ursprünglichen Natur und der Absicht auf Glückseligkeit vollständig zu befreien. Dies lehnen Intellektualisten ab.⁸⁸ Wie nämlich, so würden sie skeptisch fragen, könnten moralische materiale Zwecke gedacht werden, ohne den Einwänden zu unterliegen, die Kant zu einem rein formalen Ethikentwurf bewogen haben? Sind nicht alle materialen Zwecke normativ von bedingtem und ambivalentem Wert wie die Talente des Geistes, Eigenschaften des Temperaments und Glücksgaben im Vergleich zu der rein formalen Willensbestimmung?⁸⁹ Für Intellektualisten gilt das notwendig für alle materialen Zwecke. Andererseits soll das nicht heißen, dass alle Vertreter der hier so genannten materialen Deutung Kants Formalismus leugneten. Der Exkurs über die in meinen Augen radikalsten Intellektualisten sollte zeigen, dass der Einwand, sie würden

 „Mensch“ ist man außerdem nicht dadurch, dass man moralisch gut handelt, sondern dadurch, dass man auf das eigene Handeln reflektiert: „Denn selbst wenn ein solches Subjekt weiterhin nur einfach all dem folgt, was ohne Zutun seiner selbst an Wunsch oder Bedürfnis usw. in ihm jeweils aufsteigt, tut es dies von da an eben grundsätzlich ‚mit Wissen und Gewissen‘, nämlich auch, wenn es dies ‚gegen Wissen und Gewissen‘ tut, weil dieses ‚gegen…‘ dieses ‚mit…‘ ja immer schon voraussetzt.“ (Prauss 2006, 1069).  Nach Bambauer ist dies typisch für die Deontologie-These: „Die leitende Hintergrundidee dieser Argumentation besteht darin, dass jegliche teleologische Reifizierung des Sittengesetzes dieses dem Objektbereich möglicher Wahlakte zuordnen würde, was als Verkennung seiner strukturell bedingten Funktion der apriorischen Restriktion möglicher Gegenstandsbereiche für entsprechende Willensakte gedeutet wird.“ (Bambauer 2011, 87).  Vgl. GMS, 4:393.

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die Natur der Handlung vernachlässigen, unzutreffend ist. Denn entsprechend der zwei Interpretationslinien sind zwei Handlungsmodelle denkbar, die Moralität und die Natur der Handlung unterschiedlich miteinander verknüpfen. Diese beiden Handlungsmodelle lassen sich einer starken und einer schwachen Lesart der These vom Dualismus praktischer Gründe zuordnen, die besagt, dass es zwei verschiedene Arten von Gründen gibt. In einer materialen Interpretationslinie argumentiert man ausgehend von dem Argument aus der Natur der Handlung für die Gemeinsamkeiten moralischer und nicht-moralischer Handlungen und vertritt damit eine schwache Lesart der Dualismus-These: MD: Materiale Zwecke und (kausal-motivierende) affektive Triebfedern können entweder nicht-moralisch oder moralisch sein; beide Arten des Handelns müssen ihrer Natur nach immer auch auf affektiven Triebfedern beruhen.

In einer starken Lesart von Intellektualisten wird dieser Dualismus hingegen als ein struktureller Unterschied ausgelegt, da nach dieser Auffassung der moralischen Reflexion wesentlich die Bezugnahme auf das immer schon vorausgesetzte Handeln mit der Absicht auf Glückseligkeit zugrunde liegt. Moralisch gut oder böse zu handeln, bedeutet hiernach, zu dieser unhintergehbaren Natur praktisch Stellung zu beziehen: FD: Materiale Zwecke und (kausal-motivierende) affektive Triebfedern sind immer nichtmoralisch; reine praktische Vernunft bezieht hierzu Stellung: ‚so oder so‘.

2.4 Konsequenzen der formalen Deutung Im Folgenden werden drei Konsequenzen der formalen Deutung beschrieben, die speziell die Theorie positiver Pflichten, materialer Zwecke und die Annahme einer affektiven Triebfeder betreffen. Diese Konsequenzen verdeutlichen die formale Interpretation von Kants Ethik und zeigen, dass das Argument aus der Natur der Handlung vor diesem Hintergrund ungerechtfertigt ist.

Erste Konsequenz: Positive Pflichten sind immer unvollkommene Pflichten. Die Besonderheit der formalen Deutung moralischen Handelns besteht darin, dass sie die empirischen (praktischen) Inhalte des Willens zugleich als eine materiale Voraussetzung des guten Willens deuten. Ohne eine ursprüngliche Absicht, eine Maxime, auf die sich reflektieren, die sich gegebenenfalls einschränken ließe, könnte die reine praktische Vernunft keine Handlung aus Pflicht hervorbringen. Denn sie kann dieser Deutung zufolge keine alternativen mate-

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rialen Zwecke, keine affektive Triebfeder, keine moralische Parallelnatur der Handlung erzeugen. Primär gebietet das Moralprinzip daher Unterlassungspflichten und die Einschränkung gesetzeswidriger Maximen. Es sagt uns positiv gewendet, welche Handlungen erlaubt (nicht verboten) sind: „Alle Maximen werden nach diesem Princip verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können.“ (GMS, 4:431). Die negativen Pflichten sind die einzigen, die sich direkt aus dem Gesetz ableiten lassen, sodass unklar ist, wie sich gebotene in Abgrenzung von bloß erlaubten Maximen feststellen lassen. Kant schlägt vor, dass sich Gebote indirekt aus den Verboten ableiten lassen, indem man das Gegenteil der verbotenen Maxime formuliert.⁹⁰ Dieser indirekte Weg steht offen, wenn man nicht nur negative Unterlassungspflichten, sondern auch positive Begehungspflichten aus dem Moralprinzip gewinnen möchte: „Das Sittengesetz kann nur das praktische Gegenteil dessen gebieten, was es verbietet.“ (Kersting 1997, 102). Die Schwierigkeit besteht aber darin, das praktische Gegenteil dessen, was das Sittengesetz verbietet, festzustellen.⁹¹ Grundsätzlich kann man sich das Verfahren so vorstellen, wie es häufig an dem Beispiel des Lügenverbotes demonstriert wird. Dass eine bestimmte Maxime – zum Beispiel „Ich will jedesmal lügen, wenn es mir einen Vorteil verschafft“ – den Universalisierungstest oder die Menschheitsformel nicht besteht, bedeutet, dass man sie nicht als allgemeines Gesetz denken kann, dass man sich und andere nach dieser Maxime bloß als Mittel gebraucht. Das praktische Gegenteil – „Ich will wahrhaftig sein, auch wenn es mir Nachteile bringt“ – muss also geboten sein. Aus dem Lügenverbot wird auf das Gebot, die (vermeinte) Wahrheit sagen zu müssen, geschlossen. Dieses Beispiel ist simpel, aber darin auch trügerisch, weil das Lügenverbot ein besonderer Fall ist, bei dem die eigentliche Schwierigkeit der Bestimmung positiver Pflichten ausnahmsweise nicht auftritt. Die Besonderheit liegt darin, dass im Fall des Lügenverbots das praktische Gegenteil mit dem logischen Gegenteil übereinstimmt: Das logische Gegenteil „Nicht lügen!“ hat immer auch schon einen praktischen Inhalt, nämlich den, wahrhaftig zu sein.

 „Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, sondern das Gegentheil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben“ (GMS, 4:424; vgl. auch KpV, 5:57 und MS, 6:221).  Auch im Suhrkamp-Kommentar zur GMS wird darauf hingewiesen: „Ein zusätzliches Problem bei der Rekonstruktion von gebotenen Maximen besteht darin, das exakte Gegenteil einer Maxime festzulegen“ (Horn/Mieth/Scarano 2007, 230). Dieses Problem wird dann aber an dem Beispiel der Maxime „Ich will jedesmal lügen, wenn es mir einen Vorteil verschafft“ (Horn/Mieth/Scarano 2007, 230), demonstriert.

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Normalerweise, abgesehen von dem Lügenbeispiel, stimmt das logische Gegenteil aber nicht mit dem praktischen Gegenteil einer Maxime überein, und Kant muss sich dessen bewusst gewesen sein.⁹² Ist es beispielsweise verboten, meiner Neigung zu folgen und jemanden zu ermorden, dann lässt sich über die logische Negation ableiten, dass es geboten ist, nicht zu morden. Damit hat man aber nicht das praktische, sondern nur das logische Gegenteil formuliert, das inhaltlich vollkommen unbestimmt ist. Nicht morden kann ich auf verschiedene Weise. Ein spezifischer Inhalt, der dem Mord entgegengesetzt ist, lässt sich aus dem Moralprinzip nicht ableiten. Das Gebot kann hier nur unvollkommen lauten, dass man sich irgendeinen anderen Zweck setzen soll, der dem Moralgesetz nicht widerstreitet. Kant sagt in seinen Beispielen erstaunlich wenig darüber, was wir tun, wenn wir moralisch handeln. Sein Interesse beschränkt sich vorrangig auf den Nachweis, ob die Maxime verboten oder erlaubt ist. Ist sie verboten, so nennt er in der Regel nur die logische Konsequenz: die Unterlassung. An dem folgenden Beispiel aus der GMS lässt sich nachvollziehen, wie wenig Mühe Kant sich macht, auf die Natur der Handlung einzugehen, um das praktische Gegenteil als Gebot zu formulieren: Ein anderer sieht sich durch Noth gedrungen, Geld zu borgen. Er weiß wohl, daß er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen werden wird, wenn er nicht festiglich verspricht, es zu einer bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein solches Versprechen zu thun; noch aber hat er so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen? (GMS, 4:422).

Es ist unklar, ob Kant hier an Geldnot im Sinne von Armut denkt, aber er bietet jedenfalls eine Beschreibung der Natur der Handlung. Hier setzt sich jemand den Zweck, sich aus seiner Geldnot zu befreien, wobei ihn die Not zum Handeln antreibt, bevor er nochmal innehält und seine, wie sich herausstellen wird, pflichtwidrige Maxime überprüft, die lautet: „[W]enn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen“ (GMS, 4:422). Einige Seiten zuvor bespricht Kant eine inhaltlich gleiche Maxime – „Z. B. wenn es heißt: du sollst nicht be-

 Er setzt den Unterschied zwischen logischen und realen Gründen in seiner gesamten Philosophie voraus (vgl. z. B. Kants Schrift über negative Größen: NG, 2:165 – 204). Brinkmann argumentiert für diese Unterscheidung und verweist darauf, dass Kant nicht nur logisch, sondern auch real entgegengesetzte Maximen formuliert (vgl. MS, 6:452), vermittelt aber auch, dass mit Ausnahmen (O’Neill) die Forschungsliteratur davon abweiche, insofern seiner Kenntnis nach „kein Interpret den Begriff des [realen] Gegenteils einer Maxime genauer bestimmt“ habe (Brinkmann 2003, 140, Anm. 100; vgl. 140 – 150).

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trüglich versprechen“ (GMS, 4:419) – und formuliert das (logische) Gegenteil der Maxime als Gebot: die „Nothwendigkeit dieser Unterlassung“ (GMS, 4:419). Er fügt als Bedingung hinzu, „daß der Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt werde“ (GMS, 4:419), d. h. der Akteur soll sich nicht aus Eigeninteresse gegen das lügenhafte Versprechen entscheiden, zum Beispiel „damit du nicht, wenn es offenbar wird, dich um den Credit bringest“ (GMS, 4:419) oder aus „Furcht vor Beschämung“ (GMS, 4:419). In der Frage, was man stattdessen in der Geldnot tun soll, wenn nicht einen Kredit erschleichen, hilft das aber keinen Schritt weiter. Um ein praktisches Gegenteil der Maxime zu formulieren, müsste man empirische Informationen hinzuziehen und die Alternativen moralisch beurteilen, die diesem konkreten Subjekt offen stehen. Fest steht, dass das Subjekt irgendetwas tun muss, und dass es geboten ist, das praktische Gegenteil zu tun, das aber ohne empirische Zusatzinformationen inhaltlich unbestimmt bleiben muss.⁹³ Die Schwierigkeit, den Inhalt eines Gebots als das praktische Gegenteil des Verbots ausgehend vom Gesetz zu bestimmen, scheint dem Merkmal der Unvollkommenheit positiver Pflichten zu entsprechen. Kersting beantwortet die Frage, was hier „unvollkommen“ bedeutet, vor dem Hintergrund der pflichtentheoretischen Diskussion des 18. Jahrhunderts und argumentiert für eine Lesart, „die die Kantische Qualifikation der unvollkommenen Pflichten nicht als eine den Pflichtbegriff selbst tangierende Geltungseinschränkung auffasst, sondern als fehlende pflichtgesetzliche Determinierung der Handlung“ (Kersting 1997, 98).⁹⁴ Was er unter einer „fehlenden pflichtgesetzlichen Determiniertheit“ versteht, verdeutlicht er anschließend: [U]nvollkommene Pflichten sind Ausübungspflichten und müssen daher prinzipiell hinsichtlich der näheren Bestimmung ihrer handlungsmäßigen Umsetzung an die Umstände und an das empirische Handlungssubjekt verwiesen werden. (Kersting 1997, 98 f.).

Um Ausübungspflichten zu formulieren, ist man mit anderen Worten auf die ursprüngliche Natur der Handlung verwiesen, auf die Inhalte, die das Subjekt unabhängig von der Moral als seine subjektiven Zwecke, Triebfedern und Neigungen

 Die „inhaltliche Offenheit“ erlaube es, „zu erklären, warum eine ganze Reihe von Maximen als Gegenteile einer gegebenen Maxime in Frage kommen. Denn wer in bestimmten Situationen irgendetwas nicht tun will, der wird sich überlegen, was er stattdessen tun will.“ (Brinkmann 2003, 144).  Zugleich richtet er sich damit gegen die These, dass die Abgrenzung der unvollkommenen Pflichten von den vollkommenen auf ihrer Verbindlichkeit oder auf dem Kriterium eines Denkbzw. Wollenswiderspruchs beruhe (vgl. Kersting 1997, 76 ff.).

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in die moralische Reflexion mit einbringt.⁹⁵ Unvollkommen sind Pflichten also dann, wenn sie inhaltlich unbestimmt sind.⁹⁶ Unterlassungspflichten sind als vollkommene Pflichten vollständig durch das Moralprinzip bestimmt. Sie verweisen nur indirekt auf das empirische Handlungssubjekt, nämlich dann, wenn man fragt, was Unterlassung inhaltlich bedeuten kann, denn diese inhaltliche Bestimmung des praktischen Gegenteils einer verbotenen Maxime kann wiederum nur unvollkommen sein.

Zweite Konsequenz: Zwecke, die zugleich Pflicht sind, können tugendethisch nur empirisch-bedingte Zwecke und deontologisch nur unvollkommene Pflichten sein. Wie kann es Kant zufolge materiale moralische Zwecke geben, nämlich den der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit? Zum einen muss man den Kontext beachten. Es handelt sich um eine tugendethische These, in der es weniger um die Gesinnung einer einzelnen Handlung als um den tugendhaften Charakter und das gute Leben geht. Die Tugendpflichten thematisieren, welche Natur der Handlung des Menschen seiner moralischen Bestimmung entspricht. Klaus Steigleder zufolge sind die Tugendpflichten, weil sie Zwecke gebieten, kennzeichnend für die Tugendlehre in Abgrenzung zur deontologischen Perspektive, in der es um die Richtigkeit von Handlungen geht: In diesen [Tugendpflichten] geht es nicht nur darum, die Richtigkeit von Handlungen in seine Zwecksetzungen oder, mit Kant gesprochen, Maximen aufzunehmen, sondern von vornherein bestimmte Zwecksetzungen zu haben und zu verfolgen. (Steigleder 2001, 117).

Wenn es um bestimmte Zwecksetzungen geht, die wir ‚von vornherein haben und verfolgen‘, dann ist nicht von dem ‚moral level‘, sondern von dem ‚acting level‘ die

 Auf diese Weise lässt sich auch Kants irritierende These aus der GMS interpretieren, mit der er seine Pflichten-Einteilung kommentiert: „Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“ (GMS, 4:421Anm.). Die „Ausnahme zum Vortheil der Neigung“, die bei unvollkommenen Pflichten gestattet zu sein scheint, kann nicht den Verbindlichkeitsstaus betreffen, weil eine Pflicht keine Ausnahme gestattet (vgl. Kersting 1997, 76). Vgl. auch die etwas abweichende Diskussion von Mieth, die anregt, dass hiermit auch die Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere gemeint sein könne (Mieth 2012, 76).  Mieth fasst zusammen, dass Kersting insgesamt fünf Merkmale der unbestimmten ethischen Pflichten nenne: „(1) Angewiesenheit auf Erfahrungswissen (2) Irrtumsanfälligkeit (3) Undeterminiertheit der Handlungen, die den Zweck realisieren (4) Notwendigkeit einer Kasuistik (Anwendungslehre auf konkrete Situationen) (5) Urteilskraftabhängigkeit.“ (Mieth 2012, 82).

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Rede. Die These von den Zwecken, die zugleich Pflicht sind, lässt sich in der formalen Interpretationslinie ausgehend von der anthropologischen Annahme ursprünglich natürlicher Zwecke deuten. Die Grundannahme würde lauten, dass der Mensch in der Regel von Natur aus ein Interesse daran hat, sich selbst weiterzuentwickeln und andere glücklich zu sehen. Diese Zwecke können zugleich Pflicht sein, wenn sie auf eine moralische Art und Weise zur Maxime gemacht werden. Das bedeutet, dass man das Interesse, sich weiterzuentwickeln, und das Interesse, andere glücklich zu sehen, auf die Bedingung der Einstimmung aller vernünftigen Subjekte einschränken muss, damit diese Zwecke zugleich Pflicht sein können. Das lässt sich an Kants Unterscheidung zwischen einer ursprünglichen Liebe des Wohlwollens oder Wohlgefallens in Abgrenzung zur praktischen Liebe des Wohltuns verdeutlichen. Letztere müsse „als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat“ (MS, 6:449). Praktische Liebe, in der der Zweck, die Glückseligkeit des Anderen zu befördern, zugleich Pflicht ist, ist eine Liebe, die es nicht ohne Achtung geben kann. Es ist eine Liebe, die den Anderen als einschränkende Bedingung auch des eigenen Wohlwollens anerkennt.⁹⁷ In seinem Aufsatz über negative Größen betont Kant, dass „Begehungssünden von den Unterlassungssünden moralisch nicht der Art, sondern der Größe nach nur unterschieden“ (NG, 2:183) sind und merkt hierzu an, dass es ebenso viel Überwindung kostet, die eigenen philanthropischen wie misanthropischen Neigungen einzuschränken: „Es kostet auch wirklich einigen Menschen im Anfange merkliche Mühe einiges Gute zu unterlassen, wozu sie die positive Antriebe in sich bemerken“ (NG, 2:183). Positive Ausübungspflichten sind der formalen Linie entsprechend also immer unvollkommene Pflichten, weil sie die ursprüngliche Zwecksetzung und Disposition des empirischen Subjekts immer schon zugrunde legen, wohingegen die andere Interpretationslinie zumindest die beiden materialen moralischen Zwecke unabhängig vom empirischen Subjekt als Inhalte interpretiert, die allein durch die reine praktische Vernunft gegeben werden. Für die Unvollkommenheit der beiden Zwecke, die zugleich Pflicht sind, lässt sich aber auch (deontologisch) ausgehend von der Bestimmung durch das Moralprinzip argumentieren. Es ist denkbar, dass die Zwecke der Beförderung eigener Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit in ihrem Inhalt nicht spezifischer sind als die Negation der negativen Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere. Das würde bedeuten, dass sie inhaltlich nicht spezifischer sind als das Gebot,

 „Wohlwollen ist das Vergnügen an der Glückseligkeit (dem Wohlsein) Anderer; Wohltun aber ist die Maxime, sich dasselbe zum Zweck zu machen, und Pflicht dazu ist die Nöthigung des Subjects durch die Vernunft, diese Maxime als allgemeines Gesetz anzunehmen.“ (MS, 6:452).

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dass ich bei allem, was ich tue, erstens Andere und zweitens mich selber niemals bloß als Mittel behandeln soll. Insofern ließe sich aus dem Moralprinzip tatsächlich ableiten, dass es sich bei der Glückseligkeit Anderer und der eigenen Vollkommenheit um ‚objektive‘ Zwecke handelt, das heißt um solche, die zugleich Pflicht sind, deren Beförderung also geboten ist. Das würde aber auch bedeuten, dass es inhaltlich oder kriteriologisch keinen Unterschied machen würde, ob man Pflichten als positive oder negative formuliert, insofern beide Formulierungen inhaltlich deckungsgleich wären. In allen vier Beispielen kann man entsprechend den Zweck an sich, nach Horn „den Zweck der freien Zwecksetzungsfähigkeit oder rationalen Handlungsfähigkeit[,] als Verbotskriterium identifizieren“ (Horn 2004, 208): Exemplarisch für die unvollkommene, positive Pflicht, die eigene Vollkommenheit zu befördern, wäre dann das Verbot der Selbstverwahrlosung; ein Fall einer positiven, unvollkommenen Pflicht gegen andere wäre das Verbot, gegenüber anderen in Notsituationen gleichgültig zu bleiben.⁹⁸ In beiden Fällen ließen sich die moralischen Zwecke der fremden Glückseligkeit und der eigenen Vollkommenheit als Verneinung aus den Verboten ableiten. Habe ich beispielsweise große Lust auf Alkohol und die Maxime, dass ich übermäßig viel Alkohol konsumieren will, wenn ich Lust dazu habe, dann lässt sich dies als ein Freiheitsverlust infolge der Selbstverwahrlosung beklagen und wie auch immer genau begründen, dass die Maxime verboten ist, sodass es geboten ist, entsprechende Handlungen zu unterlassen. Unterlasse ich nun entsprechende Handlungen und schränke mich ein, wenn ich Lust auf Alkohol habe, dann lässt sich im Nachhinein explizieren, dass diese Unterlassungshandlung auf den Zweck der Beförderung meiner eigenen Vollkommenheit gerichtet gewesen sein muss.

Dritte Konsequenz: Materiale moralische Zwecke und die Triebfeder der Achtung haben aus einer deontologischen Perspektive eine höchstens nachgeordnete Funktion. Materiale moralische Zwecke und eine affektive moralische Triebfeder sind nach der formalen Interpretation nicht notwendig ausgeschlossen. Was aber ausgeschlossen werden muss, ist die Annahme einer moralischen Parallelnatur, die sich in Analogie zur ursprünglichen Natur der Handlung verstehen ließe. Will man Kants Formalismus in materialer Terminologie interpretieren, dann müssen „Zweck“ und „Triebfeder“ formal gedeutet werden. Für die Annahme materialer moralischer Zwecke und affektiver moralischer Triebfedern bedeutet das ande-

 Es sei zumindest angemerkt, dass Horn anschließend dazu übergeht, dieses Verständnis des Kategorischen Imperativs als Instrumentalisierungsverbot zu hinterfragen (vgl. Horn 2004, 209).

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rerseits: Sollte es sie geben, dann kann ihre Funktion nicht dieselbe sein wie die von Zwecken und Triebfedern im Kontext nicht-moralischen Handelns. Die ursprüngliche Funktion von Zwecken und Triebfedern wurde zu Beginn durch den Satz beschrieben, dass der Zweck der Handlung eine Richtung gibt und die Triebfeder zur Verwirklichung dieses Zwecks in der empirischen Welt beiträgt. Aus einer deontologischen Perspektive kann beides nach der formalen Interpretation nicht für moralische materiale Zwecke und für die affektive moralische Triebfeder der Achtung gelten. Die moralische Triebfeder der Achtung kann nur als Folge, nicht als Ursache oder motivationale Voraussetzung einer Handlung aus Pflicht verstanden werden.⁹⁹ Das Gefühl der Achtung dient nicht dazu, die Verwirklichung moralischer Zwecke in der empirischen Welt zu garantieren. Dass auch der Körper durch irgendetwas bewegt werden muss, betrifft ausschließlich das nicht-moralische Handeln. Bei dem Gefühl der Achtung handelt es sich um eine moralische Wertschätzung, in der wir die Verwirklichung einer unbedingten Pflicht als etwas an sich Wertvolles schätzen. Ebenso wenig darf man aus einer deontologischen Perspektive nach der formalen Lesart die Zwecke der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit derart missverstehen, dass man sie als richtungsweisende Bestandteile einer moralisch-guten Handlung voraussetzt, weil der gute Wille ansonsten leer wäre. Diese Zwecke sind notwendig, insofern sie sich nachträglich als eine notwendige Konsequenz einer moralischen Handlungsabsicht rekonstruieren lassen. Kant bringt das selten zum Ausdruck. Eine Ausnahme stellt die folgende Beschreibung dieser Zwecke aus der Religionsschrift dar. Dort differenziert er seine Annahme, dass es materiale moralische Zwecke wie die Beförderung der Glückseligkeit Anderer geben kann, indem er betont, dass auch sie, wie z. B. die Glücksgaben zu Beginn der GMS, „jederzeit nur bedingterweise gut“ sein können (RGV, 6:4Anm.). Er begründet: Denn eine Handlung muß zuvor an sich selbst nach dem moralischen Gesetze abgewogen werden, ehe sie auf die Glückseligkeit anderer gerichtet wird. Dieser ihre Beförderung ist also nur bedingter Weise Pflicht und kann nicht zum obersten Princip moralischer Maximen dienen. (RGV, 6:4Anm.).¹⁰⁰

 Denn Achtung ist ein moralisches Gefühl und ein moralisches Gefühl unterscheidet sich von anderen pathologischen Gefühlen dadurch, dass es auf die Willensbestimmung folgt, anstatt ihr vorherzugehen (vgl. z. B. MS, 6:212, 378, 399; VT, 8:395 f.Anm.).  Im Haupttext führt Kant entsprechend aus: „Obzwar aber die Moral zu ihrem eigenen Behuf keiner Zweckvorstellung bedarf, die vor der Willensbestimmung vorhergehen müßte, so kann es doch wohl sein, daß sie auf einen solchen Zweck eine nothwendige Beziehung habe, nämlich nicht als auf den Grund, sondern als auf die nothwendigen Folgen der Maximen, die jenen gemäß

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Dieselbe Strategie zur Differenzierung verfolgt Kant auch mit Blick auf das Gefühl der Achtung, das sich als eine (aber notwendige) Konsequenz der rein moralischen Willensbestimmung beschreiben lässt. Achtung hat als Folge der moralischen Willensbestimmung eine notwendige Beziehung auf den Willen. Die moralische Triebfeder des Willens ist das Gesetz, das die natürlichen Triebfedern auf die Bedingung der Übereinstimmung mit dem Gesetz einschränkt, und das Gefühl der Achtung entsteht nur infolge dieser allgemeinen Motivation durch das formale Gesetz. Achtung ist also der Modus eines Willens, der sich selbst auf die Übereinstimmung mit dem Gesetz eingeschränkt hat, aber es ist nicht die Triebfeder zur Einschränkung.¹⁰¹ Abschließend lässt sich festhalten, dass Kant durchaus auch eine moralische Natur der Handlung annehmen kann, dass die Pointe dieser Annahme aber darin besteht, dass sie begründungstheoretisch nachgeordnet ist und eine andere Funktion erfüllt als die Natur der Handlung im Kontext nicht-moralischen Handelns. Der Zweck, der zugleich Pflicht ist, kann nicht dazu dienen, der Handlung eine Richtung zu geben, weil die Richtung einer Handlung, die Pflicht ist, formal bestimmt werden muss. Das Gefühl der Achtung trägt als moralische Triebfeder nicht zur Verwirklichung moralisch-guter Handlungen in der empirischen Welt bei. Die Verwirklichung moralisch-guter Handlungen in der empirischen Welt wird durch die Natur der Handlung garantiert, die der moralischen Reflexion zugrunde liegt. Die moralische Reflexion gibt der Handlung motivational eine neue Richtung, die allerdings eine Grundlage in dem empirischen Subjekt haben muss. Achtung ist ein Gefühl, das nachträglich entsteht, wenn die moralische richtungsweisende Reflexion der reinen Vernunft das partikulare Subjekt bestimmt. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Argument aus der Natur der Handlung verfehlt im Kontext der formalen Deutung seine Wirkung, weil die Natur der Handlung immer bereits als eine notwendige Grundlage des moralischguten Handelns betrachtet wird. Menschen haben zwar auch einen Körper, der zum Handeln angetrieben werden muss, doch diese moralpsychologische Bedingung wird durch den Rekurs auf die empirische Grundlage der moralischen Reflexion gewährleistet. Triebfedern und Zwecke sind nach dieser Lesart ein notwendiger Bestandteil moralisch-guten Handelns, ohne dass man moralische

genommen werden.“ (RGV, 6:4). Vgl. auch noch die folgende Seite zur moralischen Zweck-WilleRelation.  „Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbstliebe im Gegensatze mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft.“ (KpV, 5:76).

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materiale Zwecke und eine moralische motivierende Triebfeder annehmen müsste. Dass diese empirische Natur der Handlung als Grundlage des moralischguten Handelns dient, wird nicht nur von herausragenden Kant-Interpreten,¹⁰² sondern auch von Kant selbst betont. Er bezeichnet „unsere Natur als sinnlicher Wesen“ inklusive der „Materie des Begehrungsvermögens“ als die „ersten und ursprünglichen“ Ansprüche, die sich dem menschlichen Akteur immer „vorher“ und „zuerst“ (KpV, 5:74) aufdrängen. Dagegen sei das „Subjekt des moralischen Gesetzes“ die „zweite und höchste Bestimmung“ (KpV, 5:87) des Menschen, die das „pathologisch bestimmbare[] Selbst“ (KpV, 5:74) voraussetzt, insofern die zweite moralische Bestimmung auf die erste pathologische Bestimmung reflektiert. Daher liegt der formalen moralischen Reflexion auf das eigene Handeln immer schon eine Natur der Handlung zugrunde, sodass eine moralische Parallelnatur, also moralische materiale Zwecke und eine moralische affektive Triebfeder, jedenfalls nicht aus dem Grund notwendig ist, weil die moralisch-gute Handlung ansonsten naturwidrig und substanzlos wäre.

3 Moralische Glaubwürdigkeit Das Gefühl der Achtung wird nicht im Kontext eines Motivationsproblems, sondern im Kontext eines Erkenntnisproblems eingeführt, das für Kants Ethik charakteristisch ist. Dies ist die These dieses Kapitels, das sich erneut auf eine phänomenologische Deutung des Gefühls der Achtung konzentriert. Achtung wird als ein notwendiger moralepistemischer Bestandteil von Moralität gedeutet, durch den die Partikularität des Moralbewusstseins gewährleistet wird. Partikulare Moralität ist in Kants Theorie der Gegenstand eines Erkenntnisproblems, weil sie weder philosophisch, noch empirisch oder mathematisch erkannt werden kann (3.1). Andererseits ist es für ein kohärentes Selbstverständnis moralischer Subjekte notwendig, auch an partikulare Moralität zu glauben (3.2). Das Gefühl der Achtung ermöglicht im Zusammenhang mit dem Gewissen einen

 Vgl z. B. Engstroms Ausführungen über „conditioned autonomy“ (Engstrom 1988, 449). Timmermann betont „that inclinations speak up first“ (Timmermann 2010, 233), indem er eine eindeutige Passage über die menschliche Natur der Handlung aus der Dialektik der KpV interpretiert, die lautet: „Wofern nicht zugleich unsere ganze Natur umgeändert wäre, so würden die Neigungen, die doch allemal das erste Wort haben, zuerst ihre Befriedigung und, mit vernünftiger Überlegung verbunden, ihre größtmögliche und daurende Befriedigung unter dem Namen der Glückseligkeit verlangen; das moralische Gesetz würde nachher sprechen, um jene in ihren geziemenden Schranken zu halten und sogar sie alle insgesammt einem höheren, auf keine Neigung Rücksicht nehmenden Zwecke zu unterwerfen.“ (KpV, 5:146 f.).

3 Moralische Glaubwürdigkeit

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partikularen Zugang zur Moralität, indem es das individuelle Subjekt mit einem Bewusstsein und dem Gefühl für die eigene moralische Wahrhaftigkeit ausstattet (3.3). Diese individuelle Dimension einer moralischen Glaubwürdigkeit ist ein fester Bestandteil des kohärenten Selbstverständnisses moralischer Akteure, den auch Kant in seiner formalen Ethik berücksichtigt, indem er ein reines Gefühl in seine Ethik integriert (3.4).

3.1 Das Erkenntnisproblem Warum das Gefühl der Achtung notwendig ist, wird in der Literatur häufig unter Rekurs auf das Problem der moralischen Motivation beantwortet. Die Standardauffassung besagt, dass das Gefühl notwendig sei, weil es die Motivation zum moralisch-guten Handeln bereitstelle. Das Gefühl der Achtung kann als moralische Triebfeder entweder affektivistisch, nämlich als affektive Grundlage der moralischen Motivation, oder intellektualistisch, als irrelevant oder als eine intellektuelle Einstellung, durch das Gesetz motiviert zu sein, gedeutet werden. Achtung wird also, wenn sie nicht als irrelevant eingestuft wird, in der Regel immer als eine (affektive oder intellektuelle) motivationale Triebfeder gedeutet. Hierzu ist eine Alternative denkbar, die in den ersten Teilen bereits verteidigt wurde. Der Vorschlag lautet, dass die Vernunft zur moralischen Motivation hinreichend sein kann, wie es Intellektualisten verteidigen. Aber dennoch kann das Gefühl der Achtung als ein Gefühl notwendig sein, damit eine partikulare moralische Gesinnung möglich ist.¹⁰³ Die moralische Motivation durch die Vernunft ist dann allgemein, aber von einem Gefühl begleitet. Der Zustand, allgemein motiviert zu sein, wird nach dieser Lesart in dem jeweiligen Subjekt durch ein Gefühl bestätigt. Diese Funktion der partikularen Instanziierung wird im Folgenden als die primäre Funktion des Gefühls der Achtung verteidigt. Die These lautet, dass die Vernunft und das Gefühl eine Einheit bilden, insofern sie einander ergänzen.¹⁰⁴ Die Vernunft wird dabei als das Vermögen für das Allgemeine betrachtet. Das Gefühl hingegen steht für das partikulare Selbst. Das Besondere einer moralischen Einheit aus Vernunft und Gefühl besteht darin, dass

 Vgl. Teil I, Kap. 1.3.  Diese These einer Einheit von Vernunft und Gefühl wird im Folgenden ausgehend von erkenntnistheoretischen Überlegungen gewonnen, zugleich wird sie aber auch als eine ontologische These ausgelegt. Dieser Schluss von erkenntnistheoretischen auf ontologische Sachverhalte ist in Kants Theorie gerechtfertigt, weil ihm zufolge gilt: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ (KrV, A111).

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Teil IV: Verteidigung

die Vernunft im Fall der sittlichen Einsicht und der moralisch-guten Handlung das partikulare Selbst allein durch ein allgemeines Moralgesetz bestimmt. Infolgedessen muss die Vernunft, so die These, auch ein Gefühl hervorbringen. Das Gefühl tritt auf diese Weise als eine notwendige Ergänzung der Vernunft in Erscheinung. Notwendig ist diese Ergänzung, weil nur das Gefühl eine partikulare moralische Gesinnung ermöglicht. Denn die Vernunft kann als Vermögen für das Allgemeine nur eine allgemeine moralische Einsicht und Motivation bewerkstelligen. Mit anderen Worten lautet die These, dass Kant das Gefühl der Achtung nicht aufgrund eines Motivationsproblems, sondern aufgrund eines Erkenntnisproblems in seine Ethik einführt. Das Erkenntnisproblem wird gemeinhin unter den Stichwörtern „Skeptizismus“, „Gesinnungsopazität“ oder „ethische Motivagnosie“ behandelt und damit belegt, dass Kant in allen drei moralphilosophischen Hauptwerken die Erkenntnis einer partikularen moralisch-guten Handlung als „schlechterdings unmöglich“ (GMS, 4:407) ausschließt; er beurteilt es als „widersinnisch, in der Sinnlichkeit einen [solchen] Fall antreffen zu wollen“ (KpV, 5:68) und betont immer wieder, dass wirkliche Moralität sogar „ihnen [den Handelnden] selbst verborgen“ (MS, 6:393) bleibe. Damit schließt er sowohl die Erfahrung als auch die Introspektion als Erkenntniszugänge für partikulare Fälle von Moralität aus. Kants Agnostizismus beschränkt sich auf den Problemfall, moralisch-gute Handlungen in ihrer Reinheit und Lauterkeit erkennen zu wollen. Anscheinend ist weder die Pflichtgemäßheit noch die Pflichtwidrigkeit vom Erkenntnisproblem betroffen, sondern allein die schlechthin gute Handlung aus Pflicht.¹⁰⁵ Es stellt sich die Frage, was genau an einer Handlung aus Pflicht in erkenntnistheoretischer Hinsicht problematisch ist. Das Problem wird besser verständlich, wenn man sich überlegt, wie nach Kant eine Erkenntnis partikularer Fälle von Moralität aussehen könnte. Nach Kant gibt es drei Erkenntnisarten: die

 „Denn es ist dem Menschen nicht möglich so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist.“ (MS, 6:392). So wie die Legalität der Handlung ist auch die moralische Wertlosigkeit einer Handlung einzusehen, da man sich dessen bewusst sein kann, aus einer Neigung heraus zu handeln, die dem Gesetz widerspricht oder zumindest die Gesinnung verunreinigt. Derselben Auffassung ist auch Bojanowski: „Doch so sehr Kants Erkenntnisskepsis hinsichtlich der moralisch guten Handlung überzeugt, so wenig überzeugend ist es, sie analog auch auf die moralisch böse Handlung zu übertragen“ (Bojanowski 2006, 273). Höffe weist daraufhin, dass „sich Kant für das Böse erstaunlich sicher auf eine ‚Menge schreiender Beispiele‘ (VI 32 ff.)“ (Höffe 2001, 96) beruft. Vgl. zur Motivagnosie bezüglich moralisch-guter Gesinnungen außerdem Mosayebi 2011, 258.

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empirische, die mathematische und die philosophische Erkenntnis. Es stellt sich heraus, dass die partikulare sittliche Einsicht sowie die partikulare moralischgute Handlung auf keine dieser Arten erkannt werden kann, weil sie in allen drei Fällen den Voraussetzungen solcher Erkenntnis jeweils widerstreitet. Empirische Erkenntnis richtet sich auf partikulare Objekte. Hierzu ist sinnliche Anschauung erfordert. Kant denkt zwar bei einer Handlung aus Pflicht mitunter an ein partikulares Ereignis, das in der empirischen Welt oder, wie Kant manchmal sagt, in der Sinnenwelt situiert ist, aber sinnliche Anschaulichkeit ist ausgeschlossen, da sich der moralische Wert nicht am beobachtbaren Verhalten bemisst, sondern an der Intentionalität des handelnden Subjekts, die nichtsinnlichen Ursprungs ist. Die moralische Handlung lässt sich also weder empirisch erkennen noch empirisch unter Rekurs auf das Naturgesetz der Kausalität erklären. Weder die Handlung als moralisch wertvolle noch ihr Ursprung, die unbedingte Freiheit zur moralischen Selbstbestimmung, sind anschaulich gegeben, sodass moralisch-gutes Handeln jenseits der Grenze der Erfahrbarkeit liegt.¹⁰⁶ Daher kann es eigentlich keinen partikularen Fall einer moralisch-guten Handlung in der Sinnenwelt geben: [S]o scheint es widersinnisch, in der Sinnenwelt einen Fall antreffen zu wollen, der, da er immer so fern nur unter dem Naturgesetze steht, doch die Anwendung eines Gesetzes der Freiheit auf sich verstatte, und auf welchen die übersinnliche Idee des sittlich Guten, das darin in concreto dargestellt werden soll, angewandt werden könne. (KpV, 5:68).

Vor dem Hintergrund von Kants theoretischer Philosophie stellt das moralischgute Handeln also ein Problem dar, weil es einerseits partikular sein soll wie empirische Objekte in der Sinnenwelt, obwohl es andererseits den Bedingungen der Möglichkeit solcher Objekte widerstreitet. In concreto, als Einzelfall der Sinnenwelt, kann die übersinnliche Idee des Guten nicht in Erscheinung treten, weil für dieses Ereignis keine sinnliche Ursache und keine korrespondierende Anschauung in Betracht kommen: Hingegen ist das sittlich Gute etwas dem Objecte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Correspondirendes gefunden werden kann, und die Urtheilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft scheint daher besonderen Schwierigkeiten unterworfen zu sein, die darauf beruhen, daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen und also so fern zur Natur gehören, angewandt werden soll. (KpV, 5:68).

 Kant fragt rhetorisch: „Wer kann das Nichtsein einer Ursache durch Erfahrung beweisen, da diese nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahrnehmen?“ (GMS, 4:419). Vgl. TP, 8:284.

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Teil IV: Verteidigung

Moralität, verstanden als partikulares Phänomen, lässt sich auch nicht auf die beiden anderen Arten erkennen, die Kant in der KrV kennt. Weder mathematische noch philosophische Erkenntnis eignet sich dafür. Bei der mathematischen Erkenntnis betrachten wir Kant zufolge ebenfalls, wie bei der empirischen Erkenntnis, einen Begriff „in concreto“ (KrV, A721/B749)¹⁰⁷, sodass auch zur mathematischen Erkenntnis eine dem Begriff korrespondierende Anschauung notwendig ist, die allerdings eine reine Anschauung sein müsse, insofern sie aus der Konstruktion des Begriffs gewonnen werde.¹⁰⁸ Was auch immer das heißt, so kann es jedenfalls nicht bedeuten, dass Moralität mathematisch erkennbar ist, da Moralität nach Kant nicht anschaulich ist.¹⁰⁹ Anschaulichkeit ist der KrV zufolge immer eine Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis partikularer Objekte: entweder empirisch sinnliche Anschauung von Außenwelt-Objekten oder reine sinnliche Anschauung mathematischer Objekte. Die philosophische Erkenntnis als dritte und letzte Erkenntnisart „ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen“ (KrV, A713/B741). Für diese Erkenntnis braucht es in Abgrenzung zur mathematischen und empirischen Erkenntnis keine Anschauung. Das aber bedeutet, dass die Objekte, die man philosophisch thematisiert, keine partikularen Entitäten sind: „Die philosophische Erkenntnis betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen“ (KrV, A714/B742). Das Objekt philosophischer Erkenntnis ist nicht das Partikulare, sondern das Allgemeine, und zwar nicht das Allgemeine als Gegenstand, sondern das Allgemeine im Subjekt, zum Beispiel allgemeine Begriffe und Ideen in diesem transzendentalidealen Sinn, denen keine Anschauung korrespondiert. Insofern betrachtet der

 „Ich kann aber von dem Begriffe der ihm korrespondierenden reinen oder empirischen Anschauung gehen, um ihn in derselben, in concreto zu erwägen, und, was dem Gegenstande desselben zukommt, a priori oder a posteriori zu erkennen. Das erstere ist die rationale oder mathematische Erkenntnis durch die Konstruktion des Begriffs, das zweite die bloße empirische (mechanische) Erkenntnis, die niemals notwendige und apodiktische Sätze geben kann.“ (KrV, A721/B749).  „Einen Begriff aber konstruieren, heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen. Zur Konstruktion eines Begriffs wird folglich eine nicht empirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Objekt ist, aber nichtsdestoweniger, als die Konstruktion eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung), Allgemeingültigkeit für alle möglichen Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.“ (KrV, A713/B741).  Außerdem hat das Moralgesetz als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens immer auch Bezug auf die Existenz der dadurch vorgestellten Handlung und unterscheidet sich darin von mathematischen Begriffen: „Aber in den mathematischen Aufgaben ist hievon und überhaupt von der Existenz gar nicht die Frage, sondern von den Eigenschaften der Gegenstände an sich selbst, lediglich sofern diese mit dem Begriff derselben verbunden sind.“ (KrV, A719/B747).

3 Moralische Glaubwürdigkeit

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Philosoph „das Allgemeine jederzeit in abstracto (durch Begriffe)“ und nicht „das Allgemeine in concreto (in der einzelnen Anschauung)“ (KrV, A734/B762). Bei dem moralischen Erkenntnisproblem geht es darum, das Allgemeine, die Idee der Moral, wenn auch nicht in der Anschauung, so doch im Besonderen, nämlich in der moralischen Gesinnung des partikularen Subjekts zu erkennen. Die einzelne Gesinnung kann weder Objekt einer philosophischen Erkenntnis noch einer mathematischen oder empirischen Erkenntnis sein, sodass es vom Standpunkt der KrV aus beurteilt eine partikulare gute Gesinnung eigentlich auch nicht geben kann. Kant spricht einen analogen Fall zu dem der Handlung aus Pflicht in der KrV an. In der Methodenlehre diskutiert er ausnahmsweise die partikulare philosophische Erkenntnis. Er beurteilt den Philosophen-Lehrling daraufhin, ob er wirkliche philosophische Erkenntnis hat oder bloß nachäfft, was er gelernt hat. Der nachäffende Lehrling, so Kant: bildete sich nach fremder Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d.i. das Erkenntnis entsprang nicht aus Vernunft, und, ob es gleich, objektiv, allerdings ein Vernunfterkenntnis war, so ist es doch, subjektiv, bloß historisch. (KrV, A836/ B864).

Auch im Kontext rationaler (philosophischer) Erkenntnis differenziert Kant also zwischen objektiven und subjektiven Bestimmungsgründen einer Erkenntnis, zwischen einer Erkenntnis „aus Begriffen“ (KrV, A837/B865) und einer solchen, die bloß objektiv damit übereinstimmt, die subjektiv aber nicht rational, sondern bloß historisch ist. Auch bei der philosophischen Erkenntnis unterscheidet er also subjektiv einen empirischen von einem rationalen Bestimmungsgrund: „Wenn ich von allem Inhalte der Erkenntnis, objektiv betrachtet, abstrahiere, so ist alles Erkenntnis, subjektiv, entweder historisch oder rational“ (KrV, A835 f./B863 f.). Nun müsste sich nach der vorgetragenen Überlegung zu den drei Erkenntnisarten auch mit Blick auf das Ideal einer objektiv sowie subjektiv philosophischen Erkenntnis der Zweifel aufdrängen, ob es diese Reinform überhaupt geben kann, da wir auch diesen subjektiven Bestimmungsgrund weder empirisch oder mathematisch (denn er soll ja rein rational und somit nicht anschaulich sein) noch rational (denn er soll ja ein subjektiver Bestimmungsgrund eines partikularen Subjekts sein) erkennen können. Das Erkenntnisproblem stellt sich also auch bei der konkreten philosophischen Erkenntnis, nämlich immer dann, wenn ein allgemeiner Grund, dem keine Anschauung korrespondiert, als besonderer, subjektiver Bestimmungsgrund erkannt werden soll. Wir können nur beurteilen, ob es inhaltlich rational ist, was der Lehrling vorträgt, aber nicht, aus welchen Motiven er diesen Inhalt vertritt. Auch wenn er

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nur zufällig etwas inhaltlich Rationales sagt, weil er zufällig einen weisen Lehrer nachäfft, handelt es sich objektiv um eine philosophische Erkenntnis. Aber nur dann, wenn der rationale Inhalt auch subjektiv verinnerlicht wird, handelt es sich nach Kant um eine auch subjektiv philosophische Erkenntnis: Ein Erkenntnis demnach kann objektiv philosophisch sein, und ist doch subjektiv historisch, wie bei den meisten Lehrlingen, und bei allen, die über die Schule niemals hinaussehen und zeitlebens Lehrlinge bleiben. (KrV, A837/B865).

Dies erinnert an Kants Diagnose, dass auch das pflichtgemäße Handeln weit stärker verbreitet sei als das Handeln aus Pflicht.¹¹⁰ Und auch bei den verschiedenen Arten philosophischer Erkenntnis ist anscheinend allein der Erfolgsfall einer auch subjektiv rationalen Erkenntnis problematisch, wohingegen wir feststellen können, ob das, was der Lehrling behauptet, objektiv rational ist oder nicht. Problematisch ist eben nur ein rationaler Bestimmungsgrund, der zugleich auch ein subjektiver Bestimmungsgrund sein soll. Dann nämlich ist man aufgefordert, etwas Partikulares zu erkennen, das nicht anschaulich ist, was im Rahmen von Kants Erkenntnistheorie ausgeschlossen ist. Diese Schwierigkeit lässt sich innerhalb von Kants theoretischer Philosophie nicht beheben. Kant bietet aber in seiner praktischen Philosophie einen anderen Ausweg an. Er argumentiert, dass sich praktisch rechtfertigen lasse, dass eine partikulare Verwirklichung dieser übersinnlichen Idee möglich sei, ohne dass Anschaulichkeit vorliegen müsse, weshalb es also empirisch unmöglich, aber darum nicht auch praktisch ausgeschlossen sei, eine Handlung aus Pflicht zu denken.¹¹¹ Der Vorschlag lautet, dass die Verinnerlichung allgemein-rationaler Bestimmungsgründe auf eine Dimension des Fürwahrhaltens verweist, die Kant als Glauben vom Wissen abgrenzt. Erstens scheint dort, wo kein Wissen möglich ist, der moralische Glaube an die Wirklichkeit von Moralität notwendig zu sein, um die Wahrhaftigkeit einer moralischen Absicht zu garantieren. Denn ohne diesen Glauben müsste der tugendhafte Akteur etwas beabsichtigen, dessen Möglichkeit

 Selbst die Lehrer der Moral haben Kant zufolge meistens „ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht“ (GMS, 4:411Anm.).  „Also ist jene unbedingte Causalität und das Vermögen derselben, die Freiheit, mit dieser aber ein Wesen (ich selber), welches zur Sinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligibelen gehörig nicht blos unbestimmt und problematisch gedacht (welches schon die speculative Vernunft als thunlich ausmitteln konnte), sondern sogar in Ansehung des Gesetzes ihrer Causalität bestimmt und assertorisch erkannt und so uns die Wirklichkeit der intelligibelen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegeben worden, und diese Bestimmung, die in theoretischer Absicht transscendent (überschwenglich) sein würde, ist in praktischer immanent.“ (KpV, 5:105).

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er anzweifelt. Zweitens, so die These, gehört zu diesem moralischen Glauben auch ein Gefühl der eigenen Glaubwürdigkeit. Das Gefühl der Achtung dient als Gefühl für die eigene Glaubwürdigkeit zur individuellen Bestätigung der moralischen Absicht. Das Gefühl der Achtung tritt somit als ein partikulares Moment von Moralität in Erscheinung, das ein kohärentes Selbstverständnis moralischer Akteure komplementiert. Auf diese Weise wird erneut der These moderater Phänomenologen beigepflichtet, die besagt, dass ein moralisches Gefühl der Achtung notwendigerweise das gesunde Moralbewusstsein gewöhnlicher Menschen begleitet.

3.2 Moralischer Glaube Kant schließt nicht nur aus, dass man wissen kann, ob es moralisch-gute Handlungen wirklich gibt, sondern er schließt auch die Feststellbarkeit der Gegenannahme aus, dass es moralisch-gute Handlungen in Wirklichkeit nicht gibt. Wir können schlichtweg nicht wissen, ob es eine reine moralisch-gute Gesinnung in Wirklichkeit jemals gegeben habe oder nicht.¹¹² Denn die Feststellbarkeit liegt jenseits der Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass es eine Art moralischen Glauben an die Wirklichkeit moralisch-guter Handlungen gibt. Der Glaube ist Kant zufolge nämlich dadurch ausgezeichnet, dass er dort auftritt, wo das Wissen begrenzt ist. Es handelt sich bei dem Glauben andererseits aber auch nicht um einen irrationalen Standpunkt, da im Fall des Glaubens auch das Wissen, ob das Gegenteil der Fall sein kann, ausgeschlossen ist.¹¹³ Glaube setzt also gerade dort ein, wo die theoretische Einsicht an ihre Grenzen stößt. In der KrV schreibt Kant über die Annahmen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (KrV, BXXX). Der Glaube hat also dort seinen Platz im Raum der Gründe, wo theoretische Ungewissheit vorherrscht. In der Dialektik der KpV beurteilt Kant diese Ergänzung der Grenzen theoretischer Erkenntnis um eine Einstellung des Glaubens sogar als ein „Verhältnis der Gleichheit, worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann“ (KpV, 5:141).

 Vgl. GMS, 4:407 f.  Chignell weist in einer formalen Darstellung darauf hin: „[T]he fact that assent that p is objectively insufficient for S does not mean that assent that non-p is objectively sufficient for S. Rather, the idea is that in the case of Belief, as in the case of Opinion, S doesn‘t have sufficient objective grounds to hold that p, and he or she also doesn‘t have sufficient objective grounds to hold the opposite.“ (Chignell 2007a, 336).

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Im Kanon der KrV bestimmt Kant den Glauben als ein Fürwahrhalten, das von der Erkenntnis und der Meinung verschieden sei. In dem Abschnitt „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ (KrV, A820/B848) verwendet er das Merkmal epistemisch zureichender Gründe, die objektiv oder subjektiv zureichend sein können, um verschiedene Weisen des Fürwahrhaltens voneinander zu unterscheiden: „Das Fürwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem Verstande, die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt, erfordert“ (KrV, A820/B848). Objektive Gründe bieten Anlass zu der Annahme, dass eine Überzeugung wahr oder wahrscheinlich ist. Sie sind für andere Subjekte nachvollziehbar in dem Sinne, dass jedes andere vernünftige Subjekt in derselben Situation in dem Grund ebenfalls einen Anlass zu der Annahme sehen würde, dass die Überzeugung wahr oder wahrscheinlich ist. Ein objektiver Grund kann zureichend oder unzureichend sein, je nachdem, ob er die Wahrheit der Überzeugung eher wahrscheinlich oder unwahrscheinlich macht.¹¹⁴ Der subjektive Grund liegt Kant zufolge in dem „Gemüte“ oder in der „besonderen Beschaffenheit“ (KrV, A820/B848) des Subjekts. Kant merkt an, dass er sich nicht bei der Erläuterung so „faßlicher Begriffe“ (KrV, A822/B850) aufhalten möchte und beschränkt sich hierzu auf den folgenden Satz: „Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive, Gewißheit (für jedermann).“ (KrV, A822/B850). Die Unterschiede zwischen dem Erkennen, Meinen und Glauben beschreibt Kant anhand der Beziehung, die der subjektive Bestimmungsgrund auf den objektiven Bestimmungsgrund haben kann.¹¹⁵ Das Meinen sei „ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten“ (KrV, A822/B850). Zum Beispiel meint man, unterwegs eine Bekannte zu sehen. Man ist sich weder objektiv gewiss noch ist man subjektiv davon überzeugt, dass es tatsächlich die gemeinte Bekannte ist, die man sieht. In diesem Fall sind die Gründe weder subjektiv noch objektiv zureichend. Beim Wissen sind die Gründe hingegen objektiv und subjektiv zureichend. Der Glaube nimmt eine mittlere Position zwischen dem Meinen und dem Wissen ein. Wenn jemand an etwas glaubt, dann sei sein Fürwahrhalten „nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten“ (KrV, A822/B850).

 Ich orientiere mich an den Ausführungen von Chignell (vgl. 2007a, 326 f.). Kant selber erläutert im Kanon leider kaum, was er genau unter objektiv oder subjektiv zureichenden Gründen versteht.  Meinen, Glauben und Wissen bezeichnet er als „drei Stufen“, die das „Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt)“ (KrV, A822/B850), haben kann.

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Der Glaube ist also einer bloßen Überzeugung sehr ähnlich, da beide auf Gründen beruhen, die nur für mich selbst zulänglich sind. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dem Glauben und einer bloßen Überzeugung. Dass etwas subjektiv zureichend ist, kann nämlich nicht nur von einem epistemischen Grund ausgesagt werden, sondern auch von nicht-epistemischen Gründen, und der Glaube beruht nach Kant auf solchen nicht-epistemischen, aber ausgezeichneten subjektiven Gründen der Annehmung. Dies trifft auf den doktrinalen, den pragmatischen und den moralischen Glauben zu, wie Kant im Kanon erläutert. Speziell für den pragmatischen und für den moralischen Glauben gilt, dass ein Subjekt aus praktischen Gründen an eine Annahme glaubt, nämlich darum, weil diese Annahme für ein kohärentes Selbstverständnis des Handelns unerlässlich ist: Es kann aber überall bloß in praktischer Beziehung das theoretisch unzureichende Fürwahrhalten Glauben genannt werden. Diese praktische Absicht ist nun entweder die der Geschicklichkeit, oder der Sittlichkeit, die erste zu beliebigen und zufälligen, die zweite aber zu schlechthin notwendigen Zwecken. (KrV, A823/B851).

Die praktische Absicht, das höchste Gut zu befördern, führt Kant in der Dialektik der KpV zu der Annahme von einem Interesse, an Gott und die Unsterblichkeit der Seele zu glauben. Hierbei handelt es sich um einen moralischen Glauben, weil der Zweck, das höchste Gut zu befördern, schlechthin notwendig sei. Charakteristisch auch für diesen Glauben ist einerseits „Bescheidenheit in objektiver Absicht“ und andererseits „Festigkeit des Zutrauens in subjektiver“ (KrV, A827/B855). Das subjektive Zutrauen ist nicht logisch, sondern moralisch, weil es auf einem praktischen Interesse und nicht auf epistemischen Gründen beruht, nämlich „auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung)“ (KrV, A829/B857). Das Interesse lässt sich auch so beschreiben, dass es auf ein kohärentes Selbstverständnis der praktischen Absicht ausgerichtet ist. Ohne den moralischen Glauben an die religiösen Inhalte wäre das Selbstverständnis in der moralischen Gesinnung inkohärent, „weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein“ (KrV, A828/B856). Es stellt sich die Frage, ob der moralische Glaube nicht auch in einem umfassenderen Sinne für den moralischen Standpunkt eines Akteurs wichtig ist. Wenn eine partikulare moralisch-gute Gesinnung, wie das Erkenntnisproblem nahelegt, gar nicht denkmöglich sein sollte, dann scheint auch die Absicht, Moralität wirklich hervorbringen zu wollen, inkohärent zu sein, wenn damit nicht auch zumindest der Glaube an die Möglichkeit verbunden ist, eine partikulare moralisch-gute Gesinnung auch wirklich hervorbringen zu können. Dies gilt in besonderem Maße für eine moralisch-gute Handlung, deren Gesinnung rein oder

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Teil IV: Verteidigung

lauter sein soll. Denn die Reinheit oder Lauterkeit einer Gesinnung schließt Kohärenz und Wahrhaftigkeit mit ein. Eine ähnliche Überlegung lässt sich auch mit Blick auf das Bewusstsein von der Reinheit der moralischen Nötigung anstellen. Auch dieses Bewusstsein der moralischen Nötigung schließt ein, dass das Subjekt nicht nur weiß, was geboten ist, sondern auch, dass es von der Geltung dieser Notwendigkeit überzeugt ist und seine praktische Zustimmung gibt, auch wenn es argumentativ nicht begründen kann, dass die moralische Nötigung wirklich allein der Vernunft entspringt. Hier deutet sich eine Dimension des moralischen Glaubens an die Reinheit der Nötigung und die Wirklichkeit der guten Gesinnung an, die für ein kohärentes moralisches Selbstverständnis von Akteuren wichtig ist. Robert Marrihew Adams verteidigt in „Moral Faith“ (1995) „the idea that morality has a need, or something approaching a need, for some sort of faith“ (Adams 1995, 75). Es geht ihm um Annahmen, für die gilt, dass es moralisch und somit praktisch wichtig sei, an sie zu glauben, während es theoretische Gründe gibt, sie rational in Zweifel zu ziehen. Er beschreibt „glauben“ in enger Verbindung zu „caring“ (Adams 1995, 83) und betont damit, dass der Glaube immer auch den Willen und den emotionalen Standpunkt eines Subjekts involviert. Wenn ich mich um ein Projekt sorge, dann empfinde ich nicht bloß Mitgefühl, sondern ich glaube daran, dass dieses Projekt wertvoll ist und stehe praktisch dafür ein: „I add myself as a sponsor of the project“ (Adams 1995, 79). Nach Adams kann ich beispielsweise nicht den Glauben haben, dass Bill Clinton die Wahl gewinnen wird und dennoch für George Bush stimmen.¹¹⁶ Glaube beinhaltet immer eine Art von praktischer Hingabe oder Engagement – „it involves commitment“ (Adams 1995, 89) – und somit auch den eigenen Willen, das Projekt, an das ich glaube, praktisch zu befördern. Als Beispiel für einen Glaubensartikel führt Adams den Glauben an den reinen Ursprung moralischer Forderungen an. Als rationales Wesen lässt sich diese Reinheit in verschiedenen Hinsichten anzweifeln. Zum Beispiel sei es philosophisch betrachtet schwierig, ein überzeugendes Standardargument für die unbedingte Geltung moralischer Forderungen zu formulieren. Von einem anthropologischen Standpunkt aus sei es naheliegend, dass moralische Forderungen immer kulturabhängig und soziologisch bedingt seien und somit auch nicht unbedingt gelten.¹¹⁷ Trotz dieser Zweifel ist es für einen moralischen Akteur notwendig, an die unbedingte Geltung moralischer Imperative zu glauben, um tugendhaft zu sein, wenn damit ein gesinnungsethischer Tugendbegriff gemeint ist, wie ihn Kant vertritt. Der Akteur muss subjektiv davon überzeugt sein, dass er

 Vgl. Adams 1995, 89.  Vgl. Adams 1995, 76.

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nicht aus kulturellen oder prudentiellen Gründen dazu aufgefordert ist, moralisch gut zu handeln, damit er das Bewusstsein einer moralischen Verpflichtung haben kann, auch wenn er aus einer argumentativ rationalen Perspektive durchaus Gründe kennt, die ihn an der Reinheit der moralischen Forderung zweifeln lassen. Ein anderer Glaubensartikel, den Adams betont, ist der Glaube daran, dass die Idee von Moralität auch Wirklichkeit werden kann: [I]t is crucial for morality that we believe that moral effort can be successful enough to be worth making. For one cannot live morally without intending to do so, and one cannot exactly intend to do what one believes is totally impossible. (Adams 1995, 81).

An diesem Beispiel verdeutlicht Adams, dass Glaubensartikel nicht nur auf Ideen, sondern auf den Bezug der Ideen zur Wirklichkeit abzielen: It is faith in a stronger possibility, an actual attainability of moral good. And, as Kant saw clearly, faith in a strong possibility of this sort involves some sort of faith in what is actual. It involves faith, or at least a living hope, that actual causal circumstances are not so adverse, all things considered, as to preclude realization of the moral ends. (Adams 1995, 83).

In Anbetracht der Wirklichkeit gibt es erhebliche Zweifel daran, dass Menschen, verstanden als partikulare sinnlich-vernünftige Wesen, mit dem moralischen Anspruch einer Idee übereinstimmen können. Diese Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist eine solche zwischen der partikularen Wirklichkeit menschlicher Subjekte (und Handlungen) und der allgemeinen Idee der Moral. Es gibt rational begründete Zweifel daran, dass die allgemeine Idee der Moral auch zur partikularen Wirklichkeit menschlicher Handlungen werden kann. Ein Zweifel wurde im vorherigen Abschnitt als Erkenntnisproblem partikularer Moralität näher ausgeführt. Als ein allgemeines Vermögen scheint die Vernunft als Ursprung der Wirklichkeit von Moralität, die immer in einzelnen Gesinnungen eines jeweiligen Subjekts instanziiert sein muss, fremd zu sein, weil die Vernunft allgemein, die Gesinnung aber partikular sein soll. Das Erkenntnisproblem hat insofern auch eine existentielle Dimension, da es nahelegt, dass eine partikulare moralische Gesinnung allein auf der Grundlage der Vernunft nicht denkmöglich ist. Sie kann weder mathematisch, noch empirisch und auch nicht rein philosophisch erkannt werden. Daher stellt sich die theoretische Frage, ob es eine solche partikulare moralische Gesinnung in der lebensweltlichen Wirklichkeit menschlicher Subjekte überhaupt geben kann. Der Glaube daran scheint jedoch moralisch wichtig zu sein, weil ein Subjekt nicht wahrhaftig beabsichtigen kann, was es prinzipiell für ausgeschlossen hält. Sowohl der Glaube an die Reinheit als auch der Glaube an die Wirklichkeit von Moralität wird von Kant nur selten thematisiert. In der Methodenlehre der KpV

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gibt es jedoch einen Passus, in dem Kant zwei Personen als Disputanten gegeneinander antreten lässt, von denen der eine den Glauben an die Reinheit und der andere den Glauben an die Wirklichkeit von Moralität verteidigt. Kant stellt die These auf, dass es unter „allem Räsonniren“ nichts gibt, was mehr „erregt und eine gewisse Lebhaftigkeit in die Gesellschaft bringt, als das über den sittlichen Werth dieser oder jener Handlung, dadurch der Charakter irgend einer Person ausgemacht werden soll“ (KpV, 5:153). In diesen Fragen wird mit Hingabe diskutiert, wobei sich Kant zufolge zwei Tendenzen feststellen lassen. Es gibt solche, die dazu tendieren, „das Gute, was von dieser oder jener That derselben erzählt wird, wider alle kränkende Einwürfe der Unlauterkeit und zuletzt den ganzen sittlichen Werth der Person wider den Vorwurf der Verstellung und geheimen Bösartigkeit zu vertheidigen“ (KpV, 5:153). Solche Personen verteidigen mit Hingabe die Wirklichkeit moralisch-guter Vorstellungen anhand von Beispielen. Dagegen gebe es andere, die „mehr auf Anklagen und Beschuldigungen sinnen, diesen Werth anzufechten“ (KpV, 5:153 f.), die man Kant zufolge aber nicht als Gegner von Moralität missverstehen darf. Seine These lautet, dass sich hinter diesem Zweifel an wirklichen Beispielen von Moralität vielmehr die Forderung der Reinheit moralischer Gesinnungen verbirgt: Doch kann man den letzteren nicht immer die Absicht beimessen, Tugend aus allen Beispielen der Menschen gänzlich wegvernünfteln zu wollen, um sie dadurch zum leeren Namen zu machen, sondern es ist oft nur wohlgemeinte Strenge in Bestimmung des ächten sittlichen Gehalts nach einem unnachsichtlichen Gesetze (KpV, 5:154).

Der Bewegungsgrund von den „Vertheidigern der Reinigkeit in gegebenen Beispielen“ (KpV, 5:154) bestehe hingegen im Widerstand gegen die Tendenz, dass Moralität „nicht endlich gar für ein bloßes Hirngespinst gehalten und so alle Bestrebung zu derselben als eitles Geziere und trüglicher Eigendünkel geringschätzig gemacht werde“ (KpV, 5:154). Beide Disputanten verteidigen also Moralität aus einem Glauben heraus, wobei die einen ihren Glauben an die Reinheit, die anderen den Glauben an die Wirklichkeit moralisch-guter Gesinnungen in den Vordergrund stellen. Beide Glaubensartikel, der Glaube an die Reinheit und der Glaube an die Wirklichkeit moralisch-guter Gesinnungen, gehören zu einem kohärenten Selbstverständnis moralisch-guter Akteure dazu. Wenn Akteure in dem Unglauben an die Reinheit oder die reale Möglichkeit moralischer Gesinnungen handeln müssten, dann könnten sie nicht engagiert für Moralität einstehen und somit auch keine reine und wirkliche moralisch-gute Gesinnung hervorbringen. Die Reinheit und die Wirklichkeit moralischer Gesinnungen müssen zwar nicht rational gewiss sein, aber subjektiv müssen Akteure eine Festigkeit der Gesinnung aufweisen, um

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als tugendhafte Akteure kohärent zu agieren. Es ist also praktisch notwendig, Moralität auch als einen partikularen Standpunkt denken zu können, obwohl Moralität allein auf Vernunftgründen und somit allein auf einem Vermögen für das Allgemeine beruht. Dieser partikulare Standpunkt wird in Kants Ethik durch das moralische Gefühl repräsentiert.

3.3 Achtung und Gewissen Die These, die im vorherigen Abschnitt entwickelt wurde, lautet, dass Akteure auch subjektiv von der Reinheit und der Wirklichkeit moralisch-guter Gesinnungen überzeugt sein müssen, damit sie als moralische Akteure ein kohärentes Selbstverständnis haben können. Im ersten Abschnitt wurde gezeigt, dass diese partikulare Dimension von Moralität in Kants Theorie ein Problem darstellt, weil Moralität als eine allgemeine Idee des Vernunftvermögens konzipiert wird. Nach Kant ist es ausgeschlossen, Wissen über die Reinheit oder Wirklichkeit partikularer moralischer Gesinnungen zu erlangen. Die Analyse der Gründe, warum wir kein Wissen von partikularen moralischen Gesinnungen haben können, hat gezeigt, dass eine partikulare moralische Gesinnung aufgrund der Vernunft allein gar nicht denkmöglich ist, weil die Vernunft ein Vermögen für das Allgemeine ist, die moralisch-gute Gesinnung einzelner Subjekte aber partikular sein soll. So formuliert, scheint das Erkenntnisproblem nicht nur das Wissen, sondern auch den Glauben an partikulare reine und wirkliche moralisch-gute Gesinnungen auszuschließen. Wenn in Kants Ethik allein die Vernunft involviert wäre, dann wäre der Glaube an die Reinheit und Wirklichkeit partikularer Gesinnungen irrational, da die Vernunft als ein allgemeines Vermögen keine partikulare Gesinnung konstituieren könnte. Es würde sich bei dem Erkenntnisproblem nicht nur um ein Problem theoretischer Erkenntnis handeln, sondern auch um ein praktisches Problem, weil es ein inkohärentes Selbstverständnis moralischer Akteure zur Folge haben müsste. Die These dieses Abschnitts lautet, dass Kant das Gefühl der Achtung als ein durch die Vernunft gewirktes Gefühl einführt, um eine partikulare Dimension von Moralität zu gewährleisten. Das Gefühl weist nämlich, so wie die Anschauung im Bereich der theoretischen Erkenntnis, das entscheidende Merkmal auf, dass es partikular und lediglich auf subjektive Aspekte der Vorstellung bezogen ist.¹¹⁸ Das Gefühl der Achtung repräsentiert eine partikulare Instanziierung der allgemeinen Idee von Moralität, die in dem fühlenden, individuellen Subjekt stattfindet. Diese

 Vgl. Höwing 2013a, 29. Vgl. Teil I, Kap. 1.3.

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partikulare Instanziierung von Moralität kann allerdings nur auf der Grundlage eines weiteren Vermögens entstehen, das zwischen der allgemeinen Vernunft und dem partikularen Gefühl vermittelt. Diese zwischen dem Gefühl und der Vernunft vermittelnde Urteilskraft ist das Gewissen. Zuerst wird nun das Gefühl, dann das Gewissen als Reaktion auf das praktische Erkenntnisproblems skizziert. Damit eine partikulare moralische Gesinnung möglich ist, muss es eine Synthese zwischen der Vernunft und dem Gefühl geben. Das Gefühl ist notwendig, weil die Vernunft in einer entscheidenden Hinsicht defizitär ist: Sie kann, so wie auch die reinen Verstandesbegriffe, für sich genommen keine partikularen Gegenstände gewinnen, weil dazu die Sinnlichkeit, also eine Anschauung oder ein Gefühl, notwendig ist. Aus diesem Grund haben Phänomenologen, wie sie unten in Teil II vorgestellt wurden, zumindest teilweise Recht damit, wenn sie das Gefühl der Achtung als einen notwendigen Bestandteil der moralischen Erkenntnis auszeichnen. Das moralische Gefühl ist epistemisch notwendig, weil es die gefühlsunabhängige Erkenntnis und Motivation durch das Moralgesetz um eine partikulare Dimension des Moralbewusstseins individueller Subjekte komplementiert. Insofern das moralische Gefühl in Kants Ethik eine partikulare Dimension von Moralität repräsentiert, lässt sich die These von der Notwendigkeit einer Synthese von Anschauung und Begriff aus Kants Erkenntnistheorie in gewisser Weise auf seine Ethik übertragen. Erkenntnistheoretisch vertritt Kant die These, dass eine Synthese zwischen Verstand und Sinnlichkeit notwendig ist, damit empirische Erkenntnis möglich ist. Diese Notwendigkeit einer Synthese fasst er in dem berühmten Slogan zusammen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV, A51/B75). In ähnlicher Weise lässt sich für eine Synthese zwischen der Idee des Moralgesetzes und dem moralischen Gefühl vertreten: Die Idee des Moralgesetzes ist ohne das moralische Gefühl leer. Leer ist die Idee von Moralität ohne ein Gefühl in einem praktischen Sinne, nämlich in dem Sinne, dass es ohne das Gefühl kein einzelnes Subjekt geben könnte, das der allgemeinen Idee auch als fühlendes Subjekt und somit als partikulares Individuum praktisch zustimmen könnte. Ohne das moralische Gefühl könnte es kein partikulares Subjekt geben, das sich mit Hingabe als Sponsor für diese Idee von Moralität begeistern und engagieren kann, sondern nur Subjekte, die als vernünftige Wesen allgemein von dieser Idee betroffen sind, indem sie den nötigenden Inhalt erkennen und dadurch allgemein motiviert sind. Dies wäre ein Akt der Persönlichkeit, mit dem sich das Subjekt nur als ein allgemeines Vernunftwesen, aber nicht auch als individuelles Subjekt identifiziert. Es könnte um Moralität wissen und aus dieser Einsicht heraus auch zum Handeln motiviert sein, aber es würde als menschliches, individuelles und fühlendes Subjekt keine Übereinstimmung mit dem erreichen können, was es moralisch beabsichtigt.

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Die Relevanz dieser individuellen Identifikation mit dem Gesetz betont zum Beispiel H. Klemme mit Blick auf das Gefühl der Achtung: Nur weil wir für das Moralgesetz Achtung empfinden, sind die Gebote der reinen Vernunft für uns keine Kuriositäten, sondern subjektiv-praktisch von Relevanz. Würde die Kluft zwischen Verstand und Sinnlichkeit, zwischen unserer rationalen und unserer affektiven Natur durch dieses Gefühl nicht überbrückt, würden wir den moralischen Geboten mit Indifferenz begegnen. (Klemme 2003, 39).

Das Gefühl der Identifikation und Übereinstimmung mit den moralischen Geboten und ihrer Wirksamkeit ist eine Bedingung für die moralisch-gute Gesinnung, weil man sich darunter eine kohärente und wahrhaftige Gesinnung von menschlichen Individuen vorstellt. In der MS vertritt Kant, dass es sich bei der subjektiven Empfänglichkeit für das moralische Gefühl sogar um eine Bedingung der „Menschheit“ handelt, die sich ohne diese partikulare Dimension von Moralität „in die bloße Thierheit auflösen“ (MS, 6:400) würde: „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre der Mensch sittlich todt“ (MS, 6:400). Dem moralischen Gefühl kommt aber keine objektiv grundlegende Funktion, sondern eine bestätigende Funktion zu, wie sie Kant bereits in der GMS mit Blick auf den gesunden Menschenverstand hervorhebt. Dieser Funktion dient auch die Methodenlehre der KpV, in der Kant beansprucht, die vorangehende Theorie der Analytik durch den wirklichen Zusammenhang zwischen der Theorie und der individuellen Erfahrung von Subjekten zu bestätigen:¹¹⁹ Diese Begriffe nun, wenn sie subjectiv praktisch werden sollen, müssen nicht bei den objectiven Gesetzen der Sittlichkeit stehen bleiben, um sie zu bewundern, und in Beziehung auf die Menschheit hochzuschätzen, sondern ihre Vorstellung in Relation auf den Menschen und auf sein Individuum zu betrachten. (KpV, 5:157).

Ohne diese Relation auf das Individuum und seine bestätigende Erfahrung der Idee von Moralität würde die Theorie bloß das Erkenntnisvermögen ansprechen, weil die Bestimmung des Begehrungsvermögens Kant zufolge immer mit einem Gefühl der Lust und Unlust verbunden ist,¹²⁰ das entweder als Ursache oder als Folge auftritt. Die Resultate der Theorie müssen also in der individuellen Erfahrung eines Subjekts bestätigt sein, weil ansonsten der Rückschluss gezogen werden müsste, dass die Theorie gar keine praktische Wirkung auf das individuelle Subjekt ausübt. Dann wäre eine Theorie der Moral eine reine Theorie im  Vgl. Bacin 2010, 207.  Vgl. MS, 6:399; KU §12, 5:222.

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Sinne eines leeren Gedankenguts: „philosophical ethics would be mere theory, lacking any intrinsic relation to practice“ (Bacin 2010, 208). Die Relation auf das Individuum entspricht einer Relation auf die subjektiven Bestimmungsgründe des Gemüts, nämlich auf das Gefühl, das Kant auch unter Verweis auf das Herz von den Annahmen des Kopfes unterscheidet. In der Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793) verteidigt Kant die praktische Relevanz seiner Moraltheorie. Gegen einen Einwand von Christian Garve wendet er ein, dass es für einen Philosophen mitunter wichtig sei, „das Herz wider seinen Kopf in Schutz zu nehmen“ (TP, 8:285). Dies sei relevant, wenn es auf die Wirklichkeit des Unterschieds zwischen einer reinen und einer nur pflichtgemäßen Willensbestimmung ankomme: Er, der rechtschaffende Mann, fand sie [die Unterscheidung] wirklich jederzeit in seinem Herzen (in seinen Willensbestimmungen); aber sie wollte sich nur nicht zum Behuf der Speculation und zur Begreifung dessen, was unbegreiflich (unerklärlich) ist, nämlich der Möglichkeit kategorischer Imperative (dergleichen die der Pflicht sind), in seinem Kopf mit den gewohnten Principien psychologischer Erklärungen (die insgesammt den Mechanism der Naturnothwendigkeit zum Grunde legen) zusammen reimen (TP, 8:285).

Hier verweist Kant auf den Glauben an die Reinheit und Wirklichkeit einer moralischen Gesinnung, der auf subjektiven Gründen, nämlich auf der Gesinnung der Willensbestimmung beruht. Dieser Glaube hat dort seine Berechtigung, wo das Wissen an seine Grenzen stößt. Er beruht auf einer „Erfahrung, die nur innerlich sein kann“ (TP, 8:287). Diese Erfahrung ermöglicht Kant zufolge ein Bewusstsein der Reinheit und Wirklichkeit moralisch-guter Willensgesinnungen. Zwar betont er erneut, dass die Erfahrung und somit auch das Wissen von wirklichen reinen Willensgesinnungen ausgeschlossen sei, weil „das Nichtsein von Etwas (mithin auch nicht von einem insgeheim gedachten Vortheil) kein Gegenstand der Erfahrung sein“ (TP, 8:284) könne. Doch in Übereinstimmung mit seinen Ausführungen aus dem Triebfedernkapitel behauptet er, dass es immerhin möglich sei, „der Selbstverläugnung in Ansehung vieler der Idee der Pflicht entgegenstehenden, mithin der Maxime zu jener Reinigkeit hinzustreben sich bewußt zu werden“ (TP, 8:285).¹²¹

 Im Triebfedernkapitel argumentiert Kant, dass das positive Gefühl der Achtung relativ zur Reinheit des Ursprungs der Demütigung eines Hanges der Selbstliebe entsteht (vgl. KpV, 5:79). An dem negativen Gefühl der Demütigung erkenne man „den Widerstand gegen Triebfedern der Sinnlichkeit“, aber noch nicht „die Kraft des reinen praktischen Gesetzes als Triebfeder“ (KpV, 5:78), die sich erst in der positiven Wirkung auf das Gefühl zeigt.

3 Moralische Glaubwürdigkeit

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Die Rekonstruktion der Genese des Gefühls der Achtung auf der Grundlage des Triebfedernkapitels hat gezeigt, dass die Entstehung des positiven Gefühls der Achtung auch auf einer zwischen Vernunft und Gefühl vermittelnden Instanz beruht.¹²² Dem positiven Gefühl der Achtung muss ein Akt zugrunde liegen, der auf den Ursprung der Einschränkung der Selbstliebe reflektiert und damit zugleich ein Urteil verhängt, das gemäß der Reflexion strafend oder freisprechend ist. Das freisprechende Urteil über den partikularen Akt der Demütigung entspricht einem positiven Gefühl der Achtung. Implizit setzt Kant in seiner Beschreibung der Genese dieses positiven Gefühls also die zwischen Vernunft und Gefühl vermittelnde Instanz des Gewissens voraus. Das Gewissen tritt als eine Art Mitwissen der partikularen Handlungsabsicht eines Individuums auf.¹²³ Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass das Gewissen (conscientia) als praktische Apperzeption verstanden werden kann,¹²⁴ die jede moralisch praktische Vorstellung eines Menschen „wie sein Schatten“ (MS, 6:438) oder als „Zeugen“ (RGV, 6:186) begleitet. In der Vorlesung Vigilantius bestimmt Kant das Gewissen sogar wörtlich als Apperzeption:¹²⁵ Die Lehre vom Gewissen ist von der größten Wichtigkeit in der Moral. Conscientia allgemein genommen ist das Bewußtseyn seiner selbst gleich apperceptio; in specie involvirt es das Bewußtsein meines Willens, meiner Gesinnung, recht zu thun, oder daß die Handlung recht sey (V-MS/Vigil, 27:613 f.).

In einer Ähnlichkeit zur reinen Apperzeption der Erkenntnis betont Kant den überzeitlichen Charakter des Gewissens und dessen Infallibilität: „daß nämlich ein irrendes Gewissen ein Unding sei“ (MS, 6:401).¹²⁶ Die Infallibilität gilt be-

 Vgl. in Teil III, Kap. 2.2.2, den Abschnitt über den synthetischen Nachweis.  Mitwissen im Sinne eines begleitenden Bewusstseins ist die Grundbedeutung der lateinischen sowie der griechischen Wortherkunft von „Gewissen“ (vgl. Reiner 1974, 574 ff.).  Diese Bedeutung betonen besonders Hoffmann 2002 und Moyar 2008. Moyar unterscheidet dabei zwischen dem Gewissen als begleitendem Selbstbewusstsein und seiner Funktion als einheitlichen Bewusstseins und schreibt dem Gewissen beide Funktionen zu: „Kant is taking conscience to be both a presupposed act of self-consciousness in the process of deliberation and the judgment of the unity of self-consciousness that closes deliberation. There is a basic act of selfconsciousness that makes imputation possible in the first place, and there is an act of judging the unity of self-consciousness in a specific piece of moral deliberation.“ (Moyar 2008, 350).  Hoffmann interpretiert diese Stelle und eine Parallelstelle aus der Religionsschrift (vgl. Hoffmann 2002, 438 f. und RGV, 6:185).  Der überzeitliche Charakter wird in der KpV betont, wenn es heißt, dass „die Vernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibelen Existenz (das moralische) ankommt, keinen Zeitunterschied anerkennt und nur frägt, ob die Begebenheit mir als That angehöre, alsdann aber immer

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sonders für den formalen Aspekt des Gewissens, der darin besteht, dass es sich um ein das eigene Urteil begleitendes Bewusstsein der inneren Zurechnung handelt. Das Gewissen prüft handlungsleitende Überlegungen daraufhin, ob „ich die Pflicht als meine erkannt, befolgt oder verworfen habe“ (Hoffmann 2002, 439). In seiner Schrift „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee“ (1791) unterscheidet Kant die „formale Gewissenheit“ von einem materialen Aspekt der Gewissenheit: „[D]ie materiale besteht in der Behutsamkeit, nichts auf die Gefahr, daß es unrecht sei, zu wagen“ (MpVT, 8:268). Dagegen bestehe die formale Gewissenhaftigkeit in dem Bewusstsein, „diese Behutsamkeit im gegebnen Falle angewandt zu haben“ (MpVT, 8:268). Letztere bezeichnet er auch als „Wahrhaftigkeit“ (MpVT, 8:268). Das Bewusstsein der eigenen Wahrhaftigkeit kann keinem Irrtum unterliegen. In materialer Hinsicht kann das Gewissen jedoch nach Kant schon mal falsch liegen.¹²⁷ In der GMS und der KpV erwähnt Kant das Gewissen kaum, doch es scheint im Kontext mit dem Gefühl der Achtung als Apperzeption präsent zu sein. Zum Beispiel gilt auch für das Gewissen, verstanden als „das subjective Princip der Zurechnung der Handlung“ (MS, 6:438), was Kant in der GMS über Achtung schreibt: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung“ (GMS, 4:401Anm.) oder eben auch mit Gewissen. Des Weiteren charakterisiert Kant die Apperzeption als dasjenige Bewusstsein, das alle anderen Vorstellungen begleitet, aber selbst durch keine weitere begleitet sein kann.¹²⁸ In ähnlicher Weise argumentiert Kant dagegen, dass es Pflicht sein könne, nach Gewissen zu handeln. Dies sei nicht denkbar, „weil es sonst noch ein zweites Gewissen geben müßte, um sich des Acts des ersteren bewußt zu werden.“ (MS, 6:401). Dean Moyar schlussfolgert daraus, dass es sich bei dem Gewissen um ein begleitendes Bewusstsein handelt, das ein konstitutiver Bestandteil des moralischen Urteils ist, anstatt als weiteres Bewusstsein hinzuzutreten.¹²⁹ Charakteristisch ist in dieser Hinsicht sein abschließender Charakter. Auch im Triebfedernkapitel der KpV ist das Gewissen in der Beschreibung der Entstehung des positiven Gefühls implizit präsent. Im Detail ließe sich die positive Schätzung der Achtung, wie sie Kant in der KpV analysiert, als Resultat einer ursprünglichen Verbindung zwischen dem Gewissen und der Mannigfaltigkeit der

dieselbe Empfindung damit moralisch verknüpft, sie mag jetzt geschehen oder vorlängst geschehen sein“ (KpV, 5:99).  Sensen nennt ausgehend von den Vorlesungsmitschriften „sechs verschiedene Arten, wie es zu einem Fehler kommen kann, selbst wenn das aufrichtige Gewissen nicht irrt“ (Sensen 2015b, 135).  Vgl. KrV, B132.  Vgl. Moyar 2008, 345 f.

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negativen Einschränkung deuten, die eine Analogie zur ursprünglichen Verbindung zwischen der reinen Apperzeption und dem inneren Sinn andeutet.¹³⁰ Die reine Apperzeption sei eine „Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gewisser Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen“ (KrV, B135). In Analogie hierzu ließe sich dem Gewissen die Funktion zuschreiben, in dem Gefühl der Achtung die Mannigfaltigkeit der negativen Wirkung auf das sinnliche Gefühl unter eine vernünftige Einheit zu bringen, indem es auf ihren vernünftigen Ursprung reflektiert.¹³¹ Mit anderen Worten ist das Gewissen also das einheitliche Bewusstsein eines Individuums, zugleich Urheber und Adressat des moralischen Gesetzes zu sein.¹³² Was das Gewissen als das „subjective Princip der Zurechnung der Handlung“ (MS, 6:438) in besonderer Weise auszeichnet, ist ein Akt der Selbstprüfung und die damit korrelierende Affizierung des moralischen Gefühls. Das Gewissen überprüft den einzelnen Akt der Willensbestimmung daraufhin, ob er aus reinen Vernunftgründen vollzogen wird. Dabei prüft das Gewissen nicht das objektive Urteil der Vernunft, ob eine Maxime gut oder böse sei,¹³³ sondern die Aufrichtigkeit der praktischen Beurteilung eines individuellen Subjekts. „Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei)“ ist nach Kant die „Grundlage des Gewissens“ (RGV, 6:190Anm.). Hat man keine feste Überzeugung, die als rationales Wissen gelten kann, sondern bloß eine Meinung, die wahrscheinlich ist oder auf historischen Gründen beruht,¹³⁴ dann erfährt der betroffene Akteur ein strafendes Gewissen, indem er sich selbst als moralisches Wesen für diesen einzelnen Fall einer Abwägung oder Handlung, die unter dem Gesetz steht, verachtet. Andernfalls erfährt das Subjekt einen „trostreichen Zuspruch seines Gewissens nicht positiv (als Freude), sondern nur negativ (Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit)“ (MS, 6:440).

 Vgl. KpV, 6:74– 76, 78 f., vgl. KrV, B132.  Die Einschränkung der Neigung und der Schätzung der Person durch das Moralgesetz rufe eine „negative Wirkung“ (KpV, 5:78, vgl. 72 f.) hervor. Das Gewissen stellt in dem Gefühl der Achtung eine Einheit zwischen dieser sinnlichen Bedingung und dem rein vernünftigen Ursprung her: Es sei „das sinnliche Gefühl, was allen unseren Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, 5:75).  „Kant claims that in theorizing conscience we can answer the question, how can I be both the author of the law and bound by the moral law?“ (Moyar 2008, 345).  „Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urtheilt der Verstand, nicht das Gewissen.“ (RGV, 6:186). „Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Casus, die unter dem Gesetz stehen; denn das thut die Vernunft, sofern sie subjectiv-praktisch ist“ (RGV, 6:186).  Vgl. RGV, 6:186 f.

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Das Gewissen ist also einerseits ein Akt der Reflexion und somit eine „intellectuelle“ (MS, 6:438) Anlage. Es „gehört zur Urtheilskraft“ (MS, 6:438) und wird als sich selbst richtende Vernunft beschrieben: „[H]ier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurtheilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe“ (RGV, 6:186). Das Gewissen ist aber andererseits von der praktischen Beurteilung der Vernunft, ob eine Handlung recht oder unrecht sei, unterschieden. Es sei die „dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft“ (MS, 6:400)¹³⁵, und insofern handelt es sich um die Vernunft in der Funktion der reflektierenden Urteilskraft, die „blos aufs Subject (das moralische Gefühl durch ihren Akt zu afficiren)“ (MS, 6:400) bezogen ist. Die eigentümliche Stellung des Gewissens als zwischen der Vernunft und dem Gefühl vermittelnder Instanz wird aktuell ausführlich in der Forschung diskutiert.¹³⁶ So umstritten viele Fragen zum Gewissen auch sind, so steht jedenfalls fest, dass in dem Gewissen das Individuum durch die Überprüfung und das gefühlte Resultat dieser Überprüfung in den praktischen Beurteilungsprozess involviert wird. Man wird sich der praktischen Beurteilung als Individuum bewusst, indem sie durch das Gewissen auf das Merkmal der eigenen Wahrhaftigkeit hin überprüft wird. Wahrhaftigkeit ist wesentlich subjektbezogen im Gegensatz zur Wahrheit. Es kann, wie Kant in der Religionsschrift betont, zum Beispiel „Wahrheit im Geglaubten, aber doch zugleich Unwahrhaftigkeit im Glauben“ (RGV, 6:187) geben. Dasselbe gilt auch für das praktische Urteil, das wahr sein mag, aber darum noch nicht wahrhaftig sein muss, wobei auch der umgekehrte Fall denkbar ist, da eine unwahre Äußerung wahrhaftig geäußert werden kann.¹³⁷ Unter Wahrheit versteht Kant traditionell die „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ (KrV, A58/B83). Wahrhaftigkeit meint hingegen die „Bekundung des Fürwahrhaltens eines Urteils“ (Sturm 2015, 2583), also die

 Für eine kommentarische Interpretation dieser beiden Definitionen des Gewissens als Vernunft: vgl Schmidt/Schönecker 2014, 281 ff. und 300 ff.  Vgl. zur aktuellen Forschung über das Gewissen z. B. Timmermann 2006, Moyar 2008, Esser 2013, Schmidt/Schönecker 2014, Sensen 2015b, Sticker 2017.  In seinem Theodicee-Essay betrachtet Kant das Gewissen im Zusammenhang mit der Wahrhaftigkeit und betont dabei speziell die Unabhängigkeit der Wahrhaftigkeit von der Wahrheit: „Daß das, was Jemand sich selbst oder einem Andern sagt, wahr sei: dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren); dafür aber kann und muß er stehen, daß sein Bekenntniß oder Geständniß wahrhaft sei: denn dessen ist er sich unmittelbar bewußt.“ (MpVT, 8:267).

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Übereinstimmung einer Bekundung mit dem Fürwahrhalten des Subjekts.¹³⁸ Sie ist der Lüge und Täuschung entgegengesetzt, die entweder eine innere oder äußere sein kann. Durch die innere Lüge macht sich der Lügner in seinen eigenen Augen zum Gegenstand der Verachtung, die ihn „wie sein Schatten“ (MS, 6:429) begleite. Ihn zeichnet aus, dass er „selbst nicht glaubt, was er einem Anderen (wenn es auch eine blos idealische Person wäre) sagt“ (MS, 6:429) oder tut, sodass es sich hierbei um ein Paradebeispiel für ein inkohärentes Selbstverständnis handelt, das Selbstverachtung zur Folge hat, insofern vorsätzlich der Pflicht widersprochen wird. In dem Gewissensakt prüft das Subjekt sein partikulares Handeln daraufhin, ob es im Zusammenhang mit seinem eigenen Glauben und Nichtglauben kohärent ist und schreibt es sich dadurch selber zu: „In der Sorgfalt sich dieses Glaubens (oder Nichtglaubens) bewußt zu werden und kein Fürwahrhalten vorzugeben, dessen man sich nicht bewußt ist, besteht nun eben die formale Gewissenhaftigkeit“ (MpVT, 8:268). Das Gewissen überprüft die praktische Wahrhaftigkeit des moralischen Urteilsaktes. Es überprüft, ob dasjenige, was den Willen bestimmt, mit dem übereinstimmt, was man moralisch für wahr hält.¹³⁹ Einen Freispruch erfährt der Mensch nur dann, wenn sich das Eigeninteresse nicht in den Akt der Willensbestimmung eingemischt hat. Das moralische Gefühl, das aus dieser Überprüfung der eigenen Willensbestimmung durch das Gewissen folgt, lässt sich als ein Gefühl der eigenen praktischen Wahrhaftigkeit oder Unaufrichtigkeit verstehen. Auf diese Weise wird als weitere Dimension der eigenen praktischen Wahrhaftigkeit, die in einer kohärenten Einheit der Handlungen des Subjekts mit seinen Überzeugungen besteht, eine individuelle Dimension der eigenen Wahrhaftigkeit hinzugefügt, die in einer Einheit der eigenen Wahrhaftigkeit mit dem moralischen Gefühl besteht. In dem Gefühl der Achtung wird die eigene Wahrhaftigkeit phänomenal gefühlt. In dem Gefühl der moralischen Selbstverachtung wird die eigene Unaufrichtigkeit phänomenal gefühlt. Diese Gefühle sind Bestandteile eines kohärenten Selbstverständnisses eines Akteurs, der sich dadurch als ein indivi „Er vergleicht nämlich im erstern Falle [der Wahrheit] seine Aussage mit dem Object im logischen Urtheile (durch den Verstand); im zweiten Fall [der Wahrhaftigkeit] aber, da er sein Fürwahrhalten bekennt, mit dem Subject (vor dem Gewissen).“ (MpVT, 8:267).  Schmidt und Schönecker weisen auf diese praktische Dimension hin, indem sie den folgenden Satz interpretieren: „[H]ier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurtheilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe“ (RGV, 6:186). Das Urteil als willensbestimmendes Urteil zu unternehmen, sei davon unterschieden, eine Beurteilung durchzuführen (vgl. Schmidt/Schönecker 2014, 285). Das Gewissen fordere den Menschen dazu auf, sich die Frage zu stellen, ob die Willensbestimmung behutsam vorgenommen wurde. Insofern wird durch das Gewissen immer ein praktisches Urteil überprüft.

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duelles, fühlendes Subjekt mit dem Akt seiner moralisch-praktischen Beurteilung identifiziert. Durch das Gewissen und das Gefühl wird der Akteur zu einem „authentic moral agent“ (Moyar 2008, 347).

3.4 Individuelle Glaubwürdigkeit Erst dadurch, dass Gewissen und Gefühl den einzelnen Willensakt begleiten, identifiziert sich das Subjekt auch individuell mit der allgemeinen Willensbestimmung. Das moralische Gefühl sei „die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust blos aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze“ (MS, 6:399). Berücksichtigt man die Funktion des Gewissens, dann lässt sich präzisieren, dass das moralische Gefühl eine Empfänglichkeit aus dem Bewusstsein ist, dass die eigene Willensbestimmung mit dem eigenen Fürwahrhalten dessen, was Pflicht ist, übereinstimmt oder nicht übereinstimmt. Im Zusammenhang mit dem Gewissen wird entweder eine Übereinstimmung oder eine Nichtübereinstimmung einzelner moralischer Willensakte mit dem eigenen Glauben, was recht und unrecht sei, angezeigt. Teil dieses Glaubens, was recht und unrecht sei, ist auch der Glaube daran, dass das Gesetz allein die hinreichende Triebfeder des Willens sein kann. Der moralische Glaube, dass das Gesetz Wirklichkeit werden kann, muss dem Gefühl der eigenen Glaubwürdigkeit, das zur Bestätigung der Wirklichkeit dient, also immer schon zugrunde liegen: „([D]er Geist des moralischen Gesetzes besteht darin, daß dieses allein zur Triebfeder hinreichend sei). Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Sünde (der Denkungsart nach).“ (RGV, 6:30). In dem Gefühl der Achtung erfährt der Akteur einen Freispruch von allen Zweifeln, die das eigene Handeln betreffen, sodass er sich selbst als ein glaubwürdiger moralischer Akteur betrachten kann. Hierdurch wird auch eine phänomenale Grundlage für den Glauben an die Reinheit und Wirklichkeit moralischer Gesinnungen geschaffen, die dem einzelnen Subjekt ein kohärentes moralisches Selbstverständnis ermöglicht. Diese phänomenale Grundlage ist ein gefühltes Selbstbewusstsein der eigenen moralischen Glaubwürdigkeit. Das Gefühl der Achtung kann als Gefühl der eigenen praktischen Wahrhaftigkeit zwar kein zureichender Grund für das Wissen sein, dass man tatsächlich aus rein moralischen Motiven zu handeln beabsichtigt. Denn überprüft wird durch das Gewissen nur die eigene Wahrhaftigkeit, aber nicht auch die Wahrheit der eigenen praktisch-moralischen Urteile, und entsprechend wird man durch das Gewissen freigesprochen, wenn man sich individuell nicht vom Eigeninteresse, sondern nur vom eigenen Vernunfturteil hat bestimmen lassen. Ein Irrtum in diesem Vernunfturteil wird damit noch nicht ausgeschlossen. Doch in Anbetracht

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der eigenen praktischen Wahrhaftigkeit hat das individuelle Subjekt einen subjektiv zureichenden Grund daran zu glauben, dass es tatsächlich aus reinen Motiven heraus handelt, ohne es darum auch wissen zu können. Die Gewissheit, dass man nichts Unrechtes tut, wird darum von Kant als Postulat beschrieben:¹⁴⁰ Es ist für denjenigen, der gewissenhaft handelt, praktisch notwendig, daran zu glauben, dass er nichts moralisch Verwerfliches tut, auch wenn er es theoretisch nicht wissen kann. In dem Gefühl der Achtung erfährt der Glaube an die Reinheit und Wirklichkeit der eigenen Gesinnung eine individuelle Selbstbestätigung. Denn das Gefühl der Achtung repräsentiert das Ergebnis der Selbstprüfung durch das Gewissen und zeigt an, dass man selbst ein glaubwürdiger moralischer Akteur ist. Wer in Anbetracht seiner eigenen moralischen Handlungen glaubwürdig ist, der hat damit zugleich auch einen zureichenden Grund, an die Reinheit und Wirklichkeit seiner moralischen Gesinnung zu glauben. Denn die eigene moralische Glaubwürdigkeit stimmt mit dem Glauben an die Reinheit und Wirklichkeit der moralischen Gesinnung überein. Insofern schreibt Kant in der Methodenlehre der KpV mit Blick auf die beiden Disputanten, die ihren Glauben an die Reinheit oder Wirklichkeit der moralischen Gesinnung in einem Beispiel verteidigen: „Man kann in diesen Beurtheilungen oft den Charakter der über andere urtheilenden Personen selbst hervorschimmern sehen“ (KpV, 5:153). Die Wichtigkeit eines kohärenten Selbstverständnisses moralischer Akteure, das nicht nur auf Wissen, sondern auch auf einem irreduzibel subjektiv fundierten Glauben aufbaut, ist der eigentliche Grund dafür, warum es in Kants Ethik notwendigerweise auch ein moralisches Gefühl geben muss, auch wenn es sich bei dem Gewissen und dem moralischen Gefühl nicht um grundlegende Begriffe der Moral handelt.¹⁴¹ Dennoch sind sie wichtig, um die moralische Gesinnung menschlicher Wesen denken zu können. Es ist Kant zufolge zwar möglich, dass es moralische Akteure mit einem zu starken oder zu schwachen Gewissen und Gefühl geben kann. Zum Beispiel lässt sich ein depressiver Akteur denken, der ohne moralisches Gefühl zur moralischen Einsicht und Motivation in der Lage ist. Die Gesinnung dieses Akteurs mag rein und wirklich sein, aber sie fühlt sich für den Akteur selber nicht glaubwürdig an. Mit anderen Worten mangelt es dem depressiven oder gefühlslosen Menschen an einem gesunden Menschenverstand,

 „Aber von der [Handlung], die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urtheilen und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der Probabilismus, d.i. der Grundsatz entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen“ (RGV, 6:186).  Vgl. Timmermann 2006, 294 und Esser 2013, 275.

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der es möglich macht, dass sich der Akteur auch in Anbetracht seiner Individualität mit seinen moralischen Handlungen identifizieren kann. Der depressive moralische Akteur hat ohne ein moralisches Gefühl trotz der Reinheit und der Wirklichkeit seiner moralischen Gesinnung kein kohärentes Selbstverständnis. Sein emotionaler Zustand widerspricht seinem Selbstverständnis, ein menschliches Wesen zu sein, das in guter Absicht handelt. Für diesen Menschen ist sein eigenes moralisches Handeln eine Kuriosität. Er handelt auf eine individuell entfremdete Weise in Übereinstimmung mit den Geboten seiner Vernunft. Er scheitert also letztlich an der individuellen Identifikation mit seiner moralischguten Absicht und tut, was geboten ist, aus Pflicht, ohne aber wesentlich auch ein solcher zu sein, der so handelt. Diese individuelle Zustimmung wird aber von einer deontologischen Ethik, wie sie Kant vertritt, verlangt: „Ist es unsere Pflicht, dies oder jenes zu tun, dann ist es wesentlich auch unsere Pflicht, ein solcher zu sein, der so handeln will.“ (Nagel 2012, 330 f.). Die Relevanz des Gewissens und des moralischen Gefühls als Bestätigung des Glaubens an die Reinheit und Wirklichkeit seiner eigenen moralischen Absicht führt somit auf ein weiteres Merkmal des Ideals einer guten moralischen Gesinnung, das insbesondere mit Blick auf Kants Ethik eher als Anstoß zur Kritik aufgegriffen wurde. Dieses Merkmal ist das Merkmal einer phänomenalen Glaubwürdigkeit, das einer subjektiven Dimension der Wahrhaftigkeit entspricht und essentiell auf die Gefühle eines Individuums Bezug nimmt. Hierbei kommt es darauf an, dass ein Individuum auch fühlt und glaubt, was es aufrichtig beabsichtigt. Kant hat, wie seine Theorie des moralischen Gefühls und Gewissens bezeugen, auch diese individuelle Dimension der praktischen Wahrhaftigkeit moralischer Akteure in seiner Moralphilosophie berücksichtigt. Dass er ein menschliches Subjekt ohne moralisches Gefühl als sittlich tot einstuft, zeigt die Relevanz, die Kant dieser individuellen Identifikation des Menschen mit der Reinheit und der Wirklichkeit seiner moralischen Willensbestimmungen beimisst. Moralisch-gute Gesinnungen können rein und wirklich sein, aber dennoch nicht dem Ideal eines tugendhaften Menschen entsprechen, wenn sie nicht zugleich auch vom moralischen Gefühl und dem Glauben an die Reinheit und Wirklichkeit der eigenen Gesinnung menschlich beseelt sind. Ein tugendhafter Akteur muss glaubwürdig sein, was den Glauben an die eigene moralische Absicht mit einschließt. Auch für Kants Theorie moralisch-praktischer Vernunfturteile gilt daher, dass sie dem menschlichen Leben und seiner Individualität nicht vollkommen fremd sein dürfen. Alle Grundvermögen des Menschen sind im moralischen Handlungsprozess involviert. Das Gefühl der Achtung überbrückt die Kluft zwischen dem allgemeinen Moralgesetz und dem menschlichen Individuum. In diesem Sinne gilt: „[I]t is a feeling of psychic harmony or unity“ (Moyar 2008, 355). Der

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Mensch ist als gesunder moralischer Akteur nicht bloß ein reines, distanziertes Vernunfturteil. Der Mensch ist auch für Kant ein lebendiges oder lebhaftes¹⁴² Urteil, und zwar auch in moralischer Hinsicht. Mit dem Gefühl der Achtung integriert Kant die Individualität des menschlichen Lebens auf eine formale Weise in seine Theorie moralischen Urteilens. Das mag einigen zu wenig sein.¹⁴³ Es ist aber für einen formalen Denker wie Kant ein konsequenter Abschluss seiner Theorie, in dem sich auch das partikulare Individuum auf eine rein formale Weise integriert fühlen soll.

 Die Lebhaftigkeit sei die ästhetische Vollkommenheit der Erkenntnis ihrer Qualität nach, wie Kant in der Jäsche-Logik allerdings mit Blick auf die anschauliche Erkenntnis vertritt. Auch für die moralisch-praktische Erkenntnis scheint Kant zufolge aber zu gelten, dass ihr auch eine ästhetische Deutlichkeit zukommen muss. Sie besteht „in einer bloßen Lebhaftigkeit und Verständlichkeit, d. h. in einer bloßen Klarheit durch Beispiele in concreto“ (Log, 9:62).  Kühn kritisiert Kants formalen Umgang mit dem Gefühl seit der GMS gegenüber früheren Vorlesungsmitschriften: „Kants Position hinsichtlich des Verhältnisses von Gefühl und Intellekt ist in der Vorlesung gemäßigter und (vielleicht gerade darum auch) vernünftiger“ (Kühn 2004, 25).

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Personenregister Adams, Robert Marrihew 314 f. Allais, Lucy 23, 25, 86 f., 110 f. Allison, Henry E. 86 f., 98, 101, 103, 105, 108, 111 f., 129, 134, 142 – 144, 166, 175, 230 Ameriks, Karl 10, 27, 36 – 38, 53, 55 – 57, 61, 77, 84 – 87, 91 f., 99 – 101, 108, 111 – 117, 119, 123, 129, 131, 137, 140, 142, 144 – 146, 149 – 151, 165, 167, 183, 187, 191 f., 202 f., 216, 230 f., 237, 282 Bacin, Stefano 319 f. Bambauer, Christoph 294 Baumgarten, Hans-Ulrich 256, 291 – 293 Beck, Lewis White 54, 125, 141 f., 144, 213 Bojanowski, Jochen 86, 91 f., 100, 169, 306 Bondeli, Martin 199 Brinkmann, Walter 297 f. Chignell, Andrew 239, 257, 265, 311 f. Cramer, Konrad 90 Darwall, Stephen 254 DeWitt, Janelle 30, 86, 91 f. Elster, John 20 Engelhard, Christina 215 Engstrom, Stephen 52 f., 55, 57, 60, 62, 86, 91, 96, 140, 224, 267, 304 Esser, Andrea 324, 327 Feinberg, Joel 277 Friebe, Cord 23, 25, 87, 123, 134 Frierson, Patrick 6, 37 f., 45, 70, 72, 84, 86, 88 f., 91, 93, 95 – 97 Gardner, Sebastian 73, 76, 86, 101, 104 Garve, Christian 320 Gilabert, Pablo 288 Goy, Ina 75, 86, 91, 94 Gregor, Mary 86, 101, 105, 283 – 286 Grenberg, Jeanine M. 9, 27, 32, 36, 60 f., 72, 75, 84, 86, 91, 93, 97, 99, 108 f., https://doi.org/10.1515/9783110629170-010

115 – 117, 120 f., 123 f., 127 – 129, 135 f., 138, 141 f., 144 f., 151, 155, 196, 230 Grondin, Jean 40, 129 Grüne, Stefanie 25 Guyer, Paul 32, 83, 86, 88 f., 91, 95, 97, 102 f., 110, 122, 129, 155, 161 Hanna, Robert 87 Heidegger, Martin 108, 116, 119, 122, 213 Henrich, Dieter 10, 56 f., 61, 85, 108, 115 – 117, 119, 121 f., 129, 134, 137, 144, 149, 152, 184, 189, 213, 256 Herrera, Larry 32, 86, 91, 99, 155 Höffe, Otfried 220, 306 Hoffmann, Thomas Sören 321 f. Horn, Christoph 52, 54 f., 86, 91, 288, 296, 301 Höwing, Thomas 29, 52, 62, 72, 75, 227, 270, 317 Hume, David 96 – 98, 137, 256, 265 f. Hutcheson, Francis 165, 202 Kersting, Wolfgang 287, 289 f., 296, 298 f. Klemme, Heiner F. 71, 319 Köhl, Harald 206 Kühn, Manfred 86, 101, 164 – 171, 174, 329 Lau, Chong-Fuk 112 Lauener, Henri 86, 91, 94 Lee, Ming-Huei 26, 29, 38 f., 53, 179, 318 Longuenesse, Béatrice 49, 73, 76, 86, 101, 104 Ludwig, Bernd 285 Łuków, Paweł 108, 144, 149, 151, 192 McCarty, Richard R. 6, 8, 32, 69, 75, 82, 86, 91, 94 – 96, 98 – 100, 120, 155 Mieth, Corinna 86, 91, 283, 285, 288 f., 296, 299 Mosayebi, Reza 306 Moyar, Dean 321 – 324, 326, 328 Nagel, Thomas

1, 328

Personenregister

Noller, Jörg 227 Nuyen, Tuan A. 86, 91, 97 f. O‘Neill, Onora 6, 8, 53, 69, 86, 101, 104, 108, 129, 131 f., 139 – 141, 144, 266, 287, 297 Paton, Herbert J. 62, 86, 88 f., 97 f., 101 – 103, 105, 161, 280, 287 Pereboom, Derk 257, 265 Prauss, Gerold 22, 86, 101, 108, 111, 116, 129, 143, 146 – 148, 183, 186, 218, 293 f. Reath, Andrews 6, 86, 88, 99, 101, 103, 105 – 108, 133, 140, 267 Reiner, Hans 321 Reinhold, Karl Leonhard 20, 38, 69, 86, 101, 104 Sala, Giovanni B. 75, 86, 101, 103 f. Sartre, Jean-Paul 254 Scarano, Nico 86, 91, 93, 296 Schadow, Steffi 20, 32, 72, 86, 90 f., 93, 97, 99, 155, 161, 213, 250 f. Schmidt, Elke Elisabeth 206, 324 f. Schnepf, Robert 255 – 257 Schönecker, Dieter 6, 9, 27, 40, 61, 75, 78, 83, 86, 91, 93, 96, 108 f., 115 f., 119, 121 f., 124 – 127, 129, 136, 164, 167 – 170, 172 – 174, 213 f., 216 f., 324 f. Seel, Gerhard 133 f., 168, 186 f., 204, 213, 238 – 240, 259, 263, 313

339

Sensen, Oliver 6, 53 f., 57, 64, 66, 68, 86, 88, 101, 103, 105 – 108, 115 f., 129, 133, 137, 139, 164, 166 – 171, 174, 177, 205, 209, 250, 322, 324 Shaftesbury, Anthony Earl of 164 Stark, Werner 96, 165, 168 f. Steigleder, Klaus 286, 289, 299 Sticker, Martin 115 f., 133, 137 f., 200 f., 324 Stratton-Lake, Phillip 86, 88, 101, 105, 107 f., 161, 213 Stuhlmann-Laeiz, Rainer 199 Sturm, Thomas 324 Timmermann, Jens 32, 35, 39, 84, 86, 91 f., 95 – 97, 99 f., 144, 155, 175, 183, 213, 224, 240, 304, 324, 327 Walker, Ralph C. S. 86, 101, 105 f., 108, 146 Ware, Owen 27, 36, 61, 75, 84, 86, 91, 97, 108, 116 f., 120, 124, 129, 135 – 137, 149 – 151, 196, 219, 225 Watkins, Eric 256 f., 265 Willaschek, Marcus 59, 125, 141, 238 Wolff, Michael 146, 255, 257 Wood, Allen W. 49, 86, 91, 93 Zimmermann, Stephan 116 Zinkin, Melissa 13, 75, 84, 86, 101, 107, 119 f., 149, 151, 196, 217, 220, 249 – 252, 261 – 266, 272 f.

Sachregister Achtung – Achtung für das/fürs/vor dem Gesetz 23, 29, 37, 48, 65, 90, 105 – 107, 132 f., 170 f., 177 – 181, 196, 208, 212 f., 253 f., 271 – aus Achtung 4, 8, 16, 49 f., 79 – 81, 93, 97, 106, 168 f., 282 – Gefühl der Achtung – ambivalentes Gefühl der Achtung 20, 181, 194 f., 204 – 206, 209, 212 f., 235, 237, 252 – 254, 270, 275 f. – positives Gefühl der Achtung 19 f., 44 f., 93, 100, 106 – 108, 132, 170 f., 190, 195, 204 f., 209, 212 – 214, 222, 225 – 229, 231, 235 – 237, 244, 251 f., 274 f., 320 – 323 – intellektuelle Achtung 105 – 108, 133, 161, 170 f. Affektivisten 6 – 15, 26 – 40, 43, 45 f., 66 f., 78 f., 82 – 101, 120, 152 – 156, 172, 193, 203, 246, 280 – 283, 305 analytisch 115 f., 124, 127, 137, 141 – 143, 160, 184 f., 187, 192, 210 – 212, 218, 249, 251, 256 angenehm 28, 65, 69, 71 Anschauung 9 f., 22 – 26, 41 f., 65, 87 f., 110 f., 113, 118, 120 – 122, 128 – 132, 134, 142, 145, 147, 184, 190, 192, 199, 201, 215, 230, 232, 236, 244, 264, 279, 307 – 309, 317 f. Antinomie 113, 115, 127, 129, 138, 144, 238 f., 241 – 243 Apperzeption 112, 132 f., 145, 265, 321 – 323 a priori (Achtung) 2, 12, 17, 19 – 21, 28, 34 f., 37, 102, 129, 164, 180, 182, 188 – 192, 194 f., 210 – 212, 215 – 226, 232, 236, 245, 251 f., 264, 272 f., 275 Autonomie 3, 16, 42 f., 52 – 57, 61 – 63, 67, 104, 109, 111, 113, 116, 128, 139 f., 154, 166 – 169, 173, 187, 230, 233, 237, 242, 244, 266, 282, 304

https://doi.org/10.1515/9783110629170-011

Begehrungsvermögen 28 f., 44, 52, 54, 62, 71, 93, 155, 159, 164, 186, 203, 219, 224, 241, 268 – 270, 272, 278, 304, 308, 319 Bestimmungsgrund 54 – 56 – ästhetischer Bestimmungsgrund 4, 39, 41 f., 78 f., 122, 159, 215, 240 – 242 – empirische Bestimmungsgründe 62, 78, 137, 156, 217 – evaluierender, epistemischer Bestimmungsgrund 10 f., 21 – 27, 39 – 42, 70 – 78, 160, 317 – 320 – formaler Bestimmungsgrund 63, 65, 278, 280, 283 – materiale Bestimmungsgründe 44, 62 f., 65, 101, 131, 156, 280 – motivierender, kausaler Bestimmungsgrund 10 f., 30 – 40, 66 f., 70 – 78, 120, 160 – objektiver Bestimmungsgrund 3, 48, 57 – 66, 76, 154, 170, 278, 221 – 223, 240, 267, 309 f., 312 – rationaler Bestimmungsgrund 41, 60 – 66, 68, 78, 101, 156, 211, 310 – sinnliche Bestimmungsgründe 213, 216, 220, 224 – subjektiver Bestimmungsgrund 3 f., 10, 39, 41, 48 – 51, 57 – 62, 66 – 71, 76, 79 – 81, 154 – 157, 160, 170, 177 – 179, 221 – 223, 267 – 270, 273 – 275, 278, 284, 309 f., 312, 320 – unmittelbarer Bestimmungsgrund 35, 131, 159, 218, 226 f. Demütigung 20, 48, 107, 205 – 209, 213, 216, 218, 223, 225 – 229, 235, 237, 271, 273 – 275, 320 f. deutlich 78, 195, 198 – 201, 210 – 212, 215, 245, 329 Dijudikation, principium diiudicationis 165 – 167, 170 – 172 dunkel 156, 158, 198 – 200, 261

Sachregister

Eigendünkel 32, 106, 208 f., 222 f., 225, 227, 267, 316 erhaben 60, 129, 181, 204, 207, 213 Erkenntnis – empirische Erkenntnis 5 f., 9, 22 – 24, 42, 87, 117, 121, 123, 134, 147, 190, 307 – 309, 318 – mathematische Erkenntnis 42, 120, 129, 215, 308 – moralische Erkenntnis 9, 23, 35, 60, 114, 119, 121 f., 130, 157, 180, 194, 199, 201, 245, 318 – philosophische Erkenntnis 41 f., 146 f., 150, 157, 201, 307 – 310 Exekution, principium executionis 10, 50, 59, 61, 66 f., 101, 154, 165 – 168, 170, 172 f., 190, 280 Faktum der Vernunft 2, 9 f., 12, 22, 40, 73, 75, 83, 86, 112, 115, 117 – 119, 121 – 127, 133, 136, 140 – 143, 148, 151, 173, 176, 182 f., 197 f., 200, 214 Freiheit 7, 19, 31 f., 34, 53, 59 f., 63 f., 67, 75, 97, 100, 112 f., 117, 124, 126 – 130, 138, 141 – 149, 167, 176, 192, 197, 200, 210, 212, 214, 217 f., 230 – 234, 240, 244, 253 f., 265, 274, 276, 292, 301, 307, 310 f. Gefühl (moralisches vs. pathologisches) 8 f., 28 f., 33 f., 69 f., 155, 302 Gesinnung 3 f., 11 f., 14, 19, 22, 26, 40 – 42, 55, 68 f., 72, 74, 104, 132, 160, 169 f., 177, 180, 182, 188 f., 193 f., 231, 233, 239 – 243, 245, 249, 284 – 286, 291, 299, 305 f., 309, 311, 313 – 321, 326 – 328 Gewissen 55, 95, 100, 109, 133, 155, 157, 172, 181, 183, 214, 228 f., 244, 285, 294, 297, 304, 317 f., 321 – 328 Glaube 38, 96, 160, 167, 185, 187, 197, 203, 238, 240, 243, 245, 297, 304, 310 – 317, 320, 324 – 328 Glaubwürdigkeit 14, 249, 304 f., 311, 326 – 328 Gut, das höchste 12, 182, 195, 237 – 243, 245, 313

341

Handlung (aus Neigung vs. aus Pflicht) 3 f., 6 – 9, 16, 30 f., 34 f., 46 – 48, 79 – 81, 277 – 284, 291 – 295 Handlungspsychologie 18 f., 30 – 34, 46, 66 f., 79 – 81, 87 – 104, 152, 190, 217, 248, 251 f., 277, 281 – 283, 303 Imperativ – hypothetische Imperative 133 f. – Kategorischer Imperativ 2 f., 55, 58, 109, 117 – 119, 121 f., 133 – 137, 139, 143, 166, 183, 218, 220, 244, 276, 280, 283, 288 – 290, 292, 301, 314, 320 innerer Sinn 35, 112 f., 132, 144 f., 236 f., 260 f., 323 Intellektualisten 3, 6 – 15, 21, 26, 48 f., 67 – 70, 75 f., 78 f., 82 – 90, 98 – 108, 116, 133, 152 – 155, 160 – 162, 165, 170 f., 193 f., 219, 246 – 249., 277, 279, 281 – 283, 291 – 295, 305 Interesse 8, 28 f., 45, 93, 153, 178, 180, 221, 270 – aus Interesse 29, 71 f., 77, 80, 282, 298 – moralisches Interesse 28 f., 33 – 36, 38, 69, 72 f., 77, 80, 93, 99, 161, 165, 171, 178, 180, 191, 196, 205, 230 – 234, 240 Kausalität 19, 113, 256 f., 265 – kreisförmige vs. lineare Kausalität 148 – Kausalität der Natur 19, 31, 35, 102, 147 f., 277, 307 – Kausalität der Vernunft 19, 31 f., 71, 74, 79, 91 f., 94, 96 f., 107, 216, 219, 235, 237, 251, 254, 268 f. – Kausalität des Willens 7 f., 98, 100, 200, 232, 279 Lust, Unlust 7 f., 16, 18 – 20, 28 f., 32, 34 f., 38, 44 f., 47, 64, 67 – 69, 72 f., 75, 77 f., 80, 91 – 95, 112, 122, 133, 153, 155, 157, 159, 172, 189, 203 – 206, 221, 233, 236, 241, 259, 273, 277 – 279, 319, 326 Maxime 1, 3, 7, 37, 46 – 48, 50 f., 58 – 60, 67 – 69, 72 – 75, 97 – 100, 104, 106 f., 154, 159, 175 – 177, 179 – 181, 221 f., 224,

342

Sachregister

239, 241 f., 267, 270, 287, 289 f., 295 – 302, 320, 323 Menschenverstand 12, 18, 79, 81, 85, 109, 119, 127, 138, 149 f., 156 f., 164, 180, 183, 196 – 199, 201 – 203, 243, 253, 319, 327 Metaphysiker 9 – 12, 82 – 86, 108 – 117, 129 – 153, 158 – 160, 194, 219 f., 232, 245 – 250 Moral Sense 63, 164 Nebenprodukt 1, 9 f., 12 – 21, 27, 37, 40, 42, 44 f., 47, 49, 69 – 71, 76, 78, 152, 158, 160 f., 163 f., 170, 194, 240, 248 negative Größe 13, 32, 107, 151, 217, 220, 248 – 276, 297, 300

121, 123, 174, 201, 221, 225, 248 f., 277, 281, 291, 304, 315, 318 f., 328 f. synthetisch 113 – 117, 121, 133 – 137, 143 f., 159 f., 164, 184 f., 187, 190, 192, 194, 204, 210 f., 217 – 229, 244 – 246, 249 – 251, 256 f., 262, 272, 321 Triebfeder (siehe subjektiver Bestimmungsgrund) 50, 79 f., 160, 178, 221, 278 – epistemische, evaluierende Triebfeder 10, 21, 33, 38, 51, 56, 72 – 81, 155 f., 160 f. – konkurrierende Triebfeder 31, 33 – 35, 95 f., 99 f., 103 – motivierende Triebfeder 7 – 10, 12 – 14, 43, 45, 67, 71 – 75, 86 – 108, 172, 246, 282 f. Urteilskraft

partikular 2, 7, 9 – 11, 14 – 16, 19, 21 – 26, 39 – 42, 51, 55 – 57, 97, 116, 119, 128, 137, 156 f., 160, 162, 171, 194 f., 199, 228 f., 236, 243 f., 249, 267, 288, 303 – 311, 313, 315, 317 – 321, 325, 329 Phänomenologen 9 – 14, 26 f., 35 f., 40, 60, 74, 82 – 86, 108 – 138, 140 – 144, 148 f., 152 f., 156 – 161, 167, 194, 204, 214, 230, 245, 248 f., 304, 311, 318 Selbstliebe 16, 20, 32, 43 f., 46 – 48, 106 f., 121, 154, 208, 214, 216, 222 – 226, 237, 253, 267 f., 273 f., 293, 303, 320 f. Sinnlichkeit 2, 4 – 6, 9 f., 13 f., 17, 22 – 24, 26, 30, 32, 34 f., 45, 47, 53, 56, 58, 60, 62, 65, 73, 81 f., 87, 90 f., 94, 104, 106 f., 110, 116 – 119, 121 – 123, 128, 132 – 135, 137, 150, 162, 165, 171 f., 181, 189 – 192, 194, 199, 206, 210 f., 213 – 218, 220 – 222, 224 – 227, 229 – 235, 253 f., 263, 270, 272 f., 275 f., 278, 280 – 283, 293, 304, 306 – 308, 315, 318 – 320, 323 Spontaneität 19 f., 24, 31, 44, 56 f., 122 f., 125, 128, 132, 135, 146, 148, 152, 200, 213, 218, 231 f., 235, 237, 292 Subjekt – intelligibles Subjekt 128, 181, 218, 231 – 235, 310, 321 – menschliches Subjekt 2 – 6, 16, 19, 22, 46 – 48, 61, 66, 68, 83, 94, 114, 119,

10, 19, 142, 286, 318, 324

Vernunft – reine praktische Vernunft 1, 3, 5, 17 f., 20, 25, 28, 32, 43, 47, 53, 55 f., 59, 62, 65 f., 82, 89, 91, 97, 107, 125 f., 133, 139, 141, 154, 168, 172, 185, 188, 190, 201, 207, 211, 213 f., 216 – 218, 221, 223 – 226, 235 – 242, 244, 250 – 252, 271 – 273, 278, 280, 295, 300, 307 – Vernunftinteresse 34, 80, 233 Verstand – philosophierender Verstand 164, 199, 201, 243, 245 – Verstandesbegriffe 9, 22, 25 f., 87, 115, 122, 184, 199, 236, 279, 299, 318 Wertschätzung 1, 11, 18, 56, 72 – 74, 71 – 81, 128, 181, 195 f., 199, 202 – 204, 212 – 214, 222, 227, 229, 244, 161, 302 Wille 1, 3, 7 – 9, 19, 29, 32, 37, 43 f., 50 – 56, 58 f., 61 f., 68, 72, 88, 90 f., 95, 98, 121, 130 f., 133 f., 139, 148 f., 153 f., 159, 181, 188, 191, 210 f., 213 – 215, 218, 221, 224 f., 232 – 234, 237, 270 f., 274, 278 – 282, 284, 292, 302 f., 314, 325 f. Willkür 19, 28, 32, 37 – 39, 43 f., 57, 59, 61 f., 67 – 69, 72, 74, 76, 78 f., 88 – 91, 93, 95, 97, 100 f., 153, 155, 191, 197, 222 f., 235, 267, 278, 280, 285

Sachregister

Wohlgefallen 8, 10, 19, 28 f., 33, 38, 44, 60, 69, 71, 73, 94, 157, 159, 162, 172, 180, 191, 202, 233, 241, 244, 300 Zufriedenheit 12, 37, 44 f., 73, 182, 195, 237, 241 f., 245

343

Zweck – empirisch-bedingte Zwecke 17, 34, 47, 92, 174, 224, 267, 276 – 284, 291, 293, 295 – Pflichtzwecke 13, 43, 46, 248, 277 – 291, 294 – 304 – Selbstzweck 47, 53, 148, 218, 283, 286 – 288, 301