Reichthum und Armut deutscher Sprache: Reflexionen über den Zustand der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert [Reprint 2012 ed.] 9783110855777, 9783110115918

157 52 13MB

German Pages 385 [388] Year 1988

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Reichthum und Armut deutscher Sprache: Reflexionen über den Zustand der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert [Reprint 2012 ed.]
 9783110855777, 9783110115918

Table of contents :
Vorwort: Textauswahl, Textgestaltung und Kommentierung
1. Joachim Heinrich Campe (1746–1818)
2. Jean Paul (1763–1825)
3. Karl Wilhelm Kolbe (1759–1835)
4. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814)
5. Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852)
6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774–1826)
7. Christian Gottfried Körner (1756–1831 )/Friedrich Schlegel (1772–1829)
8. Adam Müller (1779–1829)
9. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
10. Ernst Moritz Arndt (1769–1860)
11. Jakob Grimm (1785–1863)
12. Jean Paul (1763–1825)
13. Wilhelm Hauff (1802–1827)
14. Ludwig Börne (1786–1837)
15. Carl Gustav Jochmann (1789–1830)
16. Ludolf Wienbarg (1802–1872)
17. Theodor Mundt (1808–1861)
18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797–1855)
19. Berthold Auerbach (1812–1882)
20. J. F
21. Karl Ferdinand Becker (1775–1849)
22. Arthur Schopenhauer (1788–1860)
23. Jacob Grimm (1785–1863)
24. Wilhelm Wackernagel (1806–1868)
25. Heinrich Rückert (1823–1875)
26. Ferdinand Kürnberger (1821–1879)
27. Rudolf Hildebrand (1824–1894)
28. Friedrich Nietzsche (1844–1900)
29. Emil du Bois-Reymond (1818–1896)
Bibliographie zur Sprachbewußtseinsgeschichte und zur Sprachkritik im 19. Jahrhundert
A. Zeugnisse von 1780–1880. Eine Zeittafel
B. Textsammlungen
C. Darstellungen
Thematischer Wegweiser
Personenregister

Citation preview

Reichthum und Armut deutscher Sprache

»icici)ti)um unb 2(rmut bcutfci)er (Spradje Reflexionen über den Zustand der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert

Herausgegeben von

Walther Dieckmann

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989

CI Ρ- Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Reichthum und Armut deutscher Sprache : Reflexionen über d. Zustand d. dt. Sprache im 19. Jh. / hrsg. von Walther Dieckmann. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 ISBN 3-11-011591-3 NE: Dieckmann, Walther [Hrsg.]

Copyright 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort: Textauswahl, Textgestaltung und Kommentierung Textauswahl Die hier vorgelegte Textdokumentation soll die gegenwärtig verstärkte germanistische Forschung und Lehre in der Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts 1 , insbesondere die Untersuchung der Geschichte des Sprachbewußtseins unterstützen. Aus anderer Perspektive betrachtet, stellt sie Materialien zur Geschichte der Sprachkritik in Deutschland bereit, die bislang im wissenschaftlichen und öffentlichen Bewußtsein, von der Gegenwart her gesehen, oft bei Kraus, Mauthner oder der „Sprachkrise der Moderne" endet. Aus dem Gesamtbereich der Formen und Ausprägungen, in denen sich Sprachbewußtsein artikuliert und Sprachkritik verwirklicht 2 , kommt jedoch nur ein bestimmter Ausschnitt zur Geltung. Die Sammlung enthält Texte von Autoren des 19. Jahrhunderts, die ihre Aufmerksamkeit sprachreflexiv auf den Zustand und die Veränderungen der deutschen Sprache ihrer Zeit als Medium des nationalen öffentlichen Verkehrs richten und diesen Zustand in der Form eines Aufsatzes oder Buchkapitels zusammenhängend darstellen und lobend oder tadelnd bewerten 3 . 1

2

3

Eine intensivere Erforschung der Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts ist seit Ende der 70er Jahre vor allem vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR gefördert worden. Inzwischen sind eine ganze Reihe von Sammelbänden und Monographien zu diesem Thema in den „Linguistischen Studien" (Reihe A. Arbeitsberichte, Bd. 66 I—III, 88, 111,144, 150 IßT) bzw. den „Bausteinen zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen" des Akademie-Verlags (Bd. 60,62) veröffentlicht worden. Einen Uberblick über den gegenwärtigen Stand der bundesrepublikanischen Untersuchungsschwerpunkte vermittelt der Sammelband: Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert. Hrsg. von D. Cherubim u. J. Mattheier. Berlin/New York: de Gruyter, angekündigt für Herbst 1988. Zu den „Erscheinungsformen der Sprachkritik im 19. Jahrhundert" vgl. den entsprechenden Abschnitt von Cherubim (Bibl. C 6). Er selbst richtet den Blick vornehmlich auf die Bewertung der einzelnen sprachlichen Ausdrucksmittel in den Grammatiken, Stilistiken und sprachlichen Wegweisern. Wiederum andere Daten der Sprachbewußtseinsgeschichte werden bei Mattausch (Bibl. C 17) genutzt. Es ist somit der gleiche Texttyp, den Hofmannsthal 1927 für das von ihm herausgegebene Buch „Wert und Ehre deutscher Sprache" (Bibl. Β 4) wählte. Die Reichweite der hier vorgelegten Sammlung ist allerdings einerseits kleiner, weil auf das 19. Jahrhundert beschränkt, andererseits größer, weil Lob und Tadel umfassend.

VI

Vorwort

Nicht berücksichtigt sind (a) Autoren, die — sprachphilosophisch oder allgemein sprachtheoretisch interessiert — nach den Eigenschaften, Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Sprache allgemein fragen, (b) Autoren, die die deutsche Sprache der Vergangenheit oder die überzeitlichen Eigenschaften der deutschen Sprache zum Gegenstand machen und (c) solche, die — obwohl gegenwartsbezogen — nicht die nationale Standardsprache insgesamt, sondern einzelne sprachliche Formen, Aspekte, soziale Varianten, Kommunikationsbereiche oder Werk- und Personalstile ins Blickfeld nehmen4. Für die Aufnahme ausschlaggebend war allerdings die Allgemeinheit der Frage, wie sie z. B. von Arndt ausdrücklich gestellt wird: „Soll ich nun sagen, wie es mit der teutschen Sprache steht?" Die Reichweite dessen, was die Autoren in der Antwort auf diese Frage für bemerkenswert halten, ist häufig wesentlich eingeschränkter. Von fast allen Texten kann man sagen, daß sie, jenseits der intern-wissenschaftlichen Auseinandersetzung, Beiträge zur öffentlichen Sprachdiskussion sind. Das ist nicht Ergebnis der Auswahl, sondern Merkmal der Auseinandersetzung mit dem Thema Gegenwartssprache im 19. Jahrhundert. Es ist die Dominanz der historischen und historisch vergleichenden Sprachbetrachtung in der akademischen Germanistik, die erklärt, warum unter den Autoren dieses Bandes die professionellen Sprachwissenschaftler in der Minderzahl sind und warum die, die sich äußern, dazu vorzugsweise nicht das im engeren Sinne wissenschaftliche Forum wählen. Die im Titel genannten begrenzenden Daten 1800 und 1880 sind pragmatisch begründet. Sie schließen den Zeitraum kritischer Reflexion über die deutsche Sprache ein, über den, verglichen mit der Zeit davor und danach, auffallend wenig bekannt ist. Traut man nämlich den Handbüchern, so hat es im 19. Jahrhundert nur zwei bemerkenswerte Probleme gegeben: die Orthographie und die Fremdwörter 5 . Der Band soll diesen Eindruck korrigieren und eine Lücke schließen zwischen der bekannten Sprachdiskussion der letzten Jahrzehnte des 18. Jahr4

5

Die einschränkenden Kriterien erklären, warum z. B. W. v. Humboldt fehlt, warum die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft kaum zur Geltung kommt und warum keine Beiträge zur Sprache der Verwaltung oder anderer spezieller Kommunikationsbereiche aufgenommen sind. Diesen Eindruck vermittelt z. B. die Einführung „Germanistische Sprachpflege" von Greule und Ahlvers-Liebel (Bibl. C 12). Unbefriedigend bleibt auch das ambitionierte Handbuch „Sprachgeschichte". Für den Purismus und die Orthographiereform enthält es besondere Artikel, die auch das 19. Jahrhundert behandeln. Informationen darüber hinaus könnte man in den Beiträgen zur „Sprachpflege" (Bibl. C 23) und zur „Sprachnormierung und Sprachkritik" (Bibl. C l l ) erwarten; beide sind jedoch eher systematisch als historisch angelegt. Wo man etwas davon erfährt, daß die deutsche Sprache den Zeitgenossen im 19. Jahrhundert, vor 1870/80 und jenseits von Rechtschreibung und Fremdwörtern, in mancherlei Hinsicht ein Problem gewesen ist, ist der Artikel von Klaus von See über „Politisch-soziale Interessen in der Sprachgeschichtsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts" (Bibl. C 26).

Textgestaltung

VII

hunderte 6 , an die der Beitrag von Campe den Anschluß herstellt, und den gleichfalls bekannten Aktivitäten des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, den „Antibarbari" und der modernen Sprachkrise in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 7 . Die Daten begrenzen also nicht eine inhaltlich und hinsichtlich ihrer Ziele bestimmbare eigenständige Epoche der Sprachkritik (der entscheidende Einschnitt scheint eher in der Jahrhundertmitte zu liegen), schon gar nicht sind sie als Vorschlag zur Periodisierung der jüngeren deutschen Sprachgeschichte zu verstehen 8 . Es ist ohnehin nicht damit zu rechnen, daß die Periodisierung der Sprachkritik immer zusammenfallt mit den Entwicklungsphasen der Sprache, die das Objekt der sprachkritischen Reflexion ist. Fast überflüssig zu sagen, daß weder die abgedruckten Texte noch die umfänglichere „Zeittafel" in der Bibliographie ein vollständiges Bild der Reflexion über die deutsche Sprache im 19. Jahrhundert ergeben. Auch wenn man sich auf den oben gekennzeichneten Ausschnitt beschränkt, könnte eine systematische Durchsicht der literarischen, kulturellen und politischen Zeitschriften und der Vorwörter und Einleitungen in den Stilistiken, Rhetoriken, Grammatiken des 19. Jahrhunderts mit Sicherheit eine unbestimmte Vielzahl weiterer Zeugnisse zutage fördern. Ich denke jedoch, daß die gebotene Auswahl das angestrebte Ziel, die wesentlichen inhaltlichen Standpunkte und das Nebeneinander unterschiedlicher Darstellungsformen einigermaßen zuverlässig zu repräsentieren, erreicht. Hinsichtlich der Darstellungsformen erfüllt der Band einen ursprünglich nicht geplanten Nebenzweck: Er vermittelt, vergleichbar den im 19. Jahrhundert beliebten Prosasammlungen, einen Eindruck von der Bandbreite der Genres und Stile deutscher Prosa in Publizistik und Wissenschaft.

Textgestaltung Grundprinzip für die Neuveröffentlichung war es, die Erstdrucke der jeweiligen Texte möglichst ohne Veränderungen zu reproduzieren. Insbesondere blieben die individuellen und zeittypischen grammatischen Besonderheiten sowie Orthographie und Interpunktion grundsätzlich unangetastet, da es bei diesen Texten natürlich interessant und reizvoll ist, die inhaltlichen Aussagen über den Zustand der deutschen 6 7 8

Vgl. dazu Bibl. A 1—35 und die Literaturhinweise in Kap. 1.2. Vgl. dazu Bibl. C 1, 6 und besonders 21. Zum Problem der Periodisierung siehe: Zur Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte. Prinzipien — Probleme — Aufgaben. Hrsg. von J. Schildt. Berlin (DDR) 1982 (Ling. Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 88). — W. Wolf: Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch [...]. Hrsg. v. W. Besch, O. Reichmann, St. Sonderegger. Berlin/New York 1984,1. Halbband, 8 1 5 - 8 2 3 . - Speziell zur Sprachgeschichte vom 18. Jahrhundert bis heute: P. v. Polenz im Sammelband von Cherubim und Mattheier (siehe Anm. 1).

VIII

Vorwort

Sprache, der das Thema ist, mit den sprachlichen Formen zu vergleichen, in denen die Autoren über dieses Thema reden. Es wurde sogar auf die „stillschweigende Korrektur offensichtlicher Druckfehler" verzichtet, weil die Entscheidung, was ein offensichtlicher Druckfehler ist, sich nicht selten, vor allem bei den Texten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als schwierig erwies. Auf Druckfehler, die das Textverständnis erschweren, wird gelegentlich in den „Anmerkungen des Herausgebers" aufmerksam gemacht. — Bewahrt blieben auch die vielfaltigen, gelegentlich bei einem Autor wechselnden Formen der drucktechnischen Auszeichnung sprachlicher Ausdrücke und Äußerungen. Dennoch erreicht der Neudruck in mancherlei Hinsicht nicht die Originaltreue eines Faksimiledrucks. Abweichungen betreffen die folgenden Punkte: — Die Mehrzahl der Textvorlagen ist im Fraktursatz gedruckt; für die Neuveröffentlichung gilt generell die Antiqua. — Die im Fraktursatz übliche Auszeichnung fremdsprachlicher Ausdrücke durch die Antiqua wurde durch Kapitälchen ersetzt. — Zitate stehen in Anführungszeichen am Anfang und am Ende. Die ältere Praxis, die Anführungszeichen für die Dauer des Zitats am Zeilenanfang zu wiederholen, wurde aufgegeben. Desgleichen wurden andere formale Mittel zur Abgrenzung von Satzzitaten zugunsten von Anführungszeichen eliminiert. — Absätze werden in den meisten Vorlagen ohne besonderen Zeilenabstand durch eingerückte Zeile gekennzeichnet. Dieser Praxis folgt die Neuveröffentlichung vereinheitlichend für alle Texte. Zeilenabstände kommen nur dann vor, wenn ein Autor entgegen seiner sonstigen Praxis den Beginn eines Abschnitts selbst durch einen größeren Abstand betont. — In den Druckvorlagen stehen Anmerkungen der Autoren, angezeigt durch hochgestellte Sternchen im Text, in der Regel unten auf der jeweiligen Seite. Auch dieses Prinzip wurde vereinheitlichend auf alle Texte ausgedehnt, um die Anmerkungen der Textverfasser von denen des Herausgebers deutlich zu unterscheiden. Zusätze des Herausgebers sind die dem eigentlichen Text vorangestellten Informationen über den Titel des Werkes und das Erscheinungsjahr. Steht der Titel ohne vorangestelltes Sternchen, stimmt er mit dem Originaltitel des Aufsatzes bzw. des Buchkapitels überein. Titel mit Sternchen wurde'n, in der Regel in Anlehnung an prägnante Formulierungen im Text, vom Herausgeber dann formuliert, wenn die Druckvorlage nur eine numerische Kapitelzählung enthält oder wenn Anfang oder Ende des hier abgedruckten Textes nicht mit Anfang oder Ende des Originaltextes bzw. eines seiner Kapitel übereinstimmt. Der letztgenannte Fall wird durch drei Punkte in eckigen Klammern gekennzeichnet. Zusätze des Herausgebers sind ferner die hochgestellten Dezimalzahlen, mit denen auf die Anmerkungen im Kommentarteil verwiesen wird.

Kommentierung

IX

Kommentierung Die Einzelkapitel enthalten dem Text vorangestellte „Einführende Bemerkungen", „Literaturhinweise" und, dem Text folgend, „Anmerkungen des Herausgebers. Die einführenden Bemerkungen richten sich in der Regel weniger auf den Text als auf den Autor, den zeitlichen oder sachlichen Zusammenhang, in dem der Text entstanden ist, oder das größere Werk, von dem er ein Teil ist. Sie sind nicht standardisiert, sondern orientieren sich am einzelnen Fall. Informationen über den Verfasser, die bei vergleichsweise Unbekannten wie v. Steigentesch und Du BoisReymond sinnvoll sind, entfallen bei Goethe; eine Einbettung in den Zusammenhang eines größeren Werkes, wie bei Arndt, erübrigt sich bei Beiträgen, die als abgeschlossene Aufsätze veröffentlicht wurden. Mit den „Literaturhinweisen" ist keine Vollständigkeit angestrebt. Sie sollten als erste Hilfestellung für den aufgefaßt werden, der sich intensiver mit einem Autor beschäftigen will, der sich über den abgedruckten Text hinaus mit Problemen der Sprache auseinandergesetzt hat. Die Arbeit an den „Anmerkungen des Herausgebers" wurde beeinträchtigt von der Unsicherheit über den erwartbaren Leser eines Buches, das für die akademische Lehre geplant war, schließlich aber leider die Gestalt einer „Bibliotheksausgabe" angenommen hat. Das Ergebnis ist ein eher sparsamer Gebrauch von Anmerkungen, der vor allem von zwei Gesichtspunkten geleitet war. Auf Anmerkungen wurde verzichtet, wenn die entsprechenden Informationen einem der zugänglichen Konversationslexika entnommen werden können. Anmerkungen wurden bevorzugt dann gemacht, wenn bibliographische Hinweise und Erläuterungen geeignet schienen, die Auseinandersetzung mit Problemen der Sprache, insbesondere mit der Entwicklung der deutschen Sprache und ihrer kritischen Verarbeitung im 18. und 19. Jahrhundert zu fördern. — Um Platz zu sparen, wurde in den Anmerkungen häufig auf die vollständigen Literaturangaben in der „Bibliographie" am Ende des Bandes, gelegentlich auch auf die „Literaturhinweise" eines einzelnen Kapitels verwiesen. Der „Thematische Wegweiser" ist ein Versuch, die wichtigsten und wiederkehrenden Gegenstände und Probleme der Sprachkritik im 19. Jahrhundert in einem systematisch geordneten Überblick zu präsentieren. Er ersetzt das übliche Schlagwortregister. Die Gliederung und die Begrifflichkeit des Überblicks folgt möglichst eng der Wahrnehmung und den Ausdrucksformen derer, die in diesem Band zu Worte kommen. Die denkbare Anlehnung an die Systematik des Gegenstandes und der sprachbezogenen Disziplinen und Teildisziplinen, die die gegenwärtige linguistische Tätigkeit reguliert, erschiene mir irreführend, weil sie theoretische Positionen und vor allem einen Grad an Ausdifferenzierung suggeriert, die den Sprachforschern des 19. Jahrhunderts, zumal den nicht-akademischen, noch fremd waren.

χ

Vorwort

Nicht unbeachtet bleiben darf die Mitarbeit meiner studentischen Hilfskraft bei der Zusammenstellung und Herausgabe der Dokumentation. Herr Römhild hat bei der Suche nach geeigneten Texten mitgewirkt, vor allem aber übernahm er die undankbaren Teile der Arbeit. Auf zahllosen Bibliotheksgängen hat er die Texte beschafft, kopiert, Namen identifiziert, bibliographische Daten erhoben und sich Aufgaben unterzogen wie der herauszufinden, warum die „florentinischen Pandekten" florentinisch sind. Inzwischen ist er zum Experten im Berliner Bibliothekswesen herangereift. Von ihm stammt auch das Personenregister 9 .

9

Die beiden Register beziehen sich ausschließlich auf die herausgegebenen Texte, nicht auf die kommentierenden Teile des Herausgebers.

Inhalt Vorwort: Textauswahl, Textgestaltung und Kommentierung

V

1. Joachim Heinrich Campe (1746-1818) 1.1. Einführende Bemerkungen — 1.2. Literaturhinweise — 1.3. Text: Was ist Hochdeutsch? Inwiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden? (1795) — 1.4. Anmerkungen des Herausgebers

1

2. Jean Paul (1763-1825) 2.1. Einführende Bemerkungen — 2.2. Literaturhinweise — 2.3. Text: Fragment über die deutsche Sprache: Ihr Reichthum (1804) — 2.4. Anmerkungen des Herausgebers

24

3. Karl Wilhelm Kolbe (1759-1835) 3.1. Einführende Bemerkungen — 3.2. Literaturhinweise — 3.3. Text: Armut der deutschen Sprache in manchen Fächern und die Ursachen dieser Armut (1806/1818) — 3.4. Anmerkungen des Herausgebers

32

4. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) 4.1. Einführende Bemerkungen — 4.2. Literaturhinweise — 4.3. Text: Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft (1808) — 4.4. Anmerkungen des Herausgebers

42

5. Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) 5.1. Einführende Bemerkungen — 5.2. Literaturhinweise — 5.3. Text: Achtung der Muttersprache (1810) — 5.4. Anmerkungen des Herausgebers

56

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826) 6.1. Einführende Bemerkungen — 6.2. Literaturhinweise — 6.3. Text: Ein Wort über deutsche Litteratur und deutsche Sprache (1812) — 6.4. Anmerkungen des Herausgebers

63

7. Christian Gottfried Körner ( 1 7 5 6 - 1831)/Friedrich Schlegel (1772-1829) 7.1. Einführende Bemerkungen — 7.2. Literaturhinweise — 7.3. Text: Ueber die deutsche Litteratur. Aus einem Briefe an den Herausgeber des deutschen Museums/Antwort des Herausgebers (1812) — 7.4. Anmerkungen des Herausgebers

77

XII

Inhalt

8. Adam Müller (1779-1829) 8.1. Einführende Bemerkungen — 8.2. Literaturhinweise — 8.3. Text: *Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen? (1816) — 8.4. Anmerkungen des Herausgebers

96

9. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) 9.1. Einführende Bemerkungen — 9.2. Literaturhinweise — 9.3. Text: Deutsche Sprache (1817) — 9.4. Anmerkungen des Herausgebers

108

10. Ernst Moritz Arndt (1769-1860) 10.1. Einführende Bemerkungen — 10.2. Literaturhinweise — 10.3. Text: *Soll ich nun sagen, wie es mit der teutschen Sprache steht? (1818) — 10.4. Anmerkungen des Herausgebers

115

11. Jakob Grimm (1785-1863) 11.1. Einführende Bemerkungen — 11.2. Literaturhinweise — 11.3. Text: Jean Paul's neuliche Vorschläge, die Zusammensetzung der deutschen Substantive betreffend (1819) — 11.4. Anmerkungen des Herausgebers

121

12. Jean Paul (1763-1825) 12.1. Einführende Bemerkungen — 12.2. Literaturhinweise — 12.3. Text: Fragment über die deutsche Sprache (1825): Sprachautorität / Ausrottung des Miston-S in Doppelwörtern — 12.4. Anmerkungen des Herausgebers

129

13. Wilhelm Hauff (1802-1827) 13.1. Einführende Bemerkungen — 13.2. Literaturhinweise — 13.3. Text: Die deutsche Literatur (1826) — 13.4. Anmerkungen des Herausgebers

134

14. Ludwig Börne (1786-1837) 14.1. Einführende Bemerkungen — 14.2. Literaturhinweise — 14.3. Text: Bemerkungen über Sprache und Styl (1827) — 14.4. Anmerkungen des Herausgebers

139

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830) 15.1. Einführende Bemerkungen — 15.2. Literaturhinweise — 15.3. Text: *Das Loos der armen, deutschen Sprache! (1828) — 15.4. Anmerkungen des Herausgebers

145

16. Ludolf Wienbarg (1802-1872) 16.1. Einführende Bemerkungen — 16.2. Literaturhinweise — 16.3. Text: *Die Ursprünglichkeit der deutschen Sprache (1834) — 16.4. Anmerkungen des Herausgebers

171

17. Theodor Mündt (1808-1861) 17.1. Einführende Bemerkungen — 17.2. Literaturhinweise — 17.3. Text: Allgemeiner Charakter der deutschen Prosa (1837) — 17.4. Anmerkungen des Herausgebers

176

Inhalt

XIII

18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) 18.1. Einführende Bemerkungen — 18.2. Literaturhinweise — 18.3. Text: *Die jetzige Größe und Vollkommenheit der deutschen Sprache und Literatur (1838) — 18.4. Anmerkungen des Herausgebers

184

19. Berthold Auerbach (1812-1882) 19.1. Einführende Bemerkungen — 19.2. Literaturhinweise — 19.3. Text: Die volksthümliche Sprache nur bei freien Völkern und durch die freie mündliche Rede / Einzelnes über die volksthümliche Sprache, ihre Hindernisse und ihre Förderung (1846) — 19.4. Anmerkungen des Herausgebers

193

20. J. F 20.1. Einführende Bemerkungen — 20.2. Literaturhinweise — 20.3. Text: Ein frommer Wunsch in Sachen deutscher Rede (1846) — 20.4. Anmerkungen des Herausgebers

203

21. Karl Ferdinand Becker (1775-1849) 216 21.1. Einführende Bemerkungen — 21.2. Literaturhinweise — 21.3. Text: *Die Entwicklung der deutschen Sprache in der logischen Richtung und ihre Vergeistigung (1848) — 21.4. Anmerkungen des Herausgebers 22. Arthur Schopenhauer (1788-1860) 22.1. Einführende Bemerkungen — 22.2. Literaturhinweise — 22.3. Text: Ueber Schriftstellerei und Stil (1851) — 22.4. Anmerkungen des Herausgebers

227

23. Jacob Grimm (1785-1863) 248 23.1. Einführende Bemerkungen — 23.2. Literaturhinweise — 23.3. Text: *Die alte und die neue Sprache (1854) — 23.4. Anmerkungen des Herausgebers 24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868) 256 24.1. Einführende Bemerkungen — 24.2. Literaturhinweise — 24.3. Text: Von der deutschen Pedanterei (1854) — 24.4. Anmerkungen des Herausgebers 25. Heinrich Rückert (1823-1875) 271 25.1. Einführende Bemerkungen — 25.2. Literaturhinweise — 25.3. Text: Die deutsche Schriftsprache der Gegenwart und die Dialekte (1864) — 25.4. Anmerkungen des Herausgebers 26. Ferdinand Kürnberger (1821-1879) 306 26.1. Einführende Bemerkungen — 26.2. Literaturhinweise — 26.3. Text: Sprache und Zeitungen (1866/1877) — 26.4. Anmerkungen des Herausgebers

XIV

Inhalt

27. Rudolf Hildebrand (1824-1894) 27.1. Einführende Bemerkungen — 27.2. Literaturhinweise — 27.3. Text: Das Hauptgewicht sollte auf die gesprochene Sprache gelegt werden (1868) — 27.4. Anmerkungen des Herausgebers

317

28. Friedrich Nietzsche (1844-1900) 28.1. Einführende Bemerkungen — 28.2. Literaturhinweise — 28.3. Text: *Die gras- und baumlose Wüste des Alltagsdeutsches (1873) — 28.4. Anmerkungen des Herausgebers

331

29. Emil du Bois-Reymond (1818-1896) 29.1. Einführende Bemerkungen — 29.2. Literaturhinweise — 29.3. Text: *Ich träume eine Kaiserliche Akademie der deutschen Sprache (1874) — 29.4. Anmerkungen des Herausgebers

339

Bibliographie zur Sprachbewußtseinsgeschichte und zur Sprachkritik im 19. Jahrhundert A. Zeugnisse von 1780-1880. Eine Zeittafel B. Textsammlungen C. Darstellungen

350 350 361 361

Thematischer Wegweiser

364

Personenregister

368

1. Joachim Heinrich Campe (1746 — 1818) 1.1. Einführende Bemerkungen Der Aufsatz Campes gehört eigentlich nicht in einen Band sprachkritischer Zeugnisse des 19. Jahrhunderts. Dies weniger, weil er schon 1795 veröffentlicht wurde — geschichtliche Epochen pflegen sich nicht penibel an die im Kalender vorgesehenen Jahrhundertgrenzen zu halten, sondern weil die Titelfrage, insofern sie auch eine Frage nach dem landschaftlichen Ort des „Hochdeutschen" war, im 19. Jahrhundert im wesentlichen als beantwortet galt. Die 1782 in Reaktion auf einen Aufsatz Adelungs im „Magazin für die deutsche Sprache" entfachte öffentliche Diskussion über die Frage „Was ist Hochdeutsch?", zu der Campe 1795 verspätet einen Beitrag leistet, hatte schon 1782, zumindest was die von Adelung vertretene Position betrifft, anachronistische Züge. Nach 1800 war die Antwort für fast jeden klar: das gute und richtige Deutsch ist das Deutsch der Dichter und Schriftsteller der klassischen Epoche deutscher Literatur seit ca. 1770. In ähnlicher Weise bezogen sich die Autoren des 19. Jahrhunderts auf die ebenfalls lebhafte Sprachdiskussion, die zwei Jahre vor der Debatte über die Frage „Was ist Hochdeutsch?" die Schrift „Über die deutsche Literatur" von Friedrich II. von Preußen ausgelöst hatte, als auf etwas Vergangenes. Gleiches kann man schließlich über die Aktivitäten der Deutschen Deputation der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zwischen 1792 und 1796 und die von Campe 1795 angeregten und organisierten „Beiträge zur weiteren Ausbildung der deutschen Sprache" sagen, die er 1795 und 1797 herausgab und deren erster Band den hier abgedruckten Aufsatz enthielt. Der Aufsatz Campes hat in dieser Sammlung also die Funktion eines Prologs, der den Anschluß an die Sprachdiskussion der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts herstellen und zugleich deutlich machen kann, daß die Zeit zwischen 1780 und 1810 in der Sprachbewußtseinsgeschichte eine Periode merklichen Wandels ist.

1.2. Literaturhinweise Textvorlage Joachim Heinrich Campe: Was ist Hochdeutsch? In wiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden? In: Beiträge zur Beförderung der fortschreitenden Ausbildung der Deutschen Sprache. Von einer Gesellschaft von Sprachfreunden. Erstes Stück. Braunschweig: In der Schulbuchhandlung 1795, 145-184.

2

1. Joachim Heinrich Campe (1746 — 1818)

Weitere Literatur zur Sprachdiskussion von 1780—1800 A 1: Friedrich II. von Preußen und die deutsche Sprache und Literatur: siehe Bibl. A 2 - 5 , 7, 22; Β 7. A 2: Über die Frage: Was ist Hochdeutsch?: siehe Bibl. A 6 - 2 0 , 28. A 3: Die „Beiträge zur deutschen Sprachkunde" der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: siehe Bibl. A 23, 25, 26, 32. — Die beiden Sammlungen von 1793 und 1796 enthalten insgesamt 18 Beiträge folgender Autoren: A. Burja, J. J. Engel, C. Garve, F. Gedike, Graf v. Herzberg, G. W. Leibniz (Wiederabdruck der „Unvorgreiflichen Gedanken"), J. H. L. Meierotto, K. Ph. Moritz, K. W. Ramler, W. A. Teller u. J. F. Zöllner. A 4: Campe und die „Gesellschaft von Sprachfreunden": siehe Bibl. A 29. Die drei Bände von 1795, 1796 und 1797 enthalten insgesamt 104 Beiträge folgender Autoren: Affsprung, Anton, Bahrs, Campe, Cludius, Ebert, Eschenburg, Fischer, Gedike, Heinzelmann, Heynatz, Kinderling, Löwe, Mackensen, Mayer, Mertian, Meyer, Petersen, Reß, Rüdiger, Schulze, v. Strengschwund, Wagner, v. Winterfeld. A 5: Campe Proben einiger Versuche von deutscher Sprachbereicherung. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1791. Zweiter Versuch deutscher Sprachbereicherung oder neue vermehrte Ausgabe der lten. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1792. Über die Reinigkeit und Bereicherung der Deutschen Sprache. Dritter Versuch oder verbesserte und vermehrte Ausgabe der beiden ersten Versuche. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1794. Nachtrag und Berichtigung zum ausübenden Theile der Campischen Preisschrift über die Reinigung und Bereicherung der deutschen Sprache. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1794. Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuch. 2 Bde. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1801. Versuch einer genauem Bestimmung und Verdeutschung der für unsere Sprachlehre gehörigen Kunstwörter. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1804. Zu Hrn. Johann Paul Richter's Vorlesung über Campe's Sprachreinigkeit. In: Neue Berlinische Monathsschrift 7 (1805), Bd. 13, 8 9 - 1 2 1 . Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Teile. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1807-1811.

1.2. Literaturhinweise Β:

3

Bahner, Werner (Hrsg.): Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätaufklärung. Der Beitrag Johann Christoph Adelungs. Berlin [DDR] 1984. Baudusch-Walker, Renate: Klopstock als Sprachwissenschaftler und Orthographiereformer. Berlin [DDR] 1958. Daniels, Karlheinz: Erfolg und Mißerfolg der Fremdwortverdeutschung. Schicksal der Verdeutschungen von J . H. Campe. In: Muttersprache 69 (1959), 4 6 - 5 4 , 105-114, 141-146. Fischer, Larry u. a.: Untersuchungen zur Sprache Kants. Hamburg 1970. Gessinger, Joachim: Sprache und Bürgertum. Zur Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1980. Henne, Helmut: Das Problem des Meißnischen Deutsch oder „Was ist Hochdeutsch" im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Mundartforschung 35 (1968), 109-129. Hofmann, Reinhold: Justus Moser und die deutsche Sprache. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 21 (1907), 2 0 9 - 2 3 2 . Müffelmann, Friedrich: Karl Philipp Moritz und die deutsche Sprache. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Sprache im Zeitalter der Aufklärung. Diss. Greifswald 1930. Nerius, Dieter: Untersuchungen zur Herausbildung einer nationalen Norm der deutschen Literatursprache im 18. Jahrhundert. Halle (Saale) 1967. Nickisci, Reinhard M. G.: K. Ph. Moritz als Stiltheoretiker. In: GermanischRomanische Monatsschrift 19 (1969), 2 6 2 - 2 6 9 . Polenz, Peter v.: Altes und Neueis zum Streit über das Meißnische Deutsch. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Bd. 4. Tübingen 1986, 1 8 3 - 2 0 1 . Rösser, Hans-Otto: Bürgerliche Vergesellschaftung und kulturelle Reform. Studien zur Theorie der Prosa bei Johann Gottfried Herder und Christian Garve. Frankfurt a. M./Bern/New York 1986. Sahr, Julius: Gottfried August Bürger als Lehrer der deutschen Sprache. In: Festschrift zum siebzigsten Geburtstag Rudolf Hildebrands. Hrsg. v. Otto Lyon. Leipzig 1894, 3 1 0 - 3 5 4 . Schach, Adolf: Nicolais Bemühungen um die deutsche Sprache. Diss. Gießen 1912. Schiewe, Jürgen: Joachim Heinrich Campes Verdeutschungsprogramm. Überlegungen zu einer Neuinterpretation des Purismus um 1800. In: Deutsche Sprache 1988, H. 1, 1 7 - 3 4 .

4

1. Joachim Heinrich Campe (1746 — 1818)

Schildt, Joachim (Hrsg.): Erbe — Vermächtnis und Verpflichtung. Zur sprachwissenschaftlichen Forschung in der Geschichte der AdW der DDR. Berlin [DDR] 1977. Spies, Bernhard: Zur vorklassischen Theorie einer Nationalliteratur und der Auseinandersetzung um Friedrich II. Schrift „De la litterature allemande". In: Literatur für Leser 1986, H. 1, 1 — 16. Strohbach, Margit: Johann Christoph Adelung. Ein Beitrag zu seinem germanistischen Schaffen mit einer Bibliographie seines Gesamtwerkes. Berlin/ New York 1984.

1.3. Text W a s ist H o c h d e u t s c h ? In w i e f e r n u n d v o n w e m d a r f u n d m u ß es w e i t e r a u s g e b i l d e t w e r d e n ? (1795) Die nähere Veranlassung, welche ich hatte, diese, bekanntlich schon oft verhandelten Fragen noch einmahl zur Sprache zu bringen, ist folgende. Ich hatte in einigen Stellen meiner Preisschrift mich wider Hrn. A d e l u n g s bekannte Meinung erkürt: „daß die Hochdeutsche Sprache weiter nichts, als die Sprech=art des sudlichen Obersachsens sei; daß die einzige ächte Quelle dieser Sprache oder M u n d = a r t , wie Hr. A. sie zu nennen noch immer fortfährt, die Umgangssprache der höhern Klassen in jener Landschaft sei, und daß daher kein Schriftsteller, als Schriftsteller, sich anmaßen dürfe, etwas daran ändern oder bessern zu wollen." Hr. Α., welcher aus meinem Widerspruche gegen diese seine Behauptung vermuthete, daß ich unmöglich alles, was er beinahe in allen seinen Schriften zur Begründung derselben mit einem der Wichtigkeit jener Sätze* angemessenen Eifer beigebracht hat, gelesen haben könnte, erzeigte mir, da ich in einer andern Sprach=angelegenheit an ihn geschrieben hatte, die Aufmerksamkeit, mir in seinem Antwortsschreiben die Gründe, worauf er jene Sätze bauen zu müssen glaubt; mit einer Ausführlichkeit auseinander zu setzen, die mich beschämte und rührte. * Wichtig sind diese Sitze deswegen, weil von ihrem Stehen oder Fallen die Entscheidung der Fragen abhängt: ob wir in Deutschland mit unserer Sprache und mit unserm Geschmacke auf dem rechten Wege einer weitern Ausbildung und Vervollkommnung, oder, wie Hr. A. meint, auf dem Wege zur Barbarei sind? Ob die Bereicherung unserer Sprache aus den Sprech=arten, aus den alten Denkmählern u. s. w. ein verdienstliches Werk, oder ein Verbrechen gegen die Reinigkeit und Einheit unserer Sprache ist? Und endlich: ob der Sprachgebrauch uns, bis zu seinen widersinnigsten Unregelmäßigkeiten hinab, in allen Fällen heilig und unverletzlich sein muß, oder ob er, wie alles, was von Menschen herrührt, auch von Menschen bei Gelegenheit berichtiget und verbessert werden darf?

1.3. Text

5

Seine Vermuthung war gegründet; ich hatte damahls wirklich noch nicht a l l e s gelesen, was sich in seinen Schriften darüber findet. Ich antwortete ihm daher aus der Fülle herzlicher Dankbarkeit für die große Mühe, die er zu meiner Belehrung sich hatte geben wollen: „daß ich den Inhalt seines, eben so lehrreichen, als gütigen Schreibens, in den ruhigsten Stunden, die mir zu Theil werden würden, mit der größten Aufmerksamkeit, deren ich fähig wire, und mit der ganzen unbefangenen Gelehrigkeit, die ich wirklich in mir fühlte, überlegen und wieder überlegen wollte; daß ich zugleich alles, was er über diesen Gegenstand zu oft wiederholten mahlen geschrieben hätte, von vorn an noch einmahl, und zwar mit großem Bedachte lesen, erwägen und prüfen wollte; daß ich dabei vergessen wollte alles, was ich selbst bis jetzt darüber gedacht, für mich entschieden und auch öffentlich geäußert hätte: und was mir dann, nach wiederholtem Nachdenken, und nach vollendeter Prüfung, als Wahrheit einleuchten würde, d a s sollte mir — es möchte nun mit der Ueberzeugung, die ich bisjetzt gehabt hätte, übereinstimmen oder nicht — Wahrheit sein, und dazu würde ich mich dann auch öffentlich bekennen." Dis Geschäft ist jetzt geendiget; und ich lege nun hiermit dar, was sich für mich daraus ergeben hat. Daß dis nicht in allen Stücken mit Hrn. A. Behauptungen übereinkommen wird, thut mir leid; nicht um seinetwillen — denn was gewönne oder verlöre wol ein Mann, wie er, dabei, ob ein Anfänger in der tiefern Kenntniß unserer Sprache, wie ich, ihm durchgängig beipflichtet oder nicht? — sondern um mein selbst willen, weil ich über den Ertrag meines eigenen Forschens nie ruhiger und zufriedner bin, als wenn ich finde, daß die Untersuchungen der ersten Männer desjenigen Fachs, zu welchem die Sache gehört, einen gleichen Ausfall gaben. Aber es kam hier nicht auf das, was ich wünschte oder nicht wünschte, sondern auf das an, was mir als Wahrheit oder als Irrthum einleuchten würde; und davon will ich nunmehr Rechenschaft geben. Ich will zuvörderst in nackten Sätzen anzeigen, in welchen Stücken ich mit Hrn. A. einverstanden bin, und in welchen hingegen ich von ihm abweichen muß. Dann sollen, in Ansehung der letzten, die Gründe folgen, die zu dieser Abweichung mich gezwungen haben. Ich räume also Hrn. Α., und zwar gern und mit Ueberzeugung, ein: 1. daß eine Sprache nicht anders, als in den engern Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens, entstehen und gangbar werden könne; daß also auch 2. die Schriftsteller eben so wenig, als andre zerstreut lebende Menschen, eine Sprache jemahls e r f u n d e n und e i n g e f ü h r t haben*. Wer ein Buch in der Absicht, daß es gelesen werden sollte, schrieb, der mußte es nothwendig in einer Sprache schreiben, die schon da war. * Hr. A. hat mehrmahls geklagt, daß seine Gegner sich auf die Untersuchung dieser beiden Sätze gar nicht haben einlassen wollen. 1 Aber vermuthlich ging es Andern, wie mir; man hatte nichts dawider einzuwenden.

6

1. Joachim Heinrich Campe ( 1 7 4 6 - 1 8 1 8 )

3. Daß also auch die jetzt herrschende Deutsche Schriftsprache nicht von Schriftstellern e r f u n d e n , sondern, dem Wesentlichen nach, aus der Umgangssprache der Deutschen von ihnen geschöpft sei; 4. Daß diese Deutsche Schriftsprache, oder das sogenannte Hochdeutsche, auch nicht durch Aushebung aus allen Sprech=arten in demjenigen Sinne entstanden sey, worin Hr. A. diesen Ausdruck in seinen Widerlegungen zu nehmen scheint. Er pflegt nämlich diese, von der Gegenpartei behauptete Aushebung so vorzustellen und zu widerlegen, als ob die Meinung wäre, daß sie entweder von einem einzigen Manne, oder von mehren, nach vorhergegangener Uebereinkunft, planmäßig beschlossen und auf einmahl ausgeführt sei; eine Behauptung, die doch, so viel ich weiß, keinem von denen, mit welchen Herr. A. es hier zu thun hat, jemahls in den Sinn gekommen ist, gegen deren Anschuldigung vielmehr einige unter ihnen sich ganz bestimmt und ausdrücklich verwahrt haben*. Dieses Mißverständniß ist um so mehr befremdlich, da Hr. A. an andern Stellen (z. B. Magazin 2. B. 2. St. S. 33 und 34 in der Anmerk.) 3 selbst behauptet, daß unsere Schriftsprache d u r c h eine A u s h e b u n g des A l l g e m e i n s t e n , A n s t ä n d i g s t e n , S c h i c k l i c h s t e n und W ü r d i g s t e n aus allen M u n d = a r t e n , mit Weglassung dessen, was den Geist und Ausdruck des niedrigen Volks in der und jenen (jener) Provinz (Landschaft) athmete, entstanden sei. 5. Daß die Obersächsische Sprech=art zu unserer Hochdeutschen Schriftsprache, wie sie jetzt ist, mehr als alle Niederdeutschen Sprech=arten zusammengenommen, aber schwerlich mehr, vielleicht kaum so viel, als die Fränkische und Schwäbische, hergegeben habe. Denn ein großer, vielleicht der größte Theil unsers jetzigen H.D. 4 war schon lange, erst in Franken, dann in Schwaben, eine Reihe von Jahrhunderten hindurch Schriftsprache gewesen, ehe man im sechszehnten Jahrhunderte anfing, es nach andern Sprecharten, vornehmlich nach der Obersächsischen**, umzubilden. Und ungeachtet nun das, was aus der Fränkischen und Schwäbischen Sprech=art, die bis dahin Schriftsprache gewesen war, in dem Hochdeutschen übrig geblieben ist, sich auch in der Obersächsischen Sprech=art finden

* „Diese Aushebung ist bloß allmählich durch den Gebrauch der guten Schriftsteller und ihre Nachahmung im mündlichen Gebrauch der feinern Lebensart geschehen. So wie überhaupt die menschliche Sprache, so wie jeder Zweig derselben sich nach und nach gebildet hat, so auch die Schriftsprache, das Hochdeutsche. Die Aushebung derselben ist also eben so wenig an einen gewissen einfachen Zeitpunkt oder gewisse einzelne Personen gebunden, als die Bildung der Sprache selbst. Aber sie ist deswegen doch eben so gewiß geschehen, als diese, wenn wir gleich nicht auf jeden Schritt des Vorgangs mit Fingern deuten können." R ü d i g e r s n e u e s t e r Z u w a c h s . 1 s St. Seite 36. 2 ** Ich sage v o r n e h m l i c h : denn daß selbst L u t h e r , als er die bis dahin herrschend gewesene Oberdeutsche Schriftsprache in Sachsen auszubilden anfing, dabei nicht bloß aus der Obersichsischen Sprech=art, sondern auch mitunter, wiewol seltener, aus der Niedersdchsischen schöpfte, getraue ich mir gegen jeden Widerspruch zu behaupten.

1.3. Text

7

oder mit dieser ubereinstimmen mag: so ist es in das H. D. doch nicht aus dieser, sondern aus jener gekommen. 6. Daß also endlich auch jetzt, vergleichungsweise und im Ganzen genommen, keine andere Sprech=art in Deutschland mit unserer H. D. Schriftsprache, in ihrer ganzen Beschaffenheit, wie diese jetzt ist*, so viel Uebereinstimmendes, als die Obersächsische, hat; theils weil in dieser, als einer Mittelsprech=art, alle andere Sprech=arten mehr oder weniger zusammenfließen, theils aber auch, weil dieser Sprech=art, außer dem, was sie zur Bildung des H. D. unmittelbar beigetragen hat, auch vieles von demjenigen nicht fremd war, was aus der vorher herrschenden Fränkischen und Schwäbischen Schriftsprache in unserm jetzt gebräuchlichen H. D. übrig geblieben ist. In diesen sechs Punkten stimme ich also mit Hrn. A. völlig überein; in folgenden gehe ich von ihm ab: 1. daß unsere H. D. Schriftsprache, so wie sie jetzt ist, und die O.Sächsische Sprech=art e i n e r l e i sein sollen; 2. daß die übrigen Deutschen Sprech=arten, namentlich die O. D. und die N. D., zu dieser unserer Schriftsprache gar nichts beigetragen haben, und ferner gar nichts dazu beitragen dürfen und müssen; 3. daß die Schriftsteller, weil sie die Sprache nicht erfunden haben, auch zur A u s b i l d u n g derselben nicht mitwirken konnten, nicht wirklich mitgewirkt haben, nicht ferner dazu mitwirken dürfen und müssen; 4. daß die Schriftsprache eines Landes immer ganz genau die Sprech=art der höhern Klassen in der volkreichsten und blühendsten Landschaft sei; 5. daß zu einer schönen Schriftsprache eine s o l c h e Einheit in der Mannichfaltigkeit erfodert werde, als Hr. A. dazu verlangt, vermöge welcher gar nichts Hochdeutsch sein würde, was nicht auch zugleich Obersächsisch wäre; und endlich 6. daß die H. D. Sprache durch die Erweiterung und Ausbildung, die sie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, oder um uns ganz genau an Hrn. A. Behauptung zu halten, die sie seit 1760 durch nicht=sächsische Schriftsteller, besonders durch reichere Zuflüsse aus allen Deutschen Sprech=arten erfahren hat, nicht gewonnen, sondern verloren habe, und, zugleich mit dem guten Geschmacke, in Verfall gerathen sei. Wir wollen nun diese sechs abweichenden Sätze, einen nach dem.andern, besonders vornehmen, und die Gründe erwägen, die mich abhalten, Hrn. A. darin beizupflichten. * Denn wer kann sagen, wie dieses Verhältniß nach hundert Jahren, wenn die Schriftsprache fortfahren wird, sich aus allen Deutschen Sprech=arten zu bereichern, beschaffen sein wird; besonders wenn die übrigen Deutschen Landschaften ferner das Glück haben sollten, der Obersächsischen, an großen tonangebenden Schriftstellern, wie diese vormahls jenen, den Vorzug abzugewinnen!

8

1. Joachim Heinrich Campe (1746 — 1818)

Ich behaupte also: 1. daß u n s e r e j e t z i g e H. D . S c h r i f t s p r a c h e u n d d i e O b e r s ä c h s i sche L a n d s c h a f t s s p r a c h e , s e l b s t so g e n o m m e n , w i e d i e s e in den h 6 h e r n Klassen geredet w i r d , nicht v ö l l i g einerlei sind, sondern v i e l m e h r e b e n so, v i e l l e i c h t * n o c h ö f t e r u n d s t ä r k e r v o n e i n a n d e r a b w e i c h e n , als die G e s e l l s c h a f t s s p r a c h e d e r g e b i l d e t e n M e n s c h e n in N i e d e r s a c h s e n v o n u n s e r e r S c h r i f t s p r a c h e a b z u w e i c h e n p f l e g t . Hrn. A. entgegengesetzte Behauptung, nach der ich mich in der Bestimmung dieses Satzes richten mußte, enthält, genauer betrachtet, einen Widerspruch, wenigstens eine Begriffsverwechselung, durch deren bloße Aufdeckung ich mich von jeder andern Beweisführung lossagen könnte. Er behauptet nämlich erst: daß das H. D. nichts anders als die Obersichsische Landschaftssprache oder Mund=art (wofür ich lieber Sprech=art sage) sei; und fugt hiernächst die Einschränkung hinzu: w i e d i e s e l b e in den h ö h e r n K l a s s e n g e r e d e t w i r d , unter welchen h ö h e r n K l a s s e n er, wie ich hoffe, nicht die v o r n e h m e r n , sondern die g e b i l d e t e m aus allen Ständen, versteht**. Nun reden aber die gebildeten Menschen in allen Abtheilungen Deutschlandes, mithin auch in Ober=Sachsen, nicht die Landschaftssprache oder Sprech=art ihrer Gegend, sondern Deutschlands allgemeine Schriftsprache; nur freilich nicht so rein und lauter, wie gute Schriftsteller sie zu schreiben

* Ich sage v i e l l e i c h t , weil es unmöglich ist, einen strengen Beweis hierüber zu führen. Denn wer kann in Dingen dieser Art das m e h r und w e n i g e r nach Maß und Gewicht bestimmen! ** Ungeachtet Hr. A. sich an einigen Stellen wirklich so ausgedruckt hat, daß man nicht wohl umhin kann, das Gegentheil zu vermuthen. Denn Magaz. 1 Jahrg. 3 St. S. 17.5 sagt er ausdrucklich: „daß nicht der gelehrte, sondern der u n g e l e h r t e o b e r e S t a n d (was kann man sich hierbei anders denken, als den ungelehrten Adel mit Inbegriff der Fürstlichen?) es sei, der e i g e n t l i c h die S c h r i f t s p r a c h e g e b i l d e t habe," der sie also auch ohne Zweifel am reinsten und am richtigsten reden muß!! Daher denn auch manches in der Schreibung, z. B. ob die aus dem Griechischen entlehnten Wörter, der Aussprache und der Herleitung gemiß, mit einem k, oder vielmehr, wie die ungelehrten Vornehmen es zu schreiben gewohnt sind, mit einem C geschrieben werden müssen, nicht den bessern Einsichten der Gelehrten gemäß, (weil d i e s e an der A u s b i l d u n g der S p r a c h e g e r a d e den g e r i n g s t e n A n t h e i l haben!) auch nicht nach dem Bedürfnisse der untern Stände, die da, wo sie ein Κ in der Aussprache hören lassen sollen, auch ein Κ und nicht ein C vor den Augen haben wollen, (weil für d i e s e , wie er an einem andern Orte sagt, n i c h t H o c h d e u t s c h g e s c h r i e b e n w i r d ! ) sondern nur nach den Gewohnheiten der höhern oder vornehmern Klassen, und nach dem, was für diese die Verständlichkeit begünstiget, entschieden werden soll. (Ebend. S. 5.) Je höher oder vornehmer die Klasse ist, destomehr scheint sie, nach Hrn. Α., die reine Quelle der Sprache zu sein; daher denn zuweilen auch (wie ζ. B. Ebend. 4 St. Seit. 125.)6 sogar die Höfe (lieber Gott, die Höfe!!!) als die letzte und reinste Sprachquelle, ausdrücklich genannt werden! —

1.3. Text

9

pflegen. Wollte also Hr. A. seinen Satz: daß das H. D. nichts anders, als die O.Sächsische Landschaftssprache oder M u n d - a r t sei, wirklich gültig machen: so müßte er uns, nicht auf die gebildeten, sondern vielmehr gerade umgekehrt auf die u n g e b i l d e t e n Sachsen in den untersten Stinden, verweisen, weil nur d i e s e , nicht jene, es sind, welche die eigentümliche Landschaftssprache Sachsens reden. Das thut er nun aber nicht; und er hebt daher durch die hinzugefugte Einschränkung wirklich wieder auf, was, dem Hauptsatze nach, behauptet werden sollte. Ich wire mithin der Muhe, meinen Gegensatz beweisen zu müssen, überhoben; indem ich Hrn. A. nur zu antworten brauchte: daß, was er sonach von O.Sachsen behauptet, von a l l e n Deutschen Lindern gelte, indem in allen, ohne Ausnahme, die wirklich gebildeten Menschen Hochdeutsch reden. Aber ich will mehr thun, als ich zu thun brauchte. Ich will beweisen, daß selbst in dem, was die g e b i l d e t e n Obersachsen, indem sie Hochdeutsch reden, eigenthümliches haben und wodurch sie sich von andern Deutschen unterscheiden, manches enthalten ist, was dem allgemeinen Hochdeutschen Sprachgebrauche nicht nur, sondern auch, welches mir wichtiger ist, den Hochdeutschen Sprachihnlichkeitsregeln widerstrebt, also in der That nicht Hochdeutsch ist, oder nur mit Unrecht dafür gehalten werden kann. E r s t l i c h in Ansehung der A u s s p r a c h e . Allein um hierüber nicht in den Wind zu sprechen, müssen wir vor allen Dingen uns erst über die Regel vereinigen, nach welcher in streitigen Fillen entschieden werden soll, welche von zwei entgegengesetzten Aussprachen die richtige d. i. die Hochdeutsche sei. Hr. A. wird sagen, die Regel ist: der Hochdeutsche spricht wie der gebildete Obersachse zu sprechen pflegt; allein diese Regel erkennt das ganze übrige Deutschland, außer Obersachsen, keinesweges an, und sie kann daher auch nicht für gültig erkürt werden. Die Stimmen zu zihlen, und nach der Mehrheit zu entscheiden, ist auch nicht thunlich. Daß endlich das Urtheil einzelner Sprachlehrer, oder auch ganzer Gesellschaften von Sprachforschern oder Sprachlehrern, hier nicht mehr, als das Urtheil jedes andern Mitbürgers in dem Freistaate der Sprache und der Gelehrsamkeit, oder wie das jeder andern Gesellschaft gelte, darüber sind wir, meine ich, alle völlig einverstanden. Unter diesen Umstinden scheint mir schlechterdings kein anderes Entscheidungsmittel, als 1. die a l l g e m e i n e S c h r e i b u n g , wo diese Statt findet, und 2. der g r ö ß e r e W o h l l a u t , übrig zu seyn. Ich meine, man müsse in streitigen Fillen, diejenige Aussprache für die richtige oder für die wahre Hochdeutsche erküren, die theils mit der Art, wie das Wort a l l g e m e i n durch ganz Deutschland geschrieben wird, am meisten übereinkommt, theils aber auch, vergleichungsweise, die m i n d e s t e H i r t e oder R a u h i g k e i t in unsere Sprache bringt. Ohne diese beiden Stücke zur Regel anzunehmen, sehe ich durchaus kein Mittel, wie der Streit über irgend einen zweifelhaften Fall in der Aussprache jemahls beendiget werden könnte. Angenommen also, daß diese einzig anwendbare Regel für gültig erkürt werde, will ich nun einige, die Ober= Sächsische Sprech=art (und zwar nicht bloß in den

10

1. Joachim Heinrich Campe (1746—1818)

untern, sondern auch in den höhern, ja sogar gebildetem und gelehrten Klassen) unterscheidende Eigenheiten der Aussprache, welche dieser Regel nach nicht für Hochdeutsch gelten können, anfuhren; und ich will dabei absichtlich, nicht etwa die auffallendsten, sondern vielmehr nur solche ausheben, deren Dasein ich mit Hrn. A. eigenen Zeugnissen belegen kann. Ich übergehe daher z. B. das bekannte Unvermögen der Obersachsen, die Mitlaute b und p, d und t* gehörig zu unterscheiden, weil Hr. Α die Verwechselung dieser Buchstaben nur als ein Ueberbleibsel des Oberdeutschen angesehen wissen will (Lehrgeb. 1 Th. S. 75) 7 ; ungeachtet es weltkundig ist, daß man in jenem Lande, und nur in ihm, für nöthig gefunden hat und noch heute für nöthig findet, diese Laute durch die Beiwörter w e i c h und h a r t zu unterscheiden, weil man durch die Aussprache allein ihre Verschiedenheit nicht anzugeben vermag; ungeachtet jeder Deutsche, der entweder selbst in Obersachsen gewesen ist, oder mit Obersachsen, und zwar mit gelehrten Obersachsen Umgang gehabt hat, in der Bemerkung der Allgemeinheit dieses Unvermögens übereinstimmt, und ungeachtet selbst die Schriftsteller dieses Landes durch Fehler, die ihnen wider die Rechtschreibung entschlüpfen, indem sie z. B. b e t a u e r n für b e d a u e r n , h i n t e r n für h i n d e r n , schreiben, diese Unvollkommenheit ihrer Sprech=art deutlich genug an den Tag gelegt haben**. Aber ich thue, wie gesagt, auf dieses, wie auf ähnliche Beispiele, die Hr. A. nicht gelten lassen will, Verzicht, und hebe nur folgende aus. Nach Hrn. A. eigener Angabe läßt die Obersichsische Sprech=art das s vor t und ρ zu Anfange eines Worts, wie in S p a ß , S t e r n und S p r a c h e , ferner in fremden Wörtern, welche mit sl, sk, sm und sc anfangen, wie in S l a v e , S k e l e t , S m a r a g d und S cap u l i e r , ferner in dem st in der Mitte und am Ende einer Silbe, wenn ein r vorhergeht, wie in D u r s t und F ü r s t , nicht wie s sondern wie sch hören. Ich könnte, nach allem, was ich theils in Sachsen selbst, theils im Umgange mit gebohrnen Obersachsen an andern Orten zu bemerken Gelegenheit hatte, hinzufügen, daß man in diesem Lande (in welchem man gleichwohl die Schwaben auslacht, wenn diese b i s c h t und C h r i s c h t u s für b i s t und C h r i s t u s sprechen) auch V e r s c h und M a r s c h , für V e r s und M a r s , und k e h o r s c h a m e r oder vielmehr k o h r s c h a m e r Diener, für g e h o r s a m e r , hören läßt: aber weil Hr. A. auch dieser Bemerkung widerspricht, so werde sie gleichfalls auf die Seite geschoben. Da nun ganz Niederdeutschland wenigstens, das s in den obigen Fällen, als ein wirkliches s, und nicht als ein sch ausspricht; da ferner diese natürlichere Aussprache auch mit der allgemeinen Schreibung übereinkommt, nach welcher jene * Auch g und k, wodurch ζ. B. Hr. W e i ß e und andere Ober= Sächsische Schriftsteller verleitet werden, e i n d r i n g e n für e i n t r ä n k e n zu schreiben. ** Selbst L u t h e r machte sich, bevor seine Sprachkenntniß allgemeiner und fester wurde, durch die Ober=Sächsische Sprech=art verwöhnt, dieses Fehlers schuldig. Denn in der ersten Ausgabe seiner Bibelübersetzung liest man ζ. B. noch durchgängig g e p o r e n f ü r gebohren.

1.3. Text

11

Wörter mit einem bloßen s, und nicht mit einem sch, geschrieben werden, und da endlich, wo man die Wahl hat, und wo es nicht auf Klangnachbildung ankommt, der sanftere Laut s vor dem rauhern Laute sch doch wol unstreitig den Vorzug hat: so muß, unserer Regel zufolge, jene Obersächsische Aussprache, als eine fehlerhafte, im H. D. verworfen werden. Hr. A. sagt (Lehrgeb. 1 Th. S. 149): „daß die Meißnische Mund=art, wie die Schlesische und die Niedersächsische, oft da ein gedoppeltes d mit vorhergehendem geschärften Hülfslaute (Vocale) hören lasse, wo im H. D. nur ein einfaches nach einem gedehnten Hülfslaute gehört wird, z. B. B o d d e n , F a d d e n , F e d d e r , für B o d e n , F a d e n , F e d e r . " Es ist doch merkwürdig, daß er hier selbst d a s H o c h d e u t s c h e von d e m M e i ß n i s c h e n unterscheidet, da ihm doch sonst überall Meißnisch oder Obersächsisch und Hochdeutsch einerlei ist. Daß übrigens jene Aussprache eine unrichtige sei, gesteht er selbst ein. Nach Hrn. A. (Ebend. Seit. 144) wird im H. D., also auch, weil dieses bei ihm einerlei ist, im Obersichsischen, das b zwischen zwei Selbstlauten und nach dem 1 und r oft als ein w ausgesprochen; z. B. B i w e l , L i e w e , s i e w e n , P 6 w e l , S c h w a l w e , E l w e , E r w e , und h e r w e , statt B i b e l , L i e b e , s i e b e n , P ö b e l , S c h w a l b e , E l b e , E r b e und h e r b e . In dem am Ende des angeführten Werks beigebrachten Berichtigungen wird nun zwar diese weiche Aussprache des b für fehlerhaft erkürt, vermuthlich weil Hr. A. unterdeß die Bemerkung gemacht hatte, daß sowohl die allgemeine Schreibung, als auch der Gebrauch in den allermeisten übrigen Abtheilungen Deutschlandes ihr widersprechen; aber da hierbei nicht geäußert wird, daß sie in Obersachsen ungewöhnlich sei: so muß man das Gegentheil vermuthen, nämlich, daß Hr. A. sich durch den Obersächsischen Gebrauch zur Ansetzung jener Regel habe verleiten lassen, und daß er das Fehlerhafte dieser Aussprache erst hintennach, durch Vergleichung derselben mit den Aussprachen anderer Gegenden, bemerkt habe. Diese wenigen Beispiele sind für meinen Zweck genug; ein einziges würde schon hingereicht haben, die behauptete Einerleiheit der Hochdeutschen Sprache und der Obersächsischen Sprech=art über den Haufen zu werfen. Sollte aber jemand dennoch mehr dergleichen verlangen, der gehe, in sofern er selbst kein Obersachse ist, das Hauptstück von den Buchstaben in Hrn. A. L e h r g e b ä u d e d e r D e u t s c h e n S p r a c h e durch, und er wird daselbst noch eine gute Nachlese halten können. Genügt ihm aber auch diese noch nicht, so sehe er Hrn. R ü d i g e r s Bemerkungen über die Eigenheiten der Obersächsischen Mund=art, am Ende des von diesem Gelehrten gesammelten Obers. Landschaftswörterbuchs (Idiotikon) nach, welches man im zweiten Stücke seines N e u e s t e n Z u w a c h s e s findet; wo aber freilich, wie sich's gebührte, die Eigenheiten der Obersächsischen Aussprache überhaupt, also auch diejenigen, welche vielleicht nur den untern oder ungebildeten Klassen ankleben mögen, von den gebildetem hingegen vermieden werden, aufgezählt worden sind. Z w e i t e n s in Ansehung e i n z e l n e r W ö r t e r und A u s d r ü c k e .

12

1. Joachim Heinrich Campe (1746 — 1818)

Hier findet sich 1. vieles in der H. D. Sprache, so wie unsre besten Schriftsteller sie schreiben, und die ganze Deutsche Völkerschaft sie versteht, was in der Obersächsischen Sprech=art theils ursprunglich fehlte, theils noch jetzt fehlt; aber hiervon nachher, wann ich von demjenigen reden werde, was alle Deutsche Sprech=arten zum H. D. beigetragen haben. 2. Eins und das andere in der Obersächsischen Sprech=art, (versteht sich, so wie sie den gebildeten Sachsen eigen ist; denn sonst würde ich nicht e i n s u n d d a s a n d e r e , sondern v i e l e s sagen müssen) was im H. D. entweder ganz fehlt, oder nach andern Aehnlichkeitsregeln gebildet ist; z. B. die A h m , wofür das ganze obere und niedere Deutschland (S. Adelungs Wörterbuch) 8 das O h m sagt; die Ege, für E g g e , die G e i ß e , das R e h e , für G e i s und Reh, d a s A r m u t h und d a s M ü n d e l , in d i e H a r r e * für in d i e L ä n g e , die A n g e l , wofür das ganze obere und niedere Deutschland (S. Adel. Lehrgebäude I Th. S. 362) d e r A n g e l sagt; a u s z u t s c h e n (S. Hrn. Weißens Schriften) für a u s g l e i t e n ; ferner die Gewohnheit, die Fürwörter j e d e r und m a n c h e r , auch e i n e r , in Beziehung auf Personen, geschlechtlos zugebrauchen; z. B. m a n c h e s von Ihnen wird glauben, j e d e s setzt sich dann auf seinen Stuhl, e i n s aus der Gesellschaft geht hinaus. Ich finde diesen Gebrauch nun zwar gerade nicht tadelnswürdig; ich möchte es vielmehr für ganz vernünftig erklären, daß man da, wo von Personen beiderlei Geschlechts die Rede ist, und nun eine von ihnen ohne nähere Bestimmung angegeben werden soll, lieber geschlechtlos, als mit der, nur auf einige unter ihnen, nicht auf alle passenden Bestimmung durchs männliche Geschlecht, von ihnen redet; allein es ist doch nichts desto weniger wahr, daß dieser Gebrauch bis jetzt nur noch Obersächsisch, noch nicht Hochdeutsch ist, weil er, so viel ich bemerken konnte, bei keinem andern Schriftsteller, als den Obersächsischen, vorkommt. Der Hochdeutsche braucht in Fällen dieser Art das männliche Geschlecht, als das vorzüglichere: j e d e r von Ihnen, m a n c h e r unter uns, e i n e r geht hinaus. D r i t t e n s in Ansehung der W o r t v e r ä n d e r u n g . Hierüber für dismahl nur zwei Bemerkungen, weil ich nicht Zeit habe, eine größere Anzahl, die sich sonst wol finden ließe, aufzusuchen, und weil auch hier ein einziges Beispiel schon hinreichend sein würde. Die O.Sächsische Sprech=art gibt in der Mehrzahl einigen Wörtern den Umlaut, bei denen er im H. D. sonst gar nicht üblich ist, z. B. die F ö r s t e , die H ü f e , die K n ä l l e , die D ä c h t e , wofür man sonst überall die F o r s t e n , die H u f e , die K n a l l e und die D a c h t e sagt und schreibt. S. N. Allgem. Biblioth. 4 B. 2 St. Seite 315. 9 Nach Hrn. A. (S. Sprachlehre) 10 neigen sich die Unregelmäßigen Zeitwörter, wie g e d e i h e n , g l e i c h e n , g r e i f e n , k n e i f e n , w ä g e n , s c h r a u b e n u. s. w . im H. D., d. i. nach ihm, in Obersachsen, immer mehr und mehr zu der regelmäßigen Form, und einige derselben, wie k n e i f f e n , werden schon jetzt mehr in dieser, als in der unregelmäßigen Form gebraucht. Allein ich frage jeden andern * Lehrgebäude 1 Th. S. 464.

1.3. Text

13

Deutschen, der kein Obersachse ist: ob er z. B. er g l e i c h e t e für g l i c h , er g r e i f e t e fur er g r i f f , er k n e i f e t e für k n i f f u. s. w. ertragen könne? S. die Allgem. Bibl. am angef. Orte. S. 325. Als Hr. R u d i g e r einst dem Satze, den ich hier bestreite, mit Recht, wie ich glaube, entgegensetzte: daß sich in dem H. D. uberall sehr Vieles finde, das nicht Obersächsisch genannt werden könne (und umgekehrt, hätte er hinzufügen sollen, vieles im O.Sächsischen, was nicht H. D. ist), antwortete Hr. A. mit einer Art von Herausfoderung: k a n n m i r H e r r R ü d i g e r e i n e e i n i g e (einzige) h e r r s c h e n d e A n a l o g i e (Sprachähnlichkeit) in d e r H. D. S c h r i f t s p r a c h e a u f w e i s e n , w e l c h e dem g e s e l l s c h a f t l i c h e n A u s d r u c k e d e s s ü d l i c h e n O b e r s a c h s e n s (in den höhern Klassen nämlich) f r e m d u n d u n b e k a n n t w i r e , so w i l l ich m e i n e n g a n z e n S a t z v e r l o r e n h a b e n . 1 1 Wenn f r e m d und u n b e k a n n t hier, wie der Zusammenhang es erfodert, so viel als n i c h t g e w ö h n l i c h heißen soll: so glaube ich dieser Foderung schon jetzt zehnfältig ein Genüge geleistet zu haben, weil das, was statt der angeführten Eigenheiten der O.Sächsischen Sprech-art im H. D. gebräuchlich ist, eben so viele Sprachähnlichkeiten ausmacht, die den O.Sachsen, als O.Sachsen, nicht geläufig oder nicht gewöhnlich sind. Ich werde aber in dem Folgenden Gelegenheit und Veranlassung haben, noch mehr dergleichen auszuzeichnen. Ich behaupte nämlich, 2. d a ß , a u ß e r d e r O . S ä c h s i s c h e n , a u c h d i e ü b r i g e n D e u t s c h e n S p r e c h = a r t e n , n a m e n t l i c h die O. D. u n d d i e N. D . , b e s o n d e r s d i e e r s t e , z u r B i l d u n g u n s e r e r H. D. S c h r i f t s p r a c h e s e h r v i e l e s h e r g e geben haben, also auch zur f e r n e m B e r e i c h e r u n g und A u s b i l d u n g derselben noch jetzt alles d a s j e n i g e h e r g e b e n d ü r f e n , was mit der H. D. S p r a c h ä h n l i c h k e i t b e s t e h e n k a n n . Den Beweis dieses zweiten Satzes will ich theils aus der Geschichte unserer Schriftsprache, theils aus Hrn. A. eigenen Geständnissen, theils endlich durch wirkliche Nachweisung einiger Beispiele von Ober= und Niederdeutschen, ins H. D. aufgenommnen Wörtern, Wortformen und Wortbestimmungen führen. E r s t l i c h aus der Geschichte unserer Schriftsprache. Bekanntlich entstand, was wir jetzt Hochdeutsch nennen, nicht auf einmahl; auch wurde es an die Stelle der bisdahin herrschenden O. D. Schriftsprache, nicht plötzlich, sondern nach und nach gesetzt. Wir können nur das Jahrhundert, allenfalls das Jahrzehend, nicht das Jahr angeben, in welchem der Anfang dazu gemacht wurde. Wir können nicht einmahl sagen: mit diesem Werke hörte das O. D. auf, mit jenem fing das H. D. an, Schriftsprache zu sein. Und warum nicht? Weil der Uebergang unmerklich geschah; weil die O. D. Schriftsprache nicht abgeschafft und eine ganz neue Sprache an ihre Stelle gesetzt wurde; sondern weil die ganze Veränderung, die man mit der bisdahin herrschenden Schriftsprache vornahm, bloß darin bestand, daß man ihre Härten und Rauhigkeiten durch Einmischung der weichern O.Sächsischen, nach und nach auch der noch viel weichem N.Sächsischen Sprech=art, milderte, indem

14

1. Joachim Heinrich Campe (1746—1818)

man, den Eigentümlichkeiten dieser Sprech=arten gemäß, hier einen feinern Selbstlaut oder Doppellaut an die Stelle eines breiteren oder tiefern setzte, z. B. B ü n d n i ß für B ü n d n u ß , s o n d e r n für s u n d e r n , f l i e ß e n für f l e u ß e n u. s. w., dort einen, die Aussprache erschwerenden hauchenden Mitlaut verabschiedete und einen leichter auszusprechenden, den die genannten milderen Sprech=arten dafür brauchen, an seine Stelle setzte, z. B. B e f e h l für B e f e l c h , t r o c k e n für t r o c h c h e n u. s. w., hier den in einen Mitlaut hart endigenden Wörtern ein milderndes e anhing, dort ein überflüssiges e, welches einem Selbstlaute nachhinkte und die Silbe schleppend machte, ausmerzte, z. B. K n a b e für K n a b , B r u d e r für B r u e d e r , hier einzelne entbehrliche Mitlaute, dort ganze überflüssige Silben und Wörter, die keinen andern Zweck hatten, als ein bedeutungsloses Geklingel oder Geräusch zu machen, wegwarf und z. B. der B o t e , der U m s t a n d , w e i l und f o l g l i c h für der B o t t e , der U m b s t a n d , d i e w e i l e n und a l l f o l g l i c h e n sagte. Der Grund der Sprache, ihre meisten Wörter, Wortformen, Wortveränderungsarten und Aehnlichkeitsregeln, blieben dabei eben dieselben, die sie vorher gewesen waren; so daß man, wie ich glaube, mit Wahrheit sagen kann: m e h r a l s d i e H ä l f t e von dem, was wir jetzt H. D. nennen, habe vorher schon zu der früher herrschenden O. D. Schriftsprache gehört, und sei aus dieser in das H. D. übergegangen. Der Beitrag, den die N. D. Sprech=art dazu geliefert hat, ist freilich viel geringer, aber doch auch nicht unbedeutend gewesen, wie ich nachher zeigen werde. Man that also damahls in O. Sachsen weiter nichts, als was wir uns heutiges Tages aus gleicher Befugniß in allen übrigen Abtheilungen Deutschlands erlauben, d. i. man übte das, allen Deutschen Sprech=arten zustehende Recht aus, die allgemeine Schriftsprache aus den besondern Landschaftssprachen gelegentlich zu bereichern und zu verbessern; zu bereichern, so oft die Landschaftssprachen etwas besitzen, was der Schriftsprache fehlt, und was, ohne ihre Aehnlichkeitsregeln zu verletzen, ihr füglich einverleibt werden kann; zu verbessern, so oft in einzelnen Fällen die Landschaftssprachen etwas Vorzüglicheres, der Sprachähnlichkeit der Schriftsprache nicht Widerstrebendes besitzen, was an die Stelle des Schlechteren, welches diese dafür hatte, gesetzt werden kann. Alles also, was Hr. A. jetzt vorbringen kann, und wirklich vorgebracht hat, um zu beweisen, daß die H. D. Schriftsprache, so wie sie im sechszehnten Jahrhunderte sich in Sachsen zu bilden angefangen hat, und wie sie nachher in allen andern Gegenden Deutschlands weiter fortgebildet worden ist, nicht durch Einmischungen aus andern Deutschen Sprech=arten verändert werden dürfe: dis alles konnten Oberdeutsche Sprachlehrer damahls, mit eben so großem Anscheine von Recht und Gründlichkeit, den O. Sächsischen Sprachverbesserern entgegensetzen, und sie haben es ihnen, zum Theil wenigstens, wie ich Hrn. A. nicht erst nachzuweisen brauche, auch wirklich, nur nicht mit eben dem Scharfsinn entgegengesetzt, den Hr. A. darauf verwendet hat. Sie konnten sagen: diese Einmischung aus der O. Sächsischen Sprech=art störe die schöne und nöthige Einheit der allgemeinen Schriftsprache; die Sprech=art der gebildeten Klassen in Oberdeutschland sei nun

1.3. Text

15

einmahl für die herrschende Schriftsprache in Deutschland angenommen worden; was nicht aus dieser einzigen ächten Quelle unserer Schriftsprache fließe, sondern aus andern Sprech=arten eingemischt werde, das sei wider den Sprachgebrauch, und dieser dürfe in keinem Falle auch nur im mindesten verletzt werden; am wenigsten könne den Schriftstellern gestattet werden, durch Uebertragung Obersächsischer Sprach=eigenheiten, an der Sprache mikein oder bessern zu wollen, weil nicht sie es wären, welche die Sprache erfunden oder gebildet hätten u. s. w. Man lese alles, was Hr. A. zur Behauptung seines Satzes: daß das H. D. nichts anders als die O. Sächsische Sprech=art sei und bleiben müsse, geschrieben hat; man lese es unter der Voraussetzung, daß es in der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts von einem O. Deutschen Sprachlehrer gegen Luthern und andere Sprachverbesserer seiner Zeit geschrieben worden sei: und man wird mit Verwunderung sehen, wie genau es auf jene Zeiten und auf jene Männer paßt. Ich will mir aber hierbei nur die einzige Frage erlauben: ob Hr. A. glaube, daß es gut gewesen sein würde, wenn L u t h e r und seine Nachfolger sich von der angefangenen Einmischung der O. Sächsischen Sprech=art und von der dadurch zu bewerkstelligenden Milderung und Verbesserung des steifen und rauhen Oberdeutschen, durch solche Vorstellungen hätten abschrecken lassen? Allein Hr. A. hat über das nothwendige Zusammenfließen des Besten aus allen Sprech=arten zur Bildung der allgemeinen Schriftsprache eines Volks, in mehr als Einem seiner Werke, selbst so treffende und entscheidende Bemerkungen gemacht, daß man in der That nicht wohl begreifen kann, wie er denn doch immer wieder in andern Stellen läugnen könne: daß unsere, wie jedes andern Volkes Schriftsprache, das Uebereinstimmende und Beste aus allen Sprech=arten enthalte und enthalten müsse. Indem er z. B. in dem Buche ü b e r den D e u t s c h e n Stil 1 2 (über die Deutsche Schreibart) den Ursprung der Schriftsprache erklärt, und ihn in der höhern Ausbildung und größern Volksmenge* einer Landschaft, den Folgen eines blühendem Gewerbes und des festen Sitzes einer Hofhaltung** findet, fügt er * Die H0fe, als H0fe, haben nun wol sicher, wenigstens in Deutschland (wenn man allenfalls den von K a r l dem G r o ß e n ausnimmt) auf die Sprache eher einen nachtheilichen, als vortheilhaften Einfluß gehabt. Noch jetzt wird, so weit ich Deutschland und seine Höfe kenne, nirgends weniger musterhaftes Deutsch gesprochen, als gerade hier, wo nach Hrn. A. die allgemeine Schriftsprache eines Volks sich vorzüglich bilden soll. ** Die Volksmenge kann hierbei wol nur in sofern in Betrachtung kommen, als sie eine höhere Ausbildung entweder zur Begleiterinn oder zur Folge hat, welches nicht immer der Fall ist. Es kommt also hierbei nur auf diese, nicht auf jene an; und wenn Hr. A. uns unter andern auch aus dem Umstände, daß in O. Sachsen 3000 Menschen auf einer Meile ins Gevierte leben, beweisen will, daß die Sprech=art dieses Landes zur allgemeinen Schriftsprache hätte erhoben werden müssen: so könnte man ihm entgegensetzen, daß in O b e r b a d e n 5000 auf einer Geviertmeile, im Herzogthume Berg auf 55 dergleichen Meilen 261,504 Einwohner, also gleichfalls gegen 5000 Menschen auf Einer • Meile, und in dem kleinen Gebiete der Stadt Hamburg über 100,000 Menschen auf ein paar

16

1. Joachim Heinrich Campe (1746—1818)

hinzu: „Die Cultur eines Landes macht nie eher einige Figur, als bis der Hof aufhört, wandernd zu sein, weil die Cultur erst mit dessen Stetigkeit einen festen Punkt bekommt, um welchen sie sich drehen und versammeln kann. A l l e i n eben d i e s e r Z u f l u ß aus den P r o v i n z e n (Landschaften) hat auch den V o r t h e i l , daß die S p r a c h e d a d u r c h eine g r ö ß e r e A l l g e m e i n h e i t e r h ä l t , i n d e m die s ä m m t l i c h e n M u n d = arten sich in d i e s e r g e b i l d e t e n P r o v i n z g l e i c h s a m in e i n e m e n g e n R ä u m e z u s a m m e n d r ä n g e n , mit der eigenen M u n d a r t der Provinz z u s a m m e n f l i e ß e n , und nach Auss t o ß u n g a l l e s d e s s e n , w a s e i g e n t l i c h p r o v i n z i e l l (d.i. mit der allgemeinen Sprachähnlichkeit nicht zusammenpassend, und daher) u n e d e l u n d m a n g e l h a f t ist, ein schönes Ganzes w e r d e n , welches sich denn i m m e r m e h r a u s b i l d e t u n d e r h ö h e t u. s. w. Er bemerkt sogar, und zwar gleichfalls sehr richtig: daß es eben daher (aus diesem Zusammenfließen der Sprech=arten) rühre, daß die auf diese Weise entstandene allgemeine Schriftsprache in allen Provinzen gleich verständlich ist, wenigstens von jedem Eingebohrnen des Landes mit leichterer Muhe erlernt werden kann, als eine der Sprech=arten einer besondern Landschaft, weil in jener jeder etwas aus seiner eigenen Sprech=art, nämlich das, was der allgemeinen Aehnlichkeit gemäß, und deswegen in die allgemeine Schriftsprache übergegangen ist, wieder findet. „Der Oberschwabe, sagt er, und der Hamburger, der Tyroler und der Meklenburger, der Graubünder und der Pommer, verstehn einander gewiß nicht; aber sie alle verstehen H. D. oder lernen es wenigstens sehr bald und mit leichter Mühe verstehen." S. 42. Was kann für den Satz, den ich hier vertheidige, Treffenderes und Beweisenderes gesagt werden! An einem andern Orte (Lehrgebäude d. Deutsch. Sprache, 1 Th. S. 174) vermuthet Hr. Α., daß das th in H. D. Wörtern ein Ueberbleibsel aus der alten O. D. Mund=art sei, welche das t mit einem Hauche aus der Gurgel aussprach. Gleichwohl ist er weit davon entfernt, zurathen, daß man das h, als eine landschaftliche, nicht Obersächsische, Eigenheit, von dem t wieder ablösen solle. Daraus folgt unstreitig zweierlei: 1. daß er die geschehene Einmischung landschaftlicher Eigenheiten in unsere H. D. Schriftsprache anerkennt; und 2. daß er diese Einmischung nicht für nachtheilig halten muß, weil er sonst auf die Ausstoßung solcher Eigenheiten nothwendig hätte antragen müssen. Wiederum an einem andern Orte (Lehrgeb. 1 Th. S. 412. 413) äußert er die Vermuthung, „daß der Plural (die Mehrzahl) auf er in der zweiten Declination (Biegungs=art) — wie ζ. B. in M ä n n e r , wofür man noch zu Luthers Zeiten die M a n n e sagte — erst in spätem Zeiten aus den nordischen Mund=arten, besonders der Niedersächsischen, denen diese Biegung in der Mehrzahl vorzüglich eigen ist, durch Wanderungen und Vermischungen, ins H. D. gekommen sey." Gleichwohl Meilen beisammen wohnen, ohne daß es auch nur von fern das Ansehn hat, daß die Sprech-arten dieser Gegenden zur allgemeinen Schriftsprache werden erhoben werden.

1.3. Text

17

ist er abermahls weit davon entfernt, zu verlangen, daß diese N. Sächsische Eigenheit, wieder ausgestoßen werde. Nach Hrn. A. (S. Wörterbuch) ist die Mehrzahl D e n k m a h l e von D e n k m a h l Oberdeutsch, D e n k m ä h l e r hingegen N. Deutsch; und die H. Deutsche Sprache (die also selbst nicht einmahl dieses Wort in der Mehrzahl hat) braucht beide, das erste in der höhern, das andere in der niedrigem Schreibart. Es ist also, nach Hrn. A. unläugbare Thatsache, daß die H. D. Sprache sich aus den Landschaftssprachen bereichert hat, und daß sie sich, nach dieser Bereicherung, eben nicht schlechter befinden muß; weil er sonst nicht hätte unterlassen können zu rathen, daß man diesen fremdartigen Zuwachs wieder wegschneiden möchte. In dem L e h r g e b ä u d e Th. 1. S. 463. klagt Hr. Α., daß die Declinationen (Biegungs=arten) im H. D. abweichender und schwankender, als in den Sprech' arten seien; allein er wirft die Schuld davon auf die letzten, weil nämlich ihre fehlerhaften Wortformen sich in das H. D. eingeschlichen und dadurch Unregelmäßigkeiten veranlaßt hätten. „Die größte Verwirrung in Ansehung der Biegungs= arten, sagt er, hat die O. D. Verbeissung der Ableitungssilbe en in dem Nominativ (dem ersten Falle) der Einheit verursacht (wie S c h r e c k und S c h m e r z , für S c h r e c k e n und S c h m e r z e n ) , wodurch ihre bestimmte und ursprüngliche Declination (Biegungs=art) verdunkelt worden (ist); daher man sie im H. D. in den übrigen Endungen (Fällen), bald ohne alle Ableitungssilbe, nach der ersten Declination (Biegungsart), bald mit wiederhergestellter Ableitungssilbe, und zwar hier wiederum auf verschiedene Art zu b e u g e n * pflegt." Die H. D. Schriftsprache hat also sogar auch etwas Fehlerhaftes, das aber erst durch ihr eigenes Schwanken fehlerhaft geworden ist, aus den Sprech=arten aufgenommen. Was sich dazu sagen läßt, ist: daß sie das nicht hätte thun sollen; oder genauer gesprochen, daß sie entweder die Wortform und die dazu passende Biegungsart z u g l e i c h , oder g a r n i c h t s d a v o n hätte aufnehmen müssen. Hr. A. braucht in verschiedenen Stellen z. B. Lehrgeb. 1 Th. S. 534 und 545, das Wort W i l l k ü h r geschlechtlos, oder wie er es nennt, in sächlichem Geschlechte, ungeachtet er im Wörterbuche davon gesagt hatte: „Im H. D. ist es weiblichen, in manchen Provinzen aber sächlichen Geschlechts, d a s W i l l k ü h r . " Er fand es also in der Folge selbst nicht unrecht, aus den Sprech=arten zur Verbesserung des H. D. Sprachgebrauchs zu schöpfen, ungeachtet ich in der That nicht einzusehen vermag, warum d a s Willkühr besser sein soll, als d i e Willkühr. Uebrigens beweiset dieses, so wie das vorhergehende Beispiel, daß Hr. A. nicht nur die schon geschehenen * Auch dieses Wort ist in Hrn. A. Munde oder Feder merkwürdig. Es beweiset zweierlei: 1. daß Hr. A. selbst von dem Sprachgebrauche, welcher in diesem Zusammenhange b i e g e n , nicht b e u g e n , zu sagen befiehlt, bei Gelegenheit abzuweichen kein Bedenken trägt, so sehr er dis auch im Allgemeinen verbietet; und 2. daß er auch hier etwas aus der O.D. Sprech=art ins H. D. aufzunehmen für gut findet. Denn daß b e u g e n , nicht H. D., sondern O. D. sei, versichert er in dem Wörterbuche, unter diesem Worte, selbst.

18

1. Joachim Heinrich Campe (1746 — 1818)

Einmischungen aus den Sprech=arten anerkennt, sondern daß er es auch für recht und nöthig halten muß, sich die Bereicherung und Verbesserung unserer Schriftsprache, aus den Sprech=arten, selbst j e t z t und k ü n f t i g n o c h zu erlauben. Ich könnte noch mehr dergleichen Geständnisse aus Hrn. A. Schriften anführen: aber wozu die Anhäufung? Die hier beigebrachten sind ja mehr als hinreichend. Ich versprach den Satz: daß zur Bildung des H. D. alle Deutsche Sprech=arten beigetragen hätten, mithin auch ferner dazu beitragen dürften und müßten, drittens auch durch Beispiele von Ober» und Niederdeutschen, ins H. D. aufgenommenen Eigenheiten zu beweisen; aber ich sehe, daß ich dieses Versprechen, ohne es merken zu lassen und ohne es selbst zu merken, wirklich schon erfüllt habe, weil die meisten, aus Hrn. A. Schriften eben jetzt von mir angeführten Geständnisse, auch zugleich für eben so viele Beispiele gelten können. Allein ich kann und will freigebiger sein, als ich nöthig hätte, weil ich Ueberfluß habe: hier also der Beispiele mehr. Wem, der nur einige Belesenheit in unsern besten Deutschen Werken hat, ist es entgangen, daß unsere Hochdeutschen Dichter, um ihrer Sprache einen höhern Klang und einen durch den Ton des Alterthums vermehrten Nachdruck zu geben, häufig Gebrauch von den Oberdeutschen Formen verschiedener Zeitwörter zu machen, und z. B. er f l e u c h t , er g e u ß t , er z e u c h t u. s. w. für er f l i e h t , er g i e ß t , er z i e h t , zu sagen, auch andere Oberdeutsche Wörter, Wortformen und Wortfügungen z. B. erstaunt ob d e m Gesicht u. s. w. einzumischen pflegen? Und wer weiß es nicht, daß unsere besten Kunstrichter, ja Hr. A. selbst, wenigstens ehemahls, diesen Gebrauch O. Deutscher Sprach=eigenheiten, nicht nur gebilligt, sondern auch ausdrücklich empfohlen haben?* G o t t s c h e d ging bekanntlich gar * „Die O. Deutsche Mund=art hat noch einen so großen Reichthum an unerkannten erhabenen Ausdrücken und Wortfügungen, daß sie die H. D. Dichter und Redner noch Jahrhunderte damit versehen kann, ohne erschöpft zu werden. Allein nur selten nimmt sich der leichte und flüchtige Geist unserer schönen Schriftsteller die Mühe, die Schätze seiner Muttersprache in ihr selbst aufzusuchen." Vorrede zum Wörterbuch Erste Auflage.13 Damahls war Hr. A. noch der Meinung, die er aber freilich nachher, wiewohl ohne einen ausdrücklichen Widerruf, verlassen hat, „daß die H. D. Sprache nichts anders, als eine durch das N. D. gemilderte O. D. Mund=art sei" Ebend. Seit. IX. „Beweise, setzt er hinzu, kommen in dem folgenden Wörterbuche zu t a u s e n d e n vor." Gleichwohl antwortet er (Magaz. 2 B. 4 St. S. 159 u. f.) 14 Hrn. R ü d i g e r n , der ihm eben dasselbe entgegen gesetzt, und nur den Ausdruck zu T a u s e n d e n , mit dem gleichbedeutenden, eine u n e n d l i c h e M e n g e , verwechselt hatte, folgendes: „Hr. R. sagt: ü b e r a l l f i n d e t sich in dem H. D. sehr v i e l e s , das n i c h t O b e r s ä c h s i s c h ist, und beruft sich denn (dann) auf mein Wörterbuch und auf meine Sprachkunst, wo eine u n e n d l i c h e M e n g e guter Hochdeutscher Wörter und Bestimmungen vorkommen sollen, welche ursprünglich nicht Sächsisch, ja wol noch jetzt in der Mund=art Obersachsens unbekannt sein sollen. Das ist freilich sehr viel behauptet; (doch nicht mehr, als Hr. A. an der Spitze seines Wörterbuchs selbst behauptet hatte), aber der Mangel der Bestimmtheit macht,

1.3. Text

19

so weit, jene Formen: du f l e u ß e s t , er f l e u ß t und f l e u ß , du b e t r e u g s t , er b e t r e u g t , und b e t r e u g , für die einzig wahren zu erküren, und sie als solche in seine Sprachlehre aufzunehmen. 15 Aber, wird man sagen, diese Art von Einmischung landschaftlicher Sprach* eigenheiten ist nur den Dichtern erlaubt. Gut! ich will andere anführen, die jeder nichtdichterische Schriftsteller, in jeder Art des Vortrages und des Ausdrucks, ja jeder seine Sprache mit Bedacht und Kenntniß redende Deutsche, in mundlichen Unterredungen, zu gebrauchen kein Bedenken trägt. Dahin rechne ich z. B. die O. D. Sprach=eigenheit, auf einige Zeitwörter das damit verbundene Sachwort im zweiten Falle (Genitiv) folgen zu lassen, wo die O. Sächsische Sprech=art es entweder in den vierten setzt, oder auch es von einem Verhältniß worte (Präposition) führen (regieren) läßt, wie s i c h e i n e r S a c h e anm a ß e n , f r e u e n , e r h e b e n u. s. w . einer Sache b e d ü r f e n , n ö t h i g h a b e n , g e d e n k e n , u. s. w. für, sich e i n e S a c h e anmaßen, sich ü b e r etwas freuen, sich w e g e n einer Sache erheben, e i n e S a c h e bedürfen, nöthig haben, bedenken. Ich rechne ferner hierher, die aus dem N. D. übergegangene bessere Unterscheidung der harten und weichen Buchstaben, und den richtigen Gebrauch der letzten, da, wo der O. Deutsche und der O. Sachse die ersten hören lassen, wie z. B. in B a u m , d r i n g e n , b e d a u e r n , g e b o h r e n u. s. w. wofür wir, wenn das H. D. nicht durchs N. D. gemildert worden wäre, noch heute, wie zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, P a u m , t r i n g e n , b e t a u e r n und g e p o h r e n sagen und schreiben wurden, weil dieser Fehler der O. D. Sprech=art durch die Obersächsische, der er in gleichem Maße eigen ist, nicht verbessert werden konnte. Ich rechne drittens hierher die meisten Ausdrücke, welche Künste, Gewerbe und Wissenschaften betreffen, die in Obersachsen entweder niemahls, wie z. B. die größere Schiffahrtskunst, oder später, als in andern Theilen Deutschlands, wie die meisten übrigen Künste, bluheten, und die es daher, nebst den dazu gehörigen Kunst=ausdrucken durch Uebertragung erhalten, nicht selbst erfunden hat. Alle diese, im H. D. jetzt befindlichen Ausdrucke sind daher, theils O. Deutschen, theils N. Deutschen Ursprungs; und die Zahl derselben ist gar nicht unbeträchtlich. Ich rechne viertens hierher den in einigen Fällen durchaus unentbehrlichen Niederdeutschen Gebrauch des Zeitworts t h u n , zur Vermeidung einer unangenehmen Wiederholung eines und eben desselben Worts; einen Gebrauch den Hr. A. zwar, als eine N. D. Sprach=eigenheit, laut verworfen, aber gleichwohl selbst anzunehmen und mitzumachen sich hie und da genöthigt gesehen hat, wie z. B. in dem Wörterbuche unter w a n n , wo er sagt: „Da die O. D. Mund=art da, wo sie daß sich wenig darüber sagen läßt." Und hier ist es, wo er, statt einer andern Widerlegung, Hrn. R. auffodert: ihm n u r eine e i n z i g e h e r r s c h e n d e A n a l o g i e in der H. D. S c h r i f t s p r a c h e aufzuweisen, die dem gesellschaftlichen Ausdrucke des südlichen Obersachsens fremd wire; in welchem Falle er seinen ganzen Satz verloren haben wolle. Ich glaube, dieser Auffoderung nun schon zwanzigflltig ein Genüge gethan zu haben.

20

1. Joachim Heinrich Campe (1746—1818)

kann, immer die breiten und tiefen Vocale den höhern vorzieht: so t h u t sie es auch in diesem Worte;" wo er, wenn er dis N. D. t h u n vermeiden wollte, das Zeitwort v o r z i e h e n hätte wiederholen und sagen müssen: so zieht sie dieselben auch in diesem Worte vor. Ich rechne fünftens hierher eine gewiß nicht kleine Zahl von sanftem N. D. Wörtern, die schon L u t h e r ins H. D. aufnahm, weil sein richtiger Geschmack sie den gleichbedeutenden rauhen oder harten Oberdeutschen und Obersichsischen Wörtern vorzuziehen kein Bedenken trug; und von denen ich hier nur das einzige m u m m e l n (Jes. 29. 4. Joh. 7. 32), für das unausstehliche m a m p f e n , welches Hr. A. dafür wieder in Umlauf zu bringen gesucht hat, zum Beispiel anführen will*. Ich rechne sechstens hierher den von Hrn. A. im Wörterbuche unter V e r d e r b e n geäußerten Wunsch, daß man in Ansehung solcher Zeitwörter, welche zugleich Thatzeitwörter (ACTIVA) und Mittelzeitwörter(NEUTRA) sind, im H. D. der O. D. Sprech=art folgen, und dergleichen Wörter in jener Form regelmäßig, in dieser unregelmäßig abwandeln möchte; ein Wunsch, der die Rechtmäßigkeit der Verbesserung des H. D. durch Einmischung landschaftlicher Sprach=eigenheiten, ohne allen Zweifel voraussetzt. Ich rechne siebentens hiehier die — man sage, was man wolle — uns durchaus unentbehrliche, und in einzelnen Fällen von der ganzen Deutschen Völkerschaft, selbst von den O. Sachsen, selbst von Hrn. Α., nur unter einem andern Namen, angenommene Niederdeutsche Form der Mehrzahl (des Plurals), die in einem angehängten s besteht. Diese Form ist uns nöthig, 1. bei verschiedenen fremden Eigennamen, ζ. B. C a t o , C i c e r o , T i n d a l , wozu auch C o n s u l , C a r n a v a l und dergleichen zu rechnen sind. Man mag diese Wörter entweder unverändert lassen, und die C a t o , die C i c e r o , die C o n s u l sagen, oder die Mehrzahl durch ein angehängtes e oder n e , die Ca t o n e , die C o n s u l e , andeuten wollen: so klingen sie einem Deutschen Ohre immer fremd und seltsam. Aber man sage: die C a t o ' s , die C i c e r o ' s , die T i n d a l s , die C o n s u l s u. s. w., und das Ohr, wo nicht aller, doch der meisten Deutschen, wird befriediget sein. 2. Bei verschiedenen, aus dem Französischen und aus andern neuern Sprachen zu uns übergegangenen, jetzt aber hoffentlich der Verbannung nahen Wörtern, wie ζ. B. B a l c o n , C a n t o n , C h a r latan, Fond, Ponton, Etablissement, Ambassadeur, Auditeur, Comt o i r , C o l l e c t e u r , T a m b o u r u. s. w. denen Hr. A. selbst (Lehrgeb. 1 Th. S. 509)** dieses s zuerkannt, nur d a ß er es n i c h t f ü r d a s N. D . , s o n d e r n * Oft hat man dergleichen mildere N. D. Wörter den rauhern O. D. so zu sagen eingeimpft, so daß man von beiden etwas aufnahm und beibehielt, wie dis ζ. B. der Fall mit dem N. D. K u k k u c k und dem O. D. G u c h g a u c h ist, aus deren Vermischung man in Sachsen G u c k g u c k gebildet hat. ** Ein Beurtheiler in der A l l g e m . Lit. Zeitung, 1 6 der diese Regel nicht vollständig aufgefaßt hat, macht Num. 69. 1795 die Bemerkung; daß das Wort C a n t o n das einzige sei, welches den Plural in s habe. Warum das einzige? Haben B a l c o n , P o n t o n , Fond u. s. w. weniger Ansprüche darauf?

1.3. Text

21

f u r d a s F r a n z ö s i s c h e s d e r M e h r z a h l g e h a l t e n w i s s e n w i l l . Aber, erstlich ist das Französische s ein stummer Buchstab, und wir lassen das unsrige in P o n t o n ' s , A u d i t e u r ' s u. s. w. hören; und dann zweitens, warum wollten wir, aus falscher Schaam, lieber eine Französische, als eine Niederdeutsche Sprach* eigenheit, im H. D. anerkennen? 3. In einigen ächtdeutschen Wörtern, z. B. S c h l i n g e l , F l e g e l und K e r l , bei denen wir, ohne dieses s, die Mehrzahl von der Einzahl nicht unterscheiden können, wenn wir nicht zu seltsamklingenden Biegungen (die im Sprechen niemand braucht) z. B. die K e r l e , unsere Zuflucht nehmen. In diesen drei Fällen scheint die Stimmenmehrheit der Deutschen sich für die Aufnahme des N . D . s schon jetzt ganz entscheidend erklärt zu haben; und ich kann hierüber das Zeugniß eines Mannes anfuhren, dem Hr. A. selbst für einige gründliche Zurechtweisungen, in der Vorrede zur neuesten Auflage seiner S p r a c h l e h r e , öffentlich gedankt hat; 17 ich meine den Beurtheiler des jetzt genannten Werks im 2ten St. des 4ten B. der N e u e n a l l g e m e i n e n B i b l i o t h e k , 1 8 der sich Seite 316 folgendermaßen darüber ausgelassen hat: „Den Plural des Worts K e r l würden wir lieber in die erste, als (in die) dritte Declination setzen (so daß es in der Mehrzahl die K e r l e , nicht die K e r l , lauten würde). Freilich ist hier, wie bei S c h l i n g e l , F l e g e l und so vielen Wörtern, die ihren Plural gar nicht, oder nicht sehr vom Singular unterscheiden, s c h o n d a s s d e r N i e d e r s a c h s e n u n w i d e r s t e h l i c h e i n g e r i s s e n * , zu dessen Gebrauch, im Vorbeigehen gesagt, der Obersachse, wie der Oberdeutsche (mithin die ganze Völkerschaft) einen Hang hat. Was nach dem Niederrheine, nach Niedersachsen, Brandenburg — auswandert, bringt zurückkehrend dieses s mit (weil nämlich jeder, er sei aus welcher Landschaft er wolle, schon einen Hang dazu hat), und der Göttingische Exstudent (abgehende Hochschüler) macht es hierin nicht besser, als der Handwerksgeselle. Werden nicht im nächsten Menschen=alter die Sprachlehrer dem Strome weichen und dieses Buchstabs wegen eine Declination mehr machen müssen? (Ich denke, schon früher) — Der Ursprung dieses s wäre einer Untersuchung werth. Außer den Franzosen haben es auch die Spanier. Aus dem Lateinischen stammt es nicht. Ob vielleicht aus dem Celtischen?" Ich rechne endlich hieher — denn ich bin nicht gesonnen, den Leser überflüssigerweise mit meiner ganzen Sammlung von Beispielen zu überschütten — die große Zahl schöner und ausdrucksvoller Niederdeutscher Wörter und Redensarten, die in den letzten dreißig Jahren, und zwar zum Theil von Schriftstellern, die selbst nicht einmahl Niederdeutsche von Geburt waren, z . B . von L e s s i n g ' e n * * , ins H. D. eingeführt worden sind, und die, weil ihre Einführung zum Theil in Werken geschehen ist, die so dauernd als unsere Sprache sein werden, in Werken, nach * Und ich frage: warum sollte es nicht? Etwa deswegen, weil wir in unserer Sprachlehre um seinetwillen noch eine Biegungsart mehr ansetzen mußten? Aber, was für Unglück ist dabei? * * Man denke z. B. an des Tempelherrn drallen Gang, und an das von Wielanden, wie von Vossen, veredelte prall und prallweich für elastisch.

22

1. Joachim Heinrich Campe (1746—1818)

welchen die ganze Deutsche Volkerschaft, ihre Sprache, ihren Geschmack und ihre Denk=art zu bilden angefangen hat, gewiß nie wieder ausgetilgt werden können. Beispiele dieser Art habe ich in meiner Wörtersammlung zur Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache 19 in Menge angeführt; es sei mir daher erlaubt, diejenigen, denen dergleichen nicht gleich beifallen möchten, dahin zu verweisen. Und hiermit glaube ich denn, auch meinen zweiten Satz: daß, außer der O. Sächsischen, auch die übrigen Deutschen Sprech=arten, zur Bildung unserer H. D. Schriftsprache s e h r v i e l e s beigetragen haben, mithin auch ferner alles dazu beitragen dürfen, was mit der H. D. Sprachähnlichkeit bestehen kann, hinlänglich bewiesen zu haben. Hier muß ich, weil es an Raum gebricht, für dismal abbrechen. Bei der, im nächsten Stücke anzustellenden Erörterung des dritten Satzes: d a ß d i e S c h r i f t s t e l l e r , u n g e a c h t e t sie d i e S p r a c h e n i c h t e r f u n d e n , doch zur A u s b i l d u n g derselben k r ä f t i g m i t g e w i r k t haben, auch ferner dazu m i t w i r k e n dürfen und müssen, werde ich erst den Begriff: A u s b i l d u n g e i n e r S p r a c h e , auseinandersetzen; 20 und dann zweitens zeigen, daß er durchaus nichts enthalt, was nicht Hr. A. selbst, theils im Allgemeinen für zulässig erklärt, theils in besondern Fällen durch sein eigenes Beispiel gerechtfertiget hat.

1.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3 4 5 6 7

8

9

10 11

So etwa in Adelungs Entgegnung (Bibl. A 17) auf Biesters Kritik (Bibl. A 13). Siehe Bibl. A 10. Siehe Bibl. A 19. Campe verwendet in seinem Aufsatz die folgenden Abkürzungen: Η = hoch, Ο = ober, Ν = nieder, D = deutsch, obers. = obersächsisch. Von der Orthographie fremder Nahmen und Wörter. In: Magazin für die deutsche Sprache 1 (1782), 3. Stück, 3 - 1 7 . Siehe Bibl. A 16. Mit „Lehrgeb." bezieht sich Campe hier und auf den folgenden Seiten auf Adelungs: Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. 2 Bde. Leipzig: Breitkopf 1782. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig: Breitkopf u. Comp. 1 7 9 3 - 1 7 9 8 . Campe beruft sich hier und an zwei weiteren Stellen auf eine namentlich nicht gekennzeichnete Rezension von Adelungs Deutscher Sprachlehre für Schulen (Berlin: Voßische Buchhandlung 1781) in der Neuen allgemeinen Deutschen Bibliothek. Siehe Anm. 9. Rüdiger machte seine Bemerkung im zweiten Stück seines „Neuesten Zuwachses" (Bibl. A 10) auf S. 50. — Die erwähnte „Herausforderung" Adelungs enthält der letzte Beitrag zur Diskussion (vgl. Bibl. A 20, S. 159 f.).

1.4. Anmerkungen des Herausgebers 12 13 14 15 16 17

18 19

20

23

Über den Deutschen Styl. Berlin: Voß und Sohn 1785. Gemeint ist wohl der „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart [...]. Leipzig: Breitkopf u. Sohn 1774—1786. Siehe Anm. 11. Johann Christoph Gottsched: Grundlegung einer deutschen Sprachkunst. Leipzig: Breitkopf 1748; 5. Aufl. mit verändertem Titel 1762. Autor nicht ermittelt. Adelungs Dank an den Rezensenten enthält die Vorrede zur 2. Auflage von 1792 noch nicht, wohl aber der „Nachtrag zur vierten Auflage". Da Campe diesen noch nicht gelesen haben kann, bezieht er sich wahrscheinlich auf die 3. Auflage, die ich nicht einsehen konnte. Siehe Anm. 9. Über die Reinigkeit und Bereicherung der Deutschen Sprache. Dritter Versuch oder verbesserte und vermehrte Ausgabe der beiden ersten Versuche. Braunschweig: Schulbuchhandung 1794. Die Fortsetzung erschien, wie angekündigt, im zweiten Stück des ersten Bandes der „Beiträge zur Beförderung der fortschreitenden Ausbildung der Deutschen Sprache", S. 9 9 - 1 2 6 .

2. Jean Paul ( 1 7 6 3 - 1 8 2 5 ) 2.1. Einführende Bemerkungen Daß unter den Autoren dieses Bandes die Dichter relativ zahlreich vertreten sind, überrascht nicht, liegt es doch nahe, daß der Blick des Sprachkünstlers, wenn er seine Tätigkeit überhaupt reflektiert, auf das Medium seines künstlerischen Ausdrucks, die Sprache, gelenkt wird. So ist es auch bei Jean Paul der Prosaschriftsteller, der sich schon früh für Probleme der Sprache zu interessieren beginnt. In den späteren Jahren gewinnt das Thema jedoch, vergleichbar mit Klopstock, eine gewisse Eigenständigkeit, die man nicht, wie schon manche Zeitgenossen, auf das Erlahmen der schöpferischen Fähigkeiten zurückführen muß, kann man doch die Doppelgleisigkeit des Dichters und des Sprachforschers auch als Beleg für die Tatsache nehmen, daß Dichtung, Publizistik und Wissenschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts personell noch eng beieinander lagen und sich noch nicht wie heute in mehr oder weniger geschlossene gesellschaftliche Bereiche ausdifferenziert hatten. Der folgende Text über den Reichtum der deutschen Sprache aus der „Vorschule der Ästhetik" von 1804 handelt zwar nicht von der poetischen, sondern der deutschen Sprache allgemein, doch spricht aus ihm vor allem der Dichter, der, vergleichbar den Schriftstellern in der Debatte über die Frage „Was ist Hochdeutsch?" gut 20 Jahre zuvor, seine Ausdrucksmöglichkeiten als Sprachkünstler nicht durch normative Setzungen von Grammatikern eingeschränkt sehen will. In den späteren Jahren bleibt der Dichter in den Sprachreflexionen Jean Pauls durchaus erkennbar, nicht zuletzt in der Bedeutung, die der Klang als Beurteilungskriterium für sprachliche Phänomene erhält, doch tritt er als Mitglied des „Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache" und als Autor z. B. der Monographie über die deutschen „Doppelwörter" mit dem Anspruch des Sprachforschers auf. Verbunden mit dieser Entwicklung ist eine modifizierte Einstellung zu der Möglichkeit und Wünschbarkeit verändernder Eingriffe in die Sprache, die ihn gegen Ende seines Lebens nun selbst in den Geruch des „Sprachpedanten" bringt (vgl. Kap. 11 u. 12 in diesem Band).

2.2. Literaturhinweise Textvorlage Jean Paul: Vorschule der Aesthetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Hamburg: Friedrich Perthes 1804, § 77, 501 — 516.

2.3. Text

25

Weitere Literatur Α: Vorschule der Aesthetik. 2. Auflage, Stuttgart: Cotta 1813 [darin: XIV: Ueber den Stil oder die Darstellung (Beschreibung des Stils, Sinnlichkeit des Stils, Unbildliche Sinnlichkeit, Darstellung der menschlichen Gestalt, Poetische Landschaftsmalerei, Bildliche Sinnlichkeit, Ueber Katachresen); XV: Fragment ueber die deutsche Sprache (Ihr Reichthum, Campens Sprachreinigkeit, Vermischte Bemerkungen über die Sprache, Wohlklang der Prose]. Levana oder Erziehlehre. 2 Bde. Braunschweig: Vieweg 1806 [darin: § 131 —132: Sprache und Schrift]. Reden an die deutsche Nazion durch Johann Gottlieb Fichte. In: Heidelberger Jahrbücher der Literatur 1809, 5. Abt., 1. Heft. Bußpredigt über den Bußtext im Allg. Anzeiger der Deutschen No. 335, Seite 3617 bis 3622, betreffend deutsche Vorausbezahlung auf Wolke's versprochenes Werk über die deutsche Sprache. In: Morgenblatt für gebildete Stände 1812, Nr. 3 6 - 3 9 , 4 1 - 4 3 v. 1 1 . - 1 4 . und 1 7 . - 1 9 . Februar. Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche. Stuttgart/Tübingen: Cotta 1817 [darin: Nachschrift über die deutsche Sprache]. Über das Zusammenfügen der deutschen Doppelwörter; in 12 Briefen an eine vornehme Dame; nebst einer geharnischten Nachschrift an die Gelehrten. In: Morgenblatt für gebildete Stände 1818 [in Fortsetzungen zwischen dem 1. August und dem 14. September]. — Als Buch u. d. T.: Über die deutschen Doppelwörter; eine grammatische Untersuchung in zwölf alten Briefen und zwölf neuen Postskripten. Stuttgart/Tübingen: Cotta 1820. Kleine Bücherschau. Gesammelte Vorreden und Rezensionen, nebst einer kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule. Breslau: Max u. Komp. 1825 [darin: Fragment über die deutsche Sprache: § 22 Sprachautorität; § 23 Ausrottung des Miston-S in Doppelwörtern]. B: Schmitz-Emans, Monika: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn 1986. Wilkending, Gisela: Jean Pauls Sprachauffassung in ihrem Verhältnis zu seiner Ästhetik. Marburg 1968.

2.3. Text F r a g m e n t über die deutsche Sprache Ihr Reichthum Ein Deutscher, der eine deutsche Sprachlehre lieset, dankt dem Himmel, daß er sie zum Theil mitbringt und daß man ihm gerade die schwerste erspart. Da aber wir Deutsche gern Bücklinge nach allen 32 Kompasecken und den Zwischenwinden

26

2. Jean Paul ( 1 7 6 3 - 1 8 2 5 )

hinmachen, um sowohl alle Völker zu gewinnen als etwas von ihnen: so haben wir oft recht sehr gewünscht, unsere Sprache möchte englischer, französischer, regelmäßiger, besonders in den unregelmäßigen Zeitwörtern, überhaupt mehr zu jener von den Philosophen gesuchten allgemeinen Sprache zu machen seyn, damit man uns auswärts leichter erlernte. Gäb' es nur Eine ausländische neben unserer, z. B. die gallische: so hätten wir längst uns jener so vielen deutschen Wörter und Wendungen entschlagen, welche noch als wahre Scheidewände zwischen unserer und der französischen Sprache bestehen, und hätten bloß solche wie „Krieg,* Landsknecht, Abenteur, Bier und Brod und was ist das" behalten; ob wir gleich vielleicht denselben Vortheil nicht weniger erreichen, wenn wir dem ganzen Frankreich als einer M A I T R E S S E DE L A N G U E , das sonst nur einzelne M A I T R E S herausschickte, ganze Städte z. B. Straßburg zur Sprachbildung und Uebersetzung ins Französische anvertrauen. Auch unter den Gründen für die Vertauschung deutscher Lettern gegen lateinische wird — was im Munde eines jeden andern Volkes knechtisch klänge — der Vortheil mit angeführet, welchen der Ausländer haben würde, wenn er an der Stelle unserer Schrift auf einmal seine anträfe. Nur muß man uns das Verdienst eines Opfers nicht durch die Anmerkung nehmen, daß wir ja gar keine eigne haben, sondern verdorbne lateinische; denn diese ist selber wieder verdorbene oder vergrößerte griechische und diese kehrt am Ende in die orientalische zurück; daher die Römer sich den Griechen durch Annahme griechischer Typen hätten nähern können, und diese durch eine orientalische Druckerei sich der ganzen aus dem Orient abstammenden Welt. Indeß sind wir im Grunde nicht so ausländisch, als wirs scheinen; wir wünschten nur gern alle Vorzüge und Kränze vereinend zu besitzen und sehen mehr nach den Zeilen vor uns als nach den Zielen hinter uns. Ungemein erheben wir eine fremde Litteratur in C O R P O R E und singen ein Vivat vor einer ganzen Stadt oder Landschaft draußen vor den Mauern und Gränzen. Tritt aber ein einzelner Autor hervor und will einiges vom Vivat auf sich beziehen: so unterscheiden wir ihn ganz der Menge und Stadt und setzen tausend Dinge an ihm aus. Wie anders, wenn wir von unserer Litteratur sprechen. Ihr C O R P U S wird hart angelassen, nicht eine Mauer zu ihrem Ruhm=Tempel bauen wir aus; hingegen jeden einzelnen Autor setzen wir auf den Triumphwagen und spannen uns vor. Wir drucken die etwas einfältigen Urtheile der Franzosen über uns ab, um uns recht abzuärgern; wie aber, wenn ein Pariser unsere über die Pariser nachdruckte? — Indeß eben jenes Thun und dieses Unterlassen offenbaren freilich, daß wir weder die gallische Eitelkeit, welche Europa für ihr Echo und Odeum hält, noch den englischen Stolz besitzen, welcher kein Echo begehrt. Nur vielleicht das * Kriegsgeschrei hieß selber Krieg, von CRI kommt Krieg. Geschichte der deutschen Nazion von Anton. S . 1 5 2 1 — BIRAMBROT, LANDSQUENET, AVENTURE U N , - VAS - IST DAS (das Ruckfenster am Wagen) sind bekannt.

2.3. Text

27

Schicksal unserer Philosophie, deren Kameele nicht durch das Nadelöhr eines pariser oder londner Thors und Ohrs durchgehen, stellet uns von dem kleinstädtischen Hausiren nach ausländischem Lobe her. Wir kehren zum bloßen Deutsche zurück. Desto besser, sag' ich, desto bereicherter ist es, je mehr Sprach=Freiheiten, Wechselfälle, Anomalien eben da sind; für uns, die wir aus der Regel der Regeln, aus dem Sprachgebrauche schöpfen, giebt es keine Unregelmäßigkeit, nur für den Ausländer, der erst unsern Sprachgebrauch, d h. unsern Gesetzgeber dem seinigen unterwerfen und unsere Gesetze durch s e i n e abtheilen und erlernen muß. Denn gäb' es Eine allgemeine Regel, so hätten alle Sprachen Eine Grammatik. Ich bin daher gerade f ü r alle Unterschiede von fremden Sprachen; und eben so für alle Synonymen und Doubletten der Grammatik. Kann man g l i m m t e und g l o m m sagen, nur g e r ä c h t (nach Heinatz 2 ), nur g e r o c h e n (nach Adelung): desto besser, so behaltet beide für den Wechsel und die Noth. Daß man statt des langweiligen w e l c h e r auch der, und im ältern Stile so* setzen kann; — ferner statt als auch w i e , ja d e n n — ferner statt des gemeinen a n f a n g e n und des spröden a n h e b e n das alte b e g i n n e n , welches seine Vorstecksylbe nicht ans Ende werfen kann, nicht zu gedenken seines Jambus im Imperfektum** — — recht erwünscht und brauchbar sind ja alle diese Fälle, nicht dazu, um einige zu vertilgen, sondern um alle zu benutzen nach Verhältniß. Sogar die abgekommenen Adjektiv= Umbildungen der Adverbien sollten als Zeugen eines besondern Bildungs=Triebes und als Erben eines reichen Sinnes noch bescheiden fortgrünen; man umschreibe z. B. e i n m a l i g e , e t w a n i g e , s o n s t i g e IC. IC. und zähle darauf die Zeilen. — So dankt dem Himmel für den vierfachen Genetiv: Liebes=Mahl, das Mahl der Liebe, der Liebe Mahl, das Mahl von der Liebe; und bittet den Franzosen, es zu übersetzen; desgleichen dankt für den doppelten Genetiv des Verbums: einer Sache genesen und von einer Sache genesen. Unsere Sprache schwimmt in einer so schönen Fülle, daß sie bloß sich selber auszuschöpfen und ihre Schöpfungswerke nur in drei reiche Adern zu senken braucht, nämlich der verschiedenen Provinzen***, der alten Zeit und der sinnlichen Handwerks=Sprache.**** In Schlegels Shakspeare und Vossens Uebersetzungen

* Ja gegen das w a s z. B. in: „das Gute, w a s statt w e l c h e s du thust", sollte man Wohlklangs und der Kürze wegen sanfter seyn. ** Lessing führte b e g i n n e n aus dem Alter zu uns und seine Muse verjüngte es; 3 Adelung schickte aus Dresden die stärksten Beweise heraus und auf Messen umher, er habe das Wort als einen halbtodten Greis gekannt; gleichwohl bleibt es als Jüngling unter uns wohnen und kann wohl so lange leben als sein Feind. *** Manche Provinzialismen sind der Kürze unentbehrlich, wie das oberdeutsche h e u e r , h e u r i g (in diesem Jahre) oder das G6thesche h ü b e n als Gegensatz des d r ü b e n . **** Ich fange alphabetisch an: abbaizen, abbauen, Abbrand, abfalzen, abfleischen, abholzen, a b j o c h e n , abknabsen, abpfählen, abplätzen ic. ic.

28

2. Jean Paul ( 1 7 6 3 - 1 8 2 5 )

lässet die Sprache alle ihre Wasserkünste spielen. Dichter besonders, sobald man ihnen eine gelehrte Wahl zutraut, fuhren neue Wörter am leichtesten ein, weil die Poesie sie durch ihre goldenen Einfassungen heraushebt und dem Auge länger vorhält. Man erstaunt über den Zuwachs neuer Eroberungen, wenn man in Lessings Logau oder in den alten Straf=Rezensionen Klopstocks und Wielands das Verzeichniß erweckter oder erschaffner oder eroberter Wörter lieset, welche sich jetzt mit der ganzen Völkerschaft vermischt und verschwägert haben. Sogar das indeklinable „ w u n d , " da4 es nicht weniger war als „ u n p a s , f e i n d , " hat Wieland durch einen Aufsatz für Rousseau's Band=Lüge für uns alle deklinabel gemacht. 5 Jetzige Jünglinge, welche das Wort bieder in der Schule schon hörten, müssen sich wundern, daß Adelung in der deutschen Sprachlehre für Schulen und in der vollständigen Anweisung zur deutschen Orthographie und in den beiden Bänden über den deutschen Stil — im Wörterbuch ohnehin — gegen das gute von der Vorzeit geborne und von Lessing wiedergeborne Wort soviel Kriegsgeschrei erhebt. 6 Adelung selber hingegen, so wie den Meißner Klassen — als den Kreisausschreibenden Sprach=Mächten und Reichs=vikarien und Reichs=Oberhäuptern des Deutschen — will das Einführen und Vorstellen von Neulingen weniger gelingen; fast leichter bringt ein Wort sie als sie dieses in Gang. Adelung hatte z. B. einiges Verlangen geäußert, das neue Wort G e m ü t h s s t e l l u n g statt Stimmung — das er folglich höheren Orts her hatte, weil seines Wissens nur die höhern Meißner Klassen die Sprache bilden — etwan gemein in den tiefern Klassen, nämlich unter den Autoren und dadurch allgemein zu machen; noch liegt das Wort bei ihm und wird nicht gangbar. Ich schlage es den Komikern zur Nutzung und Verbreitung vor; ihnen sind ja dergleichen Erfindungen ein schöner Fund* — Eines der besten Mittel, ein neues Wort einzuführen, ist, es auf ein Titelblatt zu stellen. * Wenn Adelung wie Nikolai gerade an allen unsern genialen Dichtern, ja -sogar an den liberalen Sprachforschern Heinatz und Voß Feinde hat:7 so schreib' er es theils seinem Schweigen über die Erbschaft fremder Sprachschätze (z. B. von Heinatz, Ramler8) zu, theils seinem Mangel an allem philosophischen und poetischen Sinne. Wer wie A. die Gelierte von unsern wahren Dichtern und Genien nur in der Lebhaftigkeit verschieden findet; wer das Genie für ein Plus der niedern Seelenkräfte ausgibt und bei einer „fruchtbaren Einbildungskraft" fragt: (Ueber den Stil II. S. 308) „wer hat die nicht?" und darauf antwortet: „der immer am meisten, der die höhern Kräfte am wenigsten bearbeitet und geübt hat" —: kurz, wem die Besten mißfallen, muß sich nicht wundern, daß er ihnen noch mehr mißfällt, besonders da unter allen geistesarmen Mustern des Stils, die er wählt und lobt, keines so dürftig ist als das, welches er selber gibt. Ich führe zum Beweise die Zueignung seiner Sprachlehre für Schulen an Herzberg an. „Ew. — haben unter so vielen andern erhabenen V o r z ü g e n auch die deutsche Sprache Ihrer Aufmerksamkeit gewürdigt und ihre Bearbeitung der unter D e r o weisen Leitung von neuen aufblühenden königl. Akademie der Wissenschaften empfohlen; ein Verdienst, welches Dero Namen auch in den Jahrbüchern dieser von den Großen der Erde nur zu s e h r verachteten Sprache unvergeßlich machen wird. Leibnitzens Entwurf bei Errich-

2.3. Text

29

Neue Wendungen und Konstrukzionen dringen sich am schwersten oder langsamsten durch die enge Pforte in die lebendige Sprachwelt, z. B. viele französische von Wieland, individuelle von Lessing, von Klopstock; erstlich weil die Annahme einer ganzen fremden neuen Wendung einem halben Raube und Nachhalle ähnlich sieht, und zweitens, weil sich ihre Feierlichkeit nicht so leicht wie ein kurzes Wort mit der Anspruchslosigkeit der Gesellschaft und des gemeinen Stils verflicht. Wenn man den Reichthum unserer Sprache, gleichsam eines Spiegelzimmers, das nach allen Seiten wiedergibt und malt, am vollständigsten ausgelegt sehen will: so überzähle man den deutschen Schatz an sinnlichen Wurzel=Zeitwörtern. * Ueberhaupt nur durch die Gewalt über die Zeitwörter erhält man die Herrschaft über die Sprache, weil sie als Prädikate dem Subjekte am willigsten zulaufen, und sich in jede grammatische Einkleidung am leichtesten zertheilen; z. B. aus: die j e t z i g e Z e i t b l ü h t , wird leicht: sie treibt Blüthen, steht in Blüthe, steht blühend da, die blühende Zeit, die Blüthen der Zeit K. Wer die Sprache mit erschaffnen Wörtern zu bereichern sucht, lebt meistens an alten verarmet; solche Blumen sind nur aus kranker Schwäche gefüllte und treiben neue Blätter. Lavater hat eben darum mehr

tung dieser Akademie, nach welchem die Ausbildung der deutschen Sprache mit in den Wirkungskreis derselben eingeschlossen w a r d , w a r eines so großen Mannes würdig; aber es blieb einem so großen Minister, welcher in den G e f i l d e n der Wissenschaften eben so sehr glänzt, als in dem G e b i e t h e der Staatskunst, vorbehalten, ihn nach mehr als einem Jahrhundert w e r k s t e l l i g zu machen, und dadurch der Schöpfer aller der bisher v e r s p ä t e t e n Vortheile zu werden, welche der Sprache daraus z u f l i e ß e n müssen." * Der Verfasser hat schon vor vielen Jahren ein kleines Wurzel=Register der sinnlichen und ein größeres aller Zeitwörter verfasset zum allgemeinen Besten seiner selber; 9 die Haupteintheilung ist in die intransitiven und in die handelnden Verba. Der intransitiven der Bewegung nach einem Orte z. B. sind über 80 (gehen, schreiten, rennen, stürzen, IC.) der handelnden über 70 (legen, stehen, werfen K.); jetzt diese unendlich fortgepflanzt, durch: be, an, ein, auf, ver, IC. IC. Für den Schall haben wir 100; vom allgemeinen an: rauschen, hallen ic. zum bestimmtem knallen, schmettern ic.; dann zum musikalischen: klingen, tönen ic. dann zum menschlichen: flüstern, lallen, plärren ic. dann zum reichen thierischen: schnattern, piepen, zirpen ic. — Als kürzeste Probe setz' ich die Verba einer gewissen Bewegung im Orte, nämlich der zitternden her: zittern, wirbeln, wanken, schwanken, nicken, zappeln, flattern, zucken, tanzen, taumeln, gaukeln, schaukeln, beben, wogen, wallen, schwindeln, wedeln, wackeln, schweppern, schlottern; jetzt noch enger: runzeln, kräuseln, fluthen, gähren, kochen, wirbeln, sprudeln, strudeln, sieden, ringeln, perlen —; dann handelnd: regen, rühren, schwenken, wiegen, rütteln, schütteln, schüttern, schaukeln, schwanken, kräuseln, quirlen, wirbeln, ringeln, fälbeln, lockern. — Ungeheuer ist der Reichthum an den Wörtern a) des Sterbens b) und des Tödtens; aber am meisten des Hasssens und Trennens. Nicht halb so reich ist die Sprache für paaren, gatten it.; ganz arm für Wörter der Freude.

30

2. Jean Paul (1763-1825)

Wörter geschaffen als Lessing und Herder und Göthe zusammen; so oft er sich nicht auszudrucken wußte, schuf er.* Wer die meisten neuen im sprachlahmen Drange der Unkunde erfindet, sind Kinder. Solchen Neulingen hängen zwei Nachtheile an: — daß sie in der scharf objektiven Poesie, in der rein epischen, in der rein komischen mit ihren vordringenden Ansprüchen mehr stören als wirken; und dann, daß sie da, wo die Malerei ein Blitz ist und kein Regenbogen, viel zu lange sind. Je länger aber ein Wort, desto u n a n s c h a u l i c h e r ; daher geht schon durch die Wurzel· Einsylbigkeit „Lenz" dem „Frühling" mit seinen Abieitern vor, so „glomm" dem „glimmte." Da man nicht neue Wurzeln erschafft, sondern nur die alten zu Zweigen und Ausschößlingen nöthigt und verlängert: so können sie selten ohne vor und nachsylbiges Schlepp=Werk, oder doch nicht ohne Spuren von dessen Abschnitte erscheinen.

2.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2

3

4 5

6

Karl Gottlob Anton: Geschichte der deutschen Nazion. Theil 1: Geschichte der Germanen. Leipzig: Göschen 1793. Johann Friedrich Heynatz (1744—1809) war seit 1775 Direktor des städtischen Lyceums in Frankfurt a. M. und wurde dort 1791 a. o. Professor der Rhetorik und der schönen Künste. Als Sprachforscher und Pädagoge ganz in Aufklärungstradition betrachtete er Sprache dezidiert unter normativen Gesichtspunkten. So überrascht es nicht, ihn mit mehreren Aufsätzen in den „Beiträgen" der Braunschweiger Sprachfreunde (siehe Bibl. A 29) zu finden. Seine Hauptveröffentlichungen sind: Briefe, die deutsche Sprache betreffend. 6 Theile. Berlin: Mylius 1771 — 1775; Anweisung zur Deutschen Sprache. Zum Gebrauch beim Unterricht der ersten Anfänger. Berlin: Mylius 1785; Versuch eines Deutschen Antibarbarus oder Verzeichnis solcher Wörter, denen man sich in der reinen deutschen Schreibart enthalten muß. Berlin: Academische Buchhandlung 1796-1797. Die — nicht immer zuverlässigen — Verknüpfungen wortgeschichtlicher Veränderungen mit bestimmten Autoren (wie hier mit Lessing) bleiben an dieser Stelle und im weiteren Verlauf des Aufsatzes unkommentiert und ohne bibliographische Nachweise. „da" ist wohl Druckfehler für „das". Ausgedrückt werden soll, daß „wund" nicht weniger indeklinabel war als „unpas, feind". Rousseau hatte in jungen Jahren ein mit Gold besticktes Band gestohlen und, zur Rede gestellt, die Schuld dem Dienstmädchen des Hauses zugeschoben, die zugleich seine Geliebte war. Diese „Band-Lüge" eines vortrefflichen Menschen behandelt Wieland in dem Aufsatz „Ueber eine Anekdote von J. J. Rousseau (an einen Freund). In: Neuer teutscher Merkur 1780, 2. Vierteljahr, April, 24—90. Zu den genannten Veröffentlichungen Adelungs siehe die Literaturhinweise in 1.2. — Auch Heynatz kritisiert in seinem „Antibarbarus" von 1796 den attributiven Gebrauch von „wund" (statt „verwundet").

* Doch bleibe seinen neuen Formen der physiognomischen Form, seinen gestaltenden Schöpfungs»Worten der Ruhm. 10

2.4. Anmerkungen des Herausgebers 7

8

9

10

31

Die Gegnerschaft der Dichter dokumentiert sich, was Adelung betrifft, z. B. im Umkreis der Debatte „Was ist Hochdeutsch" (vgl. Kap. 1 in diesem Band) und zieht sich auch durch die späteren Beiträge in diesem Band. Er blieb dennoch auch für die „genialen Dichter", z. B. Goethe, eine konsultierte grammatische und lexikographische Autorität. — Anders bei Christoph Friedrich Nicolai (1733 — 1811), der in seiner Spätzeit als Beispiel platter Aufklärungsliteratur zum Prügelknaben aller wurde (Herder, Goethe, Schiller, Lavater, Fichte, A. W. u. F. Schlegel u. a.). Die Gegnerschaft richtet sich jedoch nur nebenbei auf seine Sprachauffassungen. Vgl. zu diesen Adolf Schach: Nicolais Bemühungen um die deutsche Sprache. Diss. Gießen 1912. Karl Wilhelm Ramler (1725 — 1798), als Dichter vor allem Lyriker in antiker Formtradition, leitete 1790 — 1796 das Berliner Nationaltheater und wurde 1792 in die Königliche Akademie der Wissenschaften berufen, um mit den anderen neu aufgenommenen Mitgliedern der „Deutschen Deputation" im Sinne einer Vervollkommnung der deutschen Sprache zu wirken. Seine beiden Vorträge in der Akademie (siehe Bibl. A 26 u. 32) hatten die Themen „Von der Bildung der Deutschen Beywörter" (1. Sammlung, 160—213) und „Über die Bildung der Deutschen Nennwörter" (2. Sammlung, 1 — 153). Jean Paul bezieht sich auf unveröffentlichte Wörtersammlungen, die er — wohl in den 80er Jahren — zum eigenen schriftstellerischen Gebrauch angelegt hatte. Sie sind teilweise bei Wilkending (siehe die Literaturhinweise in 2.2.) abgedruckt. Gemeint sind die „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe", die Lavater zwischen 1775 und 1778 veröffentlichte.

3. Karl Wilhelm Kolbe (1759-1835) 3.1. Einführende Bemerkungen Karl Wilhelm Kolbe verbrachte sein Leben, den Ort wiederholt wechselnd, vornehmlich in Berlin, wo er geboren wurde, und Dessau, wo er starb. Er ist nicht in erster Linie als Sprachforscher bedeutsam, sondern als Zeichner und Radierer, der durch seine stilistisch an Antonie Waterloo und Salomon Geßner orientierten Landschaftsradierungen bekannt wurde. 1795 wurde er ordentliches Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Seinen Lebensunterhalt bestritt er die längste Zeit seines Lebens mit einer Tätigkeit als Lehrer für Zeichnen und Französisch in Dessau, Anfang der 80er Jahre zunächst am Philanthropin, von 1798 bis 1828 mit Unterbrechungen an der Dessauer Hauptschule. 1798 wurde er zusätzlich zum Hofkupferstecher ernannt. Akademische Würden wurden ihm 1810 durch die Verleihung der Doktorwürde durch die Universität Halle zuteil. Sein Beitrag zur Sprachforschung besteht in einigen Büchern zur Sprachreinigung, die z. T. zwei oder drei Auflagen erlebten und ihn zu einer wichtigen Figur in den Sprachreinigungsbestrebungen der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts machten. Eigentlich hat er aber nur ein Buch geschrieben, nämlich die 1806 und 1809 in zwei Teilen veröffentlichte Schrift „Über den Wortreichthum der deutschen und französischen Sprache". Alle folgenden Bücher sind entweder Anhänge, Nachträge oder Neubearbeitungen dieser Schrift oder Rechtfertigungen gegenüber seinen zeitgenössischen Kritikern. Auch der hier abgedruckte Text zeigt das puristische Interesse deutlich; doch wurde, der Zielsetzung dieser Dokumentation entsprechend, ein Kapitel gewählt, das im Thema und in der Ausführung den Blick auf den allgemeinen Zustand der deutschen Sprache erweitert. Als Vorlage diente ausnahmsweise nicht die erste Auflage von 1806, sondern die zweite von 1818. Die Abweichung vom Prinzip hat darin ihren Grund, daß die Überlegungen Kolbes zur Armut der deutschen Sprache in der 1. Auflage noch keinen Kapitelstatus, wohl aber weit mehr als den doppelten Umfang hatten, ohne daß man sagen könnte, der Text enthielte mehr Informationen oder Argumente. Der größere Umfang in der 1. Aufl. ergibt sich aus einer Reihe überlanger Anmerkungen, die in der 2. Aufl. gestrichen bzw. zu einem neuen Kapitel „Fortsezung" verarbeitet wurden. Der eigentliche Text ist, bis auf einige 1818 angefügte Seiten, in beiden Auflagen so gut wie identisch.

3.3. Text

33

3.2. Literaturhinweise Textvorlage Karl Wilhelm Kolbe: Ueber den Wortreichthum der deutschen und französischen Sprache, und beyder Anlage zur Poesie; nebst andern Bemerkungen, Sprache und Litteratur betreffend. 2., ganz umgearb. Ausgabe. 3 Bde. Berlin: Realschulbuchhandlung 1818-1820, Bd. 1, 5 8 2 - 5 9 4 . Weitere Literatur A: Ueber den Wortreichthum der deutschen und französischen Sprache, und beyder Anlage zur Poesie; nebst andern Bemerkungen, Sprache und Litteratur betreffend. 2 Theile mit Anhang. Berlin: Reclam 1806-1809. Ueber Wortmengerei. Anhang zu der Schrift: Ueber den Wortreichthum der deutschen und französischen Sprache. Leipzig: Reclam 1809. Abgerissene Bemerkungen über Sprache. Ein Nachtrag zu der Schrift: Ueber Wortmengerei. Leipzig: Fleischer 1813. Noch ein Wort über Sprachreinheit gegen Herrn K. Reinhardt. Berlin: Reimer 1815. Beleuchtung einiger öffentlich ausgesprochenen Urtheile über und gegen Sprachreinheit. Dessau: Ackermann 1818. Mein Lebenslauf und mein Wirken im Fach der Sprache und der Kunst. Nebst Berichtigungen und Zusätzen zu der letzten Ausgabe meiner Schrift über Wortmengerei. Berlin: Reimer 1823. B: Kirkness: [Bibl. C 13], Bd. 1, 1 7 7 - 1 8 5 .

3.3. Text A r m u t d e r d e u t s c h e n S p r a c h e in m a n c h e n F ä c h e r n u n d d i e U r s a c h e n dieser Armut (1806/1818) Bei dem übergroßen, man mag wol sagen unermeslichen Reichtum, dessen sich unsere Sprache erfreut, gibt es dennoch manche Fächer, in denen sie — arm ist. Diese Armut ist eine natürliche Folge der Art und Weise, wie sie sich fortgebildet hat. Unser verwildertes Vaterland, nur zu Taten der Faust abgehärtet, unbegünstigt von dem Einflus eines milderen Himmels, mit den sanften Künsten des Friedens unbekant, und lange Zeit der öde, wüste Schauplaz zerstörender Kriege und scheuslicher Verwirrung, vermochte nicht, wie einst das glükliche Griechenland,

34

3. Karl Wilhelm Kolbe (1759-1835)

durch eigene Kraft sich zur Gesittung emporzuarbeiten. Die feinere Bildung kam uns von außenher. Angränzende Völker, die uns zuvorgeeilt waren, zwangen durch die unwiderstehliche Gewalt, die der geistige Mensch über den blos tierischen übt, ihre Gewohnheiten, ihre Lebensformen uns auf. Frankreich war damals durch Macht und Kriegesruhm vorhersehend. Seine Heere durchschwärmten unsere Landschaften. Der Glanz, der den Tron der L u d e w i g e umgab, blendete die Augen der Welt. Die Fürsten, die Großen unter uns strömten nach Paris und brachten fremde Begriffe und eine fremde Sprache zurük. Staatseinrichtungen, Regirungsgeschäfte, Rechtsverfassung, Verhältnisse und Sitten des geselligen Lebens, Kleidertrachten und was sonst noch ins Gebiet der Mode einschlägt, Gegenstände wissenschaftlicher Erkentnis, alles erhielt einen neuen Anstos und gewan eine andere Gestalt. Feiner Sin für der Sprache Einheit und Schönheit konte damals unter uns noch nicht einheimisch sein. Dieser Sin eilt der Bildung nicht voraus, er ist eine Wirkung derselben. Die Sprache wurde nur als Werkzeug des Bedürfnisses, nicht höheren Geistesanbaus betrachtet und gehandhabt. Der Gelehrte, der Große schämte sich ihrer. Jener sprach und schrieb lateinisch, dieser französisch. Es fehlte an geachteten Männern, die in unseren vaterländischen Schäzen nach Bezeichnungen für die eingedrungenen Begriffe hätten forschen können oder wollen. Man nahm die fremden Wörter unverändert oder mit Bastardendungen auf. Ein ungeheurer Schwärm unförmlicher Zwitter überschwemte unsere kaum geborene Litteratur, versteifte unseren geselschaftlichen Ausdruk, drang bis ins Heiligtum und entweihte misgestaltend den Vortrag unserer Volkslehrer. — So muste die Sprache, weil diese Zwitterprägungen ihr nie eignen können, in vielen Fächern dürftig bleiben. „Es ereignet sich, sagt L e i b n i z in seinen u n v o r g r e i f l i c h e n G e d a n k e n , betreffend die A u s ü b u n g und V e r b e s s e r u n g der deutschen Sprache, es ereignet sich aber einiger Abgang bei unserer Sprache in denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen, sondern allein durch Betrachtung erreichen kan, als bei Ausdrükkung der Gemütsbewegungen, auch der Tugenden und Laster und vieler Beschaffenheiten, so zur Sittenlehre und Regirungskunst gehören; dan ferner bei denen noch mehr abgezogenen und abgefeimten Erkentnissen, so die Liebhaber der Weisheit in ihrer Denkkunst und in der algemeinen Lehre von den Dingen unter dem Namen der Logik und der Metafysik auf die Bahn bringen; welches alles dem gemeinen Man etwas entlegen und nicht so üblich; dahingegen der Gelehrte und Hofman sich des Lateins oder anderer fremden Sprachen in dergleichen fast allein, und in so weit zuviel beflissen: also daß es den Deutschen nicht an Vermögen, sondern an Willen fehlt ihre Sprache durchgehens zu erheben. Denn weil alles was der gemeine Man treibt, wol in Deutsch gegeben wird, so ist kein Zweifel daß dasjenige, so vornehmen und gelehrten Leuten mehr vorkomt, von diesen, wenn sie gewolt, auch sehr wol, wo nicht besser, in reinem Deutsch gegeben werden können." — und weiter: „Am allermeisten ist unser Mangel bei denen Worten zu spüren, die sich auf das Sittenwesen, Leidenschaften des Gemüts, gemeiniglichen Wandel, Regirungssachen und allerhand bürgerliche Lebens- und

3.3. Text

35

Staatsgeschäfte beziehen, wie man wol befindet, wenn man etwas aus anderen Sprachen in die unsrige übersezen wil." 1 Daß es uns an Vermögen nicht fehlt auch in diesen Punkten unsere Sprache auszubilden, haben wir durch die Tat bewiesen. Denn seit der Zeit, da L e i b n i z Obiges geschrieben, ist ein großer Teil jener Lükken mehr oder minder wirklich ausgefült worden. An Ausdrükken sitliches Inhalts die Tugenden und Laster, die Bewegungen des Gemüts und überhaupt alle Eigenheiten und Äußerungen des denkenden und empfindenden Menschen anzudeuten, haben wir keinen Mangel mehr. In der Filosofie hat W o l f die Bahn zu ebnen angefangen, und was konte K a n t hier leisten, wenn er, stat der barbarischen, griechischlateinischen Wortscheusale, die er, nicht zur Ehre des guten Geschmaks, der Wissenschaft aufdrängte, lieber aus dem heimischen Sprachschaze Bezeichnungen zu seinen tiefsinnigen Gedanken sich geschöpft hätte! Im Gebiet der Staatskunst, der Regirungsgeschäfte, der bürgerlichen Einrichtungen, des Kriegswesens, etc. ist vieles von höheren Behörden abhängig, die, weil wichtigere Dinge ihre Aufmerksamkeit fesseln, mit der unbedeutenden Angelegenheit die vaterländische Sprache, den Zündpunkt und Heerd des Gemeinsins, zu reinigen und zu veredeln sich noch nicht haben befassen können. * Hier liegt manche Strekke noch öde, — nicht sowol weil es an Zeichen gebricht, als weil das bleierne Herkommen den Gebrauch derselben untersagt. Es ist eine alte Klage, die aber leider immer noch Grund hat: keine Nation verwendet auf Ausschleifung und Veredelung der Landessprache weniger Fleis als wir. Daß die Geistesbildung eines Volkes mit dem Anbau der Muttersprache gleichen Trit hält; daß durch diese, und fast durch diese allein, in ihren leisesten, zartesten Regungen die Seele sich ausspricht; daß wie die Sprache veredelnde Pflege des Menschen annimt, sie auch wiederum veredelnd auf sein Innerstes zurükwirkt, und so, was dem Körper Luft und Nahrung, das und noch mehr dem Geiste ist; daß einer Nation ihre Muttersprache zu dem Kostbarsten, Heiligsten gehört, was sie besizt, weil sie als geschlossene, selbständige Geselschaft mit derselben steht und falt; daß auch das mächtigste Volk ohne ausgebildete Sprache und Litteratur zwar wol gefürchtet, aber nicht geehrt wird: indes der fleißige Anbau beider einer Nation auch nur von geringem politischen Einflus Achtung und Liebe ihrer mächtigeren Nachbaren erzwingt; daß bei uns Deutschen insbesondere Sprache und Litteratur das einzige Band sind, so die auseinander strebenden Gemüter noch zusammenhält, der einzige feste Punkt, an den Gemeinsin und Vaterlandsliebe sich noch anknüpfen lassen, und wir demnach mehr als andere Völker Veranlassung * In Wirtemberg hat — so man anders den Nachrichten trauen darf, — diese Angelegenheit, die nur dem Flachgeiste geringfügig scheinen kan, die Aufmerksamkeit der Regirung endlich auf sich gelenkt. In den verschiedenen Zweigen der Staatsverwaltung sollen, heist es, die fremden Benennungen durch deutsche verdrängt werden. Wenn andere Teile unsers Vaterlandes sich die Ehre entreißen ließen hier Bahn zu brechen, so würde es ihnen doch Schmach sein dem gegebenen Beispiele nicht zu folgen. 2

36

3. Karl Wilhelm Kolbe (1759-1835)

haben unsere Gesamtrede der sorgsamsten Pflege, der unverdrossensten Bearbeitung wert zu achten: das scheinen weder unsere Staatsmänner, denen jedes Mittel die schlummernde Kraft der Nation zu wekken wilkommen sein müste, noch unsere Gelehrten, die Ausbreitung veredelnder Geistesbildung bezwekken, zu wissen oder wissen zu wollen.* In Staatsverhandlungen wird sie entweder nicht gebraucht oder entwürdigt. In Schriften gilt sie noch immer für Nebensache, für bloßes Werkzeug des Bedürfnisses. Unseren Schriftstellern (ich spreche von der Mehrzahl;) ist es mehr darum zu tun den Gedanken festzuhalten als durch gefälligen Ausdruk ihn schön zu bilden. Gleichwol lehrt uns die Erfahrung daß in Werken der Darstellung nur die Form den Inhalt adelt; daß die volwichtigsten, gediegensten Gedanken, so die Sprache sie nicht hebt, ihren Schöpfer selten überleben; gleichwol sehen wir daß die Schriftsteller aller Zeiten, deren Namen man nent, weniger dem was sie gesagt, als der Art wie sie es gesagt, ihre Unsterblichkeit verdanken. ** Schlimmer noch wird im Verkehr des Lebens und im geselschaftlichen Umgange unsere Sprache verwahrlost. Hier mus sie gegen eine Fremdlingin sich wehren, die in den sogenanten feineren Zirkeln ihre Rechte sich angemast hat, und * Es wäre zu wünschen daß der Bundestag die deutsche Sprache, dies gemeinsame Gut der Nation, das allen deutschen Völkerschaften gleich nah liegt, zu einem besonderen Gegenstande seiner Verhandlungen und Beratungen machte, und wenigstens einige der Hindernisse, die sich ihrer Volkomnung in den Weg legen, hinwegzuräumen suchte. Auf eines dieser Hindernisse hat Pauli in seiner sehr beherzigungswerten Schrift: B e i t r ä g e zur S p r a c h w i s s e n s c h a f t , Erster Band, deutlich genug hingewiesen.3 Es ist ja ein so einfacher, dem gesunden Verstände so licht entgegentretender Saz: Ohne Ausbildung des Geistes ist ein Volk, wie die Dinge in Europa jezt stehn, nur ein gemeines, verächtliches Volk. Geistesbildung eines Volkes aber (nicht Einzeler im Volke;) läst sich ohne vollendete Ausbildung seiner Sprache durchaus nicht als möglich denken; denn Volksgeist und Sprache sind nur eins. — Dennoch scheinen unsere Gewaltigen ihn noch immer nicht begriffen zu haben, diesen so einfachen Saz. Oder dünkt es ihnen weniger ehrenvol etwa über g e b i l d e t e Völker zu herschen, als über solche, die feig und träg die Sklavenkette schleppen? Wollen sie daß das Wort wahr werde: Ehemals verachteten unsere Machthaber den deutschen Geist, „et la liberie de la presse se sauva α la faveur du dedain voue ä la langue et ä la litterature nationale;" (Mirab.)4 jezt verachten sie ihn nicht mehr; sie fürchten ihn, und die beschränkte Presfreiheit, so wie die in ihrer Unmündigkeit möglichst erhaltene Sprache sol ihn gewaltsam niedertreten? Wollen sie daß jeder Bessere unter uns sich insgeheim zurüksehne nach dem etwa zu voreilig abgeschüttelten Joche der Franzosen? — Aufhalten läst sich der vorstrebende Geist der Völker nicht mehr. Wol den Fürsten, die dem strebenden die Hand bieten und die Hemnisse zu beseitigen trachten, die dem Vorschreiten desselben sich entgegensezen! ** G a r v e n s Anmerkungen zu Ciceros Abhandlung über die P f l i c h t e n sind vielleicht sachreicher und gediegneres Inhalts als die römische Urschrift. Und doch wem könte es wol einfallen den Schriftsteller Garve neben den Schriftsteller Cicero zu stellen?5

3.3. Text

37

auf verjährten Besiz trozend, jeden Fus breit des gewonnenen Bodens mit Hartnäkkigkeit ihr streitig macht. Wird es die Nachwelt glauben daß der Deutsche unserer Zeit feig genug dachte fremdes Eigentum dem seinigen warlich nicht schlechteren vorzuziehn, in fremde Formen seinen Geist freiwillig einzupressen, und durch diese unnatürliche Selbsterniedrigung der Nation, der diese Formen zugehören, sklavisch zu huldigen? daß es ihm ehrvoller schien eine ausländische Sprache zu stammeln, als die heimische zu reden?* Unsere Unterhaltungen sind französisch oder, was noch schlimmer ist, halbfranzösisch, — aus französischen Lumpen geschmaklos zusammengeflikt und fast wörtlich aus dem Französischen übersezt. An Hemmung dieses Unfugs, der für Sprache und Geist der Nation gleich verderblich ist, darf freilich, so lange bei unseren höheren Ständen die Französin in ihrem widerrechtlich erschlichenen Besize sich behauptet; so lange keine zwekmäßigere, echt deutsche Erziehung das Übel in seinem Keime erstikt, auch nur von fern nicht gedacht werden. Dennoch ist, was unter so widrigen, gegenstrebenden Umständen nur immer geschehen konte, wirklich geschehn. Edle Männer aus der Mittelklasse, von unseren Fürsten und Großen ungekant oder verachtet, fasten den schönen Entschlus den Geist des Deutschen anzuregen und ihrem Volke einen Stand unter den gebildeten Nationen Europas zu geben. 7 Sie schufen uns eine Litteratur; und um dieses zu können, unternahmen sie das Riesenwerk unsere seit Jahrhunderten überschwänglich verwilderte Sprache aus dem Wüste des Verderbnisses wieder herauszuarbeiten und die durch verständige Pflege veredelte zum Werkzeug des höheren Denkens und Empfindens auszuschleifen. Unter ihren rasch geschäftigen Händen nahm sie schnei Gestalt und Farbe an und geschmeidigte sich stufenweise zu jeglicher Art des schriftlichen Vortrags. Auch für die feineren Verhältnisse des geselligen Lebens hat sie durch ihre Bemühungen an Gewandtheit und Anmut der Formen gewonnen. Fremde Bezeichnungen musten einheimischen * Kaum begint das Franzosenfiber unter uns ein wenig nachzulassen, so ergreift uns die Wut den Engländern nachzuäffen. „Die in brittischen Diensten gestandenen Militairpersonen, wird aus Hannover geschrieben, scheinen einen besonderen Stolz darin zu suchen sich der englischen Sprache lieber als ihrer Muttersprache zu bedienen. Manche stellen sich sogar an das Deutsche verlernt zu haben.6 — Das Franzosentum konte in der neueren Periode hier nie tiefe Wurzeln schlagen. In dieser Hinsicht mag Hannover vor anderen Orten manches von sich rühmen können. Dagegen macht das Angeltum Zusehens Fortschritte, und man bemerkt hier ein herschendes Streben sich die englischen Sitten möglichst anzueignen." — So ganz alles eigenen Charakters baar und blos ist der Deutsche, — ein Chamäleon unter den Nationen, der, selbst farblos, immer nur von seinen nächsten Umgebungen die Farben entlehnt. In Wien und Dresden, wie man weis, wird am Hofe und in den sogenanten gebildeten Zirkeln — zwar nicht englich, sondern italiänisch geschnattert. Die Muttersprache gilt dort noch immer für eine „arm und grob und plump Sprak," wie Riccaut de la M a r l i n i e r e sagt.12

38

3. Karl Wilhelm Kolbe (1759-1835)

weichen. Manche leichtere Wendung ist aufgekommen, und der steife, altvaterische Ton wird aus unseren besseren Zirkeln durch einen lebhafteren, gefalligeren immer mehr und mehr verdrängt: so daß auch hier unsere Sprache ihrer Nebenbulerin gegenüber nicht gar zu sehr zu erröten braucht. — Und selbst diese leichte Schamröte hätte man ihr bei noch sorgfaltigerer Benuzung und Bearbeitung des bereits Vorhandenen erspart. Einige Männer, unter denen ich C a m p e nenne, haben das Versäumte nachzuholen, und sowol hier, als auch in anderen Fächern, die etwa noch fehlenden Ausdrükke aus unserem eigenen Vorrat herbeizuschaffen gesucht.8 Ihre Bemühungen sind von den Verständigsten anerkant und geehrt worden. Manche ihrer glüklicheren Wortgebilde sind wirklich in Umlauf gekommen. Andere dürften in Anlage, Bau und Färbung noch mangelhaft sein. Wiederum andere, echtes und gutes Geprägs, die übersehen worden, erwarten nur einen günstigen Zeitpunkt um ehrvol aufzutreten. Überhaupt kan wol Niemand leicht der Uberzeugung sich entziehn daß unsere Sprache, bei ihrer unbeschränkten Fruchtbarkeit, bei der Fülle ihrer Elemente, und ihrer unglaublichen Fertigkeit diese auf tausendfache Art zu verbinden und zu verarbeiten, zur Bezeichnung jedes für den D e u t s c h e n unentbehrlichen Begrifs Stof und Mittel in sich enthält. Wenn dennoch in unserem Ausdruk so manche Lükke noch gähnt, so liegt offenbar die Schuld nicht an der Sprache selbst; diese ist eine gute Mutter, die ihren Kindern, wenn sie ernstlich bitten, gern hülfreich die Hand beut: sondern an den Männern, die sie handhaben, und die, des Herkommens bequeme Anhänger, lieber träg und schlendermäßig fortfahren durch fremde Mummerei sie zu entstellen, als sich beeifern wollen ihre angeerbten Schäze mit Sorgfalt zu benuzen und durch almälige Ausstoßung des in Zeiten der Barbarei eingedrungenen abheimischen Wustes jene Lauterkeit ihr anzueignen, ohne welche, sei sie in anderen Teilen auch noch so abgeglättet, gehaltreich und ausdruksvol, sie doch immer nur als ein verdorbenes und verfälschtes und verkrüppeltes Ganzes, als ein in zwei Hälften geteiltes, centaurartiges Ungeheuer betrachtet werden kan; immer nur in Vergleich mit enthaltsameren Schwestern für roh und unförmlich und ungebildet gelten mus. Denn nie werden unsere Wortmischer den Man von Geschmak und Feingefühl überzeugen daß eine Rede, in der man so schreiben darf;9 „Die mehresten Sprachlehrer scheinen diese Definition zum Grunde der ihrigen gelegt zu haben; nur daß sie selbige da, wo sie ihnen mangelhaft scheint, zum Teil verbessern. Denn die Adverbia stehen nicht nur bei Verbis, sondern eben so gern bei Adjectivis, Participiis und anderen Adverbiis." Funke. „Denn einmal hatte der Gedanke nicht Enumeration, nicht Amplification genug, um mit dem recapitulircndcn Epiphonema der etwas hyperbolischen, mithin unwahren Totalität beschlossen werden zu können." Bürger. „Aber ist es denn nicht eine horrende Eitelkeit, die nur durch die stupide.ste Stupidität erzeugt werden kan, wenn solch ein Bursche sich über das Werk des Dichters erheben wil?" F a n t a s i e s t ü k k e in C a l l o t s M a n i e r . „Die damaligen Civilver-

3.3. Text

39

dienstorden und die Zeichen der römischen Legion d'honneur hatten ihn nicht captivirt." Paulus. „Wer wolte zweifeln daß Maria, die soviel Gout an Rizzo fand, das Italiänische verstand?" Schwab. „Milton supponirt in seinem kleinen Werke von der Erziehung daß man alle junge Leute das Italiänische lehrt." Schwab. „Auch ging er dabei etwas indiscret und cavaliensch zu Werke; einen Gelehrten zu compromittiren, daraus machte er sich nichts." Stolz. „Das Femininisireη und Infantisiren so mancher höheren und profunde.ren Materie." Göthe. „Das ihn von allen seinen unter diesem Menschengeschlechte von ihm gekanten Semblables unterschied. Es war ein mit seiner eigentümlichen Hartnäkkigkeit, Stubborness und Obstination fortgeseztes Tagebuch, Diarium oder Journal.'''' Cramer. „Ich hatte mich oftmals geärgert an der Indecen^ ihrer delabrirten Gestalt, und man konte nie vorbeigehn mit einem Royallsten oder Ultrarevolutionair ohne ihren Gegenstand durch mauvaises Plaisanteries angefeindet zu hören." Cramer. „Ich bin oft einsilbig, den Kopf vol, maussade und bourru." Cram. „Es waren theatralische Optikmojens in Contribution dabei gesezt." Cram. „Ultra das Posse einer Sprache ist Niemand obligirt." Cram. „Um bis zur definitiven Constituimng der privileginen Nationalb&nk dem Geldverkehre und durch diesen den commerciellen und industriellen Unternehmungen die möglichste Erleichterung zuzuwenden, zugleich aber den dazu gewidmeten disponiblen Bank.fond so bald als möglich seiner Bestimmung zuzuführen, ist eine unter öffentlicher Aufsicht stehende Esconto&a&toXt eingesezt worden, welcher die disponiblen Gelder der Bank und ein von der hohen Staatsverwaltung bewilligter Zuschus übergeben, und deren Leitung einem aus der Mitte der Actionaire gewählten Ausschusse anvertraut ist. Die auf solche Art gebildete privilegirte Escontokasse wird Wechsel discontiren, welche auf gesezliche, conventionsmäßige Münze lauten, und auf dem hierortigen Plaze zahlbar sind." Algem. Zeit. — „Man wird in anderen Weltteilen in dem Neger die Menschheit ehren und in Europa sie in dem Denker schänden. Die alten Grundsäze werden bleiben, aber sie werden das Kleid des Jahrhunderts tragen, und zu einer Unterdrükkung, welche sonst die Kirche autorisirte, wird die Filosofie ihren Namen leihen. Von der Freiheit erschrekt, die in ihren ersten Versuchen sich immer als Feindin ankündigt, wird man dort einer bequemen Knechtschaft sich in die Arme werfen, und hier von einer pedantischen Curatel zur Verzweiflung gebracht, in die wilde Ungebundenheit des Naturstandes entspringen. Die Usurpation wird sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die Insurrection auf die Würde derselben berufen, bis endlich die große Beherscherin aller menschlichen Dinge, die blinde Stärke, dazwischentrit und den vergeblichen Streit der Principle η wie einen gemeinen Faustkampf entscheidet." Schill. — daß, sage ich, eine Sprache, in der man so schreiben darf oder gar mus; eine Sprache, in die man jeden Schmuz der Fremde, er sei welcher er wolle, einzuschleppen das Recht hat oder sich nimt, eine g e b i l d e t e S p r a c h e mit Fug heißen könne. Die Sprache ist weiter nichts als ein Inbegrif, eine Gesamtheit gleichartiger, unter Ein Gesez gestelter Wörter; und wer in eine selbständige Ursprache Wörter einer wildfremden, ganz anderen Gesezen untergebenen Rede hineinzert, der macht offenbar aus Einer Sprache zwei.10 Ein solcher

40

3. Karl Wilhelm Kolbe (1759-1835)

aus widerartigen Stoffen roh zusammengekneteter, durch feindlich sich bekämpfende Gebote mehrerer schrof auseinander stehenden Reden wechselsweise beherschter Wortklumpen ist nicht eine Mischsprache wie die englische und französische; hier haben sich im stillen Lauf der Zeit die Elemente verschiedener Sprachen wirklich zur Einheit verschmelzt und almälig unter Ein Gesez gesteh: sondern eine Doppel- oder Zwittersprache, wie das verdorbene Latein des Mittelalters und das canusische Kauderwelsch, dessen H o r a t i u s in seinen Satiren spottet. 11

3.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

3

4 5

6 7 8 9

10

11

Kolbe zitiert aus den Abschnitten 10 und 15 der 1717, ein Jahr nach dem Tode von Leibniz veröffentlichten „Unvorgreiflichen Gedanken". Der Aufsatz war 1793 in den „Beiträgen zur deutschen Sprachkunde" der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Bibl. A 26) wieder abgedruckt worden. Zum Zeitpunkt der hier abgedruckten 2. Aufl. des Textes wäre es möglich gewesen, auch von anderen Regierungen Löbliches zu berichten, z. B. von der preußischen. Sie dekretierte in der „Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden" v. 27. Okt. 1810, daß der Curialstil „durchgängig abgeschafft" werden solle. Christian Moritz Pauli (1785 — 1825), zunächst als Lehrer in Lübben tätig, war ab 1817 Professor in Berlin und Mitglied der „Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache". 1811 veröffentlichte er sein erstes Buch zur Sprachreinigung unter dem Titel „Die Sprachreinigkeit von Seiten ihres förderlichen Einflusses auf Sprachbereicherung" (Leipzig: Kummer). Die von Kolbe herangezogenen „Beiträge zur Sprachwissenschaft" erschienen im gleichen Verlag in drei Bänden zwischen 1812 und 1817. Herkunft des Zitats von Mirabeau nicht ermittelt. Christian Garve (1742—1798) wurde 1770 als Nachfolger Gellerts Professor in Leipzig, gab die Professur jedoch schon 1772 zu Gunsten einer Tätigkeit als Privatgelehrter und freier Schriftsteller wieder auf. Wegen seiner popularphilosophischen Schriften genoß er in den 70er und 80er Jahren hohes Ansehen. Ciceros Schrift übersetzte und kommentierte er im Auftrag Friedrichs II. — Zu seinen Abhandlungen über die deutsche Sprache siehe u. a. Bibl. A 35. Herkunft des Zitats nicht ermittelt. Zu den „edlen Männern" dürften Klopstock, Lessing, Wieland und Goethe gehören, zu den Fürsten vor allem Friedrich II. Siehe Bibl. A 2—5, 7 u. 22. Zu Campes Bemühungen um Sprachreinigkeit siehe die Literaturhinweise in Kap. 1.2. Ich sehe davon ab, die folgenden Sprachproben bibliographisch zu belegen, da ihr Beispielwert dadurch nicht erhöht wird. (Bemerkenswert ist allerdings die Sprachprobe, die Kolbe selbst liefert. Der mit „Denn nie" beginnende Satz umfaßt im Original 76 Zeilen.) Da dieser Passus in der zweiten Auflage ergänzt wurde, liegt es nahe, den Begriff der „Ursprache" bei Kolbe auf die Lektüre von Fichtes „Reden an die deutsche Nation" (1808) zurückzuführen. Das griechisch-lateinische Sprachgemisch im antiken Canusium verspottet Horaz in der 10. Satire des 1. Buches.

3.4. Anmerkungen des Herausgebers 12

41

Den Chevalier Riccaut de la Marliniere führt Lessing in „Minna von Barnhelm (IV, 2) mit einem wunderlichen französisch-deutschen Sprachgemisch als Boten für die gute Nachricht ein, daß „die Sak von unserm Major sei auf den Point zu enden, und gutt zu enden".

4. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) 4.1. Einführende Bemerkungen Im ersten Abschnitt des folgenden vierten Kapitels der „Reden an die deutsche Nation" sagt Fichte ausdrücklich, daß er zeigen will, „was der Deutsche an und für sich, unabhängig von dem Schicksale, das ihn dermalen betroffen hat, in seinem Grundzuge sey, und von jeher gewesen sey, seitdem er ist." Dem Text fehlt also, sowohl was die Intentionen Fichtes als auch was die Ausführung betrifft, der Bezug auf die deutsche Sprache der Gegenwart, sieht man davon ab, daß Fichte gegen Ende hin seine allgemeine These am Beispiel der zeitgenössischen Ausdrücke „Liberalität", „Humanität" und „Popularität" illustriert. Zur Rechtfertigung der Aufnahme des Textes in eine Dokumentation zeitgenössischer Reaktionen auf den Zustand und die Veränderungen der deutschen Sprache könnte man anführen, daß Fichte aus den allgemein geschichtsphilosophischen Überlegungen ganz konkrete Handlungsanweisungen für die unmittelbare Gegenwart ableitet; ausschlaggebend war indes die große Wirkung, die Fichtes Anschauungen auf die Sprachdiskussion der Zeit und der folgenden Jahrzehnte ausgeübt hat. Ihre Spuren sind in diesem Band am klarsten bei Wienbarg (16.3.) und Becker (21.3.) erkennbar. Fichtes Theorie vom Deutschen als Ursprache, die er, ohne das Wort zu gebrauchen, im vierten Kapitel als Ausgangspunkt seines Programms nationaler Erziehung entwickelte, verschaffte vor allem dem Purismus die Möglichkeit, sich durch Berufung auf eine philosophisch legitimierte Sprachtheorie vom Odium primitiven Fremdenhasses zu befreien. Die Theorie war freilich weder ganz neu noch unbestritten. Fichte stellt selbst fest: „Zwar spreche ich [...] nicht eben ganz neue, und bisher unerhörte Sätze aus, sondern es giebt unter uns viele einzelne, die für eine solche Ansicht der Sache entweder sehr gut vorbereitet, oder auch wohl mit derselben schon vertraut sind. Unter der Mehrheit aber sind über den anzuregenden Gegenstand Begriffe im Umlaufe, die von den unsrigen sehr abweichen [...]". Zu den Vorbereiteten gehören u. a. Herder, der den Vorzug des Deutschen als „unvermischte Sprache" preist, und Campe, für den die Durchsichtigkeit der erbsprachlichen Wörter ein wesentliches Motiv für seine Verdeutschungsvorschläge war. Der Hinweis auf Campe oder auf Kolbe (vgl. 3.3. in diesem Band) kann zugleich deutlich machen, daß Fichte nicht den faktischen Zustand der deutschen Sprache ins Blickfeld nimmt, zeichnete der sich doch zum Ärgernis vieler gerade durch eine hochgradige Vermischung aus, sondern die deutsche Sprache „an und für sich" in ihrer Potentialität.

4.3. Text

43

Kann man also Fichte nicht mit dem Verweis auf die faktische Vermischung kritisieren, so bleibt doch die These von der Durchsichtigkeit der genuin deutschen Wörter, auf der das ganze Gedankengebäude Fichtes ruht, problematisch. Schon Jean Paul artikuliert in seiner Rezension (siehe die Literaturhinweise in 2.2.) seine Zweifel, und Jacob Grimm befindet in der Jahrhundertmitte in seinem Akademievortrag „Über Etymologie und Sprachvergleichung" (1854), ohne Fichte zu nennen, „daß bei weitem nur die Minderzahl deutscher Wörter das Gefühl der Abstammung bewahrt haben" (Kleinere Schriften. Bd. 1, Berlin 1864, 300).

4.2. Literaturhinweise Textvorlage Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Berlin: In der Realschulbuchhandlung 1808, Vierte Rede, 1 1 3 - 1 4 4 . Weitere Literatur A: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprünge der Sprache. In: Philosophisches Journal 1 (1795), 2 2 5 - 2 7 3 , 2 8 7 - 3 2 6 . Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg [1806; zu Lebzeiten unveröffentlicht]. B: J. G. Fichte im Gespräch. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. R. Lauth, H.Jacob, H. Gliwitzky. Bd. 4: 1806-1812 [darin u. a. zeitgenössische Reaktionen auf die „Reden an die deutsche Nation"].

4.3. Text H a u p t v e r s c h i e d e n h e i t z w i s c h e n den D e u t s c h e n u n d den übrigen Völkern germanischer Abkunft (1808) Das in diesen Reden vorgeschlagene Bildungsmittel eines neuen Menschengeschlechts müsse zu allererst von Deutschen an Deutschen angewendet werden, und es komme dasselbe ganz eigentlich und zunächst unsrer Nation zu, ist gesagt worden. 1 Auch dieser Satz bedarf eines Beweises, und wir werden auch hier, so wie bisher, anheben von dem höchsten, und allgemeinsten, zeigend, was der Deutsche an und für sich, unabhängig von dem Schicksale, das ihn dermalen betroffen hat, 2 in seinem Grundzuge sey, und von jeher gewesen sey, seitdem er ist; und darlegend, daß schon in diesem Grundzuge die Fähigkeit und Empfänglichkeit einer solchen Bildung, ausschließend vor allen andern Europäischen Nationen, liege.

44

4. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814)

Der Deutsche ist zuvörderst ein Stamm der Germanier überhaupt, über welche leztere hier hinreicht die Bestimmung anzugeben, daß sie da waren, die im alten Europa errichtete gesellschaftliche Ordnung mit der im alten Asien aufbewahrten wahren Religion zu vereinigen, und so an und aus sich selbst eine neue Zeit, im Gegensatze des untergegangenen Alterthums, zu entwickeln. Ferner reicht es hin den Deutschen insbesondre nur im Gegensatze mit den andern neben ihm entstandenen Germanischen Völkerstimmen zu bezeichnen; indem andere Neueuropiische Nationen, als z. B. die von Slavischer Abstammung, sich vor dem übrigen Europa noch nicht so klar entwickelt zu haben scheinen, daß eine bestimmte Zeichnung von ihnen möglich sey, andere aber von der gleichen Germanischen Abstammung, von denen der sogleich anzuführende Haupt=Unterscheidungs=Grund nicht gilt, wie die Skandinavier, hier unbezweifelt für Deutsche genommen werden, 3 und unter allen den allgemeinen Folgen unsrer Betrachtung mit begriffen sind. Vor allem voraus aber ist der jezt insbesondre anzustellenden Betrachtung folgende Bemerkung voranzusenden. Ich werde als Grund des erfolgten Unterschiedes in dem ursprünglich Einen Grundstamme eine Begebenheit angeben, die bloß als Begebenheit klar und unwidersprechlich vor aller Augen liegt; ich werde sodann einzelne Erscheinungen dieses erfolgten Unterschiedes aufstellen, welche als bloße Begebenheiten wohl eben so einleuchtend dürften gemacht werden können. Was aber die Verknüpfung der letztern, als Folgen, mit dem ersten, als ihrem Grunde, und die Ableitung der Folge aus dem Grunde betrift, kann ich im allgemeinen nicht auf dieselbe Klarheit und überzeugende Kraft für alle rechnen. Zwar spreche ich auch in dieser Rücksicht nicht eben ganz neue, und bisher unerhörte Sitze aus, sondern es giebt unter uns viele einzelne, die für eine solche Ansicht der Sache entweder sehr gut vorbereitet, oder auch wohl mit derselben schon vertraut sind. Unter der Mehrheit aber sind über den anzuregenden Gegenstand Begriffe im Umlaufe, die von den unsrigen sehr abweichen, und welche zu berichtigen, und alle, von solchen, die keinen geübten Sinn für ein Ganzes haben, aus einzelnen Fällen beizubringenden Einwürfe zu widerlegen, die Grenze unsrer Zeit, und unsers Plans bei weitem überschreiten würde. Den leztern muß ich mich begnügen das in dieser Rücksicht zu sagende, das in meinem gesammten Denken nicht so einzeln und abgerissen, und nicht ohne Begründung bis in die Tiefe des Wissens, dastehen dürfte, wie es hier sich giebt, nur als Gegenstand ihres weitern Nachdenkens hinzulegen. Ganz übergehen durfte ich es, noch abgerechnet die für das Ganze nicht zu erlassende Gründlichkeit, auch schon nicht in Rücksicht der wichtigen Folgen daraus, die sich im spätem Verlaufe unsrer Reden ergeben werden, und die ganz eigentlich zu unserm nächsten Vorhaben gehören. Der zu allererst, und unmittelbar der Betrachtung sich darbietende Unterschied zwischen den Schicksalen der Deutschen und der übrigen aus derselben Wurzel erzeugten Stämme ist der, daß die ersten in den ursprünglichen Wohnsitzen des Stammvolks blieben, die lezten in andere Sitze auswanderten, die ersten die ursprüngliche Sprache des Stammvolks behielten und fortbildeten, die lezten eine

4.3. Text

45

fremde Sprache annahmen, und dieselbe allmählig nach ihrer Weise umgestalteten. Aus dieser frühesten Verschiedenheit müssen erst die später erfolgten, z. B. daß im ursprünglichen Vaterlande, angemessen Germanischer Ursitte, ein Staatenbund unter einem beschränkten Oberhaupte blieb, in den fremden Ländern mehr auf bisherige Römische Weise, die Verfassung in Monarchien überging, u. dergl. erklärt werden, keinesweges aber in umgekehrter Ordnung. Von den angegebnen Veränderungen ist nun die erste, die Veränderung der Heimath, ganz unbedeutend. Der Mensch wird leicht unter jedem Himmelsstriche einheimisch, und die Volkseigenthümlichkeit, weit entfernt durch den Wohnort sehr verändert zu werden, beherrscht vielmehr diesen, und verändert ihn nach sich. Auch ist die Verschiedenheit der Natureinflüsse in dem von Germaniern bewohnten Himmelsstriche nicht sehr groß. Eben so wenig wolle man auf den Umstand ein Gewicht legen, daß in den eroberten Ländern die Germanische Abstammung mit den frühern Bewohnern vermischt worden; denn Sieger, und Herrscher, und Bildner des aus der Vermischung entstehenden neuen Volks waren doch nur die Germanen. Ueberdies erfolgte dieselbe Mischung, die im Auslande mit Galliern, Kantabriern, u. s. w. geschah, im Mutterlande mit Slaven wohl nicht in geringerer Ausdehnung; so daß es keinem der aus Germaniern entstandenen Völker heut zu Tage leicht fallen dürfte, eine größere Reinheit seiner Abstammung vor den übrigen darzuthun. Bedeutender aber, und wie ich dafür halte, einen vollkommnen Gegensatz zwischen den Deutschen, und den übrigen Völkern Germanischer Abkunft begründend, ist die zweite Veränderung, die der Sprache; und kommt es dabei, welches ich gleich zu Anfange bestimmt aussprechen will, weder auf die besondre Beschaffenheit derjenigen Sprache an, welche von diesem Stamme beibehalten, noch auf die der andern, welche von jenem andern Stamme angenommen wird, sondern allein darauf, daß dort eigenes behalten, hier fremdes angenommen wird; noch kommt es an auf die vorige Abstammung derer, die eine ursprüngliche Sprache fortsprechen, sondern nur darauf, daß diese Sprache ohne Unterbrechung fort gesprochen werde, indem weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen. Um die Folgen eines solchen Unterschiedes in der Völkererzeugung, und die bestimmte Art des Gegensatzes in den Nationalzügen, die aus dieser Verschiedenheit nothwendig erfolgt, klar zu machen, so weit es hier möglich, und nöthig ist, muß ich Sie zu einer Betrachtung über das Wesen der Sprache überhaupt einladen. Die Sprache überhaupt, und besonders die Bezeichnung der Gegenstände in derselben durch das Lautwerden der Sprachwerkzeuge hängt keinesweges von willkührlichen Beschlüssen, und Verabredungen ab, sondern es giebt zuförderst ein Grundgesez, nach welchem jedweder Begriff in den menschlichen Sprachwerkzeugen zu diesem, und keinem andern Laute wird. So wie die Gegenstände sich in den Sinnenwerkzeugen des Einzelnen mit dieser bestimmten Figur, Farbe, u. s. w. abbilden, so bilden sie sich im Werkzeuge des gesellschaftlichen Menschen, in der Sprache, mit diesem bestimmten Laute ab. Nicht eigentlich redet der Mensch,

46

4. Johann Gottlieb Fichte ( 1 7 6 2 - 1 8 1 4 )

sondern in ihm redet die menschliche Natur, und verkündiget sich andern seines Gleichen. Und so müßte man sagen: die Sprache ist eine einzige, und durchaus nothwendige. Nun mag zwar, welches das zweite ist, die Sprache in dieser ihrer Einheit für den Menschen schlechtweg, als solchen, niemals, und nirgend hervorgebrochen seyn, sondern allenthalben weiter geändert und gebildet durch die Wirkungen, welche der Himmelsstrich, und häufigerer, oder seltnerer Gebrauch, auf die Sprachwerkzeuge, und die Aufeinanderfolge der beobachteten und bezeichneten Gegenstände, auf die Aufeinanderfolge der Bezeichnung hatten. Jedoch findet auch hierin nicht Willkühr oder Ohngefähr, sondern strenges Gesez statt; und es ist nothwendig, daß in einem durch die erwähnten Bedingungen also bestimmten Sprachwerkzeuge, nicht die Eine und reine Menschensprache, sondern daß eine Abweichung davon, und zwar, daß gerade diese bestimmte Abweichung davon hervorbreche. Nenne man die unter denselben äußern Einflüssen auf das Sprachwerkzeug stehenden, zusammenlebenden, und in fortgesezter Mittheilung ihre Sprache fortbildenden Menschen ein Volk, so muß man sagen: die Sprache dieses Volks ist nothwendig so wie sie ist, und nicht eigentlich dieses Volk spricht seine Erkenntniß aus, sondern seine Erkenntniß selbst spricht sich aus aus demselben. Bei allen im Fortgange der Sprache durch dieselben oben erwähnten Umstände erfolgten Veränderungen bleibt ununterbrochen diese Gesezmäßigkeit; und zwar für alle, die in ununterbrochner Mittheilung bleiben, und wo das von jedem einzelnen ausgesprochene Neue an das Gehör aller gelangt, dieselbe Eine Gesezmäßigkeit. Nach Jahrtausenden, und nach allen den Veränderungen, welche in ihnen die äußere Erscheinung der Sprache dieses Volks erfahren hat, bleibt es immer dieselbe Eine, ursprünglich also ausbrechenmüssende lebendige Sprachkraft der Natur, die ununterbrochen durch alle Bedingungen herab geflossen ist, und in jeder so werden mußte, wie sie ward, am Ende derselben so seyn mußte, wie sie jezt ist, und in einiger Zeit also seyn wird, wie sie sodann müssen wird. Die reinmenschliche Sprache zusammengenommen zuförderst mit dem Organe des Volks, als sein erster Laut ertönte; was hieraus sich ergiebt, ferner zusammengenommen mit allen Entwiklungen, die dieser erste Laut unter den gegebnen Umständen gewinnen mußte, giebt als letzte Folge die gegenwärtige Sprache des Volks. Darum bleibt auch die Sprache immer dieselbe Sprache. Lasset immer nach einigen Jahrhunderten die Nachkommen die damalige Sprache ihrer Vorfahren nicht verstehen, weil für sie die Uebergänge verloren gegangen sind, dennoch giebt es vom Anbeginn an einen stetigen Uebergang, ohne Sprung, immer unmerklich in der Gegenwart, und nur durch Hinzufügung neuer Uebergänge bemerklich gemacht, und als Sprung erscheinend. Niemals ist ein Zeitpunkt eingetreten, da die Zeitgenossen aufgehört hätten sich zu verstehen, indem ihr ewiger Vermittler und Dollmetscher die aus ihnen allen sprechende gemeinsame Naturkraft immerfort war und blieb. So verhält es sich mit der Sprache als Bezeichnung der Gegenstände unmittelbar sinnlicher Wahrnehmung, und dieses ist alle menschliche Sprache

4.3. Text

47

anfangs. Erhebt von dieser das Volk sich zu Erfassung des übersinnlichen, so vermag dieses übersinnliche zur beliebigen Wiederholung und zur Vermeidung der Verwirrung mit dem sinnlichen fur den ersten Einzelnen, und zur Mittheilung und zwekmäßigen Leitung für andere, zuförderst nicht anders fest gehalten zu werden, denn also, daß ein Selbst als Werkzeug einer ubersinnlichen Welt, bezeichnet, und von demselben Selbst, als Werkzeug der sinnlichen Welt, genau unterschieden werde — eine Seele, Gemüth und dergl. einem körperlichen Leibe entgegengesetzt werde. Ferner könnten die verschiedenen Gegenstände dieser übersinnlichen Welt, da sie insgesammt nur in jenem übersinnlichen Werkzeuge erscheinen, und für dasselbe da sind, in der Sprache nur dadurch bezeichnet werden, daß gesagt werde, ihr besonderes Verhältniß zu ihrem Werkzeuge sey also, wie das Verhältniß der und der bestimmten sinnlichen Gegenstände zum sinnlichen Werkzeuge, und daß in diesem Verhältniß ein besonderes übersinnliches einem besondern sinnlichen gleichgesezt, und durch diese Gleichsetzung sein Ort im übersinnlichen Werkzeuge durch die Sprache angedeutet werde. Weiter vermag in diesem Umkreise die Sprache nichts; sie giebt ein sinnliches Bild des Uebersinnlichen bloß mit der Bemerkung, daß es ein solches Bild sey; wer zur Sache selbst kommen will, muß nach der durch das Bild ihm angegebenen Regel sein eigenes geistiges Werkzeug in Bewegung setzen. — Im allgemeinen erhellet, daß diese sinnbildliche Bezeichnung des Uebersinnlichen jedesmal nach der Stuffe der Entwiklung des sinnlichen Er kenn tniß Vermögens unter dem gegebenen Volke sich richten müsse; daß daher der Anfang und Fortgang dieser sinnbildlichen Bezeichnung in verschiedenen Sprachen sehr verschieden ausfallen werde, nach der Verschiedenheit des Verhältnisses, das zwischen der sinnlichen, und geistigen Ausbildung des Volkes, das eine Sprache redet, statt gefunden, und fortwährend statt findet. Wir beleben zuförderst diese in sich klare Bemerkung durch ein Beispiel. Etwas, das zufolge der in der vorigen Rede erklärten Erfassung des Grundtriebes nicht erst durch das dunkle Gefühl, sondern sogleich durch klare Erkenntniß entsteht, dergleichen jedesmal ein übersinnlicher Gegenstand ist, heißt mit einem griechischen, auch in der deutschen Sprache häufig gebrauchten Worte, eine I d e e , und dieses Wort giebt genau dasselbe Sinnbild, was in der deutschen das Wort G e s i c h t , wie dieses in folgenden Wendungen der lutherischen Bibelübersetzung: ihr werdet Gesichte sehen, ihr werdet Träume haben, vorkommt. Idee oder Gesicht in sinnlicher Bedeutung wäre etwas, das nur durch das Auge des Leibes, keinesweges aber durch einen andern Sinn, etwa der Betastung, des Gehörs u. s. w. erfaßt werden könnte, so wie etwa ein Regenbogen, oder die Gestalten, welche im Traume vor uns vorüber gehen. Dasselbe in übersinnlicher Bedeutung hieße zuförderst, zufolge des Umkreises in dem das Wort gelten soll, etwas, das gar nicht durch den Leib, sondern nur durch den Geist erfaßt wird, sodann, das auch nicht durch das dunkle Gefühl des Geistes, wie manches andere, sondern allein durch das Auge desselben, die klare Erkenntniß, erfaßt werden kann. Wollte man nun etwa ferner annehmen, daß den Griechen bei dieser sinnbildlichen Bezeichnung allerdings der

48

4. Johann Gottlieb Fichte ( 1 7 6 2 - 1 8 1 4 )

Regenbogen, und die Erscheinungen der Art, zum Grunde gelegen, so müßte man gestehen, daß ihre sinnliche Erkenntniß schon vorher sich zur Bemerkung des Unterschiedes zwischen den Dingen, daß einige sich allen oder mehrern Sinnen, einige sich bloß dem Auge offenbaren, erhoben haben müsse, und daß außerdem sie den entwickelten Begriff, wenn er ihnen klar geworden wäre, nicht also, sondern anders hätten bezeichnen müssen. Es wurde sodann auch ihr Vorzug in geistiger Klarheit erhellen etwa vor einem andern Volke, das den Unterschied zwischen sinnlichem und übersinnlichem nicht durch ein aus dem besonnenen Zustande des Wachens hergenommenes Sinnbild habe bezeichnen können, sondern zum Traume seine Zuflucht genommen, um ein Bild für eine andere Welt zu finden; zugleich würde einleuchten, daß dieser Unterschied nicht etwa durch die größere oder geringere Stärke des Sinns fürs Uebersinnliche in den beiden Völkern, sondern daß er lediglich durch die Verschiedenheit ihrer sinnlichen Klarheit, damals, als sie Uebersinnliches bezeichnen wollten, begründet sey. So richtet alle Bezeichnung des Uebersinnlichen sich nach dem Umfange und der Klarheit der sinnlichen Erkenntniß desjenigen, der da bezeichnet. Das Sinnbild ist ihm klar, und drückt ihm das Verhältniß des Begriffenen zum geistigen Werkzeuge vollkommen verständlich aus, denn dieses Verhältniß wird ihm erklärt durch ein anderes unmittelbar lebendiges Verhältniß zu seinem sinnlichen Werkzeuge. Diese also entstandene neue Bezeichnung, mit aller der neuen Klarheit, die durch diesen erweiterten Gebrauch des Zeichens die sinnliche Erkenntniß selber bekommt, wird nun niedergelegt in der Sprache; und die mögliche künftige übersinnliche Erkenntniß wird nun nach ihrem Verhältnisse zu der ganzen in der gesammten Sprache niedergelegten übersinnlichen und sinnlichen Erkenntniß bezeichnet; und so geht es ununterbrochen fort; und so wird denn die unmittelbare Klarheit und Verständlichkeit der Sinnbilder niemals abgebrochen, sondern sie bleibt ein stetiger Fluß. — Ferner, da die Sprache nicht durch Willkühr vermittelt, sondern als unmittelbare Naturkraft aus dem verständigen Leben ausbricht, so hat eine ohne Abbruch nach diesem Gesetze fortentwickelte Sprache auch die Kraft, unmittelbar einzugreifen in das Leben, und dasselbe anzuregen. Wie die unmittelbar gegenwärtigen Dinge den Menschen bewegen, so müssen auch die Worte einer solchen Sprache den bewegen, der sie versteht, denn auch sie sind Dinge, keinesweges willkührliches Machwerk. So zunächst im Sinnlichen. Nicht anders jedoch auch im Uebersinnlichen. Denn obwohl in Beziehung auf das leztere der stetige Fortgang der Naturbeobachtung durch freie Besinnung und Nachdenken unterbrochen wird, und hier gleichsam der unbildliche Gott eintritt; so versezt dennoch die Bezeichnung durch die Sprache das unbildliche auf der Stelle in den stetigen Zusammenhang des bildlichen zurück; und so bleibt auch in dieser Rücksicht der stetige Fortgang der zuerst als Naturkraft ausgebrochenen Sprache ununterbrochen, und es tritt in den Fluß der Bezeichnung keine Willkühr ein. Es kann darum auch dem übersinnlichen Theile einer also stetig fortentwickelten Sprache seine Leben anregende Kraft auf den, der nur sein geistiges Werkzeug in Bewegung sezt, nicht entgehen. Die

4.3. Text

49

Worte einer solchen Sprache in allen ihren Theilen sind Leben, und schaffen Leben. — Machen wir auch in Rucksicht der Entwiklung der Sprache für das ubersinnliche die Voraussetzung, daß das Volk dieser Sprache in ununterbrochener Mittheilung geblieben, und daß, was Einer gedacht, und ausgesprochen, bald an alle gekommen, so gilt, was bisher im allgemeinen gesagt worden, für Alle, die diese Sprache reden. Allen, die nur denken wollen, ist das in der Sprache niedergelegte Sinnbild klar; allen, die da wirklich denken, ist es lebendig, und anregend ihr Leben. So verhält es sich, sage ich, mit einer Sprache, die von dem ersten Laute an, der in demselben 4 Volke ausbrach, ununterbrochen aus dem wirklichen gemeinsamen Leben dieses Volks sich entwickelt hat, und in die niemals ein Bestandtheil gekommen, der nicht eine wirklich erlebte Anschauung dieses Volks, und eine mit allen übrigen Anschauungen desselben Volks im allseitig eingreifenden Zusammenhange stehende Anschauung ausdrückte. Lasset dem Stammvolke dieser Sprache noch so viel Einzelne andern Stammes, und anderer Sprache einverleibt werden; wenn es diesen nur nicht verstattet wird, den Umkreis ihrer Anschauungen zu dem Standpunkte, von welchem von nun an die Sprache sich fortentwickle, zu erheben, so bleiben diese stumm in der Gemeine, und ohne Einfluß auf die Sprache, so lange, bis sie selbst in den Umkreis der Anschauungen des Stammvolkes hineingekommen sind, und so bilden nicht sie die Sprache, sondern die Sprache bildet sie. Ganz das Gegentheil aber von allem bisher gesagten erfolgt alsdann, wenn ein Volk, mit Aufgebung seiner eignen Sprache eine fremde, für übersinnliche Bezeichnung schon sehr gebildete, annimmt; und zwar nicht also, daß es sich der Einwirkung dieser fremden Sprache ganz frei hingebe, und sich bescheide sprachlos zu bleiben, so lange, bis es in den Kreis der Anschauungen dieser fremden Sprache hineingekommen; sondern also, daß es seinen eignen Anschauungskreis der Sprache aufdringe, und diese, von dem Standpunkte aus, wo sie dieselbe fanden, von nun an in diesem Anschauungskreise sich fortbewegen müsse. In Absicht des sinnlichen Theils der Sprache zwar ist diese Begebenheit ohne Folgen. In jedem Volke müssen ja ohnedies die Kinder diesen Theil der Sprache, gleich als ob die Zeichen willkührlich wären, lernen, und so die ganze frühere Sprachentwiklung der Nation hierin nachholen; jedes Zeichen aber in diesem sinnlichen Umkreise kann durch die unmittelbare Ansicht, oder Berührung des Bezeichneten vollkommen klar gemacht werden. Höchstens würde daraus folgen, daß das erste Geschlecht eines solchen seine Sprache ändernden Volks als Minner wieder in die Kinderjahre zurückzugehen genöthigt gewesen; mit den nachgebornen aber und an den künftigen Geschlechtern war alles wieder in der alten Ordnung. Dagegen ist diese Veränderung von den bedeutendsten Folgen in Rücksicht des übersinnlichen Theils der Sprache. Dieser hat zwar für die ersten Eigenthümer der Sprache sich gemacht auf die bisher beschriebene Weise; für die spätem Eroberer derselben aber enthält das Sinnbild eine Vergleichung mit einer sinnlichen Anschauung, die sie entweder schon längst, ohne die beiliegende geistige Ausbildung, übersprungen haben, oder

50

4. Johann Gottlieb Fichte ( 1 7 6 2 - 1 8 1 4 )

die sie dermalen noch nicht gehabt haben, auch wohl niemals haben können. Das höchste, was sie hiebei thun können, ist, daß sie das Sinnbild und die geistige Bedeutung desselben sich erklären lassen, wodurch sie die flache und todte Geschichte einer fremden Bildung, keinesweges aber eigene Bildung erhalten, und Bilder bekommen, die fur sie weder unmittelbar klar, noch auch Lebenanregend sind, sondern völlig also willkührlich erscheinen müssen, wie der sinnliche Theil der Sprache. Für sie ist nun, durch diesen Eintritt der bloßen Geschichte, als Erklärer in, die Sprache in Absicht des ganzen Umkreises ihrer Sinnbildlichkeit tod, abgeschlossen, und ihr stetiger Fortfluß abgebrochen; und obwohl über diesen Umkreis hinaus sie nach ihrer Weise, und in wiefern dies von einem solchen Ausgangspunkte aus möglich ist, diese Sprache wieder lebendig fortbilden mögen; so bleibt doch jener Bestandtheil die Scheidewand an welcher der ursprüngliche Ausgang der Sprache, als eine Naturkraft, aus dem Leben, und die Rückkehr der wirklichen Sprache in das Leben, ohne Ausnahme sich bricht. Obwohl eine solche Sprache auf der Oberfläche durch den Wind des Lebens bewegt werden, und so den Schein eines Lebens von sich geben mag, so hat sie doch tiefer einen todten Bestandtheil, und ist, durch den Eintritt des neuen Anschauungskreises, und die Abbrechung des alten, abgeschnitten von der lebendigen Wurzel. Wir beleben das so eben gesagte durch ein Beispiel; indem wir zum Behuf dieses Beispiels noch beiläufig die Bemerkung machen, daß eine solche im Grunde todte und unverständliche Sprache sich auch sehr leicht verdrehen, und zu allen Beschönigungen des menschlichen Verderbens mißbrauchen läßt, was in einer niemals erstorbenen nicht also möglich ist. Ich bediene mich als solchen Beispiels der drei berüchtigten Worte, Humanität, Popularität, Liberalität. 5 Diese Worte, vor dem Deutschen, der keine andere Sprache gelernt hat, ausgesprochen, sind ihm ein völlig leerer Schall, der an nichts ihm schon bekanntes durch Verwandschaft des Lautes erinnert, und so aus dem Kreise seiner Anschauung, und aller möglichen Anschauung ihn vollkommen herausreißt. Reizt nun doch etwa das unbekannte Wort durch seinen fremden, vornehmen, und wohltönenden Klang seine Aufmerksamkeit, und denkt er, was so hoch töne, müsse auch etwas hohes bedeuten; so muß er sich diese Bedeutung ganz von vorn herein, und als etwas ihm ganz neues, erklären lassen, und kann dieser Erklärung eben nur blind glauben, und wird so stillschweigend gewöhnt, etwas für wirklich daseyend, und würdig anzuerkennen, das er, sich selbst überlassen, vielleicht niemals des Erwähnens werth gefunden hätte. Man glaube nicht, daß es sich mit den neulateinischen Völkern, welche jene Worte, vermeintlich als Worte ihrer Muttersprache aussprechen, viel anders verhalte. Ohne gelehrte Ergründung des Alterthums, und seiner wirklichen Sprache, verstehen sie die Wurzeln dieser Wörter eben so wenig, als der Deutsche. Hätte man nun etwa dem Deutschen statt des Worts Humanität das Wort Menschlichkeit, wie jenes wörtlich übersezt werden muß, ausgesprochen, so hätte er uns ohne weitere historische Erklärung verstanden; aber er hätte gesagt: da ist man nicht eben viel, wenn man ein Mensch ist, und kein wildes Thier. Also aber, wie wohl nie ein

4.3. Text

51

Römer gesagt hätte, würde der Deutsche sagen, deswegen, weil die Menschheit überhaupt in seiner Sprache nur ein sinnlicher Begriff geblieben, niemals aber wie bei den Römern zum Sinnbilde eines übersinnlichen geworden; indem unsere Vorfahren vielleicht lange vorher die einzelnen menschlichen Tugenden bemerkt, und sinnbildlich in der Sprache bezeichnet, ehe sie darauf gefallen, dieselben in einem Einheitsbegriffe, und zwar als Gegensatz mit der thierischen Natur, zusammenzufassen, welches denn auch unsern Vorfahren den Römern gegenüber zu gar keinem Tadel gereicht. Wer nun den Deutschen dennoch dieses fremde und römische Sinnbild künstlich in die Sprache spielen wollte, der würde ihre sittliche Denkart offenbar herunterstimmen, indem er ihnen als etwas vorzügliches und lobenswürdiges hingäbe, was in der fremden Sprache auch wohl ein solches seyn mag, was er aber, nach der unaustilgbaren Natur seiner National Einbildungskraft nur faßt, als das bekannte, das gar nicht zu erlassen ist. Es ließe sich vielleicht durch eine nähere Untersuchung darthun, daß dergleichen Herabstimmungen der frühern sittlichen Denkart durch unpassende und fremde Sinnbilder den germanischen Stämmen, die die Römische Sprache annahmen, schon zu Anfange begegnet; doch wird hier auf diesen Umstand nicht gerade das größte Gewicht gelegt. Würde ich ferner dem Deutschen statt der Wörter Popularität, und Liberalität, die Ausdrücke Haschen nach Gunst beim großen Haufen, und, Entfernung vom Sklavensinn, wie jene wörtlich übersezt werden müssen, sagen, so bekäme derselbe zuförderst nicht einmal ein klares und lebhaftes sinnliches Bild, dergleichen der frühere Römer allerdings bekam. Dieser sähe alle Tage die schmiegsame Höflichkeit des ehrgeizigen Kandidaten gegen alle Welt, so wie die Ausbrüche des Sklavensinns vor Augen, und jene Worte bildeten sie ihm wieder lebendig vor. Durch die Veränderung der Regierungsform und die Einführung des Christenthums waren schon dem spätem Römer diese Schauspiele entrissen; wie denn überhaupt diesem, besonders durch das fremdartige Christenthum, das er weder abzuwehren, noch sich einzuverleiben vermochte, die eigne Sprache guten Theils abzusterben anfing im eignen Munde. Wie hätte diese, schon in der eignen Heimath halbtodte Sprache, lebendig überliefert werden können an ein fremdes Volk? Wie sollte sie es jezt können an uns Deutsche? Was ferner das in jenen beiden Ausdrücken liegende Sinnbild eines geistigen betrift, so liegt in der Popularität schon ursprünglich eine Schlechtigkeit, die durch das Verderben der Nation und ihrer Verfassung in ihrem Munde zur Tugend verdreht wurde. Der Deutsche geht in diese Verdrehung, so wie sie ihm nur in seiner eignen Sprache dargeboten wird, nimmer ein. Zur Uebersetzung der Liberalität aber dadurch, daß ein Mensch keine Sklaven=Seele, oder, wenn es in die neue Sitte eingeführt wird, keine Lakayen=Denkart habe, antwortet er abermals, daß auch dies sehr wenig gesagt heiße. Nun hat man aber noch ferner in diese, schon in ihrer reinen Gestalt bei den Römern auf einer tiefen Stufe der sittlichen Bildung entstandene, oder geradezu eine Schlechtigkeit bezeichnenden Sinnbilder in der Fortentwiklung der neulateinischen Sprachen den Begriff von Mangel an Ernst über die gesellschaftlichen

52

4. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814)

Verhältnisse, den des sich Wegwerfens, den der gemüthlosen Lockerheit, hineingespielt, und dieselben auch in die Deutsche Sprache gebracht, um durch das Ansehen des Alterthums und des Auslandes, ganz in der Stille, und ohne daß jemand so recht deutlich merke, wovon die Rede sey, die leztgenannten Dinge auch unter uns in Ansehen zu bringen. Dies ist von jeher der Zweck und der Erfolg aller Einmischung gewesen; zuförderst aus der unmittelbaren Verständlichkeit und Bestimmtheit, die jede ursprüngliche Sprache bei sich führt, den Hörer in Dunkel und Unverständlichkeit einzuhüllen; darauf an den dadurch erregten blinden Glauben desselben sich mit der nun nöthig gewordenen Erklärung zu wenden, in dieser endlich Laster und Tugend also durcheinander zu rühren, daß es kein leichtes Geschäft ist, dieselben wieder zu sondern. Hätte man das, was jene drei ausländischen Worte eigentlich wollen müssen, wenn sie überhaupt etwas wollen, dem Deutschen in seinen Worten, und in seinem sinnbildlichen Kreise also ausgesprochen: Menschenfreundlichkeit, Leutseeligkeit, Edelmuth, so hätte er uns verstanden; die genannten Schlechtigkeiten aber hätten sich niemals in jene Bezeichnungen einschieben lassen. Im Umfange Deutscher Rede entsteht eine solche Einhüllung in Unverständlichkeit, und Dunkel, entweder aus Ungeschicktheit, oder aus böser Tücke, sie ist zu vermeiden, und die Uebersetzung in rechtes wahres Deutsch liegt als stets fertiges Hülfsmittel bereit. In den neulateinischen Sprachen aber ist diese Unverständlichkeit natürlich und ursprünglich, und sie ist durch gar kein Mittel zu vermeiden, indem diese überhaupt nicht im Besitze irgend einer lebendigen Sprache, woran sie die todte prüfen könnten, sich befinden, und, die Sache genau genommen, eine Muttersprache gar nicht haben. Das an diesem einzelnen Beispiele dargelegte, was gar leicht durch den ganzen Umkreis der Sprache sich würde hindurch führen lassen, und allenthalben also sich wieder finden würde, soll Ihnen das bis hieher gesagte so klar machen, als es hier werden kann. Es ist vom übersinnlichen Theile der Sprache die Rede, vom sinnlichen zunächst und unmittelbar gar nicht. Dieser übersinnliche Theil ist in einer immerfort lebendig gebliebenen Sprache sinnbildlich, zusammenfassend bei jedem Schritte das ganze des sinnlichen und geistigen, in der Sprache niedergelegten Lebens der Nation in vollendeter Einheit, um einen, ebenfalls nicht willkührlichen, sondern aus dem ganzen bisherigen Leben der Nation nothwendig hervorgehenden Begriff zu bezeichnen, aus welchem, und seiner Bezeichnung, ein scharfes Auge die ganze Bildungsgeschichte der Nation rückwärtsschreitend wieder müßte herstellen können. In einer todten Sprache aber, in der dieser Theil, als sie noch lebte, dasselbige war, wird er durch die Ertödtung zu einer zerrissenen Sammlung willkührlicher, und durchaus nicht weiter zu erklärender Zeichen eben so willk ü r l i c h e r Begriffe, wo mit beiden sich nichts weiter anfangen läßt, als daß man sie eben lerne. Somit ist unsre nächste Aufgabe, den unterscheidenden Grundzug des Deutschen vor den andern Völkern Germanischer Abkunft zu finden, gelöst. Die Verschiedenheit ist sogleich bei der ersten Trennung des gemeinschaftlichen Stamms

4.3. Text

53

entstanden, und besteht darin, daß der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen Germanischen Stimme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache. Allein in diesen Umstand, in die Lebendigkeit, und in den Tod, setzen wir den Unterschied; keinesweges aber lassen wir uns ein auf den übrigen innern Werth der Deutschen Sprache. Zwischen Leben und Tod findet gar keine Vergleichung statt, und das erste hat vor dem lezten unendlichen Werth; darum sind alle unmittelbare Vergleichungen der Deutschen und der Neulateinischen Sprachen durchaus nichtig, und sind gezwungen von Dingen zu reden, die der Rede nicht werth sind. 6 Sollte vom innern Werthe der Deutschen Sprache die Rede entstehen, so müste wenigstens eine von gleichem Range, eine ebenfalls ursprungliche, als etwa die Griechische, den Kampfplatz betreten; unser gegenwärtiger Zweck aber liegt tief unter einer solchen Vergleichung. Welchen unermeßlichen Einfluß auf die ganze menschliche Entwicklung eines Volks die Beschaffenheit seiner Sprache haben möge, der Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimste Tiefe seines Gemüths bei Denken, und Wollen begleitet, und beschränkt oder beflügelt, welche die gesammte Menschenmenge, die dieselbe redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinsamen Verstände verknüpft, welche der wahre gegenseitige Durchströmungspunkt der Sinnenwelt, und der der Geister ist, und die Enden dieser beiden also in einander verschmilzt, daß gar nicht zu sagen ist, zu welcher von beiden sie selber gehöre; wie verschieden die Folge dieses Einflusses ausfallen möge, da, wo das Verhiltniß ist, wie Leben, und Tod, läßt sich im Allgemeinen errathen. Zunächst bietet sich dar, daß der Deutsche ein Mittel hat seine lebendige Sprache durch Vergleichung mit der abgeschloßnen Römischen Sprache, die von der seinigen im Fortgange der Sinnbildlichkeit gar sehr abweicht, noch tiefer zu ergrunden, wie hinwiederum jene auf demselben Wege klarer zu verstehen, welches dem Neulateiner, der im Grunde in dem Umkreise derselben Einen Sprache gefangen bleibt, nicht also möglich ist; daß der Deutsche, indem er die Römische Stammsprache lernt, die abgestammten gewissermaßen zugleich mit erhält, und falls er etwa die erste gründlicher lernen sollte, denn der Ausländer, welches er aus dem angeführten Grunde gar wohl vermag, er zugleich auch dieses Ausländers eigene Sprachen weit gründlicher verstehen und weit eigenthümlicher besitzen lernt, denn jener selbst, der sie redet; daß daher, der Deutsche, wenn er sich nur aller seiner Vortheile bedient, den Ausländer immerfort übersehen, und ihn vollkommen, sogar besser, denn er sich selbst, verstehen, und ihn, nach seiner ganzen Ausdehnung übersetzen kann; dagegen der Ausländer, ohne eine höchst mühsame Erlernung der Deutschen Sprache, den wahren Deutschen niemals verstehen kann, und das ächt Deutsche ohne Zweifel unübersetzt lassen wird. Was in diesen Sprachen man nur vom Ausländer selbst lernen kann, sind meistens aus Langeweile und Grille entstandene neue Moden des Sprechens, und man ist sehr bescheiden, wenn man auf diese Belehrungen eingeht. Meistens würde man statt dessen ihnen zeigen können, wie

54

4. Johann Gottlieb Fichte ( 1 7 6 2 - 1 8 1 4 )

sie der Stammsprache und ihrem Verwandlungsgesetze gemäß, sprechen sollten, und daß die neue Mode nichts tauge, und gegen die althergebrachte gute Sitte verstoße. — Jener Reichthum an Folgen überhaupt, so wie die besondere zulezt erwähnte Folge ergeben sich, wie gesagt, von selbst. Unsere Absicht aber ist es diese Folgen insgesammt im Ganzen, nach ihrem Einheitsbande, und aus der Tiefe zu erfassen, um dadurch eine gründliche Schilderung des Deutschen im Gegensatze mit den übrigen Germanischen Stämmen zu geben. Ich gebe diese Folgen vorläufig in der Kurze also an: 1) Beim Volke der lebendigen Sprache greift die Geistesbildung ein ins Leben; beim Gegentheile geht geistige Bildung, und Leben jedes seinen Gang fur sich fort. 2) Aus demselben Grunde ist es einem Volke der ersten Art mit aller Geistesbildung rechter eigentlicher Ernst, und es will, daß dieselbe ins Leben eingreife; dagegen einem von der letztern Art diese vielmehr ein genialisches Spiel ist, mit dem sie nichts weiter wollen. Die leztern haben Geist; die erstem haben zum Geiste auch noch Gemüth. 3) Was aus dem zweiten folgt; die erstem haben redlichen Fleiß und Ernst in allen Dingen, und sind mühsam, dagegen die leztern sich im Geleite ihrer glücklichen Natur gehen lassen. 4) Was aus allem zusammen folgt: In einer Nation von der ersten Art ist das große Volk bildsam, und die Bildner einer solchen erproben ihre Entdeckungen an dem Volke, und wollen auf dieses einfließen; dagegen in einer Nation von der zweiten Art die gebildeten Stände vom Volke sich scheiden, und des leztern nicht weiter, denn als eines blinden Werkzeugs ihrer Pläne achten. Die weitere Erörterung dieser angegebnen Merkmale behalte ich der folgenden Stunde vor.

4.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

Den Glauben, „daß zu allernächst den Deutschen es anzumuten sei, die neue Zeit, vorangehend und vorbildend für die übrigen, zu beginnen", drückt Fichte erstmals in der Dritten Rede (102 f.) aus. — Die ersten drei Reden tragen die Überschriften „Vorerinnerungen und Übersicht des Ganzen", „Vom Wesen der neuen Erziehung im allgemeinen" und „Fortsetzung der Schilderung der neuen Erziehung". Das Schicksal ist, zumindest vordergründig konkret gedeutet, die Besetzung durch die napoleonischen Truppen, deren unmittelbare Präsenz Varnhagen von Ense (Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Hrsg. v. K. Feilchenfeldt. Frankfurt 1987, Bd. 1, 496) anschaulich beschreibt: „Sein geistig bedeutendes, mit aller Kraft der innigsten und redlichsten Überzeugung mächtig ausgesprochenes Wort wirkte besonders auch durch den außerordentlichen Mut, mit welchem ein deutscher Professor im Angesichte der französischen Kriegsgewalt, deren Gegenwart durch die Trommeln vorbeiziehender Truppen mehrmals dem Vortrag unmittelbar hemmend und aufdringlich mahnend wurde, die von dem Feinde umgeworfene und niedergehaltene Fahne deutschen Volkstums aufpflanzte und ein Prinzip verkündigte, welches in seiner Entfaltung den fremden Gewalthabern den Sieg wieder entreißen und ihre Macht vernichten sollte."

4.4. Anmerkungen des Herausgebers 3

4 5

6

55

Dieser erweiterte Begriff des „Deutschen" ist bekanntlich in Fichtes Zeit nicht ungewöhnlich. Er begegnet auch bei Jahn im „Deutschen Volksthum" (1810) und liegt der „Deutschen Grammatik" (1819) von Jacob Grimm zugrunde. Das Druckfehlerverzeichnis der 1. Aufl. fordert hier „derselben" statt „demselben" (mit der gedachten Ergänzung „Sprache"). Die drei Wörter klingen wie eine Modifikation oder wie ein gegen die Trias der französischen Revolution (liberte, egalite, fraternite) gerichteter Anti-Slogan, jedoch habe ich einen Gebrauch in diesem Sinne um 1800 nicht feststellen können. Es bleibt also unklar, warum Fichte diese Wörter „berüchtigt" nennt. Immerhin gibt eine frühere Erwähnung der Begriffe in der „Ersten Rede" (S. 29) einen Hinweis darauf, was Fichte kritisiert. Dort klagt er über die „Selbstsucht", die den Geist der Zeit bestimmt und sich auch der Regierenden bemächtigt hat. Eine Konsequenz war „nach innen jene weichliche Führung der Zügel des Staates, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde zu nennen ist." — Betrachtet man die Wörter einzeln, so ist „Humanität" zweifellos ein in der Zeit vieldiskutiertes, umstrittenes Schlag- oder Modewort. Allen ist bewußt, daß es durch Herder („Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", 1784; „Briefe zur Beförderung der Humanität", 1793 ff.) in Umlauf gekommen ist. Kritisiert wird — u. a. von Stuve, Campe, Eschenburg, später von Börne und Immermann — seine Vieldeutigkeit und sein inflationärer Gebrauch als „undeutsches Lieblingswort" (Campe). Fichte setzt sich also deutlich ab von dem traditionellen und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unvermindert anhaltenden wertenden Vergleich zwischen verschiedenen Sprachen, insbesondere zwischen dem Deutschen und dem Französischen, unter dem Gesichtspunkt der grammatischen Form und dem Reichtum lexikalischer Ausdrucksmöglichkeiten.

5. Friedrich Ludwig Jahn ( 1 7 7 8 - 1 8 5 2 ) 5.1. Einführende Bemerkungen Friedrich Ludwig Jahn, Turnvater und Agitator gegen die französische Fremdherrschaft und für die Einheit Deutschlands in der Zeit der Befreiungskriege, verfolgter Demagoge in der Ära der Restauration und konservativer Abgeordneter in der Paulskirchen-Versammlung 1848, ist in der Sprachgeschichte als Schöpfer der Turnsprache und als so leidenschaftlicher wie eigenwilliger Fremdwortgegner und -verdeutscher bekannt. Als solcher gehörte er neben Theodor Heinsius, Karl Krause, Christian Hinrich Wolke und August Zeune 1815 zu den Gründungsmitgliedern der „Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache", die bald Sorge tragen mußte, nicht auch in den Verdacht „demagogischer Umtriebe" zu geraten. Der in diesen Band aufgenommene Text aus dem siebten Kapitel des „Deutschen Volksthums" von 1810 signalisiert mit seiner Überschrift „Achtung der Muttersprache" allgemeinere Ansprüche und ist aus diesem Grund gewählt worden; doch verfolgt Jahn auch hier sein Thema und dies in dem ihm eigentümlichen schmucklosen Stil. Wenn von Steigentesch im folgenden Kapitel (7.3.) beklagt, die deutschen Schriftsteller vernachlässigten die Form und hätten keinen Geschmack, dann hätte er Jahn als Beispiel anführen können. Seine Darstellung hat zwar nichts von der Unverständlichkeit deutscher Gelehrtensprache, die von Steigentesch meint, doch drückt sich in ihren kernigen Behauptungen und Urteilen, bar jedes ästhetisch-stilistischen Reizes, die pure teutsche Gesinnung aus.

5.2. Literaturhinweise Textvorlage Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum. Lübeck: Niemann und Comp. 1810, Kap. VIII: Volksthümliches Bücherwesen, Abschnitt 1, 3 7 1 - 3 8 1 .

Weitere Literatur A: Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiethe der Sinnverwandtschaft, ein Nachtrag zu Adelung's und eine Nachlese zu Eberhard's Wörterbuch. Leipzig: Böhme 1806.

5.3. Text

57

Deutsches Volksthum. Neue unveränd. Ausgabe. Leipzig: Rein 1817 [darin: Allgemeine Ausbildung der Muttersprache, 79 — 81; Ersterlernen der Muttersprache, 144—157; Achtung der Muttersprache, 289—297], Sprachbelustigung: In: Preußischer Correspondent 1814, Nr. 161 (10. Okt.). Rüge der fremdsprachigen Inschriften auf Geschäftsschildern. In: Preußischer Correspondent 1814, Nr. 172 (29. Okt.). Die deutsche Turnkunst (zusammen mit Ernst Eiselen). Berlin: Realschulbuchhandlung 1816. Wortgefecht. In: Sprach- und Sittenanzeiger der Deutschen 1817, April, Nr. 2 9 - 3 0 , S. 117-120, 1 2 1 - 1 2 3 . Schreibart und Darstellung: In: Mitternachtsblatt 1826, Nr. 51 (28. April). B: Bartz, Wilhelm: Fremdwort und Sprachreinigung bei Friedrich Ludwig Jahn. Greifswald: Adler 1936. Kirkness: [Bibl. C 13], Bd. 1, 1 9 6 - 2 1 1 .

5.3. Text A c h t u n g der M u t t e r s p r a c h e (1810) „In seiner Muttersprache ehrt sich jedes Volk, in der Sprache Schatz ist die Urkunde seiner Bildungsgeschichte niedergelegt, hier waltet wie im Einzelnen das Sinnliche, Geistige, Sittliche. Ein Volk, das seine eigene Sprache verlernt, giebt sein Stimmrecht in der Menschheit auf, und ist zur stummen Rolle auf der Völkerbühne verwiesen. Mag es dann aller Welt Sprachen begreifen, und übergelehrt bei Babels Thurmbau zum Dollmetscher taugen, es ist kein Volk mehr, nur ein Mengsei von Staarmenschen."* Achtung der Volkssprache hat Sieger und Herrscher gemacht, Verachtung hingegen und Unbekanntschaft Thronen gestürzt und große Plane verhindert. Der Kenntniß von der Ursprache Spaniens verdankte Hamilkar seine dortigen Siege. Sprachkenntniß verschaffte dem Mithridates frische Heere und neue Völker, wenn die alten erlagen. Gustav III, der große Redner, konnte nicht fertig Finnisch — das verhinderte die Zerstörung von Petersburg. Welche Nachtheile hat Ostreich davon gehabt, daß Joseph II die Ungarische Sprache ausrotten wollte! Kaiser Karl der Vierte gab in der goldenen Bulle das Gesetz, daß jeder Kurfürst Böhmisch verstehen sollte. Das war zu viel — aber daß jeder Fürst mit jedem Unterthan in * Jahn's Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes. Leipzig bei Böhme 1806. [eine Nachlese zu Eberhard's Synonymik.]

58

5. Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852)

seiner Muttersprache reden könnte, wäre billig. Hätten Englands Herrscher Ersisch und Galisch verstanden, wie viele Empörungen wären dadurch zu beschwichtigen gewesen! 1 a) M u t t e r s p r a c h e — H o f = u n d S t a a t s s p r a c h e Keine Sprache eines andern noch lebenden Volks darf Hof= und Staatssprache sein: Denn so lange noch nicht die Sprache eines fremden Volks gebraucht wurde, konnte keinem andern Volke deswegen einfallen, daß es das erste von allen Völkern, durch Sprache, Bücherwesen und Bildung sei. Es konnte die übrigen Völker nicht „ V i e h e " nennen, denn das wurden sie erst, als sie sich zu Affen und Papageyen verkünstelten, ihre eigene Sprache aufgaben, und völkerstumm fremde Mißtöne nachlallten. So bleibe man, wenn es Dollmetschersprachen geben muß, bei den beiden todten alten. So lange die Friedensverträge Lateinisch niedergeschrieben wurden, gab es weniger Meinfrieden. 2 Es that den Gesandten keinen Schaden, daß zu ihrem Geschäfte Latein erfordert wurde; und mithin ihnen der Zugang zum Rathfragen und Rathseinhohlen beim Alterthum offen stand. O c h s e n s t i e r n a 3 vertheidigte als Student eine Lateinische noch dazu theologische Streitschrift zu Wittenberg. In Moser's patriotischem Archiv sind Lateinische Briefe von G u s t a v A d o l p h zu lesen. 4 Durch Kenntniß des Latein und der Kirchengeschichte sind katholische Geistliche so große Staatsmänner geworden: — Wer kann sich rühmen, Richelieu's und Talleyrand's Unternehmungen, Planen oder Anschlägen entronnen zu seyn? b) V e r m e i d u n g f r e m d e r W ö r t e r Fremde Kunstausdrücke müssen in Benennung von Personen, Würden, Ämtern, Handlungen, und volksthümlichen Gegenständen gänzlich abgeschafft; und in Gesetzen, Verordnungen und im Geschäftsgange, wo es nur irgend die Verständlichkeit erlaubt, vermieden werden. Man hat über Campe und andere Sprachfeger gespottet: Das war unrecht! Man hat sie geflissentlich in Stich gelassen: Das ist schändlich! Worttäuscher und Wortbeschwörer haben Fremdheiten ergrübelt, verwirrte Schalldinge ausgekünstelt, um ihrer Neusucht zu. fröhnen, und in Unverständlichkeit den erheuchelten Weisheitsschein zu verhüllen: Das wird hochverrätherisch. „ W e n n e t w a s n i c h t k l i n g e n w i l l ; es i s t n i c h t D e u t s c h ! s a g e i c h , u n d s t e t s b i e t e t s i c h B e s s e r e s . " Ein Lehrspruch von K l o p s t o c k an seinen jüngern Freund und Werkvollender V o ß einst gegeben. 5 Es ist merkwürdig, daß die Deutschen an ein Kunstwort, aus einer fremden Sprache eingeschwärzt, nicht den kleinsten Theil der Forderungen machen, wie an ein einheimisches. Dort gilt ein leerer Schall als genug zur Bezeichnung; hier kann es nie genug, und nicht gut genug ausdrücken. Mögen die krittelnden Wortmäkler, und Sachwalter der fremden Schleichwaaren, nicht vergessen: Daß ein Kunstwort

5.3. Text

59

immer ein Wort bleibt, keine Abhandlung der Sache werden darf, sie nur entsprechend andeuten soll. Ich mögte eine Lebensgeschichte der Deutschen neugebildeten Wörter, die man erst als Ketzer in Bann und Acht that, späterhin für anrüchig hielt, allmählig in gute Gesellschaft zog, wo sie jetzt tonangebend walten. H a l l e r gebrauchte zuerst S t e r n w a r t e ; die Z e i t u n g s s c h r e i b e r während des siebenjährigen Krieges nahmen statt Bagage G e p ä c k e ; Sterne bildete das Englische Wort SENTIMENTAL, seine Verdeutscher e m p f i n d s a m ; B ü s c h i n g wählte E r d b e s c h r e i b u n g ; C a m p e gab uns das unentbehrliche Z e r r b i l d . 6 Auf diesem Wege nur dreist weiter gegangen, in den Uranfängen der Sprache geforscht, in ihren Mundarten sich umgesehen, und sich von Wohllaut und Geschmack leiten lassen! Das kann man unsern Schriftstellern nicht oft genug zurufen. Wüßten sie doch alle Horazens Verse (Epist. II 3. v. 45 — 72.) darüber auswendig! 7 Übrigens traue ich den Deutschen Zeitgenossen so viel zu von dem, was in den Neubildungen V o l k s t h u m , v o l k s t h ü m l i c h , und V o l k s t h ü m l i c h k e i t liegt; daß sie diese drei Versuche nicht anstößig finden. 8 c) M u t t e r s p r a c h e — G e l e h r t e n s p r a c h e Muß es die Nachwelt nicht für ein Mährchen halten, daß zu einer Zeit, als die Deutschen schon große Dichter und Schriftsteller in allen Fächern der Wissenschaft hatten — dennoch die Verhandlungen der ersten gelehrten Gesellschaft des zweiten Deutschen Staats in einer fremden lebenden Sprache geschahen, und in derselben auch zum Druck befördert wurden? 9 Oder wird sie glauben, daß die Deutsche Sprache ein so niedriges, haberechtiges, lästerndes Zänkergewäsch gewesen — als in den gelehrten Anzeigeblättern erscheint? Soll sie endlich argwöhnen, daß die meisten Schriftsteller die Federdolche gelehrter Vehmrichter gefürchtet, die auf den Freistühlen gelehrter Zeitungen zu Gericht gesessen? daß nur wenige Gelehrten durch öffentliches Zumundereden der hohen Ohnnamigkeit jener Wissenden entgangen? d) D e u t s c h e N a m e n Alle volksthümlich fortgelebte Völker hielten viel auf einen guten Namen, nach verachteten Gegenständen nennt sich keiner gern. Ich glaube nicht, daß es Deutsche Geschlechter, Esel und Hundsfötter u. s. w. giebt! Hebräer, Griechen und Römer hatten bedeutungsvolle volksthümliche Namen; und noch jetzt ist im Morgenlande der Name kein leerer Schall. Auch die Altdeutschen legten in Namen einen bedeutungsvollen Sinn; fremde Verstümmelungen, Hebräische, Griechische, Lateinische und andere Radbrechungen blieben als wahre Greuel verbannt. Noch immer wird bei uns, wie in vielen andern Sprachen, guter Name für Ehre, Ruhm und Ansehn genommen. „NOMEN ET OMEN HABET" und „ V I R NOMINIS S U I " sagten die Römer, wir dem ähnlich: „Der Mann führt den Namen mit der That." So

60

5. Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852)

wieder bei so vielen Völkern Wortspiele auf Namen; in England von Shakespear bis Gilray; in Deutschland von Alters hergebracht bis auf Schiller und Göthe. „Billig sollten alle Namen so beschaffen sein, daß man verstände, was sie hießen und andeuteten. Aber da hat man derer sehr viel, von denen man nicht weiß, was damit gesagt wird. Und das rührt daher, weil sie aus fremder Sprache, und von andern Nationen genommen sind. Doch dem könnte wohl abgeholfen werden. Man merke nur an, daß fast alle Völker den Kindern aus ihrer Muttersprache die Namen aufgelegt. So dächte ich, unsere Teutsche Sprache wäre auch eben so wohl beide würdig und tüchtig, ein Gleiches damit zu thun. Bei einem jeglichen soll von Rechtswegen, die Absicht auf einen Segen, auf einen guten Wunsch, auf eine nützliche Erinnerung für das Kind gerichtet sein: So giebt es sich ja von selbst, daß man den Namen auch verstehen müsse, was er heißen und bedeuten soll. So wird denn dazu unsere Muttersprache am Bequemsten sein."* Ein gelehrter Engländer wollte nicht, daß man den Kindern Jüdische Namen (worunter er alle solche mitbegreift, die in der Bibel stehen) beilegen sollte, weil es ein judenzendes Gemüth verriethe. Der darf nicht nach Dännemark kommen (das Dänische Deutschland, Hollstein; und das Deutsche Dännemark, Schleswig abgerechnet), wo die meisten Namen biblisch, viele fremd und geradebrecht, die wenigsten ursprünglich und volksthümlich sind.** Der feine Staatskenner Machiavell äußert: „Namen von Heiligen und Märtyrern machen feige und weibische Gemüther; darum sollte man den Kindern Namen berühmter Helden geben, wie Hector, Achilles, Alexander, dadurch werden sie großmüthig und tapfer." 10 Es ist bewiesen, daß kein Echtdeutscher Name einer bösen Auslegung fähig ist. Die Grillen einiger Wortforscherlinge sind widerlegt. Mit jedem Echtdeutschen Namen haben die Erfinder und Namennenner eine gute Bedeutung im Sinn gehabt. Ansehn, Beschirmung, Erhabenheit, Freude, Friede, Gerechtigkeit, Großmuth, Größe, Hülfe, Keuschheit, Klugheit, Liebe, Muth, Macht, Reichthum, Tugend, Treue, Volk und Vaterland und ähnliche Grundbegriffe sind die einzigen Bestandt e i l e der Echtdeutschen einfachen und zusammengesetzten N a m e n . * * * Die Deutschen Schönredekünstler versündigen sich an unserer namenreichen Sprache durch ausgeheckte Mißnamen. In wohllautenden weiblichen Namen kann sich die unsere gewiß mit jeder andern messen. Es fehlt uns nur ein D e u t s c h e s N a m e n = T a s c h e n b u c h , wodurch sie allgemein bekannt würden. Selbst die Namen in den Altdeutschen Liedern sind gewählt, und sprechen das Wesentlichste * Erdmann Neumeister. Die Lehre von der Taufe in 52 Predigten. Hamburg 1731. * * Fragmente aus dem Tagebuche eines Fremden, mehrentheils während dessen Aufenthalt in einigen Königl. Dänischen Staaten gesammelt. Kopenhagen b. Friedrich Brummer 1800. * * * Wiarda über Deutsche Vor- und Geschlechtsnamen. Berlin und Stettin 1800. Nitzsch über Deutsche Namen in Bragur und Hermode. 11

5.4. Anmerkungen des Herausgebers

61

derer aus die sie führen, — von dem Liede der Niebelungen bis auf Reineke Fuchs. Unter den neuern Büchern ist keins darin so musterhaft, als Engel's Deutscher Hausherr 12 : Stark, Herbst, Schlicht, Specht, Lyk, Wrack, sind in keiner falschen Münze geprägt. Warum giebt es in keinem Deutschen Zeitweiser eine Sammlung Deutscher Namen, zwei auf jeden Tag, ein männlicher und weiblicher? Wir Deutschen haben ohnedieß zu wenig Erbtheil von unsern Vätern gerettet, und nach dem Langewiederzusammengesparten giert fremde Volksselbstsucht. Namen wie Hermann, Karl, Heinrich, Otto, Rudolph, Walter, Arnold, Wilhelm, Bernhard, Friedrich, u. a. m. sollten wie theure Nachbleibsel von Schutzheiligen gelten. An Namen knüpfen sich Erinnerungen, mit dem Außenruf erwacht leicht der innere Beruf zu einem E r n s t , F r e i m u t h , S e h r m a n n , L ö s e r , S i e g f r i e d und T h o r i l d . Namen pflanzen sich fort, und Gedanken an den Zuerstsogenannten, und alle die Braven, die nachher so hießen.

5.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

Die Begründung, die Jahn im zweiten Abschnitt für die Notwendigkeit der „Achtung der Muttersprache" gibt, nämlich daß die Herrscher gut daran tun, die Sprache ihrer Untertanen bzw. der von ihnen unterdrückten Völker zu kennen, folgt der ganz anderen Begründung des ersten Abschnitts recht unvermittelt. Aus der zweiten läßt sich 1810 eher ein Rat an Napoleon als an die Deutschen ableiten. Zu den historischen Beispielen Jahns die folgenden Hinweise: Hamilkar „Barkas", der Vater des bekanntesten Hannibals, eroberte in einem neunjährigen Feldzug (237—229 v. Chr.) große Teile Spaniens. — Von Mithridates VI. (131—63 v. Chr.), der als König von Pontos mit Ausdauer sein ganzes Leben lang das römische Reich in Kleinasien bekämpfte, wird berichtet, daß er alle Sprachen der von ihm unterworfenen 22 Völker sprechen konnte. — Der schwedische König Gustav III. (1746 — 1792) setzte seine nicht nur von Jahn gerühmte Beredsamkeit im innenpolitischen Machtkampf mit den Ständen und den Adelsfraktionen ein. Die mangelnde Kenntnis des Finnischen dürfte beim abgebrochenen Krieg gegen Rußland 1788 eine Rolle gespielt haben, als ein Bund schwedischer und finnischer Offiziere in Anjala (Finnland) gegen den Feldzug rebellierte. — Joseph II. (1741 — 1790) führte im Rahmen seiner großen Reformen, mit denen er zu Beginn seiner Regierungszeit 1780 die österreichisch-ungarische Monarchie zu einem einheitlich verwalteten Gesamtstaat machen wollte, in Ungarn das Deutsche als Amtssprache ein. Dies und andere Reformakte provozierten den entschiedenen Widerstand des ungarischen Adels. Nach dem unglücklich verlaufenen Feldzug gegen die Türken mußte Joseph 1790 alle Ungarn betreffenden Reformakte wieder zurücknehmen. — Karl IV. (1316 — 1378), der Sohn König Johanns von Böhmen und selbst in Prag geboren und gestorben, erließ die „Goldene Bulle" 1356. — Ersisch und Galisch: Keltische Sprachen in Irland, im schottischen Hochland und auf der Insel Man. Der historische Kontext ist die Etablierung und Aufrechterhaltung der englischen Herrschaft in Schottland. „Mein" in der alten Bedeutung ,falsch' wie in „Meineid".

62 3 4

5 6

7

8

9 10 11

12 13

5. Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) Gemeint der erste berühmte Träger dieses Namens, Axel Graf von Ochsenstierna (1583 — 1654), seit Regierungsantritt Gustav II. Adolf 1612 schwedischer Reichskanzler. Es handelt sich um Briefe Gustavs II. Adolf aus der Zeit von 1623 bis 1638. Moser führt ihn ein als den „um Deutsche Freiheit und Vaterland unsterblich verdienten König Gustav Adolph in Schweden." Abgedruckt sind die Briefe im „Patriotischen Archiv für Deutschland", 1786, Bd. 5, 3—234 (mit einer Fortsetzung im folgenden Band). Quelle des Zitats nicht ermittelt. Die Überprüfung der Zuordnungen Jahns mit Hilfe des „Deutschen Wörterbuchs" der Brüder Grimm ergibt: Die Übersetzung von „observatorium" durch „Sternwarte" taucht schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts, also vor dem Gebrauch bei Albrecht von Haller auf, setzt sich allerdings erst gegen Ende des Jahrhunderts allgemein durch. — „Gepäck" als Kollektivum zu „pack" ist im Deutschen alt. Als Bezeichnung für die zusammengepackten Sachen von Soldaten und Reisenden ersetzt es aber in der Tat in der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend das französische „bagage", das seinerseits im 17. Jahrhundert das deutsche Wort „Plunder" verdrängt hatte. — Die Verdeutschung „empfindsam" für Sternes „sentimental" („Sentimental journey through France and Italy", 1768) soll im gleichen Jahr erstmals Bode auf Vorschlag Lessings verwendet haben. — Anton Friedrich Büsching (1724—1793), Theologe, Geograph und vielseitiger Schriftsteller, veröffentlichte ab 1754 eine vielbändige „Neue Erdbeschreibung". „Erdenbeschreibung" für „Geographie" findet man aber schon bei Caspar Stieler (1632—1707) — „Zerrbild" wird zuerst von Campe als Übersetzung von „caricatur" in den „Briefen aus Paris" (1789) gebraucht. Horaz beschäftigt sich in den Versen 46—72 des dritten Briefs im zweiten Epistelbuch, bekannter als die „Ars poetica", mit den Möglichkeiten und Formen der Neubildung von Wörtern als einem sprachlichen Mittel bei der Gestaltung des Kunstwerks. „Volksthum" wurde von Jahn selbst 1810 durch das Buch „Das deutsche Volksthum" eingeführt. „Volksthümlich" und „Volkstümlichkeit" gibt es schon bei Herder. Alle drei Wörter und weitere Ableitungen und Zusammensetzungen ersetzen die entsprechenden Bildungen mit „Nation". Jahn spricht von der 1700 gegründeten „Societät der Wissenschaften" in Berlin, der späteren „Akademie der Wissenschaften". Wo Machiavelli diese Bemerkung macht, habe ich nicht ermitteln können. Der genaue Titel des ersten Buches lautet: „Über deutsche Vornamen und Geschlechtsnamen". Tileman Dothias Wiarda (1746 — 1826) schrieb u. a. auch eine Geschichte (1784) und ein Wörterbuch des Altfriesischen (1786). — Die Identität des zweiten Autors konnte ich nicht ermitteln. Es lebten und publizierten um 1800 vier miteinander verwandte Gelehrte dieses Namens. Nicht ermittelt. Jahns Verdeutschung von „Kalender".

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826) 6.1. Einführende Bemerkungen August Freiherr von Steigentesch war — zwei Jahre jünger als Novalis und Friedrich Schlegel und zwei Jahre älter als Görres und E. T. A. Hoffmann — ein Generationsgenosse der älteren Romantiker und hatte doch wenig mit ihnen zu tun. Als Sohn eines norddeutschen Adligen und höheren Staatsbeamten in Hildesheim geboren, trat er mit 15 Jahren in österreichische Militärdienste und erwarb sich später in verschiedenen diplomatischen Missionen die Gunst Metternichs. Er brachte es bis zum Generalmajor und zum österreichischen Militärbevollmächtigten am Bundestag (bis 1820). Der geistreiche Welt- und Lebemann, als der er sich in der Wiener Adelsgesellschaft profilierte, drückte sich auch in seinen literarischen Werken aus, zu denen Gedichte und Erzählungen, vor allem aber seine erfolgreichen, vielgespielten Lustspiele gehören. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der konservative Geschmack des Freiherren, der sich politisch, gesellschaftlich, literarisch und sprachlich an den vorrevolutionären Ordnungen orientierte, ja noch 1812 den Höhepunkt der deutschen literarischen Kultur um 1750 verwirklicht sieht. Da die „Gesammelten Schriften" von 1819 nur Gedichte, Lustspiele und erzählende Werke enthalten, bleibt ungewiß, ob der hier abgedruckte Aufsatz das einzige publizistische Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit den sprachlichen und literarischen Tendenzen der Zeit ist oder ob er auch sonst noch als Zeitschriftenautor tätig war.

6.2. Literaturhinweise Textvorlage Ein Wort über deutsche Litteratur und deutsche Sprache. In: Deutsches Museum 1 (1812), H. 3, 197-220. Weitere Literatur A: Gesammelte Schriften. Ausgabe letzter Hand. 6 Bde. Leipzig und Darmstadt: Heyer u. Leske 1819.

64

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826)

6.3. Text Ein W o r t über deutsche L i t t e r a t u r und d e u t s c h e Sprache (1812) Der Deutsche beklagt sich oft über das Urtheil des Auslandes, das zuweilen, ohne seine Sprache, und seine Litteratur zu kennen, über beyde zu urtheilen wagt. Wer stimmt nicht gern dieser Klage bey? Denn es ist nur zu gewiß, daß den fremden Aristarchen unsre Sprache nur durch Uebersetzungen bekannt ist. Aber jede Sprache hat ihre Eigenthümlichkeiten, die durch die Uebertragung in eine andere verloren gehen, und die beste Uebersetzung gleicht einem gewendeten Kleide, dem das Feine, Glänzende und Weiche der andern Seite fehlt. Indessen, wir wollen billig seyn; hat die deutsche Litteratur nicht selbst etwas, das den Ausländer von ihr abschrecken muß, und das sich mit seinem Geschmack und seinen Ansichten nicht verträgt? Ist Weitläufigkeit, Härte, zuweilen Geschmacklosigkeit in der Zusammenstellung und Erschaffung der Worte, nicht hier und da eine Eigenheit, wenn auch nicht der Sprache, doch ihrer Schriftsteller geblieben? Haben die Gesetzgeber der Sprache ihr das Weiche und Biegsame gegeben, dessen sie fähig ist, und das sie dem Ohre des Fremden empfiehlt? Wer fühlt nicht bey dem Nahmen A d e l u n g die Ehrfurcht, die dem gelehrten unermüdeten Forscher gebührt? Man begreift kaum, wie ein Menschenleben hinreichte, eine so reiche Sprache wie die deutsche, zu umfassen und zu ergründen, und beynahe bey jedem Worte bis zu seiner Quelle hinauf zu steigen. Die Gesetze der Sprache, die in andern Ländern eine Vereinigung der besten Köpfe kaum so gründlich entwarf, entwarf er allein, und noch bis jetzt ist sein Wörterbuch das Grundgesetz der deutschen Sprache geblieben. Aber auch er ließ sich von Vorurtheilen und Gewohnheiten beherrschen. Sein Ohr, an die Aussprache eines kleinen sächsischen Kreises gewohnt, gab der Sprache zuweilen Steifheit und Härte, und die vielen Ε die er einschob, um sie, wie er glaubte weicher und biegsamer zu machen, 1 dehnten die Worte; die deutsche Sprache erhielt dadurch einen Anstrich von Geziertheit, der ihr so übel steht, und ihre eigentliche Kraft mußte in dem neuen Gewände verlieren. Wir sind bey Adelung, dem gelehrten Gesetzgeber unserer Sprache, und schon aus ihm lassen sich manche Ursachen entwickeln, die auf die Sprache wirkten, und ihren Schöpfungen zuweilen den Stempel der Geschmacklosigkeit aufdrückten, der noch jetzt nicht von allen verwischt ist. Wer hat je an dem g e l e h r t e n , u n e r m ü d e t e n , k e n n t n i ß r e i c h e n Deutschen gezweifelt? der Fleiß des Deutschen ist unter allen Himmelsstrichen anerkannt; er ist in den amerikanischen Wäldern unverdrossen und arbeitsam, wie in seinen eigenen; aber warum gelingt es dem fleißigen Deutschen, der alles nachahmt, und seine Muster oft übertrifft, warum gelingt es ihm selbst im mechanischen Leben so selten, geschmackvolle Formen zu erfinden? Warum ist der Schönheitssinn, der nur unter den Schöpfungen und den Gestalten der Kunst aufblüht, so selten das Erbtheil des Deutschen, wenigstens seiner Werke? Warum sucht er meistens das Ausland wie einen classischen Boden

6.3. Text

65

auf, das Gelernte zu vervollkommnen, seine Begriffe zu berichtigen, und das wirkliche Leben erst dort kennen zu lernen, das ihm in seiner Heimath durch Gewohnheiten und Vorurtheile fremd blieb? Aus dieser, und den Ursachen, die ich unten berühren werde, läßt sich der mühsame Fleiß unsrer Gelehrten erklären, die abgesondert von der Welt, nur ihren Büchern angehören, und dunkle abgezogene Begriffe ihres Denkens in dunkle Worte kleiden, an die sich ihr Ohr gewöhnt, die dann in die Sprache treten, um sie zu verwirren, und ihre zurückstoßende Härte zu vermehren. Ein kleines Gemälde der gesellschaftlichen Verbindung und Ausbildung der Stände in Deutschland, vor seinem jetzigen Zustande, wird uns noch deutlicher die Ursachen erklären, die so nachtheilig auf die Sprache, auf den Geist und den Geschmack des deutschen Gelehrten und Künstlers wirken mußten. Unsre Sprache ist die jüngste aller g e b i l d e t e n Sprachen in Europa, obwohl einige, wie die englische, zum Theil aus ihr hervorgingen, und die Sprache selbst älter, als die meisten ihrer Schwestern ist. Schon im dreyzehnten Jahrhunderte machte sie wichtige Fortschritte, die um so auffallender sind, da sie in der Folge wieder zu einer Härte und Barbarey herabsank, der sie sich auf Augenblicke glücklich entrissen hatte. Ich bin weit entfernt, die Minnesänger und ihre Werke als Beyspiele für ihre Nachwelt aufzustellen, wie es jetzt zuweilen geschieht; doch es ist gewiß, daß ihre Sprache mehr Zartheit und Biegsamkeit hatte, als in dem todtenähnlichen Schlaf, aus dem sie, erst drey Jahrhunderte später, wieder erwachte. Aber Deutschland von Partheygeist zerrüttet und von inneren Kriegen verheert, war kein Zufluchtsort für die Musen, die sich vom Geräusch der Waffen entfernen. Sie schwiegen, um drey Jahrhunderte zu verstummen. Indessen erfand der Deutsche das Schießpulver und die Buchdruckerkunst, die beyde auf die Freyheit des Geistes und der Sprache wirkten. Aber diese Entdeckungen fielen in ein finsteres Jahrhundert, das ihren Nutzen nicht begriff. Die letzte benutzte der Aberglaube, und später die Reformation* die ihn bekämpfte, und dem Geiste des Deutschen die Richtung gab, die ihn zu Religions=Zänkereyen und gelehrten Spitzfündigkeiten führte, und ihn * Der Raum erlaubt es hier nicht zu untersuchen, ob die Reformation der Bildung des menschlichen Geistes mehr genützt oder geschadet hat. Wenigstens auf den Geist des deutschen Volkes hat sie nicht vortheilhaft gewirkt, obgleich alle unsere Schriftsteller das Gegentheil behaupten. W i r standen damahls auf der nämlichen Höhe der Bildung mit andern Völkern, und von diesem Zeitpunkt an eilten uns Italien, und später Frankreich voraus. In beyden Ländern verbesserte der Geist der Zeit die Mißbräuche der Religion, ohne gewaltsame Aenderungen, (und hatten sich v o r der Reformation nicht schon die französischen Könige mit Nachdruck und Glück dem römischen Stuhle widersetzt?) Der Stillstand der Wissenschaften, die auf das Leben wirken und Geist und Gefühl veredlen; seine inneren Kriege, seine damahlige Verwüstung und Verarmung, von denen es sich nie wieder ganz erholte, hat Deutschland unstreitig seiner Reformation und ihren Folgen zu verdanken.

66

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826)

dadurch von Wissenschaften und Künsten entfernte, die das Leben erheitern und verschönern. Die Erste wurde ein Werkzeug in der Hand der Mächtigen, die Freyheit des Geistes, und mit ihm die Freyheit der Sprache zu unterdrücken, die noch so kühn und edel in Ulrich von Hutten sprach. Einige Fürsten wiesen der Gelehrsamkeit ruhigere Sitze an, und die hohen Schulen waren bestimmt, alle Strahlen des Lichtes zu sammeln, um sie durch das Ab= und Zuströmen ihrer Zöglinge über Deutschland zu verbreiten. Aber gerade diese Gelehrsamkeit vernichtete die vaterländische Sprache sogar bis auf ihr Andenken. Der Gelehrte, der in seinem Livius und Herodot eine gebildete Sprache fand, die ihm die rauhe Mundart seines Landes nicht ersetzte, wählte die fremde Sprache, und so blieb selbst das Wenige, was die Gelehrsamkeit damahls Wissenswürdiges und Belehrendes hatte, nur das Eigenthum der wenigen Menschen, die diese Sprache verstanden. Dadurch wurde die deutsche Sprache so lang der Verachtung übergeben, und erst vor ungefähr siebenzig Jahren, als sie die Fesseln des Vorurtheiles zerbrach, fing man an die Möglichkeit zu glauben, auch in ihr Witz und Empfindung ausdrücken zu können. Wie schön war dieß Erwachen der Sprache! Man sah an ihrer Kraft, daß es ein Riese war, den Unwissenheit und Vorurtheile gefesselt hatten, und der ungeduldig und schnell von Stufe zu Stufe sprang, um die Höhe zu erreichen auf der seine Schwestern standen. Keine Sprache hat so schnelle Fortschritte gemacht als die deutsche, sobald sie in die Zahl der gebildeten Sprachen aufgenommen war. In einem engen Raum von zwanzig Jahren, von 1740 bis 1760 liegt das große Werk ihrer Entwickelung, 2 und nur die deutsche Verfassung macht es möglich zu erklären, warum ihre Regeln noch so unbestimmt und unsicher sind, und warum es jedem nur halb berühmten Nahmen erlaubt scheint, Eingriffe in ihre Rechte und Bestimmungen zu wagen. Die Verfassung Deutschlands, die es in zwey= oder drey hundert kleine Theile zerschnitt, erlaubte den Deutschen nie ein Volk zu bilden, und selbst die Ausbildung der Sprache dehnte sich nie über die Gränzen aus, die einen deutschen Völkerstamm von dem andern trennten. Die Kunst sich zu erhalten war in jedem Zeitpunkte für kleine Regierungen eine mühsame Kunst, und sie mußte bey ihnen wie bey den größeren, an die sie sich anschlossen, der Erfindung des Pulvers den Vorzug vor der Erfindung der Buchdruckerkunst geben. Viele erkannten sogar in der letzten ihre Feindin, die durch den Einfluß, den sie auf den Geist der Völker hatte, ihr Recht allein zu herrschen mit ihnen theilte. Nur Wenige kannten den Geist der Sprache, denn sie hatten die ersten Begriffe ihrer Kindheit in einer fremden Sprache gesammelt. Der einzige große Regent, den Deutschland in neueren Zeiten hatte, Friedrich der Zweyte, kannte und liebte seine Sprache nicht, und der deutsche Gelehrte wurde vergessen, wenn der fremde an seinem Hofe Schutz und Aufmunterung fand*. Den übrigen Regierungen war eine Sprache gleichgültig, die ihnen * Man muß es diesem Fürsten vergeben; was war die deutsche Sprache in dem Zeitpunkte, als er anfing zu denken und zu schreiben?3

6.3. Text

67

keine Vortheile versprach. Sie dachten zu väterlich, als bey den steigenden Auflagen auch den Geist ihres Volks durch neue Vorschriften und Sprach=Gesetze zu drücken; daher war der Gelehrte, der in Deutschland gewöhnlich zu der Mittelklasse gehört, an deutschen Höfen eine seltene Erscheinung, bey der man nicht wußte, wohin man sie stellen sollte. Selbst die deutsche Sprache hat etwas demüthigendes, was keine andere Sprache enthält, und ihr Sie, Er, Ihr und Du bezeichnen schärfer, als in jedem andern Lande die Scheidelinie der Stände. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts gefiel es einigen deutschen Herrschern das Er zu wählen, wenn sie mit Menschen sprachen, die Gott nicht gewürdigt hatte Zutritt an einem Hofe zu haben. Diese Behandlung, die schwer auf die gebildete Klasse drücken mußte, entfernte sie von den Höfen. An diese schloß sich der deutsche Adel, der sich in der neueren Zeit durch alle mögliche Zierden seines Standes, aber selten durch wissenschaftliche Bildung auszeichnete. Die ängstliche Sorgfalt, diesen Adel rein zu erhalten, schloß ihn von der Verbindung mit den übrigen Ständen aus, und wenn es dem französischen Herzoge erlaubt war, durch eine reiche Mißheirath den Glanz seines Hauses wieder herzustellen, und die jüngern Söhne in England Kenntnisse sammeln mußten, um als Redner zu glänzen oder im Handel zu erwerben; so gingen alle diese Vortheile für den deutschen Adel verloren. Der katholische Adel begnügte sich, seine jüngern Söhne an die Kirche oder die stehenden Heere abzuliefern. Die Ersten bedurften keiner Kenntnisse, und die Letzten glaubten keiner zu bedürfen. Die Aeltesten beschränkten sich größtentheils darauf ihren Nahmen fortzupflanzen, und wenn ihnen diese Anstrengung gelungen war, so glaubten sie gewöhnlich alle Forderungen erfüllt zu haben, die ihre Mitbürger an sie machen konnten. Der protestantische Adel war ärmer, und wenige geistliche Stellen abgerechnet, die ihn an keinen Ort banden, blieb ihm nichts übrig, als den Fahnen seiner Fürsten zu folgen. Ihm hat die Sprache einige classische Werke über die Kriegskunst zu danken*, und sie hat sich in diesen Werken edler und reiner erhalten, als zuweilen in dem Aufflug unserer größten Dichter, die alle Fesseln der Regel zerbrachen, um sich freyer zu erheben. Die Wissenschaften blieben also in Deutschland mit wenigen Ausnahmen, das Eigenthum des Mittelstandes**. Diese Gelehrten, von den höheren Ständen abgesondert, ohne Mittheilung, ohne Berührungspunkte mit dem geselligen Leben, gehörten nur ihren Büchern und ihrem Nachdenken, und nie der Welt an, für die sie schrieben, oder die sie schildern sollten, und die wie ein unbekanntes Land hinter der Scheidewand lag, die sie von ihr trennte. Daher läßt sich der spekulative Geist des Deutschen zum Theil erklären, der in seine Betrachtungen vertieft, das * Ich nenne nur Bärenhorst's Betrachtungen über die Kriegskunst. 4 ** Wie viele Schriftsteller haben England und Frankreich in ihren ersten Ständen aufzuweisen! Wenn man in dem letzten nur die Verfasser der Memoires zählt, welche ungeheure Zahl!

68

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826)

wirkliche Leben vergißt, und so gern für die mühsame Entzifferung eines Begriffs, der nur ihm deutlich ist, ein hartklingendes Wort erfindet. Ich glaube, die Zeit ist gekommen, wo wir es gestehen dürfen, wie weit uns der philosophische Zeitpunkt des großen Denkers in Königsberg von der Bildung entfernte, die auf das Leben wirkt. Wer, und was hat dabey gewonnen? die Sprache, auf die ich mich hier beschränke, ihre Weichheit, und ihr Wohlklang gewiß nicht. Diese Lehre, die beynahe zehn Jahre unsere besten Köpfe beschäftigte, erschuf Worte, über die der Ausländer erschrecken muß, und die der Deutsche außer ihrem Erfinder, zum Theil selbst nicht verstand. So erhielten wir ein Wörterbuch über die kantische Philosophie, und dann sogar ein Wörterbuch über dieses Wörterbuch. 5 Es war also eine neue Sprache, die in der alten entstand, und der Meister gestand endlich selbst, daß ihn seine eifrigsten Jünger nicht verstanden. Die Seuche, sich in dieser Sprache auszudrücken, ging endlich so weit, daß wir selbst eine Postlehre haben, also eine Lehre für die gemeinnützigste Anstalt in Europa, die in dem Unsinn dieser Sprache vorgetragen ist*. Nun erschien in Deutschland eine Menschenklasse, die, wie die alten Ritter von ihrem Degen, jetzt von ihrer Feder lebten. Die ganze Magisterwelt dieser Schriftsteller warf der Hunger an den Schreibtisch, um ihren Magen durch die Anstrengung ihrer Hände zu beruhigen. So wuchsen die Meßkataloge, die wir immer den Fremden stolzlächelnd vorhalten, um unsern Fleiß zu beweisen, zu einer ungeheuren Dicke. Unglücklicherweise liegt in jedem Menschen der Trieb sein Gebieth zu erweitern, besonders wenn es die Gesetze erlauben. Dieser Trieb und seine Folgen sind die Weltgeschichte, und es war also natürlich, daß der arme Mensch, der keinen andern Punkt für seinen Ausflug hatte, als sein Papier, sich in Folianten auszubreiten suchte. Unsere Sprache hat das Fehlerhafte in ihrer Zusammensetzung, daß sie das Zeitwort immer nachschleppt. Dadurch wird der schnellere Umtrieb der Gedanken, wenigstens ihrer Mittheilung, gehindert. In der französischen und englischen Sprache, wo das Zeitwort immer dem vorausgeht was man sagen will, läßt sich in der Hälfte der Rede auch voraus bestimmen, was ihr folgen muß, und darum können die schnellen Antworten (REPLIQUES), die den Witz beyder Völker auszeichnen,

* Vorläufige Darstellung der Begründung einer allgemeinen Postanstalt. Göttingen. Dietrich 1801. 6 — Ich ziehe nur folgende Stelle aus: „die P o s t l e h r e überhaupt enthält die Richtigstellung der geforderten und gegebenen Bestimmungen einer Postanstalt, mit der Tendenz einer Allgemeinheit, als Ideal. Darauf wird sodann die Begründung und Darstellung der n o t h w e n d i g e n C o e x i s t e n z jener wesentlichen Bestimmung gebaut: die Darstellung dieser Nothwendigkeit zeigt dieselbe an und für sich, und durch Erläuterung des Mißstandes einer E i n z e l n h e i t der Einrichtung, das heißt, der Wirkung einer Trennung der geforderten Bestimmungsstücke, nach der Idee, oder zur Realisirung der Universalität." — Wenn das der Abbe Geoffroy! wüßte, der zum Glück unsere Sprache beurtheilt, ohne sie zu verstehen! 7

6.3. Text

69

selten von uns nachgeahmt werden. Schon an der Ungeduld, die ihre Antwort bereit hat, wenn der Andere noch spricht, lassen sich die beyden Völker, wie noch an so manchem andern erkennen. Von zwey Deutschen, die zusammen sprechen, scheint immer einer etwas zu erwarten, und was er erwartet, ist das Zeitwort, das nicht kommen will, und ohne das er den andern nicht versteht. Dieser Fehler liegt zum Theil mehr in der Behandlung der Sprache als in der Sprache selbst; aber er besteht, er ist in unsern ersten Schriftstellern zu finden, und ich will nur ein Beyspiel anführen, das ich aus den Werken eines unserer berühmtesten Schriftsteller entlehne, der als Dichter immer groß bleiben wird, wenn ihn auch die neuere Schule zu verkleinern suchte*. „Nicht nur sind gewöhnlicher Weise Begier und Abscheu, Furcht und Hoffnung von Sinnlichkeit und Einbildung in Bewegung gesetzt — die Triebräder aller der täglichen Handlungen, die nicht das Werk einer bloß maschinenmäßigen Gewohnheit sind; sondern in den meisten und angelegensten Fällen — gerade da, wo es ein Glück oder Unglück des ganzen Lebens, Wohlstand oder Elend ganzer Völkerschaften, und am allermeisten, wo es um das Beste des ganzen menschlichen Geschlechts zu thun ist — sind es fremde Leidenschaften oder Vorurtheile, ist es der Druck oder Stoß weniger einzelner Hände, die geläufige Zunge eines einzigen Schwätzers, das wilde Feuer eines einzigen Schwärmers, der geheuchelte Eifer eines einzigen falschen Propheten, der Zuruf eines einzigen Verwegenen, der sich an die Spitze stellt — was Tausend und hundert Tausende in Bewegung versetzt, wovon sie weder die Richtung noch die Folgen sehen, was Staaten in Verwirrung bringt, Empörungen, Spaltungen und Bürgerkriege verursacht; Tempel, Altäre und Thronen umstürzt, die Werkstätte der Natur und der Kunst verwüstet, und oft die Gestalt ganzer Welttheile verändert." Diese einzige Zusammenstellung enthält nicht weniger als acht und zwanzig gedruckte Zeilen. Wie leicht hätte sich dieses durch kleinere Perioden bilden lassen, die sich auf einander bezogen, und die ein steigendes Interesse verschönert hätte. Diesem unglücklichen „Nicht nur" im Anfange mußte das „sondern" folgen, das endlich die lange Periode nachschleppte. Ist dieß der Fehler der Sprache? Aber was kann der Ausländer bey solchen Stellen denken, die, als sie geschrieben wurden, Deutschland als klassisch anerkannte? Daß uns das, was wir in dem Geschmack jener Zeit tadeln, doch ja nicht verführt, uns in Hinsicht der Sprache in einer besseren Zeit zu glauben. Als die Sprache vor siebenzig Jahren erwachte, ging sie in dem Zeitalter Lessings, siegend und zerstörend ihrer Vollendung entgegen. Aber sie wankt seit jener Zeit wie ein * D a n i s c h m e n d von Wieland. Seite 105. Der alte, ehrwürdige Meister verzeihe. Wenige Menschen ehren und bewundern ihn mehr als ich. Aber ich habe dieß Beyspiel aus seiner früheren Zeit in seiner neuesten Ausgabe wieder gefunden, und es ist nicht das einzige von dieser Länge. Seine Nachahmer aus einer späteren Zeit berufen sich auf sein Beyspiel, um ihre Sünden dadurch zu entschuldigen. 8

70

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826)

Schlaftrunkener ohne Haltung und ohne Gesetze, vermehrt aber selten bereichert, in dem finstern Reiche verworrener Begriffe, regellos durch Studierzimmer und Hörsäle, wo der Witz selbst gelehrt und weitläufig werden muß, um dem Deutschen zu gefallen. Wir haben in u n s e r e r Z e i t Schriftsteller, die sich einen berühmten Nahmen erwarben, durch ein außerordentliches Gedächtniß alles Gelesene zu behalten und anzuwenden. Ein Witz, der auf drey oder vier Seiten alle Vergleichungen verfolgt, die er in den vier Welttheilen findet; zuweilen ein blühendes Bild, eine Beschreibung die uns erhebt; dann wieder eckelhafte oder schreckliche Darstellungen die uns empören; dieß alles ohne Plan, ohne Zusammenhang, an den Faden der Laune gereiht, die der Engländer Humour nennt, und die wir noch nicht begriffen haben, und zu einer Weitläufigkeit ausgedehnt, die selbst einen deutschen Leser ermüdet, sind die Bestandtheile des Ruhms, den diese Schriftsteller in ganz Deutschland errangen. 9 Der Witz, wenn er nicht bloß ein Wortspiel ist, gehört zu den Erscheinungen einer Sprache, die sich leicht in eine fremde übertragen lassen. Der witzige Einfall in Deutschland wird in London und Paris belacht; denn sein innerer Gehalt läßt sich durch keine Uebersetzung verwischen. Aber versuchen wir es einmal diesen National=Witz unserer Lieblingsschriftsteller, der drey Seiten mit einem einzigen Gedanken füllt, in eine andere Sprache zu übertragen, — können wir es dem Ausländer verdenken, wenn er über die Gutmüthigkeit des Deutschen lächelt, der einen flüchtigen Einfall mit sehr gründlichen Anmerkungen aus der Geschichte, aus Reisebeschreibungen und Kirchenvätern belegt? Der Witz ist wie eine Seifenblase, die nur einen Augenblick mit ihren Farben spielt um dann zu verschwinden. Diese Schriftsteller haben das Mittel gefunden, schwer geschliffene Kugeln aus diesen Seifenblasen zu drehen, die aus allem zusammengesetzt sind, was je gedruckt oder geschrieben wurde, und die Stundenlang vor der deutschen Lesewelt hinrollen. Diese bewundert nur die Mühe der Zusammensetzung, und fühlt nicht, daß ein mühsamer Witz und ein flüchtiger Einfall, der auf drey Seiten stehen bleibt, nur in ihrem Vaterland als Witz anerkannt werden. Aber nicht allein bey dem Spiele des Witzes hat die Sprache Rückschritte gemacht. Ich betrete ein Gebieth, das nur sparsam angebaut ist, das Gebieth der Geschichte; und hier hat der Ruhm dem deutschen Tacitus*, wie man ihn nennt, den ersten Preis zuerkannt. Wer wird in ihm den unermüdeten Sammler, und den gelehrten Forscher verkennen, der mit strenger Wahl das Wahre von dem Falschen sichtet? Aber welcher Unbefangene erkennt nicht zugleich den Schriftsteller, der auf jeder Seite den Genius der Sprache beleidigt, die ihm fremd ist? Diese Kürze, die durch die Weglassung der meisten Artikel und Bindeworte, durch eine gewaltsame Versetzung der Worte, die den Geist der Sprache entstellt, und durch das schleppende Gerundium entsteht, das so oft wiederholt, unserer Sprache nicht * Johannes von Müller. 10

6.3. Text

71

angehört, giebt ihr eine abschreckende Härte, die sie glücklicherweise nur in den Werken dieses Schriftstellers besitzt. Selbst die Kürze, in der Perioden von zehn Worten, durch Einschiebungen von drey und mehr Zeilen unterbrochen werden, giebt unserer deutlichen Sprache zuweilen eine Undeutlichkeit, die den Leser, der vertraut mit seiner Sprache ist, oft nöthigt, manche Stellen zu wiederholen, um sie zu verstehen. Ich spreche nicht von der Wahl des Gegenstandes. Müller war ein Schweitzer und schrieb die Geschichte seines Vaterlandes. Aber der Geschichtschreiber der Schweitz kann sich als dieser selten über den Chroniken=Schreiber erheben. Die Aufzählung aller Nahmen und kleinen Begebenheiten, die den größten Theil der Schweitzergeschichte bilden, sind nur für die Städte und Cantone merkwürdig, denen sie angehören. Da, wo die Schweitzergeschichte in die Begebenheiten Europas eingreift, hört die eigentliche Geschichte dieses Landes auf; denn von dieser Zeit an sind ihre Helden Söldlinge, die sich an den Meistbiethenden verkaufen, und für Geld von einem Heere zu dem andern Übergehn. Dieß ist der Fehler seines Gegenstandes, und nicht der des Geschichtschreibers. Aber würde Lessing und seine Zeitgenossen diese Sprache, die mühsam einer fremden nachgebildet ist, für unsere Sprache erkannt haben? Und was beweiset die Geschmacklosigkeit des Zeitalters und die Unkenntniß seiner Sprache mehr, als der Beyfall, den diese Darstellung erhielt? Die deutsche Sprache ist vielleicht für die Geschichte mehr, als für Alles andere geeignet, und einige Schriftsteller haben es bewiesen. Ich will nur die Geschichte Kaiser Friedrichs II* anführen, die gedrängt und kurz, und doch blühend und deutlich die Begebenheiten, wie Hume und Robertson schildert. Haben wir diese großen Muster vergessen, nach welchen alle neueren Völker ihre Geschichtsschreiber beurtheilen sollten? — Was deutlicher als Alles beweist, wie fremd unserm Tacitus die deutsche Sprache war, ist sein Nachlaß, der zum Theil aus den Vorlesungen besteht, die er in Genf hielt, und die auch in französischer Sprache gedruckt sind. Das Französische ist klar, deutlich und doch fliessend und gedrängt, kurz es ist die Sprache, die Rousseau und d'Alembert schrieben und sprachen; aber welcher unserer großen Schriftsteller, auf die sich die Regeln der deutschen Sprache gründen, hat je die Sprache Müllers geschrieben? Ich führe keine Beyspiele an, denn ich verweise jeden Leser auf die Werke dieses Schriftstellers, und auf jeder Seite wird sich dem Deutschen, der seine Sprache kennt und liebt, die Bemerkung aufdringen, wie tief der Geschmack sinken mußte, um diese Darstellung zu bewundern. Treten wir vor die Schaubühne der Deutschen. Welche Fortschritte machte die Sprache auf ihr, so lang Lessing ihre Reinheit bewahrte! Die Bühne eines Volks * Dieß Werk ist schon im Jahre 1798 erschienen, ohne den allgemeinen Beyfall zu erhalten, den es verdient. Erst in den neuesten Zeiten hat man wieder seinen Nahmen genannt. Zwölf Jahre lang war es vergessen. Aber es hat auch nur einen mäßigen Band, das war sein Unglück. Der Deutsche schätzt wie der Krämer, die Waare der Wissenschaft nur nach dem Gewichte.

72

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826)

ist gewöhnlich der Maßstab seiner Bildung und seines Geschmacks. Sie ist der geistige Berührungspunkt der verschiedenen Völker, die am ersten diese Schöpfungen ihres Geistes und ihres Witzes gegen einander vertauschen. Wir entlehnen alles ohne Wahl von den Fremden. Auch das ist ein Beleg für unsern Geschmack. Was entlehnt der Ausländer von uns? Wir dürfen nur einen flüchtigen Blick auf unsere Bühne und die unserer Nachbarn werfen, um zu sehen, ob das Urtheil des Ausländers, das sich hauptsächlich auf diese bezieht, gegründet ist. Wir wollen Shakespeare nicht nennen. Sein Genius; der keine Fesseln kennt, dieses große Leben, das seine Riesenbilder begeistert, muß der Gegenstand unserer Bewunderung seyn, aber es kann und darf nie als Beyspiel dienen. Die Bühne m u ß bestimmte Regeln haben. Der Genius, der uns fortreißt, wird seine Größe weniger dadurch beweisen, wenn er diese Fesseln bricht, als wenn er sich frey und ungehindert in ihnen bewegt. So haben Racine, Corneille und Voltaire gedacht und geschrieben, und ich kenne die Urtheile, die den Schwung ihrer Verse tadeln, ich stimme diesen Urtheilen zuweilen bey, sobald sie die Kühnheit des Gedankens, den Aufflug des Dichters und das zu ängstliche Kleben an herkömmlichen Formen betreffen; aber wer ist vor einer französischen Bühne gestanden, und hat die Würde des Cid und Phädra und Zaire nicht gefühlt und beweint? Wer hat nicht bemerkt, daß die Furcht, die uns ergreift, und das Mitleid, das unsere Thränen weckt, nur erscheinen, um, sobald ihr Zweck erreicht ist, wieder zu verschwinden. Das ist es, was der Deutsche nicht begreift. Alles Schreckliche, alles Erschütternde erscheint vor unsern Augen auf der Bühne, und der deutsche Schriftsteller hat das Gefühl zu wenig berechnet, das den Schmerz nie so lang erträgt, als es ihm gefällt uns mit Leiden und Thränen zu foltern, selbst wenn die Spannung der Erwartung und der Ungewißheit verschwunden ist. Es giebt sehr wenige Ausnahmen auf unserer Bühne, die den Fehler zu großer Ausdehnung vermieden haben, und der Deutsche, der sein Urtheil gewöhnlich aus öffentlichen Blättern oder von der öffentlichen Meinung entlehnt, wagt es nicht zu gestehen, daß er Langeweile hat, so bald ein berühmter Nähme auf dem Anschlagzettel steht. Das eigentliche Lustspiel, die Schöpfung Moliere's, ist noch seltner auf unserer Bühne erschienen, und in der letzten Zeit beynahe ganz von ihr verschwunden. Der leichte und gefallige Witz, und der gebildete Ton der Gesellschaft, dem Anstand und Schicklichkeit bestimmte Gränzen setzen, müssen, wie ich oben zeigte, größten Theils unseren Schriftstellern unbekannt bleiben, die nicht mit dem Leben vertraut sind, und man darf nur die Charakterzeichnung der höheren Stände in unsern ersten Schriftstellern aufsuchen, um sich von dieser Wahrheit zu überzeugen. Selbst die wenigen Lustspiele, die wir besitzen, werden von dem Schauspieler und dem Zuschauer selten gefühlt und verstanden. Dafür ist unsere Bühne mit Geburten bevölkert, die lärmend oder klagend, oder weinend über sie hinschleichen. Ich kenne beynahe dreyßig Stücke, worin immer ein Mensch vorkommt, den hungert, und die große Auflösung besteht darin, daß man ihm endlich zu essen giebt,

6.3. Text

73

worüber sich natürlich der gutmüthige Zuschauer freut*. Gewöhnlich kömmt dann noch eine unglückliche Familie vor, die aus dem ersten Stock in eine Dachstube gezogen ist, ein junger Mann, der sehr dreist spricht oder vielmehr brüllt, viel Moral, lange Sentenzen, ein paar Gebethe, sechs bis acht verweinte Augen, einige Schnupftücher zum trocknen, ein grausamer Minister, ein Präsident, der an den Pranger gehört, und ein paar untergeordnete Schurken; das ist der Inhalt und das Verzeichniß der Personen, aus denen das deutsche L u s t s p i e l gewöhnlich erschaffen wird. Mich wundert, daß die Theater=Direktionen noch nicht auf den Einfall gekommen sind, den Hungerthurm in Pisa aus Ugolino als stehende Dekoration für die meisten dieser Lustspiele zu verwenden. Zuschauer, denen diese Stücke gefallen, und die vollends außer sich sind, wenn einige Thiere über die Bühne getrieben werden, würden auch den Hungerthurm mit Vergnügen sehen. Ich übergehe die Stücke mit verlornen Prinzessinnen, die wieder gefunden werden, und solchen Abentheuern, die unsern Ammenmärchen gleichen. Sie beweisen nur durch den Beyfall, den sie erhalten, die Kindheit in der sich unser Geschmack befindet. So weit ist dieser Geschmack wieder gesunken, der sich vor fünfzig Jahren so schnell zu einer bedeutenden Höhe erhob! Soll ich noch über die Sprache dieser Stücke etwas sagen? Wer diesen schwerfalligen, weitläufigen, durch Gedankenstriche zerrissenen Unsinn einmal gehört hat, der wird mit mir die deutsche Sprache bedauern, die so hart von dem Ausländer getadelt wird, der die Sprache nicht von dem Sprecher und nicht von dem Schriftsteller unterscheidet. Was soll der Ausländer überhaupt von einer Sprache denken, die den Schätzen die sie enthält, zum Theil ein dunkles räthselhaftes Gewand umwirft? Haben Descartes und Locke nicht in einer Sprache geschrieben, die man leicht verstand, und noch versteht, und sind die Worte unserer neueren Weltweisen faßlich? Sind ihre Lehren dadurch gemeinnützig geworden? Lehren der Weisheit müssen nicht allein Schaumünzen seyn, es muß auch Scheidemünze unter ihnen geben, die man im gewöhnlichen Leben umtauschen kann, wenn sie dem Menschen nützen sollen; Schaumünzen kann nur der Kenner beurtheilen; ihr innerer Gehalt, und die Kunst des Gepräges sind nur für wenige Augen bemerkbar, und die Lehre der Weisheit wird bey uns, wie bey den Aegyptiern in Hieroglyphen eingehüllt, die in einigen Jahren niemand mehr enträthseln kann. Die Kunst, durch unsere Kenntnisse in das Leben einzugreifen, sie ihm anzupassen, und Alles nur auf den Punkt zu stellen, wohin es gehört, hat der Deutsche nie verstanden. D'Alembert, der Mathematiker, umfaßt in seiner Einleitung der Encyklopädie das ganze Reich der Wissenschaften, kein Punkt scheint ihm fremd, und wer hat nicht die Würde der Sprache, die immer dem Gegenstande * Hier wäre wohl die Frage aufzuwerfen, ob das höhere Lustspiel nicht ausschließend aus den höheren Ständen genommen werden sollte? Mangel, Nahrungssorgen, Elend, Hunger, müssen aus einem Gemälde verbannt werden, in welchem jeder Pinselstrich erheitern soll.

74

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826)

angemessen ist, und die Bestimmtheit, Kürze und Deutlichkeit seines Ausdruckes in dieser Einleitung bewundert? Wir haben ihm nichts in dieser Art entgegen zu setzen, aber ich finde unter andern Merkwürdigkeiten, die nicht dorthin gehören, in der ökonomisch=technologischen Encyklopädie von Krünitz, 11 unter dem Buchstaben L die ziemlich lange Geschichte von Leander und Hero, die außer der Schwimmkunst, mit keiner Kunst etwas gemein haben kann*. Indessen, der Deutsche würde glauben eine Sünde wider das Herkommen zu begehen, wenn er eine Gelegenheit vorbeygehen ließe, seine Gelehrsamkeit einzuschieben, sie mag an diese Stelle passen oder nicht, und wir haben eine Abhandlung über die Blattläuse, worin sehr gelehrte Anmerkungen über die Kirchenzucht vorkommen. 12 Wir wollen nicht auf die neueste Zeit blicken, die unserer Sprache und Litteratur den Untergang droht. Was soll der Ausländer von unserer Bildung und unserem Geschmack denken, wenn er sieht, daß ein unbärtiges Knabenheer den Sitz der Aristarchen einnimmt, und uns altdeutschen Klingklang, und die Lieder der Ammen und der Fuhrleute als Muster der deutschen Dichtkunst aufstellt? Diese Knaben haben Leser und Zuhörer, sie werden gehört und gelobt, und bald wird kein ehrwürdiger Nähme in unserer Litteratur mehr sicher seyn, geneckt und mißhandelt zu werden. Was soll der Ausländer von einem Volke denken, das allen mittelmäßigen Köpfen eine Zuflucht in dem Dunkel des Geheimnißvollen (Mystizismus) öffnet, das die Unsinnigen, die sich dorthin verirren und Geheimnisse aussprechen, selbst nicht verstehen, und die in einer harten und finstern, oder tändelnden und unverständigen Sprache, die hellen Begriffe des Menschenverstandes zu schwankenden Bildern führen, die wie Schatten an der Wand hinschweben, und selbst dem geistigen Auge körper* und gestaltlos bleiben. Ich will das Verzeichniß unserer Anklagen nicht fortsetzen. Es wäre leicht es im Gebiethe unserer Roman u. s. w. zu vergrößern. Möge das was ich hier sage, und ungern sage, uns auf den Zustand unserer Sprache und unserer Litteratur aufmerksam machen, jetzt, da es vielleicht noch Zeit ist ihn zu verbessern. Die Sprache ist das einzige Eigenthum, das dem Deutschen noch blieb. Sein Gefühl hat das Unglück geläutert, ausgedehntere Gränzen größerer Reiche haben den Gemeinsinn geweckt, die Aufmerksamkeit einiger Regierungen** auf die vaterländische Sprache ist erregt, ein Verein der besten Köpfe, durch eine aufgeklärte Regierung unterstützt, kann und muß, wenn er richtig geleitet wird, und seinen Zweck verfolgt, auf den Geschmack des Volkes wirken, und ihn veredlen.

* Wer die Geschmacklosigkeit der Darstellung studieren will, muß diesen Aufsatz lesen. Gleich darauf kömmt in der Beschreibung einer blühenden Landschaft, wo sich der Weg durch einen Wald zieht, dieß mit folgenden Worten vor: „Nachdem der S p a z i e r g a n g durch den Wald g e g a n g e n ist. lt." Das ist die Sprache u n s e r e r Encyklopädisten! ** Z. B. der bayrischen. Es ist ihre Schuld nicht, wenn das, was für die Wissenschaften in München geschieht, nicht immer ihrer und der Erwartung Deutschlands überhaupt entspricht.14

6.4. Anmerkungen des Herausgebers

75

Wenn die Gesetze der Sprache einmahl bestimmt sind; wenn die Orakelsprüche unserer Weisen keine Dunkelheit mehr verhüllt; wenn die Geschichte, erhaben wie ihr Gegenstand, in einer edlen, reinen Sprache zu uns spricht; wenn die tragische Muse die Folterbank zerbricht, die ihre Bühne entweiht, und den Vorhang über erschütternde Handlungen früher fallen läßt; wenn der heitere Witz wieder unsere Bühne belebt, und dem Frohsinn ruft, die wie muthwillige Knaben die Thorheit necken und verfolgen; wenn sich das Elend, der Hunger und die Wehmuth aus unsern Lustspielen entfernen; dann wird auch der Geschmack des Deutschen sich wieder erheben, und dann wird der Ausländer, der den stolzen Aufflug des deutschen Genius in unsern Dichtern nicht begreift, ihn zu verstehen suchen. Er wird unsere Schöpfungen auf den Boden seiner Heimath verpflanzen, und seinen Landsleuten sagen: der gelehrte, fleissige, verständige Deutsche ist auch verständlich geworden, er ist munter und witzig, und er weiß sogar aufzuhören, wenn man anfängt zu ermüden. Ich wünsche und hoffe, daß der Ausländer bald dieß Urtheil über uns fallt. Dann ist unser Eigenthum, die Sprache, und der Ruhm unseres Volkes auf immer gerettet.

6.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

3

4

5

6

Zur Begründung siehe Adelungs Ausführungen zum „e euphonicum" im Artikel Ε des „Versuchs eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart [...] 1. Theil, Leipzig: Breitkopf u. Sohn 1774. v. Steigentesch begrenzt „das große Werk ihrer Entwickelung" (gemeint: der deutschen Sprache) wie Adelung auf die Zeit zwischen 1740 und 1760, die für die meisten Interpreten seiner und der folgenden Zeit nur Vorstufe für den eigentlichen Höhepunkt in den anschließenden Jahrzehnten war. Literatur und Sprache zwischen 1740 und 1760 liefern ihm den Maßstab, an dem er seine eigene Zeit mißt, und machen verständlich, daß das Urteil negativ ausfallen mußte. v. Steigentesch übersieht wohlwollend, daß Friedrich II. seiner Mißachtung der deutschen Sprache und Literatur auch noch 1780 Ausdruck gab (vgl. Bibl. A 2), als nach Steigentesch das große Werk ihrer Entwicklung schon 20 Jahre vollendet war. Georg Heinrich Bärenhorst, auch Berenhorst (1733 — 1814): Betrachtungen über die Kriegskunst, über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverlässigkeit. 3 Theile, Leipzig 1797-1799, 2 1798-1799, 31827. Die Sprache Kants war in der Tat schon den Zeitgenossen ein Problem und motivierte mehrere Autoren zu Kant-Wörterbüchern, deren begriffliche Festlegungen selbst wiederum zum Gegenstand der philosophischen Diskussion wurden. Es seien wenigstens die Namen und die Erscheinungsjahre genannt: C. Ch. E. Schmid 1786, S. Heinicke 1788, C. Ch. E. Schmid 1788, Κ. H. Heydenreich 1794, G. S. A. Meilin 1797-1804, 1798, 1800. Freiherr Alexander v. Imhof-Spielberg: Vorläufige Darstellung der Begründung einer allgemeinen Teutschen Postanstalt. Göttingen: Dieterich 1801.

76 7

8

9 10

11

12 13

14

6. August Ernst Freiherr von Steigentesch (1774—1826) Julien-Louis Geoffroy (1743 — 1814), ein französischer Schriftsteller und Literaturkritiker, der nach 1789 unter dem Namen „Abbe Geoffroy" bekannt wurde. Wo er die deutsche Sprache beurteilt hat, habe ich leider nicht feststellen können. Die „Geschichte des Philosophen Danischmende" erschien erstmals in Fortsetzungen im „Teutschen Merkur" (1775, 1.—4. Vierteljahr). Die im Text erwähnte „neuere Schule", die den großen Dichter zu verkleinern suchte, kann der Göttinger Hainbund sein; es können aber auch die Romantiker gemeint sein. Ein mögliches Ziel dieser Beschreibung ist sicherlich Jean Paul. Die entschieden negative Beurteilung von Johannes von Müller (1752 — 1809) durch v. Steigentesch und Friedrich Schlegel (vgl. den folgenden Text in diesem Band) ist Ausnahme. Der Schweizer Historiker gilt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sonst meist als — auch sprachliches — Vorbild. Der erste Band der „Oeconomischen Encyclopädie" des Johann Georg Krünitz (1728 — 1796) erschien 1773. Ab Band 33 trug sie den von Steigentesch zitierten Titel „Oekonomisch-technologische Encyclopädie". Das gelobte französische Pendant ist natürlich die „Encyclopedic ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers". Paris 1751-1780. Das klingt wie eine satirische Fiktion, ist jedoch nicht unwahrscheinlicher als die wirkliche kantische Postlehre. Die Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn" von Clemens Brentano und Achim von Arnim war 1806 und 1808 erschienen. — Daß die Mißachtung gegenseitig war, zeigt das Urteil Varnhagens, der sich 1809 als französischer „Kriegsgefangener" in Wien aufhielt. Er war zwar kein Romantiker, aber doch ein Angehöriger der gescholtenen jüngeren Generation. Er berichtet: „Ein Lustspiel von Steigentesch versetzte uns durch die Gemeinheit und Nichtswürdigkeit, aus der das Ganze mit frechem Anspruch auf Bildung und Zierlichkeit liederlich zusammengeknetet war, in solche Empörung, daß wir daran dachten, dem Verfasser unsre Verachtung schriftlich kund zu geben". Steigentesch, „in der Gesellschaft von Wien ein vielgeltender Mann, bei dem vortrefflich gegessen und hoch gespielt wurde, und der auch später in der Diplomatik noch von sich reden machte," stand mit seinen Schriften, so befindet Varnhagen zusammenfassend, „in der Tat noch tief unter Kotzebue" (Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Hrsg. von K. Feilchenfeldt. Frankfurt 1987, Bd. 1, 695 f). v. Steigentesch spielt wohl auf die, vor allem von Johann Gottlieb Radlof angeregten und mitgetragenen Bemühungen der Münchner Akademie der Wissenschaften um die Pflege der deutschen Sprache und die Verbesserung des Sprachunterrichts kurz vor 1810 an. In diesem Zusammenhang stiftete der bayerische König einen von der Akademie zu vergebenden Preis für die „beste Teutschgrammatik". Zu Radlof und den Bemühungen der Akademie siehe Bahner/Neumann: [Bibl. C 2 ] , 171 — 174.

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831) Friedrich Schlegel (1772-1829) 7.1. Einführende Bemerkungen Christian Gottfried Körner, geboren 1756 in Leipzig, gestorben 1831 in Berlin, ein erfolgreicher Jurist in sächsischen und — ab 1815 — in preußischen Diensten, war zum Zeitpunkt, als er seine Entgegnung auf den Aufsatz von Steigenteschs schrieb (s. Kap. 6), Appellationsgerichtsrat in Dresden. In der Literaturgeschichte ist er bekannt als Vater Theodor Körners (1791 — 1813), dessen Werke er nach dem frühen Tod in den Befreiungskriegen herausgab, vor allem aber als Freund, Briefpartner und tatkräftiger Förderer Schillers. Er war es auch, der zwischen 1812 und 1815 die erste Gesamtausgabe der Schillerschen Schriften veranstaltete. Vor dem Hintergrund seiner Vertrautheit mit der klassischen deutschen Literatur Schillers und Goethes und seiner Anteilnahme an den unmittelbar gegenwärtigen literarischen Bewegungen überrascht es nicht, daß Körner das Bild, das v. Steigentesch vom Zustand der deutschen Literatur und Sprache entworfen hatte, nicht behagte und daß er sich zur Verteidigung aufgerufen fühlte. Dies besonders deshalb, weil der Herausgeber Friedrich Schlegel den „ A n g r i f f v. Steigenteschs kommentarlos abgedruckt hatte, obwohl er doch — das setzt Körner voraus — den Wert deutscher Geistesprodukte fraglos anders beurteilte. Im Falle der Wissenschaft, die in Körners Beitrag den größten Raum einnimmt, kritisiert er weniger die phänomenologische Beschreibung v. Steigenteschs als die Bewertung, die der fern von der Gesellschaft einsam in seiner Klause denkende und schreibende Gelehrte erfahrt. Ihm scheint gerade positiv, was v. Steigentesch als Mangel ansieht. — Im Blick auf den „deutschen Parnaß" erklärt er sich die Einstellung v. Steigenteschs als Ergebnis einer verständlichen „Vorliebe für die ersten Eindrücke einer schönen Jugendzeit", die allerdings dann problematisch wird, wenn sie, in die Form einer poetischen Theorie gekleidet, „das unermeßliche Reich der Kunst" beschränkt und normativ eine bestimmte historische Ausprägung künstlerischen Ausdrucks festsetzen will. Der Dialog zwischen v. Steigentesch und Körner wiederholte also noch einmal eine Auseinandersetzung, die in vielfältigen Formen die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmt hatte und sich, übertragen auf das sprachliche Feld, an Adelungs Auffassungen über die Frage „Was ist Hochdeutsch?" entzündet hatte. Überraschend ist nun, daß Körner wider Erwarten bei Friedrich Schlegel keine Unterstützung fand, obwohl dessen schriftstellerische Existenz wie überhaupt alles,

78

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel (1772-1829)

was sich in Dichtung, Philosophie und Wissenschaft in Deutschland seit 1760/70 entwickelt hatte, von v. Steigentesch kaum gewürdigt worden war. In der „Antwort des Herausgebers" schlägt sich Friedrich Schlegel eher auf die Seite v. Steigenteschs. Zwar beschränkt er, „so abweichend aber auch im Ganzen meine Ansicht seyn mag", seine Zustimmung auf „viele einzelne Punkte", aber wo die Abweichung im Ganzen liegen könnte, bleibt ungesagt. Es bleibt auch nicht viel Raum dafür, wenn er befindet, „daß die gränzenloseste Vernachlässigung der Sprache bey uns fast allgemein herrschend ist", und wenn er eine „furchtbare Sprachverwilderung" beklagt. Etwas milder geht er nur mit der schönen Literatur um, die im Gegensatz zur französischen wenigstens noch lebe.

7.2. Literaturhinweise Textvorlage Christian Gottfried Körner: Ueber die deutsche Litteratur. Aus einem Briefe an den Herausgeber des Deutschen Museums. In: Deutsches Museum 1 (1812), Bd. 2, 2 5 2 - 2 6 0 . Friedrich Schlegel: Antwort des Herausgebers. In: Deutsches Museum 1 (1812), Bd. 2, 2 6 0 - 2 8 3 .

Weitere Literatur (Friedrich Schlegel) A: Ueber die Unverständlichkeit. In: Athenäum 3 (1800), 2. Stück, 335 — 352. Gespräch über die Poesie. In: Athenäum 3 (1800), 1. Stück, 58—128; 2. Stück, 169 — 187 [darin: Versuch über den Styl in Goethes früheren und späteren Werken], Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Heidelberg: Mohr u. Zimmer 1808. Anmerkung des Herausgebers. In: Deutsches Museum 1 (1812), 2. Bd., 10. Heft, 343—347. [Zu: Κ (=Kopitar): Ueber ein österreichisches Idiotikon, ebda., 342-343] Antwort des Herausgebers. In: Deutsches Museum 1 (1812), 2. Bd., 12. Heft, 536—545. [Zu J (=Kopitar): Ueber die unmusikalische Beschaffenheit der deutschen Sprache, ebda., 533 — 535] Zusätze des Herausgebers. In: Deutsches Museum 2 (1813), 1. Bd., 2. Heft, 128—139. [Zu: Georg Schwarzott: Ein teutsches Wort gegen die unteutschen, widersinnigen, oder willkürlich geschaffenen sinn- und gehaltlosen Kunstausdrücke in heuttagigen Schriftverhandlungen; besonders nach philosophischer und heilkundiger Beziehung, ebda., 109 — 128]

7.3. Text

79

Philosophische Vorlesungen, insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes. Geschrieben und vorgetragen zu Dresden im Dezember 1828 und in den ersten Tagen des Januars 1829. Hrsg. v. Franz v. Bucholtz. Wien: C. Schaumburg u. Comp. 1830. B: Nüsse, Heinrich: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels. Heidelberg: Winter 1962.

7.3. Text U e b e r die d e u t s c h e L i t t e r a t u r A u s e i n e m B r i e f e an d e n H e r a u s g e b e r d e s d e u t s c h e n M u s e u m s (1812) Befremden mußte es allerdings, daß ein Mann, dem wir ein so treffliches Gedicht über d i e S p r a c h e verdanken, 1 die deutsche Litteratur so tief herabsetzen konnte, wie im dritten Stücke Ihrer Zeitschrift geschehen ist. Aber eben durch das Persönliche des Verfassers so wie ich mir ihn denke, wird ein solcher Aufsatz begreiflich und sein Eindruck gemildert. Nach geendigter Fehde ist der deutsche Ritter geneigt, den gewesenen Feind und alles was ihm angehört, selbst bis zur Uebertreibung zu ehren. Er will nur gerecht seyn, will nur sich durch Partheylichkeit nicht blenden lassen, und verfällt dabey leicht in das entgegengesetzte Extrem. Die Seinigen hören unfreundliche Worte von ihm, während er den Fremden herrlich bewirthet. Aber Sie möchte ich fragen, wie Sie bey einem solchen Angriff so ruhig bleiben konnten, und ob Sie denn gar keinen Drang fühlten, für den verkannten Werth deutscher Geistesprodukte Ihre Stimme zu erheben? Zur Strafe Ihrs Stillschweigens will ich Sie selbst für den Gegner ansehen, und Sie sollen von mir lesen müssen, was Sie selbst längst gedacht, aber bey dieser Gelegenheit auszusprechen versäumt haben. Sollte es Ihnen wohl jemals eingefallen seyn, über die Urtheile des Auslands von unserer Sprache und Litteratur zu klagen? Sollten Sie es nicht rathsamer finden, auf einen an sich schätzbaren Beyfall Verzicht zu leisten, als ihn durch zu große Aufopferungen zu erwerben? Und wären Ihnen die Opfer wohl unbekannt, die für den deutschen Schriftsteller unerläßlich seyn würden, um in der fremden Hauptstadt sich geltend zu machen? Der Gelehrte in Deutschland, wie Sie und ich ihn wünschen, schreibt aus reinem Eifer für den Fortschritt der Wissenschaft, nicht um irgend ein Publikum durch eine glänzende Außenseite zu gewinnen. Er tritt nicht mit der Anmaßung auf, durch ein v o l l e n d e t e s Buch den ganzen Reichthum seines Stoffs in gedrungenster Kürze erschöpft zu haben. Das Feld der Wissenschaft ist für ihn unendlich, und er hält es für verdienstlich genug, bloß Beyträge zu dem großen Werke zu liefern, das nur durch vereinte Bemühungen mehrerer Zeitalter und Nationen seiner

80

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel (1772-1829)

Vollendung sich nähern kann. Er schreibt für Leser von gleicher Denkart. Es kann ihm daher begegnen, daß er sich in der F o r m vernachläßigt, weil er bey denjenigen auf Nachsicht rechnet, die den Werth des Inhalts zu schätzen wissen. Der Gebrauch eines übelklingenden Worts ist für ihn oft Bedürfniß, weil ihm für den Begriff, den er fest zu halten hat, kein anderes bestimmtes Zeichen in der Sprache sich darbietet. Vielleicht hätte er eine bessere Wahl treffen können, aber sobald das wissenschaftliche Zeichen einmal erklärt ist, so gilt es für seine Leser im Fortgange der Untersuchung, und befördert die Kürze des Vortrags. Zu einer gewissen Weitschweifigkeit kann er leicht durch Liebe zu seinem Stoffe verleitet werden. Was ihm selbst höchst interessant war, will er dem Leser nicht vorenthalten. Manche Umstände scheinen der Genauigkeit wegen Erwähnung zu verdienen, manches ist bloß bestimmt, einen Mißverstand zu verhüten. Solche Dilettanten der Gelehrsamkeit, die über einen wissenschaftlichen Gegenstand nicht gern etwas mehr lesen wollen, als was in einer Gesellschaft von gutem Ton darüber sich sprechen läßt, sind freylich diejenigen nicht, auf deren Beyfall er Anspruch machen darf. Wer sich bewußt ist, nur durch Anstrengung aller Geisteskräfte und vieljähriges Studium in seinem Fache eine gewisse Meisterschaft errungen zu haben, kann sich für die bequemen Freunde der Gelehrsamkeit nicht interessiren, die von allem Wissenswürdigen gern die schönsten Blüthen und köstlichsten Früchte bloß im Spazierengehen einsammeln möchten. Er überläßt es andern für das Bedürfniß dieser Klasse zu sorgen. Ihm sind nur solche Leser willkommen, denen es ein Ernst ist, ins innere Heiligthum der Wissenschaft zu dringen, und die für diesen Zweck keine Schwierigkeit scheuen. Er darf ihnen gewisse Vorkenntnisse zutrauen, und hofft Dank von ihnen zu verdienen, wenn er auf dem kürzesten Wege sie weiter zu führen sich bemüht. Es entsteht daraus allerdings eine Dunkelheit für denjenigen, dem der Gegenstand der Untersuchung ganz fremd ist. Aber das edle Metall aus den Tiefen der Erde hervorzuarbeiten, und es zum allgemeinen Umlauf auszuprägen, sind zwey sehr verschiedene Geschäfte, die nicht füglich von Einer Person betrieben werden können Was die Wissenschaft für praktische Zwecke leistet, erhöht ihren relativen Werth, ist aber nicht der Grund ihres Werths überhaupt. Wohl uns, wenn wir nach der Erkenntniß nicht bloß wegen des Nutzens streben, den wir zu irgend einem politischen, militärischen, merkantilischen oder technischen Gebrauche von ihr erwarten! Wohl uns, wenn Philosophie und Theologie uns noch ehrwürdig bleiben, und unsere Aufmerksamkeit fesseln, ob sie uns gleich weder irdische Macht, noch irdische Schätze versprechen! Erkenntniß ist überhaupt Zweck an sich selbst, als Erweiterung der Schranken unseres innern geistigen Lebens. Und dieses geistige Leben hat eine höhere Bestimmung, als bloß den Bedürfnissen der Furcht, der Sinnlichkeit und der Eitelkeit zu dienen. Der Mensch soll aufrecht stehen in seiner Welt, und den Blick zu den Sternen erheben. Der Theorie soll er eine beruhigende und seelenerhebende Ansicht des Universums verdanken, und die praktische Weis-

7.3. Text

81

heit soll sein Leben zu einem schönen Ganzen veredlen. Ein Schriftsteller, der zu solchen Zwecken das Seinige beyträgt, darf glücklicher Weise unter uns noch ohne weitere Empfehlung auftreten. Daß das Feld der Geschichte in Deutschland „nur sparsam angebaut sey," ist wohl bloß von den G e s c h i c h t s c h r e i b e r n gemeint. Denn daß wir eine beträchtliche Anzahl verdienstvoller G e s c h i c h t f o r s c h e r aufweisen können, wird wohl Niemand im Ernste bezweifeln. Und eben so wenig wird man diesen Männern vorzuwerfen wagen, daß sie ihren eisernen Fleiß und ihre strenge Kritik bloß an kleinliche Nebenumstände verschwendet hätten. Haß und Verachtung gegen alles Seichte und Oberflächliche verleitet indessen den deutschen Gelehrten zu unbilligen Urtheilen in den Fällen, wo die Mühe der Vorarbeit unter einer schönen Form verschwunden ist. Das Verdienst, einen geschichtlichen Stoff durch Anordnung, Gruppirung, Beleuchtung, Haltung des Tons und würdige Sprache zu einem Werke der Kunst zu bilden, wird selten hinlänglich geschätzt, und erregt bey Vielen den Verdacht der Ungründlichkeit. Gleichwohl ist bey weniger äußern Aufmunterung von mehrern Historikern, die ich Ihnen nicht zu nennen brauche, auch in der Darstellung manches Vorzügliche geleistet worden. Der Styl des Verfassers der Schweizergeschichte2 war, ich gestehe es, auch für mich anfänglich abschreckend. Durch das Anziehende des Inhalts aber wurde ich nach und nach immer mehr mit dieser Eigenheit ausgesöhnt, und kaum war ich bis zum zweyten Bande, als mir ein solcher Stoff eine gewisse Alterthümlichkeit der Form sogar zu erfordern schien. Fand ich zuweilen einige Nahmen mehr, als ein Fremder in der Geschichte eines fremden Volks erwähnt haben würde, so durfte ich nicht vergessen, daß hier ein Schweizer zunächst für Schweizer geschrieben hatte, und daß es ihm schwer werden mußte, nicht bey jeder Gelegenheit die Altvordern seiner Freunde zu nennen, selbst wenn der Nähme mehr die Begebenheit schmückte, als durch das Ereigniß eine Wichtigkeit erhielt. Und wenn ich alsdann die hochherzigen Thaten der Vorzeit eben so tief aufgefaßt, als lebendig und mit einfacher Würde dargestellt fand, so überließ ich mich ganz dem Genuß, und an alles, was etwa eine strenge Kritik an der Manier des Verfassers aussetzen könnte, blieb kein Gedanke mehr übrig. Schriften, die zu einer witzigen und geistreichen Unterhaltung bestimmt sind, können ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn der Verfasser ein besonderes Publikum studiert hat, und nun alle Kunstgriffe aufbietet, dieß Publikum für sich zu gewinnen. In Deutschland aber haben solche Produkte gewöhnlicher Weise eine ganz andere Art von Entstehung. Ein vorzüglicher Kopf fühlt das Bedürfniß durch Spiele des Witzes und der Phantasie sich s e l b s t zu unterhalten. Oder er wird durch einen Umstand gereizt, wider einen Gegner die Waffen eines jovialen Muthwillens zu brauchen. Was auf diese Art entsteht, trägt ein eignes Gepräge von Individualität, die nicht Allen willkommen seyn kann, die aber bey den Wenigen, deren Sinn und Ansichten dem Verfasser näher verwandt sind, eine desto günstigere Aufnahme findet. Der gute Geschmack verbietet allerdings das Ueberwürzte eben so sehr, als

82

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831 )/Friedrich Schlegel (1772-1829)

das Fade und Leere. Aber ich möchte es der Nation nicht verargen, wenn sie gegen die Vergehungen der üppigen Kraft nachsichtiger ist, als gegen die mißlungenen Versuche des Unvermögens. Weitschweifigkeit ist übrigens keinesweges der allgemeine Fehler der witzigen deutschen Schriftsteller, wenn anders Lichtenberg, Hippel, Musäus und von Knigge auch in diese Klasse gehören. Es mag seyn, daß ein glänzender Witz sich mehr durch das gesellige Leben entwickelt, aber die Einsamkeit des deutschen Schriftstellers schützte und nährte dagegen seine Begeisterung. Daher überrascht er uns oft mitten unter seinen ernsten Arbeiten durch eine mächtig ergreifende Stimme, die wir aus einer höhern ätherischen Region zu vernehmen glauben. Es war ihm nicht eingefallen seinem Werke einen Schmuck geben zu wollen, aber er hatte auf seiner Bahn irgend einen Gipfel erstiegen, es öffnete sich ihm der Blick in eine Welt voll Pracht und Leben, und in der schönsten Beleuchtung, und er überließ sich bloß dem Eindruck eines solchen Schauspiels. Stellen dieser Art können Ihnen nicht fremd seyn, und ich darf mich auf Ihr Zeugniß berufen, ob Sie dergleichen nicht etwa bloß bey Winkelmann, Lessing und Herder, sondern auch selbst bey Kant gefunden haben, den doch sein abgesagtester Feind schwerlich der Koketterie beschuldigen wird. Lassen Sie uns nun endlich auch den deutschen Parnaß betreten. Wir finden hier allerdings ein buntes Gewühl, ein wildes Treiben, und einen gänzlichen Mangel einer Polizey, wie sie der Wohlstand zu erfodern scheint. Aber Kräfte sind doch vorhanden, mannichfaltige Talente werden entwickelt, es zeigt sich ein vielseitiges Streben, wenigstens hier und da nach einem würdigen Ziele, wenn auch nicht immer mit gleichem Erfolg. Aus einem solchen Zustande kann aber noch manches Treffliche hervorgehen, und die excentrischen Richtungen einiger genialen Köpfe dürfen uns nicht mißmuthig machen. Wer für Poesie überhaupt empfanglich ist, behält eine gewisse Vorliebe für die ersten Eindrücke einer schönern Jugendzeit. Seinen damaligen Lieblingen bleibt er in der Regel getreu durch das gan2e Leben. Er verlangt nach etwas Aehnlichem, und es giebt ihm ein unbehagliches Gefühl, wenn er unter den Werken seiner Zeitgenossen vergebens darnach sich umsieht. Ein Schritt weiter, und es entsteht Geringschätzung gegen alles, was mit der Theorie nicht übereinstimmt, die er nach seiner individuellen Neigung sich bildete. Aber das unermeßliche Reich der Kunst darf nicht durch einseitige Ansichten beschränkt werden. Nicht Autoritäten sind es, denen sich der freye Geist unterwerfen soll, sondern Gesetze, die die Bedingungen enthalten, unter denen allein seiner Aufgabe Genüge geschehen kann. Und diese Gesetze — sollen noch erst gefunden werden. Bis dahin wollen wir uns doch nicht über jedes Kunstwerk ereifern, das anders ausfallt, als wir es bestellt haben würden. Wir wollen jedes einzelne Kunstvermögen ehren, auch wenn es nicht mit allen übrigen denkbaren Vorzügen verbunden ist, und den Sinn für jede Art von Verdienst immer rege in uns zu erhalten suchen, damit keine von den freundlichen Gaben die der Dichter uns darbietet, für uns verloren sey.

7.3. Text

83

Zu einer schlaffen Toleranz kann dieß nicht führen, so lange wir streng darüber wachen, daß dem Unvermögen und der Trägheit, die sich als feinern Geschmack geltend zu machen suchen, die Larve abgerissen werde, und das auf der andern Seite die höchste Kraftfülle dem Gesetze des Ebenmaaßes sich nicht entziehe. Hätte der deutsche Schriftsteller auch bloß von seiner Nation die Anerkennung seines Werths zu erwarten, so darf man nicht fürchten, daß er dadurch zu einem Stillstand auf seiner Laufbahn verleitet werden würde. Der innere Trieb, der zeither so manches Treffliche hervorbrachte, ohne durch äußere Aufmunterungen begünstigt zu werden, wird auch ferner das Seinige leisten. Und an Vergleichungen mit den Verdiensten des Auslandes wird es auch nicht fehlen, da der Deutsche mehr, als jeder andere, von fremden Vorzügen unterrichtet ist, und ihnen gern Gerechtigkeit widerfahren läßt. — Dr. C. G. K ö r n e r A n t w o r t des H e r a u s g e b e r s Es ist mir sehr willkommen, daß Sie einen Gegenstand zwischen uns haben in Anregung bringen wollen, von dem ich schon lange gewünscht hätte, daß er zur Sprache kommen möchte. Das gegenseitige Verhältniß der französischen und der deutschen Litteratur, so viel auch darüber hin und her gestritten worden, ist keineswegs schon ganz klar bestimmt, und es herrschen darüber immer noch die verschiedensten Ansichten und Meinungen. Unter unseren höheren Ständen ist die Zahl derjenigen auch jetzt noch sehr groß, welche zunächst in der französischen Sprache und Litteratur aufgewachsen und erzogen, dieser vorzüglich ihre Geistesbildung verdanken. Es giebt unter dieser Classe gewiß nicht wenige, welche als vollkommne Kenner der französischen Litteratur gelten können. Doch geht diese Kenntniß und geübte Beurtheilung meistens nur auf die Sprache selbst, die Feinheiten des Ausdrucks, und den Werth der Dichter und Schriftsteller bloß als solcher. Seltner dürfte der Fall seyn, daß die französische Litteratur auch nach ihrem Ursprünge, in allen ihren politischen Verhältnissen und moralischen Folgen, mit einem Worte nach ihrem ganzen großen Einfluß auf den Geist der Zeit und das Schicksal der Menschheit, als eine der merkwürdigen Erscheinungen der neuern Weltgeschichte, von diesen ihren Freunden und Verehrern ganz verstanden und richtig beurtheilt wird. Die deutsche Litteratur, ja selbst die Sprache kennen sie meistens nur sehr unvollkommen, weshalb es ihnen denn auch nicht wohl gelingen kann, den Geist beyder Nationen treffend mit einander zu vergleichen, und das wechselseitige Verhältniß nach der Wahrheit zu bestimmen. Ich darf es wohl nicht erst erinnern, wie viele aus unsern höheren Ständen, ungeachtet dieser größtentheils französischen Geistesbildung, es durch die That bewährt haben, daß sie an Denkart und Gesinnung, wo es darauf ankommt, dennoch wahrhaft Deutsche sind. Um so weniger dürfen sie von der gemeinschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen bleiben.

84

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 )

Ganz anders ist die Ansicht von dem französischen Wesen bey den Wiederherstellern und Stiftern unsrer neuern deutschen Litteratur. Schon seit Klopstock haben sie über französische Sprache und Kunst überall wo es die Gelegenheit gab, Urtheile gefallt, die größtentheils feindselig und herabsetzend waren, und von denen man doch nicht durchaus behaupten kann, daß sie immer mit vollkommner Gerechtigkeit, oder auch nur mit zureichender Sachkenntniß verbunden gewesen wären. Eine gewisse Einseitigkeit fallt allerdings diesen Männern zur Last, denen Klopstock als der Erste unter ihnen voranging, 3 und die wir sonst als die Wiederhersteller der deutschen Sprache, Kunst und Denkart mit so großem Rechte verehren. Unsere neueste weltweise Jugend 4 aber, die alles in Allem seyn, umfassen und wissen möchte, und auch alles in Allem zu finden gewohnt ist, scheut gerade nichts so sehr als den Vorwurf einer solchen Einseitigkeit. Aus diesem Bestreben und in diesem Sinne, im Gegensatz gegen die Einseitigkeit der altern Schriftsteller, sind denn auch einige unter ihnen als Lobredner und Vertheidiger für die Verdienste der französischen Dicht* und Redekunst aufgetreten. Da es ihnen aber überall nur um sich selbst, und um den Schein zu thun ist, so kommt bey dieser angeblichen Vielseitigkeit meistens nichts heraus, als höchstens ein oberflächliches Gedankenspiel; es bleibt bey allgemeinen Redensarten, ohne tiefer in die Natur der Sache einzudringen. Dieß kann uns also eben so wenig zum Ziel und zur Wahrheit führen. Was jene ersten deutschen Männer bey dem Anblicke des französischen Wesens empfanden, und wie ihnen bey der damals allgemeinen Herabsetzung des deutschen Geistes zu Muthe war, das wird von dieser jetzigen Generation überhaupt selten noch mitempfunden; und es ist den meisten auch nicht so zu Muthe, aus dem einfachen Grunde, weil ihnen überhaupt gar nicht zu Muthe ist. Formen, Worte, ja sogar Gedanken haben sie im Ueberfluß, denn die kann man aufgreifen und sich zu eigen machen; nur an einer Gesinnung fehlt es, weil sich die nicht lernen läßt. Mit diesen Lobrednern der Franzosen hat der Verfasser des Aufsatzes im dritten Hefte des Museums nichts gemein. Vielmehr gehört er wohl, was seine frühere Bildung anbetrifft, zur erstem Classe; durch seine Liebe für die deutsche Sache und Sprache aber schließt er sich entschieden an die Denkart der zweyten an. Je seltner der Fall ist, daß die welche auf ähnliche Art urtheilen und denken, an der deutschen Sprache und Litteratur genug Antheil nehmen, um selbst dafür durch ein öffentliches Urtheil mitwirken zu wollen, je mehr schien mir die Stimme und Meinung des Verfassers, in dieser Kürze vorgetragen, ein aufmerksames Gehör zu verdienen. Es ist überhaupt nicht die Meinung gewesen, daß unser Museum wie eine enge Schulstube seyn sollte, wo Einer allein auf dem Thron sitzt und von oben herab docirt, ohne daß man ihm drein reden darf. Ich wünschte vielmehr es gliche einer freyen Gesellschaft und Versammlung von Männern, die wenn auch in einigen Hauptpunkten nicht unähnlich gesinnt, doch über vieles Aeußere sehr verschiedner Meinpng seyn könnten.

7.3. Text

85

Man redet oft von einer Gelehrten=Republik, ohne sich recht deutlich zu sagen, was in diesem Ausdrucke eigentlich liegt, und was man alles damit zugiebt und fodert. Es sey uns vergönnt, für diesen kleinen geistigen Staat, von dem großen bürgerlichen ein Bild zu entlehnen. — Müssen nicht auch in einem Parlamente Stimmen von ganz verschiedenem Sinn und Geist gehört werden, damit aus dem Streit eine gemeinsame und wahrhaft öffentliche Meinung hervorgehe, oder der bleibende Zwiespalt wenigstens klar ans Licht trete? — Sollte jemals auch für Litteratur und Kunst ein ähnlicher freyer Verein sich bilden können, so wäre eine Zeitschrift wie die unsrige vielleicht der schicklichste Ort dazu. Da müßten denn freylich verschiedene Stimmen und selbst Partheyen vernommen werden, und auch die Opposition dürfte nicht ausgeschlossen bleiben. Daß Sie nun gerade für jetzt diese Rolle übernehmen wollen, dafür weiß ich Ihnen den lebhaftesten Dank, und fahre also fort in der Beantwortung. Von allen denen, welche ungefähr eben so wie der Verfasser über Deutsche und Französische Litteratur denken und urtheilen, haben sich doch einige auch zu den Tadlern gesellt. Sey es nun, daß sie an ihrer Ueberzeugung, nachdem sie dieselbe gedruckt vor sich sahen, wieder irre wurden; oder weil überhaupt viele Menschen ihre eigne Meinung doch nicht mehr recht für die ihrige halten, sobald ein andrer sie vorträgt, wenigstens nicht mehr dasselbe vollkommne Wohlgefallen daran haben. Am allgemeinsten ist der Aufsatz getadelt worden als undeutsch und unpatriotisch, wegen der ungerechten Herabsetzung der vaterländischen Produkte. Urtheile dieser Art sind mir von mehrern Seiten und von vielen Orten her zugeschrieben worden. Was mich selbst betrifft, weil sie mich doch auch zum Mitreden auffordern, so sehe ich wohl ein, daß ich den Weg welcher mir vorgezeichnet ist, in der Erforschung und Mittheilung der Wahrheit, als Deutscher und als Schriftsteller größtentheils allein wandle, und ich fühle es, je mehr und mehr, daß diejenige Ueberzeugung welche die meinige ist, auch selbst in Sachen der Kunst und Sprache schwerlich die ganz allgemeine werden kann. So abweichend aber auch im Ganzen meine Ansicht seyn mag, so muß ich doch in vielen einzelnen Punkten dem Verfasser vollkommen beystimmen, auch in solchen wo ich ihm nur ungern und nothgedrungen Recht gebe. Ich will nur einiges anführen. Selten wiederfährt es mir, das deutsche Theater zu besuchen, ohne daß ich dabey an das französische zurückdenken muß, und zwar nicht durchaus zum Vortheil des unsrigen. Die innere Regel unsrer dramatischen Dichtkunst von den Franzosen entlehnen zu wollen, das wird jetzt wohl niemanden mehr einfallen. Wenn ich mich aber an die Anstrengung der talentvollsten Schauspieler erinnere, an diese fast ängstliche Sorgfalt verbunden mit einer durch viele Uebung bis zur größten Sicherheit und Meisterschaft ausgebildeten Kunstfertigkeit in ihrem Fache, ferner an die gespannte Aufmerksamkeit und lebendige Theilnahme des Publikums, besonders bey den großen Nationalwerken ihrer tragischen Dichtkunst, an die schickliche Zusammenwirkung und strenge Disciplin in allem, so kann ich nicht umhin, eine so ungleich vollkommnere, äußere

86

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel (1772-1829)

und mechanische Einrichtung des Ganzen auch für unsere Bühne sehr wünschenswerth zu finden. Ja für unentbehrlich, wenn anders unsre Bühne nicht ewig in dem Zustande von Kindheit und Verworrenheit stehen bleiben soll, worin sie sich gegenwärtig noch befindet. Eben so finde ich die Sorgfalt, welche in Frankreich bey der Erziehung und zum Theil selbst in öffentlichen Geschäften auf die Sprache und die Richtigkeit und Klarheit des Ausdrucks gewandt wird, die allgemeine Strenge des Urtheils die darinnen obwaltet, sehr lobenswerth. Es mag seyn, daß gerade der Reichthum unserer Sprache Ursache ist, daß die eigenthümliche Regel des Schicklichen, ja selbst des Richtigen, in ihr ungleich schwerer fest zu stellen und allgemein herrschend zu machen ist. Um so mehr sollten wir es aber anerkennen, wie nothwendig es ist, mit verdoppelter und gemeinschaftlicher Anstrengung auf dieses Ziel hinzuwirken. Kann man aber wohl läugnen, daß die gränzenloseste Vernachlässigung der Sprache bey uns fast allgemein herrschend ist? — Welche Stelle nimmt bey uns der Unterricht in der eignen Sprache ein, der bey den Griechen die Grundlage und fast auch der letzte Endzweck der ganzen Erziehung war? — Die Antwort darf ich mir leider ersparen. — Es ist leicht möglich, daß unsre deutsche Sprache, ehe noch ein halbes Jahrhundert vergeht, die allgemeine wissenschaftliche Sprache für ganz Europa seyn wird, so wie die französische es für die Gesellschaft und Staatsgeschäfte, die italiänische für den Gesang geworden sind. Ich halte dieß sogar für sehr wahrscheinlich. Wenn es aber geschieht, so wird es bloß durch die Gewalt des Geistes bewirkt seyn. Wenigstens thun wir von Seiten der Sprache alles nur Ersinnliche, um es zu verhindern oder gar unmöglich zu machen. Ich würde über diesen Punkt noch ganz anders reden wie der Verfasser, wenn ich einmal sprechen sollte, wie mirs ums Herz ist. Auch die Schriftsteller haben ihren guten und vollen Antheil an dieser furchtbaren Sprachverwilderung. Wenn ich die Dichter ausnehme, was ist jetzt überhaupt seltner als eine deutsche Rede, die wirklich Deutsch wäre, wie es doch seyn sollte, nach alter Art, so wie es ehedem war und wie es auch jetzt noch jederzeit seyn könnte? Das Ding oder Wesen, wie man es sonst nennen will, was viele unserer Schriftsteller schreiben, ich meyne auch solche die ich selbst an Geist und Gehalt zu den Bessern und Besten zähle; das kann ich wenigstens für Deutsch gar nicht anerkennen. Ein unnatürliches Zwitterwesen ist es, ein widerartiger Mischling, aus dem Abfall aller andern Sprachen, besonders der französischen, durch einander gerührt. Andere haben wohl den guten Willen, rein Deutsch zu reden und zu schreiben. Aber jene schon in der Geburt verunglückten Wortungeheuer, welche sie uns zu Tage fördern, will ich auch nicht in Schutz nehmen. So fällt man, indem man einen Fehler vermeiden will, oft nur in den entgegengesetzten. Auf den Periodenbau und die Anordnung der Worte und selbst der Gedanken wendet fast niemand einige Sorgfalt. Oder man stolpert in ellenlangen unermeßlich verwickelten Wortverflechtungen den Griechischen Rednerkünsten und Künsteleyen nach, halb unverständlich und doch vergeblich.

7.3. Text

87

Die Philosophen glaubten noch vor kurzem gar nicht anders reden und ihre Weisheit von sich geben zu können, als in einer eigenthümlichen Art von Roth» und Kauderwelsch, welches man in tiefster Ehrfurcht Terminologie nannte. Einige der Bessern und Ersten haben diesen buntscheckichten, aus den Lappen aller andern Wissenschaften zusammengeflickten Philosophen=Mantel nun endlich bey Seite gelegt. Sie haben ein ruhmvolles und nachahmungswürdiges Beyspiel gegeben, wie man klar und kraftvoll in deutscher Sprache von den Gegenständen der innern Welt und von der Natur, von Gott und vom Menschen schreiben kann. Im Ganzen aber fruchtet das wenig oder nichts; unzählige andere fallen immer wieder in die alte Gewohnheit zurück und wollen sich dieses ihnen einmal beliebte philosophische Zigeunerdeutsch durchaus nicht nehmen zu lassen, welches sie als den wahren Stempel ächter Wissenschaft und Weisheit betrachten. Von allen denen welche das Büchermachen als ein ehrsames und redliches Handwerk betreiben, will ich gar nicht einmal reden. Was aus der edlen Gottesgabe der Sprache unter solchen Händen werden muß, bedarf keiner Erinnerung. Die Zahl solcher Werke ist verhältnißmäßig groß in Deutschland, und kann nicht ohne die nachtheiligsten Folgen auf das Ganze bleiben. Selbst die Dichter sind nicht frey von Tadel. Oder soll ich Sie erst erinnern an die starrsinnigen Vorurtheile, an die gewaltsamen Sprachverrenkungen einiger alten Meister, an die schnöden Spielereyen unsrer dichtenden Jugend? An die mit und ohne Absicht gehäuften Nachlässigkeiten, denen sich andre im wohlbestätigten Gefühl ihrer hohen altgewohnten Vortrefflichkeit allzu liebenswürdig überlassen? An so viele Irrungen und Verwirrungen auch in der Sprache und Sprachform, in Grundsätzen wie in der Ausführung? — Nachdem ich mich etwas hierüber erleichtert habe, kehre ich zu unserm Gegenstande zurück. Der Vorwurf, daß eine tadelnde Würdigung der deutschen Litteratur bloß darum und schon an und für sich unpatriotisch sey, scheint mir sonderbar. Wie, wenn nun ein Volksredner in einem freyen Staate seinen Mitbürgern die überlegene Anzahl, die vortreffliche Kriegszucht, die zweckmäßige Führung des feindlichen Heeres mit den lebhaftesten Farben vor Augen stellte, so wie den Reichthum des Feindes an Waffen, an Geld, an äußern Hülfsmitteln aller Art, wäre er darum schon ein schlechter Patriot, oder könnte er nicht die Macht des Feindes so groß, vielleicht im Eifer der Rede auch allzu groß schildern, eben darum weil er sein Vaterland liebte? — Doch von dieser Seite lassen Sie wenigstens dem Verfasser vollkommne Gerechtigkeit wiederfahren. Nur in einem Punkte scheint es mir, Sie thäten uns zu nahe. Sie fragen insonderheit mich, wie ich dazu komme, so ängstlich auf das Urtheil der Ausländer und den Beyfall der fremden Hauptstadt Rücksicht nehmen zu wollen. Freylich, wenn bloß die Rede davon wäre, was dieser oder jener Einzelne von uns urtheilte; was dort gefiele oder mißfiele! Findet sich irgend ein Ausdruck, welcher scheinen könnte, diesen Sinn zu haben, so sollte dieß wohl billig auf die Lebhaftigkeit des Vortrags gerechnet, und nicht so buchstäblich genau genommen

88

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 )

werden. Bey einer Sache von so unbestimmter Gränze und Natur, wie die Vergleichung zweyer Litteraturen und Nationen ist, wird überhaupt kaum möglich seyn, jedes Wort so genau auf die Wagschale zu legen, daß nicht irgendwo eine falsche Folgerung daraus gezogen werden könnte. Es kömmt allerdings wohl gar nichts darauf an, was dieser oder jener Franzose über uns zu urtheilen beliebt; aber das ist die Frage, ob wir durch Vergleichung mit einer ausländischen Litteratur uns das Urtheil über die unsrige und über die Stufe auf der sie steht, näher bestimmen sollen, und uns dadurch die Mängel, an denen sie noch leidet, so wie die Mittel, diesen Mängeln abzuhelfen, deutlicher machen; oder ob solche Vergleichungen in jedem Falle für fruchtlos zu halten sind. Hier bin ich nun ganz entschieden für die Vergleichungen; schon aus dem Grunde, weil sie bey dem vielfachen bürgerlichen und gesellschaftlichen Verkehr mit dem Auslande doch nicht unterbleiben können. Geschieht es nun doch, wird verglichen, wir mögen es gut heißen oder nicht, so muß uns daran liegen, daß es wenigstens auf die rechte Art geschehe. Es giebt allerdings auch noch einen ganz andern Weg, auf welchem man es versuchen könnte, den Mängeln der deutschen Litteratur abzuhelfen, und Ordnung und Einheit in das Ganze zu bringen. Sieht man zunächst auf die Entwickelung des Geistes und der nationalen Denkart, so ist die Philosophie in jeder Litteratur die Hauptsache; besonders aber in der unsrigen, wie Sie es so richtig anerkennen, ist sie der eigentliche Mittelpunkt. Wenn wir für unsern Theil nun aber auch gern den besten Theil unsrer Kräfte daran wenden wollen, auf diesem Wege der höhern, innern Erkenntniß, die deutsche Litteratur ihrem Ziele näher zu führen, wo denn die tauben Früchte, und fehlerhaften Auswüchse von selbst mehr und mehr verschwinden würden; so darf ich Sie nicht erst erinnern, wie wenige Theilnehmer und Mithelfer wir fürs erste bey diesem Geschäfte erwarten dürfen. — Am allgemeinsten und entscheidendsten für das Ganze würde vielleicht wirken, wenn man einmal alle Kräfte und Aufmerksamkeit auf die S p r a c h e richtete, ihre Verbesserung oder Erhaltung und Wiederherstellung. Aber was kann hier Einer allein ausrichten? — Oeffentliche Anstalten sind dazu nöthig, und durchgehendes Eingreifen in die Erziehung, große Unternehmungen und Allgemeinwerke. Der einzelne Schriftsteller vermag nichts als höchstens, daß er sich selbst einigermaßen rein und frey erhält von dem allgemeinen Verderben. Aber auch das nur bis auf einen gewissen Grad, keineswegs ganz und vollkommen. Denn Sie werden mir doch nicht zugetraut haben, daß ich bey meinen obigen Klagen über die Verwilderung und Mißhandlung der Sprache für mich selbst allein, oder einige wenige andre, eine vortheilhafte Ausnahme mir vorbehalten wolle. Nein, zu groß ist das Verderben, als daß irgend ein Einzelner von aller üblen Einwirkung und Ansteckung sich völlig rein erhalten könnte. — Verdienstlich und heilsam vielleicht möchte es seyn für die Erhaltung und Rettung der Sprache, grade an unsern größten Schriftstellern und Dichtern einmal streng alles aufzuzeigen, was sie in der Sprache bloß Willkührliches, und entschieden Tadelnswerthes oder auch gerade zu Fehlerhaftes enthalten. Aber wer würde es uns danken? 5 Von dieser Seite

7.3. Text

89

ist das allgemeine Urtheil bey uns noch etwas zurück und sehr befangen. Es würde doch nur so genommen und mißverstanden werden, als wollte man die getadelten Schriftsteller, gerade weil man sie der Sichtung würdig hielt, ganz herunter setzen und für gar nichts mehr gelten lassen. — Das Rathsamste vielleicht also wäre, sich darauf zu beschränken, daß man die vielfachen Schätze unsrer alten Sprache, Geschichte und Kunst immer mehr zu Tage fördern helfe; nicht bloß für die Gelehrten und einige Liebhaber, sondern allgemein zugänglich und verständlich für alle, damit eine neue Belebung der gesammten deutschen Sprache, Kunst und Erkenntniß aus der ursprünglichen Quelle erfolge. Dieses ist einer meiner vornehmsten Zwecke bey unserm Museum, welches eben dadurch ein deutsches zu heißen verdienen soll. So von innen heraus durch die Entwickelung des Geistes selbst, durch die immer mehr verbreitete Erkenntniß der Wahrheit, und dann von außen durch eine zweckmäßige Behandlung und Anbauung der Sprache auf die Verbesserung der deutschen Litteratur zu wirken; das ist und bleibt freylich die Hauptsache. Bey dem einen Geschäft aber können wir nur die Theilnahme der Wenigen erwarten, zu dem andern ist die öffentliche und allgemeine Mitwirkung nothwendig, beydes kann nur langsam fortrücken. In der mittleren Gegend der in der Gesellschaft verbreiteten, vielfach wechselnden und wirkenden Ansichten sind besonders auch die über das Verhältniß zum Auslande nicht zu vernachläßigen. Wohl! könnte man sagen, sind solche Vergleichungen mit andern Nationen, unvermeidlich und recht angesehen, auch heilsam und fruchtbringend, warum vergleicht man unsere deutsche Litteratur gerade immer nur mit der französischen, die unter allen andern unserm Gefühl am meisten ewig fremd bleibt? — Sieht unser Vergleicher insbesondere, würde ich hierauf erwiedern, weniger auf die englische und vorzüglich nur auf die französische Litteratur, so könnte man hierin sogar eine absichtliche Schonung finden. Wir können weit eher noch gegen die Franzosen als gegen die Engländer litterarisch auftreten und bestehen. — Wie viel Vorzüge man auch den Franzosen von Seiten der äußern Form zuerkennen mag, wir können dagegen jederzeit eben so entschiedene Vorzüge von Seiten des innern Gehalts, des Geistes und der Gesinnung anführen, die jenen vollkommen das Gegenwicht halten. Ich erkenne auch die Schwäche der Englischen Litteratur, besonders von Seiten der Philosophie gar wohl. Wenn man nun aber den hohen Begriff des V a t e r l a n d e s im Auge, dieses unser Chaos von allen möglichen Gedanken und Gefühlen vergleichen wollte mit der nationalen Einheit und Kraft, der nationalen Würde und Wirksamkeit, wodurch auch die Litteratur jenes selbständigen Landes sich in so hohem Grade auszeichnet? Welch ein Bild würde das geben, bey der unverhohlnen Zusammenstellung, und um wie viel ungünstiger würde der Vergleich für uns ausfallen! Man könnte es vielleicht überhaupt als Grundsatz aufstellen, daß, je verschiedner, je mehr gerade entgegengesetzt die beyden zu vergleichenden Größen seyn, um so fruchtbarer oftmals der Vergleich ausfalle. Und das trifft hier in vollem

90

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel (1772-1829)

Maaße ein, denn nicht bloß von heute und gestern, sondern uralt ist der Gegensatz zwischen dem französischen Wesen und dem deutschen Geiste. — In einem alten Buche, welches schon vor mehreren Jahrhunderten abgefaßt worden, finde ich wörtlich folgende Stelle: „Eine anmuthige Zunge wird eben so wenig von einem lieblosen Herzen, als ein Teutscher von einem Franzosen verstanden."6 — Sie werden freylich lachen über die treuherzige alte Art, wie hier die anerkannte Verschiedenheit des gegenseitigen Nationalgeschmacks ausgedrückt worden. Indessen die Verschiedenheit selbst bleibt doch auch vor der ernsthaftesten Betrachtung als eine große und durchgehende stehen, und verdient gewiß die aufmerksamste Erwägung. In diesem Stücke nun, wo die Rede ist von den einzelnen Eigenschaften, durch welche die französischen und die deutschen Schriftsteller sich auszeichnen, und von einander unterscheiden, finde ich, daß Sie unserm Verfasser fast zu viel nachgeben. Kunstfleiß, Gelehrsamkeit und tiefen Forschergeist hatte er den Deutschen gar nicht abgesprochen; dagegen aber hatte er uns Mangel an Klarheit vorgeworfen, und den Hang zur Weitschweifigkeit, das feine Gefühl des Schicklichen fast überall vermißt. — Es läßt sich vieles Scheinbare für diese Meinung anführen, es liegt wohl unstreitig einiges Wahre darin, aber dennoch kann ich dieß alles nicht ohne große Einschränkung zugeben, und ich finde daß Sie viel zu schnell hier vor der Anklage das Feld räumen. Jede Nation und jede Sprache hat ihre eigene Regel des Schicklichen. Ich will zugeben, daß diese bey uns noch nicht so für alle Verhältnisse aufgefunden, daß sie nicht so deutlich ausgesprochen und anerkannt ist, daß sie nicht so durchgreifend wirkt, und allgemein herrscht, wie bey den Franzosen, wo ihr fast alles andre aufgeopfert wird. Aber daran halte ich fest, daß wir ein eignes und anderes Gesetz des Schicklichen haben und haben müssen, als das französische. So wie ihnen in unsern Reden und Werken manches als nicht angemessen, als seltsam, ja lächerlich auffallt; eben so geht es auch uns, sobald wir nur darauf merken wollen, wie uns bey den französischen Redensarten eigentlich zu Muthe ist. Ein Beyspiel mag statt aller dienen. Ich wähle die Alzire, nach meinem Bedünken Voltaire's Meisterwerk, und zwar gleich den ersten Vers desselben: D u

CONSEIL

DE M A D R I D

L'AUTORITE SUPREME





So viel ich weiß, ist dieser Vers von französischen Kunstkennern noch nie getadelt worden. Für das deutsche Ohr und Gefühl aber lautet dieser steife Anfang gar fremd und höchst verwunderlich. Was meinen Sie wenn unser Wallenstein so anfinge: „Der Hofkriegsrath zu Wien, Kraft seiner Vollgewalt? —" Doch das bedarf keiner weitern Auseinandersetzung, daß ein Trauerspiel nicht anfangen sollte wie ein Urtheil. Ich getraue mir, aus den besten französischen Dichtern eine ganze Sammlung von Beyspielen der Art auszuheben; von Wendun-

7.3. Text

91

gen und Ausdrücken, die unserm Gefühl als entschieden unschicklich auffallen, für die Franzosen selbst aber demungeachtet gar nichts Lächerliches haben. So viel ist indessen wahr, daß der Deutsche zunächst und am meisten auf die Sache sieht, den Gehalt, den Sinn und Geist, oft mit Vernachlässigung der Sprache oder verübter Gewalt an ihr. Wie ein berühmter Dichter sagt: Stille, Liebchen, mein Herz; Krachts gleich, brichts doch nicht — 7 Dieses „ K r a c h t s g l e i c h , b r i c h t s doch nicht," was nicht jedem Ausländer auszusprechen oder melodisch zu singen ganz leicht fallen möchte, scheint für viele unserer Schriftsteller die rechte Grund* und Hauptregel ihrer Redeweise zu seyn. Bey den Franzosen hingegen habe ich oft bemerkt, daß, wenn sie auch einmal einen deutschen Gedanken recht wohl und vollkommen gefaßt hatten, ja sich lebhaft dafür interssirten und den neuen Fund gern auch den andern Landsleuten mitgetheilt hätten, die Sprache ihnen doch unübersteigliche Hindernisse legte. CELA NE SE DIT PAS, CELA N'EST PAS FRAN^OIS, ist dann die gewöhnliche Antwort, die oft ganz redlich gemeint ist. Noch eine andere Spracheigenthümlichkeit, die beyden Nationen gemein ist, verdient als sehr charakteristisch bemerkt zu werden. So wie wir andern ALLEMANDS, wie die Franzosen uns zu nennen belieben, in ihrer feyerlichen Dichtersprache nicht leicht vorkommen dürfen, sondern sie statt dessen, wo es der Gegenstand nun einmal herbey führt, lieber zu dem Germanischen oder dem veralteten Teutonischen ihre Zuflucht nehmen, so klebt auch für unser Ohr dem Nahmen der Franzosen etwas an, was in der ernsten und höhern Poesie als störend auffällt und beleidigt, und wo es ja von einem deutschen Dichter einmal gewagt wird, doch nur als glückliche Kühnheit und überwundene Schwierigkeit gilt. Deutlicher und anschaulicher konnte sich wohl die Antipathie und tiefe Verschiedenheit des beyderseitigen Nationalgefühls nicht aussprechen. — Wenn unser Verfasser Klarheit des Ausdrucks, besonders auch des wissenschaftlichen, unter diejenigen Eigenschaften zählt, welche bey den deutschen Schriftstellern sehr selten gefunden werden, so muß ich ihm darin leider vollkommen Recht geben. Nicht so durchaus gegründet finde ich den Vorwurf der Weitläufigkeit. Ich gebe ihn zu in der Geschichte, da wo es auf Darstellung ankommt; aber ich weiß nicht, ob es gerade ein Tadel ist. Wie kann eine Geschichte darstellend seyn, wenn sie nicht ausführlich ist, ja Chronikenmäßig ausmahlend? Das ist nun die uns eigenthümliche Gattung der Historie; darstellende Chroniken, im rechten Sinne des Worts. Doch muß ich hier gegen Sie bemerken, daß unsern guten alten Chroniken Unrecht geschieht, wenn man Johann Müllers für jedes Ohr mörderlichen Periodenbau dadurch entschuldigen, oder gar Chronikenmäßig finden will. Unsere guten Chroniken sind viel besser geschrieben, und ein geschichtlicher Styl der auf die rechte Art alterthümlich seyn sollte, müßte ganz anders abgefaßt seyn, als er jemals geschrieben hat; er der weder von Gesinnung noch in der Sprache

92

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 )

eigentlich ein Deutscher war. — Die den Franzosen eigenthümliche historische Gattung sehen wir dagegen in jenen Denkwürdigkeiten, Memoiren, die sich so leicht lesen lassen, und durch die so viele Unwahrheiten in die Geschichte und in die Welt gekommen sind. Uns wird die Geschichte eines besondern Landes, ja einer einzelnen merkwürdigen Stadt zur weltumfassenden Chronik; den Franzosen auch die Weltgeschichte zur Anekdote. In dieser Mittelgattung zwischen der Geschichte und dem Roman müssen wir ihnen den Vorrang ein für allemal überlassen. Wo es aber nicht auf Darstellung der Thatsachen, sondern auf allgemeine Gedanken und Betrachtungen ankommt, da können wir Werke der Welt= und Staatengeschichte aufweisen, denen keine neuere Nation etwas Besseres oder Gleiches entgegen zu stellen hat. Ich könnte mehrere und vielleicht größere nennen: aber Spittler ist hinreichend, denn auch den erreichen sie nicht.8 — So ist es in der Geschichte. Es haben aber außerdem die Franzosen ihr besonderes Gebiet, wo auch sie der Vorwurf der Weitschweifigkeit, ja selbst der Verworrenheit mit vollem Recht trifft. In dem Fache der Philosophie nämlich, so oft sie sich in dasselbe wagen. Daß Helvetius gut schreibe, wird niemand behaupten wollen, in Frankreich wenigstens ist man dieser Meinung durchaus nicht. Schwer würde es werden, bey uns einen einigermaßen bedeutenden Schriftsteller aufzutreiben, der als trocken, weitschweifig und langweilig dem Condillac ganz gleich käme. Wir müßten denn zu den ehemaligen Kantianern unsere Zuflucht nehmen wollen. Dieß wäre aber unbillig, da Condillac dort doch als der Erste und Beste gilt für die ganze nachfolgende Schaar ihrer sogenannten Ideologen. Sollte ich nach meinem Gefühl von der französischen Sprache, einem Schriftsteller, wenn es eigentliche Metaphysik gilt, den Vorzug geben, so würde ich einen nennen, der von Geburt kein Franzose war: den Hemsterhuys. Hier finde ich die wissenschaftliche Strenge und Kürze des Ausdrucks, vereint mit Klarheit, Leben und Anmuth, ja mit einer oft Platonischen Schönheit des Styls. Selbst französische Kenner werden mir darin im Wesentlichen beystimmen, wenn gleich mit ihrem gewöhnlichen Zusätze: „für einen Ausländer." — Ich kann aber noch ein anderes Beyspiel anführen, was ungleich entscheidender ist. Die beyden größten Denker, welche Frankreich in den letzten vierzig oder fünfzig Jahren hervorgebracht hat, St. Martin und Bonald; beyde schreiben, wenn wir es gerade sagen dürfen, eben so schlecht wie Malebranche um ein oder anderthalb Jahrhunderte früher. Fast scheint es, als ob der französische Geist, so oft er sich in das ihm eigentlich fremde Gebiet der Wahrheit und höhern Wissenschaft hineinwagt, die Gabe der sonst so geläufigen Sprache alsogleich verliert. Bonald, im vollen Gefühl seines innern Gehalts, bekennt es selbst, wie mangelhaft, trocken und schwerfallig seine Schreibart sey; mit einer Art und Gesinnung, welche bey einem französischen Schriftsteller selten sind, stellt er sich in Hinsicht der Darstellung weit hinter den eiteln Chateaubriand, der doch eigentlich nur ein Redner und Phrasenmacher ist. Beyde Schriftsteller, den St. Martin und Bonald, trift nicht bloß der Vorwurf der Trockenheit, sondern auch verworren sind sie

7.3. Text

93

bisweilen; wie es denen so leicht wiederfahrt, welche in noch unbetretenen Gegenden der Forschung, zuerst aus dem Dunkel emporstrebend, neue Wege des Lichtes bahnen. Da man es uns Deutschen nun aber einmal zum Vorwurfe macht, daß wir über die Tiefe des Gehalts und den Geist, den Ausdruck und Vortrag weniger beachten; so wollen wir uns denn auch als wahre Deutsche diese tiefen Denker unter den Franzosen in Ehren halten, und für diese großen Beyden gern ein halbes Hundert von jenen sogenannten classischen, in den Redensarten meisterlichen, übrigens aber gesinnungslosen und gedankenleeren Schriftstellern hingeben, und sie denen, die sie lieben, überlassen. Sollte ich nun nach meiner Weise unsere Litteratur mit der ausländischen vergleichen, so würde ich etwa von folgenden Bemerkungen ausgehen. In den letzten hundert oder anderthalb hundert Jahren sind für das Ganze von Europa, besonders drey Litteraturen bedeutend geworden, die französische, die englische und die deutsche. Die Italiener haben in diesem Zeiträume meistens auf ihren alten Lorbeeren ausgeruht, oder was sie hervorbrachten, war nur nachgebildet und von Außen erregt. Die Spanier haben auch aus dem letzten Jahrhundert bedeutende geschichtliche Werke aufzuweisen; an einer männlichen Beredsamkeit hat es ihnen, so oft sie erfordert wurde, niemals gemangelt; aber die eigentliche Epoche ihrer Litteratur und Poesie fallt doch in frühere Zeiten. Die Dänen haben ihre eigenthümliche, gerade jetzt hochaufblühende, nordische Dichtkunst; auch für den Anbau der östlichsten Sprachen in Europa, der ungarischen, russischen und pohlnischen ist im achtzehnten Jahrhundert vieles Ruhmwürdige geleistet worden. Aber alles dieß hat doch nicht so großen Einfluß auf das Ganze gehabt, kann für die Weltgeschichte nicht so wichtig erscheinen, als die Geistesbildung jener drey Hauptnationen. Nun giebt es aber mehrere ganz verschiedene Gesichts* und Beurtheilungspunkte für Litteratur. Man kann von einer Sprache und Litteratur fordern, daß sie wie ein wohlgeordnetes Kunstwerk auf das zweckmäßigste zusammenstimme, und bis in alle Theile gleichförmig ausgearbeitet sey. Wenn auch nicht gerade in dem idealischen Sinne eines Kunstwerkes, den wir jetzigen Deutschen von den Griechen angenommen haben, und vielleicht allzu oft auch da anwenden, wo er eigentlich nicht hingehört, und gar nicht anwendbar ist, sondern so wie wir ein künstliches Werkzeug nach dem Maaße schätzen, wie es leicht und bequem eingerichtet ist für den äußern Gebrauch und Zweck. Es kann wohl niemand in Abrede seyn, daß in dieser bloß äußern mechanischen Vollkommenheit, und gerade zum Zwecke, wenn gleich zu einem sehr beschränkten Zwecke führenden Bequemlichkeit, die französische Sprache und Litteratur den Vorrang vor allen andern europäischen behauptet. Dahin gehört denn auch die gepriesene Abgeschliffenheit, oder die sorgfaltige Entfernung von allem was zu innerlich wäre für die äußere Erscheinung, oder überflüßig zu dem bestimmten Zweck, der erreicht werden soll. Sehen wir nun aber auf den Begriff einer Nation, deren Denkart sich doch in der Sprache, Kunst und in allen Geisteswerken abspiegeln soll; sehen wir auf die

94

7. Christian Gottfried Körner (1756-1831)/Friedrich Schlegel ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 )

Eigenschaften, Gesinnungen und Grundsätze, durch welche die Einheit und die Würde einer Nation am besten erhalten werden können; so ist in dieser Hinsicht, was die nationale Kraft und Einheit betrifft, außer der spanischen, wohl keine andere Litteratur der englischen gleich zu stellen, am allerwenigsten die unsrige. Die Nation aber ist nicht das Höchste, noch ist sie um ihrer selbst willen da. Dieß zu glauben, wäre patriotische Abgötterey und nur eine andere Art von Egoismus. Der innere Mensch und die Entwickelung des Menschengeistes ist das, worauf alles andre abzweckt und sich beziehen soll. Dieser große Kampf der innern geistigen Entwickelung, dieses Ringen und Streben nach Wahrheit, das ist die eigentliche Seele und Triebfeder der deutschen Litteratur. — Die französische Litteratur ist, nach dem eigenen Urtheil der strengeren Kunstkenner in Frankreich, als eine beynah schon ausgestorbene zu betrachten. Die englische Litteratur ist entschieden im Sinken. Daß die deutsche im Steigen sey, möchte ich eben nicht behaupten. Sie ist vielmehr im Zustande der vollkommensten Gährung, aber noch wenigstens lebt sie. Aus dieser noch ganz unentschiednen Gährung kann sich vielleicht etwas sehr Vortreffliches und Großes entwickeln. Möglich ist aber auch, daß sich alles zum Schlechtem neige. Um desto mehr ist Strenge und Schärfe gerade jetzt heilsam und empfehlungswerth, um die nothwendige Scheidung der gährenden Elemente, des Guten und des Bösen, zu befördern und zu beschleunigen. Doch dieses, so wie die nähere Betrachtung jenes allgemeinen innern Kampfes nach Wahrheit und Erkenntniß, welcher das eigentliche Wesen unsrer Litteratur ausmacht, erfordert wohl eine nähere und eigene Betrachtung, die ich mir für das nächstemal vorbehalte. Friedrich Schlegel

7.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

3

4

Gemeint ist der Freiherr von Steigentesch. Sein Gedicht „ D i e Sprache" war ein Jahr zuvor, also 1811, veröffentlicht worden. Später leitet es als erstes Gedicht im ersten Band die sechsbändige Ausgabe der „Gesammelten Schriften" von 1819 ein. — Im folgenden spricht Körner den Herausgeber Friedrich Schlegel an. Die „Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft" des vielseitigen Geschichtsschreibers und politischen Publizisten Johannes von Müller (1752—1809) erschien in 5 Bänden zwischen 1786 und 1808. Die antifranzösischen Töne, die sich bei Klopstock seit Anfang der 70er Jahre verstärkten, taten seiner späteren Begeisterung für die Revolution von 1789 keinen Abbruch und richteten sich wohl auch früher eher gegen den französischen Einfluß in Deutschland als gegen die französische Kultur selbst. Wenn ein Vierzigjähriger wie Friedrich Schlegel die „neueste weltweise J u g e n d " kritisiert, dann liegt es nahe, an die 20—25jährigen Dichter der Zeit um 1812 zu denken. Es gibt aber kaum jemanden unter ihnen, auf den die folgende Beschreibung paßt.

7.4. Anmerkungen des Herausgebers

5

6 7

8

95

Kerner, Uhland, Eichendorff, Rückert, Raimund und Grillparzer haben sich weder als Franzosenfreunde hervorgetan noch gehören sie zu denen, die „alles in Allem zu finden gewohnt" sind. Nur der 26jährige Nicht-Dichter Börne steht für das erste; Heine ist gerade 15 Jahre alt. — Die Beschreibung läßt den Verdacht aufkommen, daß der Wiener Friedrich Schlegel 1812 eher seine eigene Jugend und die seiner romantischen Generationsgenossen meint und diese Generation von der älteren unterscheidet, zu der Klopstock gehört. Diese Absicht hatte Campe, als er 1795 eine Reihe von Sprachfreunden um sich sammelte, um die Sprache einiger hervorragender Werke der zeitgenössischen Literatur sprachlich zu untersuchen, und die Ergebnisse in drei Bänden veröffentlichte (vgl. Bibl. A 29). Die Betroffenen dankten es ihm nicht. Goethe und Schiller zahlten es Campe in den „Xenien" heim. Autor nicht ermittelt. Die Verse stehen in Goethes Gedicht „Eis-Lebens-Lied", das erstmals 1776 im „Teutschen Merkur" veröffentlicht wurde. In den „Schriften" 1789 trägt es den Titel „Mut". Was dort kracht und doch nicht bricht, ist das Eis, nicht das Herz. Schlegels phonetischer Einwand bleibt aber natürlich bestehen. Ludwig Timotheus Freiherr von Spittler (1751 — 1810), bekleidete verschiedene Staatsämter, war außerdem Professor für Philosophie in Göttingen und schrieb zahlreiche Bücher über Themen der deutschen und europäischen Geschichte.

8. Adam Müller (1779-1829) 8.1. Einführende Bemerkungen Walter Jens charakterisiert Müller (im Nachwort seiner Neuauflage der „Zwölf Reden") kurz und bündig als „großen Stilisten und schlimmen Charakter", eine Kennzeichnung, die es nahelegt, die griffige Formel Buffons — „Le style c'est l'homme" — mit einem Fragezeichen zu versehen, es sei denn, der Stilist wäre einem von vornherein verdächtig. Über den schlimmen Charakter waren sich schon die Zeitgenossen weithin einig, die Müller die zunächst verheimlichte Konversion zum Katholizismus 1805 und die Willfährigkeit übelnahmen, mit der er seine publizistischen Fähigkeiten und seinen Bekehrungseifer in die bezahlten Dienste von Gentz und Metternich stellte, auch politische Spitzeldienste und Denunziation nicht scheuend. Er war freilich nur einer von vielen, die im Zeitalter der französischen Revolution die religiösen und politischen Seiten wechselten und damit Aufsehen, Unverständnis, Feindschaft oder Verachtung erregten. Friedrich Leopold Graf von Stolberg gehörte dazu, der 1800 zum katholischen Glauben konvertierte, Friedrich Schlegel auf seinem Weg nach Wien in unmittelbarer zeitlicher und persönlicher Nachbarschaft zu Müller 1808 und — ein Jahr zuvor — der Schweizer Historiker Johannes v. Müller, der vom preußischen Hofhistoriographen in Berlin zum napoleonischen Minister im Königreich Westfalen avancierte, und das in der Zeit der größten preußischen Schmach und Schande. Das Mißtrauen gegen Adam Müller war doch noch um einiges größer, weil man seinen Wendungen und Windungen nicht einmal die Entschuldigung einer, wenn auch irregeleiteten, gewandelten Überzeugung zubilligen wollte. Der schlechte Ruf hat die Wertschätzung des literarischen Kritikers und den Ruhm der „Zwölf Reden" nicht verdunkeln können. In ihnen findet sich auch ein Kapitel „Von dem moralischen Charakter des Redners und der geistlichen Beredsamkeit", in dem Müller sein großes Vorbild Burke, der „nach dreißigjähriger unbezahlter Heldenarbeit in den Staatssachen von England [...] von der Gnade seines Königs für sich und seine Witwe einen Jahrgehalt empfing", vor Verdächtigungen zu schützen suchte! — Zu dem Werk insgesamt noch einmal Jens: „In Fragen des deutschen Stils irrte er nie, sein Sprachsinn war nicht korrumpiert, er beherrschte das Kunstrichteramt, plant nicht zufällig ein Journal für vermittelnde Kritik, schätzte Lessing hoch, erkannte Kleists Genie mit untrüglichem Blick — kurzum, in einer Geschichte der deutschen Prosa darf sein Name nicht fehlen. Ein Werk zumindest hat er geschrieben, das bleiben wird — die Zwölf Reden, denen Hofmannsthal in seiner Anzeige der Neuauflage und Ernst Robert Curtius — das

8.3. Text

97

wundervolle Buch, einsam und stol% aus einem Wust herausragend, eine deutsche Geistesgeschichte in nuce —, zwei unbestechliche Zeugen also, ihre Bewunderung zollten." Um einen Eindruck von seinen Ansichten und der glänzenden Darstellung zu vermitteln, schienen im Rahmen dieser Dokumentation entweder das „Vorwort" oder das siebte Kapitel „Von deutscher Sprache und Schrift" am ehesten geeignet. Dem „Vorwort" wurde schließlich der Vorzug gegeben.

8.2. Literaturhinweise Textvorlage Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Gehalten zu Wien im Frühlinge 1812. Leipzig: Georg Joachim Göschen, 1 — 24. Weitere Literatur A: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, gehalten zu Dresden, im Winter 1806. Dresden: Carl Gottlob Gärtner 1806 [2. verm. u. verb. Auflage. Dresden: Arnoldische Buchhandlung 1807]. Von der Idee der Schönheit. In Vorlesungen gehalten zu Dresden im Winter 1807/08. Berlin: Julius Eduard Hitzig 1809 [darin zur Sprache besonders die 2. u. 3. Vorlesung]. Fichte's Reden an die deutsche Nation. In: Pallas 1 (1808), 1. Bd., 3. Stück, 318-342. B: Jens, Walter: Nachwort. In: Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Mit einem Essay und einem Vorwort von Walter Jens. Frankfurt 1967 (Sammlung insel 28). Koehler, Benedikt: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart 1980 [darin besonders S. 171—181], Schmitt, Carl: Politische Romantik. 2. Aufl. München, Leipzig 1925.

8.3. Text ^Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen? (1816) Die Betrachtungen über die Beredsamkeit, welche wir mit einander anzustellen im Begriff sind, müssen, so scheint es, auf die Verherrlichung einer benachbarten Nation führen, welche durch die Gewalt und den Reiz der Rede eine Art von Weltherrschaft vorbereitet hat, 1 — und auf eine gewisse Demüthigung unsers

98

8. Adam Müller (1779-1829)

deutschen Volkes, welches die Kunst mit der lebendigen Rede zu zwingen und zu verführen, oder sonst den Augenblick zu ergreifen eigentlich nie besessen, und welches das Wort nie bei der Hand gehabt, sondern meistentheils in der Feder erkalten lassen. — Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen, nachdem längst aller höhere Verkehr bei uns stumm und schriftlich, oder in einer auswärtigen Sprache getrieben wird? — Wenn die gesammten Staatsgeschäfte einer Nation mit der Feder abgemacht werden; wenn alle größeren Geister, welche sich in ihr regen und sie ergreifen oder doch berühren wollen, statt der Rednerbühne einen Schreibtisch bereitet finden; wenn die heiligsten und erhabensten Ideen niemals mit der Gewalt, welche die Natur in die Brust des Menschen und in seine Stimme legte, unmittelbar an das Herz der Nation schlagen können; endlich, wenn in der höheren Gesellschaft, wenn da, wo sich alle besonderen Sitten der Nation in eine einzige Sitte vereinigen, wo sich aus unzähligen Beschränkungen und Rücksichten nun die eigenthümliche, vaterländische Grazie des Lebens, des Umgangs und der Mittheilung ergeben soll; wenn in der Gesellschaft, da — wo nun endlich alles Vorlaute zur Ruhe gebracht ist, wo niemand reden darf, der nicht zu hören versteht, wo also Schicklichkeit und Anstand nun endlich eine wahre Schule der Beredsamkeit eröffnet hätten — wenn da die Sprache des Landes verdrängt ist von einer fremden, wo sollen die Redner herkommen? Etwa aus der kleinen Provinzialkrämerei des alltäglichen Lebens, oder aus der Gesprächigkeit des häuslichen Elends, — oder aus dem telegraphischen Verkehr2, den die Philosophen und Gelehrten der einzelnen Sekten, jeder in seiner besondern Terminologie, über die weite Fläche von Deutschland hin miteinander treiben? — Und wenn die Natur Talente für die Beredsamkeit über Deutschland so reichlich ausstreute, wie über den Boden irgend eines andern Landes, so sind es ja in Deutschland nur Einzelne, die h ö r e n ; es giebt kein Ganzes, keine Gemeinde, keine Stadt, keine Nation, die wie mit Einem Ohre den Redner anhörte? Im Gespräch mit dem Einzelnen sind wir zu ungebunden, zu unbeschränkt; wir lassen uns gehn, wir reden nachlässig, und so verliert sich aus der Sprache des Volks der allgemeine, bindende Geist; sie zerbröckelt sich in unzählige Dialekte und Idiome; jede Sekte und jede Kotterie verunstaltet sie in ihrer eigenen Manier. Nun mögen die Klopstock, die Lessing, die Schiller, die Göthe alle Strahlen dieser zerstreuten Sprache wie in einen Brennspiegel versammeln; das, was allen gemeinschaftlich ist in Wort und Klang, mag von Einzelnen wirklich niedergeschrieben, auch ausgesprochen werden: die Nation liest sie, verschluckt sie, aber hört sie nicht, spricht ihnen nicht nach. — Wer überhaupt lernt reden aus dem Papier, aus der todten Schrift? Hören muß und gehört werden, wer sprechen lernen will. — D e r T a u b g e b o r n e ist n o t h w e n d i g z u g l e i c h s t u m m . Die gesammte deutsche Literatur zerfallt in zwei Theile: der Eine und bei weitem größere Theil begreift die wissenschaftlichen, die Lehrbücher; in diesen zeigen sich Redner, die eigentlich niemanden anreden, sondern in sich selbst

8.3. Text

99

hineinsprechen. Während man nämlich in den wissenschaftlichen Werken der Franzosen z. B. eines Montesquieu, Büffon, d'Alembert, oder Diderot, oder auch in denen der Italiäner ganz deutlich im Lesen fühlt, daß man angeredet wird, daß der Autor einen bestimmten Menschen von Fleisch und Bein vor sich hat, den er überreden, den er überzeugen will; während die leichteste Flugschrift der Engländer, wenn es sich nur irgend thun lassen will, an einen bestimmten Menschen, an eine bestimmte Gemeinde oder Korporation gerichtet wird; während die abstraktesten Werke der Alten unser Ohr bezaubern und uns zum Gespräche wohlthuend einladen, weil sie für ein lebendiges Ohr geschrieben sind; während nach dem Ausdruck des Quintilian und dem Gefühle der Alten kein Wort zur Audienz der innern Empfindung oder des Verstandes gelangen konnte, welches im Vorzimmer des Ohrs beleidigt hätte, — baut der deutsche Gelehrte ein Gebäude von Chiffern, sinnreich aber einsam, unerwärmend, unerfreulich, ohne Antwort oder Erwiederung von irgend einer Seite her! Dieß ist der eine, der wissenschaftliche Theil unserer Literatur. Wir finden es auffallend, wenn in einer gewöhnlichen Gesellschaft jemand laut mit sich selbst redet: hier hätten wir viele tausend Redner, die sich öffentlich vor ganz Deutschland sprechend, und weitläuftig sprechend hinstellen, — ohne irgend jemand anzureden. D e r a n d r e , der schöne Theil unsrer Literatur, die insonderheit sogenannte Literatur, bietet eine eben so befremdende Erscheinung dar: Hier zeigen sich nun Redner, die wirklich anreden, welche die Nation oder wenigstens die Edelsten der Nation wirklich vor sich hinstellen im Geiste, die es auf Begeisterung, auf ein Ergreifen der Persönlichkeit anlegen; ja es zeigt sich Einer, der, die Seele ganz erfüllt von der Herrlichkeit wie von den Leiden, von dem Beruf wie von dem Mißgeschick seiner Nation, eine Antwort h e r a u s s c h l a g e n will aus ihr, wie einen Funken, oder einen Quell, oder irgend etwas Lebendiges aus dem Felsen; es zeigt sich Schiller, ein Dichter, oder viehnehr ein Redner, der noch überdieß in allen seinen Werken und unter den größten und muthigsten Gedanken so stolz und so gebeugt, so wehmüthig zugleich klingt, wie, ich möchte sagen, Deutschland selbst* klingen müßte, wenn es reden könnte: — dieser ganze Theil unsrer Literatur wird nicht gelesen, wird nicht etwa mißgönnt dem Papier, nicht etwa herausgerissen aus den todten Lettern von einer auf ihre Zierden eifersüchtigen Nation, nicht etwa der Buchdruckerkunst zum Trotz zu einer lebendigen Tradition, so wie alle Abdrücke von Corneille und Racine und Ariosto und Tasso heut untergehen könnten, und nichtsdestoweniger sie selbst vollständig fortleben würden in der begeisterten Überlieferung ihrer Mitbürger; — sondern er wird dechiffrirt und verschluckt, und wenn sich nicht etwa das Theater einzelner Werke erbarmte, so hätten wir die ganz eigne Erscheinung einer Literatur von wenigstens vierzig Autoren vom ersten Range, die es mit allen Vierzigern (Quarantes 3 ) der Welt aufnehmen könnten, und * Man erinere sich, daß diese Reden 1812, ein halbes Jahr vor dem Brande von Moskau, und geraume Zeit vor der Schlacht von Leipzig gehalten wurden.

100

8. Adam Müller (1779-1829)

deren Werke kaum ein einzigesmal von einer menschlichen Brust in den angemessenen, artikulirten Tönen wirklich ausgesprochen worden wären. Es giebt also nicht bloß lebendige Literaturen, und todte Literaturen, sondern auch stumme Literaturen, und unsre Betrachtungen über die Beredsamkeit mußten mit der Klage anfangen, daß die deutsche Literatur bis auf die neusten Zeiten4 gehört hat. Ein gewisser allgemeiner Drang zum Vorlesen und Deklamiren der Nationaldichter, so ungeschickt er sich mitunter auch äußern mag, so vielen Antheil auch zu Zeiten noch die Eitelkeit und der Eigennutz daran haben mögen, ist dennoch ein erfreuliches Zeichen, daß sich die Verzauberung unsres Ohrs und unsrer Stimme wieder allmählich lösen will, und daß unsre schöne Literatur von dem lebendigen Odem der Rede wieder ergriffen werden soll. Würde in der Erziehung die Hälfte des ungebührlichen Eifers, den man in neueren Zeiten auf den Mechanismus des Lesenlernens gewendet hat, auf den Ausdruck des Tons und die Geberde der Brust und der Seele im Lesen gewandt, so würde der deutschen Redekunst damit vielleicht mehr gedient, als mit Vorlesungen über die Beredsamkeit. Indeß sind auch solche öffentliche Vorlesungen über Gegenstände der Wissenschaft oder der Kunst vor einer Versammlung von Personen, die weniger die Absicht zu erlernen oder Kenntnisse zu erkaufen, als ein allgemeines, wahrhaft menschliches und gesellschaftliches Interesse an den Fortschritten der Bildung vereinigt, förderlich für die Belebung unsrer Sprache, und überhaupt eine neue, sehr ehrenwerthe Gattung in Deutschland. Auch der erste, der wissenschaftliche Theil unsrer Literatur, will also endlich gesellig werden: es soll nicht mehr ins Blaue und Unbestimmte hin, es soll nicht mehr den Wänden und Wüsten gepredigt werden, man will ein Lebendiges, ein Ganzes, eine würdige Stellvertretung des Publikums, zu dem man spricht, gegen sich über haben; man sucht die Schranken, man verlangt Antwort und Urtheil: die deutsche Wissenschaft zeigt sich auf dem Wege nach einer großen Wahrheit, die bei uns mehr als irgendwo sonst vergessen worden ist, nämlich daß es nur ein e i n z i g e s K e n n z e i c h e n des V e r s t ä n d i g e n g e b e , n ä m l i c h die V e r s t ä n d l i c h k e i t , und daß man nur in d e m s e l b e n Grade selbst v e r s t e h e als man v e r s t a n d e n w i r d . Die größten wissenschaftlichen Autoritäten Deutschlands in und außer den hohen Schulen haben in den letzten zwanzig Jahren die Form solcher Vorlesungen gewählt, und haben sie in dieser kurzen Zeit weiter ausgebildet, als es in Frankreich und England, wo sie längst in Gebrauch waren, gelungen ist. Die hier anwesenden, verehrungswürdigen Personen haben mir durch die Güte und Nachsicht, mit der sie auf meine Einladung erschienen sind, die Befugniß eingeräumt, so großen und guten Mustern nachzustreben.5 Ich habe meine Rede angefangen mit einer Anklage der deutschen Literatur, sogar mit einer verdeckten Vertheidigung derer, die in den höheren Verhältnissen der Gesellschaft sich einer fremden, und dem vaterländischen Sinne nicht eben

8.3. Text

101

angemessenen Sprache und Manier der Beredsamkeit bedienen. Denn die S c h u l d der Verwahrlosung unsrer Muttersprache liegt so wenig in der Gleichgültigkeit der höheren Gesellschaft gegen sie, als in der Nachlässigkeit, der barbarischen Gesinnung der Übrigen. Was vermöchte unser, der Kinder dieses Augenblicks, Unart, Wohlwollen oder Abneigung über das innerliche Wesen und die Kraft und das äußere Ansehn einer Sprache, die von Karl dem Großen bis heut, und von dem Gipfel der Alpen bis an die Küsten des finnischen Meerbusens geredet worden, in der sich alle großen Ideen und Weltschicksale des letzten Jahrtausends ausgedrückt, und die eigentlich zu groß und zu gewaltig ist für irgend eine fürstliche oder akademische Pflege? — Die Schuld liegt in den dermaligen öffentlichen und bürgerlichen Verhältnissen der Nation: daß der ausschließend schriftliche Betrieb der Staats- und gelehrten Angelegenheiten und die Anwendung der französischen Sprache in den höhern Sphären des gesellschaftlichen Lebens, wo allein sich die vaterländische Sprache und Rede würde ausbilden und verfeinern können, die Entwicklung der Redekunst in Deutschland verhindre, habe ich zeigen dürfen; was uns aber in allen redenswerthen Dingen entweder zur Schrift oder doch zu einer fremden Sprache verdammt, kann ich nicht zeigen, ohne Dinge zu berühren, über die man nie halb, sondern lieber gar nicht reden sollte. Halten wir uns also vorläufig an die Erscheinung, wie sie einmal ist. Das Sprechen, das erste unter allen menschlichen Geschäften, wie der erfreulichste und edelste unter allen menschlichen Genüssen, wird in England, Frankreich und Italien mit d e r natürlichen Vorliebe getrieben, aus der sich nothwendig Redner und eine Kunst des Redens ergeben müssen. In Deutschland wird dieses Geschäft im Durchschnitt mit dem anderweiten Schaffen, und Arbeiten, und Essen und Trinken ungefähr in eine Reihe gesetzt. Jene scheinen zu leben um zu sprechen; wir nur zu sprechen, um die übrigen Lebensfunktionen zu befördern und im Gange zu erhalten. — Ich gestehe es ein, und vergebe dennoch, wie der Verfolg zeigen wird, der Ehre und dem alten Adel der Sprache nichts, in der ich das Wesen und die Natur der Beredsamkeit zu beschreiben unternehme. Der größte Redner der deutschen Nation, Friedrich Schiller, der die dichterische Form nur wählte, weil er gehört werden wollte, und weil die Poesie eine Art von Publikum in Deutschland hatte, die Beredsamkeit aber keines, — klagt über eine gewisse Flüchtigkeit, oder vielmehr über ein gewisses Verfliegen des Gedankens in der Sprache, klagt, daß die Seele, wenn das Wort ausgesprochen werde, schon weit über dem Worte, oder weit voran vor dem Worte sei. „ S p r i c h t die Seele, sagt er, so spricht, ach schon die Seele nicht mehr." 6 — Das ist in wenigen Sylben das Unglück einer Nation wie die deutsche, die lange in sich und auf ernste und ewige Dinge gekehrt, nun auf einmal gewahr wird, daß sie das äußere Leben, Vaterland und Gesellschaft versäumt hat; daß ihre Gedanken unendlich weiter reichen als ihre Sprache; daß sie viel mehr besitzt als sie mitzutheilen im Stande ist — während sie zu fühlen anfangt, daß die Fähigkeit ihn mitzutheilen, den Besitz erst zum Besitze; daß die Fähigkeit ihn auszusprechen, den Gedanken

102

8. Adam Müller (1779-1829)

erst zum Gedanken macht; und der wahre Ernst und die eigentliche Ewigkeit des Sinnes nur darin liegt, daß er sich mit dem bürgerlichen und gesellschaftlichen Leben verträgt. Es giebt in Deutschland ein R i n g e n mit der S p r a c h e , ein Drängen des Unermeßlichen in Worte, ein unglückliches aber rührendes Bestreben, welches nie gelingen kann, nicht weil das Unternehmen etwa über die Gränzen der Sprache überhaupt ginge, aber weil der Einzelne mit seinem Gedanken weit vorausgelaufen ist der Nation mit ihrer Sprache, und weil er nun mit den beschränkten Kräften seiner Brust ausdrücken will, wohin er erst die Nation erheben muß, damit er es sagen könne. Der Gesichtskreis der Deutschen, so habe ich das Unglück an einem andern Orte ausgedrückt, ist unendlich größer als unser Wirkungskreis: unser Gedanke reicht weiter als unsre Sprache.7 Die Worte Schillers: S p r i c h t die Seele u. s. w. gelten also nicht etwa überhaupt als eine traurige Wahrheit von aller Sprache, sondern von der dermaligen deutschen; die Seele ist nicht etwa an sich vornehmer und größer als die Sprache, sondern die Sprache ist das göttliche Siegel, wodurch alle sonderbaren, eignen und weitläufigen Gedanken des einzelnen Menschen erst zu ernsthaften und wahrhaftigen Gedanken werden. Das schönste, was die Seele in ihrem einsamen Bezirke hegt, bleibt Vision und Traum, und ohne Einfluß auf die Welt, also ohne freundliche Bestätigung von Außen, bis es deutlich gesagt werden kann, d. h. bis ein überschwengliches Wesen, worin alle vorangegangenen Jahrhunderte, und alle Geschlechter bis auf den Einzelnen, Ärmsten das schönste Erbtheil ihres Lebens niedergelegt haben, die S p r a c h e es bestätigt; bis der Gedanke durch dasjenige zum Gedanken wird, wodurch der Mensch zum Menschen wird. Kurz, es ist mit dem Besitz der Seele, wie mit allem Besitz; er ist nicht eher sicher, als bis er zum Gemeingut geworden; und dieß wird er durch die Sprache. — Der Deutsche ist in einem unbequemen Verhältniß zur Sprache, er ringt mit ihr, sage ich, er zwingt sie, wozu sie nicht geneigt ist, und sie ihrer Seits zwingt ihn durch das ewige Gesetz der Reaktion wieder dahin, wohin er nicht will. So regiert der deutsche Gelehrte auf dem Papier den Staat, giebt Gesetze, verbessert die Sitten, erfindet Terminologien, martert die Sprache, und wird gegen den wirklichen Staat, die wirklichen Gesetze und Sitten nur immer feindseliger gestellt, von den äußeren Bedingungen des Lebens nur immer mehr gepeinigt, von der wirklichen Sprache zerrissen und von der eignen Terminologie verwirrt. In dem einen Augenblick handthieren wir mit der Sprache despotisch und eigenmächtig, als wenn sie ein erfundenes Wesen, eine Art von Chiffre oder Signal wäre, das man willkührlich verändert, wenn der Schlüssel in Feindes Hände gefallen ist; in dem andern Augenblick handthiert dafür die Sprache mit uns, verwandelt wider unsern Willen die Gedanken unter unsern Händen, zähmt sie, bändigt sie. — In welchem bequemen, schwebenden Verhältniß steht dagegen der Franzose zu seiner Sprache: S p r i c h t die Seele — so hat sie auch genau im Worte Platz. Daher die gewisse Befriedigung im Sprechen, und in dem Gedanken des Gespro-

8.3. Text

103

chenhabens und Sprechenwerdens, worüber sich wohl spotten läßt, und von Armuth reden, die sich leichter in Schranken und zu Rathe halten ließe, als der Reichthum —, während wir innerlich, wenn wir gerecht seyn wollen, mit Neid anerkennen müssen, daß, wer erst die Sprache in solche Eintracht gebracht hat mit dem Gedanken, mit der Sprache auch zugleich viel anderes gewinnt, was wir entbehren müssen. Zu dieser Harmonie der Sprache mit dem Gedanken lenken wir aber allgemach zurück, halb von der Noth gedrängt, halb getrieben von einem alten, guten, ernsten und göttlichen Verlangen, das nie ganz von uns gewichen ist, und das die deutsche Kunst sogar in diesen letzten Zeiten der Barbarei und Sprachverwirrung bei Ehren erhalten hat.8 Der Mensch soll nicht d e n k e n über die S p r a c h e hinaus, oder in Gedanken weiter schweifen als die Sprache reicht: die Gränzen der Sprache sind die göttlichen Gränzen, die allem unserm Thun und Treiben angewiesen sind; und diese Gränzen sind keine Mauern; sie wachsen, wie die innerliche, treibende Kraft unsrer Seele wächst. Wir sollen alles aussprechen können was wir denken: denn nur die Gedanken, die das Vaterland mit uns denkt durch die Sprache, sind gute Gedanken. Der einzelne Geist, der hoffärtig heraustritt aus seiner Nation und ihrer Sprache, sich erheben will über sie, muß über kurz oder lang eben so weit unter sie hinab: um so viel er mehr verstehn will als sie, wird er auch weniger verstehn. Kurz, in jedem einzelnen Augenblick versteht er ganz in demselben Maße und nicht mehr als er verstanden wird. Ein einzelner deutscher Dichter und Werkmeister hat es auf diese Weise erreicht, im Niveau seiner Nation dreißig Jahre hindurch zu bleiben, und sich in ein bequemes, schwebendes Verhältniß zur Sprache zu setzen. Niemand wird es wagen in der Größe der Absicht, in der Reinheit und Göttlichkeit des Willens Göthe mit Schiller zu vergleichen; aber es ist dafür auch ein Ebenmaß der Kräfte und des Stoffs, ein Verstand und ein Verstanden werden, kurz eine Wechselwirkung zwischen Göthe und der deutschen Nation, und ein Einfluß Göthe's über diese, wie sie nicht leicht von einem einzelnen erfahren. Daß es die Nation selbst ist, nicht etwa ein vorübergehender akklamirender Haufe von Tagesgenossen, was von Göthe ergriffen worden, so erinnere man sich des nun bald vierzigjährigen Werther, der noch heute, nachdem eine ganze Generation und ein wirkliches Gedränge von Revolutionen in den Sitten und Ansichten, wie in der Sprache der Deutschen, vorübergegangen, mit derselben Frische der Beredsamkeit unser Herz anregt. Man erschrickt, wenn man in diesem Romane unverhofft etwa den Schnitt und die Farbe der Kleidung Werthers berührt findet, und nun erfährt, daß man ihn sich in der steifen, gespannten Eleganz jener Zeit denken soll, die uns eigentlich viel altertümlicher dünkt und viel entfernter liegt, als die Kostüme des Mittelalters. So erhaben ist die Beredsamkeit des Werther über die Mode, daß sie selbst wie die andern lebendigen Menschen die Mode wechselt. Aber das eigentlich karakteristische in Göthe ist sein Gleichgewicht mit der Sprache, also mit der äußeren Welt, also vor allen Dingen mit der Nation: er hat alles ausgesprochen, ausgeschrieben,

104

8. Adam Müller (1779-1829)

ausgedrückt, was er gedacht und begehrt und empfunden. Es war eine glückliche Sinnlichkeit in ihm, die sich von den lebendigen Gestalten des Lebens nie ableiten ließ, eine glückliche Genügsamkeit und Behaglichkeit, die ihn von allen geistigen und philosophischen Schwärmereien seiner Kunstgenossen zurückhielt. Indeß beweisen die Vorrechte einer einzelnen, hochbegünstigten Natur nichts gegen die Regel. Ein gewisses Mißverhältniß zwischen dem Wollen und dem Vermögen ist der karakteristische Grundzug unsrer Literatur. So leicht es wäre, grade in dieser Eigenheit den unvergleichlich hohen Beruf unsrer Nation nachzuweisen, und grade in der Ursache des Verfalls der deutschen Beredsamkeit die sichre Bürgschaft unsrer dereinstigen Größe zu finden, so habe ich dennoch vorgezogen, meine Betrachtungen mit einer unumwundenen Anklage der Deutschen zu beginnen, weil ich darauf ausgehe, sie gründlich und befriedigend zu vertheidigen. Es ist eine goldne Regel, eine Haupterfahrung, die uns bei allen unsern Erwägungen der Redekunst an keiner Stelle verlassen darf, daß nämlich das Gemüth des vollständigen und gesunden Menschen beständig in kriegerischer Disposition und zum Widerspruche geneigt ist. Wollen wir also mit den Waffen der Rede oder des Arms vertheidigen, so müssen wir anzuklagen und anzugreifen wissen was vertheidigt werden soll. Der Sachwalter eines Verbrechers muß die stärkste Anklage gegen ihn führen, um ihn mit wahrem Erfolge vertheidigen zu können: der Sachwalter der Tugend muß alle Ränke kennen, die seinen Gegenstand verunglimpfen könnten, eben so wie der wahre Gottesgelehrte ohne gründliche Erkenntniß des Teufels nicht zu denken ist. Dieß ist die erhabene Kunst, welche unter den Lobrednern des letzten Jahrhunderts den großen Bossuet so weit über den Thomas, und die unter den gerichtlichen Sachwaltern den brittischen Redner Erskine weit über alle seine Standesgenossen erhebt. 9 Dieß ist die zierliche Kunst, welche die Frauen mit dem sichersten und glücklichsten Erfolge üben, ja das ganze Geheimniß ihrer weltlichen Herrschaft: sie klagen an was sie vertheidigen, rathen ab von dem, was sie erreichen wollen: sie verdecken Falten und Eigenheiten der Seele, die sie zeigen wollen, sie scheinen auszuweichen dem, was sie wünschen: kurz dieß Geschlecht versetzt alles in die Disposition es zu vertheidigen. Auf gleiche Weise kann man sicher glauben, daß überhaupt die Anhänglichkeit an einen geliebten Gegenstand noch nicht weit bei uns gediehen, so lange unser Lob noch unbegränzt ist: aber wenn wir bescheiden werden, im Namen des geliebten Gegenstandes, wenn wir ihn mit Rückhalt, mit Einschränkung und Ausnahmen zu loben anfangen, so etwa, wie ein Bruder von der Schönheit seiner Schwester spricht, dann beschäftigt er uns ganz. Kurz, wo wir aus Liebe ungerecht werden könnten gegen die Welt, und ausschweifend und abgöttisch werden könnten im Lobe, da hat uns die Natur schon wieder sanft in die Bahn der Gerechtigkeit eingelenkt. Was aber sagt diese ganze Regel? — Wisse anzuklagen, wo du vertheidigen willst, anders als in andern Worten meine frühere Regel? Wisse zu hören, wenn du

8.3. Text

105

reden willst; versetze dich in das Herz, dahinein du greifen willst; in den verwirrten Sinn, welchen du bekehren, in die Krankheit, welche du heilen willst. Verstehe, Redner, mich, deinen Gegner, wenn du dich mir verständlich machen willst: bist du verständlich, dann will ich glauben, dann werde ich es im innersten Herzen empfinden, daß du verstehst. Kurz, es giebt kein Mittel den Verstand zu beweisen, als die V e r s t ä n d l i c h k e i t ; kein Mittel, das Geliebte und Verehrte und Angebetete wahrhaft zu vertheidigen, zu erheben, als die G e r e c h t i g k e i t . Möge es uns gleichergestalt mit der deutschen Beredsamkeit überhaupt gelingen: mit Anklage haben wir ihr Lob und ihre Vertheidigung eröffnet. Wer wirken will, muß seinen Gegenstand zu ergreifen wissen: die gemeine Eroberung, Besitznahme und Unterwerfung genügt der größeren Seele nicht. Die Beredsamkeit will ergreifen, aber durch Reiz, durch Motive, die in der Brust dessen liegen, auf den sie es abgesehn: sie will ihre Beute nicht todt haben wie der gemeine Eroberer, aber im vollen Sinne des Worts lebendig. Sie will eine freie Seele bezaubern und beherrschen; sie will ihren Gegner nur zwingen und reizen, niederzuknien vor der Wahrheit, die größer ist als sie beide. Sobald also der Redner allein spricht, ohne seinen Gegner, vielmehr sobald in der Rede des Redners nicht alle Argumente des Gegners enthalten sind, sobald ist er seines Gegenstandes Meister noch nicht und seines Sieges nicht gewiß. J e d e w a h r e Rede ist also G e s p r ä c h : in dem Munde des einen Redners sprechen nothwendig zwei, er und sein Gegner. Das ist der Punkt, wohin meine ganze heutige Darstellung führen sollte. Um die Beredsamkeit in allen ihren unendlichen Formen zu verstehn, muß man das G e s p r ä c h verstehn.10 Dieß ist es, was Schillern und auch Göthen und Lessingen unwiderstehlich auf die Bühne drängte, wo sich das Streben einer ächten und wahrhaftigen Natur in tausendfaltigen Wendungen und Gestaltungen des Dialogs auseinanderlegen konnte. Wie konnte das Theater einer zerrissenen Nation an sich reizen, solche Geister reizen; aber einstweilen, und bis sich das Zerstreute und Zersplitterte wieder fügte, und Deutschland wieder auferstand, und dann ein wahres Theater, ein heiliger Spiegel der Nationalschicksale und eine Durchsicht in die freie Zukunft eröffnet wurde, haben diese drei Helden unsrer Literatur das Wesen der deutschen Rede und der Beredsamkeit überhaupt, nämlich das Gespräch in seiner Würde, behauptet. Die dramatischen Werke Schillers, Lessings Nathan, Göthe's Tasso und Egmont gehören viel mehr in die Gattung des Gesprächs, als des Drama's. Ist es nicht ein größeres Gespräch, ein Wechselreden zwischen sich und seinem Gegner, welches der Feldherr in seinem Busen trägt, wenn er seinen Plan entwirft. Kann er siegen, wenn er an irgend einer Stelle seines Kalküls die Antworten, die Gegenwirkungen seines Feindes unbeachtet gelassen, wenn der Feind ihm größere Argumente und Kräfte entgegensetzt, als von denen er selbst schon überzeugt ist. Mit der Idee des Gesprächs beginnen alle Wissenschaften: zwischen zwei ewig streitenden Formen der Wahrheit, die sich in tausendfaltigen Metamorphosen der verschiedenartigsten Naturen, Neigungen, Ansichten und Lebensweisen darstellen,

106

8. Adam Müller (1779-1829)

erhebt sich in steigender Herrlichkeit unergreiflich, unergründlich die Eine ewige Wahrheit; aus dem Feuer des Streits und des Gesprächs, bevor es noch zur Asche zusammensinkt, geht sie glänzender, überzeugender, empfundener hervor. Die einzelnen Sprecher verstummen, die Systeme, die sie in hoffartiger Anmaßung selbstherrschend aufgethürmt, versinken, aber das Wort selbst, das lebendige Wort, das Gespräch und die darin als Seele waltende Wahrheit ist ewig.

8.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

Obwohl für Müller als Vorbild in der Beredsamkeit durchaus England in Frage kommt, ist an dieser Stelle zweifellos Frankreich gemeint. Es ist anzunehmen, daß er mit der die Weltherrschaft vorbereitenden Rede nicht nur die Rhetorik der französischen Revolution, sondern auch die der Aufklärung meint. 2 Der „telegraphische Verkehr" darf natürlich nicht wörtlich genommen werden. Der erste elektrische Telegraph, gebaut von Sömmering, war zum Zeitpunkt der „Reden" gerade drei Jahre alt. Es ist das „Gebäude von Chiffren", das sich, wie Müller weiter unten sagt, die Gelehrten aufbauen, um ihre Gedanken auszudrücken, welches den Vergleich nahelegt. 3 Die „Quarantes" waren die Mitglieder der „Academie Frangaise". 4 Hier ergänzen die späteren Auflagen das wohl vom Drucker irrtümlich weggelassene präpositionale Objekt: „zu den stummen Literaturen". — Inhaltlich kann man dem Satz und insbesondere der Wendung „bis auf die neuesten Zeiten" entnehmen, daß Müller die Geschichte der deutschen Beredsamkeit nicht als eine Geschichte ihres Verfalls beschreibt. Was es nie gegeben hat, kann auch nicht verfallen! Müller betrachtet die Beredsamkeit als ein weltgeschichtliches Phänomen, das sich in der Antike entwickelt . und in den neueren europäischen Staaten kulturspezifisch fortgebildet hat. Nur im deutschen Sprach- und Kulturraum ist sie, gemessen an dem, was sie in der abendländischen Tradition schon war, verfallen. — Allerdings gibt es hin und wieder Äußerungen Müllers, die dieser Deutung des Buchtitels widersprechen, weil sie die Auffassung nahelegen, daß es mit der Rede in früheren Zeiten auch in Deutschland besser gestanden habe. Beispiele bieten gerade die folgenden Passagen. 5 Zu den großen und guten Mustern gehören in der unmittelbaren Nachbarschaft Müllers Friedrich Schlegel, der seine Vorlesungen über die „Geschichte der alten und neuen Literatur" in Wien gerade abgeschlossen hatte, als Müller die seinen begann, dessen Bruder August Wilhelm Schlegel, Schleiermacher und Fichte (vgl. Kap. 4). 6 Schillers Spruch aus den „Votivtafeln" mit dem Titel „Sprache" (zuerst erschienen im Musenalmanach für das Jahr 1797) enthält das Zitat als Antwort auf die Frage: „Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?" 7 Müller bezieht sich auf seine „Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur". Die Stelle befindet sich in der 3. Vorlesung (S. 42 der 2. Aufl.). 8 Die weiteren Ausführungen Müllers machen es wahrscheinlich, daß er, vergleichbar Friedrich Schlegel (siehe den Text aus dem gleichen Jahr in diesem Band) mit den „letzten Zeiten" in der Tat — trotz Goethe — die letzten Jahrzehnte meint und diese somit als Zeit „der Barbarei und Sprachverwirrung" betrachtet.

8.4. Anmerkungen des Herausgebers 9

10

107

Jacques Benigue Bossuet (1627 — 1704) ist als geistlicher Redner besonders durch seine Leichenreden („Sermons et oraisons funebres") berühmt geworden. Den vergleichend genannten Thomas aus dem 18. Jahrhundert habe ich nicht sicher identifizieren können (Thomasius?). — Thomas Erskins (1750—1823) Reden erschienen gesammelt in 6 Bänden 1803 in London. Er wirkte in den letzten beiden Jahrzehnten als liberaler Anwalt der Verfolgten in den bedeutendsten politischen Prozessen der englischen Regierung; u. a. verteidigte er Thomas Paine. Müller leitet in den abschließenden Passagen des „Vorworts" auf die zweite Vorlesung über, die den Titel „Vom Gespräch" trägt.

9. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) 9.1. Einführende Bemerkungen Goethe hat sich zu allen Zeiten seines Lebens, in den verschiedensten Zusammenhängen und unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu Problemen der Sprache und auch der deutschen Sprache geäußert. Eine Fülle mehr oder weniger ausgeführter Gedanken enthalten die „Maximen und Reflexionen", vieles ist in „Dichtung und Wahrheit" zu finden; beachtenswert sind auch die Überlegungen und Anweisungen des Theaterdirektors in den „Regeln für Schauspieler". Dennoch war es nicht einfach, einen Text Goethes für diesen Band zu finden, weil seine Reflexionen über die deutsche Sprache nirgends die Form einer zusammenhängenden Darstellung gefunden haben. Denkbar wäre die Aufnahme des Aufsatzes „Literarischer Sansculottismus" gewesen, den er 1795 in den „Hören" veröffentlichte; doch liegt das Veröffentlichungsdatum zu früh, und der Aufsatz handelt auch nur indirekt vom Zustand der deutschen Sprache. Der nun gewählte Beitrag „Deutsche Sprache" aus „Kunst und Alterthum" führt, vom Titel her gesehen, ins Zentrum dieser Dokumentation, ist aber, genauer besehen, auch ein heterogenes Gebilde. Im ersten Teil antwortet Goethe auf die Kritik „einiger jüngerer Kunstgenossen" an einem früheren Aufsatz über die romantische Bewegung. Diesen Anlaß nutzend, weist er die Leser im zweiten Teil nachdrücklich auf einen Beitrag des Schweizers Carl Ruckstuhl über die neueren Bemühungen um die Ausbildung der deutschen Sprache hin, „damit durch fremden Mund ausgesprochen werde wie wir ungefähr selbst denken". Wie Goethe selbst dachte, konnte der damalige Leser nur erfahren, wenn er sich den Aufsatz Ruckstuhls in der Zeitschrift „Nemesis" verfügbar machte. Goethe schrieb nur Löbliches über den Autor, nichts über das, was Ruckstuhl inhaltlich zu sagen hatte. — Was den Titel „Deutsche Sprache" schließlich rechtfertigt, sind einige schon früher verfaßte Maximen und Reflexionen über die deutsche Sprache, die den dritten, abschließenden Teil bilden. Da der 49seitige Aufsatz Ruckstuhls wegen seines Umfangs nicht aufgenommen werden konnte, seien die hauptsächlichen Gegenstände und die generelle Zielrichtung wenigstens angedeutet. Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die enge Beziehung zwischen Sprache, Volk und Staat bestätigt er den zeitgenössischen Sprachverbesserern zunächst die hohe Bedeutung ihrer Ziele — „Demnach frommet sehr dem Geist der Zeit, daß mit der Wiederbelebung unserer Nationalkraft die Wichtigkeit der Teutschen Sprache anerkannt und erhoben wird", warnt jedoch, und das ist der

9.2. Literaturhinweise

109

eigentliche Inhalt des Aufsatzes, vor den Übertreibungen. Die Gefahren, die diese in sich bergen, verdeutlicht er im Seitenblick auf die französische Revolution als fehlgeleitete Anwendung „des Grundsatzes von Freiheit und Gleichheit... in der Republik der Wörter", ähnlich wie Grimm 1819 in der Kritik am gleichen Gegner an die jakobinische Schreckensherrschaft erinnert und Goethe seinen Kontrahenten schon 1795 mit dem Begriff des „Literarischen Sansculottismus" attackiert hatte. Inhaltlich geht es um die Frage, welche Wörter Heimatrecht in der höheren Sprache der Gebildeten haben sollen. Ruckstuhl hält es — gegen Adelung — für verdienstlich, „daß das alte Vorurtheil getilgt wurde, als sey nur ächt Teutsch, was in den Zirkeln gebildeter Sachsen gesprochen wurde" (342), wendet sich aber — eher adelungsch — entschieden gegen die neuere Tendenz, Dialektwörtern, Archaismen, Wörtern der niederen Sprache und Eigennamen auch in der „Teutschen Schriftsprache" Geltung zu verschaffen. Umgekehrt argumentiert er gegen den Purismus für eine weniger rigorose Ausschließung der Fremdwörter. — Allerdings läßt sich aus Ruckstuhls Aufsatz kein alternatives oder modifiziertes Programm der Sprachverbesserung gewinnen; er spricht sich gegen jeden Eingriff in die Sprache aus. Die Hüter und Wächter der Sprache sollen „als Lehrer die Sprache überliefern, als Vermittler auftreten zwischen ungebildeten und schwachen Gemüthern und dem Sprachschatz; diesen selbst nur treu und redlich verwalten, nicht mindern, mehren und verändern" (379 f.). Wenn überhaupt, billigt er den Dichtern das Recht zu, „als Künstler an der Sprache zu bilden und zu schaffen." Es dürfte, neben sachlichen Übereinstimmungen, besonders diese Grundhaltung Ruckstuhls sein, die es erfordert, „behutsam, bedächtig und mit Rücksicht auf die besonderen Umstände [zu] verfahren" (346), mit der Goethe sich in Übereinstimmung befand und die ihn bewog, die Veröffentlichung des ihm zugesandten Manuskripts bei Heinrich Luden, dem Herausgeber der Nemesis, tatkräftig selbst zu fördern.

9.2. Literaturhinweise Textvorlage Johann Wolfgang von Goethe: Deusche Sprache. In: Über Kunst und Alterthum in den Rhein- und Mayn-Gegenden 1 (1817), H. 3, 39 — 51. Weitere Literatur A: Literarischer Sansculottismus. In: Die Hören 1 (1795), 5. Stück, 50 — 56. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 3 Bde. Tübingen: Cotta 1811, 1812, 1814 [darin besonders: Zweiter Teil, 6. Buch; Dritter Teil, 11. Buch]. Regeln für Schauspieler (1816/1824). In: Nachgelassene Werke (1832-1842), Bd. 4, 296-326.

110

9. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) Serbische Lieder. In: Über Kunst und Alterthum 1825, H. 2, 35—60. Für junge Dichter. Wohlgemeinte Erwiderung. In: Über Kunst und Alterthum 1832, H. 3, 516-520. Maximen und Reflexionen. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12 [darin besonders: Literatur und Sprache 493—512],

B: Hübner, Arthur: Goethe und die deutsche Sprache. Langensalza 1933 Petersen, Julius: Goethe und die deutsche Sprache. In: Jahrbuch der GoetheGesellschaft 17 (1931), 1 - 2 6 . Rausch, Georg: Goethe und die deutsche Sprache. Leipzig 1909. Schweizer, Hans Rudolf: Goethe und das Problem der Sprache. Bern 1959. Seiler, Johannes:1909. Die Anschauungen Goethes von der deutschen Sprache. Stuttgart/Berlin

9.3. Text D e u t s c h e S p r a c h e (1817) Einige jüngere Kunstgenossen welche den ersten Aufsatz des zweiten Heftes gelesen, und daselbst die alterthümlende, christelnde Kunst nicht zum besten behandelt fanden, erwehrten sich nicht der Frage: ob denn die weimarischen Kunstfreunde, im Jahre 1797, als der Klosterbruder herausgegeben ward, schon derselben Meynung gewesen, ob sie schon damals die neue Richtung der deutschen Kunst mißbilligt? worauf denn nothwendig eine bejahende Antwort erfolgen mußte.1 Redliche junge Gemüther nahmen dieses Bekenntniß keineswegs gleichgültig auf, sondern wollten es für eine Gewissenssache halten, ja tadelhaft finden, daß man nicht gleich die strebenden Künstler, besonders die mit welchen man enger verbunden, gewarnt, um so schädlich einschleichendem Uebel vorzubeugen. Hierauf nun konnte man verschiedenes erwiedern. Es sey nemlich in allen solchen Fällen ein eben so gefährlich als unnützes Unternehmen, verneinend, abrathend, widerstrebend zu Werke zu gehen, denn wenn junge gemüthvolle Talente, einer allgemeinen Zeitrichtung folgen, und auf diesem Wege, ihrer Natur gemäß, nicht ohne Glück zu wirken angefangen, so sey es schwer ja fast unmöglich sie zu überzeugen daß hieraus für sie und andere in Zukunft Gefahr und Schaden entstehen werden. Man habe daher dieser Epoche stillschweigend zugesehn, wie sich denn auch der Gang derselben nur nach und nach entwickelt. Unthätig sey man aber nicht geblieben, sondern habe praktisch seine Gesinnung anzudeuten gesucht. Hievon bleibe ein unverwerfliches Zeugniß die siebenjährige Folge weimarischer Kunstausstellungen, bey welchen man durchaus nur solche Gegenstände als Auf-

9.3. Text

111

gäbe gewählt, wie sie uns die griechische Dichtkunst überliefert, oder worauf sie hindeutet, wodurch denn vielleicht auf einige Jahre der neue kränkelnde Kunsttrieb verspätet worden, ob man gleich zuletzt befurchten müssen von dem Strome selbst hinab gezogen zu werden. Da man nun sich von diesen Umständen unterhielt kam die neuste Zeit zur Sprache, man fragte ob nicht gleichfalls in derselben einiges mißfällig seyn könnte, ohne daß man sich deßhalb öffentlich zu erklären Lust und Befugniß habe. Eine hierüber fortgesetzte Unterhaltung, bewirkte eine Gewissensaufregung, und damit man nicht etwa in zwanzig Jahren uns noch über den Lethe hinüber Vorwürfe nachschicke, so entschlossen wir uns über deutsche Sprache und über den Fug und Unfug welchen sie sich jetzt muß gefallen lassen, ein Wort mit zu sprechen. Glücklicherweise fiel uns ein Aufsatz in die Hände, den wir unsern sämmtlichen Lesern bekannt wünschen, damit durch fremden Mund ausgesprochen werde wie wir ungefähr selbst denken. V o n d e r A u s b i l d u n g der T e u t s c h e n S p r a c h e , in B e z i e h u n g a u f n e u e , d a f ü r a n g e s t e l l t e B e m ü h u n g e n wird im 3ten Stück des 8ten Bandes der Nemesis gefunden. 2 Wir sind dem Verfasser vielen Dank schuldig, daß er uns der Pflicht entledigt über diese Angelegenheit unsere Gedanken zu eröffnen. Er warnt, wie wir auch würden gethan haben, vor dem unersetzlichen Schaden der einer Nation zugefügt werden kann, wenn man ihr, selbst mit redlicher Ueberzeugung und aus bester Absicht, eine falsche Richtung giebt, wie es jetzt bey uns mit der Sprache geschehen will. Da wir nun alles was und wie er es gesagt unterschreiben, so enthalten wir uns alles Weiteren und sagen nur so viel von ihm selbst, daß er nicht etwa ein Undeutscher, ein Entfremdeter sey, sondern ächt und brav, wie man einen jungen Mann wünschen kann. Dies mag eine kurze Nachricht von ihm darthun und beweisen. C a r l R u c k s t u h l , im Canton Luzern, von angesehenen Eltern geboren, erhielt den ersten Unterricht in seinem Vaterlande. Zum Jünglinge herangewachsen bezog er die Universität Heidelberg und widmete sich daselbst, überzeugt daß die Quelle wahrer Bildung nur allein bei den Alten zu suchen sey, vornehmlich philologischen Studien. Da er seinem Vaterlande im Erziehungsfache nützlich zu werden wünschte, vertrat er, um sich praktisch vorzubereiten, auf einige Zeit die Stelle eines Lehrers der alten Sprachen an der Canton=Schule zu Arau. Als aber im Frühjahr 1815 die Ruhe unseres Welttheils wieder gefährdet schien, folgte derselbe dem edlen Triebe persönlich am Kampf für die gute Sache Theil zu nehmen, und begab sich als Freywilliger unter das Preußische Heer, mit dem er auch siegreich zu Paris einzog. Unter den Waffen hat er jedoch der Wissenschaft nicht vergessen, sondern sowohl zu Paris als auf der Wiederkehr nach Deutschland überall mit Gelehrten Umgang gepflogen. Gegenwärtig lebt er in Berlin, bemüht seine wissenschaftliche Ausbildung noch höher zu steigern, daselbst hat er denn auch den von uns empfohlenen Aufsatz geschrieben.

112

9. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Wir wünschen daß er fortfahren möge seine Ueberzeugungen dem Publikum mitzutheilen. Er wird viel Gutes stiften besonders, da er nicht eigentlich als Gegner der vorzüglichen Männer auftritt die in diesem Fache wirken, sondern, wie er es selbst ausspricht, neben ihnen hergeht, und über ihr Thun und Lassen sich treue Bemerkungen erlaubt.3 Da diese Schrift von vielen Deutschen gelesen und beherzigt werden sollte, so wünschen wir bald einen einzelnen Abdruck derselben, von dem wir uns die beste Wirkung versprechen. Einer freyeren Weltansicht, die der Deutsche sich zu verkümmern auf dem Weg ist, würde ferner sehr zu Statten kommen, wenn ein junger geistreicher Gelehrter das wahrhaft poetische Verdienst zu würdigen unternähme, welches deutsche Dichter in der lateinischen Sprache seit drei Jahrhunderten an den Tag gegeben. Es würde daraus hervorgehen daß der Deutsche sich treu bleibt und wenn er auch mit fremden Zungen spricht. Wir dürfen nur des Johannes Secundus und Balde's gedenken. Vielleicht übernähme der Uebersetzer des ersten, Herr Pass ο w diese verdienstliche Arbeit.4 Zugleich würde er beachten wie auch andere gebildete Nationen zu der Zeit als Lateinisch die Weltsprache war, in ihr gedichtet und sich auf eine Weise unter einander verständigt die uns jetzo verloren geht. Leider bedenkt man nicht daß man in seiner Muttersprache oft eben so dichtet als wenn es eine fremde wäre. Dieses ist aber also zu verstehen: wenn eine gewisse Epoche hindurch in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden, so ist der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so daß nun jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann. Durch die Literargeschichte, so wie durch die Welthistorie, schleichen oftmals kleine, geringscheinende Bemühungen hindurch, die aber durch Anhaltsamkeit und beharrliches Fortarbeiten bedeutende Wirkung hervorbringen. So würde jetzt ein kurzgefaßter Aufsatz willkommen seyn, der uns vor Augen stellte wie seit vierzig Jahren geist= und klangreiche Menschen, sowohl französischen als italiänischen Opern deutsche Texte untergelegt und sich dadurch um Sprache und Musik großes, unbeachtetes Verdienst erworben. Unser lyrisches Theater hat sich dadurch nach und nach zu einer ungemeinen Höhe geschwungen; wir haben die vorzüglichsten Productionen des französischen lyrischen Dramas auf unsern Bühnen gesehen, die italiänischen Opern sind uns nicht fremd geblieben, deutsche Singstücke, von deutschen Meistern componirt, vergnügen den Geist, erheben das Gemüth seit vielen Jahren. Geschmack und Einsicht verbreiteten sich dadurch über die ganze Masse des Publikums und für die lyrische Poesie überhaupt wuchs, von Jahr zu Jahr, der unschätzbare Vortheil daß sie immer singbarer wurde ohne an Gehalt abzunehmen. Religiöse, patriotische, gesellige, leidenschaftliche Lieder tönten von

9.3. Text

113

allen Seiten und unsere ernste charakteristische Musik fand Gelegenheit zu tausendfältiger Anwendung ihrer unerschöpflichen Mittel. Und doch, wer mag es aussprechen, daß zu allem diesem der gänzlich verschollene Schauspieldirector M a r c h a n d den ersten Anlaß gab indem er das neckische M i l c h m ä d c h e n mit den täppischen J ä g e r n , ferner die S c h ö n e mit dem gutmüthigen U n g e h e u e r aus Frankreich herüber brachte, durch ansprechende Musik eines G r e t r y das Theater belebte und uns folgereiche Wohlthaten spendete: denn von jener Zeit an läßt sich die Geschichte der deutschen Oper in ununterbrochener Reihe durchführen.5 Vielleicht giebt ein Mitarbeiter der Musikalischen Zeitung, der sich dieser Epochen als Theilnehmer erinnert, uns hievon eine gedrängte Uebersicht, woraus denn abermals erhellen würde, daß der Deutsche nichts wunderlicheres thun könnte, als sich in seinen mittelländischen Kreis zu beschränken, eingebildet daß er von eignem Vermögen zehre uneingedenk alles dessen was er seit einem halben Jahrhundert fremden Völkern schuldig geworden und ihnen noch täglich verdankt. Doch hiervon ist gegenwärtig zu schweigen besser, die Zeit wird kommen wo der Deutsche wieder fragt: auf welchen Wegen es seinen Vorfahren wohl gelungen die Sprache auf den hohen Grad von Selbstständigkeit zu bringen, dessen sie sich jetzt erfreut. Wir geben gerne zu daß jeder Deutsche seine vollkommene Ausbildung innerhalb unserer Sprache, ohne irgend eine fremde Beihülfe hinreichend gewinnen könne. Dies verdanken wir einzelnen, vielseitigen Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts, welche nunmehr der ganzen Nation besonders aber einem gewissen Mittelstand, zu Gute gehn, wie ich ihn im besten Sinne des Worts nennen möchte. Hiezu gehören die Bewohner kleiner Städte, deren Deutschland so viele wohlgelegene, wohlbestellte zählt. Alle Beamte und Unterbeamte daselbst, Handelsleute, Fabrikanten, vorzüglich Frauen und Töchter solcher Familien, auch Landgeistliche in so fern sie Erzieher sind. Diese Personen sämmtlich, die sich zwar in beschränkten aber doch wohlhäbigen, auch ein sittliches Behagen fordernden Verhältnissen befinden, alle können ihr Lebens* und Lehrbedürfniß innerhalb der Muttersprache befriedigen. Die Forderung dagegen die, in weiteren und höhern Regionen, an uns auch in Absicht einer ausgebreiteten Sprachfertigkeit gemacht wird, kann Niemand verborgen bleiben der sich nur einigermaßen in der Welt bewegt. Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe; Reinigung ohne Bereicherung erweist sich öfters geistlos: denn es ist nichts bequemer als von dem Inhalt absehen, und auf den Ausdruck passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern aus was für Elementen er bestehe, der geistlose hat gut rein sprechen da er nichts zu sagen hat. Wie sollte er fühlen welches kümmerliche Surrogat er an der Stelle eines bedeutenden Wortes

114

9. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

gelten läßt, da ihm jenes Wort nie lebendig war, weil er nichts dabey dachte. Es giebt gar viele Arten von Reinigung und Bereicherung, die eigentlich alle zusammengreifen müssen wenn die Sprache lebendig wachsen soll. Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen aus denen dieses Leben hervordringt, und sollten sie in ihrer Heftigkeit auch etwas Bergschutt mitfuhren, er setzt sich zu Boden und die reine Welle fließt darüber her. 6

9.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2 3

4

5

6

Gemeint ist der Aufsatz „Neu-deutsche religiös-patriotische Kunst", der im zweiten Heft des ersten Jahrgangs von „Über Kunst und Alterthum" erschienen war und sich u. a. mit Wilhelm Heinrich Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" als Zeugnis der „alterthümlenden, christelnden Kunst" der Romantiker beschäftigte. Siehe Bibl. A 55. Die „treuen Bemerkungen" sind durchaus kritisch gegen die „sprachreinigenden und neuernden Männer" gerichtet, enthalten sich aber jeder persönlichen Polemik. Namen nennt er nur, wo er loben kann, und sei es Jahn. Kritikwürdiges geht, auch wenn Ruckstuhl wörtlich zitiert, immer auf das Konto Ungenannter. Der klassische Philologe Franz Passow (1786 — 1833) hatte 1807 das Hauptwerk des Johannes Sekundus „Basia" (Utrecht 1539) übersetzt und herausgegeben. Im gleichen Jahr kam er für drei Jahre als Professor am Gymnasium nach Weimar. 1813 erschien ein Aufsatz von ihm mit dem Titel „Sprachkunde. Bruchstücke über Sprachenmischung" in „Die Musen" (2. Jg., 3. Bd., 360—376), in dem er sich mit Kolbe (vgl. Kap. 3 in diesem Band) auseinandersetzte. 1818/19 spielte er, inzwischen Professor in Breslau, eine führende Rolle in der sogenannten „Breslauer Tumfehde", in deren Verlauf er als Förderer des Turnens im Sinne Jahns zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Theobald Marchand (1741 - 1 8 0 0 ) war von 1771 - 1 7 7 7 Schauspieldirektor in Frankfurt, wo er u. a. die komische Oper „La Belle et la Bete" von Andre E. M. Gretry (1741 — 1813) unter dem Titel „Die Schöne bei dem Ungeheuer" auf Deutsch spielte. 1775 inszenierte er Goethes Singspiel „Erwin und Elmire" mit der Musik von Johann Andre. Genaueres findet man in der „kleinen Abschweifung" über das damalige Opernwesen im 17. Buch von „Dichtung und Wahrheit". Ob in der Tat die Tätigkeit Marchands als Anfangspunkt der vorweg skizzierten Entwicklung angesehen werden kann, vermag ich mangels Kompetenz nicht zu entscheiden. Hier dürfte vor allem Campe gemeint sein, dessen preisgekrönte Schrift von 1793 den Titel „Über die Reinigkeit und Bereicherung der Deutschen Sprache" trug. Will man Goethes Metaphorik weiterspinnen, so war er es, der den Harzer Bergschutt, den die Oker in Braunschweig mit sich führte, aufwirbelte, statt ihn sich setzen zu lassen; denn so heißt es in Goethes und Schillers „Xenien" über ihn: „An des Eridanus Ufer umgeht mir die furchtbare Waschfrau,/Welche die Sprache des Teut säubert mit Lauge und Sand!". Oder auch: „Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern;/ Nun, so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht."

10. Ernst Moritz Arndt (1769-1860) 10.1. Einführende Bemerkungen Den vierten Band seines Werkes „Geist der Zeit", dessen erster schon 1807 erschienen war, veröffentlichte Arndt 1818, in dem Jahr, in dem er eine Professur für Geschichte an der Universität Bonn erhalten hatte, die er allerdings, nicht zuletzt wegen dieses Buches, nicht lange behalten sollte. Zunächst trug es ihm, auf der Grundlage einer Kabinettsordre Friedrich III., eine Verwarnung des Kurators der Universität ein, verbunden mit der Aufforderung, die Verbreitung der in seinem Buch entwickelten Grundsätze in der akademischen Lehre zu unterlassen. Konkreter Grund allerhöchsten Mißfallens dürften vor allem die kritischen Bemerkungen zum Polizei- und Spitzelwesen im dritten Kapitel („Verfassung und Preßfreiheit", 75 — 200) gewesen sein; doch lag das Ärgernis tiefer in den Grundsätzen, die Arndt aus seiner Auffassung vom „teutschen Volke" entwickelte. In ihnen nehmen wir heute vornehmlich die romantische Idealisierung und, nach außen gerichtet, die nationalistische, wenn nicht chauvinistische Zielrichtung wahr, die die Zeit der Befreiungskriege bestimmte und u. a. im zeitgenössischen Purismus ihren Ausdruck fand. Sie enthielten jedoch mit der Betonung des Deutschen im Gegensatz zum Einzelstaatlichen auch eine antidynastische und mit der Betonung des Volkes eine ausgeprägt demokratische Komponente, die den herrschenden Mächten zu Beginn der Restauration mit Grund verdächtig war und schließlich am 14. Juli 1819 zur Verhaftung Arndts und zur Beschlagnahme seiner Manuskripte führte. Anlaß oder Vorwand war, wie bei Jahn und anderen, die Ermordung Kotzebues. Nach Abschluß der Untersuchungen wurde Arndt 1820 von seinem Amt suspendiert. Das Vorlesungsverbot galt 20 Jahre, bis es 1840 von Friedrich Wilhelm IV. aufgehoben wurde. Der vierte Teil von „Geist der Zeit" enthält als Kap. VIII (397 — 452) unter dem Titel „Unsere Sprache und ihr Studium" einen der wichtigsten Texte Arndts zur Sprache, den er im gleichen Jahr in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Hermann. Zeitschrift von und für Westfalen" (Hagen 1818) auch selbständig veröffentlichte. Da in diesen Band nur ein Auszug aufgenommen wurde, sei der Inhalt des gesamten Textes kurz skizziert. Arndt deutet zunächst sprachphilosophisch-allgemein sein Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Volk an, demzufolge jede Sprache „das Urbild eines in einer großen Genossenschaft abgeschlossenen eigenthümlichen Seyns und Lebens" (400) ist und im „inneren Wesen" der Sprache „zugleich das eigenthümlichste innigste Leben der verschiedenen Völker verschlossen liegt" (ebda.). Diesen, den

116

10. Emst Moritz Arndt (1769-1860)

Zeitgenossen in der Tradition Herders schon vertrauten Gedanken verknüpft Arndt mit der These vom Deutschen als Ursprache und skizziert im Anschluß an Fichte (vgl. den Text in diesem Band) die besondere Ausprägung, die das Verhältnis von Sprache und Leben bei dem Volke annimmt, das den Vorzug genießt, eine Ursprache zu besitzen (401—404). Die Vorzüge bietet die Ursprache allerdings nur als Möglichkeit. Das wird in Arndts Abriß der Geschichte der deutschen Sprache (404 — 414) deutlich, die er im wesentlichen in drei Epochen gliedert. Die erste Epoche umgreift die — positiv bewertete Ausbildung der deutschen Sprache zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert und findet in Leben und Werk Luthers ihren überragenden Höhepunkt. Es folgen das allmähliche Absinken von Volk und Sprache in die „Elendigkeit und Jämmerlichkeit" (407) bis 1660 und der Zustand „völligster Krätze" (407) während der Herrschaft französischer Literatur und Sprache zwischen 1660 und 1750. Die dritte Periode zeigt, erneut aufsteigend, die „glücklichen und unglücklichen Bestrebungen teutscher Männer" (410), die deutsche Sprache wieder zu Ehren zu bringen. Zu ihnen zählt Arndt zwischen 1740 und 1770 besonders Klopstock, seit 1770 Goethe, Schiller und Herder. Was der deutschen Sprache noch fehlt, beschreibt er dann in den hier abgedruckten Passagen (414—423), in denen er, eingeleitet mit der Frage „Soll ich nun sagen, wie es mit der teutschen Sprache steht?", den gegenwärtigen Zustand der deutschen Sprache beurteilt. Er ist zum einen gekennzeichnet durch die Volksferne der Gelehrten und Künstler, die sie daran hindert, Kraft aus den „Wurzeln der Spracherde" zu gewinnen, zum anderen aber auch durch den Mangel eines öffentlichen Volkslebens in Deutschland. Die Sprache kann „mit dem Volke nur auf dem politischen Wege zu ihrer alten Kraft Fülle und Einfalt wiedergenesen." Verweist diese Einschätzung auf den Weg der politischen und gesellschaftlichen Reformen, so entwickelt Arndt im Schlußteil, nach einem erneuten historischen Exkurs (423 —430), auch direkt auf die Sprache bezogene Handlungsperspektiven, die dem Ziel dienen können, die Muttersprache zu reinigen, zu bessern, zu bereichern und zu erheben. Gegen die wiederum eher gelehrte und volksferne Praxis der zeitgenössischen Sprachreiniger lenkt er den Blick auf den Reichtum der Dialekte, insbesondere der „sassischen Mundart" und der nordgermanischen Sprachen, sowie der Sprachdenkmäler des Mittelalters und schlägt zur Sammlung und Erforschung dieser Zeugnisse die Bildung einer „Gesellschaft für die Sprache" vor, „die sich über ganz Teutschland von den Alpen und der Maaß und Mosel bis an die Slie und Memel (441) verbreiten soll".

10.2. Literaturhinweise Textvorlage Ernst Moritz Arndt: Geist der Zeit. IV. Theil. Berlin: Reimer 1818, 4 1 4 - 4 2 3 .

10.3. Text

117

Weitere Literatur Α: Germanien und Europa. Altona: Hammerich 1803. Ideen über die höchste historische Ansicht der Sprache, entwickelt in einer Rede, am hohen Geburtstagsfeste unsers allerdurchlauchtigsten, großmächtigsten Königs und Herrn Gustav IV. Adolphs, am lsten November 1804. Greifswald: Eckhardt 1804. Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache. Leipzig: Fleischer 1813. Entwurf einer teutschen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Eichenberg 1814. Fragen und Antworten aus teutschen Alterthümern und teutscher Sprache. In: Jahrbuch der Preußischen Rhein-Universität Bonn 1 (1819), 2 — 3. Heft, 99-158. Winke aus germanischen Sprachen, Gebräuchen und Gesetzen. In: Rheinisches Museum für Jurisprudenz, Philologie, Geschichte und griechische Philosophie 2 (1828), 2 4 2 - 2 5 2 , 3 4 4 - 3 6 6 . Kleinere Sprachbemerkungen aus und zu Büchern. In: Ebda., 484—494. B: Albrecht, Erhard: Zum Zusammenhang von Weltanschauung, Politik und Sprache in den Arbeiten Ernst Moritz Arndts. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34 (1985), 3 - 4 .

10.3. Text * S o l l i c h n u n s a g e n , w i e es m i t d e r t e u t s c h e n S p r a c h e s t e h t ? ( 1 8 1 8 ) [...] Soll ich nun sagen, wie es mit der teutschen Sprache steht? Sie hat sich freilich seit den Jahren 1730 und 1740 von dem fremden Aussatz wieder gereinigt. 1 Aber jene Arbeit war nur die Wegschaffung des Uebels, sie war noch nicht die wiederhergestellte Gesundheit und wiedergeborne Stärke. Eines muß ich hier sagen, was unserer Sprache widerfahren ist. Sie ist freilich in den letzten achtzig Jahren sehr ausgebildet und besonders zum wissenschaftlichen Gebrauche geschickt gemacht worden; aber diese Ausbildung und Bearbeitung geschah fast bloß nach der Einen Seite hin, sie geschah fast allein von Gelehrten und — was schlimmer ist — von sogenannten Stubengelehrten. Erst in den letzten dreißig Jahren ist es hie und da anders geworden. Von den höheren Ständen war die Muttersprache als eine gemeine Magd fast ganz ausgeschlossen und im Volke unten war das Leben kein fröhliches schöpferisches sich selbst fühlendes und erkennendes Leben mehr. So ist sie denn durch diese Verhältnisse, mögte man sagen, oft zu fein und zu geistig geworden, in vieler Hinsicht fast zu dünn und luftig für das unmittelbare Leben

118

10. Ernst Moritz Arndt (1769-1860)

der Dichtkunst und Rede, sie hat an Fülle Gediegenheit und Schwere verloren, was sie an Gewandtheit Bestimmtheit und Leichtigkeit gewonnen hat: sie ist für eine Sprache des unmittelbaren Seyns mehr eine Sprache des vermittelnden Begriffs geworden. Dies Schicksal hat die teutsche Sprache mit mehreren andern Sprachen gemein. Wann das Zugesellige und Zuwissenschaftliche sich einer Sprache bemächtigt, verschwindet der feste Kern die kühne Fülle und die unbewußte Tiefe und sinkt wieder in den Schooß des einfaltigen Volks zurück. So ist es uns auch geschehen. Was für diesen Kreis zu voll und zu schwer war, ist wieder zum Volke versunken; und das wage ich ohne Uebertreibung zu sagen, daß wegen des im Ganzen armen trüben unlustigen bedingten einseitigen und abgeschiedenen teutschen Lebens, welches sich in dem letzten Jahrhundert gemacht hat, viel köstlicher Klang und Sang und viele der herrlichsten Sprichwörter Redensarten und Wörter ganz aus der Gemeinschaft des Lebens entwichen sind, eben weil das Leben kein gemeinsames teutsches Leben war und weil diejenigen Klassen, welche die Sprache vorzugsweise erhalten und weiter führen sollten, zu hoch über oder — wenn man will — zu tief unter dem Volke standen und weil also nicht aus dem großen Urborn die ganze volle Fluth der Gefühle Bilder und Anschauungen des Lebens und seines Urbildes der Sprache von dem Volke zu ihnen immer hin und her fluthete. So ist eine gewisse Schwächlichkeit Weitschweifigkeit Unbestimmtheit Künstlichkeit, die unsern früheren Zeiten ganz fremd war und die dem eigensten Gemüthe unsers Volkes auch noch fremd ist, in die Sprache gekommen, die sich bei einem großen Schein von Reichthum jetzt doch in einem sehr engen Kreise von Wörtern bewegt und zwar größtentheils von solchen Wörtern, die durch die Sprache der Schulen und Wissenschaften meistens schon vergeistigte gespenstische und dünne Worte geworden sind, welche, weil ihnen die sinnliche und urgeborne Schwere ausgezogen ist, nur noch sehr wenig von unmittelbarem Leben und kräftiger Unschuld und unbewußter Einfalt haben. Fast mehr als bei andern Völkern geht die teutsche Literatur über das Volk hinaus; viele Bücher sind in teutscher Sprache geschrieben, aber so geschrieben, daß sie auch ein jeder Allerweltmensch geschrieben haben könnte. Dies ist nicht bloß ein Zeichen unserer Wissenschaftlichkeit und Idealität, die man ja eher loben als tadeln müßte, sondern ein lange schon bestandener Brauch, kraft dessen die Männer der gelehrten Innung sich manche Jahrzehende gebärdet haben, als brauche der eigentliche Gelehrte gar kein Mensch des Volks noch für das Volk zu seyn. Ein Irrthum, den sowohl die Gelehrten als das Volk haben büßen müssen. Der Teutsche rühmt sich vorzüglich der teutschen Philosophie, vielleicht nicht mit Unrecht; aber diese Philosophie hat die Sprache oft auf das übermüthigste gebraucht und gemisbraucht, sie ist häufig eine wahre Sprachverderberin und Sprachverwirrerin und Wörterzersetzerin gewesen und hat manchen Wörtern für immer den Nerv ausgeschnitten, auch so willkührlichen und zum Theil so verkehrten Gebrauch eingeführt, daß sie das Schwankende Unbestimmte Lichtlose und Farblose kurz das Gespenstische, was uns aus so vielen teutschen Büchern anwehet, immer noch hat vermehren geholfen. So viel ist einmal gewiß,

10.3. Text

119

daß die Wissenschaft und Philosophie ihrer Natur nach feine Schröterinnen und Beutlerinnen sind, welche die groben und schweren Körner der Sprache zermalmen und als das feinste Sicht= und Beutelmehl auslaufen lassen. Wenn diese sich nun selbst die Gemeinschaft mit dem Volke abschneiden, welches, wann der alte Vorrath zermalen und zerrieben ist, die groben und schweren Körner eben immer neu liefern muß, so muß die Sprache ja wohl endlich in eitel zermalmtes Gries verwandelt werden. Auf einem solchen Wege waren wir und sind wir zum Theil noch. Uns ist begegnet, was allen Völkern auf gewissen Bildungsstufen nothwendig begegnen muß. Wenn nicht in dem Volke selbst ein gewisser Sinn der Einfalt und Großheit sich erhebt und den zu sehr verfeinten Stoff in sich schluckt und gröberen und tüchtigeren aus seinem unerschöpflichen Vorrathe wieder herausgiebt, so verschwinden bei aller der feinen Spaltung und Reibung und Glättung und Verzierung der Wörter und Perioden, bei aller Zierlichkeit und Feinheit, der man sich mehr und mehr befleißigt, endlich die unschuldigen und frischen Geister, die sonst in der Sprache lebten, die unmittelbaren großen und kühnen Gedankenbilder, die man mit dem Klange der Worte sonst noch faßte; die Sprache wird ein kalter matter Zierling und Schwächling und ist auf ewig todt für alle stolzen und freien Schwünge und Flüge, womit sie sich in ihrer Jugend fortschnellte. Werden wir zu einer solchen Gränze gelangen, welche zugleich das Nichtweiter des teutschen Lebens und Strebens wäre? Ich hoffe es nicht. Mir kömmt vor, als sey auch der Sprache die Morgendämmerung einer schöneren Zeit aufgegangen. Sie kann mit dem Volke nur auf dem politischen Wege zu ihrer alten Kraft Fülle und Einfalt wiedergenesen. Der Krätze ist sie freilich lange los gewesen, höchstens sitzt hie und da eine einzelne Spur davon an ihr; aber die verlorne alte Frische Freudigkeit und Einfalt hat sie noch nicht wieder erlangt. Wenn die Teutschen erlangen, was wir von Gott hoffen, daß sie es erlangen werden, wenn sie ein öffentliches Leben erlangen, das die meisten Polizeistuben und Schreibstuben zuschließt und die Beamten und Gelehrten aus halben Scheinwesen, wo man oft zweifeln konnte, ob sie auch in irdischen Leibern steckten, in Männer der That und der Rede verwandelt; wenn wir ein öffentliches Leben erlangen, wozu alle Klassen des Volks in ihrem Kreise mit gehören, wo das unmittelbare Wort regiert für die todte Schreibfeder; wenn jemals die Zeit wieder kömmt, wo es Volksfreuden Volksjubel und Volksfeste giebt, wo alle Stände alle Klassen sich zusammenleben und zusammenlieben, dann ist ein neuer Tag für die theure Muttersprache aufgegangen, dann wird wie aus einem unsichtbaren Zauber mancher Ton und mancher Laut manches herrliche Bild und manche todte Idee, die mit ihren Hüllen ihren Worten jetzt tief vergraben liegen, wieder an das Licht des Lebens hervorgrünen und hervorblühen. Denn ich sage es zum dritten und vierten Male: je frischer das Volk strebet und blühet, desto frischer strebet und blühet auch die Sprache. Den Trost haben wir wenigstens immer, einen gewaltigen Trost für unser Daseyn und für unsere geistige Bildung, daß die Wurzeln unserer Sprache bei uns selbst liegen und durch die lebendige

120

10. Ernst Moritz Arndt ( 1 7 6 9 - 1 8 6 0 )

Fluth, die in glücklichen Zeiten aus dem ganzen Volke hervorbraust, begossen und erfrischt und zum Triebe neuer Blätter und Blüthen gereitzt und gelockt werden. Und welch ein Reichthum und welche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Töne Farben Schatten und Lichter nach dem Sinn und Gemüthe eines jeden verschiedenen teutschen Volksstammes! und das von den Alpen bis zu den Küsten Norwegens und Islands hinab. Denn auch da giebt es Wurzeln, die für uns in dem alten Germanien am Rhein und an der Elbe einmal grünen und Sprossen und Blüthen treiben können. Ich habe von gespenstischer Dünnheit der Sprache gesprochen, von zu großer Verflüchtigung und Vergeistigung derselben von der Verschleifung und Zerstörung des Lebendigen Unmittelbaren Dichterischen in ihr. Will ich denn das Streben so vieler trefflichen teutschen Männer, die uns seit achtzig Jahren in Kunst und Wissenschaft verherrlicht haben, damit wegleugnen? will ich überhaupt behaupten, daß die überwiegende Geistigkeit in den Teutschen ein Gebrechen sey, daß nicht auch jede Sprache, insofern sie eine gebildete Sprache heissen soll, eine gewisse geistige Feinheit und Dünnheit haben muß, um gewisse zartere und feinere Seiten und Verhältnisse des Gemüthes und der Idee abzubilden, die in jenen früheren und einfaltigeren Zeiten noch nicht erscheinen können, wo die Sprache im großen vollen Klange und reisigen Heldentritt fast ganz unmittelbares Leben und Dichtkunst ist, wo sie aber in Klarheit Bestimmtheit und Gewandtheit noch gar nicht in Prose sprechen kann? Bewahre Gott! das will ich nicht. Ich habe nur andeuten wollen, wie so Feines überhaupt angedeutet werden kann, das einem wie ein kaum erfaßlicher Schatten immer unter den Händen zerrinnt, daß es unserer Sprache und Bildung in dem letzten Jahrhundert an innerem Gleichgewicht gefehlt hat und bis diesen Tag fehlt, weil unsre Gelehrten und Künstler meistens in einer dem Volke zu fernen Höhe einseitig schwebten und die rechte antäische ergänzende und stärkende Kraft nicht aus den Wurzeln der Spracherde gewinnen konnten und weil überhaupt in dem Volke das fröhliche waidliche muthige freie tapfere Leben und Wirken nicht war, das aus derselben immer frische Knospen und Blüthen der Gefühle und Ideen hervortreiben und so das Sprachgebiet bereichern oder edle Todte, die nur in einem Scheintode lagen und noch nicht von der Verwesung ergriffen waren, wieder auferwecken konnte [...]

10.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

Diese Reinigung stellt Arndt direkt vor der abgedruckten Passage (410—414) dar; vgl. meine Skizze in 10.1.

11. Jacob Grimm (1785-1863) 11.1. Einführende Bemerkungen Die gesamte Sprachreflexion und Sprachkritik des 19. Jahrhunderts durchzieht, wie heute, immer auch ein Element der Kritik der Kritik, in dem die Positionen geklärt und begründet werden, von denen aus Urteile über den Zustand der Sprache und die Möglichkeit ihrer Veränderung gefällt werden. Insbesondere geht es um die durchaus leidenschaftlich diskutierte Frage, ob Sprache überhaupt regelnder Eingriffe bedürftig sei. In diesem Streit ist Grimm der prominenteste und wirkungsvollste Vertreter der historischen Betrachtungsweise, die ihn zu einer entschiedenen Kritik an allen Puristen, Sprachverbesserern und Sprachpedanten führt. Der hier abgedruckte Aufsatz ist ein frühes Beispiel dafür, doch beschäftigte ihn diese Auseinandersetzung sein ganzes Leben; z. B. in seiner Rede „Über das Pedantische in der deutschen Sprache" in der Akademie der Wissenschaften 1847 und dem Nachtrag „Die Sprachpedanten" ein Jahr später. Eine ähnliche Zielrichtung hat der Beitrag von Wackernagel in diesem Band. Als Widerpart gilt in der wissenschaftshistorischen Literatur vor allem Becker; doch sollte der Leser dieses Bandes eher Schopenhauer zum Vergleich heranziehen. In ihren Auffassungen deutlich unterschieden, sind sie sich in der kompromißlosen Haltung ähnlich, an der ablesbar ist, was für beide auf dem Spiel steht. Konkreter Anlaß für Grimms Stellungnahme sind die Untersuchungen Jean Pauls zu den sogenannten Doppelwörtern, die ihn deshalb mehr erregten, als was „die gewöhnlichen Puristen schreiben", weil „jetzt ein verehrter und weitverbreiteter Schriftsteller mit schneidenderen Waffen verbotene Streiche führt" und weil Jean Paul es nicht bei der Analyse bewenden ließ, sondern allen Ernstes anfing, „seine eigenen Werke zu beschädigen." Grimm nutzte jedoch die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Sprachverbesserern, und aus diesem Grunde ist der Text in die Sammlung aufgenommen worden.

11.2. Literaturhinweise Textvorlage Jacob Grimm: Jean Paul's neuliche Vorschläge, die Zusammensetzung der deutschen Substantive betreffend. In: Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur 1819, 2. Stück, 2 7 - 3 3 .

122

11. Jacob Grimm (1785-1863)

Weitere Literatur A: Deutsche Grammatik. 4 Bde. Göttingen: Dieterich 1819—1837. Über das Pedantische in der deutschen Sprache. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1847. Berlin: Dümmler 1847, 187-209. Die Sprachpedanten. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 6 (1848), 545 — 547. Geschichte der deutschen Sprache. Leipzig: S. Hirzel 1848. (mit Wilhelm Grimm) Deutsches Wörterbuch. Erster Band. Leipzig: S. Hirzel 1854. Kleinere Schriften. Bde. 1 — 5 hrsg. v. Karl Müllenhoff, Bde. 6 —8 v. Eduard Ippel. Berlin: F. Dümmlers Verlagsbuchhandlung 1864—1890. B: Bahner/Neumann: [Bibl. C 2]. Nauman, Bernd: Johann Christoph Adelungs und Jacob Grimms Auffassungen von Sprachentstehung und Sprachentwicklung. In: Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistenverbandes 1984. Hrsg. v. Georg Stötzel. Berlin, New York 1985, Bd. 1, 124-133. Wyss, U.: Der wilde Philologe. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979.

11.3. Text J e a n P a u l ' s n e u l i c h e V o r s c h l ä g e , die Z u s a m m e n s e t z u n g der d e u t s c h e n S u b s t a n t i v e b e t r e f f e n d (1819) Jean Paul hat im August des Morgenblatts zwölf Briefe herausgegeben, worin er die Zusammenfügungen der sogenannten Doppelwörter untersucht und hauptsächlich dem so häufig dazwischentretenden s den Krieg macht.1 Seine gefundene Regel ist aber gänzlich falsch und kann nicht zutreffen, weil er die Sprache wie etwas von heute betrachtet, folglich den Ursprung und Fortgang ihrer mannigfaltigen Aeußerungen zu verstehen nicht im Stande ist. Er sieht bunte Verwirrung und Unzusammenhang da, wo gerade, wenn man sich gewöhnt hat, das nie still Gestandene und nie still Stehende ins Auge zu fassen, eine unendlich einfache, weise und tiefsinnige Austheilung der Lichter und Farben mehr und mehr erkannt werden wird. Die schwierige und noch vieler Aufklärung bedürftige Lehre von der deutschen Wortzusammensetzung kann nicht auf wenigen Seiten abgehandelt werden; ich hoffe, meine Vorstellung davon einmal umständlich dem Publicum vorzulegen.2 Vorläufig gilt es mir darum, die Unhaltbarkeit der Jean=Paul'schen Grundsätze

11.3. Text

123

durch einige kürzere Bemerkungen darzuthun; ich setze dabei voraus, daß Lesern, welche der Gegenstand anspricht, jene Briefe nicht unbekannt geblieben sind. Daß der Sprache Gewalt geschehe, sobald man das s aus der Mitte vieler Wortzusammensetzungen wegschneidet, läßt sich vor allen Dingen schon fühlen. Ich will aus der Menge einige Beispiele geben; man vergleiche: Schiffbruch, Schiffs» hauptmann; Blutdurst Bluts=freund; Vogelfang, Vogels=berg; Amt=mann, Amts* diener; Land=mann, Lands=mann; Land=weg, Lands=gebrauch; glückselig, Glucks= kind; Königreich, Königsberg; Kaiser=gulden, Kaiserslautern. Selbst ein Mensch, der weder lesen noch schreiben kann, wird den nöthigen Unterschied kaum verfehlen, viel weniger die Fälle umdrehen und sagen: Bluts=durst, Blut=freund oder Königs=reich und Königsberg. Die Verbindung der beiden Substantive in dem ersten Fall ist augenscheinlich allgemeiner, loser, in dem zweiten, durch die Setzung des ersten Worts in den Genitiv, näher, bestimmter oder besonderer. Der Kaiser* gulden gilt unter allen Kaisern, aber Kaiserslautern hat von einem gewissen, der daselbst Hof gehalten (ich glaube Friedrich Rothbart), seinen Namen. Feuerstein bedeutet einen Stein, woraus man Feuer schlägt, Wassermann einen Nix; allein Feuersbrunst drückt das Brennen eines Feuers, Wassersnoth die Noth eines steigenden Wassers aus. Wer die Fähigkeit, einen solchen Unterschied zu bezeichnen, unserer Sprache nehmen will, tödtet in ihr eine köstliche, in fremden Sprachen oft vermißte Eigenschaft. Der Lateiner vermag wohl AU — CUPIUM (AVI — CUPIUM) NAU — F R A G I U M (NAVI — F R A G I U M ) zu sagen, im bestimmteren Ausdruck muß er MONS AVIUM, DOMINUS NAVIS sagen, oder sich des griechischen ναύαρχος bedienen. Einen Probstein in vielen Fällen kann auch abgeben, daß man die Composition in Adjective aufzulösen versuche, so wird sich die mit dem Genitiv entweder gar nicht in die Verwandlung fugen, oder aber ein verschiedenes Beiwort fodern, ζ. B. Herzeleid könnte ersetzt werden durch herzliches Leid, Herzensangst hingegen will mehr sagen, es ist die Angst meines oder deines Herzens. Die Genetivcomposita enthalten nur angehängte, leibliche Genitive, die man allenfalls abtrennen dürfte, ohne eben den Sinn zu ändern. Schriebe man wirklich: die Noth des Wassers, die Brunst des Feuers; so wurde sich gegen das s keiner seiner Verfolger auflehnen; setzt man aber den Genitiv voraus und läßt nach alter Weise, sogar zierlich, den schleppenden Artikel weg, ist er gleich bei der Hand, sein gebackenes Feuer=brunst und Wasser=noth vorzubringen. Die Sprachreiniger werden das Störende (man könnte auch sagen: Alberne und Sinnlose) ihrer neugemachten Wörter niemandem ausreden, der etwas auf sein Deutsch hält. Was vermögen sie nun für sich anzuführen? Grammatische Gründe wenig oder keine, d. h. scheinbare. Es soll bald das s unpassend seyn (ζ. B. in Liebesdienst, Warnungstafel), weil es blos dem Genitiv der männlichen und neutralen Hauptwörter, nicht aber der weiblichen zustehe; bald die Endung — en oder der Umlaut fehlerhaft, (ζ. B. in Rosen=blatt, Augen=lied, Gänsefuß) weil nur von einer Rose und Gans, nicht von mehrern, die Rede sey.

124

11. Jacob Grimm ( 1 7 8 5 - 1 8 6 3 )

Dergleichen und andere oberflächliche Annahmen verschwinden, sobald man die mannigfaltigen Endungen der altdeutschen Declination und die freiere Wortzusammensetzung kennen lernt, wovon der heutige Zustand unserer Sprache nur noch Trümmer aufzuweisen hat, und sobald man den fur die Geschichte der Grammatik wichtigen Satz auffaßt, daß in der Mitte und Wärme der Composition zweier Substantive sich gerade Endungen und Formen erhalten haben können, die allein stehend längst verloren sind. Die jetzige Declination weiß nur von viererlei Casus und hat dafür häufig gleiche Ausgänge. Die alte Sprache hat nicht blos über ein Dutzend Declinationen und in allen schärfer unterschiedene Endungen gehabt, sondern sogar noch mehr Casus, namentlich einen Instrumentalis und Locativ, dergleichen wir aus den slavischen Sprachen kennen, zu handhaben gewußt*. Daraus geht hervor, daß der Genitiv auf s auch Femininen zustehen kann, daß die Endung en und der Umlaut auch dem Genitiv Sing, angehören und daß die Sprache eben so gut mit dem Nominativ, Dativ, Accusativ und vielleicht andern Fällen zusammensetzen könne, als mit dem Genitiv. Hierzu kommt, daß die Geschlechter manchmal wechseln, h e i t z. B., womit wir so viele weibliche Wörter bilden, war ehedem männlich; ferner wird sich aus verwandten Sprachen, z. B. der schwedischen und dänischen, die das s aus dem Gen. Sg. selbst in den Gen. PI. gezogen haben, die freiere Anwendung unseres s in der Wortzusammensetzung auch von dieser Seite beleuchten lassen. Unser jetziger Genitiv ist auch im Syntax von beschränkterem Umfange. Die Beurtheilung der heutigen Zusammensetzungen wird also immer fehlschlagen oder im Dunkel tappen, wenn man nicht alle Aeußerungen der alten Sprache ubersehen kann. Zum Beispiel diene N a c h t i g a l l . Hätte sich diese wohllautende Form nicht zufällig bewahrt, so würde an und für sich: Nacht=gall oder auch Nächte=gall, genau dieselbe Composition zeigen und dem Gang unserer heutigen Endungen sogar angemessener scheinen. Denn der Ablativ von Nacht lautet ebenfalls Nacht, statt daß im 8ten oder 9ten Jahrhundert NAHT den Abi. NAHTI bildete. Ich glaube nämlich; daß Nachtigall den bei Nacht singenden Vogel ausdrücken soll, galen, gellen heißt singen, rufen. Aehnlich nannten die Griechen νυκτι — κοραξ den Nachts krächzenden, νυκτι — πορος einen zu Nacht reisenden u. s. w. Belege von Wörtern, die mit dem Genitiv (endige er nun, wie er möge) zusammengefügt sind, lassen sich aus gothischen, altdeutschen und altnordischen Quellen, ebenwohl aus den neunordischen, zahllose anführen. Wie viel Ortsnamen sind nicht so gebildet. In G ä n s e f u ß , S c h n e c k e n h a u s ist Gänse* und Schnecken* ganz unleugbar der Genitiv des Singulars; ein Schwabe oder Baier jener Zeit würde gesprochen und geschrieben haben: GANSI-FUOZ, SNEKKIN-HUS; das Femininum GANS bekommt im Gen. GANSI, woraus sich allmälig entwickelt: GENSI, GENSE, GÄNSE; das Masculinum SNEKKO im Gen. S N E K K I N , woraus SNEKKEN, SCHNECKEN und * Ich suche diese Entdeckung in meiner deutschen Grammatik, deren Iter Theil in ganz kurzem die Presse verlißt, näher zu beweisen.3

11.3. Text

125

zuletzt gar ein Femin. wird. Sämmtliche Veränderungen lassen sich historisch aufs strengste erweisen. Gehe ich Jean Paul's zwölf unterschiedene Classen durch, so finde ich, daß er überall Wörter zusammenmengt, die, geschichtlich betrachtet, durchaus nicht gleichgesetzt werden durften. Zum Beispiel, wenn er die heutigestags einsilbigen, den Plur. en bildenden aufführt, folglich: T h a t , G r a f , H e l d , F r a u , B e t t , O h r unter einen Hut bringt; so darf man keck behaupten, daß früherhin k e i n e i n z i g e s dieser Wörter mit dem andern in einer und derselben Declination gestanden hat. TAT bildete den Gen. Sing, TATI, den Nom. PI. TATI; GRAFO, Gen. GRAFIN, Nom. P I . GRAFUN; HELID, G e n . HELIDES, N o m . P I . HELIDA; FROWA, G e n . FROWUN, N o m . P I . FROWUN; BETTI, G e n . BETTES, N o m . P I . BETTI; ORA, G e n . ORIN, N o m . P I . ORUN.

Wie in aller Welt soll bei dieser ursprünglichen Verschiedenheit ihr heutiger auf das bloße en zusammengesunkener Nom. PI. über die Art ihrer Verbindung mit andern Substantiven entscheiden können! Sagen wir nämlich: Gräfenhohn, Frauen= zimmer, Ohren=brausen, so hat sich darin der baare, alte Gen. Sing, erhalten. Manchmal fehlt der Genitiv zum Schein, ist aber in der That vorhanden; daß man z. B. K i n d s = m o r d sagt, gleichwohl daneben V a t e r = m o r d , wird keinen befremden, der da weiß, daß die alte Sprache den Gen. V a t e r und nicht V a t e r s bildet. Eine alte Zusammenfügung ist sicher so ehrenwerth, daß man sie nicht nach dem Maaßstab einer neuen, verschrumpften und abgeänderten Declination messen soll. Die starke Seite unserer Sprachbesserer ist also nicht die Grammatik, d. h. die wahre, geschichtliche; wer auf ihrem Wege geht, wird mit jedem Schritte bescheidener und scheut sich irgend etwas Lebendiges in der Sprache anzurühren. Er wird nicht behaupten, daß sie still stehen müsse, welches bei ihrer ewigen Bildsamkeit ganz unmöglich wäre, sondern nur ihre natürlichen Gesetze gegen jede Beeinträchtigung suchen zu vertheidigen. Die deutsche Sprache hat sich seit den letzten siebenzig oder achtzig Jahren in einer glücklichen, gedeihenden Verfassung befunden und mit aller Macht aus der vorausgegangenen Schmach erhoben. Dieses verdanken wir den Werken großer Dichter und Schriftsteller; wir würden gleichwohl selbst diese nicht mehr lesen können, sondern übersetzen müssen, wenn sich die Sprache die plötzlichen und sonderbaren Einfälle gefallen zu lassen brauchte, womit uns unzufriedene Puristen 4 zu überschwemmen drohen. Es sind, wie ich mir vorstelle, zwei falsch verstandene oder übertriebene Grundsätze, die sie zu aller solcher Noth treiben. Das erste ist der Grundsatz das Wohllauts. Unsere Sprache hat dessen so viel, als sie verträgt; ihr Wesen ist einmal nicht weichlich, vielmehr kräftig und stark; die früheren Vollaute können nicht zurückgebracht werden; dennoch thut ihr das Ueberwiegen der Consonanten gar nicht weh, sondern sie hat noch die Fülle milder und anmuthiger Worte. Der ächte Wohllaut kommt mir vor, wie ein unbewußtes Erröthen, wie ein Durchscheinen gesunder Farbe; der falsche, aufgedrungene Wohllaut wirkt gleich einer verderblichen Schminke, statt dessen die natürliche Bläße, Bräune und Magerkeit zehnmal besser stünde. Die innere Bedeutung der Wörter und aller ihrer Theile stehet

126

11. Jacob Grimm (1785-1863)

jederzeit über dem Wohllaut und kein einziges s darf ausgelassen, kein Umlaut verändert werden, wenn jene dadurch im mindesten anders bestimmt werden sollte. Die offene deutliche Geradheit der deutschen Sprache würde am allerersten gefährdet seyn. Der zweite Misbrauch wird getrieben mit dem Grundsatze der Einförmigkeit. Sie ärgern sich an allem, was Ausnahme und Anomalie heißt und sich ihren eingebildeten allgemeinen Regeln zu fügen sträubt; sie suchen ihm ab= oder zuzuthun, so lange bis es den übrigen Mustern gleich wird. Nachdem man das Princip roher Freiheit und Gleichheit in der Politik kennen gelernt hat, scheint es nun ordentlich in der Grammatik nachzuzucken. Auch darin liegt eine Aehnlichkeit, daß man über die anscheinende Unordnung unserer Wörter und Bildungen so gut spotten, über die Unerlernbarkeit unserer Sprache so gut klagen kann, als die Franzosen sich an der Zerstückelung Deutschlands in kleine Gebiete belustigen oder Deutsche mitunter selbst ihre zusammengesetzte ungelenksame Verfassung mit einer leichten und gefälligen zu vertauschen rathen. Gute Deutsche empfinden wohl, was an diesen Unregelmäßigkeiten gehangen hat und immer noch hängt. Die Wortreiniger verfahren beinahe wie jene Schreckensmänner; 5 sie fassen einen Punct starr ins Gesicht, und zerstören, wenn einzelne arme Wörter nicht damit versehen sind, ohn Erbarmen edele und alte Geschlechter von gewisser Form und Zusammensetzung, die sich nicht bequemen wollen, die neue Farbe anzuerkennen. Vielleicht ist es heilsam, ihnen noch eine fernere Analogie aufzudecken, welche zwischen der Sprachrevolution und der politischen statt findet; sie stehn vor einem bodenlosen Abgrund, weil die umzuwälzenden Gegenstände unaufhörlich wachsen und gar kein Ende abzusehen ist, wo der Anfang aus dem bloßen Zufall hergegriffen wurde. An dieser Consequenzmacherei ohne Tiefsinn (ich denke mir Jean Paul in diesem Augenblicke als einen ihnen wildfremden Menschen) pflegen die Puristen gerade zu leiden. Es ist rein zufällig gewesen, daß man sich zuerst an das s in der Wortzusammensetzung gemacht; mit denselben Gründen getraute ich mir beinahe jede Form der deutschen Sprache verdächtig und jedem ihrer Verhältnisse kurzen Proceß zu machen. Gelingt eins, so sehen bald andere auf und erheben sich z. B. gegen das Schwanken des Umlauts oder gegen die hochmüthigen Anomalien der Zeitwörter, als ob man nicht eben so gut sagen sollte von heißen: h i ß , wie von schmeißen: s c h m i ß oder umgekehrt s c h m i e ß und h i e ß . Denn wer lehrt den Fremden, der Deutsch lernen will, den Grund solcher Verschiedenheiten? Leichter ist es abgethan, wenn man alle hartnäckige Ausnahmen vogelfrei erklärt und sie mit dem großen Heere der regelmäßigen Wörter aus dem Felde schlägt. Trifft es sich aber, daß die Gleichheit mit dem Wohllaut in Collision geräth, so wird der letztere allenfalls aufgeopfert, man hat wirklich Rosblatt, Auglied, Hasschwanz und ähnliches vorgeschlagen. 6 Wer in dem allem gegentheiliger Meinung bleibt und an der hergebrachten, wohlerworbenen Verfassung unserer geliebten deutschen Sprache hangen und halten will, der erblickt selbst in den Abweichungen und Unregelmäßigkeiten der

11.4. Anmerkungen des Herausgebers

127

Grammatik ein weises Naturgesetz; auf ihnen Beruht alle Individualität mit. Das, was wir nicht erklären, oder nicht, ohne edlere Theile zu verletzen, abschneiden können, sind nicht Ueberbeine, sechste Dinge, wie sie J. P. nennt, sondern theils angeborene Geberden und Mienen, theils Mäler, Narben und Sommerflecken, an denen sich unser Volksstamm vertraulich erkennt. Gerade sie verleihen jeder Sprache das unlernbare Heimathliche, was mit der Muttermilch gesogen werden und jedwedem Ausländer fremd bleiben muß. Eine Sprache mit einförmigen Gliedern und Regeln wurde so wenig, wie der Anblick einer langweiligen Stadt mit schnurgeraden Gassen und Häusern einer Höhe, auf die Länge befriedigen. Wider das, was die gewöhnlichen Puristen schreiben und drucken lassen, brauchte man sich nicht besonders, oder höchstens gelegentlich zu richten. Das große und gesunde Publicum hat hierin meistens sein richtiges Gefühl behauptet und alle Anmuthungen vorüber schallen lassen. Da aber jetzt ein verehrter und weitverbreiteter Schriftsteller mit schneidenderen Waffen verbotene Streiche fuhrt und der Sprachneuerung das Wort redet, auch zum Zeichen alles Ernstes anfängt, seine eigenen Werke zu beschädigen; so gebührt es sich unverhohlen darüber zu klagen. Eine große Blöße gibt er sich in dem an die Zeitungsschreiber, als die nicht viel Umstände mit der Sprache machen, erlassenen Aufruf, durch ihre Mittel und Wege das von den Reinigern verfertigte Papiergeld anstatt der alten Münze in Umlauf zu setzen, damit der Krieg durch ein schnelles Vorschieben der Massen, wobei kein Volk geschont zu werden braucht, gewonnen werde. Ich erinnere daran, daß ebenfalls Advocaten, Schreiber und ihresgleichen am lautesten gegen das römische Recht und altdeutsche Herkommen und für die neue (früher für die französische) Gesetzgebung schreien, wodurch wir ein faßlicheres und vernünftigeres Recht bekommen sollen. Wer mit mir des Glaubens ist, daß dadurch das wahre und eigentliche deutsche Recht ermatte und elend werde, stimmt gewiß in meinen Wunsch, daß sich die zweite Auflage des Siebenkäs, (mir der liebsten unter allen Jean=Paul'schen Schriften und die ich jetzt mit betrübter Empfindung durchblättere, so viele Stellen sind mir durch die eingeschwärzte Wortziererei ordentlich unheimlich geworden) bald vergreifen und einer dritten Platz machen möge, worin die Lesarten der ersten wieder hergestellt werden; was gar nicht so schwer ist, als der Verfasser meint. 7

11.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

Die „Briefe" Jean Pauls erschienen zwischen dem 1. Aug. und dem 14. Sept. 1818 im „Morgenblatt für gebildete Stände" in Fortsetzungen und fanden in den Zeitungen und Zeitschriften ein lebhaftes Echo. Ergänzt um zwölf Postskripte, in denen sich Jean Paul mit seinen Kritikern auseinandersetzte, veröffentlichte er sie 1820 als Buch (siehe die „Literaturhinweise" in 2.2.). Sein Versprechen löste Grimm mit dem Kapitel „Von der Zusammensetzung" im zweiten Teil der „Deutschen Grammatik" (Göttingen: Diederich 1826, Kap. III/3) ein.

128

11. Jacob Grimm (1785-1863)

3 4

Erschienen 1819. Es ist zu beachten, daß der Begriff des Purismus zu dieser Zeit noch nicht auf die Reinigung von Fremdwörtern eingeengt war und durchaus das, was Grimm weiter unten „Consequenzmacherei ohne Tiefsinn" nennt, mit umfaßte. Für diese „Consequenzmacherei" diente ihm Jean Pauls Krieg gegen das Fugen-S als Beispiel. Gemeint ist also nicht nur der Kampf gegen die Fremdwörter beim 1818 gestorbenen Campe oder bei Arndt und Jahn, sondern erweitert auch die Bestrebungen der 1815 gegründeten „Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache" und des „Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache", der 1817 seine konstituierende Sitzung gehabt hatte. Mitgliedern des Frankfurtischen Gelehrtenvereins hatte Jean Paul sein Manuskript zur Beurteilung vorgelegt. Zu den Gründungsmitgliedern der Berlinischen Gesellschaft gehörte der Pädagoge Christian Hinrich Wolke, der Jean Paul schon einige Jahre vor Veröffentlichung der „Briefe" das Mißton-S in den Kopf gesetzt hatte.

5

Der Vergleich zwischen den Prinzipien der Sprachverbesserer und den Zielen und Zuständen der jakobinischen Schreckensherrschaft läßt erkennen, wie stark Jacob Grimm von den Aktivitäten der zeitgenössischen Sprachverbesserer betroffen war und wie eng für ihn die Beziehung zwischen seinen Sprachforschungen und seiner Auseinandersetzung mit den politischen Tendenzen der Zeit war. Es wäre jedoch nicht uninteressant zu wissen, wie die zeitgenössischen Leser auf den Vergleich reagiert haben. Immerhin erschien der Aufsatz wenige Monate vor den Karlsbader Beschlüssen und dem Beginn der Demagogenverfolgungen, von denen auch einige der Sprachverbesserer betroffen waren.

6

Der Übeltäter ist nicht Jean Paul, sondern Wolke in seinem Buch „Anleit zur deutschen Gesamtsprache oder zur Erkennung und Berichtigung einiger (zu wenigst 20) tausend Sprachfehler in der Hochdeutschen Mundart; nebst dem Mittel, die zahllosen — in jedem Jahre dem Deutschschreibenden 10 000 Jahre Arbeit oder die Unkonsten von 5 000 000 verursachenden — Schreibfehler zu vermeiden und zu ersparen. Dresden: Verf.; Leipzig: Reclam 1812. Die zweite Auflage erschien mit verändertem Titel 1816. — Jean Paul wendet sich aus klanglichen Gründen im 10. Brief ausdrücklich gegen Wolke, der „das n, ja das en vertreiben und Hasfuß oder höchstens Hasefuß einführen" will. Jean Paul ließ sich von der Kritik Grimms und anderer nicht beeindrucken, sondern bestätigte, wie der kurze Text von 1825 in diesem Band zeigt, noch kurz vor seinem Tode seine Auffassung. So erfüllte sich der Wunsch Grimms nicht. Das „Miston-S" blieb auch in der ersten Gesamtausgabe der Schriften (1826 — 1838) getilgt. Erst in der zweiten Auflage der Schriften (1840—1842) setzte es der Herausgeber, Ernst Förster, wieder ein.

7

12. Jean Paul ( 1 7 6 3 - 1 8 2 5 ) 12.1. Einführende Bemerkungen Nach dem Kapitel über den „Reichthum" der deutschen Sprache aus der „Ästhetischen Vorschule" von 1804 (vgl. Kap. 2 in diesem Band) folgen hier zwei weitere Texte Jean Pauls, die er in seinem Todesjahr 1825 veröffentlichte. Es handelt sich um § 22 und § 23 im „Fünfzehnten Programm" der „Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule". Im ersten Paragraphen, überschrieben „Sprachautorität", beantwortet er die Frage, wer denn legitimerweise als Sprachgesetzgeber auftreten dürfe, mit einer eigenen „Theorie der Gewaltenteilung", nach der „weder der Sprachforscher, noch der Genius, noch das Volk allein" das Sprachregale besitzen, daß aber alle drei zusammen bestimmen, was in der Sprache zur Herrschaft kommen soll. Die Notwendigkeit der Gesetzgebung wird also, anders als in dem Text von 1804, als Jean Paul, die versuchten Eingriffe der Sprachforscher abwehrend, der sprachlichen Freiheit, Vielfalt und Anomalie ein Loblied gesungen hatte, durchaus anerkannt. Daß Jean Paul der Regelhaftigkeit der Sprache und der Analogie als Kriterium für ihre Vereinheitlichung inzwischen größere Bedeutung zuerkennt, zeigt besonders der § 23 über das Mißton-S in Doppelwörtern, den man im Rahmen dieser Textsammlung auch als Antwort auf Jacob Grimms Kritik (vgl. Kap. 11) lesen kann, obwohl Grimm gerade nicht genannt wird. Die Auseinandersetzung mit ihm, der sich ja auf die Erstveröffentlichung im Cottaschen „Morgenblatt" bezogen hatte, führt Jean Paul schon in den „Postskripten" der Buchausgabe 1820. Die Kontrahenten 1825 sind die Rezensenten eben dieser Buchausgabe. Überblickt man die Sprachdiskussion des 19. Jahrhunderts, so stellt man fest, daß Jean Pauls Vorschlag zur Beseitigung des Fugen-s sehr wohl bekannt blieb, doch dient er den meisten Autoren als Beispiel für eine seltsame Marotte des Dichters. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet das Anliegen Jean Pauls wieder ernsthafte Befürworter, wie überhaupt die Sprachdiskussion des ausgehenden Jahrhunderts in vieler Hinsicht eine Rückkehr zu Positionen bedeutet, die am Ende des 18. Jahrhunderts herrschend und dann in Mißkredit geraten waren. — Robert Hamerling (Bibl. A 110), der radikal alle „irrationalen Bestandtheile der deutschen Sprache" beseitigt sehen will, beklagt 1878, daß nicht einmal der kleine Versuch Jean Pauls in diese Richtung sich hat durchsetzen können. Die Kritik am Überhandnehmen des Binde-s führt nach 1885 zu einer erneuten Diskussion im Umkreis des „Allgemeinen deutschen Sprachvereins" (M. Trautmann, O. Sarrazin).

130

12. Jean Paul ( 1 7 6 3 - 1 8 2 5 )

12.2. Literaturhinweise Textvorlage Jean Paul: Kleine Bücherschau. Gesammelte Vorreden und Rezensionen, nebst einer kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule. Zweites Bändchen. Breslau: Josef Max und Komp. 1825, § 22. Sprachautorität, § 23. Ausrottung des Miston-S in Doppelwörtern, 155 — 163. Weitere Literatur Siehe die Literaturhinweise in 2.2.

12.3. Text F r a g m e n t über die deutsche Sprache (1825) Sprachautorität Weder der Sprachforscher, noch der Genius, noch das Volk allein, besitzen das Sprachregale, und können aus eigner Machtvollkommenheit ein neues Wort oder gar eine Wortfügung einsetzen zur Regierung. Der erste nicht, weil dieser Sprachgesetzgeber beinahe nur andern Gesetzgebern befiehlt, die wieder ihm befehlen, und weil überhaupt ihre grammatischen Pandekten der Menge so verborgen und unzugänglich sind, als die florentinischen1. Der zweite, der Genius, nicht, weil es nur eine päpstliche, und keine geniale Unfehlbarkeit und Wahrheit'Statthaiterei gibt; — und das dritte nicht, das Volk, das eben so oft den beiden vorigen gehorcht, als befiehlt, und mehr pflanzt, als säet. Aber worauf ruht denn endlich die Sprachherrschaft der neuen Wörter und Wortfolgen? Auf allen Dreien auf einmal, wie jede Regier* und Staatgewalt, d. h. auf dem Dreifuße von Gesetz, Macht und leidendem oder thätigen Gehorsam. Auf diesem legitimen Dreifuße — woran freilich oft ein Bein länger ist, als das andere — stehen die Reiche erträglich, wenn nur nicht der Fuß gerade einen gekrönten Cerberus=Dreikopf trägt; ein Theil Macht oder Eroberung, ein Theil Gesetz oder Herkommen, ein Theil Einwilligen oder Mitstimmen der Menge. So kommt denn, wie ein Napoleon, ein Wort auf den Thron durch die Macht eines erobernden Dichters und die Einstimmung der von ihm regierten Menge, und durch den Beitritt der Sprachanalogie. Man muß aber nicht zu genau und in zu ähnlichen Theilen absondern wollen, weder bei regierenden Wörtern, noch regierenden Häuptern. Zuweilen vereinigt ein Schriftsteller zwei Gewalten in sich, zugleich den Genius und den Sprachforscher, und nur in diesem Falle ist seine Autorität klassisch. Daher können Lessing, Klopstock, Voß gültiger und rechtkräftiger ein neues Wort mit der Herrschaft belehnen, als ein Göthe, oder Schiller. 2

12.3. Text

131

A u s r o t t u n g d e s M i s t o n = S in D o p p e l w ö r t e r n Nichts gewährt so entgegengesetzte Gefühle und Ansichten, als die beiden Reiche der Mathematiker und der · Sprachforscher. Die stille, nach Außen zu abgeschlossene Herrnhuter=Gemeinde der Mathematiker für Erde und Himmel, 3 geht als ein Friedenreich um die ganze Erde, und alle Bürger beschirmen, beerben und bereichern einander wechselseitig. Hingegen das Reich der Sprachforscher ist ein Archipel von Feindschaftinseln. Jeder auf seinem Throne allein lebend und andern ungehorsamen als Unterthanen befehlend, die nur zum Bekriegen landen, und vom Festlande nur in der Ferne gehört und nothdürftig befolgt. Bios Adelung errang eine kurze Reichsverweserschaft, und zwar durch den Beistand eines Wörterbuchs, welches wieder Campen nichts half. 4 Grimms altdeutsche Grammatik, deren Reichthum ihr einziger Herold ist, fand keinen einzigen Rezensenten; 5 Wolkens Anleit zur deutschen Gesammtsprache nur Einen, 6 aber leider keinen Sprachforscher, sondern in der Jenaer Literaturzeitung einen anderen Forscher, der die Gallenblase als Schwimmblase zum Fortkommen im fremden Elemente benutzte. Bios der Verf. dieses Paragraphen hatte, eben weil er so wenig ein Sprachforscher war, als der Jenaer Rezensent, wenn nicht das Glück, doch das Schicksal, von andern Rezensenten, gleichfalls sein Buch über die deutschen Doppelwörter betreffend, 7 auf eine angenehme und zarte Weise behandelt und gefaßt zu werden, nämlich ganz auf der Oberfläche. Das Innere des Büchleins und der Sache rührte und tastete man nicht im Geringsten an. So ließ man denn unangefochten die tausend Beispiele der Wörter ohne regelwidriges und Miston=S — die daraus abgeleitete Sprachanalogie, und die neuen Zusätze, besonders die Postskripte 8 mit ihren Widerlegungen fremder Einwürfe, und mit der Analogie der englischen Sprache — die Erforschung der eigentlichen Natur der Doppelwörter — die Regel und die Regellosigkeit halb ausländischer Doppelwörter, wie Doktorhut und ediktswidrig u. s. w. Der zweite sprachunkundige Splitterrichter — denn der Jenaer war der erste, war Müllner 9 — prägte für mich mit mehr Schonung, als Witz, den an sich albernen Titel Anti=Essist, und setzte sich dadurch selber zu einem Essisten herab, was man so wenig sein darf, als ein Errist, Ennist, ließ sonst aber meine grammatischen Gründe, und besonders die neuen Postskripte unangetastet, vielleicht weil er sie nicht gelesen. Der dritte, aber etwas verächtliche, Sprachunkundige 10 rezensierte mich in der Halleschen Literaturzeitung*, und glaubte, wie * Ich will von dieser Rezension, die, ungleich dem horazischen Ungeheuer11, nicht mit Misgestalt endigt, sondern sogleich damit anfängt, so viel Anfang hier kopieren, als mein Ekel verträgt. „Der berühmte Verfasser hat bekanntlich viele w o h l g e d a c h t e Bücher, aber alle in einem ziemlich übellautenden Style geschrieben. Zu diesem Uebellaute, der hauptsächlich im Mangel des (auch in der Prose nicht wohl zu entbehrenden) Rhythmus besteht, hat nebenher auch der unmäßige Gebrauch willkührlich gebildeter S t a m m wörter12 beigetragen, wozu diesem Schriftsteller sein Ueberfluß an zuströmenden Vergleichungen der heterogensten Dinge, und sein Hang zu bizarren Anspielungen auf

132

12. Jean Paul (1763-1825)

alles ganze kritische Geflügel, seine Flügel zu bewegen, wenn er stark seine Nasenflügel bewegte. Endlich aber rezensierte ein Sprachforscher, H. Docen 13 , ohne das, was man einen guten Stil nennt, in den Wiener Jahrbüchern das Büchelchen, und nachdem er mehr diesem, aber weniger dessen Gründen lange widersprochen, fällt er wieder ihm von weitem bei, indem er lieber sich selber widerspricht und aus dltern deutschen Werken folgende Beispiele der S=Weglassung als Sprachgebrauch mit Billigung anführt: Unglückstifter — Bundgenoß — Rathherr — Blutfreundschaft — Gottfurcht — Himmelschlüssel — Befehlhaber, Befehlschreiben — Gesichtdeuter — Freiheitbrief — Hülfvölker, Hülfmittel — Keuschheitspiegel — Andachtliebe — Wahrheitbote *. Was soll nun da ein Freund der Regel und des Wohllauts, zumal wenn Professor Κόρρεη, als ähnlicher Freund und ausübender Schreiber, in seiner Rezension 14 hoffend sagt: „wir wollen einmal in fünfzig Jahren sehen, ob das S noch vorhanden ist," was soll man, frag' ich selber, da machen? Wenigstens nicht von neuem schreiben nach dem Schreiben, sondern lachen und warten — dann hoffen und warten — und endlich warten.

12.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

3 4

Seit 1406 lag eine vollständige Handschrift der Pandekten oder Digesten des Justinian aus dem 6. Jahrhundert in Florenz. Die Pandekten waren der erste Teil des römischen Corpus juris. Das Urteil erscheint, zumindest im Blick auf Goethe, etwas ungerecht, weil man ihm — wie Lessing, Klopstock und Voß — Reflexion über Sprache nicht absprechen kann. — Zu Klopstocks sprachwissenschaftlichen Arbeiten siehe Bibl. A l u . 27. Die Sprachuntersuchungen von Voß sind vor allem mit seiner Übersetzertätigkeit verbunden; systematischen Anspruch hat das Buch „Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilage zu den Oden und Elegien". Königsberg: Nicolovius 1802. Die Herrnhuter waren, zumindest in der Frühzeit, auch untereinander nicht so friedfertig, wie J. Paul — mit einiger Ironie? — glauben machen will. Zu den Wörterbüchern von Adelung und Campe siehe die Literaturhinweise in 1.2.

entfernt liegende Aehnlichkeiten von jeher zu verleiten pflegte. Das mag er wohl endlich, wo nicht erkannt, doch gefühlt haben, und so ist er auf den Gedanken gerathen, den Organismus unserer Stammwörter von zwei angeblichen Krankheiten zu heilen. Die einen nennt er in seiner wunderlichen, bisweilen in das Ekelhafte sich verirrenden Manier, S=Krätze, worunter er den unnöthigen und unrichtigen Gebrauch des bindenden S bei der Zusammensetzung (ζ. B. in Liebesbrief) versteht. Die zweite ist der ihm fehlerhaft scheinende Gebrauch der Mehrzahl statt der Einzahl (ζ. B. Mäusefell, Gänsefuß, Schnekkenhaus), und wieder umgekehrt (ζ. B. Nußbäume) u. s. w." Allg. Lit. Zeitung, Oktober 1820. — Diese wenigen Zeilen bauen einen der seltensten Augias=Ställe, wo von Zeile zu Zeile sich Verdrehung, Lüge, Unwissenheit, Plattheit, Schiefheit des Ausdrucks und des Gedankens und Sprachfehler aufhäufen. * In den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Juli 1821. Bd. 15.

12.4. Anmerkungen des Herausgebers 5

6

7 8 9

10

11

13

14

133

Daß Jacob Grimms „Deutsche Grammatik" (Bd. 1, Göttingen: Dieterich 1819) keinen Rezensenten fand, ist nicht richtig. "Georg Friedrich Benecke (1762—1844), ein kompetenter Germanist, besprach sie ausführlich in den altehrwürdigen „Göttinger Gelehrten Anzeigen" v. 26. April 1819 u. v. 19. Dezember 1822. Christian Hinrich Wolke: Anleit zur deutschen Gesamtsprache oder zur Erkennung und Berichtigung einiger (zu wenigst 20)tausend Sprachfehler in der Hochdeutschen Mundart; nebst dem Mittel, die zahllosen — in jedem Jahre dem Deutschschreibenden 10 000 Jahre Arbeit oder die Unkosten von 5 000 000 verursachenden — Schreibfehler zu vermeiden. Dresden: Verf.; Leipzig: Reclam 1812. — Der Rezensent war ein Regierungsassessor aus Bayreuth, Krause, der Wolkes Buch (mit Seitenhieben auf Jean Paul) 1814 in den Ergänzungsblättern der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung" (Nr. 79—83) einer vernichtenden Kritik unterzog. Siehe die Literaturhinweise in 2.2. Die „Postskripte" in der Buchausgabe von 1820. Amadeus Gottfried Müllner (1774 — 1829), Verfasser vielgespielter Schicksalsdramen, war seit 1823 als Literatur- und Theaterkritiker tätig und leitete von 1823 — 1825 die Redaktion des „Literaturblatts" zum „Morgenblatt". Dort erschien seine Kritik am 24. Okt. 1820. Der Verfasser der Rezension in der seit 1804 in Halle erscheinenden „Allgemeinen Literaturzeitung" (Nr. 262, Okt. 1820) ist namentlich nicht bekannt. Jean Paul verdächtigte Müllner oder Krause. Jean Paul bezieht sich auf V. 1 — 10 der „Ars Poetica", wo Horaz ein Buch, „in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet", mit einem gedachten Gemälde vergleicht, in dem ein Wesen mit dem Kopf eines Menschen und den Körperteilen unterschiedlichster Tiere kombiniert wird. Bernhard Joseph Docen (1782—1828), Philologe und Bibliothekar an der Staatsbibliothek in München, hatte schon auf die Erstveröffentlichung der „Briefe" im „Morgenblatt" mit einer Besprechung in der Münchner Zeitschrift „Eos" (Dez. 1818) reagiert. Mit dieser setzt sich Jean Paul in den „Postskripten" auseinander. — Docen, vorwiegend mit der altdeutschen Textphilologie beschäftigt, wird von J. Grimm in der Vorrede zum ersten Band seiner „Deutschen Grammatik" als einer derjenigen genannt, die er für die berufensten und geschicktesten zur Beurteilung seiner Grammatik hält. Siehe auch Bibl. A 49. Friedrich Koppen (1775 — 1858), Theologe und Philosoph, seit 1807 Professor in Landshut. Seine wohlwollende Besprechung erschien in der Münchner Literaturzeitung v. 6. März 1821, Nr. 19.

13. Wilhelm Hauff (1802-1827) 13.1. Einführende Bemerkungen Wilhelm Hauff, weniger als Verfasser von Gedichten und historischen Erzählungen denn als Märchendichter bekannt, war wie viele seiner dichtenden Zeitgenossen auch als Publizist tätig. So war er z. B. 1826 Redakteur am „Morgenblatt für gebildete Stände" des Cotta-Verlages, eine Aufgabe, die nach Wilhelms frühem Tod 1827 sein Bruder übernahm. Die feuilletonistischen Skizzen, die Hauff unter dem Titel „Freie Stunden am Fenster" zusammenfaßte und von denen die siebte hier wiederabgedruckt wird, veröffentlichte er allerdings nicht im „Morgenblatt", sondern in der Monatsschrift „Der Eremit in Deutschland". Für den Gesamttitel hat wohl E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Des Vetters Eckfenster" (1822) Pate gestanden; die ironisch-satirische Machart erinnert eher an Börne. Auch die Idee, dem deutsch-französischen Sprachvergleich die Form eines fiktiven Gesprächs zu geben, kann er von ihm übernommen haben, ist sie doch schon in den „Schilderungen aus Paris" im Abschnitt „Französische Sprache" verwirklicht, der 1823 im „Morgenblatt" erschienen war. Sachlich steht in dem Text nichts, was man nicht auch woanders lesen könnte; der Beitrag erweitert, den folgenden Text Börnes unterstützend, das Spektrum sprachkritischer Ausdrucksformen im 19. Jahrhundert.

13.2. Literaturhinweise Textvorlage Wilhelm Hauff: Freie Stunden am Fenster. Von dem Verfasser der Memoiren des Satans. In: Der Eremit in Deutschland. Eine Schrift über Sitten und Gebräuche des neunzehnten Jahrhunderts in Monatsheften 1 (1826), H. 4, 303 — 306.

13.3. Text Die deutsche L i t e r a t u r (1826) Vor einigen Tagen traf ich am dritten Ort meinen Nachbar DR. Salbe. 1 Er erkannte mich als Nachbar, freute sich mich zu sehen und lud mich ein ihn hie und da zu besuchen. Ich versäumte es nicht. DR. Salbe ist ein unterrichteter Mann und ich bin gerne in seiner Gesellschaft. Anfangs war es mir schwer seiner Einladung in den g o l d e n e n H a h n zum Zweitenmal zu folgen; diese qualmende

13.3. Text

135

Bierstube wollte mir, da ich an diese Tabakshöllen nicht gewohnt ward, nicht zusagen. Aber ich gewöhnte mich daran und so mancher Kern=Witz, der in dieser Gesellschaft fiel, die gewaltige, tönende Sprache der Lieutenants, die aus allen Wissenschaften zusammengeholten Ausdrücke der jungen Doctoren entschädigten mich für das Aeußere. So war es auch in DR. Salbe's Haus. Eine Unordnung, beinahe Unreinlichkeit ohne Gleichen. Wenn er mir ein neues Gedicht vorlesen wollte, blickte er mit Falken=Augen im Zimmer umher und fuhr dann oft plötzlich unter den Tisch, denn dorthin hatte sich der Wisch verloren. Einmal erzählte er mir von einem Sonett, an welchem er drei Tage gedreht habe. Es sey ganz unübertrefflich und die Ausginge tönen wie lauter italienisch und spanisch untereinander. Er suchte in allen Ecken, auf allen Tischen, in allen Fächern; es fand sich nicht. Endlich führte ihm der Zufall ein zusammengedrehtes halb verbrantes Papier in die Hand. Er sah es an, er erblasste, er schlug sich vor die Stirne. „O Ihr Götter!" rief er aus, „mit meinem herrlichsten Sonett hat der verdammte Lieutenant Münsterthürmchen seine Pfeife angezündet. Wie hättest Du geglänzt, klangvolles Gedicht, in der Zeitung für noble und gebildete Leute! 2 Jetzt muß ich Dich aus meinem miserabeln Gedächtniß conpensiren. Du bist ein Torso und ich soll Dir neue Füße einsetzen?" Troz dieser schrecklichen Unordnung gefiel es mir wohl bei Salbe. Er hatte eine gewisse gelehrte Atmosphäre, die jeden schlechten, trivialen Gedanken zu ersticken schien; man konnte sich ganz behaglich in seiner Nähe fühlen, denn er hatte eine ungemeine Literatur im Kopf und belehrte im Gespräch auf angenehme Weise. Wir sprachen eines Nachmittags, den ich bei ihm zubrachte, von Literatur und ihrem Einfluß auf die Menschen. Ich sagte: „die Franzosen haben das vor uns voraus, daß alle ihre Geschichts=Werke, ihre Romane, ihre Gedichte, selbst ihre philosophischen Bücher so geschrieben sind, daß sie Jeder lesen kann. Die Werke ihrer größten Geister sind unzählige Mal auf ihren Stereotypen gedruckt; ich habe oft auf meinen Reisen gesehen, daß ein geringer Handwerker, ein Soldat, selbst ein Bauer seinen Voltair, seinen Rousseau las; dadurch wird die Intelligenz unbegreiflich gesteigert, daher kommt es auch, daß jene Redner in der Kammer so ungeheuer wirken; nicht durch den verschwebenden Schall von der Tribüne, der Einzeln Kampf richtet dort wenig aus, wo man in Massen kämpft, sondern durch die Verbreitung dieser Reden, durch die öffentlichen Blätter. Der geringere Bürger, der Landmann liest begierig diese Reden; seine Leetüre hat ihn vorbereitet das Wahre von dem Falschen zu sondern; und ich versichere Sie, ich habe diese Leute mit einer Wahrheit, mit einer Tiefe über die Schönheiten einer Rede, über die Wendungen eines Satzes sprechen hören, die mich in Verwunderung setzte und die ich vergebens selbst in unsern Mittelständen, bei dem Kaufmann, dem Künstler, dem Schreiber suchen würde." „Sie machen damit unserm Vaterland und seinen Schriftstellern ein schlechtes Compliment," antwortete DR. Salbe. „Es ist wahr, die eigentlichen Gelehrten bei uns bilden sich eine eigene Sprache; sie konnten sich aus den frühern lateinischen

136

13. Wilhelm Hauff (1802-1827)

Jargon nicht gleich in das ehrliche Deutsch finden. Daher kommt es, daß man bei uns außer Platt*Schwäbisch« und Hoch=Deutsch, auch noch Kantisch, Schellingisch, Heglisch JC. spricht und schreibt; man muß zu diesen Sprachen eigene Wörterbücher haben, um sie zu verstehen und es ist kein Wunder, daß man Kant ins Deutsche übersetzt hat." „Aber sagen Sie mir um Gotteswillen, zu was denn diese Sprachverwirrung? Wie können denn unsere Philosophen auf die Intelligenz des Volkes wirken? Und dazu sind sie ja doch auf der Welt." „Im Gegentheil," erwiederte Salbe; „da haben Sie eine völlig unrichtige Ansicht. Es mag dies vielleicht bei den französischen Philosophen der Fall seyn. Aber bei uns sind die Philosophen nur für den Catheder geschaffen; sie haben nur das kleine Publicum, das vor ihnen in den Bänken sitzt, über Sonne, Mond und Sterne und die Erbsünde aufzuklären; sonst haben sie lediglich nichts mit dem Publicum zu thun. Kennen Sie denn nicht den Artikel im Regensburger Reichstags» Abschied?" 3 „Wie? Ein Artikel über die Philosophen? Kein Wort habe ich davon gehört." „Man wußte wohl, daß die populäre Philosophie der Franzosen für das Volk durchaus schädlich sey, weil die Menschen dadurch eine Aufklärung, eine Art von illegitimer Vernunft bekommen; daher hat man sehr weise damals das Gesetz erlassen und heimlich auf allen Universitäten und Gelehrten*Anstalten verbreitet: All dieweilen die durch die in das für sich schon intelligente Leben so leicht eingreifende Philosophie angesteckten Menschen allzuleicht rebellische sogenannte Ideen bekommen, so sollen die für die auf den zu der Vorbereitung junger Leute errichteten Instituten bestehenden Lehrstühlen angestellten Philosophen dahin gehalten seyen, daß wenn sie Bücher schreiben, so in dieß Fach einschlagen, diese also abgefaßt seyn, daß andre zu dieser Wissenschaft nicht bestimmte Leute, solche gar nicht capiren können." „Das stand im Regensburger Reichs=Tags=Abschied?" „Ja wohl, und daher dämmten die Philosophen ihre Bücher mit allerlei wunderlichen Redensarten ein, so, daß wenn ein ungelehrter Bürger in ein solches Opus hineinschaute, ihm die Worte vor den Augen herumtanzten, ihm die überschwenglichen Gedanken wie ein Mühlrad im Kopf herumgingen und er in Gefahr war darüber ein Narr zu werden. Es war dies auch ganz gut; Sie wissen, die Deutschen sind eine Nation, die gar zu schnell Feuer fängt wie nasser Zunder, daher war dies Mittel ganz gut. Denken Sie nur an jene Zeit, wo eine Regierung dies Interdict aufhob und ein Gelehrter Reden an die deutsche Nation in natürlicher Sprache hielt, was entstand daraus für ein Spectakel! 4 Man hat daher das Interdict aufs Neue geschärft, ja die Philosophen müssen jetzt sogar mystisch sprechen; selbst wenn einer ζ. B. über Deutschland und die Revolution schreiben wollte, 5 müßte er seiner Rede kurzen Sinn in diese Wort= Specereien einbalsamiren." „Ha! jetzt erst ist mir das große Geheimniß unserer Literatur klar und deutlich! Also daher kommt es, daß wir so weit zurückbleiben; da bleibt also für das Volk nichts übrig, als Genofeva und Eulenspiegel?"

13.4. Anmerkungen des Herausgebers

137

„Das möchte ich doch nicht behaupten," sagte Salbe; „unsere mittleren und unteren Stände lesen sehr viel, nur naturlich nichts, was auf den gesunden Menschen'Verstand Anspruch machen könnte. Sie haben ihren Spieß, ihren Cramer, ihren Lafontaine, in neuerer Zeit hauptsächlich ihren Clauren. 6 Alles liest; aber unschädliches Zeug, das ihren Verstand ganz gelinde afflcirt. Gespenstergeschichten, Mordthaten, Räuber=Historien, Heiraths=Affairen mit vielem Geld ic." „O Gott! weiter nichts? so kommen also unsere größeren Geister, ein Schiller, ein Göthe, ein Tiek nicht unter das Publicum?" „Behüte! Schiller kennen sie zur Noth vom Theater her, aber meist zu hoch für sie, eigentlich zu gut. Von Göthe, Tiek, Jean Paul weiß man nichts. Sie haben für die Ewigkeit geschrieben aber nicht für unser Volk."

13.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3

4

5

7

Es ist denkbar oder wahrscheinlich, daß Hauff mit Dr. Salbe eine historische Figur karikiert; ich habe eine solche aber nicht identifizieren können. Anspielung auf Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände", für das Hauff 1826 als Redakteur tätig war. Im „Reichsabschied" wurden die — wenig wirkungsvollen — Beschlüsse des deutschen Reichstages zusammengefaßt, der von 1663 bis 1806 als Gesandtenkongreß ständig in Regensburg tagte. Den „Curialstil" der Beschlüsse parodiert Hauff durch die extreme Verwendung von Partizipialkonstruktionen. Gemeint ist Fichte (vgl. den Text in diesem Band). — Die Freiheit von der Zäsur als Ausdruck der Lehrfreiheit der Professoren im Rahmen ihres Faches war Bestandteil der preußischen Universitätsreform W. v. Humboldts. Sie wurde im Anschluß an die Karlsbader Beschlüsse 1819 durch das preußische Zensuredikt vom 18. Okt. wieder aufgehoben. Die Erwähnung eines „mystischen Philosophen" lenkt den Blick auf Schelling. Hauff spielt jedoch vermutlich auf die Schrift „Teutschland und die Revolution" an, die Joseph von Görres 1819 veröffentlichte, im gleichen Jahr, als er sich einem preußischen Haftbefehl durch Emigration nach Straßburg entzog. 1826 erhielt er nach seiner Rückkehr zum katholischen Glauben eine Professur in München. Das „mystische Sprechen" mag also eine Anspielung auf die religiös-kirchliche Wendung von Görres sein. Es handelt sich um einige der populärsten Schriftsteller der Zeit. Christian Heinrich Spieß (1755 — 1799) war ein Vertreter der Ritter- und Räuberromantik; Karl Gottlieb Cramer (1758—1817) mit seinen über 40 Romanen ebenfalls ein populärer Romanschriftsteller am Ende des 18. Jahrhunderts. August Heinrich Julius Lafontaine (1758 — 1831) verfaßte sentimentale Familienromane, insgesamt 150 Bände, die von der Kritik heftig befehdet wurden, vom Publikum und seinem König (Friedrich Wilhelm III.) nebst Königin Luise aber hochgeschätzt waren. Auch Clauren hatte gute Beziehungen zum Königshaus. Hinter dem Pseudonym versteckte sich der erfolgreiche Jurist Karl Gottlieb Samuel Heun (1771 — 1854), der 1811 im Ministerium Hardenberg angestellt war, 1820 die Redaktion der „Preußischen Staatszeitung" übernahm und später

138

13. Wilhelm Hauff (1802-1827) zum Geheimen Hofrat ernannt wurde. Er ist der Verfasser des Liedes „Der König rief, und alle, alle kamen", dessen Anfangszeile, ursprünglich auf die nationale Erhebung der Befreiungskriege gemünzt, zum geflügelten Wort avancierte. Hauff schrieb 1826 mit seinem „Mann im Mond" eine Parodie auf „Mimile", eine der bekanntesten Erzählungen Claurens.

14. Ludwig Börne (1786-1837) 14.1. Einführende Bemerkungen Börne ist nicht nur in seinen eigenen Werken ein stilbewußter Autor, sondern auch ein aufmerksamer Beobachter der sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten derer, die er zum Gegenstand seiner publizistischen Kritik macht. Insofern ist er, wie Heine, Marx, Kürnberger, Sapir, auch Sprachkritiker, ohne sich als solchen zu deklarieren oder die sprachkritischen Intentionen im Titel der Feuilletons und Aufsätze betont zur Geltung zu bringen. Ausnahmen sind der Artikel „Französische Sprache" im Cottaschen „Morgenblatt" 1823 und die fünf Jahre später an gleicher Stelle veröffentlichten „Bemerkungen über Sprache und Stil". Letztere sind, wenn man Börne Glauben schenken kann, die Frucht seines ernsthaften Nachdenkens über Sprache und Stil und obendrein angeregt von einem „großmüthigen Polizeydirektor und Censor", der meinte, das Feld der Sprache sei für einen talentierten jungen Mann lohnender als die Politik. Bei Börne bekam das Sprachthema freilich sogleich wieder eine politische Wendung. Ironisch-satirisch begreift er die Zensur als willkommene Gelegenheit, den Stil zu verbessern, und spornt die Schriftsteller zur Eile an, damit die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreiche. Daß die Zensur erhebliche Auswirkungen auf Sprache und Stil der Zeit gehabt hat, ist eine in der Sprachdiskussion des 19. Jahrhunderts immer wieder auch ernsthaft diskutierte These. In den Texten dieses Bandes wird sie am deutlichsten von Auerbach (vgl. Kap. 19.3.) artikuliert, der die Zensur vor allem in der Selbstzensur der Schreiber wirken sieht, denen die Polizei „beim Schreiben selber" über die Schulter zusieht.

14.2. Literaturhinweise Textvorlage Ludwig Börne: Bemerkungen über Sprache und Styl. In: Morgenblatt für gebildete Stände 1827, Nr. 24, 9 3 - 9 4 ; Nr. 25, 9 8 - 9 9 . Weitere Literatur A: Aus Paris. Französische Sprache. In: Morgenblatt für gebildete Stände 1823, Nr. 231, 9 2 1 - 9 2 3 ; Nr. 232, 9 2 6 - 9 2 8 ; Nr. 233, 9 3 0 - 9 3 1 .

140

14. Ludwig Börne (1786-1837)

Β: Homberg, Walter: Zeitgeist und Ideenschmuggel. Die Kommunikationsstrategie des Jungen Deutschland. Stuttgart 1975. Koopmann, Helmut: Doppeldeutiges. Zum literarischen Stil Ludwig Börnes. In: Ludwig Börne 1786—1837. Bearb. v. Alfred Estermann. Frankfurt a. M. 1986, 1 7 5 - 1 8 7 . Labuhn, Wolfgang: Literatur und Öffentlichkeit im Vormärz. Das Beispiel Ludwig Börne. Königstein/Ts. 1980.

14.3. Text Bemerkungen über Sprache und Styl (1827) Im Jahr 1814, glorreichen Andenkens, war ich, als Herausgeber 1 eines politischen Blattes, so glucklich, unter der pädagogischen Leitung eines großmüthigen Polizeydirektors und Censors zu stehen. Ich war damals, was sich von selbst versteht, jünger als jezt, stand in den Flegeljahren der Schriftstellerey, war ohne Scheu, freymuthig, ein kleiner Hutten. In dieser glucklichen Gemüthsstimmung ließ ich drucken: „Die Engländer sind Spitzbuben." Der Herr Polizeydirektor strich ganz gelassen diesen Satz aus der Weltgeschichte, und bemerkte mir freundschaftlich: ich wäre ein junger Mann nicht ohne Talent, und es wäre recht schade, daß ich meinen Geist nicht auf etwas Solides legte. Sehr beschäftigt wie er war, wartete er nicht erst meine Erkundigungen ab, was er unter S o l i d e s verstehe, sondern fugte von selbst hinzu: in der deutschen Sprache wäre noch viel zu thun, und das wäre eigentlich mein Feld, auf dem ich Ruhm und Lohn einernten könnte. Ich erwiederte hierauf: dieses Feld wäre allerdings so angenehm als fruchtbar, aber, meiner Meynung nach, wäre jezt gar nicht die Zeit, wo ein braver Mann an seine Spaziergänge oder sonstige Vergnügungen denken dürfe. Wenn wir uns mit Untersuchungen über die deutsche Sprache beschäftigten, wer denn Europa in Ordnung bringen sollte? — fragte ich ihn. Ohne von dem Censurblatte aufzublicken und mit dem Streichen einzuhalten, antwortete mir der Polizeydirektor: das ist unsere Sorge; Sie aber sollten Ihre gluckliche Freyheit — Freyheit? Nein; d a s Wort gebrauchte er nicht. Er sagte: Sie aber sollten Ihre glückliche Sorglosigkeit gehörig benutzen, über unsere Muttersprache Forschungen anzustellen. BEATUS ILLE QUI PROCUL NEGOTIIS — sezte er mit klassischer Bildung hinzu. ATQUE EMOLUMENTIS? frug ich satyrisch. 2 Aber er hörte diese Frage nicht, oder wollte sie nicht hören, und es blieb zweifelhaft, ob das IMP., das er im nächsten Augenblicke niederschrieb, die Abbreviatur von Impertinent oder von Imprimatur war. Indessen versprach ich, den guten Rath zu befolgen, nahm mein radirtes Blatt und empfahl mich. Seit jener Zeit habe ich oft und ernstlich über Sprache und Styl nachgedacht; aber was ich suchte, habe ich bis jezt nicht entdeckt. Was heißt S t y l ? Buffon sagte: LE STYLE C'EST L'HOMME. 3 Buffon hatte einen schönen und glänzenden Styl, und es war also

14.3. Text

141

sein Vortheil, diesen Satz geltend zu machen. Ist aber der Satz richtig? Kann man sagen: wie der Styl, so der Mensch? Nur allein zu behaupten: wie der Styl, so das Buch — wäre falsch, denn es gibt vortreffliche Werke, welche in einem schlechten Style geschrieben sind. Doch die Behauptung, der Mensch ist wie sein Buch — ist noch falscher, und die Erfahrung spricht täglich dagegen. Der Eine dichtet die zartesten Lieder, und ist der erste Grobian von Deutschland; der Andere macht Lustspiele, und ist ein trübsinniger Mensch; der Dritte ist ein fröhlicher Knabe und schreibt Nachtgedanken. Machiavelli, der die Freyheit liebte, schrieb seinen P r i n z e n , so daß er alle rechtschaffene Psychologen in Verlegenheit und in solche Verwirrung gebracht, daß sie gar nicht mehr wußten, was sie sprachen, und behaupteten, Machiavelli habe eine politische Satyre geschrieben. Was heißt also S t y l ? Wie gesagt, ich weiß es nicht, und ich wünsche sehr darüber belehrt zu werden. Die Schreibart eines Schriftstellers gehörig zu beurtheilen, muß man die Darstellung von dem Dargestellten, den Ausdruck von dem Gedanken sondern. Aber dieses wird zu oft mit einander verwechselt. Noch ein Anderes wird nicht immer gehörig unterschieden, nämlich: die Schönheit und das Charakteristische eines Styls. Man kann sehr schön schreiben, ohne einen Styl zu haben, und einen Styl haben, ohne schön zu schreiben. Ja, eine Schreibart von eigentümlichem Gepräge schließt ihre vollkommne Schönheit aus, wie ein Gesicht mit ausgesprochenen Zügen selten ein schönes, und ein Mann von Charakter selten ein liebenswürdiger ist. Nicht im Kolorit, in der größern oder kleinern Lebhaftigkeit der Farben, sondern in der Zeichnung, Stellung und Gruppirung der Gedanken liegt das Eigenthümliche einer Schreibart. Vielleicht hängt der Styl eines Schriftstellers mehr vom Charakter als vom Geiste, mehr von seiner sittlichen als von seiner philosophischen oder Kunstanschauung des Lebens ab. Cicero schreibt vortrefflich, aber er hat keinen Styl; er war ein Mann ohne Charakter. Tacitus hat einen, und Cäsar. Die Franzosen können keinen Styl haben, weil ihre Sprache einen hat. Wer in Frankreich schreibt, schreibt wie die guten französischen Schriftsteller, oder schreibt schlecht. Vergleicht man Rousseau mit Voltaire, so findet man zwar Beyder Styl sehr von einander verschieden; doch sind sie es nur so lange, als sich Beyder Ansichten von einander unterscheiden. Wo Rousseau denkt wie Voltaire, schreibt er auch wie er. Die deutsche Sprache hat — der Himmel sey dafür gepriesen — keinen Styl, sondern alle mögliche Freyheit, und dennoch gibt es so wenige deutsche Schriftsteller, die das schöne Recht, jede eigenthümliche Denkart auch auf eigenthümliche Weise darzustellen, zu ihrem Vortheile benutzen! Die Wenigen unter ihnen, die einen Styl haben, kann man an den Fingern abzählen, und es bleiben noch Finger übrig. Vielleicht ist Lessing der Einzige, von dem man bestimmt behaupten kann: er hat einen Styl. Eine andere Frage: woher kömmt es, daß so viele deutsche Schriftsteller so sehr schlecht schreiben? Vielleicht kömmt es daher, weil sie sich keine Mühe geben, und sie geben sich keine Mühe, weil sie, als Deutsche treu und ehrlich, sich mehr

142

14. Ludwig Börne (1786-1837)

an die Sache und die Wahrheit haltend, es fur eine Art Koketterie ansehen, den Ausdruck schöner zu machen als der Gedanke ist. Entspringt die Vernachlässigung des Styls aus dieser Quelle, so ist zwar die gute Gesinnung zu loben, doch ist die Sittlichkeit, von der man sich dabey leiten läßt, eine falsche. Wie man sagt: der Gedanke schafft den Ausdruck, kann man auch sagen, der Ausdruck schafft den Gedanken. Worte sind nichtswerthe Muscheln, in welchen sich zuweilen Ideen als edle Perlen finden, und man soll darum die Muscheln nicht verschmähen. Zu neuen Gedanken gelangt man selten. Der geistreiche Schriftsteller unterscheidet sich von dem Geistarmen nur darin, daß er, mit größerer Empfänglichkeit begabt, schon vorhandene Ideen, deren Daseyn jener gar nicht merkt, aufzufassen und sich anzueignen vermag; aber neue schafft er nicht. Der menschliche Geist mußte eine ungeheure Umwälzung, eine solche erfahren, von der wir gar keine Ahnung haben, wenn der Kreis seiner Wirksamkeit sich bedeutend erweitern sollte. Die größte bekannte Umgestaltung, welche die Menschheit erlitten, kam durch das Christenthum, und doch kann man nicht sagen, daß wir viele neue Ideen gewonnen, welche den Alten fremd gewesen. Freylich erklärt sich dieses dadurch, daß auch schon vor Christus christliche Weltanschauung, wenn auch nicht in solcher Ausbreitung als jezt geherrscht hat. Kann aber der Schriftsteller keine neue Ideen schaffen, so vermag er doch, die alten in neue Formen zu bringen, und wie die Lebenskraft in der ganzen Natur die nämliche, und es nur die Gestalt ist, welche in der Wesenkette ein Geschöpf über das andere stellt, so wird auch der ewige ungeborne Gedanke durch einen edlern oder gemeinern Ausdruck edler oder gemeiner dargestellt — und der Pflegevater ist auch ein Vater. Die schlechte Schreibart, die man bey vielen deutschen Schriftstellern findet, ist etwas sehr Verderbliches. In Büchern ist der Schaden, den ein vernachlässigter Styl verursacht, geringer und verzeihlicher; denn Werke größern Umfangs werden mehr von solchen gelesen, die eine umschlossene oder gesicherte Bildung haben, und der sittliche und wissenschaftliche Werth dieser Werke kann ihre Kunstmängel vergüten. Zeitschriften aber, aus welchen allein ein großer Theil des Volks seine Bildung, wenigstens seine Fortbildung schöpft, schaden ungemein, wenn sie in einem schlechten Style geschrieben sind. Die wenigsten deutschen Zeitschriften verdienen in Beziehung auf die Sprache gelobt zu werden. Es ist aber leicht, an ihnen zu gewahren, daß die Fehlerhaftigkeit des Styls von solcher Art ist, daß sie hätten vermieden werden können, wenn deren Herausgeber und Mitarbeiter mit derjenigen Achtsamkeit geschrieben hätten, die zu befolgen Pflicht ist, sobald man vor dreyßig Millionen Menschen spricht. Man glaubt gewöhnlich, jedes Kunsttalent müsse angeboren seyn. Dieses ist aber nur in einem beschränkten Sinne wahr, und gibt es ein Talent, das durch Fleiß ausgebildet werden kann, so ist es das des Styls. Man nehme sich nur vor, nicht alles gleich niederzuschreiben, wie es einem in den Kopf gekommen, und nicht alles gleich drucken zu lassen, wie man es niedergeschrieben. Eine gute Stylübung für Männer (denn Knaben auf Schulen im Style zu üben, finde ich sehr lächerlich) ist das Uebersetzen, besonders aus alten Sprachen.

14.3. Text

143

Ich meinerseits pflege mich am Horaz zu üben und es kömmt hier nicht darauf an, ob mir die Uebersetzungen mehr oder minder gelungen, aber das habe ich dabey gelernt, daß die Reichthümer der deutschen Sprache, wie wohl jeder, nicht oben liegen, sondern daß man darnach graben muß. Denn oft war ich Tage lang in Verzweiflung, wie ich einen lateinischen Ausdruck durch einen gleichkrdftigen deutschen wiedergeben könne; ich ließ mich nicht abschrecken und fand ihn endlich doch. So erinnere ich mich, acht Tage vergebens darüber nachgedacht zu haben, wie SUB Dio MORERis4 zu übersetzen sey, und erst am neunten kritischen Tag fand ich das richtige Wort. Mehrere deutsche Journalisten werden es einst sehr bereuen, daß sie die gegenwärtige vortheilhafte Zeit nicht zur Verbesserung ihres Styls benuzt haben. Die goldene Zeit der römischen Literatur begann, als die der Freyheit aufhörte. Natürlich. Wenn man nicht frey heraussprechen darf, ist man genöthigt, für alte Gedanken neue Ausdrücke zu finden. Die schönsten Stellen des Tacitus sind, wo er von der alten Freyheit spricht, weil er dieses verdeckt thun mußte, da er, zwar unter einem guten Kaiser, aber doch unter einem Alleinherrscher lebte. Unsere Zeit auch verstattet nicht alles frey herauszusagen, und durch diesen Zwang befördert sie sehr den guten Styl. Man möchte von Konstitution, von Spanien, von Italien sprechen; aber manches ist verboten. Was thut ein erfinderischer Kopf? Statt Konstitution sagt er „Leibesbeschaffenheit;" statt Spanien „Iberien;" statt Italien „das Land, wo im dunkeln Hain die Goldorangen glühen," und gebraucht für diesen und jenen Gedanken, diesen und jenen dichterischen Ausdruck, den der gemeine Mann nicht versteht. Die deutschen Journalisten müssen sich aber eilen. Wenn sie nicht bald ihren Styl verbessern, werden sie mit ihrem schlechten Style in die Ewigkeit wandern. 5 Weil wir gerade in so freundschaftlichen Unterhaltungen begriffen sind, will ich noch erzählen, wie ich dazu gekommen, den Horaz zu übersetzen. Am 20sten März 1815 kehrte Napoleon von der Insel Elba zurück. Wir deutsche Zeitungsschreiber wurden wie toll vor Freude. Nicht etwa aus Liebe für die korsische Geißel — bewahre der Himmel! — sondern weil uns nach langer Dürre endlich wieder erfrischende Nachrichten zugekommen. Ich schrieb hurtig einen Artikel in meine Zeitung — nicht f ü r , sondern g e g e n Napoleon. Aber der Artikel, der mit vielem Feuer geschrieben, wurde von obenerwähntem Polizeydirektor dennoch gestrichen. Den andern Tag fragte ich dessen Sekretär, warum es geschehen, da wir doch alle mit der Geißel der Menschheit Krieg führten? Dieser antwortete mir: „Wind ist Wind. Ob er nach Osten oder nach Westen bläst — gleichviel. Er soll gar nicht blasen, wir wollen Ruhe haben." Also, wie gesagt, mein Artikel wurde gestrichen. Es war zehn Uhr Abends, und es fehlte mir eine halbe Spalte. Was thue ich? Im Polizeyzimmer lag unter den Sachen eines Jenäer Studenten, der am nämlichen Tage, weil er seine Wirthshauszeche nicht bezahlen konnte, arretirt worden war, ein kleiner Horaz. Ich setze mich hin, übersetze daraus die Ode: N U N C EST BIBENDUM 6 , und bringe das nasse Manuscript zum Censiren ins Nebenzimmer, wo der Polizeydirektor saß. Dieser las es und sprach: „Charmant! Ich muß Ihnen

144

14. Ludwig Börne ( 1 7 8 6 - 1 8 3 7 )

das Kompliment machen, daß Sie die Ode recht gut übersezt. Horaz — das war ein Mann! Welche Sprache, welche Delikatesse, welches attische Salz! (Schade, bemerkte ich, daß auch dieses Salz ein Regal ist!) Und welche Philosophie, welche Sittlichkeit, welche Tugend! Ja, Horaz, das nenne ich einen wackern Mann!" ... Als ich Horaz wegen seiner Sittlichkeit loben hörte, pochte mir das Herz, ich konnte es nicht länger aushalten, und mußte mir Luft machen. Ich ordnete meine Glieder, streckte feyerlich wie ein Gespenst meine Rechte aus, und sprach wie folgt: „Horaz ein wackerer Mann? der? Nun, dann seyd mir willkommen, ihr Memmen und Schelme! Nicht als ich Sylla morden, als ich Cäsar rauben, als ich Octavius stehlen sah, gab ich die römische Freyheit verloren — erst dann weinte ich um sie, als ich Horaz gelesen. — Er ein Römer, Ihr Götter! und seine Kinderaugen hatten die Freyheit gesehen — er war der erste, der sich am Feuer des göttlichen Genius seine Suppe kochte! Was lehrt er? Ein Knecht mit Anmuth seyn. Was singt er? Wein, Mädchen und Geduld. Ihr unsterblichen Götter! ein Römer und Geduld! Er vermochte darüber zu scherzen, daß er, in jener Schlacht bei Philippi, wo Brutus und die Freyheit blieb, seinen kleinen Schild „nicht gar löblich," verloren. Klein war der Schild, Herr Polizeydirektor, und doch warf er ihn weg — so leicht machte er sich zur Flucht! Und der ein wackerer Mann?" ... Ich sagte noch mehrere solche, theils fürchterliche, theils heidnische Dinge. Der Polizeydirektor entsezte sich, trat weit, weit von mir zurück, und sah mich flehendlich an. Ich ging. Auf der Treppe dachte ich: er ist doch kein ganzer Türke — er fürchtet die Ansteckung! Aber das Lob, das offizielle Lob, daß ich NUNC EST BIBENDUM gut verdeutscht, hatte ich weg. Das munterte mich auf, ich übte mich weiter, und so habe ich nach und nach fast den ganzen Horaz übersezt. Da liegen sie nun die armen Oden und Satyren, und ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Sollte ein unglückseliger Zeitungsschreiber Gebrauch davon machen wollen, die Zahnlücken der Zeit damit auszufüllen, so stehen sie ihm zu Gebote. Briefe werden postfrey erbeten. /

14.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2 3 4 5

6

Will man den Satz nicht als pure Fiktion nehmen, so ist „Herausgeber" eine ironische Übertreibung. 1814 begann Börne seine schriftstellerische Tätigkeit mit Beiträgen für das von seinem Freunde Stiefel herausgegebene „Frankfurter Journal". Der erste Satz ist ein Zitat aus der zweiten Epode des Horaz („Glücklich ist, wer fern von Geschäften lebt?"), der zweite („Und auch von Einnahmen?") eine Zugabe Börnes. Vielzitierter Kernsatz aus dem „Discours sur le style" des Grafen von Buffon. „Unter freiem Himmel sollst du weilen." Die späteren Ausgaben enthalten hier den die Eile erklärenden (von der Zensur gestrichenen?) Zusatz: „Sie sollen nicht vergessen, daß am 20. September 1824, abends mit dem Glockenschlage zwölf, die Zensur in Deutschland aufhört." Bis zu diesem Tage erstreckte sich die (vorläufige) Gültigkeit der Karlsbader Beschlüsse von 1819. „Jetzt gilt es zu trinken." — Beginn der Ode 37 des ersten Odenbuchs.

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830) 15.1. Einführende Bemerkungen Walter Benjamin entdeckte in ihm den revolutionären Schriftsteller zwischen Aufklärung und Marx, Werner Kraft den Vorläufer von Karl Kraus, und der Titel einer Jochmann gewidmeten Dissertation siedelt ihn in einem Raum „Jenseits von Klassik und Romantik" an. Jochmann war ein Außenseiter mit geringer Wirkung in seiner Zeit (unter den Autoren dieses Bandes erwähnt nur Mündt seinen Namen) und mit geringer Beachtung durch die Nachwelt. Er paßte schlecht in die Traditionslinien, die die geistesgeschichtliche Forschung für Literatur, Philosophie und politische Publizistik vorgesehen hatte. Deutschland betrachtete er — physisch wie geistig — von außen oder vom Rande her. Aufgewachsen im äußersten Nordosten, in Pernau bei Riga, hielt er sich viele Jahre in England, Frankreich und der Schweiz auf und lebte die letzten Jahre im fast schon französischen äußersten Südwesten (Karlsruhe, Baden-Baden). Sein geistiger Horizont ist vorab und vor allem von der westeuropäischen und deutschen Aufklärung bestimmt. Neben den Engländern und Franzosen kommen Lessing, Winckelmann, Schubart, Campe und die Ostpreußen Hippel, Herder, Kant und — am häufigsten zitiert — Hamann ins Blickfeld, Goethe jedoch bleibt so gut wie ausgespart; die Romantiker werden wegen ihrer Begeisterung für das Mittelalter wenigstens der Kritik gewürdigt. Seine politischen und sprachkritischen Schriften erschienen zu seinen Lebzeiten sämtlich anonym. Nach seinem Tode kümmerte sich Heinrich Zschokke um den Nachlaß, den er z. T. in seiner Zeitschrift „Prometheus", im übrigen zwischen 1836 und 1838 in einer dreibändigen Ausgabe nachgelassener Papiere veröffentlichte. Wiederentdeckt oder richtig entdeckt wurde Jochmann erst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts von Walter Benjamin und Werner Kraft. Teile des Werkes liegen inzwischen in mehreren Neu- oder Faksimiledrucken vor (Walter Benjamin 1939, Werner Kraft 1967, Christian Johannes Wagenknecht 1968, Eberhard Haufe 1976, Ulrich Kronauer 1982, Uwe Pörksen 1983). Das größte Interesse hat zweifellos das Buch „Ueber die Sprache" gefunden, das Jochmann 1828 im Winter-Verlag veröffentlichte und dem er heute seinen Ruf als Sprachkritiker des 19. Jahrhunderts verdankt. Es besteht aus fünf relativ selbständigen Kapiteln. Das erste, mit dem Titel „Über den Rhythmus. Bruchstück aus den Denkwürdigkeiten des Grafen S xxx " (1—36), beruht auf Gesprächen mit dem Grafen Schlabrendorf 1819 und 1821/22 in Paris, Kapitel 2 („Die Sprachreiniger", 39 — 182) ist eine Auseinandersetzung mit dem Purismus, insbesondere mit Campe. Der für diesen Band interessanteste Teil ist das dritte Kapitel „Wodurch bildet sich

146

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

eine Sprache?" (185-246). Es folgen „Die Rückschritte der Poesie" ( 2 4 9 - 3 2 0 ) und abschließend 100 „Stilübungen". Abgedruckt wurde der größere zweite Teil des dritten Kapitels, in dem sich Jochmann, nach der Darstellung der sprachlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in anderen europäischen Staaten (Italien, Spanien, Frankreich, England), der Geschichte und dem Zustand der deutschen Sprache zuwendet. Liest man diesen Text im Zusammenhang mit den anderen hier vorgelegten sprachkritischen Zeugnissen aus der ersten Jahrhunderthälfte, so stellt sich allerdings der Verdacht ein, daß Jochmann vielleicht doch nicht der einsame große Außenseiter war, als der er in der neueren Rezeption erscheint. In wesentlichen Punkten entspricht das, was er an Diagnose, Erklärungen und Zukunftserwartungen präsentiert, dem, was man einige Jahre später bei den Jungdeutschen und 12 Jahre zuvor bei Adam Müller lesen kann. Insbesondere ist die Einsicht, daß die Defizite der Sprache historisch und gegenwärtig ihren Grund in den gesellschaftlichen Verhältnissen haben und auch nur durch deren Veränderung behoben werden können, in der ersten Jahrhunderthälfte, zumal im Umkreis der nationalen und liberalen Bewegungen, eher zeittypisch; sogar bei dem wahrhaft nicht revolutionären Adam Müller kann man lesen, daß die Beredsamkeit nur in Republiken gedeihe.

15.2. Literaturhinweise Textvorlage Carl Gustav Jochmann: Ueber die Sprache. Heidelberg: C. F. Winter 1828, 202—246 [anonym erschienen]. Weitere Literatur A: Carl Gustav Jochmann's, von Pernau, Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zschokke. 3 Bde. Hechingen: Ribler'sche Hofbuchhandlung 1836 - 1 8 3 8 . Graf Gustav von Schlabrendorf in Paris über Ereignisse und Personen seiner Zeit. Aus K. G. Jochmanns Papieren. In: Prometheus. Für Licht und Recht 1 (1832), 1 4 8 - 2 0 4 . B: Benjamin, Walter: Einleitung zu Carl Gustav Jochmanns Rückschritten der Poesie. In: Walter Benjamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt: Suhrkamp 1966, 3 5 2 - 3 6 5 . Kraft, Werner: Carl Gustav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Vormärz. München 1972. Pörksen, Uwe: Plädoyer für politische Kultur. Über Carl Gustav Jochmann. In: Merkur 35 (1981), H. 2, 1 9 8 - 2 0 4 .

15.3. Text

147

Schiewe, Jürgen: Sprache und Öffentlichkeit. Carl Gustav Jochmann und die politische Sprachkritik der Spätaufklärung. Berlin [im Druck]. Wagner, Gerhard: Jenseits von Klassik und Romantik. Die geschichtsphilosophischen, sozialen und ästhetischen Anschauungen von Carl Gustav Jochmann und ihre Stellung in der Geschichte der progressiv-bürgerlichen Ideologie von 1789 bis 1830. Diss. Berlin [DDR] 1978.

15.3. Text *Das Loos der armen, deutschen Sprache! (1828) [...] Wie ganz anders das Loos der armen, deutschen Sprache! Arm, arm an benutzter, wie reich auch immer an unentwickelter Kraft, beurkundete sie gleich ihrer jüngeren Schwester, nur auf entgegengesetzte Weise den überwiegenden Einfluß bildender Verhältnisse. Siegte, begünstigt von ihnen, die Eine schnell und entschieden über alle innere Mängel, so unterlag die andre, den reichsten Anlagen zum Trotze, nicht weniger schnell und entschieden ihrem widrigen Geschick.' Zweimal schien es, als werde ihr die höhere Bestimmung eines öffentlichen Lebens in ihrem Vaterlande, ja im innigsten Bunde mit den wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit, unter den Sprachen Europa's der erste Rang zu Theil werden, und jedesmal vereitelte das neue Rom, als wär' es ihm um die Rache des älteren zu thun, die gerechtesten Hoffnungen seiner Ueberwinder. Die Hohenstaufen, wahrscheinlich die ersten und letzten deutschen Kaiser, die den wesentlichen Zusammenhang der größeren Höhe ihres Thrones mit einer breiteren Unterlage desselben, mit der Reichsunmittelbarkeit, nicht einiger gefürsteten Lehnleute nur, sondern ihres Volkes deutlicher in's Auge faßten, die Hohenstaufen kämpften vergebens gegen die höchsten Gewaltansprüche der Kirche, der jeder untergeordnete Ehrgeiz in seinem Ringen nach einer unabhängigen Stellung zwischen der kaiserlichen Macht und ihren Schutzbefohlenen, als einer natürlichen Bundesgenossin sich anschloß. Das freigeisterische Geschlecht büßte im Bann und auf dem Blutgerüste die politische Ketzerey eines vaterländischen Sinnes, und einige Minnelieder, verlorene Laute, die den vermeintlich anbrechenden Tag begrüßten, blieben die einzigen Zeugen seines flüchtigen und vereitelten Daseyns. Was im südlichen Deutschlande die schwäbischen Kaiser fruchtlos unternommen, schien einige hundert Jahre später im nördlichen die Reformation auch zu vollenden bestimmt. Ein Volk, das den eben so glücklich verfolgten als gränzenlosen Anmaaßungen des christlichen Priesterthumes den ersten Widerstand geleistet, und eine Sprache, die den ersten Vertheidigern der Gewissensfreiheit siegreiche Waffen geboten hatte, ein solches Volk und eine solche Sprache waren, so lange sie nur nicht selbst ihrer hohen Bestimmung untreu wurden, schon durch ihr früheres

148

15. Carl Gustav Jochmann ( 1 7 8 9 - 1 8 3 0 )

Erscheinen auf dem rühmlichsten Kampfplatze, des ersten Ranges unter Völkern und Sprachen gewiß. Aber so blieb es nun einmal der Unstern dieses Volkes, daß in den Augenblicken der Entscheidung Macht und Einsicht nie zusammentrafen, und große Gelegenheiten, die sich nie erzwingen lassen, auch nie benutzt wurden. Hatten die Hohenstaufen für die politische Würde ihres Reiches fruchtlos gegen die religiöse Herabwürdigung desselben gekämpft, so stießen ihrerseits Carl V. und seine Nachfolger das unwiderstehliche Mittel, das ihnen zu demselben Zwecke die Reformation geboten hatte, zurück. Sie unterlagen dem Bündnisse mit Rom, wie jene seinen Verfolgungen, zogen die Schirmvogtey der Kirche der ihres Reiches vor, und versäumten die große Gelegenheit Rechnung zu halten über die Jahrhunderte der Eigenmacht ihrer Beamten, die Reichstage aus ihrem Pflanzenleben zum Bewußtseyn eines öffentlichen Daseyns aufzuwecken, und in einer Pairskammer zu Regensburg, wie sich Moser ausdrückt, und einem Hause der Gemeinen, dessen Bestandtheile in Städten und Landständen, vereinzelt freilich, aber doch schon vorhanden waren, statt eines übermächtigen Lehnhofes, Deutschland um ihren Thron zu vereinigen. Je unwiederbringlicher alle Aussichten auf ein gemeinsames Vaterland dahinschwanden, von desto größerer Wichtigkeit erschienen diejenigen, welche die Reformation auf die Ausbildung einer gemeinsamen Sprache zu eröffnen schien. Eben auch auf die Bedeutung und Bildung der Landessprachen äußerte dieselbe, mittelbar oder unmittelbar, erkannt oder gefürchtet, verbreitet oder bekämpft, ihren entschiedensten Einfluß. Die öffentliche Meinung bestimmte ihren Sieg oder Untergang, und Beförderer und Widersacher, um die Ueberzeugungen oder Leidenschaften der Menge zu gewinnen, mußten sich dieser vor allen Dingen verständlich machen. Unter jedem protestantischen Volke zumal bezeichnete die Reformation eine neue und wichtige Bildungsstufe seiner Sprache; das religiöse Bedürfniß ihrer Anwendung wurde das Mittel ihrer Entwickelung, und Bibelübersetzungen waren die ersten Muster eines reineren Ausdrucks, dessen Gepräge seiner Alterthümlichkeit ungeachtet nie gänzlich veraltete, und sich mehr oder weniger bei jedem erhalten hat. Was in andern Gegenden durch die vereinigten Anstrengungen Mehrerer zu Stande kam, leistete in Deutschland ein einziger Mann. Dem Deutschen, durch römische Priesterkünste seinem Vaterlande wie dem Christenthume entfremdet, rettete Luther allein beides, Sprache und Religion. Deutschland wurde der classische Boden des Protestantismus, und seine Sprache, in der zuerst nach langen Jahrhunderten auch der Laie das Evangelium vernahm, den besseren Geistern in ganz Europa ehrwürdig, und unter Luthers schöpferischen Händen ihrer hohen Bestimmung werth. Sogar die Häupter des Volkes wußten das vaterländische Besitzthum zu schätzen, und geboten durch ihr Selbstgefühl die Achtung des Auslandes. Bei dem Friedensschlüsse von Passau beschwerten sie sich über den Gebrauch fremder Sprachen am kaiserlichen Hoflager, und Heinrich II., indem er sich an die im Jahre

149

15.3. Text

1554 zu Frankfurt am Main versammelten Fürsten wandte, schrieb seine Briefe deutsch.* Auch die Erwartung einer geistigen Wiedergeburt, zu der ein solcher Anfang berechtigt hatte, mußte die von ihren Freunden wie von ihren Widersachern verkannte und gemißhandelte Reformation unerfüllt lassen. War sie diesen von jeher zu vorwitzig, so erschien sie jenen endlich zu ungelehrt. Freiheit, wär' es auch nur Gewissensfreiheit, bedrohte die Rechte der weltlichen, und eine bloße Religion des Gewissens das Ansehen der geistlichen Obrigkeit. Was Allen verständlich war und bleiben sollte, wurde zu einem scholastischen Räthselspiele. Die Reformation folgte den Jesuiten auf den von ihnen gewählten Kampfplatz; sie wandte sich wie Loth's Weib nach dem verlassenen Sodom zurück, und stand versteinert still, und nicht lange, so handelte sich's nur noch um alte Besitzungen der Einen und neue Geheimnisse der andern Parthey. Als nach einem hundertjährigen Kampfe beide Theile zu ermüdet waren, ihn fortzusetzen, gab es in Deutschland Calvinisten und Lutheraner, aber nirgends Protestanten. Das Kanzelgezänke der Eiferer, das alle Fähigkeiten und Leidenschaften des Volkes in Anspruch nahm, ließ es zweifelhaft, was einer Sprache nachtheiliger sey, ob ihre Vernachlässigung oder ihre Benutzung im Gebiete einer bloßen Kirchenreligion. Die deutsche wenigstens versank in eine tiefere Barbarey, als in der Luther sie gefunden hatte, und sein Name war bald genug von allen ihren Wörtern das einzige, das den Ausländer an Deutschlands Verdienste um die Grundsätze und Wohlthaten der Reformation erinnerte. Der einzige bleibende, aber unter solchen Umständen zweideutige Gewinn, der aus dem religiösen Aufschwünge des sechszehnten Jahrhunderts späterhin zu Gunsten der deutschen Sprache hervorging, war der, — soll ich sagen ihrer Erhebung, oder ihres Vertrocknens? zu einer Büchersprache, war der ihres Bürgerrechtes im Gebiete der Wissenschaft und Litteratur. Aber weit entfernt, in diesem neuen Wirkungskreise bedeutende Fortschritte zu machen, war sie nur selten sich im Besitze jener Kraft und Würde, die ihr Luthers Begeisterung erworben hatte, zu behaupten im Stande. Ihre Veränderungen bestanden meistens in bloßen Abänderungen ihrer Fehler, und U n b e s t i m m t h e i t , U n v e r s t ä n d l i c h k e i t und H ä r t e blieben in dem ganzen folgenden Zeiträume die eigenthümlichen Mängel, freilich nicht unsrer Sprache an sich, wohl aber der jedesmaligen Art ihrer Benutzung. Werfen wir einen Blick auf jeden dieser Mängel, und überzeugen wir uns, daß jeder aus der stummen Bedeutungslosigkeit unsers gesellschaftlichen Lebens hervorging, und jeder nur unheilbarer wurde durch unsre Schreibseligkeit. Den fortdauernden Mangel dieser Sprache an einer bestimmten Form und Haltung, erkennen wir schon in dem durch ähnliche Gebrechen erklärten Schicksale *

G A L L I A E QUOQUE REGIS NOMINE FUERUNT IBI RECITATAE LITTERAE germanica CALENDIS OCTOBRIS.

S/eidan. L. XXV. ad a. 1554.

lingua

SCRIPTAE

150

15. Carl Gustav Jochmann ( 1 7 8 9 - 1 8 3 0 )

ihrer Litteratur, die eben auch darum, obgleich eine der jüngsten in Europa, schon mehr als einmal veraltete. In den wenigen Menschenaltern ihres Daseyns war das Werkzeug, das ihre Leistungen bedingte, war die deutsche Sprache fast eben so vielen Veränderungen unterworfen als das deutsche Reich. Wie dieses der Spielball jedes übermächtigen Fürsten, war jene die wächserne Nase jedes tonangebenden Genies. Jedes „schuf sich die seinige," wie man gutmüthig zu rühmen pflegt, und meistens eine, die auch nur „die seinige" war. Anderswo brauchte der Schriftsteller die Eigenthümlichkeiten seines Geistes doch auch nicht zu verleugnen, aber indem er seinem Werke das Gepräge derselben aufdrückte, blieben sie einem allgemeineren Gesetze, blieb sein Styl der Sprache unterthan. Addison's schmucklose Zierlichkeit, Swift's unverhüllte Kraft und Johnson's prächtiger Periodenbau gingen so natürlich aus der Sprache als eigenthümlich aus dem Geiste ihrer Schöpfer hervor. Unter uns Deutschen hingegen überwog und verdrängte noch jedesmal der Genius des Einzelnen den allgemeineren der Sprache, eben weil dieser, der sich aus den Gesinnungen und Lebensäußerungen eines ganzen Volkes entwickeln muß, bei deren Bedeutungslosigkeit noch zu keiner festen und selbstständigen Haltung gekommen war. Nicht bloß die Form, auch der Stoff könnte man sagen, ihrer Gedankeneinkleidung gehörte den Schriftstellern. Klopstock, Johannes Müller, 2 und wie viele noch sonst! hatten alle nicht nur i h r e n e i g n e n S t y l , sondern auch i h r e i g n e s D e u t s c h , ein vortreffliches zum Theil, aber doch nur i h r e s , und höchstens in der Mode, aber nie im Gebrauch. Die gesetzlose Freiheit bestrafte auch in diesem Falle sich selbst. Gab es keinen allgemeingültigen Sprachgebrauch, der den Schriftstellern Schranken setzte, so gab es auch keinen der ihren Werken jene Jugendfrische verbürgt hätte, die sich nur in der seinigen erhält. Ein englischer Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts, ein Temple, Clarendon, Burnet, ist noch im neunzehnten genießbar nicht allein und verständlich, sondern auch musterhaft; er schrieb in einer gereiften Sprache, deren Züge, wie die des Menschen, wenn er zu dem stehenden Alter seiner völligen Ausbildung gelangte sich nicht so leicht verändern. Der Styl eines deutschen Buches, der in Einem Jahrzehende die Neuheit selbst war, ist eben daher schon im folgenden welk und verschossen, und ein Schriftsteller muß wie das Chamäleon die jedesmalige Farbe seiner Umgebungen annehmen können, sonst wird er ihnen fremd, muß sich mit den lesenden Geschlechtern zu verjüngen wissen, oder er überlebt sich selbst. Dem innersten Wesen, wie der Form unsrer schriftstellerischen Erzeugnisse, theilte sich diese Haltungslosigkeit ihres Bodens, der Sprache mit. Die Blüthen der deutschen Litteratur entfalten sich nicht an den Zweigen eines einzigen, festen Stammes, wie Wasserpflanzen schwimmen sie auf einer beweglichen Oberflächp, wohin der Strom der Mode oder irgend eine Wahlverwandtschaft sie treibt. Keiner der verschiedenen Darstellungsarten des Gedankens ward eine ungetheilte Herrschaft in ihrem eigenthümlichen Kreise zu Theil. Wir haben keine Gesellschaft, und folglich, wie Frau von Stael bemerkt, kein Lustspiel, und unsre Muse des Trauerspieles weiß auch nicht recht, mit wem, und ob sie es eigentlich mit den

15.3. Text

151

Helden der Geschichte oder mit den der Kinderstube zu thun hat. Jene weinerliche Komödie, in der sich beide Musen in den Armen, oder doch in den Haaren liegen, sagt uns am besten zu. Die Geschichte schwankt ungewiß, zwischen dem Flitterstaate des Romans und dem vernachlässigten Arbeitskleide des Handlangers, der ihr dienen soll. Poesie und Prose überhaupt führen im elterlichen Hause gemeinschaftliche Wirthschaft, und hatten wir eine Zeitlang in unsrer Poesie eine ganz erträgliche Prose, so haben wir jetzt nach gerade in unsrer Prose eine desto unerträglichere Poesie. Und wie ein Spiegel fremde Farben am treuesten zurückstrahlt, wenn er selbst keine hat, so fügte sich die deutsche Sprache, — auch wie ein Spiegel nichts Innres offenbarend, sondern immer nur Aeußeres abspiegelnd, — in Ermangelung eines eigenthümlichen Wesens jeder fremden Manier. Von Moses bis Walter Scott giebt es in aller Welt keine Form und Weise, die nicht bei uns ihren Wiederhall fände oder ihren Wiederschein, und wir haben Uebersetzungen, die der Sprache ihrer Vorbilder so nahe kommen, daß man dieser mächtig seyn muß, um jene zu verstehn, aber wer nennt uns das einheimische Werk, das fest genug im deutschen Boden wurzelte, um die vollkommenste Verpflanzung in einen andern unmöglich zu machen, in dem Einkleidung und Gedanke, wie Leib und Seele so unzertrennlich zusammehingen, daß man Deutschland und seine Sprache kennen müßte, um es zu würdigen? Eine Sprache, mit solcher Hingebung jedem Fremden zu Diensten stehend, könnte schwerlich zu einem recht eigenen und werthgehaltenen Gute ihrer Besitzer werden; und so giebt es denn auch eben bei uns eine Menge von Leuten, und nicht nur Leuten von Stande, die sich in irgend einer Sprache des Auslandes ganz zusammenhängend, ja verständig und geistvoll ausdrücken, während sie in ihrer eignen keines vernünftigen Gedankens fähig scheinen, und nirgendwo eine so große Anzahl ausgezeichneter Köpfe, die zu ihren schriftstellerischen Darstellungen eine fremde, und nicht etwa todte, sondern lebende fremde Sprache der ihrigen vorzogen, als bei uns. Geistige Auswanderungen, häufig wie die andern aus dem Paradiese der Titel und Titelblätter, aber auch dem Lande der Waaren= und Gedankensperren, und die weder erst mit Friedrich II., der ganze Ansiedelungen in ein fremdes Sprachgebiet hinüberführte anfingen, noch mit ihm endeten. Schon Leibnitz schrieb viel und gern französisch, und Männer wie Oelsner und Bonstetten thun es noch jetzt. 3 Und während jede andre Sprache ihre Gränzen scharf geschlossen hält, verliert jede sich mit weiten Abschattungen bis tief in das Gebiet der unsrigen. Der Waatländer spricht französisch und nur französisch, aber der Berner ein deutsch=französisch, an dem der Urstoff beinahe noch jämmerlicher ist als die aufgeflickte Zugabe. Der Elsasser, der Lothringer schämen sich ihrer Muttersprache und thun als ob sie dieselbe nicht verständen, und thun wohl daran. Des Westphalen Zunge wie sein Arm steht in des Holländers Botmäßigkeit. Italiens Nähe verkündigt uns schon diesseits der Alpen das deutsche Wort. Bis auf den Ungarn und Polen, die sich mit besserem Glücke unsrer Sprache als unsrer Herrschaft erwehrten, und

152

15. Carl Gustav Jochmann ( 1 7 8 9 - 1 8 3 0 )

welchen der Deutsche, in einem höheren Sinne, als in dem ihnen der Fremde, der ihre Sprache nicht verstand, so hieß, ein Stummer geblieben ist,* giebt es keinen Angränzer, dessen Laute nicht irgendwo auch bei uns zu Hause wären. Andre Völker behaupteten ihre Sprache gegen Eroberungen und Völkerwanderungen, die unsrige zu verdrängen genügt es an einer Nachbarschaft. Mit andern ist auch die erborgte zuletzt verwachsen wie des Baumes Rinde mit seinem Kern, um den Deutschen flattert sein innigstes Eigenthum, ein loses Gewand, leicht und wandelbar getragen und — vertauscht. Ihr festes und eigenthümliches Gepräge hat jede Sprache von dem Geiste ihrer Besitzer zu erwarten, und es zu empfangen ist Eine so fähig als die andre. Die Anlage zu einem v e r s t ä n d l i c h e n Ausdrucke hingegen ist nicht in gleichem Maaße das Verdienst einer jeden Sprache selbst, wohl aber Verständlichkeit ein desto unerläßlicheres Erforderniß in Jedem, der sich irgend einer, und sey es in dieser Hinsicht noch so unvortheilhaften bedient. Welcher Einfluß hier den bloßen Regeln einer verschiedenartigen Wortstellung gehört, erkennen wir in den uns nahe liegenden und einander entgegengesetzten Beispielen unsrer eignen Sprache und der französischen. Die Kürze des französischen Redesatzes hat den eigenthümlichen Vorzug, des Hörers oder Lesers Aufmerksamkeit zu wecken, und — ohne ihn erst lange warten zu lassen — auch gleich zu befriedigen. Der Franzose will vor allen Dingen Klarheit, aber da sich ein größeres Ganzes nicht auf einmal erklären läßt, so vertheilt es die Sprache. Sie reicht ihm den Gedanken in kleineren Gaben, — theelöffelweise meinte Jemand 4 — und so ist ihm Kürze Verständlichkeit. In dem weitschichtigeren Bau unsrer deutschen Sprache fügen sich deren längere Sätze nicht so gefällig der Ungeduld des Hörers, aber sie haben den Vorzug, an das Nachdenken zu gewöhnen, indem sie die Aufmerksamkeit festhalten. Das größere Ganze eines längeren Satzes läßt sich mit jenen größeren Gemälden vergleichen, in welchen mehrere einzelne Gestalten eine einzige Darstellung ausmachen, und nur Einen Gesammteindruck hervorbringen. Es giebt Leute, welchen das Ganze zu groß ist. Sie wollen aus jeder Gruppe ein Bild machen, und sie können es, und haben dann alles einzeln, was in dem größeren Werke vereinigt war, aber das alte Bild haben sie nicht mehr. Beide Arten der Wortstellung haben ihre eigenthümlichen Vortheile und Schwierigkeiten, nur sind, scheint es, jene den Franzosen, diese dem Deutschen die nähern. Kürze führt so unmittelbar zur Klarheit, daß es mit der Einen fast unmöglich ist die andre zu verfehlen; der ausgedehntere Stoff hingegen erfordert, um schnell und leicht übersehen zu werden, eine sorgfaltigere Anordnung. Auch der schlechteste französische Schriftsteller besitzt noch immer das Verdienst seiner deutlicheren Sprache, auch der bessere deutsche ist nicht immer glücklich in dem * NIEMETZ, in den slavischen Mundarten ein Stummer und ein Deutscher.

15.3. Text

153

Kampfe gegen die Schwierigkeiten der seinigen, und mehr als Einer glaubte ihn siegreich zu bestehen, indem er sich den Gesetzen der fremden unterwarf, oder sich die Unklarheit, die er zu vermeiden außer Stande war, zum Verdienst anrechnete. Auch diese Art von Unverständlichkeit, zum Theil erklärlich durch die Eigenthümlichkeiten einer Sprache, aber nie mit ihnen zu entschuldigen, läßt sich mehr oder weniger auf den Mangel eines allgemeingültigeren Sprachgebrauches zurückführen; eine andre hingegen, die das Gepräge der meisten unsrer wissenschaftlichen Werke ausmacht, hat ihren Grund fast nur in einem ähnlichen Mangel, und unsre Schriftsteller, statt in seiner Sprache zu ihrem Volke zu sprechen, begnügen sich in einer selbstgeschaffenen einem kleinen Kreise ihrer Schüler, und oft auch in diesem nur einem noch kleineren von Eingeweihten verständlich zu seyn. Daß etwas nicht verstanden wird, kann freilich eben so wohl an demjenigen liegen, der da nicht versteht, als an demjenigen, der sich verständlich machen soll, am Gegenstande sowohl als am Ausdruck, und es giebt gewisse Fächer des Wissens, deren Darstellung, um begriffen zu werden, besondere Vorkenntnisse und eine genauere Bekanntschaft mit der ihnen eigenthümlichen Kunstsprache voraussetzt. Alles Wissen, das der Erfindung oder Einbildung des Menschen seinen Ursprung verdankt, alles was dieser, weil er selbst es machte, für ausgemacht, positiv, zu halten und so zu nennen pflegt, gehört dahin, und kann und muß dem Laien, auch in dem zweckmäßigsten Vortrage mehr oder weniger unverständlich seyn. Aber es giebt noch ein andres Wissen, dessen Gegenstand, erhaben über die schöpferische Einbildungskraft unsers Geistes, nur seine treue Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, und alles menschlichen Hinzuthuns unbedürftig, nur beobachtet und anerkannt zu werden braucht, eine höhere Weltgeschichte, die der Mensch nicht macht, sondern erlebt, einen Inbegriff jener allgemeinen und ewigen Gesetze der uns umgebenden sinnlichen und sittlichen Natur und unsrer eignen, eine Kette von Wahrheiten, den einzigen, die so genannt zu werden verdienen, die wir in ihrem unermeßlichen Zusammenhange nie völlig übersehen, die sich aber in Zeit und Raum unaufhörlich vor den Augen unsers Geschlechts entwickeln, und in deren fortschreitender Anerkennung zuletzt alles Fortschreiten dieses letztern besteht; und in dem Reiche dieses Wissens giebt es nur in sofern Laien, als auch die Lehrer noch nicht in ihm zu Hause sind, und was ihnen das Feld ihrer Beobachtungen seyn sollte, für das ihrer Erfindungen ansehen. Wahrheiten wie diese, weit entfernt auf etwas „positivem" in dem selbstgefälligen Sinne unsrer Anwendung des Wortes zu beruhn, verdrängen vielmehr in dem Maaße, als wir sie kennen lernen, jenes Menschenwerk, das ihnen verhüllend im Wege steht, und nur dem Truge, der uns den Umfang der Wahrheit nach den jedesmaligen Gränzen unsers Gesichtkreises abmessen läßt, seinen vorausgesetzten Werth verdankt. Eine Zeit, in der nur positives Recht gekannt oder geachtet wird, ist die der positivsten Barbarei, die Theologie für Religion ausgegeben, ist unter allen die letztere entstellenden Miß-

154

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

Verständnissen das irreligiöseste, und alle unsre Lehrsatzungen in den moralischen so gut als in den physischen Wissenschaften, Zeugen unsers Wunsches die Wahrheit zu errathen und unsrer Unfähigkeit sie zu schauen, sind nur, insofern sie als vorläufige Ersatzmittel ihrem Zwecke entsprechen, von einigem Werthe, und so oft ihnen ein selbstständiger beigelegt wird, nach Baco's treffender Bezeichnung, eben so viele Atalanta's=Aepfel auf der Bahn unsers Geschlechts. In allen Fächern der Erkenntniß, die mehr oder weniger Schöpfungen des Menschen sind, in allen Künsten, die uns die von der Natur dargebotenen Stoffe benutzen, in allen Wissenschaften, die uns ihre Gesetze anwenden lehren, giebt es unstreitig Dunkelheiten, die zunächst dem Gegenstande selbst angehören, und die nicht dem Lehrer, der jene vorträgt, sondern dem Schüler zur Last fallen, der sich die zu ihrem Verstehen unentbehrlichen Vorkenntnisse noch nicht erworben hat. Anders hingegen verhält sich's, wo von der Natur selbst und ihren Gesetzen, sey es physischen oder moralischen die Rede ist. Hier giebt es keine aus dem Gegenstande selbst hervorgehende Unverständlichkeit. Er darf nur enthüllt werden, um sich in jeder Menschenseele abzuspiegeln, und von allen Wahrheiten gilt, was mit Recht von den der Größenlehre bemerkt wurde: daß der Mensch nur an sie erinnert zu werden braucht, um sie zu verstehn. Die Schwierigkeit aber an so viele derselben zu erinnern, liegt nicht sowohl an ihnen, als an der mangelnden Uebung sie auszudrücken; der schwierige Begriff ist nicht Ursache, sondern Folge des schwierigeren Ausdrucks, und nur so lang' als die Sprache, haben wir auch den Gedanken in unsrer Gewalt. Sogar da, wo das Bedürfniß eine größere Anzahl vereinzelter Entdeckungen und Erfahrungen im Gebiete der Natur, dem Gedächtnisse mit größerer Sicherheit zu überliefern, Kunstsprachen und Lehrgebäude unentbehrlich machte, sind sie doch vielmehr unvermeidlich auf dem jedesmaligen Standpunkte der Wissenschaft, als unentbehrlich an sich. Mehrere derselben, die alle zu ihrer Zeit ihrem Zweck entsprachen, sind vergessen auf dem Wege des Forschers liegen geblieben, und der Meister, der in ihnen die Stützen, nicht der Wahrheit, sondern seiner Schwäche zu erkennen weiß, freut sich in ihrer zunehmenden Entbehrlichkeit seiner wachsenden Kraft. Wo aber nicht sowohl Beschreibung als Lehre beabsichtigt, wo nicht sowohl das Gedächtniß als die Urtheilskraft in Anspruch genommen wird, und es zur Darstellung nicht bloßer Erscheinungen, sondern der ihnen zum Grunde liegenden Gesetze der Natur, zumal in ihrem geistigen und sittlichen Gebiete, nur auf Erörterung und Berichtigung unsrer Ansichten von oft ganz alltäglichen, aber meistens in einem undeutlichen oder falschen Lichte angesehenen Gegenständen ankommt, da entschuldigt keine auch nur vorübergehende Natur der Dinge die Unverständlichkeit ihrer Darstellung. Jede Kunstsprache in dieser höhern Naturgeschichte ist ein Beweis ihrer Verkünstelung, und eines Mangels, nicht in der Sprache, sondern in demjenigen der sich ihrer bedient. Und eben hier ist eine in fast noch höherem Grade verwirrende als ermüdende Schwerfälligkeit ein so unterscheidendes Kennzeichen unsrer Büchersprache, daß

15.3. Text

155

sie nach gerade in Deutschland und überall, und nur in jenem Gründlichkeit, und anderswo bei dem rechten Namen genannt, für das Bezeichnende der deutschen Philosophie zu gelten pflegt. Eine dürre Scholastik, die diplomatische Geheimnißkrämerei einiger längst verschollenen Gelehrtenrepubliken und ihres unfruchtbaren Gedankenverkehres blieb die Form unsers philosophischen Wissens, und eine nothwendige, so lange wir, statt in dem Sinne eines Baco, unsre Begriffe von den Dingen durch die Beobachtung und Auseinandersetzung ihres Wesens zu berichtigen, das Wesen der Dinge durch Zusammenstellung vorgefaßter Begriffe darstellen zu können uns einbildeten. Einen Reiz, wie ihn den wichtigsten und an sich natürlichsten Gegenständen unsrer Betrachtung, den Gesetzen unsers Denkens und Handelns, schon ihre Wichtigkeit gewährt, bewahrten und steigerten in England und Frankreich bessere Köpfe durch das Verdienst eines Vortrages, der zugleich den Forderungen des Gelehrten und dem Geschmacke des Weltmannes entsprach. In Deutschland blieben ähnliche Leistungen der Wenigen, die, wie einen Lessing oder Moser und Herder glückliche Zufalle dem beschränkten Kreise ihrer zünftigen Gelehrsamkeit, um sie in dem größeren des Lebens einheimisch zu machen, entrissen hatten, ohne Frucht und Folge. Anderswo erforderte ein philosophisches Werk die angestrengtere Aufmerksamkeit seiner Leser doch nur für den Gegenstand; in Deutschland giebt es fast keines, dessen Verfasser nicht unverschämt genug wäre, ihnen auch noch die Mühe des Erlernens einer neuen Sprache zuzumuthen, seiner eignen nemlich, in der es ihm in Ermangelung aller nicht so nahe liegenden Reize, alle Schwierigkeiten der Neuheit zu vereinigen gefiel; und so blieb die Schule, glücklicheren Völkern eine Vorschule der Welt, eine geistige Münzstätte, die den Gedanken für seinen allgemeineren Umlauf ausprägte, nur uns im Sinne der mönchischen Clausur ihres Ursprungs, die verschlossene Truhe des Geizhalses, der fremden und eignen Reichthum dem Austausch entzieht, und jedes philosophische Buch ein Buch mit sieben Siegeln wie das in der Apocalypse, oder wie die Apocalypse selbst. Unsre Metaphysik behauptete sich im Besitze ihrer scholastischen Nebelkappe; unter den Händen unsrer schulgerechten Moralphilosophie wurde die Religion selbst zu einer bloßen theologischen Hülfswissenschaft, und unsre Politik, wo sie nicht gewissenloser Schlendrian war, gestaltete sich zu einer wesenlosen Träumerei. Daher denn auch gab es von jeher keinen den meisten Deutschen so unbekannten Theil der deutschen Literatur, als ihren wichtigsten, und was an gesunden Begriffen, was an Begriffen überhaupt sich über die Gegenstände derselben außer dem Kreise der Schule finden ließ, war fremden, und sey es auch nicht immer den gründlichsten, doch immer verständlichen Schriftstellern entlehnt. Klarheit der Oberfläche ist freilich kein so seltnes Verdienst, aber Finsterniß der Tiefe ist gar keines, und unsre Leser, wenn sie nur zwischen beiden und nicht etwas Besseres als beide zu wählen haben, ziehen die erste vor, und mit Recht, so lange sie mit bei weitem größerer Leichtigkeit eine ganz fremde Sprache lernen als unser Schuldeutsch, oder nur eine einzige seiner babylonischen Mundarten.

156

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

Trösten wir uns! Jene in Deutschland eben am wenigsten unerhörten, aber sogar in Deutschland immer hoffnungsloseren, Wünsche und Vorschläge, die größeren und eigentlichen Wahrheiten, die natürlichen, die früher oder später einmal den selbstgemachten, positiven Eintrag thun, die Staatsgeheimnisse gleichsam der Vernunft und des Gewissens, nur in todten d. h. gelehrten Sprachen abzuhandeln, sind eben hier auch die überflüssigsten von der Welt. Unter allen Stoffen in der Natur mag schwerlich einer noch mehr gebundenes Licht enthalten, als — und zwar ohne des Buchbinders Hinzuthun — ein deutsches Buch. Der Gedanke, der sich aus den Werken unsrer Philosophen in die Welt verirren soll, wird sie schwerlich in Flammen setzen, und Besorgnisse vor dem aus der Schule Plaudern der Wahrheit, die überall nur einen niederträchtigen Sinn enthalten, haben für uns nicht einmal den. H ä r t e endlich, der letzte unter den hervorstechenderen Mängeln unsrer bisherigen Sprache, und Unverständlichkeit stehen in einem so innigen Zusammenhange der Wechselwirkung, daß schon darum, wo die Eine zu Hause ist, sich auch die andre zu finden pflegt. Dem lichtvollen Gedanken fügt sich der gefalligere Ausdruck, und was schwer zu verstehen ist, fallt in der Regel auch der Zunge und dem Ohre zur Last. Beide folgen ohnehin aus der nemlichen Seltenheit einer lauten Sprachübung im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben, die allein das Bedürfniß der Klarheit und beleidigende Mißklänge fühlen, und jenes befriedigen und diese vermeiden lehrt, und obgleich man glauben sollte, daß jede mit dem fortdauernden, lebendigen Daseyn einer Sprache nothwendig verbundene, auch noch so geringfügige, laute Anwendung derselben, ihr wenigstens gegen die anstößigsten solcher Verunstaltungen Bürgschaft leisten müßte, so giebt es doch, nach aller Erfahrung, Umstände, unter deren verkümmerndem Einflüsse, was namentlich den reinen und wohlklingenden Ausdruck betrifft, ein gänzliches Verstummen ihr kaum so nachtheilig seyn dürfte als ihr Gebrauch. Alle Redseligkeit des rohen Schwätzers veredelte noch nie seine Rede, und wer von Dienern umgeben, und ihrer schweigenden Folgsamkeit gewiß, um verstanden zu werden, nur zu befehlen und immer nur s i c h zu hören braucht, hat weder Veranlassung noch Gelegenheit, wie im Umgange mit seines gleichen, schon durch des Gedankens Einkleidung der Zuhörer Ueberzeugungen in Anspruch zu nehmen und ihre Aufmerksamkeit zu verdienen. Herren und Knechte sind selten gute Sprecher. Besäßen sie auch die Fähigkeit es zu werden, die Einen wagten, die Andern brauchten es nicht zu seyn, und ihr wechselseitiger Verkehr ist auch in dieser Hinsicht ein bloßer Austausch ihrer Fehler. Eine Thatsache, die ebensowohl den Verfall ganzer Sprachen, als den vernachlässigten Ausdruck ihrer einzelnen Besitzer erklärt. In den höchsten und in den niedrigsten Ständen eines Volkes zeigen sich die ergiebigsten Quellen ihrer Verunstaltung; oben, in dem Kanzeleistyl der Machthaber und ihrer Verwaltungs* und Regierungsbehörden, und unten, in dem nicht minder werthlosen Redeschlendrian des Pöbels bildet und bewahrt sich was immer im Ausdrucke den Geschmack

15.3. Text

157

beleidigt, oder den Sinn entstellt, und Sprachreinheit ist wie Sittenreinheit und aus dem nemlichen Grunde, in der Mitte, ist in demjenigen Stande zu suchen, der von den Versuchungen des Ueberflusses und von den Demüthigungen des Mangels gleich weit entfernt, sich zwar anzustrengen, aber seinen Anstrengungen mit dem Leben dann auch des Lebens Genuß und Würde zu danken hat; in jenem Mittelstande, von dem wir überall die ersten Funken des Lichtes und die ersten Bewegungen eines geordneten bürgerlichen Lebens, und in dem Maaße wie er die ihn umgebenden roheren Bestandtheile der Gesellschaft veredelnd in sich aufnimmt, alle Gesittung der Gesellschaft ausgehen sehn. Die wohlthätigen Folgen der Abwesenheit, oder doch einer größeren Ferne der vornehmsten und der niedrigsten Stände auf die Ausbildung einer Sprache, zeigen sich uns, ältere Erscheinungen dieser Art unter Griechen und Arabern zu geschweigen, noch gegenwärtig in den Beispielen fast aller von europäischen Völkern ausgesandten Ansiedelungen, deren Bevölkerung sich eben daher noch jedesmal durch eine bessere, und durch die allgemeinere Verbreitung einer besseren Mundart, vor der des Mutterlandes auszeichnete. So in den Ostseeprovinzen des russischen Reiches, wo die deutsche Sprache fast nur von Städtebewohnern und Gutsbesitzern, den Angehörigen des einer fremden Regierung unterworfenen, und von der niedrigeren Volksklasse durch deren alte Landessprache völlig abgesonderten Mittelstandes gesprochen, und unstreitig wohlklingender und im Ganzen wohl auch reiner und richtiger gesprochen wird, als in irgend einer Gegend von Deutschland selbst. In den spanischen und französischen Colonien der neuen Welt, obgleich sie bei strengerer Abhängigkeit von den Mutterstaaten sich den gesellschaftlichen Formen derselben getreuer nachbildeten, war Aehnliches die bloße Folge der Abwesenheit eines ihnen durch fremde Sclaven ersetzten Tagelöhnerpöbels; und noch weit auffallender zeigt sich der nemliche Vorzug in den Staaten des nördlichen America's, wo die, unter einer aus allen Gegenden Großbritanniens, ja aus allen Ländern Europa's zusammengewanderten Bevölkerung zur herrschenden gewordene englische Sprache, in allen Theilen jenes unermeßlichen Gebietes bei weitem gleichförmiger und im allgemeinen auch fehlerfreier gesprochen wird als in ihrer Heimath, und wo die Bewohner Neuenglands den von Georgien sprachverwandter sind, als in Europa, nicht etwa nur der Irländer dem Schotten, und dieser dem Engländer, sondern oft schon die Eingebornen irgend einer englischen Grafschaft ihren Gränznachbaren in einer andern. Wichtigere politische Vortheile überwogen hier die näheren Hindernisse, die eine so ungleichartige und so spärlich auf einem weiten Räume zerstreute Bevölkerung dem bloßen Erhalten, und um so mehr dem gleichmäßigen Fortbilden der Sprache nothwendig entgegenstellte: eine größere Unabhängigkeit von den Behörden des Mutterlandes, eine vielmehr den Bedürfnissen der Meisten als gewissen Vorrechten der Wenigsten entsprechende, und folglich sehr einfache und sehr öffentliche Verwaltung, und mit beiden der Vortheil einer, wenn auch nicht im Einzelnen so hervorstechenden doch unstreitig allgemeiner verbreiteten Bildung dieser Bevölkerung selbst, die zu

158

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

keiner Zeit eine bloße vermittelnde Klasse zwischen großen Herren und ihren Tagelöhnern ausmachte. Keinem war in ihr die Arbeit geschenkt, aber Jeden belohnte sie mit einer gewissen Selbstständigkeit, wie sie, und eben so erworben, das Daseyn eines Mittelstandes bedingt. In Europa ihr geringerer Theil, umfaßt er hier die ganze Anzahl der freien Bewohner des Landes. Die ersten Ansiedler gehörten ausschließlich ihm, und während bei uns, durch große Titel und kleine Besoldungen schlecht entschädigt, immer Mehrere in Verhältnissen und Gesinnungen zur dürftigen Abhängigkeit der niedrigsten Klasse hinabsanken, stiegen auf dem reicheren Boden des freien Erwerbes die Bettler sogar und Verbrecher, die Europa dahin sandte, zu einer höheren empor. Haben diese Bemerkungen über den Einfluß gesellschaftlicher Einrichtungen auf die Sprache einigen Grund, so läßt sich wohl kaum ein derselben ungünstigeres Verhältniß denken, als das ihren Gebrauch im öffentlichen Leben auf Befehle und Berichte, und im häuslichen auf die ärmlicheren Zwecke und Sorgen dieses letzteren beschränkt; und eben ein solches war von jeher, und ist großentheils noch gegenwärtig das Loos der unsrigen. Das öffentliche Leben der Deutschen geht in Schreibstuben und auf Paradeplätzen vor; und pflegt man anderswo Aushängeschilder für ziemlich gute Anzeigen der in einer Gegend einheimischen Verunstaltungen einer Sprache anzusehen, so mögen wir, und vorzugsweise unsre halb= und ganz=amtlichen und halb= und ganz» undeutschen Regierungs= und Wochenblätter dahinrechnen, und aus ihnen lernen, wie der armen Sprache auf den Marterbänken unsrer Kanzeleien, den Arbeitstischen regierender Geschäftsleute, alle Gliedmaßen verstümmelt oder aus ihren Fugen gereckt werden, um sie bald in dictatorischer Kürze aufstampfen und bald in unterthäniger Breite hinkriechen zu lassen, während Sinn und Klang in beiden Fällen zu Grunde gehn. Und was das Friedensheer der Beamten verdarb, machte das Kriegsheer der Söldner nicht wieder gut. Bereichert hat es vielleicht unsre Sprache, mit Flüchen wenigstens, von ihm veranlaßt oder erfunden, gebildet schwerlich. Kaiser Joseph, sagt man, kleidete bei Gelegenheit einer Zusammenkunft mit Friedrich II., einen dem letztern über seinen Widerwillen gegen die deutsche Sprache zugedachten Vorwurf, in die schmeichelhafte Bemerkung: der König habe doch in so vielen siegreichen Schlachten deutsch befehligt. „Ach ja, soll dieser geantwortet haben, aber dennoch, glauben Sie mir, das beste, was in d e r Sprache sich sagen läßt, ist: _ * * * * ! " Und so ganz Unrecht hatte der königliche Feldherr in seiner Lage nicht. Viel besseres rief man den Deutschen auch nach den siegreichsten Kriegen von der Spitze ihrer eignen Heere selten zu, und der Wachtstubendienst bildet so wenig eine Sprache, als denjenigen, der sie spricht. Außer dem engen Kreise des häuslichen Bedürfnisses, und etwa noch der Kanzel mit ihrem Wechselfieber einer hitzigen Polemik oder frostigen Sittenrednerei, war in Deutschland für die Sprache nirgends ein Raum vorhanden, in dem sie gehört werden konnte, nirgends einer, in dem sie durch lebendigen Gedankenaustausch sich hätte bilden können. Die Wohlthaten einer edleren Anwendung ihres

15.3. Text

159

Reichthumes in dem freieren öffentlichen, oder höheren gesellschaftlichen Leben eines zahlreichen Mittelstandes erfuhr sie nie. Eine Gesellschaft im besseren Sinne des Wortes, eine Gesellschaft, wie sie an Höfen so wenig als in Dorfschenken zu Hause ist, besitzen wir nur kaum in einigen schwächlichen Versuchen. Für Gelehrte gab es gar keine, in der des Adels und seiner freiwilligen Dienerschaft nachäffender Bürger wurde französisch gesprochen, im öffentlichen Leben gar nicht, und so geschah es, daß am Ende kein Volk der Erde die Sprache weniger in seiner Gewalt hatte als das unsrige. In allen Gegenden Frankreichs oder Englands giebt es nur Eine Sprache der Gebildeten. Eigenheiten des Ausdruckes bezeichnen die geringeren Stände, deren auch geistiges Leben sich auf ihre nächsten Umgebungen beschränkt. In Deutschland findet sich unter Hunderten, die auf allgemeinere Bildung Anspruch machen, kaum Einer, der nicht in seinen Worten und in ihrer Aussprache die Eigenheiten des Ländchens oder Städtchens zur Schau trüge, dem er angehört. Und so selten als ein reiner und allgemeingültiger Ausdruck ist unter ihnen der geläufige. Die Bemerkung, wie verwirrt und sinnlos ein jedes von Geschwindschreibern treulich aufgenommene Gespräch, in Ermangelung des Mienen» und Gebehrdenspieles der Sprechenden und der von ihnen stillschweigend verstandenen Dinge dem Leser vorkommen müßte, mag überall nicht ungegründet seyn, wahrscheinlich aber würde sie zuerst in Deutschland gemacht, und wenigstens ist sie nirgends wahrer als hier. Von jener glänzenden Unterhaltungsgabe, die in der scharfsinnigen Erörterung eines Gegenstandes, oder in der wohlgeordneten Erzählung sogar des Schriftstellers Kunst übertrifft, ist ohnehin bei uns nur von Hörensagen die Rede, und machten sich einige Deutsche dadurch bekannt, so geschah es, zum sichern Beweise daß dem Künstler zu Hause das Werkzeug mangelte, in der Fremde; aber das tachygraphische Facsimile 5 einer nur ganz gewöhnlichen deutschen Unterhaltung, — während jede französische wenigstens aus ganzen und sprachrichtigen Sätzen besteht, — wer möchte sich dieses Gewirre zu entwickeln, wer sich diese „zerrissenen Glieder", nicht eines Dichters oder Redners aber seiner armen Sprache zu ordnen getraun! Vornehmere machen sich's bequem, und sprechen in Infinitiven, oder begnügen sich wie Harlekin im Lustspiele, wo er seinem Schreiber ein Gedicht auf den Geburtstag seiner Tochter in die Feder sagt, durch einzelne Sylben die Lücken anzudeuten, die der Hörer mit seinen pflichtschuldigen Gedanken auszufüllen hat, und Andre, so oft ein Gespräch über den gewohnten Kreis von Witterungsbeobachtungen oder Ereignissen des Spieltisches hinausgeht, leisten einander gegenseitig denselben Dienst, und ihre aus den mannichfaltigsten Bruchstücken verstümmelter Sätze zusammengestoppelte, durch Zeichen und Gebehrden erläuterte und von gefälligen Mitsprechern halb errathene und halbverstandene Rede würde nur in den seltensten Fällen die Probe der schriftlichen Darstellung aushalten, und dem geneigtesten Leser auch nur halb verständlich seyn. Der Sprachgebrauch selbst, ein außerdem so unfehlbarer als unbeschränkter Gesetzgeber der Sprache, büßte unter einem des lebendigen Wortes ungewohnten

160

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

Volke von seiner Untrüglichkeit ein, und überließ gedankenloser Trägheit ein desto freieres Feld, und nirgends vertraten in Schrift und Rede Mißbräuche, auf keinem besseren Grunde beruhend, so häufig seine Stelle. Doppelte Verneinungen behaupteten ungestört auch unter guten Schriftstellern einen verneinenden Sinn. Unklare Gedanken führten zum Aussprechen ganz andrer, als die man gemeint hatte, und „sich n i c h t e n t b l ö d e n " z. B. hieß im Deutschen soviel als „sich e n t b l ö d e n " , wie „ s c h w a r z " in der Cistercienser Ordensregel so viel als „weiß";* oder ein bloßes Verwechseln ähnlicher Laute, wie jenes, leider noch anderswo als in dem Sitze der hochdeutschen Mundart, nemlich überall in Deutschland einheimische, des weichen T, wie man zu sagen pflegt, mit dem harten D, gab Veranlassung zu einem solchen Vertauschen einander ganz entgegengesetzter Begriffe, und ein B e d i e n t e r wurde bei uns zu Einem, der da bedient, weil aus einem B e d i e n e n d e n , und in der schnelleren Aussprache, wo die nebeneinanderstehenden, beinahe gleichen Mittelsylben zusammenflössen, einem B e d i e n ' d e n ein Bedienter geworden war.**

* Die Farbe des Ordenskleides, heißt es in jener Regel, sey schwarz, und in einer Anmerkung, die im Gebrauche den Text verdrängte: d. h. weiß. ** Was He i n s i u s ( T e u t . 3te Aufl. I. S. 339) über den gegenwärtigen verkehrten Sinn des Wortes B e d i e n t e r sagt, ist dem Verf. bekannt, aber nicht einleuchtend. Die vorausgesetzte ursprüngliche Bedeutung des Zeitwortes b e d i e n e n , zufolge deren es, J e m a n d e n in den Z u s t a n d des D i e n e n s v e r s e t z e n , oder, J e m a n d e n mit dem G e s c h ä f t e des D i e n e n s b e a u f t r a g e n , geheißen haben soll, widerspricht nicht allein dem gegenwärtigen Sinne desselben, — und es hat, so viel man weiß, nie einen andern gehabt, — sondern auch der Aehnlichkeit, wenigstens der Sinnähnlichkeit mehrerer, zu ihrer Begründung angeführten, ähnlichen Wortformen. B e s c h w e r e n , b e l ä s t i g e n , b e l e ben, b e r u h i g e n u. s. w. heißt nicht: machen, daß etwas Leben, Ruhe u. s. w. mittheile, sondern machen, daß etwas der angedeuteten Zustände theilhaft werde. Sie legen alle ihren Gegenständen nicht etwas, das ausser ihnen vorgeht, etwas t r a n s i t i v e s , sondern etwas, das an ihnen allein gedacht wird, etwas i n t r a n s i t i v e s bei, sie versetzen dieselben in einen Zustand, nicht aber in eine Thätigkeit, und so hieße denn auch b e d i e n e n ganz richtig, nicht machen: daß Jemand bediene, sondern machen: daß Jemand bedient sey. Jemand in den Zustand versetzen, in welchem er D i e n s t e l e i s t e t , möchte wahrscheinlich nach der in Sinn und Form zutreffenden Aehnlichkeit von B e a m t e r , durch eine Zusammensetzung mit dem Nennworte ausgedrückt worden seyn, und nicht b e d i e n e n , sondern b e d i e n s t e n geheißen haben. Unter Vermuthungen zu wählen, steht übrigens Jedem frei, und durch die hier gewagten, soll keinesweges der Gebrauch des Wortes B e d i e n ' d e r oder B e d i e n e n d e r empfohlen werden. So lange wir Deutsche uns noch mit einem so schwachen und genügsamen Ohre behelfen müssen wie bisher, thun wir unstreitig besser, verschiedenartige Begriffe durch möglichst verschiedenartige Ausdrücke zu bezeichnen, um vor dem Verwechseln beider desto sichrer zu seyn. Besser daher, wir lassen uns vom Diener bedienen, als vom Bedienten, oder selbst dem Bedienenden.

15.3. Text

161

Diese Unbehiilflichkeit in Ansehung des Ausdruckes, gab sie nicht erst vor Kurzem, als wir armen Leute, mit gleichen Füßen, mitten in die politische Wichtigkeit unsrer Nachbarn hineinzuspringen meinten, zu den kläglichsten Erscheinungen Gelegenheit! Die Sprache, unbrauchbar weil ungebraucht, war ein in die Scheide gerostetes Schwert, und in allen unsern berathenden Versammlungen Keiner, der es zu ziehen vermochte. Nach einigen kühnen, aber unglücklichen Versuchen parlamentarischer Beredsamkeit, beschloß man auch wohl, es hinführo beim Alten zu lassen, und wie die Väter in Regensburg DICTANDO zu verfahren, und wo Aehnliches nicht möglich war, erregte auch das entschiedenste, aber gegen Schwierigkeiten, die nur der geübten Kraft sich fügen, fruchtlos ankämpfende Talent vielmehr des Zuhörers Theilnahme als Bewunderung, oder die ihm aus dem Stegreif gekochte „Hausmannskost"* seiner Stellvertreter, ungenießbar wie die erkünstelten Schaugerichte bei den mühselig vorbereiteten Ohrenschmäusen ihrer Prunktage, ein eben so niederschlagendes aber widerwärtigeres Gefühl. Zur Entschuldigung solcher Thatsachen die eigenthümlichen Schwierigkeiten der deutschen Sprache vorschützen, heißt zur Erklärung benutzen, was eben erklärt werden soll. Finden sich in der deutschen größere Schwierigkeiten als in jeder andern lebenden Sprache, so geschieht es, eben weil sie weniger als jede andre lebt. Sie ist schwierig wie die todten Sprachen, deren ebenfalls mit aller Mühe Niemand so mächtig wird, als andrer, die er ohne Mühe durch den bloßen Gebrauch erlernt. Um eine Sprache fertig zu sprechen, soll man in ihr denken; sehr wahr, aber eben so wahr, daß man, um in ihr zu denken, sie fertig sprechen muß. Der deutliche Ausdruck setzt einen klaren Gedanken voraus, aber eben so gewiß ein klarer Gedanke den passenden Ausdruck; denn ist alle Rede nur ein lautes Denken, so ist hingegen, und eben darum, alles Denken auch nur ein lautloses, ein gedachtes Reden. Worte sind es, in welchen wir denken, und beide, unser Denk= und Sprachvermögen, einander gegenseitig bedingend, entwickeln sich so durchaus gleichzeitig, und stehen in einem so innigen Zusammenhange, daß die Bestimmung desjenigen von ihnen, das dem andern vorgeht oder zum Grunde liegt, unauflöslichen Schwierigkeiten unterworfen, jede getrennte und einseitige Ausbildung des Einen oder des andern aber nothwendig mangelhaft erscheint. Ein bloß gedachter Gedanke verhält sich zu dem auch ausgesprochenen, wie das Bild in der Einbildungskraft zu dem auf der Leinwand; und wie das Bild sich treuer und vollendeter in der Seele desjenigen abspiegelt, von dem es in Farben sichtbar dargestellt werden kann, so auch bildet sich der Gedanke deutlicher und bestimmter in dem Vorstellungsvermögen dessen, der ihn auszudrücken vermag. Die mächtigere, weil geübte Phantasie in Ansehung sichtbarer Gegenstände gehört, unter übrigens gleichen Umständen, dem Maler, die gewandtere Denkkraft, aus demselben Grunde und unter der nemlichen Voraussetzung, dem fertigeren Redner. * Ein gemüthliches Gleichniß aus der, wohl in einer Sitzung nach dem Essen gehaltenen Rede eines deutschen Abgeodneten.

162

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

Sprachfertigkeit ist ein geistiges Augenmaaß, das uns den Gedanken in allen seinen Beziehungen und Verhältnissen schnell und richtig überschauen, und wie das körperliche sich nur durch Uebung erwerben läßt, und jenes deutsche Volksübel des Nichtvonsichgebenkönnens, wenn gleich ursprünglich ein äußeres Unvermögen, wirkt am Ende nach Innen, wirkt lähmend auf den Gedanken, und, was schlimmer, auch auf die Gesinnung zurück. Daher, daß unsre hochgepriesene Gründlichkeit so häufig der Schwerkraft vielmehr als der Geisteskraft ihrer Besitzer angehört, und so Manche den Stoff zu ergründen meinen, in dem sie nur untergehn; daher jenes betrübendere Mißverständniß, vermöge dessen wir auch in sittlicher Hinsicht uns über die rohere Außenseite mit dem Glauben an ein desto gediegeneres Innere zu trösten suchen, und in jeder ungeschlachten Form des geselligen Lebens die Socratesmaske einer tiefen Gemüthlichkeit erblicken. Aber keine schlechtere Bürgschaft giebt es für die reine Gesinnung als einen unklaren Sinn, und bei dem innigen Zusammenhange alles Verwandten in der Natur, keine so klägliche Verblendung, als die das edlere Gefühl mit seinem edleren Ausdrucke für unvereinbar hält. Sittliche Bildung findet sich auch bei uns, nur wo die geistige, im besseren Mittelstande, und in diesem, bei größerem Zartgefühle und in gefalligeren Formen, auch anderswo, und was von der angenehmen Tugend unserer plumperen Treuherzigkeit zu halten, weiß Jeder, der sich auf Kosten seines Beutels oder seines Gefühles mit ihr bekannt gemacht. Herzlichkeit und Höflichkeit sind freilich nicht einerlei, und es ist keine Frage, daß Eine auch ohne die andre daseyn, aber auch keine Frage, daß jede nur mit der andern auf die Dauer gefallen kann. Die unhöfliche Treuherzigkeit ist am Ende widerlich wie die herzlose Höflichkeit, und ist es kein Verdienst nur Worte zu machen, so ist es noch weniger Eines nur solche zu haben, die dem Zuhörer wehe thun. Edler als das edelste Metall, läßt sich wie dieses die Gemüthlichkeit nur mit einer Zugabe ausprägen und in Umlauf setzen, zu der sich das gefallige Wort, obgleich ein schlechter Ersatz für dieselbe am besten schickt, während sie, mit gröberen Stoffen gemischt, zum Austausche des Gefühls eine Münze abgiebt, mit der man sich nicht wohl befassen kann, ohne sich zu verunreinigen. F A M I L I A R I T Y BREEDS CONTEMPT sagen die Engländer, und könnten wir mit besserem Rechte sagen; Vertraulichkeit gebiert Verachtung. Ein hartes Wort, aber ein wahres, wie so viele unglückliche Ehen, so viele zu Haß gewordene, sogenannte dicke Freundschaften, forscht man dem Ursprünge ihrer Verwandlung nach, es beweisen. Eine nähere Berührung, die eben die zartere Behandlung erfordert, läßt sie uns meistens vergessen, und mit der verletzten äußeren Achtung leidet und stirbt auch die innere. Statt aber, ehe wir allzeit fertig, und als wäre jedes Gefühl schon weil es ausgedrückt wurde ein erlogenes, unsern Nachbarn ihren Mangel an Gemüth vorrücken, zu bedenken, wie wenig das unsrige noch zur Veredlung unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse in einem weiteren Kreise beigetragen; statt einzusehen, was uns in dieser Hinsicht fehlt, und in Ermangelung einer größeren Gewalt über die Sprache,

15.3. Text

163

der ersten Bedingung eines vortheilhafteren Erscheinens auch unsrer besseren Seite, nothwendig fehlen muß, finden wir es bequemer, unsern Mangel selbst für den Beweis eines höheren Verdienstes anzusehn. Die Unklarheit unsrer Gefühle ist uns der Stempel ihrer Aechtheit, jede Veranlassung, bei der sich eben nichts denken läßt, eine desto bessere unglaublich vielerlei zu empfinden, und irgend ein Beiwort, das nur im seltensten Falle paßt, unser gewöhnlichstes in jedem: unnennbar, unsäglich oder unaussprechlich. Die nüchternste Empfindung die wir nicht auszudrücken verstehn, gilt uns für die höchste, die sich nicht aussprechen läßt. Eben dieselbe Natur der Dinge aber, die uns den Gebrauch, und einen edleren Gebrauch des lebendigen Wortes als wesentliches Bildungsmittel der Sprache sowohl als unsrer selbst zu erkennen giebt, beweist uns ferner die Unmöglichkeit, auf dem künstlicheren Wege des Schreibens, und wär' es auch des entschiedensten Vielschreibens zu diesem Zwecke zu gelangen. Die Schrift, eine bloße Darstellung des Wortes, erscheint in ihren Vorzügen und Mängeln unvermeidlich durch die des letztern bedingt. Sie leistet im Gebiete der Sprache, was die Kupferstecherei in dem der zeichnenden Kunst. Sie setzt zwar auch eine eigenthümliche, die nur ihr gehört, aber noch unmittelbarer Einsichten und Uebung in derjenigen, deren Schöpfungen sie nur festhalten und vervielfältigen soll, voraus. In einem Lande, wo man, um sich zum Zeichnen oder Malen auszubilden, mit dem Kupferstechen anfangen wollte, dürften vielleicht einzelne große Anlagen auch auf diesem verkehrten Wege zu einer gewissen Vollkommenheit in Einer oder der andern Kunst gelangen, aber im Allgemeinen weder Maler noch Zeichner, und wahrscheinlich nicht einmal erträgliche Kupferstecher zu finden seyn; gerade wie es in demjenigen, dessen Sprache in allen höheren Beziehungen des Lebens nur geschrieben wird, möglicherweise zwar einzelne große Schriftsteller geben dürfte, nicht aber darum auch eine gebildete Sprache, und im Ganzen doch keine Litteratur. Und eben das ist unser Fall. Die Engländer, weil ein freies und freisprechendes Volk, bildeten sich in dem lauten Hergange ihres öffentlichen Lebens auch zu einem denkenden und schreibenden wie es noch keines gab; die Deutschen, das vielschreibendste Volk der Erde, aber „Ruhe, aber stumme Ruhe die erste Bürgerpflicht", 7 aber „das Maul nicht brauchen" die erste Klugheitsregel, haben mit allen ihren Gänsekielen und Pressen kaum denken oder sprechen, und nicht einmal schreiben gelernt. Sogar die wichtigste ihrer eignen Erfindungen, die Buchdruckerkunst, sank unter so ärmlichen Verhältnissen zu aller Armseligkeit eines gemeinen Handwerks hinab. Ein deutsches Buch scheucht in der Regel, schon durch sein widerliches Aeußere, gleich anderm Schädlichen in der Natur von jeder näheren Bekanntschaft zurück, und selten, daß ein minder verwahrlostes Innere die warnende Hülle Lügen straft. Unsere Verleger, einige altfränkische Leipziger ausgenommen, lassen den Druck durch ihre Lehrjungen berichtigen, oder thun es gar selbst, und während jene kurzsichtigeren Buchhändler des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts, die Manutier 8 und ihres Gleichen, ein Goldstück für jedes ihnen in den Erzeugnissen ihrer Presse nachgewiesene Versehen auszahlten, wissen unsre Manutier ihre Druck-

164

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

fehler, ohne sie darum theurer zu halten, besser zu benutzen, und geben sie deren in jedem ihrer Verlagsartikel ganze Sammlungen um den nemlichen Preis. Nur die allgemeinere Anwendung der Sprache, — das ist es, was uns in jeder Beziehung immer von Neuem einleuchtet, — bildet endlich einen Sprachgebrauch, umfassend und vollendet genug, um in einem weiteren Kreise und für längere Zeit feste und allgemeingültige Regeln abzugeben; nur die öftere und mannichfachere Nothwendigkeit, sich durch die Rede zu verständigen, zwingt und lehrt vermöge zweckmäßiger Wortfügungen zur Verständlichkeit zu gelangen; und nur das geübtere Ohr, nicht aber das Auge bemerkt und verwirft jene Härten der Sprache, die, nur von dem letztern wahrgenommen, die nur gelesen, aber nicht gehört, sich von Einem Jahrhunderte zum andern forterben, wie Ecken und Spitzen, die sich an dem bewegten Steine abrunden, an dem ruhenden, wenn sie auch noch so sehr in's Auge fallen, ihre Stelle behaupten. Ja das bloße Schreiben, und wär' es das unaufhörlichste, weit entfernt für jenes lebendigere Mittel der Ausbildung einer Sprache zu entschädigen, ist vielmehr an sich, und wo jenes mangelt, ein Mittel ihrer Verunstaltung mehr, und eines der wirksamsten die es giebt. Nicht allein verdrängt es von seinem Richterstuhle denjenigen Sinn, der allein, im Klange über Kraft sowohl als Ebenmaaß einer Sprache urtheilen soll und kann, — das Gehör; es ersetzt ihn auch durch einen andern, dessen Entscheidungen in dieser Hinsicht nothwendig falsch und verleitlich seyn müssen, — das Auge. Vergebens meinen wir, was in einem Gedanken überzeugt, von dem zu unterscheiden, was in seinem Ausdrucke gefallt. Die Seele besteht freilich nicht aus ihrem jedesmaligen Werkzeuge, aber nur mit demjenigen, das ihr die Natur in jedem Falle angewiesen, verrichtet sie ihr Geschäft. Sie hört nicht bloße Töne, in den Tönen bewegt sich der Gedanke; sie hört nicht nur, sie versteht auch mit dem Ohre, wie der Blick, im Kreise der sichtbaren Welt eben sowohl unterrichtet als erfreut, und ein Buch, nur für das Auge geschrieben, ist zugleich wirkungslos und ungenießbar, wie eine Musik die Licht und Schatten zu malen unternimmt. Das Ohr, in seinem innigen Zusammenhange mit der Sprache, ist nicht bloß ein Sinnen Werkzeug, ist unmittelbarer als jedes andre ein Seelenvermögen; und bildet sich, wie B u f f o n wahrzunehmen glaubte, die Stimme des Menschen durch Ausathmen, die des Thieres hingegen durch Einathmen,* so bezeichnete schon dieser Gegensatz den wesentlichen Unterschied zwischen beiden. In der Sprache des Menschen äußert sich etwas Inneres, das ihm selbst gehört, seine Seele; in der Stimme des Thieres tönt gewissermaaßen nur die allgemeine der es umgebenden Natur. Auch ist, nach des nemlichen Schriftstellers treffender Bemerkung,** der Sinn des Gehöres dem Menschen bei weitem nothwendiger als dem Thiere. In diesem eine den Eindrücken der Außenwelt leidend hingegebene, bloße Eigen* S. Oeuvres de Buffon, Ed. de Lacepede. Paris 1825 X. p. 343 & 344.9 ** A. a. O. S. 331.

15.3. Text

165

Schaft, wird er in jenem durch die Sprache zu einer selbstthätigen Fähigkeit. Er ist es, vermöge dessen es ein gesellschaftliches Leben giebt, vermöge dessen wir für den Gedanken Andrer empfanglich, und ihnen den unsrigen mitzutheilen im Stande sind. Die Werkzeuge der Stimme wären ein zweckloses Geschenk der Natur, würden sie nicht durch ihn in Bewegung gesetzt, und ein Taubgeborener ist nothwendig auch ein Stummer, und zugleich jedes höheren und allgemeineren Denkvermögens beraubt. Er ist mit seinen übrigen Sinnen immer noch ein zu allen sinnlichen Zwecken des Lebens ganz wohl versehenes Thier, und nicht einmal die Stimme fehlt ihm, die allgemeine Sprache des Thieres, wohl aber das Wort, wohl aber die Sprache des Menschen, und in dieser nicht etwa nur das Bewußtseyn einer bloßen körperlichen Beziehung mehr, sondern das einer menschlichen Seele überhaupt, bis die gebundene Anlage auch zu einem solchen, auf mühsamen Umwegen, und immer doch unvollständig sich zu äußern, und so allein sich zu entwickeln geleitet wird. Und wie wenig auch unsre Sprache sich in der Taubstummenanstalt ihres Bücherwesens von einer gewissen ursprünglichen Unbeholfenheit loszuwickeln im Stande war, zu welcher neuen und eigenthümlichen Härte vielmehr, zu welcher — und nicht bloß dem ungewöhnten Ohre beleidigenden, und eben sowohl der deutschen als fremden Zunge lästigen Ungelenkigkeit ihrer Wortfügungen sie in derselben erstarrte, ergiebt sich aus jeder flüchtigsten Prüfung, bei der nur nicht etwa das Auge über den Wohlklang entscheiden darf. Nehmen wir ein Englisches Werk zur Hand, irgend Eines, und wär' es eine Zeitung, und lesen wir laut. Enthält es nur überhaupt Gedanken des Lesens werth, so erhöhen wir seine Bedeutung und unsern Genuß, wir fühlen, daß ein Seelenvermögen in unserm Ohre wohnt. Versuchen wir aber das Nemliche mit einem deutschen Buche, dem besten wo möglich, und sehen wir zu, wie lange wir es aushalten! Eine Engelszunge würde dabei zur stotternden, und es leuchtet ein, daß eine Bewegungsregel des Lautes, ein gewisses Ebenmaaß ihrer Glieder, das in der Einen Sprache, wie der fertig daliegende Ton auf dem Claviere, sich von selbst findet, in der andern, wie ein richtiger Griff auf der Saite gesucht werden muß, und nur zu selten gefunden wird. Und wie anders! da während diese noch Jahrhunderte lang im Schulstaube vergraben lag, und höchstens demosthenische Redeübungen, die nemlich mit den Kieseln im Munde, auf dem Papiere hielt, jene schon in den wichtigsten Kreisen des Lebens gekannt und geachtet war. Wie mögen wir uns wundern, daß, gebildet auf den Höhen der Menschheit, nicht Hofbühnen und Lehrstühlen, sondern Richterstühlen und Rednerbühnen eines freien Volkes, die treue Gefährtin der Sidney, der Rüssel, die Vertraute der Chatham und Fox, mit höherer Würde und Anmuth einherwandelt, als die armselige Handmagd unsrer obrigkeitlichen und gelehrten Schreibstuben, die nur eben und kaum der ersten Dienstbarkeit entgangen, politischen Bußpredigern und ihren schöngeistelnden Einhelfern zu schmählicheren Liebesdiensten in die schmutzigen Hände fiel. Ein Engländer schreibt, als spräch' er, als sprach' er zu seinem Volke, zu der Welt, und auch dem Schriftsteller dient ein geflügeltes Wort; wir aber denken sogar und

166

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

sprechen als wär' es Geschriebenes, und müssen dann der Sprache anhören, was nur der Schrift abgesehen zu werden bestimmt war, und Sätze, wie jenes musterhafte „O du, der du dir durch die dem — — Volke verliehenen Rechte unsterbliches Verdienst erworben hast," und hundert ähnliche tragen das Gepräge ihres Ursprunges in einer nur für das Auge berechneten Fingersprache auf dem Papier, und rechtfertigen die Besorgniß, uns endlich auf diesem Wege zu einer ganz unaussprechlichen Sprache gelangen zu sehn. Unter andern Völkern steht wie dem Bildhauer so dem Schriftsteller wenigstens ein gleichartiger, ihn zwar der Mühe nicht überhebender, sie aber doch belohnender Stoff zu Gebot. Aus demselben Blocke, an dem sich ein Ungeschickter verhaut, schafft ein Geschickter das ruhmwürdigste Denkmahl seiner Zeit. Und gehört auch überall zu den seltneren Erscheinungen ein Pygmalion, der seinem Bilde Leben einhaucht, daß es mit eigner Seele die Seele des Schauenden ergreift, so zeigt so manches Werk doch Züge und Formen, einer ähnlichen Beseelung werth, und erfreut und bildet mit seiner vollendeten Anmuth den Sinn des Glücklichen, dem es gehört. Wie aber gelänge auch nur das, wem aus dem vernachlässigten Marmorbruche nur Splitter oder unreine Massen voll Risse und fremder Körper, die einzigen Ausbeuten ungeschickter Arbeiter zu Theil wurden; wie vermöchte anzuziehen, wovon wir uns abwenden, wie den Sinn zu erfreuen, was die Sinne verletzt? Ein Phidias müßte an solchen Stoffen zum Stümper, und die Beredsamkeit eines Milton zu Schanden werden an einer Sprache, in der man kaum leise zu denken, geschweige denn laut zu schreiben versteht! Und als geschäh' es, ähnliche Nachtheile zu verewigen, überheben wir uns noch in hochmüthiger Befangenheit jener so ehrenvollen als demüthigen Selbsterkenntniß, die sich in dem Anerkennen fremder Vorzüge das Bewußtseyn eigner Mängel erhält; in Völkern wie in Einzelnen die sicherste Bürgschaft, weil die wesentlichste Bedingung ihrer Fortschritte. Lessing und einige seiner Zeitgenossen und Geistesverwandten, die Mehrzahl der Wenigen die etwas Bleibendes in unsrer Sprache lieferten, bereicherten mit den Schätzen des Auslandes ihre Heimath, und bildeten sich nach fremden Mustern, weil sie die Kraft in sich fühlten, es ihnen gleich zu thun. Den meisten ihrer Nachfolger, 10 aber leider nur in der Zeit, schien es vaterländischer gedacht, oder doch bequemer gethan, zu verachten was nicht so leicht zu erwerben war, und mit deutschem Fleiße, deutscher Gründlichkeit, und zumal deutschem Gemüthe, — dem Steckenpferde des deutschen Michels, auf dem er jedem Dränger, zu Scherz oder Ernst sich prügelrecht zuzudrehen pflegt, — nicht etwa nur Fleiß und Gründlichkeit und Gemüth, sondern auch Geschmack und Verstand und Weltkenntniß des Auslandes zu überbieten. Mit dem Stolze meinten sie sich anzueignen, was ihn rechtfertigt, und entbehrlich zu machen, was immer sie, weil es ihnen mangelte, für entbehrlich ausgaben. Den Urdeutschen, die bald als wildes Ritterheer brüllend ihrem holdseligen Mittelalter zu jagten, bald als Jünger oder Narren unbekannter hoher Oberen, ihre frommen Locktöne abwinselten und im feierlichen Kirchenaufzuge der indisch=römischen Sonne des Urprie-

15.3. Text

167

sterthumes entgegenschlichen, reihten gelehrte Forscher sich an, die zu Gunsten eines verschollenen Urwortthums dem Sprachgebrauche ihrer Zeitgenossen den Krieg erklärten, und in den Windeln der Sprache, als hätte in ihnen irgend ein sprachschöpferischer Dalai=Lama seine göttliche Nothdurft verrichtet, andächtig aufsuchten, was ihre männliche Reife schmücken soll. Aber da wir das ursprünglichste Urthum nun eben mit einfaltigem Gemüthe erfaßt zu haben meinten, hatte uns, wie die nachhinkende Strafe den Sünder, ein unentrinnbarer Fluch der unternehmenden Ohnmacht ereilt, hatte die Eigenthümlichkeit, wie das Glück den Suchenden fliehend, uns eben am entschiedensten den Rücken gewandt. Unsre eigenthümlichsten Entwürfe zur Bildung und Reinigung der Sprache waren abentheuerliche oder verspätete Nachahmungen gewesen, und als wir eben mit ihnen fertig waren, hatte sich das Nachbild unter unsern Händen in ein Zerrbild verwandelt, oder fragte kein Mensch weiter nach den Vorbildern selbst. Einen vernünftigen Gedanken der Griechen, das vollendetste und bekannteste Werk ihrer Sprache zum Schulbuche zu machen, übertrugen wir possenhaft auf das roheste und unverständlichste der unsrigen, und die Niebelungen, König Etzel und seine Recken und ihre Sitten und Sprache 11 sollten uns, die wir freilich keine Athenienser sind, zu paßlichen Vorbildern dienen, wie Homers und seiner Helden Gesinnungen und Rede dem Zeitalter Demosthens; und als wir eben recht eifrig unsre Sprache, wie man etwa den Diamanten mit seinem eignen Staube glättet, mit ihrem eignen Abfalle zu schmücken, mit Alterthümern zu reinigen, und aus Büchern, und vor Allem nicht gelesenen zu bereichern uns abmühten, fingen diejenigen, welchen das Glück solcher schriftgelehrten, aber nach einem ungleich verständigeren Plane arbeitenden Sylbenrichter am längsten zu Theil geworden, Franzosen und Italiener, deren Ueberflüssigkeit zu begreifen, ja sich ihrer zu schämen an. Die Vierziger von Frankreich, wie so manches andre wieder da, weil einmal da gewesen, fanden ihre Sprache nach einem langen Zwischenreiche unbevormundeter aber naturgemäßer Entwicklung, 1 2 nichts weniger als kraftlos oder verarmt, begnügten sich, und auch gleich manchem andern, in Ermangelung des alten Wesens ihrer Herrschaft mit deren alten Formen, und kamen gerechten Wiederholungen jener Klage über den lähmenden Zwang ihrer geschäftigen Befehlshaberei durch eine verdienstlichere Unthätigkeit zuvor, und selbst in Italien, und an der Wiege dieser Gesetzgeber der Sprache, 13 im Schooße der Academie della Crusca selbst, brach Eines ihrer Mitglieder im Namen der öffentlichen Meinung ihnen den Stab.* „Unsre Nachkommen, sprach er, hoffentlich vernünftiger als wir, werden sich fragen, welche Vortheile denn Italien unsern erbärmlichen Zänkereien zu verdanken hat, und ob nicht einige Blätter eines Verri, Beccaria oder * J. B. Nicolini in einer öffentlichen Sitzung der Academie della Crusca, zu Florenz den 15. Sept. 1821.

168

15. Carl Gustav Jochmann ( 1 7 8 9 - 1 8 3 0 )

Filangieri ihm ehrenvoller sind, als alle bändereichen Schlachten eines Muzio. * Die Werke der Menschenfreunde, der Stolz ihres Volkes haben Thränen getrocknet und Vorurtheile zerstört; unsre nichtswürdigen Händel, die Freude nur unsrer Feinde, wurden von jedem Verständigen beseufzt. Erröthen wir endlich einmal über den Winkelruhm, den wir selbstgefällig einander zutheilen, und stoßen wir das Vaterland nicht in seine Kindheit zurück, als wäre der Fluch, der es bisher getroffen, ihm auch fernerhin und für immer jede würdigere Laufbahn zu verschließen bestimmt!" Und lassen wir, die wir keinen Verri, keinen Beccaria und keinen Filangieri haben, und um so mehr auch uns gesagt seyn, was auch diesseits der Alpen trifft. Ueber das Gesetz der Sprache, wie über das der bürgerlichen Welt, entscheidet allendlich die Zeit; über dieses ihr Bedürfniß, über jenes ihr Gebrauch, und beide, um etwas tüchtiges zu leisten, sind ihr nicht sowohl zu geben, als abzusehen. Auf diesem Wege vollbrachte in England ein einziger Mann,** in einigen kurzen Lebensjahren, was in Frankreich ein ganzer Verein geschäftiger Academiker, nach einem ganzen Jahrhunderte unvollendet ließ,14 und that er um so mehr, je weniger sein Ansehen den weiterstrebenden Genius zu fesseln, und gegen das immerwechselnde und immer höchste der gesetzgebenden Mehrzahl sich aufzulehnen vermag. Ein ähnliches Verdienst erwarben sich Adelung und Campe 15 um unsre Sprache, und wohl nur darum ein minder vollständiges, weil um einen minder vollendeten Gegenstand; und nur so, nur indem wir ihr folgen, entsprechen wir den Forderungen der Zeit, nicht aber indem wir sie zu führen uns anmaaßen, und zerfallen mit uns selbst, in unserm wassersüchtigen Durste nach Einheit, jeden Schnitt zu einer neuen Uniform als das ersehnte Vereinigungswerk beschreien, und bei unsern Sprache Vereinigungs= und Reinigungsentwürfen wie bei unsern Kirchenvereinigungen zu Werke gehn, und ebenfalls die Leute unter Einem Hute zu haben meinen, haben wir sie nur erst unter Einem Dach. Lernen wir endlich, daß die Sprache, der treue Wiederhall eines innern Lebens, das mit äußern Verhältnissen im genauesten Zusammenhange steht, so wenig ein Erzeugniß bloßer Gelehrten seyn kann, als die Geschichte das unsrer Staatsmänner, wie sehr auch beide in ihren vertraulichen Berathungen beide auszufertigen sich einbilden; daß wir nimmer, wie etwa auf der Schaubühne Leidenschaften durch deren Gebehrdenspiel, auch bleibende Ursachen durch das Darstellen ihrer Wirkungen hervorrufen; daß der Baum, an den einige Papierblumen gehängt wurden, darum kein blühender ist, und man Todte nicht erweckt, indem man sie schminkt. Erkennen wir besser die Unnatur sogenannter „Gelehrter von Profession" und ihres der Gesellschaft entfremdenden „gelehrten Standes", mit seiner heillosen, die * Ein grundgelehrter und zu seiner Zeit hochberühmter Academiker, der unter diesem Titel im sechszehnten Jahrhunderte eine Sammlung Streitschriften über Gegenstände drucken ließ, über die andre Akademiker im neunzehnten zu streiten fortfahren. ** Johnson.

15.4. Anmerkungen des Herausgebers

169

Trennung zwischen Lehre und Leben verewigenden Wirksamkeit; arbeiten wir für einen reicheren Umlauf des Gedankens, als bei dem er sich mühselig aus einem Lehrbuche in ein Heft, und etwa aus einem Hefte wieder in ein Lehrbuch schleppt, und weiter nicht, und befreien wir ihn von jener schwerfalligen Bevormundung des Zunftgeistes, die wir nach gerade im Handwerke unerträglich finden, aber für die Wissenschaft in unsern Universitäten forthegen, den Scherben, in die, weil sie den Ableger schützten, nun auch der B a u m sich fügen soll. Schämen wir uns der Genügsamkeit, mit der wir an dem Ruhme, den die achthundert oder tausend Abnehmer und etwa halb so wenigen Leser einer gelehrten Zeitung austheilen, genug haben; merken wir endlich, wie klein die Schule, wie groß die Welt, und entschließen wir uns, wenn diese nun einmal unsre Bekanntschaft nicht suchen mag, unsrerseits die ihrige zu machen, und um ihr nicht unverständlich zu bleiben, s i e zu verstehn. Gleichen wir dem bescheidenen Wunderthäter, wir, die wir keine Wunder thun, und gehn wir zum Berge, der zu uns nicht kommen will! Auf diesem Wege vielleicht gelangen wir aus der kleinen Stadt Deutschland zu einem deutschen Volke, und haben wir erst ein Volk, so findet sich wohl auch die Sprache. Dann, aber auch nur dann.

15.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

3

4 5 6

Jochmann kontrastiert das Los der deutschen Sprache mit dem zuvor beschriebenen der französischen und der englischen. Mit der jüngeren Schwester der deutschen Sprache ist die englische gemeint. — Der alte Gedanke des besonderen, aber nicht realisierten Reichtums der deutschen Sprache, der sie potentiell über die anderen europäischen Sprachen erhebt, ist, wie seine Wiederkehr in den Texten dieses Bandes zeigt, im Bewußtsein der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast Gemeingut. Die sprachlichen Eigenwilligkeiten Klopstocks machen ihn zu einem besonders guten Beispiel für Jochmanns (und nicht nur seine) These. Die Wahl des Schweizer Historikers Johannes v. Müller (1752—1809) überrascht hingegen, wird er doch von vielen durchaus als normbildende Instanz empfohlen. Die Klage, daß so viele geistige Köpfe in Deutschland der deutschen Sprache eine fremde vorzögen, klingt 1828 anachronistisch. Die Beispiele sind auch nicht recht überzeugend. Der Schweizer Karl Viktor von Bonstetten (1745 — 1832), zweifellos ein Mann des 18. Jahrhunderts, lebte die letzten 30 Jahre im französischsprechenden Genf, und aus dieser Zeit stammen seine französischen Reisebeschreibungen und naturkundlichen Schriften. Auch Engelbert Oelsner (1764—1828), Schriftsteller und preußischer Legationsrat, paßte sich seiner Umgebung an, hielt er sich doch wie der Graf von Schlabrendorf seit Beginn der Französischen Revolution in Paris auf. Dort schloß Jochmann mit beiden 1819 und 1821/22 enge Bekanntschaft. Der „Jemand" ist der Graf von Schlabrendorf. Vgl. Bibl. A 68, 171. Tachygraphie: Schnell- oder Kurzschrift; seit der Antike bekannte Vorform der modernen Stenographie. Otto Friedrich Theodor Heinsius (1770—1849) war, wie früher schon Karl Philipp Moritz, Direktor am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin und verfaßte zahlreiche

170

7

8 9

10 11

12 13

14

15

15. Carl Gustav Jochmann (1789-1830) Lehrbücher über die deutsche Sprache, die viele Auflagen erlebten; außerdem ein Fremdwörterbuch (1814) und ein „Volksthümliches Wörterbuch der deutschen Sprache" (1818—1822). Das von Jochmann zitierte Hauptwerk veröffentlichte Heinsius unter dem Titel „Teut, oder theoretisch-praktisches Lehrbuch des gesammten Deutschen Sprachunterrichts" in vier Teilen 1807—1812 (Berlin: Duncker u. Humblot). Spätere Auflagen, so die von Jochmann zitierte dritte, erschienen unter verändertem Titel („Sprachwissenschaft" statt „Sprachunterricht"). Jochmann bezieht sich auf eine der langlebigsten schlagwortartigen Redensarten des 19. Jahrhunderts, die ihren Ursprung in einem Anschlagzettel hat, den der preußische Minister Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenburg-Kehnert nach der Schlacht von Jena am 17. 10. 1806 in Berlin anbringen ließ: „Der König hat eine Bataille verlohren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf." Zum Schlagwort wurde die Wendung allerdings erst im ironisch-polemischen Gebrauch der Liberalen und Demokraten gegen die verordnete „Kirchhofsruhe". Gemeint sind die Angehörigen der Familie Manutius, die seit 1489 über drei Generationen hinweg eine berühmte Druckerei in Venedig betrieben. Die folgenden Seiten enthalten Jochmanns überaus kritische Stellungnahme zur romantischen Bewegung, insbesondere zu ihrer Schwärmerei für die mittelalterliche Dichtung und Sprache, die Jochmann, verwurzelt in den philosophischen und literarischen Traditionen der westeuropäischen Aufklärung, fremd war. Jochmann zitiert ausnahmsweise einmal nicht den „Discours sur le style", sondern die Abhandlung „De l'homme". Anspielung auf die große Rolle, die das Nibelungenlied nicht nur in der literarischen Romantik und der frühen Germanistik, sondern im gesamten nationalpolitischen Denken der Zeit spielte. Die Tätigkeit der „Vierziger", d. h. der Mitglieder der „Academie Fra^aise", war während der Revolutionszeit unterbrochen. Die „Academia della Crusca" in Florenz war, 1582 gegründet, die erste nationale Akademie zur Pflege der Sprache. Sie wurde Vorbild für die 1635 von Richelieu gegründete „Academie Fra^aise" und die deutschen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Unvollendet blieb das Wörterbuch der Academie Fransaise; das gelobte englische Äquivalent ist Samuel Johnsons (1709 — 1784) „Dictionary of the English language" von 1755. Johann Christoph Adelung: Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung. Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1788; Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig: J. G. J. Breitkopf u. Comp. 1793 — 1798. — Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuche. 2 Bde. Braunschweig: In der Schulbuchhandlung 1801. Wörterbuch der deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig: In der Schulbuchhandlung 1807 — 1811.

16. Ludolf Wienbarg (1802-1872) 16.1. Einführende Bemerkungen Wienbarg, ein engagierter Publizist in manchen Streitfragen der Zeit, war nicht nur — in den 30er Jahren — ein führender Vertreter der Jungdeutschen, sondern auch ein Streiter für die „schleswig-holsteinische Sache" in den Vierzigern — am schleswig-holsteinischen Krieg gegen Dänemark nahm er selbst als Freiwilliger teil, und über Jahrzehnte beteiligte er sich an der Auseinandersetzung um Sinn und Nutzen der Pflege des „Plattdeutschen". Er plädierte für Ausrottung. Der Streiter gibt sich auch im Titel des Buches zu erkennen, dem der folgende Text entnommen ist: „Ästhetische Feldzüge", eine programmatische Schrift der jungdeutschen Bewegung, der Wienbarg in der Widmung den Namen gab, unter dem sie bekannt wurde. Geschrieben hat er dieses Buch aber nicht als Publizist, sondern als Wissenschaftler. Nach einem Studium in Kiel, Bonn und Marburg promovierte Wienbarg 1829 in Marburg zum Dr. phil. und wurde nach der 1833 folgenden Habilitation Privatdozent in Kiel. Die „Ästhetischen Feldzüge" sind das schriftliche Produkt seiner Kieler Vorlesungen. Für diesen Band ausgewählt wurde die 18. Vorlesung, in der er Poesie und Prosa in Deutschland und Frankreich vergleicht. Wenngleich er den bedauerlichen Zustand der deutschen Prosa — wie andere Autoren — auf die „miserabeln bürgerlichen und gesellschaftlichen Zustände der Deutschen" zurückführt, glaubt er, noch einen tieferliegenden Grund feststellen zu können. Er liegt in der Sprache selbst. Fichtes Ursprachlehre nutzend, befindet er, die deutsche Sprache sei mehr poetischer, die französische mehr rhetorischer Natur, die eine somit von Natur aus für die Poesie, die andere für die Prosa geeignet.

16.2. Literaturhinweise Textvorlage Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg: Hoffmann und Campe 1834, 223—229. Weitere Literatur A: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres beantwortet. Hamburg: Hoffmann u. Campe 1834.

172

16. Ludolf Wienbarg ( 1 8 0 2 - 1 8 7 2 )

Zur neuesten Literatur. Mannheim: Löwenthal 1835. Die plattdeutsche Propaganda. Hamburg: [ohne Verlagsangabe] 1860. Die plattdeutsche Sprache und ihre Apostel. Hamburg: [ohne Verlagsangabe] 1860.

B: Braak, Ivo: Ludolf Wienbargs eigener Lebensbericht mit besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Niederdeutschen. In: Sub tua platano. Festgabe für Alexander Beinlich. Emsdetten 1981, 400—419. Burckhardt, Gerhard: Ludolf Wienbarg als Ästhetiker und Kritiker. Seine Entwicklung und geistesgeschichtliche Stellung. Hamburg 1956. Ueding, Gerd: Rhetorik der Tat. Ludolf Wienbarg und seine Ästhetischen Feldzüge. In: Ders.: Die anderen Klassiker. München 1986, 8 9 - 1 0 9 , 2 4 9 - 2 5 1 .

16.3. Text *Die U r s p r ü n g l i c h k e i t der d e u t s c h e n Sprache (1834) Nach der allgemeinen Charakteristik der Künste, welche in den Kreis der Aesthetik gehören, beschränken wir uns verabredetermaßen auf die Kunst der Rede, der poetischen wie der prosaischen. Diese Kunst bedient sich der Sprache, als ihres Materials, wie der Bildhauer des Marmors, der Musiker des Tons. Nicht alle Sprachen sind gleich geeignet für die kunstreiche Bearbeitung, einige sind zu spröde, andere zu weich, einige zu roh, andere zu gebildet, einige zu arm, andere, man möchte sagen, zu reich, wie die deutsche, was zwar ein schöner Fehler ist, wenn überall einer, was aber doch dem Dichter oder Redner bei der Wahl der Wörter und Ausdrücke nicht selten auch die Qual verursacht. Allein der wichtigste Unterschied, den dieses Material, dieser Gedankenmarmor, die Sprache darbietet, ist der, ob dasselbe unmittelbar und ursprünglich aus dem Urfels der Nationalität gebrochen und gewonnen wird, oder ob es nur ein ausgebrochenes Stück Sprache ist, das vom Urfelsen getrennt, nur bedeutungslose, gesprungene und unterbrochene Adern aufweiset; ich meine, ob die Sprache eine Grundsprache oder eine abgeleitete ist. 1 Keiner kann die Tiefe dieses Unterschiedes begreifen, als der, dessen Begriffe in einer Grundsprache wurzeln, der selbst das Glück genießt, einem Volke anzugehören, dessen Sprache eine ewig fortrieselnde Quelle ist, deren Ursprung sich in die Felsen und Gebüsche der dunkelsten Vorzeit verliert. Man disputire nicht mit einem Franzosen über den Vorzug der beiderlei Sprachen, und wenn der Franzose, was jetzt häufig von jungen und geistreichen Parisern zum Studium Goethe's, Hoffmann's und anderer deutschen Schriftsteller geschieht, wenn er auch das Deutsche mit einiger Fertigkeit lesen und sprechen gelernt hat und den besten Willen zeigt, ohne altfranzösisches Vorurtheil die Vergleichung beider Sprachen anzustellen, so wird er doch nie den größten Vorzug des Deutschen vor dem

16.3. Text

173

Französischen, die Ursprünglichkeit begreifen und mit auf die Wagschale legen. Niemand hat diesen Punkt eindringlicher und tiefer erörtert, als Fichte in seinen unsterblichen Reden an die deutsche Nation; ich verweise Sie auf diese Stelle, wenn Sie Ihr Herz recht mit dem stolzen Gefühl durchdringen wollen, wie hoch unsere deutsche Muttersprache über den neuen europäischen steht. Freilich an äußerem Reiz ist manche ihr überlegen, heitrer, anmuthiger, gesellschaftlicher ist die französische, grandiöser die spanische, sangreicher die italienische, allein seelenvoller und herzinniger, gestaltreicher und gedankendurchsichtiger, als alle, ist und bleibt die deutsche. Die französische und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder sind mehr rhetorischer, die deutsche und alle ursprünglichen Sprachen mehr poetischer Natur. In jener hat sich die Sprache abgelöst vom sprachschaffenden, sprachbildenden Genius, vom Herzen, vom Bewußtsein der Nation, sie ist ein Aeußeres und Fremdes geworden, und wer sich ihrer bedient, nimmt sie nicht aus sich, sondern aus dem Vorrath conventioneller Formeln und Redensarten, die für alle Zeiten gestempelt sind. In dieser, der ursprünglichen, ist Sprache und Seele eins, wer Deutsch spricht, spricht es aus seinem eignen Innern heraus und bedient sich der Sprache nicht wie einer bloßen Convention, sondern als eines Naturprodukts, das in seinem eignen Lebensblute Wurzel faßt und seinen Geist vielastig mit Blüthen und Früchten durchwichst. Goethe vergleicht daher sehr richtig die französische Sprache mit ausgeprägter Scheidemünze, die Jeder in der Tasche bei sich trägt und der er sich auf das Schnellste im Handel und Wandel bedienen kann, die deutsche aber mit einer Goldbarre, die sich ein Jeder erst münzen und prägen muß; 2 woher es auch ein gewöhnlicher Fall, daß der gemeinste Franzose rasch und fließend spricht, da er seine Wörter ungezählt nur so ausgibt, der Deutsche aber, selbst der gebildete, sich nur selten so rund und voll auszudrücken vermag, als er wohl wünscht. Demselben Umstände hat die französische Prosa ihre Vollkommenheit zu verdanken und sie, die Prosa, ist es vor allen Dingen, was den Ruhm und auch den Werth der französischen Literatur gegründet hat, obwohl darüber noch Manche im Unklaren sind und die französische Poesie, die Trauerspiele eines Corneille, Racine, die gereimten Lustspiele eines Moliere, die Henriade eines Voltaire u. s. w. für die einflußreichsten und am meisten klassischen Produkte der französischen Literatur erachten. Ich weiß nicht, ob die Franzosen ein rein poetisches Produkt zu Stande gebracht haben, ich wüßte keins, wo nicht der Redner den Poeten überwöge, oder wenigstens ihm den Rang abzulaufen versuchte; selbst in der neuesten romantischen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo steht, und die ohne Zweifel an poetischem Gehalt die altfranzösisch klassische überflügelt, spielt die Rhetorik, die Floskelei, die Tiradensucht die Hauptrolle. Was sind die französischen Poeten gegen die französischen Prosaiker, welche Sterne des Parnassus kann man einem Büffon, Rousseau, Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern entgegenstellen? Im Deutschen möchte der Fall umgekehrt sein, den europäischen Ruhm unserer Literatur verdanken wir unsern Dichtern und ich glaube mit Recht. Abstrahiren wir von den tiefsinnigen Gedanken, von den wissenschaftlichen Sy-

174

16. Ludolf Wienbarg (1802-1872)

stemen, welche unsere Prosa seit 50 Jahren entwickelt hat — wir wollen uns diesen Ruhm nicht schmälern, aber wir wollen nur bedenken, welch ein geringer Theil der Nation von diesem Tiefsinn, dieser Wissenschaftlichkeit Frucht gezogen hat — was bleibt uns nach; sei es politisch oder moralisch oder sonst was in Prosa, was wir gegen die Werke unserer Poesie, gegen nur einen einzigen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein einziges Gedicht, wie den Faust in die Schanze schlagen möchten? Ich wußte es nicht. Es kann aber auch nicht anders sein, als daß bisher die deutsche Poesie die Prosa hinter sich ließ. Ich glaube den Grund schon einmal angedeutet zu haben und zwar bei der Gelegenheit, als ich meine Freude über das kräftigere Aufblühen unserer heutigen jugendlichen Prosaiker aussprach. 3 Die deutsche Prosa wird nie der französischen gleichgeartet werden, wer es von unserer Seite auf Nachahmung anlegte, wie es von Diesem und Jenem wirklich geschieht, der ahnt den Genius nicht, den er verhöhnt. Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus deutscher Rede, ob sie einfach=prosaisch dahinfließt, oder rythmische Echos hören läßt; wir haben eine Natursprache, die sowohl an den Gedanken als an die Empfindung sich anschmiegt, ohne der gallonirten Kleider zu bedürfen: Natur, Wahrheit, Herzlichkeit, das sind die drei Farben, welche dem Deutschen so wohl stehen und die keine Kunst der Rednerei, der Witzelei, der Phantasterei ersetzt. Allein, bedenken wir die bisherigen Zustände der Deutschen, bedenken wir diese miserabeln bürgerlichen und gesellschaftlichen Zustände der Deutschen, so begreifen wir leicht, warum die deutsche Prosa, der treue Spiegel dieser Zustände, jetzt im Allgemeinen eben so miserabel aussehen mußte, als sie wirklich that und thut. Ja, nehmen wir nur die ausgezeichnetsten Prosaiker der neuern Zeit, die viel Mühe und Fleiß auf die Ausbildung ihrer Sprache verwandt haben und denen es besser wie Tausenden geglückt ist, einen Fichte, Schleiermacher, Schiller, Goethe, welchen, selbst Goethe nicht ausgeschlossen, möchte man der Jugend als reines Muster empfehlen. Fichte's Periodengeflechte sind mehr dornigt als blumigt, Schleiermacher spinnt fast unsichtbare Gewebe und in dem Werk, was man für das Meisterstück seines Sprachskelets ausgibt, in den Monologen, schreibt er Jamben, statt Prosa; Schiller überbietet sich in einer glänzenden, aber nur zu oft undeutschen und hohlklingenden Paradesprache, und Goethe, der weit entfernt von diesem Fehler ist, hat in seinen Prosaromanen eine solche Menge glatter, höfischer Wendungen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie man mit ihm daran ist. 4 Der Stil ist der Mensch selber, sagt Büffon; und Jean Paul: wie jedes Volk sich in seiner Sprache, so malt jeder Autor sich in seinem Stil. Kräftigen, reinen und schönen Stil wird kein Schriftsteller in unkräftiger, unreiner und unschöner Zeit erwerben, füge ich hinzu, denn der Schriftsteller ist im höhern Grad als ein Anderer, oder vielleicht nur sichtbarer, ein Kind seiner Zeit. 5 —

16.4. Anmerkungen des Herausgebers

175

16.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3 4 5

Die Überlegungen zum Deutschen als „Grundsprache" sind Fichte verpflichtet, dessen „Reden an die deutsche Nation" (vgl. Kap. 4 in diesem Band) er dann auch nennt. Quelle nicht ermittelt. Mit den „jugendlichen Prosaikern" (Heine, Börne und die Jungdeutschen) beschäftigt er sich in der 24. Vorlesung ausführlicher. Hier dürften die Romane des älteren Goethe („Die Wahlverwandtschaften", „Wilhelm Meisters Wanderjahre") gemeint sein, nicht der „Werther". Jean Paul macht diese Bemerkung zu Beginn des § 76 („Beschreibung des Stils") der „Vorschule der Ästhetik" (2. Aufl. 1813). — Der ebenso griffige wie vieldeutige Satz „Le style c'est l'homme meme" aus dem „Discours sur le style" (1753) des Grafen Buffon, dem man bis heute in kaum einer Betrachtung über den Stil entgehen kann, zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Texte dieses Bandes. Interessant ist die Hinzufügung Wienbargs (der Schriftsteller als „Kind seiner Zeit"), weil sie die privatistische Deutung, die der Satz normalerweise erfährt, zumindest mildert. Es ist eine berechtigte Frage, ob man Buffon und dem 18. Jahrhundert den Individualitätsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts unterstellen und den Stil als Ausdruck dieser Individualität begreifen kann. Nimmt man sich die Freiheit, den Gleichsetzungsnominativ umzustellen, und denkt den Menschen als sozialen Charakter, so ist auch die folgende Lesart möglich: Der Mensch ist für die anderen das, was er (öffentlich) darstellt. Sein Stil (im engeren und weiteren Sinne) bestimmt das, was er für die anderen ist.

17. Theodor Mündt (1808-1861) 17.1. Einführende Bemerkungen Theodor Mündt, der jungdeutsche Publizist und Romanschriftsteller, steht, wenn man sich ihm über „Die Kunst der deutschen Prosa" nähert, nicht so schlecht da, wie er in der Literaturgeschichte oft gezeichnet wird. Die Kurzcharakterisierung eines literarischen Lexikons — „Anfanglich durch radikale weltanschauliche Tendenzen berühmt und erfolgreich, büßte er durch eine zunehmende belletristische und pseudowissenschaftliche Vielschreiberei rasch an literarischer Wirkung ein" — ist, zumindest was die Beurteilung des Wissenschaftlers betrifft, ungerecht. „Die Kunst der deutschen Prosa" ist das erste umfänglichere Werk, mit dem sich Mündt eine Universitätslaufbahn als Literarhistoriker zu eröffnen suchte. Der Erfolg blieb jedoch aus; das Verbot der Schriften der Jungdeutschen von 1835 war noch zu frisch. Erst 1842 erhielt er eine Privatdozentur in Berlin, 1848 dann eine a. o. Professur in Breslau, von wo er allerdings schon 1850 wieder nach Berlin zurückkehrte, um dort als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek zu arbeiten. Seine literar- und allgemeinhistorischen Abhandlungen, darunter eine „Geschichte der Literatur der Gegenwart", eine „Ästhetik" und eine „Dramaturgie", erschienen fast alle in den 40er Jahren. Natürlich konnte Mündt in der entschieden altgermanistisch orientierten akademischen Sprach- und Literaturforschung der 40er Jahre gerade mit seinem Buch über die deutsche Prosa keine großen wissenschaftlichen Lorbeeren ernten. Zwar enthält die Abhandlung in Teil II auch eine „Geschichte der deutschen Prosa", das besondere Interesse gilt jedoch den systematischen Klärungen in Teil I („Die Kunst der deutschen Prosa") und der Darstellung des Zustands der deutschen Sprache in der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart im dritten Teil unter dem Titel „Die literarischen Gattungen der Prosa". — Für die Ziele dieser Dokumentation ist das Buch zum einen deshalb von Interesse, weil sich Mündt sprach- und stiltheoretisch auf der Höhe der Zeit befindet. Von Leibniz über Herder, W. v. Humboldt und Grimm kennt Mündt alles, was Rang und Namen hat, bis zu solchen Außenseitern wie dem Grafen Schlabrendorf und Jochmann, und setzt sich mit ihnen auseinander. Zum anderen läßt er die nicht-poetische deutsche Sprache in allen ihren wesentlichen Ausprägungen (Literatur, Wissenschaft, Politik, Presse, gesellschaftlicher Verkehr) Revue passieren und berücksichtigt sowohl die geschriebene als die gesprochene Sprache. Daß man über die Angemessenheit der Beschreibung und die Urteile Mündts streiten kann, ist in einem Band, der Zeugnisse der Bewußtseinsgeschichte dokumentieren will, kein Nachteil.

17.3. Text

177

Einen für diesen Band geeigneten Text zu finden, erwies sich trotzdem als schwierig, weil alle Kapitel einen eingegrenzten Gegenstand haben und Mündt sich nirgends zum Zustand der deutschen Sprache allgemein äußert. Der schließlich gewählte Abschnitt I, 4 suggeriert diesen allgemeinen Anspruch im Titel, behandelt jedoch in Wirklichkeit einen sehr speziellen Gegenstand, den latinisierenden deutschen syntaktischen Stil, und möge als Platzhalter für das Buch Mündts begriffen werden.

17.2. Literaturhinweise Textvorlage Theodor Mündt: Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literaturgeschichtlich, gesellschaftlich. Berlin: Veit und Comp. 1837, 49—64. Weitere Literatur A: Ueber die Sprachverwirrung des deutschen Gesellschaftslebens. In: Dioskuren für Wissenschaft und Kunst 1 (1836), 2 8 8 - 3 0 9 . Die Staatsberedtsamkeit der neuern Völker. Berlin: Gury 1848. B: Düvel, Hans: Nachwort. In: Theodor Mündt. Die Kunst der deutschen Prosa. Ästhetisch, literaturgeschichtlich, gesellschaftlich. Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1837. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1969, 417 — 430. Sengle: [siehe Bibl. C27], 5 4 9 - 5 5 2 .

17.3. Text A l l g e m e i n e r Charakter der deutschen Prosa (1837) Die Emancipation der Prosa, wofür man ihre innere Gleichstellung mit der Poesie oder vielmehr ihre bloß dem Gedanken folgende Darstellungsfreiheit ansehen könnte, ist in der deutschen Literatur noch nicht seit lange erreicht, keineswegs aber schon zu einer allgemeineren Durchbildung, selbst bei den Schriftstellern, vorgeschritten. Unter deutscher Prosa hatte man sich sonst ein schwerlöthiges, vierundzwanzigpfundiges Geschütz vom gröbsten Kaliber zu denken, das mit einem Langgespann von sechs Pferden rumpelnd in die Schlacht gezogen wurde; oder einen in tiefen Sandspuren langsam fortkeuchenden, uckermdrkischen Frachtwagen, der mit Sicken, Kisten und Fässern aller Art so vollbepackt dahintrollt, daß man den Muth verliert, ihn anzuhalten, und das, was man von ihm haben möchte, aus seiner Ladung herauszukramen. Die deutsche Prosa war in ihrer Entstehung etwas Wissenschaftliches, eine Production der Gelehrsamkeit, eine Abstraction aus den

178

17. Theodor Mündt (1808-1861)

Alten, sie wurde nicht durch die Bedürfnisse des öffentlichen Lebens, noch durch gesellschaftliche Reize und Anlässe, hervorgerufen und gefärbt. Ihre Grundbildung fällt in die Wiederherstellung der Wissenschaften in Deutschland, und diese Elemente eines gelehrten, besonders aber latinisirenden Satzgefüges 1 , das einen durchgängigen wissenschaftlichen Anflug und keinen einzigen gesellschaftlichen hat, sind sehr lange an ihr haften geblieben, auch in die Schreibweise des Privatlebens, in den Stil des Volkes, unbewußt ubergegangen. Man kann annehmen, daß die meisten Schreibenden ihren Stil aus dem Schulunterricht in den antiken Sprachen, namentlich aus den Lehrstunden im Cicero, eingesogen haben. Daher ein deutscher Stil, der eigentlich auf den Periodenbau einer fremden Sprache gegründet ist, ohne die vielen hülfreichen Constructionen derselben, die absoluten Sätze, die von schleppenden Artikeln unbeschwerte Flexion, fur die Satzbildung nutzen zu können. So ist jenes ins Unendliche sich verlaufende Einschachtelungssystem in unsere Schreibart gekommen, das dem grammatischen Organismus der deutschen Sprache völlig widerstrebt, und nur in den antiken, welche fur die Periodisirung so viele Vortheile besitzen, den Zweck einer imposanten Schönheit zu erreichen vermag. Im Allgemeinen ist dem Deutschen sein Stil eine schon fertige Form, ein gemauertes Gefäß, in das er irgend einen Inhalt hineingießt, keine Sinnpflanze, die mit dem Gedanken aufwächst und abblüht. Die Deutschen sind eine schreibende Nation genannt worden, und doch war bei keinem andern Volk die schöne Kunst zu schreiben von so zäher Barbarei so lange zurückgehalten. Eine Sprache, die viel g e h ö r t wird, gelangt jedoch weit eher dazu, auch gut g e s c h r i e b e n zu werden, und eine bloß geschriebene, wie die deutsche, welche sich ganz dem Ohr entzieht und der freieren öffentlichen Gelegenheiten entbehrt, fällt von selbst dem Studirstubencharakter, dem Kanzlei* und Predigerstil, dem altfränkischen Menuettschritt steifverschlungener Sätze, anheim. Der Deutsche schreibt nicht, um zu sprechen, sondern man sieht immer, daß er sich eigens dazu an den Tisch setzt, um zu schreiben, wie ein Drechsler an die Hobelbank; man sieht ihn an seinen Sätzen zimmern im Schweiß seines Angesichtes, alles mögliche Bauholz herbeischleppen und ein Perioden* Magazin aufführen, in dem viele Ideen hausen können, das aber selber keine gestaltete Idee ist und wird. Am schlimmsten steht es jedoch mit der Schreibsprache des gemeinen Mannes in Deutschland, dem gänzlich eine öffentliche Norm guter Rede, woran er den Ausdruck seiner Bedürfnisse erheben und veredeln könnte, abgeht, mit Ausnahme etwa der Eindrücke, die er aus der Kirche und von der Kanzel empfängt. Deshalb stimmen auch Leute aus der niedern Volksklasse, wenn sie Briefe schreiben, so häufig einen erbaulichen Ton darin an, und bedienen sich salbungsvoller Redensarten, die ihnen vielleicht im wirklichen Leben völlig fremd sind; aber es scheint ihnen einmal mit dazu zu gehören, wenn sie sich in die absonderliche Positur des Schreibens setzen. Noch häufiger trifft man, daß sie der Gegenstände ihrer Gedanken, mögen sie auch noch so lebhaft davon erfüllt sein, im Schreiben durchaus nicht Herr werden können, weil ihnen die Mittel des Schreibens etwas zu getrennt Liegendes von der Vorstellungswelt sind, und die

17.3. Text

179

nationeile Sitte nichts Verbindendes und Gewöhnendes an die Hand giebt, um die Kluft zwischen den Vorstellungen und ihrem geregelten Ausdruck dem Volke uberspringen zu helfen. So möchten die Deutschen vielleicht die einzige Nation sein, die einen „Briefsteller für Liebende" nöthig haben, aus dem sie sich sogar die Gefühle ihrer Zärtlichkeit und Zuneigung wechselseitig ab= und zuschreiben, und die häufigen Auflagen, die solche Kleiderverleihanstalten des deutschen Stils erleben, beweisen den praktischen Gebrauch, der davon im Volke gemacht wird. Das Herz, sich ganz so abzuschreiben, wie er ist, besitzt der Deutsche nicht, wenn er auch ein H e r z dazu besitzt. In unserer Literatur haben nur wenige große Meister des Stils den Inhalt unmittelbar freigegeben an seine Form, die er von selbst sich erschafft, und die mit aller gesellschaftlichen Grazie der Darstellung auftritt, sobald sie frei und unbefangen sich selber überlassen wird, ohne sie in gelehrte und ausstudirte Falten zu werfen. Dieser höchsten und schönsten Staffel der Bildung wendet sich erst in neuester Zeit das Talent des Schreibens allgemeiner zu. 2 — Die latinisirenden Sympathieen der deutschen Prosa lassen sich vorzugsweise auf zwei Ideale zurück führen, C i c e r o und T a c i t u s , von denen der erstere der deutschen Schreibart nur geschadet, der andere nur genützt hat. Der Einfluß dieser beiden römischen Schriftsteller auf das Wesen des deutschen Stils nimmt in der That für uns eine literarische Bedeutung ein. Börne hat in gewissem Sinne sehr Recht, wenn er einmal meint, man müsse Stilübungen mit der Jugend noch gar nicht vornehmen, denn Stil sei Werk und Ausdruck des Mannes, des hervorgebildeten Charakters. 3 Stilübungen der Schule liefern uns zuerst dem ciceronischen Schematismus in die Hände, und gewöhnen uns, eine Schreibweise zu mechanisiren, die weder freier Erguß des Herzens, noch treue Abprägung unsrer eigenthümlichen Gedankenreihen ist. Cicero, der Talleyrand der alten Beredtsamkeit, mag von den lateinischen Grammatikern mit Recht als Muster des reinsten Schullateins aufgestellt werden, mit Unrecht und zum Schaden wird er es damit zugleich als einziges Vorbild guter und kunstvoller Prosa. Diese Zungendrescherei der langen und athemlosen Perioden, die aufgeblasene Eitelkeit der Rednerbühne, das Marktgeräusch stolzirender und die Zuhörer übertäubender Sätze, können, bei aller Eleganz der Wendungen, bei allem rhythmischen Prunk und Fluß, bei aller meisterhaften Berechnung des Durcheinanderschlingens und Abschließens, niemals für etwas Nachahmenswerthes, für eine allgemeine Norm, betrachtet werden. Ciceros Stil ist der Stil der Gesinnungslosigkeit, der Stil der Ostentation. Das productive Gemüth hat keinen Antheil an Ton und Wandel seiner Sätze, es ist Alles gemacht, nach einem Schema gefertigt und berechnet auf Wirkungen, die der Advocatenmoral angehören. Die landstraßenartige Regelmäßigkeit dieses Stils ist ebenso widerwärtig, als die hinundwieder in rhetorischen Figuren gesuchte Unregelmäßigkeit und Abwechselung den Eindruck eines Marionettentheaters macht. Man befindet sich bei ihm wie an einer wohlbesetzten Tafel, wo der Wirth durch umständliche Berechnung der Kosten, die er bei jeder uns vorgelegten Speise mit precieuser Miene anbringt, uns allen Appetit verdirbt. Entschiedenen Haß gegen den cicero-

180

17. Theodor Mündt (1808-1861)

nischen Stil hat besonders H i p p e l ausgesprochen, 4 und es wire zu wünschen, daß sich dieser allgemeiner verbreitet hätte, anstatt daß wir nun schon als Muttermilch unserer Prosa diese eitele, weitschweifige, rhetorisch fabrizirte Schreibart einsaugen müssen, in der wir es höchstens zu einem fehlerfreien Schulmeisterstil bringen. Als den ersten Vermittler der ciceronischen Prosa mit den modernen Literaturen kann man den B o c c a c c i o ansehn, der in seinem Decamerone, welcher ein europäisches Lesebuch wurde und sehr früh und sehr häufig auch in Deutschland Uebersetzer fand, 5 zuerst die italienische Prosa nach dem classischen Musterbild des Cicero formte, zu einer Zeit, wo es noch nirgends in Europa eine gebildete moderne Prosa gab. Durch ihn wurde Ciceros Schreibart in einer modernen Production überliefert, und damit das lange bedenkliche Gesicht der von Zwischensätzen überfüllten Periodenbildung, die unter allen neuern Sprachen der langsam und feierlich gemessenen Bewegung der italienischen, und ihren volltönenden und langaushaltenden Wortlauten, noch am meisten eignet. In der deutschen Sprache aber hat sie den Hang zur Weitschweifigkeit bestärkt und gewissermaßen rhetorisch ausgebildet. Das lange Auslaufen der Hülfszeitwörter in unserer Schreibart, das pedantische Austönen von g e w e s e n s e i n , g e w o r d e n s e i n , g e h a b t h a b e n u. dgl., womit wir uns noch immer mehr als nöthig und billig Umstände machen, verdanken wir den Rückwirkungen des Cicero, dessen große Effecte mit seinem ESSE VIDEATUR und andern rhythmischen Schlußfällen * uns unsere Lehrer nicht genugsam preisen konnten. Schönere und geistigere Eindrücke empfing die deutsche Prosa von dem Stil des Tacitus, welcher einen andern Pol für die Bildung unserer Schreibart bezeichnet. Im T a c i t u s erzeugt und beherrscht das Gemüth die Periode, und die kurzen, schlagfertigen Reihen derselben sind abgebrochene Laute einer großen Weltanschauung, die sich auf die bestehende Wirklichkeit nicht vollständig anzuwenden, sondern nur zuckend anzudeuten wagt. Es ist das stilldüstre Flackern eines verzehrenden Feuers, verhaltener Zorn und prophetische Wehmuth, was in dem Bau dieser Sätze sprüht und dunkelt, und auch grammatisch in eigenthümlichen Worten und Wendungen ausschlägt. Diese grollende Kürze, diese raschen Schlagschatten des Gedankens und der Ironie, diese vulkanischen Erzitterungen der Rede, gleichen den Symbolen einer Kassandra, die am Rande des Unterganges der alten Welt sinnend stillsteht. Dieser moralisch erhabene Stil, charakterschildernd für eine ganze Zeit, wird von Manchen, besonders von Schulmännern**, häufig als eine Stufe des Verfalls, des Sprach* und Schreibverderbens angesehen, besonders deshalb, weil in ihm jene Verschmelzung von Poesie und Prosa begonnen, die wir früher aus allgemeinem Gesichtspunct der Literatur und Sprache bezeichnet, 8 und worin die tacitische Schreibart mit unsrer heutigen modernen auf gleichen Elementen der * Vgl. Voß, Zeitmessung der deutschen Sprache, S. 250.6 ** Vgl. Manso7, über das rhetorische Gepräge der römischen Literatur, in seinen Vermischten Abhandlungen und Aufsitzen (Breslau 1821.) S. 44.

17.3. Text

181

Gesinnung, der Sprachentwickelung und der Zeitverhältnisse beruht. Die poetische Gestaltung der Prosa als eine Entartung der Sprache zu betrachten, ist jedoch eine fur die Schule wie fur das Leben irrige Ansicht. Nur wenn man die mechanische Schnitzarbeit Cicero's, oder C&sar's militairische Einfachheit für die einzige Normaldarstellung anerkennt, möchte man den Stil des Tacitus als eine bloß abnorme Manier einer einzelnen Subjectivität, die in dem Verderben ihrer Zeit befangen, beurtheilen dürfen. Die tacitische Schreibart steht über dem Verderben ihrer Zeit, weil sie die Schreibart des bewußten Genius seiner Epoche ist, der zwar alle Farben der allgemeinen Zustände hineinmalt, alle ihre Stimmungen ausklingt, aber nicht Geschöpf, sondern Schöpfer seiner Gemilde ist. Der poetische Stil des Tacitus ist eine Production der eigenthümlichen Gesinnung, die Gesinnung macht ihn poetisch, und diese ist die einzige Bewegerin der Sprache, die allgemeingültige Gesetze aufstellt. Cicero ist die ausgebildete Norm jener Prosa, die sich rein auf dem abgegränzten Gebiet prosaischer Darstellung erhält, in der Sonderung gegen den poetischen Sprachgebrauch möglichst streng verharrend, aber wir haben schon angegeben, wie die Entwickelung der Sprache selbst, die von der Einheit mit der Poesie anhebt, zu gewissen Perioden durch Ineinsbildung von Poesie und Prosa wiederum ein einziges und einheitliches Organ sich zurückzuerstreben scheint. Die Formen aber, die ein gewaltiger Geist seinem Standpunct gemäß und zum Ausdruck seiner Gesinnung nothwendig findet, von einem grammatischen Canon aus als Verfall und Verderben zu bezeichnen, ist eine Schulmeisterlichkeit, wie es überhaupt eine Widersinnigkeit ist, an dem geschichtlichen Gang der Sprachen kritisch corrigiren, abändern, einhalten und meistern zu wollen. 9 Die dichterische Schreibart des Tacitus besteht nicht in einzelnen poetischen Streiflichtern und Färbungen, die schon ältern Historikern vor ihm eigen waren, sie verräth sich in der ganzen Productivität des Stils, und in einer eigenthümlichen Grammatik, wodurch diejenige, die man aus Cicero zu schöpfen gewohnt ist, theilweise umgestoßen wird. Alle die Abweichungen des tacitischen Stils, die wechselnde Stellung der Wörter, die Cicero nach der Grammatik, Tacitus nach den Anfoderungen des Gedankens, der Gemüthsstimmungen ordnet; häufige Ellipsen und Verschweigung aus dem Zusammenhang zu ergänzender Wörter, wodurch jenes straffe und plastische Gepräge der Darstellung; an passenden Stellen das Hervorsuchen alterthümlicher Wendungen und Wörter, und zu besonderer Bezeichnung selbst das Allerseltenste aus dem früheren Sprachschatz; dagegen auch, auf Anlaß des Sinnes, schöpferische Bildung neuer Wörter, wozu sich die grammatische Keuschheit Cicero's nie verstanden hätte; ferner die Vermischung des Activums und Passivums in einem und demselben Satze; öftere Auslassung der Partikeln und solcher Wörter wie POSSE, FACERE, AGERE; eine, wenigstens nach Cicero, ungrammatische Folge der Zeiten hinter den Conjunctionen, die aber meist aus feinberechneten Motiven der Gesinnung erwächst; der Gebrauch des Neutrums der Adjectiva für ein Substantivum; diese Eigenthümlichkeiten alle beweisen in ihrer siegenden Schönheit nur die Grundgewalt, die der darstellende Gedanke über Sprache und Stil zu erlangen

182

17. Theodor Mündt (1808-1861)

vermag. Dem verderbten Sprachgemisch seiner Zeit hat sich aber Tacitus auf seiner künstlerischen und ethischen Höhe durchaus entwunden, und wenn er auch in Wortendungen und Constructionen zuweilen gräcisirte, so zeigt er sich doch der Sprachmengerei seiner Zeit, die Mufig griechische Wörter der lateinischen Rede einmischte, in aller Reinheit des ursprünglich sich ausdrückenden Genies überlegen.* Der tacitische Stil ist für Deutsche vielfach Muster und Lehrmeister der Schreibart geworden. Fichte bildete seine herrliche Darstellung in den Reden an die deutsche Nation 11 durch vorangegangene Studien des Tacitus**, und vieles Treffliche unserer Geschichtschreibung, sowohl in der Behandlung als in der Auffassung, wird immer auf sein Vorbild zurückgeführt werden müssen. Einige Schriftsteller haben ihn völlig nachgeahmt, andere, die den Geist seiner Darstellung productiv in sich aufgenommen, verdanken ihm noch mehr. Für uns wird die prägnante Periodenbildung und die productive Diction des Tacitus in eben dem Maße, in welchem sie dem Cicero fremd gegenübersteht, als ein Typus gelten können, der den Mitteln unserer Sprache und der Stufe ihrer heutigen Cultur mit der größten Verwandtschaft entspricht, ohne daß damit ein regulatives Muster aufgestellt sein mag. Es giebt überhaupt kein bestimmt aufzustellendes Muster der Schreibart, da immer nur diejenige die rechte ist, die, frei von jedem Mechanismus, aus dem inneren Leben des Gegenstandes hervorgeht. Es müßte denn die ausgebildetste Harmonie der geistigen und formellen Bestandtheile des Satzes sich in irgend einer Erscheinung so verwirklicht zeigen, wie Wilhelm von Humboldt, in seiner Abhandlung über das Entstehen der grammatischen Formen, es von der griechischen Sprache, die ihm die vollendetste erschien, als ein Ideal bezeichnete, indem er sagt: „In dem künstlichen Periodenbau dieser Sprache bildet die Stellung der grammatischen Formen gegeneinander ein eigenes Ganzes, das die Wirkung der Ideen verstärkt und in sich durch Symmetrie und Eurhythmie erfreut. Es entspringt daraus ein eigener, die Gedanken begleitender, und gleichsam leise umschwebender Reiz, ungefähr ebenso, als in einigen Bildwerken des Alterthums, außer der Anordnung der Gestalten selbst, aus den bloßen Umrissen ihrer Gruppen wohlgefällige Formen hervorgehen. In der Sprache aber ist dies nicht bloß eine flüchtige Befriedigung der Phantasie. Die Schärfe des Denkens gewinnt, wenn den logischen Verhältnissen auch die grammatischen genau entsprechen, und der Geist wird immer stärker zum formalen und mithin reinen Denken hingezogen, wenn ihn die Sprache an scharfe Sonderung der grammatischen Formen gewöhnt." 13

* Vgl. Bötticher, de vita, scriptis ac stilo Taciti. (Berol. 1834.)10 * * S. Fichte's Leben, herausgegeben von seinem Sohn. Thl. I. S. 538. 12

17.4. Anmerkungen des Herausgebers

183

17.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

Zu den zahlreichen Autoren, die das latinisierende Satzgefüge in der deutschen Prosa beklagen (und gelegentlich doch eine geheime Vorliebe für einen schönen Periodenbau haben), gehört Franz Grillparzer, der 1819 oder 1820 in einer Tagebuchnotiz festhält: „Die deutsche Sprache hat ihre Unbeholfenheit in der Poesie schon größtenteils abgelegt. In der Prosa wird sie dahin erst dann gelangen, wenn sie das Periodenmäßige aufgibt, das teils angeborne Gravität, teils Nachahmung des Lateinischen dem deutschen aufgeredet haben. Der Mangel bestimmter, regelmäßig sich wiederholender Endungssilben bei Nenn- und Zeitwörtern, die in den artikellosen Sprachen die entferntesten Glieder einer Rede so leicht und natürlich verbinden; der beschränkte Gebrauch der Mittelwörter, ja ihr Abgang in der leidenden Bedeutung; die häufigen, sich selbst verwirrenden Hilfszeitwörter, machen jede verschlungene Redestellung unzweckmäßig und man muß sie um so sorgfältiger fliehen, je mehr die verführerische, Kürze-lügende Möglichkeit, mehrere Sätze ineinander einzuschachteln, durch die abtrennbare Natur unserer Fürwörter begünstigt wird. Soeben bemerke ich, daß die vorstehende Warnung gegen die Verwickeltheit der Redestellung, durch ihre eigene Verwickelung sehr gut das Objekt darstellt, vor dem gewarnt wird und daher als Regel und Beispiel zugleich dienen kann." (Sämtliche Werke. Hrsg. v. Peter Frank und K. Pörnbacher. München: Hanser 1964, Bd. 3, 273).

2

Dazu äußert sich Mündt ausführlicher in späteren Kapiteln seines Buches, z. B. in I, 9: „Verhältnis von Poesie und Prosa in der heutigen modernen Literatur" (138—144). Diesen Gedanken äußert Börne in seinen „Bemerkungen über Sprache und Stil" (in diesem Band), doch mag sich Mündt auch auf eine andere Stelle beziehen. In den „Bemerkungen" findet man übrigens auch den wertenden Vergleich zwischen Cicero und Tacitus mit dem gleichen Ergebnis wie bei Mündt. Stelle bei v. Hippel nicht ermittelt. Die erste deutsche Übersetzung des „Decamerone" erschien 1460. Johann Heinrich Voß: Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilage zu den Oden und Elegien. Königsberg: Nicolovius 1802. Der Autor ist der klassische Philologe und Historiker Johann Kaspar Friedrich Manso (1760-1826). In Kap. I, 3: „Poesie und Prosa", 40 - 48. Hier setzt sich die historische Betrachtungsweise Jacob Grimms durch. Wilhelm Bötticher: De vita, scriptis ac stilo Cornelii Taciti [...]. Berlin: Nauck 1834. Vgl. die in diesem Band abgedruckte 4. Rede Fichtes. J. G. Fichte's Leben und litterarischer Briefwechsel. Von seinem Sohne [Immanuel Hermann Fichte]. 2 Bde. Sulzbach 1830. Siehe Bibl. A 62.

3

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse ( 1 7 9 7 - 1 8 5 5 ) 18.1. Einführende Bemerkungen Karl Wilhelm Ludwig Heyse war der Vater des Dichters (von) Heyse (1830-1914) und der Sohn Johann Christian Heyses (1764-1829), dessen Hauptwerke er bearbeitete und fortführte; so die „Theoretisch-praktische deutsche Grammatik", der der abgedruckte Text entnommen ist, das „Ausführliche Lehrbuch der deutschen Sprache" und das „Handwörterbuch der Deutschen Sprache". 1827 habilitierte er sich in Berlin und erhielt dort 1829 eine außerordentliche Professur. Aufgenommen ist der Schlußteil des Kapitels „Siebenter Zeitraum. Von Klopstock bis auf unsere Zeit", mit dem K. W. L. Heyse die Darstellung der Geschichte der deutschen Sprache in der „Theoretisch-praktischen deutschen Grammatik" seines Vaters in der 5. Auflage ergänzt. Seine, von einigen Einschränkungen abgesehen, durchaus positive Einschätzung des unmittelbar gegenwärtigen Zustandes der deutschen Sprache ist für die 30er Jahre und eigentlich für die gesamte Restaurationsepoche untypisch und hebt Heyse aus dem Chor der Zeitgenossen heraus. Das wird im Vergleich z. B. zu Theodor Mündt deutlich, der in seiner „Kunst der deutschen Prosa" ein Jahr zuvor in ähnlicher Weise, wenn auch ausführlicher, die einzelnen Kommunikationsbereiche Revue passieren läßt und gerade unter dem Aspekt, unter dem auch Heyse die Sprache betrachtet, nämlich „in ihrer Anwendung als Organ des geistigen Lebens der Nation", zu wesentlich negativeren Urteilen kommt. Ein vollständiges Bild von Heyses Einschätzung der historischen Entwicklung bekommt man allerdings nur dann, wenn man den direkt folgenden „Anhang. 1. Über die geschichtliche Entwicklung der grammatischen Formen" (93 ff.) mitbedenkt, den er folgendermaßen beginnt: „Der vorstehende Abriß der Bildungsgeschichte unserer Sprache betrachtet diese vorzüglich von Seiten ihrer Anwendung als Organ des geistigen Lebens der Nation, wie sich dasselbe in der Litteratur darstellt; weniger von Seiten der innerlichen Beschaffenheit der Sprache selbst nach ihrem grammatischen Bau. Wenn in jener Beziehung die Sprache zugleich mit dem Volksgeiste im Laufe der Jahrhunderte allmählich höher ausgebildet wurde, so hält jedoch, wie schon oben wiederholt angedeutet wurde, mit dieser litterarischen Vervollkommnung die grammatische Fortbildung der Sprache keineswegs gleichen Schritt, sondern steht vielmehr dazu in umgekehrtem Verhältnisse." So kann man es auch bei Mündt lesen, der sein Buch mit dem „Contrast einer umgekehrten Entwickelung" beginnt, und bei beider Gewährsmann Jacob Grimm.

18.3. Text

185

18.2. Literaturhinweise Textvorlage Johann Christian Heyse: Theoretisch-praktische deutsche Grammatik oder Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen Sprache nebst einer kurzen Geschichte und Verslehre derselben. Zunächst zum Gebrauch für Lehrer und zum Selbstunterricht. 5., völlig umgearbeitete und sehr vermehrte Ausgabe von Karl Wilhelm Ludwig Heyse. Hannover: Hahnsche Hofbuchhandlung 1838, 8 5 - 9 3 . Weitere Literatur A: Johann Christian August Heyse: Handwörterbuch der deutschen Sprache. Mit Hinsicht auf Rechtschreibung, Abstammung und Bildung, Biegung und Fügung der Wörter, sowie auf deren Sinnverwandtschaft. Nach den Grundsätzen seiner Sprachlehre angelegt; ausgeführt von K. W. L. Heyse. 3 Bde. Magdeburg: W. Heinrichshofen 1833-1849. Dr. J. C. A. Heyse's ausführliches Lehrbuch der deutschen Sprache. Neu bearbeitet von Dr. K. W. L. Heyse. 2 Bde. Hannover: Hahn'sche Hofbuchhandlung 1838-1849. Carl Wilhelm Ludwig Heyse: System der Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Heymann Steinthal. Berlin: Dümmler 1856. B: Petzet, E. u. G. Herbig: Carl Wilhelm Ludwig Heyse und sein System der Sprachwissenschaft. München 1913 (Sitzungsberichte der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische u. hist. Klasse 7/ 1913).

18.3. Text *Die jetzige Größe und V o l l k o m m e n h e i t der deutschen Sprache und L i t e r a t u r (1838) [...] Diese wenn auch mehr andeutenden, als erschöpfenden Bemerkungen 1 enthalten wenigstens die Hauptzüge der Laufbahn, auf welcher die deutsche Sprache und Litteratur, und mit ihr zugleich der deutsche Nationalgeist von den ersten Anfängen an mit zwar langsamen, oft unterbrochenen, aber doch in den letztern Jahrzehenden mit immer schnellern Schritten der hohen Stufe der Vollkommenheit entgegen ging, auf welcher wir sie jetzt erblicken. Ihre jetzige Größe oder Vollkommenheit mag sich vielleicht zu ihrer ursprünglichen Kleinheit und Armuth nicht viel anders verhalten, als ein heutiges Kriegs- und Handelsschiff zu dem

186

18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855)

hohlen Baume, dessen sich der erste Schiffer bediente. — Staunen müssten wir über diesen Abstand zwischen der ersten Kindheit und dem männlichen Alter unsrer Sprache, wenn wir nicht eine Reihe von mehr, als zwanzig Jahrhunderten 2 dazwischen sähen, die das Räthsel löset. Unsere Sprache darf sich jetzt mit jeder andern lebenden Sprache messen. Die gebildetsten Völker Europa's, welche sonst mit stolzer Verachtung auf sie herabsahen, lernen sie immer mehr kennen und schätzen, und benutzen die Geistes-Erzeugnisse und Schätze derselben zur Bereicherung und Veredlung ihrer Kenntnisse, so wie wir dies in Hinsicht der ihrigen längst gethan haben und ferner thun müssen, wenn nicht ein Stillstand oder vielmehr R ü c k g a n g in der Geistesbildung unser L o o s sein soll. * Die eigentlichen L e h r e r und F o r s c h e r unsrer Sprache bilden jetzt mehr eine zahlreiche und geachtete Classe unsrer Gelehrten, statt daß sie noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sehr einzeln standen, größtentheils ohne philosophischen Geist, so wie ohne umfassende und gründliche Erforschung der Sprachgeschichte arbeiteten und von den durchaus nur lateinisch=gelehrten Hauptmännern der Litteratur als Schreiber für das Volk mit keiner Aufmerksamkeit und Achtung behandelt wurden. Männer von umfassender Gelehrsamkeit und eindringendem

* Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, auf den trefflichen Aufsatz „ Ü b e r das V e r h ä l t n i ß der d e u t s c h e n S p r a c h e zur f r a n z ö s i s c h e n K. von W. S. (S. N e m e s i s 12ten Bds. 3s St.)3 zu verweisen, um mit dem Verf. zu wünschen, „daß meine Landsleute in ihrem wohlmeinenden Eifer gegen die Franzosen nicht zu weit gehen; denn es ziehen Viele mit blinder Wuth gegen die französische Sprache zu Felde, als könnten sie nichts Herrlicheres thun, als diese, wo möglich, in unserm Vaterlande ganz unbekannt machen; solche wollen gar nicht mehr, daß sie von uns solle erlernt werden. Welch ein Unsinn! — — Glaubt man sich etwa dadurch an den Feinden zu rächen und schadlos zu machen für das Unheil, das sie uns gebracht und für die Beute, die sie noch von uns inhaben? Oder glaubt man, das sei ein Mittel, um sich in den rechten Vertheidigungsstand gegen Frankreich zu setzen? — Allerdings darf die Furcht vor demselben bei uns noch nicht erlöschen; aber sie wirke auch, was die Gefahr einer Nation so ganz zu wirken geeignet ist, — sie t r e i b e uns zu r ü h m l i c h e r T h ä t i g k e i t und e r h a l t e die g r o ß e B e g e i s t e r u n g , welche jede s c h l a f e n d e V o l k s k r a f t a u f r e g t ! Aber fern sei der kleinliche Haß, der nie das Erhabene fasst, und sich immer nur auf das Unwesentliche wirft. — Die französische Sprache gehört einem Nachbarvolke an, mit dem wir in vielseitiger Berührung stehen; auch hat sie, wie überhaupt jede in der Welt, ihre eigenthümlichen Vorzüge, sie lebt in so vielen ausgezeichneten Werken der Wissenschaft und Poesie, die nicht bloß in Ü b e r s e t z u n g e n verdienen gelesen zu werden. Sie werde darum geschätzt nach ihrem wahren Werth, sie werde gelernt und auch gebraucht, wo es nöthig ist; nur hervordrängen soll sie sich nicht vor der unsrigen; sie möge nur nicht Modesache und C o n v e r s a t i o n s » S p r a c h e werden. Das wird nirgends geschehen, wo wahrer Nationalsinn herrscht; wenn die Ursache wegfallt, fällt die Wirkung von selbst weg, und es ist thöricht, gegen die letztere besonders zu kämpfen."

18.3. Text

187

Scharfsinn, wie Jacob Grimm und seine Mitforscher, haben sich das unvergängliche Verdienst erworben, die geschichtliche deutsche Sprachforschung zu einer selbständigen Wissenschaft in gleichem Range mit der griechisch=römischen Sprach» und Alterthumswissenschaft zu erheben und eine Menge jugendlicher Kräfte für diese Studien zu gewinnen, welche für die nächste Folgezeit reiche Ausbeute auf diesem vaterländischen Gebiete versprechen. Und wenn auch der Ertrag dieser Bestrebungen zunächst nur die Wissenschaft selbst bereichert und weiter bildet, so muß doch dieser, wie jeder wahrhafte Fortschritt der Wissenschaft in seinen weiteren Wirkungen nothwendig auch für das Leben die schönsten Früchte tragen. — Die alten Denkmäler der deutschen Sprache werden mehr, als sonst, geschätzt, durchforscht, bekannt gemacht, erläutert und mit derselben Würde behandelt, wie die der griechischen und lateinischen. Die gründlichsten Kenner dieser, so wie der morgenländischen Sprachen, sind jetzt zugleich wahre Kenner der vaterländischen und haben durch vielfache Übersetzungen der Meisterwerke jener die Bildsamkeit der deutschen Sprache zum Bewundern dargethan und erhöht. Welch ein reges Leben zeigt sich jetzt überhaupt in allen höheren und niederen Kreisen des Schullebens, welche Bildsamkeit und Empfänglichkeit fast aller deutschen Schulmänner für das Vollkommnere und Bessere hinsichtlich eines echt bildenden Unterrichts! Und wie sehr hat nicht durch dieses von innen und außen angefachte und unterhaltene Streben fast überall das innere und äußere Leben und Wirken der Schule an Vollkommenheit und zugleich an regerer Theilnahme und Hochachtung der wahrhaft gebildeten Welt gewonnen. — In allen deutschen Schulen wird jetzt mehr, als sonst, deutscher Sprachunterricht als wesentlicher Lehrgegenstand mit Recht geschätzt und geübt. Die deutsche Jugend auf Gelehrtenschulen, die noch vor fünfzig Jahren hier und da in Strafe verfiel, wenn ein deutsches Buch bei ihr gefunden wurde, wird jetzt zu den Quellen deutscher Meisterwerke nicht weniger, als zu denen der Griechen und Römer geführt, wird in mündlicher und schriftlicher fehlerfreier Anwendung ihrer Muttersprache vielfach geübt, und wetteifert unter sich, durch gegenseitigen Tadel und strenge Aufmerksamkeit auf sich selbst, die Reinheit und Richtigkeit derselben immer allgemeiner zu machen, immer mehr überzeugt, daß es zwar keine große Ehre ist, richtig deutsch zu sprechen und zu schreiben, wohl aber die größte Schande, dies nicht zu können.* — Die Gelehrten sind weniger schonend, als sonst, gegen * Sehr wahr und treffend, obgleich etwas bitter, bemerkt hierüber der geistvolle E. M. A r n d t (in seiner Schrift: Ü b e r V o l k s h a ß und ü b e r den G e b r a u c h e i n e r f r e m d e n S p r a c h e 1813. S. 72 IC.)4 „So reich und vielseitig die deutsche Sprache in ihren Gründen und Quellen ist, so viele und große Anlagen zur Vortrefflichkeit sie hat: so ist doch keine Sprache von den Eigenen so wenig ausgebildet und so sehr vernachlässigt, als die deutsche Sprache, so daß man Thränen weinen könnte, wenn man bedenkt, wie wenige Deutsche den Klang und den Wohllaut und die Gewalt ihrer Sprache kennen, geschweige denn, daß sie die innere Tiefe und den schweren Reichthum ahnen, der für sie ein

188

18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855)

Sprachnachlässigkeiten ihrer Zeitgenossen. Zu verschiedenen gelehrten Gesellschaften vereinigt, 5 wachen sie in allerlei wissenschaftlichen Zeitschriften und gelehrten Zeitungen über die Berichtigung und Veredlung des Geschmacks in der Sprache, so wie in den Wissenschaften überhaupt. Die deutsche B e r e d s a m k e i t hat eine bedeutende Stufe der Ausbildung erreicht; und zwar ist es nicht mehr, wie ehemals, allein die g e i s t l i c h e R e d e , in welcher sich die gewaltige Wirkung des lebendigen Wortes offenbart; auch von dem wissenschaftlichen L e h r v o r t r a g e auf höheren Lehranstalten fordert unsere Zeit mit Recht neben dem gediegenen Gehalt zugleich eine gewandte und geregelte Form; und das regere Staats» und Volksleben eröffnet der Gabe und Wirkung der freien Rede in den öffentlichen Verhandlungen berathender Versammlungen, so wie in der mündlichen Führung der Rechtsstreite vor den Gerichtsbehörden einen neuen bedeutenden Schauplatz, 6 und weckt und bildet schlummernde Talente, denen bisher nur der Boden zu ihrer Entwickelung und Bethätigung fehlte, zu S t a a t s » und g e r i c h t l i c h e n R e d n e r n . — Wenn dagegen unsere heutige p o e t i s c h e oder gesunkener Schatz ist. Wer sieht — ich frage euch, Deutsche, und erinnere euch daran, damit ihr euch schämet — wer sieht anderswo die Erscheinung, die wir jeden Tag sehen können, daß von t a u s e n d D e u t s c h e n kaum einer r i c h t i g d e u t s c h lesen und a u s s p r e c h e n kann? — So sorglos sind wir der eigenen Vortrefflichkeit bei der Jagd nach dem Fremden und bei der Uberschätzung des Fremden! Wenn ein gebildeter Schwede in Stockholm, ein gebildeter Franzose in Paris und ein gebildeter Italiäner in Florenz so schwedisch, französisch und italiänisch sprächen, als Männer unserer gebildetsten Classen in Zürich, Stuttgart, München, ja in Dresden, Berlin und Hannover, wo sie sich auf ihre Aussprache und Kunst schon etwas einbilden, d e u t s c h sprechen — wohin sollte er fliehen vor dem Spott und Gelächter der Zuhörer? — Der deutsche Gelehrte, Künstler, Graf und Freiherr schämt sich nicht, seine Muttersprache zu sprechen, wie sein Bedienter und Kutscher sie sprechen; er würde untröstlich sein und bis an die Ohren erröthen, wenn man ihm sagte, er spreche französisch wie die Bauern von Auvergne und Franche=Comte. Alles muß der Mensch lernen, der auf Bildung Anspruch machen will; nur seine Sprache will der Deutsche nicht lernen, die soll ihm von selbst kommen. Sechs bis acht Jahre quält sich der junge Edelmann und Fürstensohn, daß er richtig französisch lesen und sprechen lerne; zehn bis zwölf Jahre zerarbeitet der bürgerliche Schüler sich, dem Griechischen und Lateinischen den rechten Ton und Hauch abzulauschen, was bei einer todten Sprache doch nie zur Klarheit gebracht werden kann, — das Deutsche ist und bleibt ihnen eine Nebensache. So ist es natürlich gekommen, daß man der deutschen Sprache Schuld gegeben hat, was die Schuld der Nachlässigkeit, Verachtung und Unwissenheit ihrer Über oder vielmehr ihrer Nichtüber ist u. s. w." — Wenn auch seitdem Manches anders und besser geworden ist, so verdient doch diese kräftige Schilderung in vieler Hinsicht auch unserer Zeit noch als ein warnender Spiegel vorgehalten zu werden, welche noch immer, namentlich in den höheren und sogenannten gebildeten Kreisen der Gesellschaft, nur allzusehr der Sucht nach dem Fremden, der Vorliebe für ausländische Sitte und Sprache fröhnt, und die Trefflichkeit des Einheimischen und Angeborenen mit kalter Geringschätzung verkennt.

18.3. Text

189

sogenannte s c h ö n e L i t t e r a t u r , nachdem nun auch der letzte der Heroen aus der glänzendsten Zeit unserer Poesie, der große Göthe, von uns geschieden ist, im Allgemeinen das Bild eines gesetz= und herrenlosen Zustandes, einer verworrenen Gährung widersprechender Elemente darbietet; wenn wir mit Schmerz erblicken, wie ausgezeichnete Talente auf gefahrliche Abwege sich verirren und das ihnen anvertraute Pfund gewissenlos mißbrauchen, während ein Heer mittelmäßiger Schriftsteller, nur für die augenblickliche Befriedigung des Heißhungers der sogenannten Lesewelt sorgend, uns mit einer Fluth unreifer, gehaltloser und selbst der Form nach in hohem Grade vernachlässigter und incorrecter Erzeugnisse überschwemmt: 7 so wollen wir deßhalb nicht verzagen oder uns dem trostlosen Glauben hingeben, daß der bessere Geist für immer von uns gewichen sei, sondern vielmehr hoffen, daß aus dieser Gährung sich eine neue Gestaltung unserer Litteratur mit der Zeit entwickeln werde, wozu sich allerdings hier und da erfreuliche Vorbedeutungen erkennen lassen. Vor der Hand müssen die rastlosen Fortschritte aller Wissenschaften zu immer höherer Ausbildung, die kühnen und glücklichen Eroberungen im Gebiete des Wahren, uns für den Untergang jener reichen Welt des Schönen entschädigen. Die p h i l o s o p h i s c h e n Wissenschaften, und zwar nicht bloß die auf das Leben sich beziehenden Theile der Philosophie, sondern ganz vorzüglich die speculativen, die man sonst nur in lateinischer Sprache betrieb, werden jetzt durchaus deutsch behandelt, und unsere tiefsten Denker sind zugleich großentheils Meister der Rede. Je mehr sie nach einem unvermischten Vortrage in der reichen Muttersprache streben werden, desto mehr wird die ehrliche, Doppelsinn nicht begünstigende und zugleich tiefegeistige und bedeutsame Natur derselben zum unaussprechlichen Vortheil der Forschung sich offenbaren. Unsere vorzüglichsten G e s c h i c h t f o r s c h e r geben dem eigenen Triebe und den gesteigerten Forderungen der Zeit nach, indem sie zugleich G e s c h i c h t s c h r e i b e r im höheren Sinne des Wortes zu sein sich beeifern und die Ergebnisse gründlicher Forschung nicht in der Gestalt roher, unverarbeiteter Stoffe, sondern durch den in den innern Zusammenhang und die wesentliche Bedeutung eindringenden Geist belebt und geordnet und in Behandlung und Darstellung zu einer künstlerischen Form gestaltet dem Leser darbieten. Die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n mit allen ihren Zweigen streben nach einem reinen Vortrag, und einige, wie die Mineralogie, 8 sind durch vaterländische Gelehrte so gehoben und erweitert worden, daß die deutschen Benennungen als Kunstwörter in die Wissenschaft selbst eingetreten sind und von dem Ausländer wiederholt werden. Die R e c h t s k u n d e , lange ganz lateinischer oder in einem barbarischen Gemisch gelehrt und verhandelt, und das Lob eines reinen Vortrags gänzlich verschmähend, hat bereits Hauptwerke über einzelne Abschnitte, ja Gesetzbücher in einer ohne Vergleich reineren Sprache aufzuweisen, und beweiset selbst durch

190

18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855)

gesetzliche Vorschriften, wie sehr sie die Nothwendigkeit erkennt, hierin immer volksthümlicher zu werden. — Schon ist die steigende Achtung für die Würde und Reinheit der Sprache in die Geschäfte und in die Gerichtshöfe übergegangen. Die Bekanntmachungen, die Verordnungen, die Gesetze unterscheiden sich jetzt vortheilhaft von ähnlichen, auch nur vor zwanzig Jahren erlassenen. Überall ist es sichtbar, daß in der ehrwürdigen Classe der obersten Geschäftsmänner schon anerkannt wird, wie unerläßlich ein reiner, die Sprachgesetze beobachtender Ausdruck Allem sei, worin die Regierung zu ihren Bürgern spricht. Selbst in der K r i e g s s p r a c h e , in welcher durch lange Nachlässigkeit das Übel der Sprachmengerei einen so hohen Grad erreicht hatte, daß es nicht mehr zu heben schien, regt sich ein nach Besserung strebender Geist; scharfsinnige Vorschläge sind nicht ohne Aufmerksamkeit angehört worden. Möge doch bald ein ermunterndes Beispiel mit der Ausführung voran gehen! — Möchten doch auch unsere T a g e b l ä t t e r und Z e i t u n g e n es nicht mehr wagen dürfen, den Vortrag so arg zu vernachlässigen, wie noch immer die meisten thun, obwohl einzelne schon seit längerer Zeit in dieser Hinsicht mit einem gutem Beispiel rühmlich vorangehen! Möchte bald keine mehr aufkommen oder sich halten können, welche die Achtung gegen ihre Lesewelt durch eine barbarisch* gemengte, unrichtige Sprache verletzt, um so weniger, da jetzt schon viele Schriftsteller fürs Volk auf diesen Punkt die nöthige Aufmerksamkeit richten. Hier, wenn irgendwo, muß uns das gebildete Ausland noch immer zum Muster dienen. Vergleicht man das vorige Zeitalter mit dem unsrigen nun vollends in Hinsicht der S p r a c h e des U m g a n g s , der g e s e l l i g e n M i t t h e i l u n g in Rede und S c h r i f t — wie erfreulich, zu jeder Hoffnung berechtigend erscheint da das Jahr 1834, gehalten neben 1734!9 — Wenn damals und noch viel später kaum hier und da in Deutschland ein Fürst lebte, der, wenn er zur Feder griff, um an Personen der höheren Stände zu schreiben, dazu die vaterländische Sprache wählte, oder sich darin nur so gut, wie die doch sprachwidrig und unrein genug schreibenden Gelehrten jener Zeit ausdrückte; wenn überhaupt die höhere Classe zu Fremdlingen geworden war in der Heimath, so daß Göthe über sie ausrufen musste: „Lange haben die Großen der Franken Sprache gesprochen, Halb nur geachtet den Mann, dem sie vom Munde nicht floß!"10 so zieht dagegen jetzt die Mehrzahl unserer verehrten deutschen Fürsten die Muttersprache vor, gebraucht sie so geschickt, wie die Gebildetsten, und bedient sich der fremden Rede und Schrift nur als eines Nothbehelfs zu schnellen und unmittelbaren Mittheilungen an Solche, die der deutschen Sprache unkundig sind. — Selbst deutsche Frauen der höchsten und höheren Stände, deren viele der Muttersprache so lange ganz untreu geworden waren, suchen eine Ehre darin, auch hier als Deutsche zu erscheinen; und wie sehr gerade sie durch Anwendung in Rede und Brief zur Fortbildung der heimischen Sprache beitragen, ist noch nie so allgemein und laut anerkannt worden, als jetzt.

18.4. Anmerkungen des Herausgebers

191

„In seiner Muttersprache," sagt Ludwig J a h n *, „ehrt sich jedes Volk; in der Sprache Schatz ist die Urkunde seiner Bildungsgeschichte niedergelegt; hier waltet, wie im Einzelnen, das Sinnliche, Geistige, Sittliche. Ein Volk, das seine eigene Sprache verlernt, giebt sein Stimmrecht in der Menschheit auf und ist zur stummen Rolle auf der Völkerbühne verwiesen. Mag es dann aller Welt Sprachen begreifen und übergelehrt bei Babels Thurmbau zum Dolmetscher taugen; es ist kein Volk mehr, nur ein Mengsei von Staarmenschen." — Soll also unsre edle Sprache nicht wieder von der Höhe, zu der sie sich aufgeschwungen hat, herabsinken: so lasst uns vor allen Dingen die schon vorhandenen unsterblichen Geisteswerke des Vaterlandes ehren! Lasst uns, damit solche Meisterwerke der Sprache und Dichtkunst, auch in Zukunft noch entstehen können, durch keinen Preßzwang dem frei aufstrebenden Volksgeist verderbliche Fesseln anlegen! Lasst uns nie vergessen, daß nur durch wahre Größe einer Nation auch ihre Litteratur gedeihen kann! Lasst uns darum zuerst Jeder seinen eigenen — und dann auch, so viel wir vermögen, den Geist der ganzen Nation jederzeit edel, schön und stark erhalten: so wird aus einem solchen Geist auch jederzeit eine edle, schöne und starke Sprache fließen. Wohl uns, wenn wir Alle, auch in dieser Zeit bürgerlicher Gährungen und Parteienkämpfe, wo so Manche in trauriger Verblendung vom Auslande her das Heil erwarten, das nur aus dem reinen Quell echter Volksthümlichkeit entspringen kann, als e c h t e D e u t s c h e nie aufhören, wie unsere Volkssitte, so vor Allem unsere Muttersprache, als das schätzbarste Vermächtniß unserer Voreltern, zu achten, als das einzige unter allen politischen Stürmen, die unser Vaterland schreckten, unauflöslich gebliebene Band, als den sichersten Hoffnungsgrund einer immer festern Wiedervereinigung unserer zerrissenen Völkerschaften, kurz, wenn wir sie als unsern heiligsten Schatz betrachten, sie vor allen andern Sprachen ehren und immer gründlicher zu erlernen suchen! — Wer bei sonstiger Bildung des Geistes ihre gründliche Erlernung vernachlässigt, und sich nicht schämt, sie, gleich seiner gewesenen Amme, unrein und unrichtig zu sprechen — wer sie verachtet, der verachtet auch seine Nation, und ist nicht werth, ein D e u t s c h e r zu heißen.

18.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2

Der Autor bezieht sich rückblickend auf das gesamte Kapitel „Deutsche Sprache und ihre Bildungsgeschichte" (12—85). Es ist deutlich, daß der Begriff „unsere Sprache" mehr umfaßt als die „deutsche Sprache" im vertrauten Sinne. Der Zeitraum von mehr als „zwanzig Jahrhunderten" beginnt 113 v. Chr. mit den Goten.

* B e r e i c h e r u n g d e s h o c h d e u t s c h e n S p r a c h s c h a t z e s IC. Leipzig. 1806. Vergl. dessen deutsches Volksthum. S. 186 ic. n

192 3

4 5 6

7 8

9

10

11

18. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) W. S.: Ueber das Verhältnis der Teutschen Sprache zur Französischen, nebst einigen verwandten Bemerkungen. In: Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte 1818, 12. Bd., 3. Stück, 4 4 3 - 4 6 0 . Das Buch erschien in Leipzig bei Fleischer. Heyse war, wie sein Vater, zumindest nominelles Mitglied des „Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache". Das „regere Staats- und Volksleben" wird Heyse 1838 in seinem Wohn- und Arbeitsort Berlin kaum beobachtet haben. Eher ist anzunehmen, daß er seinen Blick in den deutschen Südwesten schweifen ließ. Leider bleiben sowohl die „ausgezeichnetenTalente" als auch das „Heer mittelmäßiger Schriftsteller" namenlos. Mit der Hervorhebung der Mineralogie würdigt Heyse wahrscheinlich die sprachlichen Verdienste Abraham Gottlob Werners (1750 — 1817) und seiner zahlreichen Schüler, unter denen in der Gegenwart Heyses besonders Christian Samuel Weiß (1780—1856) zu nennen ist. Uber Werner weiß „Meyers Großes Konversationslexikon" noch in der 6. Auflage (1906, Bd. 13, „Mineralogie") rühmend hervorzuheben: „Sein Schriftchen ,Von den äußern Kennzeichen der Mineralien' (1774), ein Muster in Schärfe und Klarheit des Ausdrucks, wurde epochemachend; seine Methode und sein auf chemischer Grundlage aufgebautes Mineralsystem verbreitete sich nicht nur über Deutschland, sondern über die ganze Erde" — und mit ihm die Benennungen. An der Bergakademie in Freiberg, der Wirkungsstätte Werners, studierten u. a. Novalis, Steffens, Baader und auch Alexander v. Humboldt. Ein ganz und gar nicht erfreuliches Bild der „Prosa der deutschen Conversation" entwirft Theodor Mündt ein Jahr vorher in seiner „Kunst der deutschen Prosa" (Bibl. A 76, 6 8 - 1 0 3 ) . Vollständig lautet das „Venetianische Epigramm" (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 1, 180): „Lange haben die Großen der Franzen Sprache gesprochen,/Halb nur geachtet den Mann, dem sie vom Munde nicht floß./Nun lallt alles Volk entzückt die Sprache der Franzen./Zürnet, Mächtige, nicht! Was ihr verlangtet, geschieht." — Zum Verständnis des Epigramms ist die Entstehungszeit Anfang der 90er Jahre zu beachten. Das Volk entzückte inzwischen etwas anderes als die Großen zuvor und die Mächtigen der Zeit: die Begriffe und Slogans der Revolution. Zu Jahns „Deutsches Volksthum" vgl. Kap. 5 in diesem Band.

19. Berthold Auerbach (1812-1882) 19.1. Einführende Bemerkungen Berthold Auerbach war um 1860 einer der erfolgreichsten Autoren des CottaVerlages und als Verfasser der „Schwarzwälder Dorfgeschichten" eine europäische Berühmtheit. Die erste Sammlung der Geschichten erschien in vier Bänden zwischen 1843 und 1853; weitere folgten 1856, 1861 und 1876. Als der schwäbische Jude 1860 nach Berlin kam, fand er sogar Zugang bei Hofe — nicht selbstverständlich für einen Mann, der 1837 im Zusammenhang mit der Verfolgung der Burschenschaften zwei Monate auf dem Hohenasperg gefangengehalten wurde und seine schriftstellerische und volksbildende Tätigkeit als politische Bürgerpflicht im Sinne des Liberalismus verstand. Im letzten Abschnitt seiner programmatischen Abhandlung „Schrift und Volk" schreibt er 1846, also vor der Revolution: „Vorerst ist es unsere Pflicht, dem Volke durch die Schrift, durch Poesie und Lehre Erhebung und Freude zukommen zu lassen. ,Nicht den Königen, — nicht denen, die auf die Höhe des Lebens gestellt sind — gebt Wein den betrübten Seelen!' Wohl aber mögen wir hoffen, daß der Geist und die Hoheit des Daseins nicht mehr blos aus dunklen Lettern auferstehe, sondern daß Schönheit und Freude einst wieder inmitten des Lebens wohne, daß Blumen die Fenster der niedersten Hütte umranken, aus denen in Freiheit und Wohlfahrt begnügte Menschen schauen." — Anläßlich der Aufnahme der Schrift in die 2. Gesamtausgabe der „Gesammelten Schriften" (Stuttgart: Cotta, Bd. 20) äußert er sich 1858 rückblickend noch einmal zu seinem Buch: „Ich habe mit demselben nicht nur meiner Berufspflicht, sondern auch wesentlich meiner Bürgerpflicht zu genügen gesucht: in Fragen meiner Zeit und meines Vaterlandes mein Votum abzugeben. Die Stimmung um die Mitte der vierziger Jahre, wo wir Alle, denen die reine Schönheit des Lebens und der Kunst, die menschliche und vaterländische Freiheit am Herzen liegt, mit heißer Erwartung der Zukunft entgegensahen, geht auch durch dieses Buch" (255). Nachdem er seiner Enttäuschung darüber Ausdruck gegeben hat, „was seitdem verloren ist", schließt er mit der Überzeugung, „daß die Menschheit und das Vaterland der Freiheit, und die reine Kunst ihrer gesunden Weiterbildung entgegen geht" (255). Diese Gesinnung steht hinter seiner Arbeit an den Volkskalendern „Der Gevattersmann" (für die Jahre 1845 bis 1848) und „Volks-Kalender" (für die Jahre 1859 — 1869) und auch hinter seinen Vorstellungen über die deutsche Sprache und die Notwendigkeit ihrer Ausbildung, die er in den hier abgedruckten zwei Kapiteln seines Buches „Schrift und Volk" darlegt. Es geht um die Entwicklung einer allgemeinen Volkssprache, die, nicht dialektal, aber orientiert an den Strukturen

194

19. Berthold Auerbach (1812-1882)

dialektaler Kommunikation und an den Formen gesprochener Sprache, eine umfassende Teilhabe der unteren Schichten am sprachlichen, literarischen, kulturellen und politischen Leben der Nation ermöglicht.

19.2. Literaturhinweise Textvorlage Berthold Auerbach: Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebel's. Leipzig: F. A. Brockhaus 1846, 205 - 227.

Weitere Literatur A: Unterthänigste Bittschrift des Wörtleins Ich an Wir, Man und den gehorsamst Unterzeichneten [1845]. In: Berthold Auerbach's gesammelte Schriften. Erste, neu durchgesehene Gesammtausgabe. Stuttgart u. Augsburg: Cotta 1858, Bd. 17, 1 6 - 1 8 . Du, Ihr, Sie [1846], In: Ebda., 118-122. B: Berthold Auerbach 1812—1882. Bearbeitet von Thomas Scheuffelen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1986 (Marbacher Magazin. Sonderheft 36/1985).

19.3. Text Die v o l k s t h ü m l i c h e Sprache nur bei freien V ö l k e r n u n d d u r c h die f r e i e m ü n d l i c h e Rede (1846) Mit Berufung auf die oben dargelegte Skizze der alten Bildungsgeschichte 1 mag die Behauptung feststehen, daß ohne persönlichen, lebendig freien Verkehr, ohne V o l k s v e r s a m m l u n g keine wahrhaft volksthümliche Sprache möglich ist. Franzosen und Engländer, die sich in einem freieren Staatsleben bewegen, mögen dies auch in neuerer Zeit beweisen: Sie haben eigentlich keine so getrennte volksthümliche Literatur und namentlich keine sogenannte populäre Sprache. Alles ist, wenigstens sprachlich, für die ganze Nation geschrieben. Wol sind ihre Sprachen schon dadurch allgemein verständlich, weil sie, der Urthümlichkeit ermangelnd, nicht neuer Schöpfungen fähig sind; sie sind dadurch minder subjektiv, stehen allgemein fest. Das Gemeinverständniß, das durch die Dialekte hindurch eine gewisse Ausdrucksweise für sich erlangt hat, erhält sich

19.3. Text

195

aber hauptsächlich durch die Theilnahme Aller an den Staatsverhandlungen. Jeder nach Einsicht, Bildung und Bethätigung Strebende liest die Verhandlungen der Volksabgeordneten, oder tritt in die Schaaren Derer, die eine allgemeine Berathung angesetzt haben. Der durch Wissenschaft und Talent Höherstehende hört die Männer aus dem Volke selber reden, kennt ihre Gesichtspunkte, ihre Ausdrucksweisen, von diesen ausgehend führt er sie dann mit sich hinauf, ohne daß er sich ein fremdes ungewohntes Sprachgewand anlegen muß. Er muß sich dann aber auch sagen: Das, was du hier nicht zum Verständnisse bringen kannst, muß in seinem Ursprünge etwas Fremdartiges oder Unklares haben. Hier tritt dann dieselbe Wechselwirkung wieder ein, die wir bei den Propheten der Juden und den Volksrednern der Griechen gefunden haben. 2 Man steht sich wieder unmittelbar persönlich einander gegenüber, indem der Mensch zum Menschen spricht. Man ist in neuer Zeit allerdings von der Sprache der gelehrten Republik wieder zur Nationalsprache zurückgekehrt, aber es ergeben sich überall die Merkmale, daß diese in den letzten Jahrhunderten nicht im freien, unmittelbaren Leben, sondern in den Studirstuben und Büchern aufwuchs. Frühlings Anfang ist vorbei, draußen in der lebendigen Natur prangt Alles in würziger Blüthe, nach den wetterdeutigen Heiligen Pancratius und Servatius ziehen auch die exotischen Pflanzen hinaus unter den freien Himmel und sie gewinnen hier, von der Sonne angestrahlt und in den freien Strömungen der Luft frischeres Grün und lebendigeren Trieb, als sie nimmer in den luftgeheizten Räumen und hinter den Glaswänden finden konnten ... 3 Wir haben in Deutschland hauptsächlich nur eine Seite der öffentlichen Rede: die Predigt. Durch diese ist in mancher Beziehung eine höhere Ausdrucksweise im Volke allgemein verständlich und gäng und gäbe geworden. Theils mit Absicht, theils ohne Bewußtsein sind daher viele deutsche Volksschriften in den salbungsvollen Ton der Predigt verfallen, deren Stichworte allerdings nicht ohne Wirkung sind. Ich werde im Verlaufe dieser Schrift noch hierauf zurückkommen, hier, wo es sich mehr um das Formelle handelt, mag nur das hervorgehoben werden, daß der Predigt das Belebende durch die Gegenrede fehlt, wodurch der Volksgeist sich mit Gehalt und Gestalt zurecht setzte und verständigte. Formell läßt sich aus der Predigt noch das entnehmen, daß das öftere Vorsetzen des Zeitwortes an den Anfang des Satzes statt an den Schluß, eine innere Berechtigung hat. Diese Abweichung von dem lateinischen Satzgefüge kommt nicht blos aus der Annäherung an den Bibelton, sondern die mündliche Rede bedingt ihn vielfach, indem sie erfordert kurzweg und kecklich auf das Wesentliche loszugehen und die Aufmerksamkeit auf die darauf folgende Substantiva zu spannen. Die volksthümliche Sprache in umfassenderer Bedeutung erwächst nur in freien Volksversammlungen. Hier ist es gegeben, das was der denkende einsame Geist aus sich auferbaut und in wissenschaftlichen Gebäuden fest gegründet hat,

196

19. Berthold Auerbach (1812-1882)

zur wohnlichen Stätte für den Volksgeist einzurichten; hier allein ist es gegeben, daß der Volksgeist das ihm nach Form und Inhalt Aufgedrungene abstoße. Zu Zeiten findet man noch, daß ein stiller Bursch beim Tanze hinaufsteigt auf die erhöhte Bühne zu den Spielleuten und er pfeift ihnen eine Weisung vor, die ihm schon lange im Sinne gelegen, bis sie sie inne haben. Wie hebt und spannt sich in Lust dann sein ganzes Sein, wenn nun die still gefundene Weisung von allen Instrumenten, von jedem nach seiner Art und doch gemeinsam heraustönt. Das ist eine Freude, wenn man sich so nach der im Innern gehegten Weisung frei bewegen kann und die Freunde rundum mit... Ist es eitel Traum und Hirngespinnst, wenn man hofft, daß es auch einmal im Reiche des Geistes so sein kann? Daß nicht immer vom Blatte und nach fremden Noten gespielt wird, sondern auch einmal wie es in der eigenen sangesreichen Brust tönt?... Vereinzelte Reden aus den vereinzelten deutschen Volkskammern dringen auch bereits ins Volk, sie sind aber, da sie nur zur Verständigung unter den Abgeordneten dienen, nicht wesentlich von der volksthümlichen Fassungskraft bedingt. Wenn ich die Gestaltung des volksthümlichen Ausdrucks in der mündlichen Rede suche, so bin ich weit davon entfernt, die oratorischen Werke als v o l k s t ü m liche Schriften zu betrachten, diese sind gerade oft am weitesten davon entfernt und männiglich weiß, wie manche hinreißende Rede im Druck matt und hohl ist. Für die Schrift soll hier blos das geltend gemacht werden, daß sich das Geschriebene leicht laut lesen lasse, daß die Erzählung den Charakter des mündlichen Berichts behalte; am rechten Orte eingeschaltete Fragen sind hier wie bei der mündlichen Rede von guter Wirkung, indem sie zur Selbstthätigkeit anregen. Das Volk liest laut oder auch leise mit dem Munde, und nicht blos mit den Augen. Weder die aus dem Lateinischen herübergenommene, in einander gefugte Satzbildung, weder der sogenannte wissenschaftliche Periodenbau, der alle Seitentaschen mit Unter* und Nebenbegriffen vollgestopft hat, noch die kurze, hastig abgekappte Satzbildung, die das Zeitungswesen neuerdings aufgebracht hat, ist hier am Orte*.

* Daß die freie mündliche Rede nicht nur in der Aufnahme von Wörtern, sondern auch im grammatikalischen Gebrauch der gewohnten, Neues allgemein festsetzen kann, zeigt sich schon bei der Rede in den Volkskammern. Das öffentlich mündliche Gerichtsverfahren konnte bis jetzt nur vereinzelt wirken. Bezeichnungen wie: Belastungs= und Entlastungszeugen it. sind nur am Rheine gemein gebräuchlich. Die Kammerreden dagegen werden durch den Druck weiter verbreitet. Ich beanspruche, beantrage, verausgabe, beanstande, bevorworte u. dgl. fällt schon nicht mehr auf; hier wurde durch neue Vorsatzsylben geholfen. Es wurde, so viel ich weiß, zuerst von Rotteck durchgeführt, daß man sagt: ich anerkenne u. s. w. statt des frühern: ich erkenne u. s. w. an. Dies könnte auch bei andern zusammengesetzten Zeitwörtern in Aufnahme kommen, wie: behochachten, geringschätzen, entgegenhalten, andeuten, hinweisen u. s. w. Wir haben zusammengesetzte Zeitwörter, deren Trennung oder beibehaltene Verbindung

19.3. Text

197

Unseren jetzigen Verhältnissen gemäß ist der Begriff einer volksthümlichen Sprache nicht allgemein festzustellen; die Bildung der Zeit und des Landes setzen allerdings gewisse äußere Grenzen, das Individuelle bleibt aber auch hier maßgebend. Wir Deutschen sind ja überhaupt in der Ausbildung des Individuellen, mit seinen Vortheilen für das rein Menschliche und seinen Nachtheilen für das staatlich Gemeinsame, am weitesten voraus. Es kommt jetzt nur darauf an, in wie weit der Schriftsteller mit der Empfindungs= und Ausdrucksweise des Volkes eins ist. Diese läßt sich bis jetzt nicht in großen massenhaften Kundgebungen erkennen, sondern muß im Einzelnen zusammengesucht werden. Einzelnes über die v o l k s t h ü m l i c h e Sprache, ihre Hindernisse und ihre F ö r d e r u n g Durch die Vermischung von Volks* und Kinderschriften ist man auch vielfach zu dem falschen Verfahren gelangt, sich im Ausdrucke herabzustimmen und ganz die Redeweise seiner gedachten Leser zu wählen. Wie aber schon diejenige Kinderschrift die Kleinen anwidert, die sich auf läppische Weise in ihre unbehülfliche Sprache hineinzwängt, so noch weit mehr und mit größerem Rechte das Volk. Man braucht nicht zu stottern und allerlei Theile auszulassen, um sich einem schwer Hörenden und Sprechenden verständlich zu machen; dieser versteht gerade den am besten, der am vollsten und rundesten spricht. Die Volksschrift muß auch das mit dem Volksliede gemein haben, daß sie wie dieses nicht unmittelbar für die stummen Zeilen des Drucks zubereitet sei. Wie das Volkslied erst gesungen und spät erst aufgeschrieben wurde, so muß auch die Volksschrift gewissermaßen erst mündlich erzählt und dann erst aufgezeichnet werden. Dadurch zeigt sie sich auch um so angemessener, wie das meistentheils geschieht, laut gelesen zu werden. Auch ist nicht nöthig, daß Alles gleich beim ersten Lesen so plan und platt sei, daß keine Nachlese mehr gehalten werden kann; gerade diese erfreut am meisten, weil sie die Thätigkeit des Suchens und die Ueberraschung des Findens gewährt. Im Volke wird eine Geschichte mehr als einmal gelesen, und da ist es gut, wenn man davon noch eine besondere Ausbeute hat. Diese wird aber nicht dadurch für den glückneue Begriffsschattirungen oder ganz andere Begriffe geben, wie: durchschauen, übertreten u. dgl. hier bleiben natürlich beide Formen; bei den übrigen aber bedarf es nur der Gewöhnung, um sie passend zu finden. So ungefüge dies auch anfangs scheinen mag, es wird sich doch bald mundgerecht machen. Statt daß wir durch die Trennung des Zusammengesetzten bisher das Abgelöste im Hinterhalte bewahren und mühselig nachschleppen mußten, könnten wir dadurch die Erhöhung einer Sprachschönheit gewinnen, deren wir bis jetzt in der mündlichen Rede ganz verlustig wurden. Schon aus diesem kleinen Beispiele mag man ersehen, wie ganz anders sich die Sprache durch das lebendige Wort bildet, als wenn sie blos für das Auge und die stummen Zeilen gehalten ist.

198

19. Berthold Auerbach (1812-1882)

liehen Finder versteckt, wenn man, wie namentlich häufig die Herren Pfarrer thun, auf jedes Hauptwort eine ganze Meute von Beiwörtern hetzt; die Bezeichnung der Spur genügt. Man wird sehr häufig finden, daß, wenn man mit einem Menschen fremder Zunge die selbsteigene Sprache spricht, man leicht durch Schreien und Radebrechen sich verständlich zu machen sucht. Gleicherweise glauben Viele, die durch die Schrift zum Volke reden, die Worte für ein und dieselbe Sache häufen und noch mit zentnergewichtigen Beiwörtern belasten, oder andererseits radebrechen zu müssen. Die Volkssprache ist aber keine fremde Sprache, es sind dieselben Worte und Zeichen, nur ursprünglicher und von der Anschauung ausgehend. Wie bei der Dichtung aus dem Volke manche ausgeprägte gangbare Begriffe und Ausdrücke wieder eingeschmolzen und flüssig gemacht werden müssen, so noch weit mehr in der Schrift für das Volk. Wir glauben z. B. volksthümlich zu reden, wenn wir von „Gedanken, Gefühlen, Empfindungen, Bestrebungen" u. s. w. sprechen. Volksthümlich aber ist es nur, wenn wir die Sache auf die oder von welcher diese Seelenzustände ausgehen, anschaulich vorführen und dabei sagen, „nun denken, fühlen" u. s. w. wir. Das von anderweit fertig Ueberkommene muß hier in seine ursprüngliche Entstehung zurückgeführt werden. Ein gesunder Takt muß davor bewahren, Abgedroschenes wie eine neue Ernte zu behandeln. Es ist noch nicht lange, seitdem in der Literatur die Mode abkommt, die natürlichen Haare wie eine Perücke aufzustutzen, das Alltäglichste in hohe Redensarten einzumummen, von denen man nicht lassen zu können glaubt und ohne welche allerdings die Blößen sich schneller kundgeben würden. Wie leicht lassen sich Phrasen hin und her drehen, aber in einfacher Sprache zeigt sich schnell, was einer zu bieten hat. Seitdem alle Wissenschaft sich dem Leben näher anschließt, verliert sich auch die Zigeunersprache der Kathederweisheit mehr und mehr. Die lebendigsten Wahrheiten erstarren leicht zu Formeln, mit denen die Nachbeter groß thun wie mit selbst gemachten Eroberungen. Muß man diese aber im Leben umsetzen, so ergibt sich bald, in wie weit das Angeeignete auch ein Eigenes geworden ist. Alles das ist von unberechenbarem Einfluß auch auf die volksthümliche Sprache und Schrift. Es wird und muß immer Erörterungen geben, die weit über das sogenannte volksthümliche Bewußtsein hinrausragen, die schon von vorn herein auf einer erhöhten Stufe beginnen und deren Ergebnisse nur vereinzelt und auf Umwegen in das Volksbewußtsein zurückkehren; je klarer und bestimmter sich solche aber bewegen, um so rascher und ersprießlicher ist ihre Rückkehr ins Leben. Vielfach geltend ist auch die Ansicht, daß die erste Bedingung einer volkst ü m l i c h e n Sprache ihre Reinigung von Fremdwörtern und Kunstausdrücken sei. Gewiß muß das Bestreben dahin gehen, rein deutsch zu schreiben, aber wir können nur nach und nach dahin gelangen. Wie die Sachen heute stehen, ist durch das Staatsleben mit seinem fremden Rechte und schriftlich geheimen Verfahren, durch das Militärwesen, durch Schule und Kirche, eine solche Fluth von Fremdwörtern

19.3. Text

199

und Kunstausdrücken in den Strom der Alltagssprache gelenkt worden, daß wir mit heimischem Ausdrucke geziert, unverständlich und willkürlich werden. Die theoretische Sprachreinigung ging namentlich darin zu weit, daß sie alle Schattirungen eines Begriffes oder Merkmale eines Gegenstandes mit in den bezeichnenden Ausdruck aufnehmen wollte; dadurch entstand jene lächerliche Häufung, die den Gegnern leichte Waffe zur Verspottung in die Hand gab. Die Reichhaltigkeit unserer Sprache, die für jede Schattirung eines Begriffes u. s. w. ein eigenes Wort hat, sowie die Fortbildungsfahigkeit des vorhandenen Sprachschatzes, gerade diese Vorzüge erschweren uns die feste Gestaltung einer volksthümlichen Sprache. Es ist aber nicht nöthig, daß in Einem Worte alle Nebenbegriffe mit ausgedrückt seien, laßt es nur gäng und gäbe werden, es wird sich sein Gebiet schon behaupten. Es gibt, wie für das Auge, so auch für das Ohr gleichsam eine Mode. Wie manche körperliche, so erscheint uns auch nach und nach manche geistige Gewandung nicht mehr so auffallig; es kommt nur darauf an, daß man mit dem Naturgemäßen und Schönen nicht vereinzelt dastehe, sondern Viele sich zu dessen Gebrauch Zusammenthun und anschließen. Wäre von der Schul= und Kanzleiweisheit etwas Unselbstisches, wahrhaft Volksthümliches zu hoffen, so wäre es hier gegeben, die Reinheit der Sprache vielfach festzusetzen; aber auch hier tritt neben dem vornehmen Dünkel die staatliche Trennung in den Weg: während in Süddeutschland etwas im Abstreich versteigert wird, hat man am Rheine und im Norden den SouMissiONSweg, während man in Süddeutschland vergantet wird, kommt man im Norden in CONCURS, die süddeutschen Volkskammern verweisen eine PETITION an die COMMISSION und die norddeutschen an eine DEPUTATION U. S. W. U. s. W. Man hat es versäumt, zum Nachtheil für das Volksthum und seine dichterische Fassung, neue Erscheinungen alsbald mit heimischen Lauten zu bezeichnen, wie z. B. Locomotive u. dgl. und wir müssen noch froh sein, daß man bei der Abfahrt nicht ALL RIGHT ruft, den reisenden Herren Engländern zu Gefallen, u. s. w. u. s. w. Und unsere aberwitzige sogenannte vornehme Welt dünkt sich um so SUBLIMER und EXCLUSIVER, jemehr sie die BANALEN PHRASEN der BOURGEOISIE EVITIRT und fremdes Kauderwelsch in ihre SOCIALE CONVERSATION MELIRT. Es ist schon anderweit bemerkt worden, daß diese Fremdsüchtelei ein trauriger Charakterzug in unserm Vaterlande ist, denn bei k e i n e r a n d e r n N a t i o n d e r W e l t g i l t m a n f ü r v o r n e h m e r , w e n n m a n a u s l ä n d i s c h i s t . Aus der Höhe der SOCIETÄT sind denn auch schon manche Früchte in die niedern Gebiete herabgefallen und es gibt manchen DANDY und LION im Bauernkittel, der, wenn er Geld im Sack hat, statt des gemeinen „Guten Tag" euch ein vornehmes „Buschur" zuruft, und der TAILLEUR im Norden und am Rheine fährt sich geschmeichelt durch die Locken, wenn ihm der Markör beim Billardspiel vorzählt: Pojeng a Po j eng. Gerade was ein Vorzug der deutschen Sprache ist, hat es dahin gebracht, daß die raffinirten CERCLES es MAUVAIS GENRE finden, sich ihrer zu bedienen. Ihr könnt

200

19. Berthold Auerbach (1812-1882)

es oft hören: die deutsche Sprache (die reichste von allen) habe nicht DISTINCTIONEN und N U A N C E N genug. Allerdings heißt im Deutschen der R O U E ein Wüstling, der B L A S E ein Verlebter, der FLANEUR ein Strolch oder Pflastertreter u. s. w. u. s. w. Die deutsche Sprache ist ehrlich grob, sie will nichts von der socialen Schönfärberei, sie hängt dem Laster kein interessantes Mäntelchen um, und das ist gut. Völker und Zeiten müssen in sich zerfallen, wenn ihre Sprache den sittlichen Halt verliert, oder gar das Faule und Hohle beschönigt. Darum halten wir fest an der Aufrichtigkeit unserer Sprache, wenn sie auch Manchen scharfrichterisch und grob dünken mag. Volksthümliche und sittliche Beweggründe erheischen das. Die Zeitungspresse hat hier und dort mit gewissenhafter Strenge Gutes zu wirken begonnen, aber wer weiß nicht, wie es mit dem Deutsch bei manchen Führern der JOURNALE aussieht, und so lange unsere deutschen Zeitungen wesentlich ausländische sein müssen, indem man über die inneren Angelegenheiten des Vaterlandes kein rechtes Wort sagen darf, so lange werden sich's die Uebersetzer leicht machen und manches frische und freie Wort muß zurückgehalten werden, weil es sich der Bevormundung entzieht. Ich komme hiemit auf das wesentlichste Hinderniß einer volksthümlichen Sprache: die Censur. Der körnige Ausdruck, der den Gegenstand rund heraus packt, das Ding beim rechten Namen nennt, wird durch die Censur verdrängt. Das Starke, Feste muß abgeschwächt und verdünnt, die frische Blüthe des Lebens zu einem verkochten Absud verwandelt, das Handfeste breiig gemacht werden. Man darf keinen wirklichen Gegenstand, keine Thatsache, keinen Charakter frisch herausgreifen, und was auf ein bestimmtes Einzelnes gemünzt ist, was ein kenntlich bezeichnendes Gepräge haben sollte, muß zum Allgemeinsatze eingeschmolzen werden. Einem Allgemeinsatze stellt man viel weniger nach, als wenn man dem wirklichen Leben geradezu auf den Leib geht. Das Wesen des Volksthümlichen, des individuell Durchgearbeiteten und Neugewonnenen ist aber, vom Einzelnen, Bestimmten, zum Allgemeinen aufzusteigen, während wir es jetzt meist den Lesern überlassen müssen, die allgemeinen Recepte auf ihre besonderen Zustände anzuwenden und solche allein zu erkennen. Das erheischt aber eine Bildung, wie sie noch auf keine Weise vorausgesetzt werden kann. Neben der Verallgemeinerung der Gedanken ist man noch oft dazu verdammt, die offensten Ansichten zu verlarven, den redlichsten und aufrichtigsten eine abschreckende Teufelsmaske vorzubinden, damit man unter dem Scheine der Bekämpfung wenigstens eine Erörterung anregen dürfe. Traurig, wer sich im Bewußtsein der guten Absicht dazu verleiten läßt, sich selbst und der von ihm ausgehenden Wahrheit zu entweihen. In der Schrift, zumal in der volksthümlichen, sollen wir uns dem Sprechen nahe verhalten. Nun nistet sich aber das Bewußtsein der Bevormundung in die Seele, oft noch bevor der Gedanke geboren, und beim Schreiben selber schaut uns oft die Polizei über die Schulter weg zu. Wir wollen keine Gelegenheit zum Streichen geben, weil die Streichlust weiter hineinfahrt und Stellen vernichtet, die

19.3. Text

201

ohne ihren sträflich angesehenen Nachbar frei ausgegangen wären. Wir lernen im besten Falle die Kriegskunst, aber nicht die im offenen Felde, sondern die Kriegskunst der Schmuggler, mit ihren Schleichwegen und Kniffen. Wir können kaum mehr ermessen, welche Gedanken und welche Sprache wir gewonnen hätten, ohne daß das Bewußtsein der Bevormundung vor und in uns gesetzt wäre. Es war nicht unnöthig, dies hier auszusprechen, um manchen vertrauensvollen Humanitätsfreunden (ich sage absichtlich nicht Volksfreunde, weil solches einen ungehörigen Hochmuth voraussetzt) darzuthun, daß wir die volksthümliche Schrift und Sprache erst mit und in der Freiheit gewinnen werden. So lange die Humanität auf abstraktem Boden in Erörterung der Principien stand, fand sie hochgestellte Gönner und Förderer; jetzt, da sie hinaustritt ins Leben und nicht umhin kann, manches lieb Gewordene und hoch Gehaltene zu verletzen oder anzugreifen, jetzt muß sie sich Schritt für Schritt durch Hindernisse hindurchschlagen. Selbstmörderisch wäre es aber doch, in eitler Lässigkeit jetzt dem Volke das vorzuenthalten, was man ihm zu bieten vermag. Wir müssen unter ehrlosen Verhältnissen die innere Ehre wach erhalten, in uns und anderen. Es sind aber auch nicht immer der thatsächlichen Gewalt gegenüber stehende Gedanken, die wir zurückhalten müssen; es wäre auch Aufgabe der Wahrhaftigkeit, manches im Namen der Freiheit Auftretende zu bekämpfen. Die lange mit dem tiefsten innern Widerspruche ertragene Bevormundung hat es dahin gebracht, daß alles der äußern thatsächlichen Gewalt Mißliebige vorweg und unbesehen als das Freie, auf das Volkswohl Abzielende gilt. Solche innerste Auflehnung des Gemüthes, solche Auflösung und Verwirrung hat die unberechtigte Bevormundung zu Stande gebracht. Sie allein hat es zu verantworten. Es gibt ganze Richtungen, die den Schutz der polizeilichen Verfolgung genießen; wir müssen sie unbekämpft lassen, weil ihnen die rohe Gewalt auf dem Nacken sitzt; wir wollen nicht Handlanger der Polizei sein, uns nicht durch einen Gnadenblick beleidigen lassen. Die polizeiliche Verfehmung hat vieles Verdammungswürdige dem zuständigen Richter entzogen; dieser Richter ist einzig und allein der Volksgeist und der allgemeine Geschmack. Wäre das Wahlfeld offen und frei, wären den Bekämpften nicht die Hände gebunden, wir würden in offener Sprache den offenen Sinn des Volkes gegen sie aufrufen. Nun aber müssen wir manche Verwirrung und geistige Falschmünzerei gewähren und selbst in die Volkskreise dringen lassen, weil wir den Beistand der rohen Gewalt nicht zur Seite haben wollen. Ein lebendiges volksthümliches Geistesleben und eine volksthümliche Sprache ist nur in der ungehinderten Oeffentlichkeit und Freiheit möglich, dort allein kann sich zeigen, wer den Geist des Volkes kennt und die Sprache seines Geistes spricht.

202

19. Betthold Auerbach (1812-1882)

19.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3

Auerbach beruft sich auf das Kapitel „Flüchtiger Abriß der höhern und volksthümlichen Bildungsgeschichte" (112-117). Auch dies im Kap. „Flüchtiger Abriß". Die drei zusätzlichen Punkte hier und am Ende weiterer Abschnitte sind Bestandteil der Vorlage; sie zeigen keine Auslassungen an.

20. J. F. 20.1. Einführende Bemerkungen Der letzte Abschnitt in Berthold Auerbachs Buch „Schrift und Volk", das 1846 in erster Auflage erschien, trägt den Titel „Ein frommer Wunsch". Der Inhalt des Wunsches ist die Verwirklichung dessen, was in den Sprüchen Salomons (Kap. 31, V. 4—10) als Aufforderung formuliert ist: „Nicht den Königen, — nicht denen, die auf die Höhe des Lebens gestellt sind — gebt Wein den betrübten Seelen." Es mag sein, daß der unbekannte Autor in den „Jahrbüchern der Gegenwart", der seinem Aufsatz den gleichen Titel gibt, auf Auerbach anspielt. Sicher ist es nicht. Weder wird der Name Auerbachs erwähnt, noch läßt sich ein konkreter Bezug zu dem Auerbachschen Wunsch herstellen. Das Thema ist freilich das gleiche: das Verhältnis von Schriftsprache und Dialekt, Sprache der Gebildeten und Volkssprache und die Möglichkeit, die „Büchersprache" durch Annäherung an oder Aufnahme von Ausdrucksformen der dialektal geprägten Volkssprachen zu einer lebendigen gesprochenen Sprache zu machen, was für Auerbach zugleich heißt, sie zu demokratisieren. J. F. wendet sich, das ist der zentrale Inhalt des Aufsatzes, gegen das Programm einer Wiederbelebung der Sprache der Bildung durch den Rückgriff auf die Volkssprache. Nun hatte Auerbach diese Möglichkeit allerdings selbst schon wesentlich skeptischer und realistischer eingeschätzt als manche seiner Vorläufer, z. B. Jahn und Arndt. Der wahre Streitpunkt liegt auch tiefer. Der Aufsatz von J. F. ist deshalb von besonderem Interesse, weil er eine Prämisse bezweifelt, die nicht nur bei Auerbach, sondern bei fast allen Autoren der ersten Jahrhunderthälfte, sowohl im romantischen als auch im jungdeutschen Umkreis, feststellbar ist, daß nämlich die Vergeistigung und Abstraktheit und damit auch die Volksferne der deutschen Sprache ein Übel sei und in ihrer „büchersprachlichen" Herkunft begründet liege. J. F. dagegen betont, daß der mit Begriffen wie „abstrakt" und „sinnlich", „allgemein" und „konkret" korrekt beschriebene Unterschied zwischen Bildungs- und Volkssprache „in der Natur der Sache begründet" ist, daß die Schriftsprache als abstrakte Sprache nur zu dem geworden ist, „was sie sein soll, zu einer von der Sprache des gemeinen Lebens verschiedenen Sprache der Bildung", und daß auch eine zu schaffende gesprochen Sprache der Bildung nichts anderes sein könne als eine abstrakte Sprache, weil „wer überhaupt die Bildung will, auf den Reiz der unmittelbaren Natürlichkeit verzichten muß." Es bleibt also nur die mündliche Belebung der Schriftsprache, die er in Anknüpfung an schon vorhandene Ansätze in der höchsten Gesellschaft und auf dem Theater durch den Sprachunterricht in den höheren Lehranstalten unterstützen will.

204

20. J. F.

Diese veränderte Problemformulierung hat sprachsoziologische Konsequenzen. Sie unterstützt, abweichend von den in der ersten Jahrhunderthälfte vorherrschenden Demokratisierungstendenzen, die Geltung der Hochsprache als elitäres Ausdruckssystem des Bildungsbürgers, wie sie uns in den Sprachreflexionen der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend entgegentritt, bis hin zu der ihr kaum verhüllt übertragenen Funktion, als sprachliches Eigentum des Gebildeten zugleich dessen soziale Abgrenzung gegenüber den niederen Schichten zu gewährleisten.

20.2. Literaturhinweise Textvorlage J. F.: Ein frommer Wunsch in Sachen deutscher Rede. In: Jahrbücher der Gegenwart 1 (1846), H. 4, 2 9 3 - 3 0 6 .

20.3. Text E i n f r o m m e r W u n s c h in S a c h e n d e u t s c h e r R e d e ( 1 8 4 6 ) Eine wahre und volle Sprachnationalität setzt voraus, daß die Sprachgenossen sich als solche fühlen und anerkennen; dieß kann nach dem Begriff der Nationalität gar nicht anders sein. Denn zur wirklichen und lebendigen Volkseinheit gehört nicht bloß die gemeinsame Eigenschaft und die äußere Thatsache eines durch seinen historischen Grund einigen Verhaltens, sondern auch das Gemeingefühl, die innere Gewißheit des Zusammengehörens und deren Bethätigung in der gegenwärtigen Stellung der Volksgenossen zu einander. Allein gerade dieß Erforderniß macht Schwierigkeiten für die Grenzbestimmung des Sprachgebietes. Soll die Grenze nur den Raum einschließen, auf welchem das Volk sich noch gut versteht, und weil es sich noch gut versteht, das Gefühl der Sprachgenossenschaft hat? Dann wird die Sprachnationalität auf ein sehr enges Gebiet, auf das des Dialekts zurückgedrängt. Der schwäbische Bauer wird nicht zugeben, daß der meklenburgische dieselbe Sprache rede, wie er, noch umgekehrt. Oder soll das Bewußtsein der Gebildeten entscheiden? Hier ist so viel klar, daß das bloß gelehrte Wissen derselben nicht von Belang für die Entscheidung sein kann, da dieß ganz außerhalb der natürlichen Form des Bewußtseins und jenes gemüthlichen Kreises fallt, in den aller Nationalsinn, auch der am höchsten entwickelte, gebannt ist. Dadurch, daß die Gelehrten wissen, es habe das Schwedische Eine Wurzel mit dem Deutschen, entsteht noch keine Sprachnationalität, welche die deutschen und scandinavischen Idiome umfaßte. Es könnte also nur davon die Rede sein, wie weit die Gebildeten ein lebendiges, gleichmäßig verbreitetes Bewußtsein der Sprachgenossenschaft haben? Unseres Erachtens muß die Sprache der Bildung von der Sprache des sinnlich gemüthlichen Lebens verschieden sein. Wenn jene die Abstraction des Begriffes,

20.3. Text

205

die Feinheit und Schärfe der Unterscheidung, die Allgemeinheit der Idee auszudrücken strebt, so ist ihr mit der frischen Bildlichkeit, der derben Kraft, der reizenden Naivität, der treffenden Individualisirung der Volkssprache nicht geholfen. Auch ist der Kreis in dem sich beide bewegen, ein ganz verschiedener. Der sinnliche und gemüthliche Verkehr des Menschen dreht sich in einem engen Kreise herum und in diesem, aus ihm und für ihn bildet sich die Sprache des gemeinen Lebens. Diese ist daher wesentlich Dialekt. Sie gestalte sich unter dem Einflüsse besonderer Verhältnisse und ohne Schaden und Unangemessenheit für den Zweck selbst innerhalb des kleinen Kreises in noch kleineren Kreisen wieder mannichfach veschieden. So giebt es Dorfdialecte, Stadtdialecte, Dialecte eines Thaies, einer größeren Landschaft. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, die Natürlichkeit ist die Welt des concreten Besondern, dem gemäß bildet und bilde sich ferner die Sprache des natürlichen Menschen. Hieraus folgt denn daß es auch nicht unangemessen ist, wenn der Gebildete, sofern er als natürlicher Mensch auftritt, also in allen Beziehungen des sinnlichen und gemüthlichen Lebens sich des Dialectes bedient. Ganz abgesehen von dem bloß äußerlichen Grunde daß er hinsichtlich eines Theils dieser Beziehungen mit dem Volke in beständige Berührung kommt. Nicht in so engem Kreise aber wirkt und lebt die Sprache, wo sie als Träger der höhern Bildung erscheint. Die Bildung als geistige ist allgemeiner und verneint jene Unterschiede der natürlichen Erscheinung. Soweit dieselbe gemeinsame Bildung reicht, die in der Sprache ihren Ausdruck sucht, muß die Sprache auch in ihrer äussern Form dieselbe sein. Die Sprache der Bildung muß die Dialectunterschiede ebenso nothwendig zurückweisen als die Bildung jene Besonderheiten des wirklichen Lebens, aus denen diese erwachsen. Aus alle dem ergiebt sich von selbst die Forderung einer besondern Sprache der Bildung, die vom Dialecte sowohl durch ihren allgemeinen Charakter als durch die größere Ausdehnung ihres Bereiches verschieden sei. Diese Forderung ist als in der Natur der Sache begründet bei keinem gebildeten Volke ganz unerfüllt geblieben, aber sie hat nicht überall in gleicher Weise und in gleichem Grade ihre Verwirklichung gefunden. Das allgemeinste Erzeugniß des Bedürfnisses das ihr zu Grunde liegt, ist die Schriftsprache. Sie kann nur in dem Maaße entstehen als eine nationale Literatur sich bildet, denn die Sprache kann sich als Form des allgemeinen Geistes nur in soweit entfalten, als dessen Inhalt sich als geistiger äussern und hervortreten will. Sie kann bei ihrer Entfaltung nur vom Dialect ausgehen, denn von ihr ist nichts anderes da, als der Dialect. Indem die früheste Literatur überall die poetische ist, die Poesie aber im dunkeln Grunde der Seele wurzelt, ist es anfanglich auch kein Widerspruch, daß die Literatur sich des Dialects bedient. Schon die Poesie entwickelt sich jedoch von der einfachen Naturpoesie zur Kunstpoesie, und will ihre innere Unendlichkeit ahnend, das ganze große Gebiet des Geistes überspannen. Sie schlingt ihre blühenden Ranken durch alle weiten Wälder dieses Gebietes, aus allen Stämmen ihre Nahrung ziehend. Hiebei kann auch in der poetischen Literatur der Dialect, wie er ist, nicht mehr genügen. Er muß gereinigt und veredelt werden. Noch mehr Veränderung erfährt

206

20. J. F.

er, wenn die Literatur Prosa wird und Ausdruck der Wissenschaft sein soll. Dieß ist so nothwendig, daß die Wissenschaft bis der Proceß der Umwandlung bis zu einem gewissen Grade vorgeschritten ist, nicht selten zu einer fremden ausgebildeteren, sogar einer todten Sprache greift, und dafür nicht getadelt werden kann. Vielleicht ist nun aber der Dialect, der in der poetischen Literatur Schriftsprache geworden und über seinen ursprünglichen Kreis hinaus literarische Geltung erworben hat, nicht eben so geschickt den Bedürfnissen der Prosa gemäß entwickelt zu werden. Dann kann es sich zutragen, daß die Literatur 1 ihn verläßt und einem andern Dialect sich zuwendet, diesen für ihre nun veränderten Zwecke auszubilden. Diese neue Schriftsprache zieht nun auch in der prosaischeren Zeit die Poesie in sich hinein, die um so weniger hiebei verliert, als ja auch sie, jemehr sie Kunstpoesie wird, das Bedürfniß einer überallhinreichenden Sprache empfindet. Indem nun aber jener eine veredelte Dialect als Schriftsprache einen Kreis von Literaturgenossen umfaßt, die im gemeinen Leben verschiedene Dialecte sprechen, kann es nicht anders sein, als daß diese Dialecte mehr oder minder auf ihn zurückwirken. Hierdurch verliert denn die Schriftsprache immer mehr die Eigenschaft eines besonderen Dialects, und wird nicht nur durch den Einfluß der abstracteren Gegenstände, die sie zu behandeln hat, sondern auch als Vermittlerin verschiedener Dialecte zu einer abstracten Sprache, zu dem was sie sein soll, zu einer von der Sprache des gemeinen Lebens verschiedenen Sprache der Bildung. Dieser Entwicklungsgang, den unbewußt, durch ihr Wesen getrieben, die Schriftsprache nimmt, ist nicht schwer bei den einzelnen Nationen zu verfolgen. Sehr einfach ist die Bildung der Schriftsprache in Italien gewesen. Doch hat man auch hier den toskanischen Dialect nicht unverändert zur Sprache der Bildung annehmen können. Die geringere Zahl seiner Idiotismen rührt zum Theil eben daher, daß die aus ihm herausgebildete Gesammtsprache auch stärker auf ihn rückwirken konnte. In Spanien gilt als Schriftsprache hauptsächlich der castilische Dialect. In Frankreich hat das Nordfranzösische die Oberhand erhalten, aber in einer durch abstracte Bildung veränderten Gestalt. In England war anfanglich nach der Eroberung durch die Normannen die Sprache der Bildung die französische, die des Volks die angelsächsische. Als diese beiden verschiedenen Sprachen sich verschmolzen, wurde zuerst, da das Gemisch zur Schriftsprache erhoben ward, der Sprache der Herrscher der Vorzug gegeben, aber die Volkssprache und in ihr die Weise des südöstlichen Englands, wo die Hauptstadt lag, erwarb sich dann später wieder höhere Geltung. In Deutschland endlich ist der Wechsel der Dialecte bemerklich im Uebergang der Literatur aus dem schwäbischen in den sächsischen Dialect durch ein Interregnum hindurch, in welchem der sich wandelnde Geist da und dort unter den Dialecten nach einer Schriftsprache suchte. Wenn wir den verschiedenen Charakter jener beiden deutschen Dialecte erwägen, können wir es nicht als zufällig betrachten, daß gerade in der Zeit der Reformation und im Beginne der neueren Zeit sich jene Wendung der deutschen Schriftsprache von Süden nach Norden vollendete. Sich auf abstractem Wege wieder zu gebären, hat

20.3. Text

207

dann seit dem vorigen Jahrhundert unsere deutsche Schriftsprache durch die im siebenzehnten eingerissene Entartung derselben eine besondere Veranlassung gehabt. Die Ansprüche der Bildung an die Sprache erfüllt jedoch die Schriftsprache nur zum Theil. Die Bildung äussert sich nicht nur im geschriebenen sondern auch im gesprochenen Wort. Die Volkssprache hat dieß doppelte Bedürfniß nicht; was sie will ist zunächst nur die Vermittlung des unmittelbaren Verkehrs durch die lebendige Rede des Mundes. Auch die Erzeugnisse der Volkspoesie leben naturgemäß nur im Munde des Volks und pflanzen durch mündliche Ueberlieferung sich fort. Das Schreiben in der Volkssprache oder gar die Ausbildung einer Dialectsliteratur ist in der Hauptsache nichts Ursprüngliches, sondern Rückwirkung der Schriftsprache und der Nationalliteratur auf die Volkssprache in Zeiten vorgerückterer Bildung und vermittelt durch Gebildete. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Rückwirkung nicht in einzelnen Fällen das Bestreben einer stark ausgeprägten provinziellen Nationalität entgegenkomme, um ihren besondern Dialect zu einer besondern Provinzialschriftsprache auszubilden. Dieß mag wohl namentlich in Italien, das vor allen Ländern eine besonders durchgebildete Dialectsliteratur besitzt, der Fall gewesen sein. Es ist offenbar bei denjenigen Norwegern der Fall, welche, indem sie die Eigenthümlichkeiten ihres Dialects in der Schriftsprache einzubürgern versuchen, norwegisch nicht dänisch zu schreiben affectiren. Es ist bei den Flamländern der Fall, so lange sie darauf beharren eine von der holländischen verschiedene Schreibweise zu behalten, um nicht niederländisch sondern flämisch zu schreiben. Allein es gibt andere Erscheinungen, welche zeigen, wie wenig die Volkssprache darauf Anspruch macht, ihre Erzeugnisse der Litteratur einverleibt zu sehen. In Irland z. B. erfuhr ich, wie die alten irischen Volksslieder und Melodien wie auf der Spur der Sammler die sie aufschrieben aus dem Munde des Volkes verschwunden sind. So ist also die Volkssprache wesentlich gesprochenes Wort. Aber wenn sich ihr auch anfanglich die Sprache der Bildung nur als Schriftsprache gegenüberstellt, eben weil zunächst durch die Literatur aus Dialect und Volkssprache sich eine Sprache der Bildung entwickelt, so kann dieß auf die Dauer doch nicht so bleiben. Die Schreibenden selbst, die Bewahrer der Bildung, können wenn sie über geistige Gegenstände mündlich mit einander verkehren, im Hörsaal, in der Disputation, im einfachen Gespräch mit dem Dialecte ebensowenig ausreichen, als wenn sie schreiben. Die Unangemessenheit der Volkssprache für den Ausdruck dieser Gegenstände muß demnach durch eine gesprochene Sprache der Bildung ausgeglichen werden. Will man hiezu nicht einer fremden schon gebildeten Sprache sich bedienen, was der erwachsenen sprachlichen Nationalität widerspricht, so bleibt nichts übrig als die Schriftsprache mündlich zu beleben. Die geistige Bildung, in der Jugendzeit der Nationen das ausschließliche Erbtheil derjenigen die allein schreiben können und schreiben, der Diener der Religion, der Kunst und der Wissenschaft vertheilt sich zudem in vorgerückteren Zeiten unter die Masse der Gebildeten, die in den verschiedensten Zweigen der menschlichen

208

20. J. F.

Thätigkeit sich bewegen. Die geistige Bildung hört auf, sich nur in sich selbst versunken, vom Leben gesondert, bloß theoretisch auszubilden. Vielmehr tritt sie in's Leben hinaus und macht Anspruch darauf, das bisher naturwüchsige praktische Leben nach ihrer Einsicht zu binden, zu beschneiden, zu biegen und zu ziehen. Dieß ist insbesondere der Charakter der Bildung der neuen Zeit im Gegensatze zu der des Mittelalters. Die unmittelbare Folge hievon ist, daß auch die Sprache der Bildung nicht mehr auf die Bücherwelt und ihre Diener beschränkt werden kann. Soll der gebildete Geist die staatlichen Verhältnisse regeln, die höhere Geselligkeit beleben, soll er überhaupt das öffentliche Leben durchdringen, so kann er dieß mit Selbstbefriedigung und in angemessener Form nur in der Sprache der Bildung thun. Sie muß es sein, die in der Ständeversammlung, in den Gerichten, in allen öffentlichen Verhandlungen wie im größeren geselligen Verein der Gebildeten gesprochen wird. Mit einem Worte: überall wo der Gebildete als Mitglied der gebildeten Gesellschaft auftritt, bediene er sich in seiner Rede der Sprache der Bildung. Läse ein Franzose oder Engländer diese Bemerkungen, so würde er wohl nicht begreifen, wie man es für nöthig halten könne, etwas, das sich so sehr von selbst verstehe, einer besonderen Ausführung zu würdigen. Leider aber versteht es sich in Deutschland und namentlich in Süddeutschland keineswegs von selbst. Was jene Völker längst besitzen, eine gesprochene Sprache der Bildung, ein lebendiges wie die Schriftsprache maßgebendes Idiom, eine allen Gebildeten eigene Redeweise, welche rein und gut zu sprechen einen wesentlichen Bestandtheil der Bildung ausmacht — wir Deutschen haben sie nicht. Daß diese lebendige Sprache der Bildung an die Schriftsprache sich anschließen muß, daß sie im Wesentlichen die gesprochene Schriftsprache ist, versteht sich von selbst — denn die Bildung ist Eine in Schrift und Rede. Allein eben weil sie gesprochene Sprache ist, muß, damit sie eine allgemeine Einheit der gebildeten Rede sei, auch ihre Aussprache bei den Theilnehmern derselben Schriftsprache eine und die nämliche sein, lebendige Einheit und Allgemeinheit. Eine solche gemeinsame Aussprache als Regel für die Sprache der Bildung wird auf keinem andern Wege erzeugt als die Schriftsprache, mittelst ursprünglichen Anschlusses an einen Dialect und allmähliger Weiterbildung auf abstraktem Wege durch den Gebrauch der Gebildeten. Deswegen ist die gewöhnliche Aussprache desjenigen Dialects welchen die Sprachentwicklung zur Schriftsprache erhoben und ausgebildet hat, nie alleinige Regel der Aussprache für die Sprache der Bildung. So spricht denn auch der gebildete Italiener nicht eigentlich toskanisch, wenn er von der in manchen Provinzen Italiens wie in Deutschland übertriebenen Anhänglichkeit an seinen Dialect sich befreit hat. Die Aussprache des Grunddialects der Schriftsprache muß nämlich geschliffen, ihre Härten gemildert, ihre allzueigenthümlichen Laute ausgemerzt, sie muß überhaupt mit der Aussprache der übrigen Dialecte, welche im Gebiete derselben Schriftsprache herrschen, so vermittelt werden, daß sie dem Ohre und Munde der verschiedenen Landschaften annehmbar erscheine. Insbesondere

20.3. Text

209

muß sie auch die eigenthümliche allgemeine Färbung, welche die einzelnen Dialecte unterscheidet, das Singen, Schnarren, Stoßen, Ziehen zu vermeiden suchen — sie muß wie die Franzosen mit Recht sagen, möglichst ohne Accent sein. Wo die gesetzgebende Gewalt und das Tribunal für Bildung und Fortentwicklung dieser Aussprache sei, kann im Allgemeinen nicht zweifelhaft sein: da wo der anerkannte Sitz der höchsten Bildung im Lande ist. Nicht der Bildung im Sinne des Philosophen, sondern wo die Masse der Gebildeten Alles was zur Bildung im gewöhnlichen Sinne und insbesondere zur äusseren Glätte gehört, am vollkommensten zu finden meint. Denn oberflächlich und als bloße Erscheinung betrachtet, gehört eine gute Aussprache unter die äusserlichen Vorzüge. Andererseits kommt es deßwegen nicht auf die ächte Bildung, sondern darauf an, was die Menge der höheren Stände dafür hält, weil es sich hier davon handelt, daß die Regel durch freiwillige Anerkennung in der öffentlichen Meinung zur Geltung gelange. In dieser Weise bildet in Frankreich und England die gebildete Gesellschaft von London und Paris, die mit Recht als die gebildetste des Landes betrachtet wird, das Forum für die gebildete Aussprache. In dieser Gesellschaft sind es dann aber wieder besondere von der Mode dazu bevollmächtigte Kreise die über die gebildete Sprache im Ganzen, ihre Feinheiten, und namentlich darüber was veraltet oder jetzt zu üben ist, in letzter Instanz entscheiden. Im Wesentlichen ist es übrigens gleichgültig, ob der Sitz jener Bildung nur im Schooße einer bestimmten Classe der Gesellschaft überhaupt, oder zugleich an einem bestimmten Orte gefunden wird. Werfen wir nun einen Blick auf unser deutsches Vaterland, so finden wir etwas das einer gemeinsamen lebendigen Sprache der Bildung sich nähert, nur in der höchsten Gesellschaft und bei den guten Schauspielern unserer großen Theater. Wo der eigentliche Sitz der Bildung ist, im höheren Bürgerstande, wie weit ist man davon entfernt, in Nord= wie in Süddeutschland, obwohl mehr noch im Süden! Es ist nicht zu läugnen, daß Gottlob mit dem wachsenden öffentlichen Leben ein Streben nach einem lebendigen Deutsch der Bildung erwacht ist. Allein noch ist es ganz ohne Halt, ohne Folgerichtigkeit, eine Halbheit, die rechts und links einen Ausweg sucht, wo keiner ist. Denkt euch einmal eine deutsche allgemeine Ständeversammlung, oder Synode, oder irgend eine berathende Versammlung, welche Männer aus allen Provinzen Deutschlands vereinigte. Welch eine Tortur für ein gebildetes Ohr! Da hielte z. B. einer eine Rede über Gedanken* und Preßfreiheit, oder über das literarische Eigenthum oder über die Lehrfreiheit der Universitäten, von keinem andern Inhalt als den Rechten eben der Bildung, welche er mit seinem rohen Dialecte und dem bäurischen Vortrag mit jedem Worte in's Gesicht schlüge. Wir sagen in's Gesicht schlüge, denn daß er damit die Bildung nicht unmittelbar im innern Herzen verwundete, wissen wir wohl. Darauf antwortete einer und noch einer und ein Dritter, und so sprächen sie fort bis zum Dreißigsten. An diesen Dreißig aber könntet ihr bei Zehen vortreffliche Studien anstellen über die deutschen Hauptdialecte oder die Localdialekte dieser oder jener Gegend, die sich

210

20. J. F.

innerhalb des Hauptdialectes ausscheiden. Bei den übrigen Zwanzig aber möchtet ihr bewundernd die Kraft des heiligen Geistes anstaunen, denn sie würden in Zungen reden. Jeder Einzelne hätte sich eine Vorstellung vom sogenannten Hochdeutsch gemacht, die würde er auf seinen Dorf= oder Stadtdialect pfropfen, und so kämen zwanzig verschiedene Sprachen heraus, immer eine willkürlicher gemischt und barocker gefärbt als die andere, Jargons wie wir alle sie kennen, die nicht Dialect sind und eben so wenig allgemeine Sprache, individuelles Rothwelsch, das mit allem Begriff von Sprache im schreiendsten Widerspruch ein einziger Mensch spricht! Das gäbe einen Eindruck dem ähnlich welchen jene Gemächer und der Hof im Pallast des Prinzen Pallagonia in Sicilien machen mußten wie sie Goethe schildert, wo fast kein Stuhl war mit vier gleich langen Füßen und kein Gesims dem andern parallel lief, überall nur alles anders war als das andere. 2 Wie widerlich aber auch ein solcher Eindruck sei, es ist doch in jenem Treiben der Sprachfabrikanten ohne Kunden eine Richtung nach vorne, es ist eine Bewegung, die den Weg bahnen kann zu einer durch gegenseitige Berührung und abschleifenden Wechselstoß möglichen Ausgleichung. Viel schlimmer sind jene Starrköpfe, die überall und in allem den Dialect festhalten wollen. Einige thun es im tiefen Gefühl ihres Ungeschicks, und schelten wie der Fuchs die Trauben sauer, die ihnen zu hoch hängen. Oder sie haben im engsten Kreis um sich das Beispiel verunglückter Bemühungen solchen Ungeschicks und nennen deßwegen das ganze Streben affectirt. Mit diesen ist nicht zu rechten. Aber andere giebt es, die aus Grundsatz am Dialect festhalten. Sie wollen die lebendige Frische, die Gemüthlichkeit, die heimliche Poesie des Dialects nicht für eine blassere und kältere Sprache der Bildung hingeben. Wir wollen hier nicht wiederholen was wir schon ausführlich über den Widerspruch gesagt haben, der Bildung in der natürlichen Sprache ein angemessenes Gewand geben zu wollen. Wir könnten das Bild ausbeuten, das uns vor Aug' und Ohr steht: das Bild eines plattdeutschen oder schwäbischen oder schweizerisch* deutschen Gesprächs über Goethe's Faust oder Hegels Logik. Wir können sagen: Schweinefleisch und Sauerkraut sind ganz gute Gerichte, aber süße und würzige Früchte mit ihnen aus einer Schüssel zu essen überlassen wir andern. Wir wollen jedoch lieber ernsthaft daran erinnern, daß wer überhaupt die Bildung will, auf den Reiz der unmittelbaren Natürlichkeit verzichten muß und daß davon die Bildung in Beziehung auf die Sprache keine Ausnahme machen kann. Wer ein Mann sein will, der muß den Illusionen der Kindheit und des Jünglingsalters um der baaren Wahrheit willen entsagen, und thäte er es auch noch so ungern. Wer wahrhaft gebildet ist, der wird auch bald einsehen, daß jenes Aufgeben kein Verlust ist, der nicht durch einen höhern Gewinn aufgewogen würde. So ist auch in der Sprache das Aufgeben des Dialectes im Kreise der Bildung kein wahrer Verlust. Einmal, was klagt ihr so laut über Raub, lassen wir euch nicht den Dialect und die Volkssprache, wo sie angemessener Ausdruck des Inhalts sind — in eurem häuslichen, sinnlichen, gemüthlichen Leben? Dort mag euer beliebtes Sprichwort gelten: jeder rede wie ihm der Schnabel gewachsen ist! Da es aber ein echtes Sprichwort,

20.3. Text

211

d. h. lediglich der Ausdruck der natürlichen Volksansicht ist, und indem es den menschlichen Mund zum thierischen Schnabel macht klar genug zeigt, daß es den Menschen nur von der Naturseite sieht, beweist es gar nichts für den Standpunkt der Bildung. Sodann — ist es denn nothwendig, daß in der Sprache der Bildung die wahre Lebendigkeit, die Kraft, die Poesie verloren gehe? Das ist im Allgemeinen nur wahr von einer halbentwickelten, pedantisch gebannten Sprache. Es mag z. B. wahr sein, von dem akademisch=classischen Französisch, es ist nicht mehr wahr von jenem Französisch das im Munde George Sand's lebt. Es ist nicht wahr von unserer deutschen Schriftsprache; warum sollte die gesprochene Bildungssprache hinter dieser zurückbleiben müssen? Und was im Einzelnen verloren geht an kleinen Schattirungen dieses und jenes Dialektes, wird reichlich von der gebildeten Sprache durch Wendungen zurückgegeben welche im Dialect unmöglich wären. Wieviel von den bezeichnenden Ausdrücken der Volkssprache kann überdieß die gebildete Sprache sich aneignen, während umgekehrt die Volkssprache gegen die soviel reichere Syntax der gebildeten spröde und unzugänglich ist. Endlich um auf das Gebiet der Nationalität zurückzukommen, so wird es gewiß viel zu wenig beachtet, wie störend dem Gemeingefühl derselben Nation der Mangel einer Gesammtsprache der Gebildeten sein muß. Wer von uns hat sich nicht von andern Deutschen, Angehörigen anderer Provinzen, ehe er sie kannte, nur durch ihren Dialect abgestoßen gefühlt? Personen vielleicht von der trefflichsten Gesinnung und innerlich gediegensten Bildung erscheinen uns läppisch oder roh, lächerlich oder beschränkt, je nach dem Eindruck, den auf unser an unseren Dialect gewöhntes Ohr die fremde Volkssprache macht. Wir fühlen uns ihnen jedenfalls nicht verwandt, wir heben unser Vertrauen und unsere Neigung dem auf, der unsern Dialect spricht. Fragt einmal den Hanseaten oder Preußen, den Schwaben oder Östreicher, ob dem nicht so ist? Hätten wir eine deutsche gebildete Rede, sie würde mächtig dazu beitragen, die Antipathieen der einzelnen deutschen Stämme zu schwächen und zu verwischen; die Provincialvorurtheile würden wenigstens aus dem Kreise der höheren Klassen eher verschwinden. Aber wie wenig kann dieß jetzt stattfinden, in einem Zustande der es möglich macht daß zwei gebildete Männer, wenn sie zufällig beide nie ihre Provinz verlassen haben, der eine ein Westphale oder Pommer, der andere ein Schwabe oder Ostreicher, wenn jeder so spricht, wie er zu Hause über dieselben Gegenstände mit andern Gebildeten sich zu unterhalten pflegt, einander geradezu nicht verstehen, so daß sie genöthigt sind, besondere Mühe darauf zu wenden sich verständlich zu werden. Zwischen Angehörigen der unteren Volksklassen läßt sich das nicht ändern, dort aber ist es an seinem Orte. Den untern Schichten gehört der Reichthum der Besonderheiten, in den obern centralisirt sich Alles. Diesem Gesetz entzieht sich mit Unrecht die Rede der Gebildeten in Deutschland, und trägt dadurch zu Erhöhung des übermäßigen Gewichts des Provincialgeistes gegenüber von dem Nationalgeiste, das heißt zu Schwächung des letzteren gerade von Seiten desjenigen Standes bei, der als der intelligente Kern der deutschen Nation ihre eigentliche Klammer und ihr Halt gegen die Zersplitterung sein sollte.

212

20. J. F.

Ein doppeltes Unrecht ist dieses Verfahren in Deutschland, wo der inneren Centralisation der Nation in so manchen andern Hinsichten so bedeutende Hindernisse entgegenstehen, daß man um so weniger ihre Ausbildung und die Stärkung der Nationalität da versäumen sollte, wo ihr von politischer Seite nichts entgegengesetzt werden würde. Man weise nicht zur Vertheidigung der Dialecte auf die sonderthümliche Wesenheit Deutschlands hin, denn daß diese eine höhere Einheit unmöglich mache, daß sie an sich ein unantastbares Gut sei, ist nichts als ein kindischer Aberglaube, und läßt gegen unsere Ansicht um so weniger sich anführen, als wir ja die Dialecte nicht vertilgen, sondern nur in gewisse Schranken zurückweisen und der allgemeinen Rede unterordnen wollen. Man wende nicht Italien ein; seine allzugroße provinzielle Zersplitterung ist ein Übel wie unsere deutsche, doch hat selbst Italien eine anerkannte Sprache der Bildung vor uns voraus. Auch sage man nicht, in Frankreich kenne man den gebildeten Südfranzosen, in England den gebildeten Schotten an Accent und Aussprache. Eine leise Färbung der Rede, verschieden nach der Verschiedenheit der Dialecte wird sich allerdings nie ganz vermeiden lassen, und gegen diese zu eifern, wenn sie in den Grenzen des guten Geschmacks bleibt, wäre lächerliche Pedanterie. Allein davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt, sind noch lange nicht zu jenem Punkte der Ausbildung gekommen, über welchen hinaus es auch dem ernsten Streben Vieler unmöglich wird den Dialect vollends abzustreifen. Ein solch' ernstes Streben ist vielmehr in der Regel bei uns noch gar nicht zu finden; es handelt sich hier nicht von dem schließlichen Verwischen einer feineren Schattirung, sondern vielfach noch von der ersten Ausgleichung schroffer und geschmackswidriger Gegensätze. Nur Ein Bedenken scheint uns näherer Erwägung werth: ob der Mangel einer tonangebenden Hauptstadt eine allgemeine Sprache der Bildung werde zu Stande kommen lassen? Es kann nicht geläugnet werden, daß dieser Mangel — der seine großen Vortheile hat — ihr Zustandekommen bedeutend erschweren muß; allein daß er es unmöglich mache, daß er nicht einmal die Hoffnung einer allmähligen Annäherung zum Ziele gewähre, davon können wir uns nicht überzeugen. Zwei Anknüpfungspunkte für die Bildung einer allgemeinen deutschen Rede sind schon oben berührt worden: unsere Gesellschaft der höchsten Stände und das Theater. Was die erste betrifft, so ist die Richtung der Zeit zwar einem Einflüsse derselben nicht ungünstig, da immer mehr die schroffen Unterschiede der Geburt vor den Ansprüchen der Bildung weichen, und jene einst geschlossenen Kreise sich mehr und mehr öffnen und erweitern. Doch steht dieser Wirkung, außer der vielfach noch nicht gebrochenen Selbsteingrenzung dieser Kreise und der Unmöglichkeit einer überall hin treffenden Ausdehnung derselben, nicht selten auch ein gewisser bürgerlicher Stolz entgegen, der selbst die gute Sitte des Adels zurückweist, eben weil sie adelich ist. Von einem unmittelbaren Einflüsse des Theaters hoffen wir gleichfalls nur wenig, — welchen Einfluß übt es denn überhaupt in seinem gegenwärtigen Zustande auf die Bildung der Nation? Aber als Anknüpfungspunkt könnte und sollte es doch dienen. Unsere Ansicht geht nämlich dahin. Die höheren

20.3. Text

213

Unterrichtsanstalten für Gebildete, die Gymnasien, Lyceen, polytechnischen Schulen, wären der eigentliche Platz, wo der Same für eine gebildete deutsche Rede auszustreuen wäre. Sie sollen ja die Pflanzstätten der allgemeinen Bildung sein und in ihnen wird die deutsche Schriftsprache jetzt — endlich! — überall gelehrt. Man hat schon darauf hingewiesen, wie zweckmäßig für unser öffentliches Leben es sein würde, die Pflege der Beredsamkeit bei der Erziehung mit in Betracht zu ziehen. Ganz gut — aber dieß ist bedingt durch die Pflege einer lebendigen Sprache der Bildung und geht Hand in Hand mit ihr — wie der Unterricht in der Literatur mit dem der Schriftsprache. Wir hoffen, daß die überall rege gewordene Frage über das öffentliche Gerichtsverfahren 3 und die steigende Gunst der öffentlichen Meinung für dasselbe in nicht ferner Zeit Veranlassung geben wird, hier thätige Hand anzulegen. Will man aber einen Unterricht in gebildeter Rede in unsern Schulen einführen, so kann er in keinem Falle der jetzigen Generation der Lehrer überlassen werden. Es gehe in die Classen und Hörsäle, wer noch nicht drin war, und urtheile dann, ob wir Unrecht haben — vorausgesetzt, daß er einen Begriff habe von dem, was wir wollen, eine Ahnung davon, was eine deutsche, lebendige Sprache etwa sein müßte, die sich mit dem Französisch und Englisch der gebildeten Gesellschaft von Paris und London vergleichen ließe. Für jetzt bleibt demnach nichts übrig, als den Unterricht in der lebendigen Rede guten Schauspielern zu übertragen. Haben doch schon bekannte Kanzelredner diesen Weg für sich eingeschlagen — man folge ihnen nach. Man lasse sich nicht dadurch abschrecken, daß im Anfang manche Affectation zu Tage kommen wird. Bei der Masse wird am Ende mit der Gewohnheit sich auch die Natürlichkeit wieder einstellen. Dieß wäre das Eine. Hiedurch würde jedoch, Ausnahmen ungerechnet, nur der Grund gelegt werden für eine künftige Bildung der Sprache in weiteren Kreisen; gute Theater sind an so wenigen Orten, und ehe das Haus nicht der Schule zu Hülfe kommt, kann diese nicht ausreichen. Erst für die Bildung einer späteren Generation würden die Schüler der Schauspieler, deren Unterricht namentlich allen künftigen höheren Lehrern verschafft werden müßte, allgemeiner in Haus und Schule wirken können. Ist aber dieß eingeleitet und so der Grund gelegt, dann glauben wir eine schnellere Annäherung zum Ziele, hauptsächlich von der außerordentlichen Vermehrung der Communicationsmittel, vor Allem von den Eisenbahnen erwarten zu dürfen. 4 Der persönliche Verkehr, in welchen Tausende und Hunderttausende von Gebildeten der verschiedensten deutschen Landschaften jetzt in steigendem Maße treten werden, wird dazu dienen, die zu Hause erworbene Lehre lebendig zu machen und nützlich erscheinen zu lassen. Zugleich wird diese beständige Berührung dahin führen, Gleichmäßigkeit durch gegenseitiges Abreiben eher herzustellen und zu erhalten. Um so wirksamer wird die häufige Berührung sein, als es nicht fehlen kann, daß durch sie auch das öffentliche Leben Deutschlands sich mehr verschlingen und in Versammlungen deutscher Männer aus allen Gauen sich mehr und mehr äußern muß. Endlich muß mit Erreichung größerer politischer Einheit das Nationalbewußtsein überhaupt in allen seinen Erscheinungen, also auch in der gespro-

214

20. J. F.

chenen Sprache, sich als Einheit zu verwirklichen stärker sich getrieben fühlen. Zu allererst freilich ist nöthig, daß die Bedeutung der Sache selbst verstanden, das Vorurtheil beseitigt, die beschränkte Ansicht aufgegeben werde, als handle es sich hier nur von einer ästhetischen Frage, oder gar von einem bloßen Interesse der Salons=Conversation. Auch aus dem ästhetischen Gesichtspunkte halten wir die harmonische Einheit der Rede keineswegs für unbedeutend, und den ästhetischen Gesichtspunkt selbst für viel bedeutender, als die zur Zeit in Deutschland herrschende Ansicht über den Werth der Harmonie der Erscheinung uns zugeben würd,e, eine Ansicht vom Schönen, welche die Masse der Deutschen den romanischen Völkern gegenüber in der That noch heutigen Tages als Barbaren bezeichnen läßt. Allein von aller Aesthetik abgesehen ist der Mangel einer allgemeinen Sprache der Bildung ein Loch in unserer Sprachnationalität, dessen wir uns zu schämen haben; eine Lücke in unserer Nationalität überhaupt, welche für uns auch die Nachtheile haben muß, wie sie überhaupt mit den Brüchen der Nationalität verbunden zu sein pflegen. Damit ist zugleich gesagt, daß es nicht überflüssig ist, hier zu bessern und zu helfen; denn eine positive, von Schlacken gereinigte, einigende Nationalität ist der feste und gesunde Boden für jedes kräftige Emporwachsen eines Volkes; und verwerflich ist nur jenes falsche Streben, welches die einzelnen Völker in grundlosem Haß auseinander zu halten bemüht ist, und Hochverrath an der eigenen Nation übt, indem es sie der Theilnahme an den allgemeinen Fortschritten der Menschheit berauben will, bloß weil ein anderes Volk vom Geschicke berufen worden ist, diese oder jene Frucht am Baume der Humanität früher anzusetzen oder schneller zu reifen.

20.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3

„Literatur" meint hier offenbar die nicht poetische. Goethe beschreibt das Schloß des Prinzen in der „Italienischen Reise" im Eintrag vom 9. April 1787 (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 11, 2 4 2 - 2 4 7 ) . Öffentlichkeit und Mündlichkeit der gerichtlichen Verfahren waren, z. T. im Rückgriff auf das französische Vorbild, z. T. auf das altdeutsche Recht, liberale Forderungen während der gesamten Restaurationszeit, rechtswissenschaftlich und öffentlich diskutiert und entwickelt schon um 1822, politisch wirksam vor allem in den süddeutschen Verfassungskämpfen. Für die rechtswissenschaftliche Begründung sind besonders Anselm Ritter von Feuerbach (1775 — 1833; Über Öffentlichkeit und Mündlichkeit der gerichtlichen Verfahren. Gießen 1821) und sein Schüler Karl Joseph Anton Mittermaier (1787—1867) wichtig geworden. Die Münchener Akademie der Wissenschaften stellte 1821 die Preisaufgabe „Vorteile und Nachteile des öffentlichen und mündlichen Verfahrens." Preisträger wurde Georg Ludwig Ritter von Maurer (1790—1872) mit der Schrift „Geschichte des altgermanischen Gerichtsverfahrens". Heidelberg 1824. — Mittermaier, der das Thema in mehreren Werken bis zur Mitte des Jahrhunderts immer wieder abhandelte, wurde 1831 Mitglied der badischen Ständeversammlung und brachte dort

20.4. Anmerkungen des Herausgebers

4

215

die liberale Forderung nach Öffentlichkeit und Mündlichkeit wiederholt in Form konkreter Anträge ein. Die erste Eisenbahnlinie in Deutschland wurde bekanntlich 1835 zwischen Nürnberg und Fürth gebaut. Es folgt die 116 km lange Linie zwischen Leipzig und Dresden (1837 — 1839). 1850, also vier Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes von J. F., gab es in Deutschland 6044 Eisenbahnkilometer, zehn Jahre später 11633. — Auf die Bedeutung der Eisenbahn und des gesteigerten Reiseverkehrs für die Entwicklung der deutschen Sprache weisen auch Auerbach und Rückert hin (beide in diesem Band).

21. Karl Ferdinand Becker ( 1 7 7 5 - 1 8 4 9 ) 21.1. Einführende Bemerkungen Die Kurzcharakterisierung des Sprachforschers Becker in „Meyers Großem Konversations-Lexikon" (6. Aufl., 1903) lautet im Rückblick: „Sein Standpunkt, der die Sprache als einen streng logischen Organismus auffaßt, fand viele Anhänger, bis J. Grimms Werke das Irrige dieser Behandlungsweise dartaten". Der Artikelschreiber betrachtet Becker offensichtlich aus der Perspektive der in der Hochschulgermanistik seit Grimm dominierenden historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, von der aus gesehen sowohl die Traditionen der normativ-kritischen als auch die der philosophischen Grammatik in Mißkredit geraten waren. Die historische Wirklichkeit erscheint in diesem Eintrag aber, auch wenn man die Parteinahme für die historisch-vergleichende Methode akzeptiert, eigentümlich verzerrt, weil der Offenbacher Arzt 1824 als 49jähriger sein erstes sprachwissenschaftliches Buch veröffentlichte, als Grimm sein Urteil über die wirklichen oder vermeintlichen Irrwege der philosophischen Grammatik schon deutlich gesprochen hatte, und weil Beckers Wirkung sich trotz und neben Grimm erst in den folgenden Jahrzehnten entfaltete. Becker gewann zwar keinen großen Einfluß auf die akademische sprachwissenschaftliche Germanistik, aber einen um so größeren außerhalb der Wissenschaft, besonders auf den Sprachunterricht in der Schule. Seine logisch-systematisch konzipierte Sprachdenklehre, gegründet auf der Annahme allgemeiner Denkgesetze und der Vorstellung einer möglichen vollkommenen Grammatik, stellte der Schule ein System zur Verfügung, aus dem sich konkrete Lernziele und begründete Entscheidungen über richtig und falsch, besser und schlechter ableiten ließen, etwas, was die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft weder konnte noch wollte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß Becker auch eine engere Beziehung ζμΓ öffentlichen Sprachdiskussion hatte, für die, das gilt im 19. Jahrhundert wie heute, die Frage nach den Maßstäben für die Bewertung sprachlicher Phänomene zentrale Bedeutung hat. Er schrieb eben nicht nur eine „Schulgrammatik", sondern auch ein Buch über den deutschen Stil und sogar ein „Lehrbuch des deutschen Stils", was J. Grimm nicht in den Sinn gekommen wäre. In diese Sammlung aufgenommen wurden zwei Paragraphen aus dem Buch „Der deutsche Stil", in denen Becker zwei Phänomene unterscheidet, die, oberflächlich betrachtet, verwandt sind, jedoch von Becker unterschiedlich bewertet werden: die Entwicklung der deutschen Sprache in der logischen Richtung und ihre Vergeistigung. In der ersten Entwicklungstendenz sieht Becker die positive Kehrseite

21.2. Literaturhinweise

217

dessen, was andere als „Verfall der deutschen Sprache" begreifen; die zweite, die Vergeistigung, betrachtet er, Fichtes Ursprachtheorie erneuernd, mit kritischen Augen.

21.2. Literaturhinweise Textvorlage

Karl Ferdinand Becker: Der deutsche Stil. Frankfurt: Kettembeil 1848, 71—81.

Weitere Literatur A: Die Deutsche Wortbildung oder Die organische Entwicklung der deutschen Sprache in der Ableitung. Frankfurt a. M.: Hermannsche Buchhandlung 1824 (Abhandlungen des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache 4). Organism der Sprache. Als Einleitung zur deutschen Grammatik. Frankfurt a. M.: Reinherz 1827 (Deutsche Sprachlehre, Bd. 1). Deutsche Grammatik. Frankfurt a. M.: Hermann 1829 (Deutsche Grammatik, Bd. 2). Schulgrammatik der deutschen Sprache. Frankfurt a. M.: Hermann 1831 [ab 9. Aufl. (1870): „Handbuch der deutschen Sprache"]. Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre. Frankfurt a. M.: Hermann 1833. Das Wort in seiner organischen Verwandlung. Frankfurt a. M.: Hermann 1833. Ausführliche deutsche Grammatik als Kommentar der Schulgrammatik. Statt einer 2. Auflage der Deutschen Grammatik. 3 Bde. Frankfurt a. M.: Hermann 1836-1839. Der deutsche Stil. Frankfurt a. M.: Kettembeil 1848. Lehrbuch des deutschen Stils. Hrsg. v. Theodor Becker. Frankfurt a. M.: Kettembeil 1850. B: Haselbach, Gerhard: Grammatik und Sprachstruktur. Karl Ferdinand Beckers Beitrag zur Allgemeinen Sprachwissenschaft in historischer und systematischer Sicht. Berlin 1966. Bahner/Neumann: [Bibl. C 2], 2 6 1 - 2 7 6 . Sengle: [Bibl. C 27], 4 6 8 - 4 7 3 , 5 5 2 - 5 5 6 u. ö.

218

21. Karl Ferdinand Becker ( 1 7 7 5 - 1 8 4 9 )

21.3. Text * D i e E n t w i c k l u n g der d e u t s c h e n S p r a c h e in der l o g i s c h e n R i c h t u n g und ihre V e r g e i s t i g u n g (1848) Sprachforscher, welche die Sprache nur von ihrer etymologischen Seite auffassen, haben darin, daß die deutsche Sprache früh Ableitungs* und Flexionsendungen verloren hat, die sich in den klassischen Sprachen erhalten haben, und daß sie die ihr mangelnden Flexionsformen durch Hülfsverben und Präpositionen ersetzt, schlechtweg einen V e r f a l l der Sprache finden wollen; und man hört oft die Behauptung, die deutsche Sprache sei in Folge dieses Verfalles zu einer schönen Darstellung der Gedanken weniger geeignet, als die klassischen Sprachen. 1 Wenn man aber die eigenthümliche Entwickelung der deutschen Sprache näher betrachtet, und sie mit den klassischen Sprachen vergleicht; so wird man bald gewahr, daß der deutsche Stil zwar nothwendig von dem Stile der klassischen Sprachen verschieden ist, daß aber der Vortheil in Beziehung auf das Darstellungsvermögen auf der Seite der deutschen Sprache liegt. Was man einen V e r f a l l der deutschen Sprache nennt, ist zunächst eine natürliche Folge der Herrschaft, welche die Betonung in der deutschen Sprache ausübt; und diese hat ihren Grund darin, daß sich die deutsche Sprache vollkommner als andere Sprachen in der logischen Richtung entwickelt hat. Es ist schwer zu sagen, durch welche Einwirkungen diese Richtung in der Entwickelung der Sprache zuerst vorhersehend geworden; sie konnte aber in dieser Richtung freier fortschreiten, weil sie weniger als andere Sprachen in ihrer Entwickelung durch die Einwirkung fremder Sprachen gestört worden. So hat sich in ihr länger und vollkommner als in andern Sprachen ein lebendiges Verständniß der Wörter erhalten; und der Ton ist in ihr vollkommner als in den andern Sprachen zu einer lebendigen Erscheinung des Gedankens in dem Satze, und des Begriffes in dem Worte geworden. Je mehr aber in dem Laufe der Zeit das logische Element in der deutschen Sprache das vorherrschende wurde, desto mehr mußte das phonetische Element zurücktreten; und die Abschleifung der Endungen ist in ihr nicht, wie in den romanischen Sprachen, ein durch die Einwirkung fremder Sprachen herbeigeführter V e r f a l l der Sprache, sondern eine natürliche Folge der entschiedenen Herrschaft, welche der Ton über die Lautverhältnisse der Wörter ausübt*. In der Entwickelung der klassischen Sprachen ist das phonetische Element über das logische vorherrschend geworden; und dies hatte die Folge, daß die Betonung der Wörter in diesen Sprachen ihre ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Ihre Wortformen wuchern in einer Fülle mannigfaltiger Endungen; und wenn man in vielsilbigen Wörtern, wie τυφ9ησόμεθα, δικαιοσύνη, verberabxmini, cupiditatibus den Hauptton eben so, wie in deutschen Wörtern, auf die Stammsilbe legen wollte, so würde das Tonver* S. Organism der Spr. §. 48. 2

21.3. Text

219

hältniß das rhythmische Gefühl verletzen. Man hat darum solchen Wörtern eine Betonung gegeben, die das Gefühl für ein rhythmisches Ebenmaß der Tonverhältnisse befriediget, aber nicht mehr die logische Form des Begriffes ausdrückt. So ist in diesen Sprachen die Betonung, die in der deutschen Sprache die Bildung der Lautverhältnisse beherrscht, unter die Herrschaft der Lautverhältnisse gestellt. Daher in diesen Sprachen eine größere Fülle der Worformen 3 , eine mehr abgemessene Ründung der Perioden, und überhaupt ein Rhythmus der Sätze, der das Ohr mehr befriedigt, aber weniger Anschaulichkeit und Bestimmtheit in der Darstellung der Begriffe, und weniger Lebendigkeit in der Darstellung der logischen Form der Gedanken. Nach allem dem hat die deutsche Sprache in Beziehung auf die Fähigkeit einer schönen Darstellung vor den klassischen Sprachen entschiedene Vorzüge; und wenn sie lange Zeit in der Schönheit der Darstellung gegen diese Sprachen zurückgestanden hat, so liegt der Grund nicht in einem Verfalle der Sprache, sondern nur darin, daß man es nicht verstand, von den Mitteln, die sie darbietet, den gehörigen Gebrauch zu machen. Die ganze Art und Gestaltung der deutschen Sprache ist in Folge der logischen Richtung, die in ihrer Entwickelung vorherrschend ist, eine ganz eigenthümliche geworden; und sie ist zu einem Reichthume von Mitteln der Darstellung gelangt, die ihr eigenthümlich sind. Die deutschen Stilistiker haben aber, weil sie ihr Augenmerk immer auf die fremden Sprachen richteten, diese Eigenthümlichkeit ihrer Muttersprache viel zu wenig erkannt und beachtet. Man hat es wol anerkannt, daß die deutsche Sprache vielfältig die Begriffe und die besondern Arten ihrer Beziehungen, und auch die logischen Verhältnisse der Gedanken genauer und bestimmter unterscheidet, als die neuern Sprachen, und darum auch im Stande ist, den I n h a l t der Gedanken und ihre l o g i s c h e n V e r h ä l t n i s s e vollkommner darzustellen: aber ein entschiedener Vorzug vor den neuen und alten Sprachen liegt besonders darin, daß sie die l o g i s c h e F o r m der Begriffe und Gedanken in ihrem mannigfaltigen Wechsel und in ihren zartesten Nuancen auf eine lebendigere Weise darstellt; und dieser Vorzug ist zu wenig erkannt und beachtet worden. Die d e u t s c h e Stilistik soll darum ein besonderes Augenmerk darauf richten, daß diejenigen Formen der Darstellung, welche der deutschen Sprache e i g e n t h ü m l i c h sind, hervorgehoben und in ein helles Licht gestellt werden.4 Von der in der Entwickelung der deutschen Sprache vorherrschend gewordenen Richtung auf das logische Element der Sprache muß man unterscheiden eine besondere A u s a r t u n g , die man als V e r g e i s t i g u n g der Sprache und des Stiles bezeichnen kann, und die besonders in den romanischen Sprachen hervortritt, aber auch in der deutschen Sprache Eingang gefunden hat. Daß in der deutschen Sprache das logische Element vorherrschend geworden, ist das Werk einer o r g a n i s c h e n E n t w i c k e l u n g , und gehört noch dem gesunden Leben der Sprache an. Es gibt sich als ein solches zu erkennen in der organischen Gesetzlichkeit, mit welcher in

220

21. Karl Ferdinand Becker (1775-1849)

ihrer Entwickelung dem Begriffe das Wort, den Formen der Begriffe die Wortformen, den grammatischen Beziehungen der Begriffe die syntaktischen Formen, und der logischen Form der Begriffe und Gedanken die Betonung, als Äußeres dem Inneren, vollkommen entsprechen. Die V e r g e i s t i g u n g der Sprache ist nicht das Werk einer organischen Entwickelung, und ist dem gesunden Leben der Sprache eigentlich fremd. Sie tritt nur dann hervor, wenn in der Sprache eines Volkes der natürliche Gang ihrer Entwickelung durch Vermischung mit einer fremden Sprache gestört wird, oder die geistige Entwickelung eines Volkes eine unnatürliche Richtung annimmt, und nun die in dieser Richtung gebildeten Begriffe und Gedanken auch durch unnatürlich gebildete Sprachformen dargestellt werden. Als Folge einer durch Vermischung gestörten Entwickelung tritt die Vergeistigung besonders in den romanischen Sprachen hervor. In den aus der Vermischung des Germanischen mit dem Lateinischen hervorgegangenen Sprachen wurden die Wörter von vorn herein schon darum nicht mehr vollkommen verstanden, weil der Germane die lateinischen, und der Römer die germanischen Wörter nicht mehr auf ihre Wurzelbedeutung zurückführen konnte; und dies ist zunächst der Grund von der anomalen Entwickelung dieser Sprachen. Diese Vermischung der Sprachen hat aber nicht nur eine anomale Entwickelung des Wortvorrathes, sondern auch eine anomale Entwickelung der B e g r i f f e zur Folge. Das Wort — die leibliche Erscheinung des Begriffes — wird zugleich mit dem Begriffe geboren, und entwickelt sich zugleich mit dem Begriffe. Die Entwickelung der Wörter ist durch die Entwickelung der Begriffe, aber auch Diese durch Jene bedingt; und sie stehen mit einander in einer solchen Wechselwirkung, daß Störungen in der organischen Entwickelung der Begriffe eine anomale Entwickelung der Wörter zur Folge haben, und umgekehrt. So lange der natürliche Verband zwischen den Begriffen und den Wörtern besteht; entwickeln sich beide naturgemäß: wenn aber dieser Verband durch Vermischung mit einer fremden Sprache einmal gelöset, und das Wort nicht mehr die leibliche Erscheinung, sondern nur ein Z e i c h e n des Begriffes ist; so wird nicht nur die Entwickelung der Wörter, sondern auch die Entwickelung der Begriffe unnatürlich. Auch geht in jeder besondern Sprache die Bedeutung der Wörter aus dem Leben des besondern Volkes hervor: was dieses Volk erlebt hat, ist in seiner Sprache ausgeprägt; und die Wörter werden nur aus dem Leben dieses Volkes verstanden. In den romanischen Sprachen wurden daher die Wörter von vorn herein auch darum nicht wahrhaft verstanden, weil das frühere Leben des römischen Volkes den germanischen Völkern, und das frühere Leben der germanischen Völker den Römern fremd war; und man unterlegte den Wörtern, weil man sie nicht verstand, sehr oft Begriffe, in denen man ihre ursprüngliche Bedeutung nicht leicht wieder erkennt. So wurden Wörter, wie FIGURA, PRAEGNANS in der französischen Sprache nicht mehr verstanden, und nahmen in FIGURE (Gesicht), PREGNANT (dringend) Bedeutungen an, die ihnen ursprünglich fremd sind. Noch mehr auffallend ist diese Verfälschung der Wörter in der englischen Sprache, die aus der Vermischung der angelsächsischen mit einer schon gemischten Sprache

21.3. Text

hervorgegangen ist,

221

Β. in den Wörtern BEEF, MUTTON, PORK, VEAL (neben ox, (Vermögen), UMBRELLA (Regenschirm von UMBRA Schatten), PRIVILEGE (Recht), TITLE (Berechtigung), OCCASION (Anlaß), ΤΟ TRAVEL (neben fr. T R A V A I L L E R ) U. m. A. Weil die Begriffe der sinnlich konkreten Dinge schon in dem Einen Volke eben so, wie in dem andern, vorhanden waren, die Begriffe auch durch die konkret sinnliche Bedeutung mehr fixirt sind; fand diese Verfälschung bei den Ausdrücken der sinnlichen Dinge weniger Statt. Desto mehr wucherte sie in den Ausdrücken der n i c h t s i n n l i c h e n Begriffe. Die nicht sinnlichen Begriffe des Einen Volkes waren großentheils bei dem andern Volke noch gar nicht, oder doch nicht in derselben Fassung vorhanden; und wenn sie schon vorhanden waren, so wurden sie nicht auf dieselbe Weise und durch dieselben Gegenbilder anschaulich gemacht: die Ausdrücke dieser Begriffe wurden nicht verstanden; sie waren nur Z e i c h e n unvollkommen verstandener Begriffe. Da aber die Begriffe der nicht sinnlichen Dinge ihrer Natur nach weniger bestimmt sind als die der sinnlichen Dinge, und eine bestimmte Fassung des Begriffes in den romanischen Sprachen auch nicht, wie in der deutschen, aus der Grundbedeutung des Wortes erkannt wird; so wurden in die Begriffe selbst oft Bestimmungen gelegt, welche durchaus als willkürlich erscheinen: und so wurden die Ausdrücke derselben großen Theils konventionelle Zeichen konventionell gefaßter Begriffe; und auch die Entwickelung der Begriffe selbst wurde, weil sie nicht mehr mit der Entwikkelung der Wörter in einem organischen Verbände stand, unnatürlich. Die konventionelle Bezeichnung konventionell unterschiedener Begriffe gibt der Sprache der Gebildeten eine größere Bestimmtheit des Ausdruckes; und man hat diese oft als einen besondern Vorzug der romanischen Sprachen hervorgehoben: aber ihnen fehlt die sinnliche Anschaulichkeit der Darstellung, ohne welche die Sprache nicht ein lebendiges Organ des menschlichen Geistes, sondern nur ein todtes Werkzeug ist*. SHEEP, PIG,

CALF),

Ζ.

FORTUNE

Wenn die romanischen Sprachen schon durch die Vermischung der Völker zu einer unnatürlichen Vergeistigung getrieben wurden; so haben Einwirkungen anderer Art auch in der deutschen Sprache, wenn auch in geringerm Maße, dieselbe Ausartung herbeigeführt. Da die Vergeistigung immer zunächst in die Darstellung der nicht sinnlichen Begriffe eingreift; so hat sie vorzüglich bei denjenigen Klassen des Volkes Eingang gefunden, welche sich durch eine mehr entwickelte geistige Bildung von dem übrigen Volke scheiden, oder doch nach dem Scheine einer größeren Geistesbildung streben. Sie herrscht daher vorzüglich in der Sprache der gebildeten Stände, und gehört gewissermaßen zum guten T o n e der vornehmen Gesellschaft, indeß die Volkssprache ihr beharrlich widerstrebt. Sie unterscheidet sich von der organischen Entwickelung insbesondere durch die Aufnahme fremder Wörter und Ausdrucksformen, durch einen häufigem Gebrauch der Abstrakten, * Vergl. J. G. F i c h t e ' s Reden an die deutsche Nation, vierte Rede.5

222

21. Karl Ferdinand Becker (1775-1849)

durch Wortbildungen, die von den Gesetzen der Ableitung abweichen und durch stereotypische Phrasen von konventioneller Bedeutung. Schon Leibnitz bewundert in der deutschen Volkssprache ihren großen Reichthum an schöngebildeten und leichtverständlichen Benennungen für diejenigen Gegenstände, welche dem Ackerbau, dem Bergbau, der Jagd, der Schifffahrt und den Handwerken angehören; 6 dürftig, mißgebildet und an sich unverständlich sind dagegen großentheils die Wörter, welche sich der Verkehr der Wissenschaft und der künstlich gebildeten Gesellschaft geschaffen hat. Eine unnatürliche Vergeistigung der Sprache findet überhaupt alsdann leicht Eingang, wenn die geistige Bildung eine Richtung annimmt, welche nicht aus dem innern Leben des Volkes hervorgegangen ist. Schon bei den griechischen Schriftstellern der spätem Zeit erscheint in Folge davon, daß die Bildung dem volkst ü m l i c h e n Boden enthoben, und zu sammelnder Stubengelehrsamkeit ausgeartet war, eine Vergeistigung der Sprache, welche sehr gegen die plastische Anschaulichkeit der ältern Zeit absticht. Eine Vergeistigung der d e u t s c h e n Sprache tritt zuerst hervor mit der Aufnahme der griechischen und römischen Wissenschaft, indem ihr besonders von Scholastikern eine Menge fremder Wörter für fremde Begriffe zugeführt wurden. Man hat zwar früh versucht, die fremden Wörter durch deutsche zu ersetzen, und z. B. PROPOSITIO durch „cruezeda" „pietunga" „pemeinunga" INLATIO durch „nahsprechunga" AFFIRMATIO durch „festeuunga" ENUNTIATIO durch „saga" DISSERTATIO durch „redospahi" DISCUSSIO durch „ursuoh" DISPUTARE durch „rachon" RATIOCINARI durch „warrachan" und SYLLOGISMUS durch „gewarrahchunga" übersetzt*: aber diese Wörter bezeichnen ihren Begriff ebenfalls nur auf eine konventionelle Weise, und ihre Form mochte wohl nicht immer das deutsche Sprachgefühl befriedigen; sie haben daher in der Sprache keine bleibende Aufnahme gefunden. Die Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts schufen sich eine vergeistigte Sprache durch einen kühnen Gebrauch zum Theile neugebildeter Abstrakten. Die Schriften T a u l e r s , der vor Andern diese Richtung vertrat, strotzen von Abstrakten wie „Anhaftung" „Anhaltung" „Aufenthaltung" „Schauung" „Darbung" „Auswirkung" „Mannigfaltigkeit" und „Einfältigkeit" „Anderheit" „Leiblichkeit" und „Geistigkeit" „Ledigkeit" und „Unledigkeit" „Abgeschiedenheit" und „Bescheidenheit" (Unterschied), „Unbekanntheit" „Unerkenntniß" „Gegenwärtigkeit" „Unmüssigkeit" „Geschaffenheit" „Istigkeit" (Wesen) u. m. A. Einige dieser Abstrakten haben sich, obgleich ihnen meistens die organische Schönheit der Form mangelt, erhalten; sie sind jedoch in die Volkssprache nicht aufgenommen. Eine Vergeistigung anderer Art ging aus der Barbarei des siebenzehnten Jahrhunderts und aus der mit ihr eintretenden Verarmung der deutschen Sprache hervor. Während in den Stuben der Gelehrten die lateinische Sprache herrschte, wurde die französische immer mehr die Sprache der vornehmen Gesellschaft, und man fing * S. Sangallische Abhandl. von den Syllogismen in W. Wackernagels altdeutschem Lesebuche S. 31 ff.7

21.3. Text

223

an, sich der deutschen Sprache, weil sie die Sprache des geistig und leiblich verarmten Volkes war, zu schämen. Mit den ausländischen Sitten und Vorstellungsweisen wurden nun auch fremde Wörter und Ausdrucksformen von meistens konventioneller Bedeutung aufgenommen; und neben einer bejammernswürdigen Verkümmerung des geistigen Lebens trat die jämmerliche Vergeistigung der Sprache hervor, von der wir uns nach vieljährigem Kampfe noch nicht ganz frei machen konnten. Eine Vergeistigung der Sprache ist jedoch unzertrennlich mit den Fortschritten der Wissenschaft und mit einem höheren Aufschwünge der intellektuellen Entwikkelung verbunden. Man kann es daher nicht tadeln, wenn die Sprache der Wissenschaft Begriffe, die nur der Wissenschaft angehören, durch fremde oder neugebildete Wörter bezeichnet, wenn sie einen freiem Gebrauch von Abstrakten und von Satzverbindungen macht, die der Volkssprache fremd, oder doch nicht geläufig sind, und so den geistigeren Gedanken auch einen geistigeren Ausdruck gibt. Die S c h ö n h e i t der Darstellung besteht aber vorzüglich darin, daß der geistige Gedanke in s i n n l i c h e r A n s c h a u l i c h k e i t dargestellt werde; und je geistiger die Gedanken sind, desto mehr soll der Schriftsteller, wenn es nicht seine Absicht ist, wissenschaftliche Begriffe und ihre Verhältnisse nur mit scharfer Bestimmtheit, wie durch algebraische Formeln, zu bezeichnen, darauf bedacht sein, dem geistigen Gedanken in der Darstellung einen sinnlichen Leib zu geben. Die Philosophen haben zu allen Zeiten für neue Ideen neue Ausdrücke geschaffen; und man darf ihnen das, wenn die Ausdrücke denen, für die sie schreiben, verständlich sind, nicht zum Vorwurfe machen: aber unsere modernen Philosophen überbieten Alles, was in dieser Art je vorgekommen ist. Abstrakta, wie „Selbheit" „Ganzheit" „Vereinheit" „Selbstbestimmtheit" „Wesenheitureinheit" und Ausdrücke, wie „In dem Bei sich-sein Gottes in dem Menschen und in dem Bei-sich-sein des Menschen in Gott liegt alles Große, Wahre, Gute" „die Formen in abstrakter Fertigkeit und Inhaltlichkeit, als Selbstmöglichkeiten ihrer Wirklichkeit" sind wahrlich nicht geeignet, uns das Reich der Ideen zugänglich und verständlich zu machen. 8 Solche Ausdrücke sind in der That abschreckend, und ihre Dunkelheit erregt oft Schauder; aber sie werden von Vielen unserer philosophischen Schriftsteller wie eine gangbare Münze gebraucht. Es hat sich auch in der Literatur der neuern Zeit ein Stil besonderer Art bemerklich gemacht, den man als einen g e i s t r e i c h e n Stil bezeichnet. Man nennt Gedanken, welche die Dinge in Beziehungen auffassen, die ideal und zugleich ganz neu sind, weil sich in solchen Gedanken ein schaffender Geist kund thut, g e i s t r e i c h e G e d a n k e n ; und in so fern auch die Darstellung solcher Gedanken geistreich ist, und insbesondere die Neuheit der Gedanken sich in der Neuheit der Darstellungsformen ausprägt, kann man auch den Stil g e i s t r e i c h nennen. Auf eine geniale Weise hat Jean Paul einen geistreichen Stil ausgebildet, der lange Zeit bewundert wurde und viele Nachahmer fand. Genährt von der Eitelkeit der Schriftsteller, und begünstiget von einer zur Mode gewordenen Schöngeisterei hat

224

21. Karl Ferdinand Becker (1775-1849)

sich jedoch in der neuern Zeit ein geistreicher Stil ausgebildet, und bei der Lesewelt großen Beifall gefunden, der bei näherer Betrachtung als die Ausgeburt eines fehlerhaften Geschmackes erscheint. Nur zu oft fehlt diesem Stile eine wesentliche Eigenschaft des wahrhaft geistreichen Stiles, nämlich der geistreiche Inhalt. Die Gedanken an sich sind meistens ohne idealen Inhalt und nicht neu; es sind nur ungewöhnliche der natürlichen Auffassung der Dinge fern liegende Zusammenstellungen der Begriffe, mit großem Aufwände von Witz herbeigezogene Gleichnisse und Gegensätze, und neu geschaffene Ausdrücke, was den oft sehr alltäglichen Gedanken in der Darstellung den Schein des Geistreichen gibt. Und weil der Schriftsteller es nur auf eine g e i s t r e i c h e Darstellung der Gedanken anlegt, und diese durch die eben bezeichneten Mittel zu erreichen glaubt; so achtet er wenig auf die o r g a n i s c h e S c h ö n h e i t der Darstellung, die insbesondere fordert, daß der geistige Gedanke in s i n n l i c h e r A n s c h a u l i c h k e i t dargestellt werde. Die künstlichen und ganz ungewöhnlichen Zusammenstellungen von Begriffen, die durch ungewöhnliche, theils fremde Wörter, durch angehäufte Abstrakta und überhaupt durch Ausdrucksformen dargestellt werden, welche theils dem Leser fremd sind, theils keine sinnliche Anschauung gewähren, sind schwer zu verstehen, und darum nicht s c h ö n . Diese geistreichen Produkte der neueren Literatur sind Gerichten zu vergleichen, die sehr gewürzt, und nicht alltägliche Hausmannskost sind: sie gefallen, weil sie auf den Geist des Lesers einen ungewöhnlichen Reiz ausüben. Auch findet die Eigenliebe des Lesers eine Befriedigung darin, daß auch er den geistreichen Gedanken versteht, oder doch zu verstehen glaubt; und es ist nicht so sehr die Tiefe der Gedanken, als die Flachheit und die mit der Flachheit Hand in Hand gehende Eitelkeit der Schriftsteller und der Leser, was diesem geistreichen Stile auf Kosten des guten Geschmackes Eingang und großen Beifall verschafft hat. Beispiele dieses Stiles finden sich reichlich in den auf einen augenblicklichen Effekt berechneten Produkten der neueren Literatur; nur einige Beispiele mögen hier die Art dieses Stiles anschaulich machen. 9 S. hat ein Talent, dessen Wesen Grazie ist. Wem die Grazie schwer wird, dem wird sie unmöglich. Sie gibt sich, sie ergibt sich nicht. S. besitzt sie; denn er hat sie, wie gesagt, im Wesen seines Talents. — Während der Frühling sich heuer ganz außerordentlich gebärdet, aus der Winterszeit einen guten Theil zu seinem Vergnügen sich herausschnitt, und schon vor mehr als vierzehn Tagen Hecken und Büschen eine grüne Haube, den sonnigsten Bäumen grüne Büsche aufgesetzt hat, freilich von dem fliehenden Winter, der, wie die Parther durch ihre Pfeile, selbst auf dem Rückzüge seine Macht durch bedenkliche Reife und plötzliche Schauer zu verkündigen beliebt, manches Ungemach ausstehen muß: während also der Frühling sich ganz außerordentlich gebärdet, gehen die lebendigen Geschöpfe, Menschen und Thiere, ihren gewöhnlichen Frühlingsgeschäften nach. — Der Frühling des Jahres 1763 brachte nicht nur sich selbst, sondern auch einen Frühling der ganzen Poesie mit zur Erde. Er stellte bei seinem ersten Erscheinen die Wiege Jean Pauls in die Welt, um an ihr seine eigene Unsterblichkeit anzuknüpfen. Dieser Frühling

21.4. A n m e r k u n g e n des Herausgebers

225

brachte bei seiner monatlichen himmlischen Gesandtschaft in dem grünen Kabinette der Erde nicht nur die himmlischen Geschenke mit, als da sind die chinesische Blumenmalerei der Natur, die ächten Gobelins der lebendigen Hecken, die Jaspisteppiche der Fluren, die breiten Gnaden» und Ordensbänder der lauteren Ströme, die Flötenuhren der Waldkehlen u. s. f., sondern er brachte zugleich in der kleinen Wiege Jean Pauls den Dragoman aller dieser himmlischen Geschenke mit; und durch seine Zunge wurde uns die Sendung aller Frühlinge heiliger, himmlischer. In Jean Pauls Herzen aber blühete ein ewiger Frühling, voll dornenloser Rosen und Immergrün, und sein Herz, das Gewächshaus ewiger Blumen, war anstatt der Glasdecke überbaut mit einem reinen tiefen Gemüthshimmel; und in diesem unendlichen Himmel brannten die ewigen Astral» und Sinumbralampen der strahlenden Liebe, und gössen ihr mildes Licht, wie einen Staubbach herab in die Blumenbeete seines Herzens, so daß sie alle ihre Kelche öffneten, und ihre Duftseelen hinaussendeten in das Leben, in die Menschheit, und um dieses Herz flutete eine unnennbare Sehnsucht, wie eine zitternde Thräne in einem aufflammenden Frauenauge. Dieses zarte Herz fühlte sich ängstlich in dieser hohlen Raum» und Wasserkugelwelt, wie ein irrend kreisender Schmetterling in einem wüsten Pagodentempel. — Der Humor ist der Urallvater, der Pentateuch aller andern Witzspielarten; er ist der Requettenmeister der ganzen Schöpfung, der erstgeborne Kronprinz der Phantasie, bei dessen Geburt alle Geistesglocken ertönen und hundert Donnerkanonen voll geistiger Ladung es der ganzen Welt verkünden.

21.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

D i e Rede v o m „Verfall der (deutschen) S p r a c h e " ist bekanntermaßen im 19. Jahrhundert weit verbreitet. In den Texten dieses Bandes begegnet sie bei G r i m m , Mündt, Heyse und Schopenhauer. Z u beachten ist jedoch, daß die genannten Autoren, bis auf Schopenhauer, sehr deutlich unterscheiden zwischen dem A b b a u im Formenbestand, der als „Verfall" gekenn2eichnet wird, und einer Höherentwicklung hinsichtlich der „geistigen ausbildung und durcharbeitung" (Grimm). M ü n d t beginnt seine „ K u n s t der deutschen P r o s a " mit „diesem Contrast einer umgekehrten Entwickelung, wonach die Sprache erst im Greisenalter ihrer F o r m e n dem ausgebildetsten Inhalt dient und v o n diesem geistige Mittel der Darstellung, innere Plastik des G e d a n k e n s , empfängt: eine neue E p o c h e geistigen Reichthums, nach U n t e r g a n g der Naturstufe, auf der sie einen grammatischen Reichthum v o n Wendungen, G e f ü g e n und organischen Eigenschaften besaß, die heut vergeblich zurückgewünscht w e r d e n " (3 f.). — Die v o n Becker kritisierte B e h a u p t u n g , „die deutsche Sprache sei in F o l g e dieses Verfalles zu einer schönen Darstellung der G e d a n k e n weniger g e e i g n e t " , liegt ihnen also fern.

2

Siehe die Literaturhinweise in 21.2.

3

Richtig: „ W o r t f o r m e n " .

4

Hier endet in der Textvorlage § 29; es folgt § 30.

5

Vergl. K a p . 4 in diesem Band. — Becker verdankt Fichte nicht nur die Unterscheidung zwischen Sprache als „lebendiges O r g a n " und Sprache als „todtes Werkzeug"; die

226

21. Karl Ferdinand Becker (1775-1849) gesamten Ausführungen 2ur Vergeistigung der englischen und französischen Sprache in § 30 sind Fichte verpflichtet. Erst die folgenden Überlegungen zu vergleichbaren Tendenzen in der deutschen Sprache haben bei Fichte, der das Deutsche als Ursprache den anderen europäischen Sprachen pointiert entgegensetzt, kein Äquivalent.

6 7 8

9

Die Bewunderung äußert Leibniz in § 9 der „Unvorgreifflichen gedancken, betreffend die ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache" (Hannover: Foerster 1717). Das „Altdeutsche Lesebuch" erschien 1835 als erster Teil des vierbändigen „Deutschen Lesebuches" von Wackernagel (Basel: Schweighauser'sche Buchhandlung). Die genannten Abstrakta sind zum Teil nicht so neu, wie Becker anzunehmen scheint: „Ganzheit", „Selbheit" und „Wesenheit" stammen aus der Sprache der deutschen Mystik. In der neueren Sprache findet man „Ganzheit" u. a. bei Goethe, Hegel, Fichte, Grimm, „Selbheit", in der Regel ersetzt durch „Selbstheit", bei Hegel, „Wesenheit" bei Hegel, Schelling, Schopenhauer, „Ureinheit" ebenfalls bei Schelling und Schopenhauer. Wo Becker selbst die Ausdrücke, insbesondere die nominalen Gefüge, gefunden hat, konnte ich nicht sicher feststellen. Sie klingen wenigstens zum Teil schellingsch. Die Schreiber des „geistreichen Stils" dürften im Umkreis der Jungdeutschen zu suchen sein. Die Autoren der Textproben, mit denen Becker seine Überlegungen abschließt, habe ich im einzelnen nicht identifiziert.

22. Arthur Schopenhauer ( 1 7 8 8 - 1 8 6 0 ) 22.1. Einführende Bemerkungen Schopenhauer bedarf keiner Wiederentdeckung, ist er doch in der gegenwärtigen Sprachdiskussion neben Nietzsche der bekannteste Kritiker der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert vor Karl Kraus. Sein Renommee beruht vor allem auf dem auch hier wieder abgedruckten Kapitel „Über Schriftstellerei und Stil", das 1851 in den „Parerga und Paralipomena" zum ersten und — zu Lebzeiten Schopenhauers — einzigen Male veröffentlicht wurde. Die postumen Werkausgaben enthalten erweiterte Versionen dieser Schrift, weil die Herausgeber, mehr oder weniger deutlich erkennbar, Passagen aus dem handschriftlichen Nachlaß (Notizen auf dem Handexemplar der 1. Auflage, Manuskriptbücher) ergänzt haben, vermutend, daß Schopenhauer die Anmerkungen und Zusätze selbst in einer 2. Auflage berücksichtigt hätte. Konsequenz dieser Vorgehensweise ist jedoch, daß das Textprodukt mit seinen vielen Wiederholungen, Weitschweifigkeiten und z. T. unmotivierten Einschüben unübersehbar den Prinzipien schriftstellerischer Arbeit widerspricht, die Schopenhauer selbst in diesem Kapitel so entschieden, ja unduldsam fordert. Der Rückgriff auf den Erstdruck hat im Falle Schopenhauers also noch einen zusätzlichen guten Grund. Aus Platzgründen wurden allerdings nur die Paragraphen aufgenommen, in denen Schopenhauer Sprache und Stil der Zeit ins Visier nimmt (§§ 282 — 286). Gestrichen wurden der Anfang des Kapitels mit den §§272 — 281 über die Schriftstellerei und die beiden letzten Paragraphen (288 u. 289) über analytische Urteile und Gleichnisse. Einen § 287 enthält die Zählung der ersten Auflage irrtümlich nicht. Von der zweiten sprachkritischen Arbeit Schopenhauers, die von Frauenstädt (1864) und Grisebach (1891) erst nach dem Tode Schopenhauers auf der Grundlage von Manuskripten herausgegeben wurde, ist besonders der griffige Titel Grisebachs („Über die seit einigen Jahren betriebene Verhunzung der Deutschen Sprache") im Gedächtnis der Rezeption geblieben. Inhaltlich, z. T. auch in den Formulierungen, stimmt der Text mit dem Kapitel in den „Parerga und Paralipomena" weithin überein. Da der Ton jedoch, wie auch in den anderen nachgelassenen Handschriften, noch um Einiges schärfer ist, ist der Text ein lohnendes, wenn auch nicht gerade erfreuliches Studienobjekt für die Geschichte des polemischen Stils im 19. Jahrhundert. Der um einige historische Erfahrungen reichere heutige Leser kann nicht umhin festzustellen, daß vor allem in der körperlichen und charakterlichen Beschreibung der wirklichen oder vermeintlichen Sprachverhunzer schon in der Jahrhundertmitte Stiltraditionen ausgebildet wurden, die erst dreißig Jahre

228

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860)

später und darüber hinaus in der Karikatur des Juden ihr ganz anderes oder vielleicht auch nicht so anderes eigentliches Ziel finden sollten. In der Geschichte der Reflexion über die deutsche Sprache im 19. Jahrhundert ist Schopenhauer in mancherlei Hinsicht ein Einschnitt. Zum einen schlägt die Hoffnung der Autoren der ersten Jahrhunderthälfte, die noch bestehenden Defizite in der Ausbildung der nationalen deutschen Sprache ließen sich im Zuge der weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands beseitigen, ziemlich unvermittelt um in eine radikale Kritik dessen, was sich inzwischen entwickelt hatte. Diese Einschätzung wird für die Sprachkritik der zweiten Jahrhunderthälfte, und zwar zunehmend zum Ende hin, bestimmend werden. Zum anderen verliert mit Schopenhauer die letztlich von Herder herkommende nationalhistorisch oder gesellschaftlich argumentierende Sprachbetrachtung, die in den meisten Texten der ersten Jahrhunderthälfte in diesem Band durchscheint, in der öffentlichen Sprachdiskussion zugunsten einer wieder stärker logisch-philosophischen Sprachbetrachtung an Boden. — Eine offene Frage ist, wieweit die negativere Einschätzung des Zustande und der Entwicklungsmöglichkeiten der Sprache auf veränderten sprach- und geschichtsphilosophischen Grundlagen oder einfach auf einem rigideren Normbewußtsein der Kritiker beruht und wieweit sie auf tatsächliche sprachliche Veränderungen reagieren.

22.2. Literaturhinweise Textvorlage Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Berlin: A . W . Hayn 1851, Bd. 2, Kap. XXIII: Ueber Schriftstellerei und Stil, § 2 8 2 - 2 8 6 , 4 2 9 - 4 5 2 .

Weitere Literatur A: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Berlin: A. W. Hayn 1851, Bd. 2: Kap. X X I V : Ueber Lesen und Bücher, 4 5 3 - 4 5 9 ; Kap. X X V : Ueber Sprache und Worte, 4 6 0 - 4 6 8 . Materialien zu einer Abhandlung über den argen Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache getrieben wird. In: Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Hrsg. v. Julius Frauenstädt. Leipzig: Brockhaus 1864, 5 3 - 1 0 2 . Über die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der Deutschen Sprache. In: Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß. Hrsg. v. Eduard Grisebach. Leipzig 1 8 9 1 - 1 8 9 3 , Bd. 2, 118 ff.

22.3. Text

229

Eristik. In: Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Hrsg. v. Julius Frauenstädt. Leipzig: Brockhaus 1864, 3 ff. B: Ackermann, Beda: Schopenhauer und die deutsche Sprache. Freiburg/Schweiz 1978. Hasse, Heinrich: Schopenhauers Bedeutung für die deutsche Sprache. In: Von deutscher Sprache und Art. Beiträge zur Geschichte der neueren deutschen Sprache, zur Sprachkunst, Sprachpflege und zur Volkskunde. Hrsg. v. Max Preitz. Frankfurt a. M. 1925, 8 3 - 1 1 1 . Janik, Allan: Schopenhauer and the early Wittgenstein. In: Philosophical Studies 15 (1966), 76 ff.

22.3. Text Ueber Schriftstellerei und Stil (1851) §. 282 Der S t i l ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher, als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. Wäre diese auch noch so schön, so wird sie, durch das Leblose, bald insipid 1 und unerträglich; so daß selbst das häßlichste lebendige Gesicht besser ist. Darum gleichen denn auch die lateinisch schreibenden Schriftsteller, welche den Stil der Alten nachahmen, doch eigentlich den Masken: man hört nämlich wohl was sie sagen; aber man sieht nicht auch dazu ihre Physiognomie, den Stil. Wohl aber sieht man auch diese in den lateinischen Schriften der S e l b s t d e n k e r , als welche sich zu jener Nachahmung nicht bequemt haben, wie z. B. Skotus Erigena, Petrarka, Bako, Kartesius, Spinoza, Hobbes u. a. m. Affektation im Stil ist dem Gesichterschneiden zu vergleichen. — Die Sprache, in welcher man schreibt; ist die Nationalphysiognomie: sie stellt große Unterschiede fest, — von der Griechischen bis zur Karaibischen. §. 283 Um über den Werth der Geistesprodukte eines Schriftstellers eine vorläufige Schätzung anzustellen, ist es nicht gerade nothwendig, zu wissen, w o r ü b e r , oder w a s er gedacht habe; dazu wäre erfordert, daß man alle seine Werke durchläse; — sondern zunächst ist es hinreichend, zu wissen, w i e er gedacht habe. Von diesem W i e des Denkens nun, von dieser wesentlichen Beschaffenheit und durchgängigen Q u a l i t ä t desselben, ist ein genauer Abdruck sein S t i l . Dieser zeigt nämlich die f o r m e l l e Beschaffenheit aller Gedanken eines Menschen, welche sich stets gleich bleiben muß; w a s und w o r ü b e r er auch denken möge. Man hat daran gleichsam den Teig, aus dem er alle seine Gestalten knetet, so verschieden sie auch seyn

230

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860)

mögen. Wie daher Eulenspiegel dem Fragenden, wie lange er, bis zum nächsten Orte, noch zu gehn habe, die scheinbar ungereimte Antwort gab „Gehe!", in der Absicht, erst aus seinem Gange zu ermessen, wie weit er, in einer gegebenen Zeit, kommen würde; so lese ich aus einem Autor ein Paar Seiten, und weiß dann schon ungefähr, wie weit er mich fördern kann. Im stillen Bewußtseyn dieses Bewandnisses der Sache, sucht jeder Mediokre seinen, ihm eigenen und natürlichen Stil zu maskiren. Dies nöthigt ihn zunächst auf alle N a i v e t ä t zu verzichten; so daß diese das Vorrecht der überlegenen und sich selbst fühlenden, daher mit Sicherheit auftretenden Geister bleibt. Jene Alltagsköpfe nämlich können schlechterdings sich nicht entschließen, zu schreiben, wie sie denken; weil ihnen ahndet, daß alsdann das Ding ein gar einfältiges Ansehn erhalten könnte. Es wäre aber immer doch etwas. Wenn sie also nur ehrlich zu Werke gehn und das Wenige und Gewöhnliche, was sie wirklich gedacht haben, so wie sie es gedacht haben, einfach mittheilen wollten; so würden sie lesbar und sogar, in der ihnen angemessenen Sphäre, belehrend seyn. Allein, statt Dessen, streben sie nach dem Schein, viel mehr und tiefer gedacht zu haben, als der Fall ist. Sie bringen demnach was sie zu sagen haben in gezwungenen, schwierigen Wendungen, neu geschaffenen Wörtern und weitläuftigen, um den Gedanken herumgehenden und ihn verhüllenden Perioden vor. Sie schwanken zwischen dem Bestreben, denselben mitzutheilen, und dem, ihn zu verstecken. Sie möchten ihn so aufstutzen, daß er ein gelehrtes, oder tiefsinniges Ansehn erhielte, damit man denke, es stecke viel mehr dahinter, als man zur Zeit gewahr wird. Demnach werfen sie ihn bald stückweise hin, in kurzen, vieldeutigen und paradoxen Aussprüchen, die viel mehr anzudeuten scheinen, als sie besagen (herrliche Beispiele dieser Art liefern Schellings naturphilosophische Schriften); bald wieder bringen sie ihren Gedanken unter einem Schwall von Worten vor, mit der unerträglichsten Weitschweifigkeit, als brauchte es Wunder welche Anstalten, den tiefen Sinn desselben verständlich zu machen, — während es ein ganz simpler Einfall, wo nicht gar eine Trivialität ist ( F i c h t e , in seinen populären Schriften und hundert elende, nicht nennenswerthe Strohköpfe, in ihren philosophischen Lehrbüchern, liefern Beispiele in Fülle); oder aber sie befleißigen sich irgend einer beliebig angenommenen, vornehm seyn sollenden Schreibart, z. B. einer so recht κατ'εξοχην 2 gründlichen und wissenschaftlichen, wo man dann von der narkotischen Wirkung lang gesponnener, gedankenleerer Perioden zu Tode gemartert wird; (Beispiele hievon geben besonders jene unverschämtesten aller Sterblichen, die Hegelianer, in der Hegelzeitung, VULGO 3 Jahrbücher der wissenschaftlichen Litteratur); oder gar sie haben es auf eine geistreiche Schreibart abgesehn, wo sie dann verrückt werden zu wollen scheinen, u. dgl. m. Alle solche Bemühungen, durch welche sie das NASCETUR RIDICULUS M u s 4 hinauszuschieben suchen, machen es oft schwer, aus ihren Sachen herauszubringen, was sie denn eigentlich wollen. Zudem aber schreiben sie auch Worte, ja, ganze Perioden hin, bei denen sie selbst nichts denken, jedoch hoffen, daß ein Andrer etwas dabei denken werde. Allen solchen Anstrengungen liegt

22.3. Text

231

nichts Anderes zum Grunde, als das unermüdliche, stets auf neuen Wegen sich versuchende Bestreben, Worte für Gedanken zu verkaufen, und, mittelst neuer, oder in neuem Sinne gebrauchter Ausdrücke, Wendungen und Zusammensetzungen jeder Art, den Schein des Geistes hervorzubringen, um den so schmerzlich gefühlten Mangel desselben zu ersetzen. Belustigend ist es, zu sehn, wie, zu diesem Zwecke, bald diese bald jene Manier versucht wird, um sie als eine den Geist vorstellende Maske vorzunehmen, welche dann auch wohl auf eine Weile die Unerfahrenen täuscht, bis auch sie eben als todte Maske erkannt, verlacht und dann gegen eine andere vertauscht wird. Da sieht man die Schriftsteller bald dithyrambisch, wie besoffen, und bald, ja schon auf der nächsten Seite, hochtrabend», ernst», gründlich» gelehrt, bis zur schwerfälligsten, kleinkauendesten Weitschweifigkeit, gleich der des weiland Christian Wolff, wiewohl im modernen Gewände. Am längsten aber hält die Maske der Unverständlichkeit vor, jedoch nur in Deutschland, als wo sie, von F i c h t e eingeführt, von S c h e l l i n g vervollkommnet, endlich in H e g e l ihren höchsten Klimax erreicht hat: stets mit glücklichstem Erfolge. Und doch ist nichts leichter, als so zu schreiben, daß kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, daß Jeder sie verstehn muß. Alle oben angeführten Künste nun aber macht die wirkliche Anwesenheit des Geistes entbehrlich: denn sie erlaubt, daß man sich zeige, wie man ist, und bestätigt allezeit den Ausspruch des Horaz: SCRIBENDI RECTE SAPERE EST ET PRINCIPIUM ET F O N S . 5

Jene aber machen es wie gewisse Metallarbeiter, welche hundert verschiedene Kompositionen versuchen, die Stelle des einzigen, ewig unersetzlichen Goldes zu vertreten. Vielmehr aber sollte, ganz im Gegentheil, ein Autor sich vor nichts mehr hüten, als vor dem sichtbaren Bestreben, mehr Geist zeigen zu wollen, als er hat; weil Dies im Leser den Verdacht erweckt, daß er dessen sehr wenig habe, da man immer und in jeder Art nur Das affektirt, was man nicht wirklich besitzt. Eben deshalb ist es ein Lob, wenn man einen Autor n a i v nennt; indem es besagt, daß er sich zeigen darf, wie er ist. Ueberhaupt zieht das Naive an: die Unnatur hingegen schreckt überall zurück. Auch sehn wir jeden wirklichen Denker bemüht, seine Gedanken so rein, deutlich, sicher und kurz, wie nur möglich, auszusprechen. Demgemäß ist Simplicität stets ein Merkmal, nicht allein der Wahrheit, sondern auch des Genies gewesen. Der Stil erhält die Schönheit vom Gedanken; statt daß, bei jenen Scheindenkern, die Gedanken durch den Stil schön werden sollen. Ist doch der Stil der bloße Schattenriß des Gedankens: undeutlich, oder schlecht schreiben, heißt dumpf, oder konfus denken. Daher nun ist die erste, ja, schon für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, d a ß man e t w a s zu s a g e n h a b e : o, damit kommt man weit! Aber die Vernachlässigung derselben ist ein Grundcharakterzug der philosophischen und überhaupt aller reflektirenden Schriftsteller in Deutschland, besonders seit F i c h t e . Allen solchen Schreibern nämlich ist anzumerken, daß sie etwas

232

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860)

zu sagen s c h e i n e n wollen, während sie nichts zu sagen haben. Diese durch die Pseudophilosophen der Universitäten eingeführte Weise kann man durchgängig und selbst bei den ersten litterarischen Notabilitäten der Zeitperiode beobachten. Sie ist die Mutter des geschrobenen, vagen, zweideutigen, ja, vieldeutigen Stils, imgleichen des weitläuftigen und schwerfälligen, des STILE EMPESE6, nicht weniger des unnützen Wortschwalls, endlich auch des Versteckens der bittersten Gedankenarmuth unter ein unermüdliches, klappermühlenhaftes, betäubendes Gesaalbader, daran man stundenlang lesen kann, ohne irgend eines deutlich ausgeprägten und bestimmten Gedankens habhaft zu werden. Von dieser Art und Kunst liefern jene berüchtigten „Halle'schen", nachher „Deutschen Jahrbücher" 7 fast durchweg auserlesene Muster. — Inzwischen hat die deutsche Gelassenheit sich gewöhnt, dergleichen Wortkram jeder Art, Seite nach Seite zu lesen, ohne sonderlich zu wissen, was der Schreiber eigentlich will: sie meint eben, Das gehöre sich so, und kommt nicht dahinter, daß er bloß schreibt, um zu schreiben. Ein guter, gedankenreicher Schriftsteller hingegen erwirbt sich bei seinem Leser bald den Kredit, daß er im Ernst und wirklich e t w a s zu s a g e n h a b e , wann er spricht: und Dies giebt dem verständigen Leser die Geduld, ihm aufmerksam zu folgen. Ein solcher Schriftsteller wird auch, eben weil er wirklich etwas zu sagen hat, sich stets auf die einfachste und entschiedenste Weise ausdrücken; weil ihm daran liegt, gerade den Gedanken, den er jetzt hat, auch im Leser zu erwecken und keinen andern. Demnach wird er mit B o i l e a u 8 s a g e n d ü r f e n : MA PENSEE AU GRAND JOUR PARTOUT S'OFFRE ET S'EXPOSE, E T MON VERS, BIEN OU MAL, DIT TOUJOURS QUELQUE CHOSEJ

während von jenen vorher Geschilderten das ET QUI PARLANT BEAUCOUP NE DISENT desselben Dichters gilt. Zur Charakteristik derselben gehört nun auch Dies, daß sie, wo möglich, alle e n t s c h i e d e n e n Ausdrücke vermeiden, um n ö t i genfalls immer noch den Kopf aus der Schlinge ziehn zu können: daher wählen sie in allen Fällen den a b s t r a k t e r e n Ausdruck; Leute von Geist hingegen den konkreteren; weil dieser die Sache der Anschaulichkeit näher bringt, welche die Quelle aller Evidenz ist. Jene Vorliebe für das Abstrakte läßt sich durch viele Beispiele belegen: ein besonders lächerliches aber ist dieses, daß man in der Deutschen Schriftstellerei dieser letzten zehn Jahre fast überall, wo „bewirken", oder „verursachen" stehn sollte, „ b e d i n g e n " findet; weil Dies, als abstrakter und unbestimmter, weniger besagt (nämlich „nicht ohne Dieses" statt „durch Dieses") und daher immer noch Hinterthürchen offen läßt, die Denen gefallen, welchen das stille Bewußtseyn ihrer Unfähigkeit eine beständige Furcht vor allen e n t s c h i e d e n e n Ausdrücken einflößt. Bei Andern jedoch wirkt hier bloß der nationale Hang, in der Litteratur jede Dummheit, wie im Leben jede Ungezogenheit, sogleich nachzuahmen, welcher durch das schnelle Umsichgreifen Beider belegt wird; während ein Engländer, bei Dem, was er schreibt, wie bei Dem, was er thut, sein eigenes Urtheil zu Rathe zieht: Dies ist im Gegentheil Niemanden weniger nachJAMAIS RIEN

22.3. Text

233

zurühmen, als dem Deutschen. In Folge des besagten Hergangs sind die Worte „bewirken" und „verursachen" aus der Büchersprache der letzten 10 Jahre fast ganz verschwunden und überall ist bloß von „bedingen" die Rede. Die Sache ist, des charakteristisch Lächerlichen wegen, erwähnenswerth. Man könnte die Geistlosigkeit und Langweiligkeit der Schriften der Alltagsköpfe sogar daraus ableiten, daß sie immer nur mit halbem Bewußtseyn reden, nämlich den Sinn ihrer eigenen Worte nicht selbst eigentlich verstehn, da solche bei ihnen ein Erlerntes und fertig Aufgenommenes sind; daher sie mehr die ganzen Phrasen (PHRASES BANALES) als die Worte zusammengefügt haben. Leute von Geist hingegen reden, in ihren Schriften, w i r k l i c h zu uns, und daher vermögen sie, uns zu beleben und zu unterhalten: nur sie stellen die einzelnen Worte mit vollem Bewußtseyn, mit Wahl und Absicht zusammen. Daher verhält ihr Vortrag sich zu dem der oben Geschilderten wie ein wirklich g e m a l t e s Bild zu einem mit Schablonen verfertigten: dort nämlich liegt in jedem Wort, wie in jedem Pinselstrich, specielle Absicht; hier hingegen ist Alles mechanisch aufgesetzt. Den selben Unterschied kann man in der Musik beobachten. Denn überall ist es stets die Allgegenwart des Geistes in allen Theilen, welche die Werke des Genies charakterisirt: sie ist der von L i c h t e n b e r g bemerkten Allgegenwart der Seele G a r r i c k s in allen Muskeln seines Körpers analog. In Hinsicht auf die oben angeregte L a n g w e i l i g k e i t der Schriften ist jedoch die allgemeine Bemerkung beizubringen, daß es zwei Arten von Langweiligkeit giebt: eine objektive und eine subjektive. Die o b j e k t i v e entspringt allemal aus dem hier in Rede stehenden Mangel, also daraus, daß der Autor gar keine vollkommen deutliche Gedanken, oder Erkenntnisse, mitzutheilen hat. Denn wer solche hat, arbeitet auf seinen Zweck, die Mittheilung derselben, in gerader Linie hin, liefert daher überall deutlich ausgeprägte Begriffe und ist sonach weder weitschweifig, noch nichtssagend, noch konfus, folglich nicht langweilig. Selbst wenn sein Grundgedanke ein Irrthum wäre; so ist er, in solchem Fall, doch deutlich gedacht und wohl überlegt, also wenigstens formell richtig, wodurch die Schrift immer noch einigen Werth behält. Hingegen ist, aus den selben Gründen, eine objektiv l a n g w e i l i g e Schrift allemal auch sonst werthlos. — Die s u b j e k t i v e Langweiligkeit hingegen ist eine bloß relative: sie hat ihren Grund im Mangel an Interesse für den Gegenstand, beim Leser; diese aber in irgend einer Beschränktheit desselben. Subjektiv langweilig kann daher auch das Vortrefflichste seyn, nämlich Diesem oder Jenem; wie umgekehrt auch das Schlechteste Diesem oder Jenem subjektiv=kurzweilig seyn kann; weil der Gegenstand, oder der Schreiber, ihn interessirt. — Den deutschen Schriftstellern würde durchgängig die Einsicht zu Statten kommen, daß man zwar, wo möglich, denken soll wie ein großer Geist, hingegen die selbe Sprache reden wie jeder Andere. Wir finden sie nämlich, umgekehrt, bemüht, triviale Begriffe in vornehme Worte zu hüllen und ihre sehr gewöhnlichen Gedanken in die ungewöhnlichsten Ausdrücke, die gesuchtesten, preziosesten und

234

22. Arthur Schopenhauer ( 1 7 8 8 - 1 8 6 0 )

seltsamsten Redensarten zu kleiden. Hinsichtlich dieses Wohlgefallens am Bombast, überhaupt am hochtrabenden, aufgedunsenen, pretiösen, hyperbolischen und aerobatischen Stile, ist ihr Typus der Fähnrich P i s t o l , dem sein Freund F a l l st äff ein Mal ungeduldig zuruft: „sage was du zu sagen hast, wie ein Mensch aus dieser Welt!" 9 - Liebhabern von Beispielen widme ich folgende Anzeige: „Nächstens erscheint in unserm Verlage: Theoretisch=praktisch wissenschaftliche Physiologie, Pathologie und Therapie der sogenannten Blähungen, worin diese, in ihrem organischen Zusammenhange, ihrem Seyn und Wesen nach, wie auch mit allen sie bedingenden, äußern und innern, kausalen Momenten, in der ganzen Fülle ihrer Erscheinungen und Bethätigungen, sowohl für das allgemein menschliche, als für das wissenschaftliche Bewußtseyn, systematisch dargelegt werden: eine freie, mit berichtigenden Anmerkungen und erläuternden Exkursen ausgestattete Uebertragung des Französischen Werkes: L'ART DE PETER." Für STILE EMPESE findet man im Deutschen keinen genau entsprechenden Ausdruck; desto häufiger aber die Sache selbst. Wenn mit Preziosität verbunden, ist er in Büchern was im Umgange die affektirte Gravität, Vornehmigkeit und Preziosität, und eben so unerträglich. Die Geistesarmuth kleidet sich gern darin; wie im Leben die Dummheit in die Gravität und Formalität. Wer p r e z i ö s schreibt gleicht Dem, der sich herausputzt, um nicht mit dem Pöbel verwechselt und vermengt zu werden; eine Gefahr, welche der GENTLEMAN, auch im schlechtesten Anzüge, nicht läuft. Wie man daher an einer gewissen Kleiderpracht und dem TIRE Ä QUATRE EPINGLES 1 0 den Plebejer erkennt; so am preziösen Stil den Alltagskopf. Nichtsdestoweniger ist es ein falsches Bestreben, geradezu so schreiben zu wollen, wie man redet. Vielmehr soll jeder Schriftstil eine gewisse Spur der Verwandtschaft mit dem Lapidarstil tragen, der ja ihrer aller Ahnherr ist. Jenes ist daher so verwerflich, wie das Umgekehrte, nämlich reden zu wollen, wie man schreibt; welches pedantisch und schwer verständlich zugleich herauskommt. Dunkelheit und Undeutlichkeit des Ausdrucks ist allemal und überall ein sehr schlimmes Zeichen. Denn in 99 Fällen unter 100 rührt sie her von der Undeutlichkeit des Gedankens, welche selbst wiederum fast immer aus einem ursprünglichen Mißverhältniß, Inkonsistenz und also Unrichtigkeit desselben entspringt. Wenn, in einem Kopfe, ein richtiger Gedanke aufsteigt, strebt er schon nach der Deutlichkeit und wird sie bald erreichen: das deutlich Gedachte aber findet leicht seinen angemessenen Ausdruck. Was ein Mensch zu denken vermag läßt sich auch allemal in klaren, faßlichen und unzweideutigen Worten ausdrücken. Die, welche schwierige, dunkele, verflochtene, zweideutige Reden zusammensetzen, wissen ganz gewiß nicht recht, was sie sagen wollen, sondern haben nur ein dumpfes, nach einem Gedanken erst ringendes Bewußtseyn davon: oft aber auch wollen sie sich selber und Andern verbergen, daß sie eigentlich nichts zu sagen haben. Sie wollen, wie Fichte, Schelling und Hegel, zu wissen scheinen, was sie nicht wissen, zu denken,

22.3. Text

235

was sie nicht denken, und zu sagen, was sie nicht sagen. Wird denn Einer, der etwas Rechtes mitzutheilen hat, sich bemühen, undeutlich zu reden, oder deutlich? Wie jedes Uebermaaß einer Einwirkung meistens das Gegentheil des Bezweckten herbeiführt; so dienen zwar Worte, Gedanken faßlich zu machen; jedoch auch nur bis zu einem gewissen Punkt. Ueber diesen hinaus angehäuft, machen sie die mitzutheilenden Gedanken wieder dunkler und immer dunkler. Jenen Punkt zu treffen ist Aufgabe des Stils und Sache der Urtheilskraft: denn jedes überflüssige Wort wirkt seinem Zwecke gerade entgegen. In diesem Sinne sagt V o l t a i r e : L ' A D J E C T I F EST L'ENNEMI DU SUBSTANTIF. 1 1

Demgemäß vermeide man alle Weitschweifigkeit und alles Einflechten unbedeutender, der Mühe des Lesens nicht lohnender Bemerkungen. Man muß sparsam mit der Zeit, Anstrengung und Geduld des Lesers umgehn: dadurch wird man bei ihm sich den Kredit erhalten, daß was dasteht des aufmerksamen Lesens werth ist und seine darauf zu verwendende Mühe belohnen wird. Immer noch besser, etwas Gutes wegzulassen, als etwas Nichtssagendes hinzusetzen. Also, wo möglich, lauter Quintessenzen, lauter Hauptsachen, nichts, was der Leser auch allein denken würde. — Viele Worte machen, um wenige Gedanken mitzutheilen, ist überall das untrügliche Zeichen der Mittelmäßigkeit; das des eminenten Kopfes dagegen, viele Gedanken in wenige Worte zu schließen. Die Wahrheit ist nackt am schönsten, und der Eindruck, den sie macht, um so tiefer, als ihr Ausdruck einfacher war; theils, weil sie dann das ganze, durch keinen Nebengedanken zerstreute Gemüth des Hörers ungehindert einnimmt; theils, weil er fühlt, daß er hier nicht durch rhetorische Künste bestochen, oder getäuscht ist, sondern die ganze Wirkung von der Sache selbst ausgeht. Z. B. welche Deklamation über die Nichtigkeit des menschlichen Daseyns wird wohl mehr Eindruck machen, als Hiob's: HOMO, NATUS DE MULIERE, BREVI VIVIT TEMPORE, REPLETUS MULTIS MISERIIS, QUI, TANQUAM FLOS, EGREDITUR ET CONTERITUR, ET FUGIT VELUT

— Eben daher steht die naive Poesie Göthe's so unvergleichlich höher als die rhetorische Schillers. Daher auch die starke Wirkung mancher Volkslieder. Deshalb nun hat man, wie in der Baukunst vor der Ueberladung mit Zierrathen, in den redenden Künsten sich vor allem nicht nothwendigen rhetorischen Schmuck, allen unnützen Amplifikationen und überhaupt vor allem Ueberfluß im Ausdruck zu hüten, also sich eines k e u s c h e n Stiles zu befleißigen. Alles Entbehrliche wirkt nachtheilig. Das Gesetz der Einfachheit und Naivetät, da diese sich auch mit dem Erhabensten verträgt, gilt für alle schönen Künste. Die ächte Kürze des Ausdrucks besteht darin, daß man überall nur sagt was sagenswerth ist, hingegen alle weitschweifigen Auseinandersetzungen Dessen, was Jeder selbst hinzudenken kann, vermeidet, mit richtiger Unterscheidung des Nöthigen und Ueberflüssigen. Hingegen soll man nie der Kürze die Deutlichkeit, geschweige die Grammatik, zum Opfer bringen. Den Ausdruck eines Gedankens zu schwächen, oder gar den Sinn einer Periode zu verdunkeln, oder zu verkümmern, um einige Worte weniger hinzusetzen, ist beklagenswerther Unverstand. Gerade UMBRA.12

236

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Dies aber ist das Treiben jener falschen Kürze, die heut zu Tage im Schwange ist und darin besteht, daß man das Zweckdienliche, ja, das grammatisch, oder logisch, Nothwendige wegläßt. In Deutschland sind die schlechten Skribenten jetziger Zeit von ihr, wie von einer Manie, ergriffen und üben sie mit unglaublichem Unverstände. Nicht nur, daß sie, um ein Wort zu ersparen, ein Verbum, oder ein Adjektiv mehreren und verschiedenen Perioden zugleich dienen lassen, welche man nun alle, ohne sie zu verstehn und wie im Dunkeln tappend, zu durchlesen hat, bis endlich das Schlußwort kommt und uns ein Licht darüber aufsteckt; sondern noch durch mancherlei andere, ganz ungehörige Wortersparnisse suchen sie Das hervorzubringen, was sie sich unter Kürze des Ausdrucks und gedrungener Schreibart denken. So werden sie, durch ökonomische Weglassung eines Wortes, welches mit Einem Male Licht über eine Periode verbreitet hätte, diese zu einem Räthsel machen, welches man durch wiederholtes Lesen aufzuklären sucht. Insbesondere sind die Partikeln Wenn und So bei ihnen proskribirt und müssen überall durch Vorsetzung des Verbi ersetzt werden, ohne die nöthige, für Köpfe ihres Schlages freilich auch zu subtile, Diskrimination, wo diese Wendung passend sei, und wo nicht; woraus denn oft nicht nur geschmacklose Härte und Affektation, sondern auch Unverständlichkeit erwächst. Aber ihr Talent in der Kürze des Ausdrucks geht nun ein Mal nicht weiter, als die Worte zu zählen und auf Pfiffe zu denken, irgend eines, oder auch nur eine Silbe, um jeden Preis, auszumerzen. Ganz allein hierin suchen sie die Gedrungenheit des Stils und Kernhaftigkeit des Vortrags. Demzufolge haben diese unwissenden Tintenklexer, in den 1840ger Jahren, aus der deutschen Sprache das Perfekt und Plusquamperfekt ganz verbannt, indem sie, beliebter Kürze halber, solche überall durch das Imperfekt ersetzen, so daß dieses das einzige Präteritum der Sprache bleibt, auf Kosten, nicht etwan bloß aller feineren Richtigkeit, oder auch nur aller Grammaticität der Phrase; nein, oft auf Kosten alles Menschenverstandes, indem baarer Unsinn daraus wird. Ich wollte wetten, daß aus diesen letzten zehn Jahren sich ganze Bücher vorfinden, in denen kein einziges Plusquamperfektum, ja, vielleicht auch kein Perfektum, vorkommt. Beinahe ausnahmslos wird dieser Frevel gegen die Sprache ausgeübt in allen Zeitungen und größtentheils auch in den gelehrten Zeitschriften; indem, wie schon erwähnt, in Deutschland, jede Dummheit in der Litteratur und jede Ungezogenheit im Leben, Schaaren von Nachahmern findet und Keiner wagt auf eigenen Beinen zu stehn; weil eben, wie ich nicht bergen kann, die Urtheilskraft nicht zu Hause ist, sondern bei den Nachbarn, auf Visiten. — Durch die besagte Exstirpation jener zwei wichtigen Temporum sinkt nun aber eine Sprache fast zum Range der allerrohesten herab. — Es thäte daher Noth, daß man eine kleine Sprachschule für deutsche Schriftsteller errichtete, in welcher der Unterschied zwischen Imperfektum, Perfektum und Plusquamperfektum gelehrt würde; nächstdem auch der zwischen Genitiv und Ablativ; da, immer allgemeiner, dieser statt jenes gesetzt und ganz unbefangen z. B. „das Leben von Leibnitz", statt Leibnitzens Leben, und „der Tod von Andreas Hofer", statt Hofers Tod, geschrieben wird. 13 Wie würde in andern Sprachen ein

22.3. Text

237

solcher Schnitzer aufgenommen werden? was würden z. B. die Italiäner sagen, wenn ein Schriftsteller DI und DA (d. i. Genitiv und Ablativ) vertauschte! Aber weil im Französischen diese beiden Partikeln durch das dumpfe, stumpfe DE vertreten werden und die moderne Sprachkenntniß deutscher Bücherschreiber nicht über ein geringes Maaß Französisch hinauszugehen pflegt, glauben sie jene französische Armsäligkeit auch der deutschen Sprache aufheften zu dürfen, und finden, wie bei Dummheiten gewöhnlich, Beifall und Nachfolge. Die vorgeschlagene Sprachschule könnte auch Preisaufgaben stellen, z. B. den Unterschied des Sinnes der beiden Fragen: „sind Sie gestern im Theater gewesen?" und „waren Sie gestern im Theater?" deutlich zu machen. Noch ein anderes Beispiel falscher Kürze liefert der allmälig allgemein gewordene falsche Gebrauch des Wortes n u r . Bekanntlich ist die Bedeutung desselben limitirend, es besagt nämlich „nicht m e h r als." Nun aber weiß ich nicht, welcher Queerkopf zuerst es gebraucht hat für „nicht a n d e r s als", welches ein ganz verschiedener Gedanke ist: aber wegen der dabei zu lukrirenden Wortersparniß fand der Schnitzer sogleich die eifrigste Nachahmung; so daß jetzt der falsche Gebrauch des Wortes der häufigste ist, obschon dadurch oft das Gegentheil von Dem, was der Schreiber beabsichtigt, eigentlich gesagt wird. Hieher gehört auch der, jetzt allgemeine adverbiale Gebrauch des Adjektivs „ähnlich", der zwar ein Paar ältere Beispiele mag aufweisen können, mir jedoch allemal wie ein Mißton klingt. Am auffallendesten aber zeigt jenes falsche Streben nach Kürze sich in der Verstümmelung der einzelnen Wörter. Um Tagelohn dienende Büchermacher, gräuelich unwissende Litteraten und feile Zeitungsschreiber beschneiden die deutschen Wörter von allen Seiten, wie Gauner die Münzen; Alles bloß zum Zweck beliebter Kürze, — wie sie solche verstehn. In diesem Streben werden sie den unbändigen Schwätzern gleich, welche, um nur recht Vieles in kurzer Zeit und in Einem Athem heraus zu sprudeln, Buchstaben und Silben verschlucken und, hastig nach Luft schnappend, ihre Phrasen ächzend abhaspeln, wobei sie dann die Worte nur zur Hälfte aussprechen. Solchermaaßen also werden auch von Jenen, um recht Vieles auf wenig Raum zu bringen, Buchstaben aus der Mitte und ganze Silben vom Anfang und Ende der Wörter weggeschnitten. Zuvörderst nämlich werden die der Prosodie, der Aussprache und dem Wohllaute dienenden Doppelvokale und verlängernden h überall herausgerissen, danach aber Alles, was noch irgendwo ablösbar ist, weggenommen. Vorzüglich hat diese vandalische Zerstörungswuth unserer Wortbeknapper sich auf die Endsilben „ung" und „keit" gerichtet; eben nur weil sie die Bedeutung derselben nicht verstehn, noch fühlen, und, unter ihrer dicken Hirnschale, weit davon entfernt sind, den feinen Takt zu spüren, mit welchem überall unsere instinktmäßig 14 sprachbildenden Vorfahren jene Silbenmodulation angewandt haben, indem sie nämlich durch „ung", in der Regel, das Subjektive, die Handlung, vom Objektiven, dem Gegenstande derselben, unterschieden; durch „keit" aber meistens das Dauernde, die bleibenden Eigenschaften, ausdrückten: wie

238

22. Arthur Schopenhauer ( 1 7 8 8 - 1 8 6 0 )

ζ. Β. Jenes in Tödtung, Zeugung, Befolgung, Ausmessung u. s. w. Dieses in Freigebigkeit, Gutmüthigkeit, Freimüthigkeit, Unmöglichkeit, Dauerhaftigkeit u. s. w. Man betrachte ζ. B. nur die Wörter „Entschließung, Entschluß und Entschlossenheit." Jedoch viel zu stumpf, um Dergleichen zu erkennen, schreiben unsre „jetztzeitigen" 15 rohen Sprachverbesserer ζ. B. „Freimuth": dann sollten sie auch Gutmuth und Freigabe, wie auch Ausfuhr statt Ausführung, Durchfuhr statt Durchführung, schreiben. Durchgängig schreiben sie „Vorlage", wo nicht, wie doch das Wort besagt, das vorzulegende Dokument, sondern die Handlung des Vorlegens, also die „Vorlegung" gemeint und der Unterschied der analoge ist, wie zwischen Beilage und Beilegung, Grundlage und Grundlegung, Einlage und Einlegung, Versuch und Versuchung, Eingabe und Eingebung und hundert ähnlichen Wörtern. Aber wann sogar hohe Behörden die Sprachdilapidation sanktioniren, indem sie nicht nur „Vorlage" statt Vorlegung, sondern auch „Vollzug" statt „Vollziehung" schreiben; so darf es uns nicht wundern, alsbald einen Zeitungsschreiber den „Einzug einer Pension" berichten zu sehn, — womit er ihre Einziehung meint, folglich daß sie ihren Einzug nicht ferner halten werde. Denn an ihm freilich ist die Weisheit der Sprache, welche von der Ziehung einer Lotterie, aber vom Zuge eines Heeres redet, verloren. Allein was darf man von so einem Gazettier erwarten, wenn sogar die gelehrten Heidelberger Jahrbücher 16 (Nr. 24 d. J. 1850) vom „Einzug seiner Güter" reden? Höchstens könnten diese zu ihrer Entschuldigung anführen, daß es doch nur ein Philosophieprofessor ist, der so schreibt. Ich wundre mich, noch nicht „Absatz" statt Absetzung gefunden zu haben, welches ergötzliche Mißverständnisse herbeiführen könnte. Wirklich gefunden aber habe ich, in einer vielgelesenen Zeitung, und zwar mehrmals, „Unterbruch" statt Unterbrechung; wodurch man verleitet werden kann zu denken, hier sei die gewöhnliche Hernia 17 , im Gegensatz des Leistenbruchs, gemeint. — Und doch haben gerade die Zeitungen am wenigsten Ursache, die Worte zu beschneiden; da solche, je länger sie sind, desto mehr ihre Spalten ausfüllen, und wenn Dies durch unschuldige Silben geschieht, sie dafür ein Paar Lügen weniger in die Welt schicken können. Ganz ernstlich muß ich nun aber hier zu bedenken geben, daß gewiß mehr, als 9/io der überhaupt lesenden Menschen nichts, als die Zeitungen, lesen, folglich fast unausbleiblich ihre Rechtschreibung, Grammatik und Stil nach diesen bilden, und sogar, in ihrer Einfalt, dergleichen Sprachverhunzungen für Kürze des Ausdrucks, elegante Leichtigkeit und scharfsinnige Sprachverbesserung halten, ja, überhaupt den jungen Leuten ungelehrter Stände die Zeitung, weil sie doch gedruckt ist, für eine Auktorität gilt. Daher sollte, in allem Ernst, von Staats wegen dafür gesorgt werden, daß die Zeitungen, in sprachlicher Hinsicht, durchaus fehlerfrei wären. Man könnte, zu diesem Zweck, einen Nachcensor anstellen, der, statt des Gehaltes, vom Zeitungsschreiber, für jedes verstümmelte, oder nicht bei guten Schriftstellern anzutreffende Wort, wie auch für jeden grammatischen, selbst nur syntaktischen Fehler, auch für jede in falscher Verbindung, oder falschem Sinne, gebrauchte Präposition einen Louisd'or, als Sportel, zu erheben hätte, für freche Verhöhnung aller Gram-

22.3. Text

239

matik aber, wie wenn ein solcher Skribler, statt „hinsichtlich", h i n s i c h t s schreibt, 3 Louisd'or und im Wiederbetretungsfalle das Doppelte. Oder ist etwan die deutsche Sprache vogelfrei, als eine Kleinigkeit, die nicht des Schutzes der Gesetze werth ist, den doch jeder Misthaufen genießt? — Elende Philister! — Was, in aller Welt, soll aus der deutschen Sprache werden, wenn Sudler und Zeitungsschreiber diskretionäre Gewalt 18 behalten, mit ihr zu schalten und zu walten nach Maaßgabe ihrer Laune und ihres Unverstandes? — Uebrigens aber beschränkt der in Rede stehende Unfug sich keineswegs auf die Zeitungen: vielmehr ist er allgemein und wird in Büchern und gelehrten Zeitschriften mit gleichem Eifer und mit wenig mehr Ueberlegung getrieben. Da finden wir Präfixa und Affixa rücksichtslos unterschlagen, indem z. B. „Hingabe" für Hingebung; „Mißverstand", für Mißverständniß; „Wandeln" für Verwandeln;" „ L a u f , für Verlauf; „Meiden", für Vermeiden; „Rathschlagen", für Berathschlagen; „Schlüsse", für Beschlüsse; „Führung", für Aufführung; „Vergleich", für Vergleichung; „Zehrung", für Auszehrung gesetzt ist, und hundert andere, mitunter noch schlimmere Streiche dieser Art. Sogar in sehr gelehrten Werken finden wir die Mode mitgemacht: z. B. in der „Chronologie der Aegypter" von Lepsius 19 , 1849, heißt es, S. 545. „Manethos fügte seinem Geschichtswerke — — — — eine Uebersicht — — — —, nach Art ägyptischer Annalen, zu." — also „zufügen", INFLIGERE, für „hinzufügen" ADDERE; — um eine Silbe zu ersparen. Aber die Manie ist universal: Alles greift zu, die Sprache zu demoliren, ohne Gnade und Schonung; ja, wie bei einem Vogelschießen, sucht jeder ein Stück abzulösen, wo und wie er nur kann. Also zu einer Zeit, da in Deutschland nicht ein einziger Schriftsteller lebt, dessen Werke sich Dauer versprechen dürfen, erlauben sich Bücherfabrikanten, Litteraten und Zeitungsschreiber die Sprache reformiren zu wollen, und so sehn wir denn dieses gegenwärtige, bei aller Langbärtigkeit, impotente, d. h. zu jeder Geistesproduktion höherer Art unfähige, Geschlecht, seine Muße dazu verwenden, die Sprache, in welcher große Schriftsteller geschrieben haben, auf die muthwilligste und unverschämteste Weise zu verstümmeln, um so sich ein Herostratisches Andenken zu stiften. Wenn ehemals wohl die Koryphäen der Litteratur sich, im Einzelnen, eine wohlüberlegte Sprachverbesserung erlaubten; so hält sich jetzt jeder Tintenklexer, jeder Zeitungsschreiber, jeder Herausgeber eines ästhetischen Winkelblattes befugt, seine Tatzen an die Sprache zu legen, um nach seinem Kaprice herauszureißen was ihm nicht gefallt, oder auch neue Worte einzusetzen. Hauptsächlich ist, wie gesagt, die Wuth dieser Wortbeschneider auf die Präfixa und Affixa aller Wörter gerichtet. Was sie nun durch solche Amputation derselben zu erreichen suchen, muß wohl die Kürze und durch diese die größere Prägnanz und Energie des Ausdrucks seyn: denn die Papierersparniß ist am Ende doch gar zu gering. Sie möchten also das zu Sagende möglichst kontrahiren. Hiezu aber ist eine ganz andere Procedur, als Wortbeknapperei, erfordert, nämlich diese, daß man bündig und koncis d e n k e : gerade diese jedoch steht nicht eben so einem Jeden zu Gebote. Zudem nun aber ist schlagende Kürze, Energie und Prägnanz des

240

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Ausdrucks nur dadurch möglich, daß die Sprache für jeden Begriff ein Wort und für jede Modifikation, sogar für jede Nüancirung dieses Begriffs eine derselben genau entsprechende Modifikation des Wortes besitze; weil nur durch diese, in ihrer richtigen Anwendung, es möglich wird, daß jede Periode, sobald sie ausgesprochen worden, im Hörer gerade und genau den Gedanken, welchen der Redner beabsichtigt, erwecke, ohne ihn auch nur einen Augenblick im Zweifel zu lassen, ob Dieses, oder Jenes, gemeint sei. Hiezu nun muß jedes Wurzelwort der Sprache ein MODIFICABILE MULTiMODis MODIFICATIONIBUS 20 seyn, um sich allen Nüancen des Begriffs, und dadurch den Feinheiten des Gedankens, wie ein nasses Gewand, anlegen zu können. Dieses nun wird hauptsächlich gerade durch die Präfixa und Affixa ermöglicht: sie sind die Modulationen jedes Grundbegriffs auf der Klaviatur der Sprache. Daher haben auch Griechen und Römer die Bedeutung fast aller Verba und vieler Substantiva durch Präfixa modulirt und nüancirt. Man kann sich dies an jedem lateinischen Hauptverbo exemplifiziren, z. B. an PONERE, modifizirt zu IMPONERE, DEPONERE, DISPONERE, EXPONERE, COMPONERE, ADPONERE, SUBPONERE, SUPERPONERE,

SEPONERE,

PRAEPONERE,

PROPONERE,

INTERPONERE,

TRANSPONERE

u. s. f. Das Selbe läßt sich an deutschen Worten zeigen: z. B. das Substantiv Sicht wird modificirt zu Aussicht, Einsicht, Durchsicht, Nachsicht, Vorsicht, Hinsicht, Absicht u. s. f. Oder das Verbum Suchen, modificirt zu Aufsuchen, Aussuchen, Untersuchen, Besuchen, Ersuchen, Versuchen, Heimsuchen, Durchsuchen, Nachsuchen u. s. f. Dies also leisten die Präfixa: läßt man sie, angestrebter Kürze halber, weg und sagt, vorkommenden Falls, statt aller angegebenen Modifikationen, jedesmal nur PONERE, oder Sicht, oder suchen; so bleiben alle nähern Bestimmungen eines sehr weiten Grundbegriffs unbezeichnet und das Verständniß Gott und dem Leser überlassen: dadurch wird also die Sprache zugleich arm, ungelenk und roh gemacht. Nichtsdestoweniger ist gerade Dies der Kunstgriff der scharfsinnigen Sprachverbesserer der „Jetztzeit". Plump und unwissend, wähnen sie wahrlich, unsere so sinnigen Vorfahren hätten die Präfixa müßigerweise, aus reiner Dummheit, hingesetzt, und glauben ihrerseits einen Geniestreich zu begehn, indem sie solche überall wegknappen, mit Hast und Eifer, wo sie nur Eines gewahr werden; während doch in der Sprache kein Präfixum ohne Bedeutung ist, keines, das nicht diente, den Grundbegriff durch alle seine Modulationen durchzuführen und eben dadurch Bestimmtheit, Deutlichkeit und Feinheit des Ausdrucks möglich zu machen, welche sodann in Energie und Prägnanz desselben Übergehn kann. Hingegen wird durch Abschneiden der Präfixa aus mehreren Wörtern Eines gemacht; wodurch die Sprache verarmt. Aber noch mehr: nicht bloß Wörter sind es, sondern Begriffe, die dadurch verloren gehn; weil es alsdann an Mitteln fehlt, diese zu fixiren, und man nun bei seinem Reden, ja, selbst bei seinem Denken, sich mit dem Ä PEU PRES zu begnügen hat, wodurch die Energie der Rede und die Deutlichkeit des Gedankens eingebüßt wird. Man kann nämlich nicht, wie durch solche Beknappung geschieht, die Zahl der Wörter verringern, ohne zugleich die Bedeutung der übrig bleibenden zu erweitern, und wiederum Dieses nicht, ohne derselben ihre genaue

2 2 . 3 . Text

241

Bestimmtheit zu nehmen, folglich der Zweideutigkeit, mithin der Unklarheit in die Hände zu arbeiten, wodurch alsdann alle Präcision und Deutlichkeit des Ausdrucks, geschweige Energie und Prägnanz desselben, unmöglich gemacht wird. Eine Erläuterung hiezu liefert schon die oben gerügte Erweiterung der Bedeutung des Wortes n u r , welche sogleich Zweideutigkeit, ja, bisweilen Falschheit des Ausdrucks herbeiführt. — Wie wenig ist doch daran gelegen, daß ein Wort zwei Silben mehr habe, wenn durch diese der Begriff näher bestimmt wird! Sollte man glauben, daß es Schiefköpfe giebt, die I n d i f f e r e n z schreiben, wo sie I n d i f f e r e n t i s m u s meynen, — um diese zwei Silben zu lukriren! Zu aller Deutlichkeit und Bestimmtheit des Ausdrucks, und dadurch zur ächten Kürze, Energie und Prägnanz der Rede, sind also gerade jene Präfixa, welche ein Wurzelwort durch alle Modifikationen und Nüancen seiner Anwendbarkeit durchführen, ein unerläßliches Mittel, und eben so die Affixa, also auch die verschiedenartigen Endsilben der von Verben abstammenden Substantiva, wie dieses bereits oben, an Versuch und Versuchung u. s. w., erläutert worden. Daher sind beide Modulationsweisen der Wörter und Begriffe von unsern Altvordern höchst sinnig, weise und mit richtigem Takt auf die Sprache vertheilt und den Wörtern aufgedrückt worden. Auf jene aber ist, in unsern Tagen, ein Geschlecht roher, unwissender und unfähiger Schmierer gefolgt, welches, mit vereinten Kräften, sich ein Geschäft daraus macht, durch Dilapidation der Wörter jenes alte Kunstwerk zu zerstören; weil eben diese Pachydermata für Kunstmittel, welche bestimmt sind, fein nüancirten Gedanken zum Ausdruck zu dienen, natürlich keinen Sinn haben: wohl aber verstehn sie, Buchstaben zu zählen. Hat daher so ein Pachyderma die Wahl zwischen zwei Wörtern, davon das eine, mittelst seines Präfixums, oder Affixums, dem auszudrückenden Begriffe genau entspricht, das andere aber ihn nur so ungefähr und im Allgemeinen bezeichnet, jedoch drei Buchstaben weniger zählt; so greift unser Pachyderma unbedenklich nach dem letztern und begnügt sich hinsichtlich des Sinnes mit dem Ä PEU PRES: denn sein Denken bedarf jener Feinheiten nicht; da es doch nur so in Bausch und Bogen geschieht: — aber nur recht wenige Buchstaben! daran hängt die Kürze und Kraft des Ausdrucks, die Schönheit der Sprache. Wie sollte aber auch so ein Pachyderma Gefühl haben für das zarte Wesen einer Sprache, dieses köstlichen, weichen Materials, denkenden Geistern überliefert, um einen genauen und feinen Gedanken aufnehmen und bewahren zu können? Hingegen Buchstaben zählen, Das ist etwas für Pachydermata! Seht daher, wie sie schwelgen in der Sprachverhunzung, diese edeln Söhne der „Jetztzeit". Seht sie nur an! kahle Köpfe, lange Bärte, Brillen statt der Augen, als Surrogat der Gedanken ein Cigarro im thierischen Maul, ein Sack auf dem Rücken statt des Rocks, Herumtreiben statt des Fleißes, Arroganz statt der Kenntnisse, Frechheit und Kamaraderie statt der Verdienste. 21 Edele „Jetztzeit", herrliche Epigonen, bei der Muttermilch Hegel'scher Philosophie herangewachsenes Geschlecht! Zum ewigen Andenken wollt ihr euere Tatzen in unsere alte Sprache drücken, damit der Abdruck, als Ichnolith, die Spur eueres schaalen und dumpfen

242

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Daseyns auf immer bewahre. Aber Di MELIORA! 22 Fort, Pachydermata, fort! D i e s ist d i e d e u t s c h e S p r a c h e ! in der M e n s c h e n sich ausgedrückt, ja, in der große Dichter gesungen und große Denker geschrieben haben. Zurück mit den Tatzen! — oder ihr sollt — h u n g e r n . (Dies allein schreckt sie.) — Der gerügten „jetztzeitigen" Verschlimmbesserung der Sprache, durch der Schule zu früh entlaufene und in Unwissenheit herangewachsene Knaben, ist denn auch die I n t e r p u n k t i o n zur Beute geworden, als welche heut zu Tage, fast allgemein, mit absichtlicher, selbstgefälliger Liederlichkeit gehandhabt wird. Was eigentlich die Skribler sich dabei denken mögen, ist schwer anzugeben: wahrscheinlich aber soll die Narrheit eine französische liebenswürdige LEGERETE vorstellen, oder auch Leichtigkeit der Auffassung beurkunden und voraussetzen. Mit den Interpunktionszeichen der Druckerei wird nämlich umgegangen, als wären sie von Gold: demnach werden etwan drei Viertel der nöthigen Kommata weggelassen (finde sich zurecht wer kann!); wo aber ein Punkt stehn sollte, steht erst ein Komma, oder höchstens ein Semikolon, u. dgl. m. Nun aber steckt in der Interpunktion ein Theil der Logik jeder Periode, sofern diese dadurch markirt wird: daher ist eine solche absichtliche Liederlichkeit geradezu frevelhaft, am meisten aber, wann sie, wie jetzt sehr häufig geschieht, sogar von si DEO PLACET 23 Philologen, selbst auf die Ausgaben alter Schriftsteller angewandt und das Verständniß dieser dadurch beträchtlich erschwert wird. Nicht ein Mal das N. T. ist, in seinen neueren Auflagen, damit verschont geblieben. Es liegt am Tage, daß eine laxe Interpunktion, wie etwan die französische Sprache, wegen ihrer streng logischen und daher kurz angebundenen Wortfolge, und die englische, wegen der großen Aermlichkeit ihrer Grammatik, sie zuläßt, nicht anwendbar ist auf relative Ursprachen, die, als solche, eine komplicirte und gelehrte Grammatik haben, welche künstlichere Perioden möglich macht; dergleichen die griechische, lateinische und deutsche Sprache sind. Um nun also auf die hier eigentlich in Rede stehende Kürze, Koncinnität und Prägnanz des Vortrags zurückzukommen; so geht eine wirklich solche allein aus dem Reichthum und der Inhaltsschwere der Gedanken hervor, bedarf daher am allerwenigsten jener armsäligen, als Mittel zur Abkürzung des Ausdrucks ergriffenen Wort= und Phrasenbeschneiderei, die ich hier ein Mal gehörig gerügt habe. Denn vollwichtige, reichhaltige, also überhaupt schreibenswerthe Gedanken müssen Stoff und Gehalt genug liefern, um die sie aussprechenden Perioden, auch in der grammatischen und lexikalischen Vollkommenheit aller ihrer Theile, so sattsam auszufüllen, daß solche nirgends hohl, leer, oder leicht befunden werden, sondern der Vortrag überall kurz und prägnant bleibt, während an ihm der Gedanke seinen faßlichen und bequemen Ausdruck findet, ja, sich mit Grazie darin entfaltet und bewegt. Also nicht die Worte und Sprachformen soll man zusammenziehn, sondern die Gedanken vergrößern; wie ein Konvalescent durch Herstellung seiner Wohlbeleibtheit, nicht aber durch Engermachen seiner Kleider, diese wieder wie vormals auszufüllen im Stande seyn soll.

22.3. Text

243

§. 284 Ein heut zu Tage, beim gesunkenen Zustande der Litteratur und bei der Vernachlässigung der alten Sprachen, immer häufiger werdender, jedoch nur in Deutschland einheimischer Fehler des Stils ist die S u b j e k t i v i t ä t desselben. Sie besteht darin, daß es dem Schreiber genügt, selbst zu wissen, was er meint und will; der Leser mag sehn, wie auch er dahinter komme. Unbekümmert um diesen, schreibt er eben, als ob er einen Monolog hielte; während es denn doch ein Dialog seyn sollte, und zwar einer, in welchem man sich um so deutlicher auszudrücken hat, als man die Fragen des Andern nicht vernimmt. Eben dieserhalb nun also soll der Stil n i c h t subjektiv, sondern objektiv seyn; wozu es nöthig ist, die Worte so zu stellen, daß sie den Leser geradezu zwingen, genau das Selbe zu denken, was der Autor gedacht hat. Dies wird aber nur dann zu Stande kommen, wann der Autor stets eingedenk war, daß die Gedanken insofern das Gesetz der Schwere befolgen, als sie den Weg vom Kopfe auf das Papier viel leichter, als den vom Papier zum Kopfe zurücklegen, daher ihnen hiebei mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln geholfen werden muß. Ist Dies geschehn, so wirken die Worte rein objektiv, gleichwie ein vollendetes Oelgemälde; während der subjektive Stil nicht viel sicherer wirkt, als die Flecken an der Wand, bei denen Der allein, dessen Phantasie zufallig durch sie erregt worden, Figuren sieht, die Andern nur Klexe. Der in Rede stehende Unterschied erstreckt sich über die ganze Darstellungsweise, ist aber oft auch im Einzelnen nachweisbar: soeben z. B. lese ich in einem neuen Buche: „um die Masse der vorhandenen Bücher zu vermehren, habe ich nicht geschrieben". Dies sagt das Gegentheil von dem, was der Schreiber beabsichtigte, und obendrein Unsinn. §. 285 Wer nachlässig schreibt legt dadurch zunächst das Bekenntniß ab, daß er selbst seinen Gedanken keinen großen Werth beilegt. Denn nur aus der Ueberzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit unsrer Gedanken entspringt die Begeisterung, welche erfordert ist, um mit unermüdlicher Ausdauer überall auf den deutlichsten, schönsten und kräftigsten Ausdruck derselben bedacht zu seyn; — wie man nur an Heiligthümer, oder unschätzbare Kunstwerke, silberne oder goldene Behältnisse wendet. Daher haben die Alten, deren Gedanken, in ihren eigenen Worten, schon Jahrtausende fortleben, und die deswegen den Ehrentitel Klassiker tragen, mit durchgängiger Sorgfalt geschrieben; soll doch P l a t o den Eingang seiner Republik sieben Mal, verschieden modifizirt, abgefaßt haben. — Die Deutschen hingegen zeichnen sich durch Nachlässigkeit des Stils, wie des Anzuges, vor andern Nationen aus, und beiderlei Schlumperei entspricht aus der selben, im Nationalcharakter liegenden Quelle. Wie aber Vernachlässigung des Anzuges Geringschätzung der Gesellschaft, in die man tritt, verräth, so bezeugt flüchtiger, nachlässiger, schlechter Stil, eine beleidigende Geringschätzung des Lesers, welche dann dieser, mit Recht,

244

22. Arthur Schopenhauer ( 1 7 8 8 - 1 8 6 0 )

durch Nichtlesen straft. Zumal aber sind die Recensenten belustigend, welche im nachlässigsten Lohnschreiberstile die Werke Anderer kritisiren. Das nimmt sich aus, wie wenn Einer im Schlafrock und Pantoffeln zu Gerichte säße. Wie sorgfältig hingegen werden EDINBURGH' REVIEW und JOURNAL DES SAVANTS abgefaßt! Wie ich aber mit einem schlecht und schmutzig gekleideten Menschen mich in ein Gespräch einzulassen vorläufig Bedenken trage; so werde ich ein Buch weglegen, wenn mir die Fahrlässigkeit des Stils sogleich in die Augen springt. §. 286 Wenige schreiben wie ein Architekt baut, der zuvor seinen Plan entworfen und bis ins Einzelne durchdacht hat; — vielmehr die Meisten nur so, wie man Domino spielt. Wie nämlich hier, halb durch Absicht, halb durch Zufall, Stein an Stein sich fügt, — so steht es eben auch mit der Folge und dem Zusammenhang ihrer Sätze. Kaum daß sie ungefähr wissen, welche Gestalt im Ganzen herauskommen wird und wo das Alles hinaus soll. Viele wissen selbst Dies nicht, sondern schreiben, wie die Korallenpolypen bauen: Periode fügt sich an Periode, und es geht wohin Gott will. Der leitende Grundsatz der Stilistik sollte seyn, daß der Mensch nur e i n e n Gedanken zur Zeit deutlich denken kann; daher ihm nicht zuzumuthen ist, daß er deren zwei, oder gar mehrere, auf ein Mal denke. — Dies aber muthet ihm Der zu, welcher solche, als Zwischensätze, in die Lücken einer zu diesem Zwecke zerstückelten Hauptperiode schiebt; wodurch er ihn also unnöthiger und muthwilliger Weise in Verwirrung setzt. Hauptsächlich thun Dies die d e u t s c h e n Schriftsteller. Daß ihre Sprache sich dazu besser, als die andern lebenden, eignet, begründet zwar die Möglichkeit, aber nicht die Löblichkeit der Sache. Keine Prosa liest sich so leicht und angenehm, wie die Französische; weil sie von diesem Fehler, in der Regel, frei ist. Der Franzose reiht seine Gedanken, in möglichst logischer und überhaupt natürlicher Ordnung, an einander und legt sie so seinem Leser successive zu bequemer Erwägung vor. Der Deutsche hingegen flicht sie in einander, zu einer verschränkten und abermals verschränkten und nochmals verschränkten Periode. Also, während er suchen sollte, die Aufmerksamkeit seines Lesers anzulocken und festzuhalten, verlangt er vielmehr von demselben noch obendrein, daß er, obigem Gesetze der Einheit der Apprehension entgegen, drei oder vier verschiedene Gedanken zugleich, oder, weil Dies nicht möglich ist, in schnell vibrirender Abwechselung denke. Hierdurch legt er den Grund zu seinem STILE EMPESE, den er sodann durch preziose, hochtrabende Ausdrücke, um die einfachsten Sachen mitzutheilen, und sonstige Kunstmittel dieser Art, vollendet. Durch jene langen, mit in einander geschachtelten Zwischensätzen bereicherten und, wie gebratene Gänse mit Aepfeln, ausgestopften Perioden wird eigentlich zunächst das G e d ä c h t n i ß in Anspruch genommen; während vielmehr Verstand und Urtheilskraft aufgerufen werden sollten, deren Thätigkeit nun aber gerade

22.4. Anmerkungen des Herausgebers

245

dadurch erschwert und geschwächt wird. Denn dergleichen Perioden liefern dem Leser lauter halb vollendete Phrasen, die sein Gedächtniß nun sorgfaltig sammeln und aufbewahren soll, wie die Stückchen eines zerrissenen Briefes, bis sie durch die später nachkommenden, respektiven andern Hälften ergänzt werden und dann einen Sinn erhalten. Folglich muß er bis dahin eine Weile lesen, ohne irgend etwas zu denken, vielmehr bloß Alles memoriren, in der Hoffnung auf den Schluß, der ihm ein Licht aufstecken wird, bei dem er nun auch etwas zu denken empfangen soll. Das ist offenbar schlecht. Aber die unverkennbare Vorliebe der gewöhnlichen Köpfe für diese Schreibart beruht darauf, daß sie den Leser erst nach einiger Zeit und Mühe Das verstehn läßt, was er außerdem sogleich verstanden haben würde; wodurch nun der Schein entsteht, als hätte der Schreiber mehr Tiefe und Verstand, als der Leser. Auch Dieses also gehört zu den oben erwähnten Kunstgriffen, mittelst welcher die Mediokren, unbewußt und instinktartig, ihre Geistesarmuth zu verstecken und den Schein des Gegentheils hervorzubringen sich bemühen. Ihre Erfmdsamkeit hierin ist sogar erstaunenswerth. Offenbar aber ist es gegen alle gesunde Vernunft, einen Gedanken queer durch einen andern zu schlagen, wie ein hölzernes Kreuz: Dies geschieht jedoch, indem man Das, was man zu sagen angefangen hat, unterbricht, um etwas ganz Anderes dazwischen zu sagen, und so seinem Leser eine angefangene Periode, einstweilen noch ohne Sinn, in Verwahrung giebt, bis die Ergänzung nachkommt. Es ist ungefähr, wie wenn man seinen Gästen einen leeren Teller in die Hand gäbe, mit der Hoffnung, es werde noch etwas darauf kommen. Eigentlich sind die Zwischenkommata von der selben Familie mit den Noten unter der Seite und den Parenthesen mitten im Text; ja, alle Drei sind im Grunde bloß dem Grade nach verschieden. Wenn bisweilen Demosthenes und Cicero dergleichen Einschachtelungsperioden gemacht haben; so hätten sie besser gethan, es zu unterlassen. 24

22.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3 4 5 6 7

„unschmackhaft; geschmacklos, fade". „schlechthin, im höchsten Sinne des Wortes". „gewöhnlich (genannt)". „(Berge kreißen), es wird geboren zum Lachen ein Mäuslein" (Horaz, Ars Poetica, V. 139). „Daß man vernünftig denkt, ist Bedingung, um Gutes zu schreiben" (Horaz, Ars Poetica, V. 309). „Steifer Stil" (figurativ von „gestärkter" Wäsche). Nochmaliger Verweis auf die junghegelianischen Publikationsorgane: „Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst" (Hrsg. v. Arnold Rüge u. Theodor Echtermeyer, Jg. 1, 1838 ff.) und „Deutsche Jahrbücher", die Rüge und Echtermeyer 1841 — 1842 als Fortsetzung der „Hallischen" herausgaben, nachdem sie, um der preußischen Zensur zu entgehen, von Halle nach Dresden gezogen waren.

246 8

9 10 11 12

13

14

15 16 17 18 19

20 21

22. Arthur Schopenhauer (1788-1860) Die beiden Zitate stammen aus der neunten „Epitre" des Nicolas Boileau-Despreaux (1636—1711): „Was ich denke, kann offen zu Tage sich wagen,/Mein Vers, auch wenn schlecht, will stets etwas sagen." — „Sie reden viel und haben doch nie etwas zu sagen." In Shakespeares Drama „König Heinrich der Vierte" (2. Teil, 5. Akt, 3. Szene). — „aerobatisch": „in der Art der Seiltänzer". „sorgfältig Aufgeputzem" (wörtlich: „mit vier Stecknadeln befestigt"). Diese Bemerkung macht Voltaire 1738 im sechsten „Discours sur l'homme". In Luthers Übersetzung (Hiob, Kap. 14, 1—2): „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fallt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht". Es sei an dieser Stelle an Jean Pauls emphatischen Ausruf in Kap. 2.2. erinnert: „So dankt dem Himmel für den vierfachen Genitiv: „Liebes-Mahl, das Mahl der Liebe, der Liebe Mahl, das Mahl von der Liebe". Zu der „instinktmäßigen" Sprachbildung der Vorfahren äußert sich Schopenhauer ausführlicher in Kap. X X V der „Parerga und Paralipomena". Da er es für erwiesen hält, daß die Geschichte der menschlichen Sprache ein Prozeß fortschreitenden Verfalls ist, kommt er in die Schwierigkeit, erklären zu müssen, wie denn die ersten Menschen, die auch er sich nur als primitive Wesen vorstellen kann, zu der kunstvollen Grammatik der ursprünglich vollkommenen Sprache gekommen sind. Da ihm als mögliche Erklärung der Verweis auf die göttliche Herkunft nicht mehr zur Verfügung steht, nimmt er an, der Ursprung der menschlichen Sprache sei, analog dem Bau der Bienen und Biber, instinktgesteuert gewesen. — Diese Sprachursprungstheorie läßt sich allerdings nicht direkt auf die diskutierte Unterscheidung von „ung" und „heit" beziehen, würde man doch Schopenhauer zu Unrecht die Vorstellung unterstellen, die ersten Menschen hätten Deutsch gesprochen. Zur Geschichte des Wortes „Jetztzeit" und der lebhaften Kritik an ihm im 19. Jahrhundert siehe Anmerkung 3 in Kap. 26.4. Gemeint sind die seit 1808 erscheinenden „Heidelberger Jahrbücher der Literatur". Med. Ausdruck für „Bruch", „Eingeweidebruch". Hier wohl im Sinne von „Gewalt nach Belieben", „Gewalt auf Gnade und Ungnade". Karl Richard Lepsius (1810 — 1884), seit 1845 o. Professor in Berlin und später Direktor des Ägyptischen Museums, wird von Schopenhauer als Verfasser eines historischen Werkes angesprochen. Er war jedoch vor allem ein bedeutender vergleichender Sprachforscher, der nicht nur zahlreiche Werke über das Ägyptische geschrieben hat, sondern sich auch mit afrikanischen Sprachen und dem Etruskischen beschäftigt hat. 1855 veröffentlichte er sein „Standard alphabet for reducing unwritten languages and foreign graphic systems to a uniform orthography in European letters", das er in der 2. Auflage von 1863 auf 120 Sprachen anwendete. — Solche Verdienste zählten für Schopenhauer nicht, wenn es dem Verderb der deutschen Sprache zu wehren galt. Seinem Eifer entgingen auch die Brüder Grimm nicht, die er wegen ihrer wirklichen oder vermeintlichen Sprachfehler in den nachgelassenen Notizen verschiedentlich attackierte und an einer Stelle als „Esel, die keine Ohren haben — horribile dictu", bezeichnete. „ein durch vielerlei Abwandlungen Abwandlungsfahiges". Die späteren Auflagen der „Parerga und Paralipomena" ergänzen an dieser Stelle aus dem Nachlaß: „Bis vor vierzig Jahren nahmen die Blattern zwei Fünftel der Kinder

22.4. Anmerkungen des Herausgebers

22 23 24

247

hinweg, nämlich alle schwachen, und ließen nur die stärkeren, welche diese Feuerprobe bestanden hatten, übrig. Die Kuhpocken haben jene in ihren Schutz genommen. Seht jetzt die langbärtigen Zwerge, die überall euch zwischen die Beine laufen, und deren Eltern schon bloß aus Gnaden der Kuhpocken am Leben geblieben sind". — Der handschriftliche Nachlaß enthält noch mindestens zwei weitere Variationen dieser „Theorie unwerten Lebens". „Da sei Gott vor!" „So Gott will". Die Aversion gegen die ciceronische Periode scheint Schopenhauer in die Nähe jungdeutscher Stilideale zu rücken, wie sie etwa in Börnes journalistischer Prosa Ausdruck finden und bei Mündt (vgl. den Text in Kap. 17.3.) programmatische Geltung erlangen. Schopenhauers eigener Satzbau in § 286 zeigt jedoch, daß das Brevitas-Ideal jedenfalls hypotaktische Satzstrukturen nicht ausschließt. Das wesentliche Gebot ist, in einem Satz nur einen Gedanken zu repräsentieren. Das schließt komplexe Sätze nicht aus, wenn der eine Gedanke, der geäußert wird, selbst komplex ist. Das mag erklären, warum Sengle (siehe Bibl. C 27) Schopenhauer, zusammen mit den Junghegelianern, gerade zu den „Neuen Freunden des Periodenstils" (559 — 60) zählt, nachdem er zuvor die gegen die Rhetorik und Cicero gewendete jungdeutsche Vorliebe für den kurzen Satz beschrieben hat (549 — 552).

23. Jacob Grimm (1785-1863) 23.1. Einführende Bemerkungen Da es von Jacob Grimm keine zusammenhängende Darstellung und Bewertung des Zustandes der deutschen Sprache seiner Zeit gibt und er im Kap. 11 nur als Kritiker der Kritik Beachtung gefunden hat, folgt hier ein Text, in dem wenigstens seine globale Einschätzung der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Sprache zum Ausdruck kommt. Die alte und die neue Sprache vergleichend, erscheint ihm die neue als ein Produkt des Verfalls hinsichtlich ihrer „leiblichen gestalt", des Bestandes der grammatischen Formen, jedoch als Fortschritt in ihrer „geistigeren ausbildung und durcharbeitung." Diese Vorstellung der gegenläufigen Entwicklung der deutschen Sprache zum Guten und zum Schlechten auf den beiden Ebenen der Form und des Inhalts, die Grimm schon in der Vorrede zur „Deutschen Grammatik" entwickelt hatte, begegnet in diesem Band allenthalben, so bei Mündt, Heyse und, wenn auch in abgewandelter Form, beim Antipoden Becker. Nur bei Schopenhauer ist der behauptete Verfall total. — Zusätzliches Interesse können die wiederabgedruckten Passagen der „Vorrede" deshalb beanspruchen, weil in ihnen, so deutlich wie kaum sonst, der enge Zusammenhang sichtbar wird, der zwischen der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit Grimms und seinen nationalpolitischen Absichten besteht.

23.2. Literaturhinweise Textvorlage Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Erster Band. Leipzig: S. Hirzel 1854, Vorrede, I I I - I X . Weitere Literatur Siehe die Literaturhinweise in 11.2.

23.3. Text * D i e a l t e und die neue Sprache (1854) [...] Über eines solchen Werkes1 antritt musz, wenn es gedeihen soll, in der höhe ein heilbringendes gestirn schweben, ich erkannte es im einklang zweier zeichen, die sonst einander abstehen, hier aber von demselben inneren gründe

23.3. Text

249

getrieben sich genähert hatten, in dem aufschwung einer deutschen philologie und in der empfänglichkeit des volks für seine muttersprache, wie sie beide bewegt wurden durch erstarkte liebe zum Vaterland und untilgbare begierde nach seiner festeren einigung. was haben wir denn gemeinsames als unsere spräche und literatur? Wer nun unsere alte spräche erforscht und mit beobachtender seele bald der Vorzüge gewahr wird, die sie gegenüber der heutigen auszeichnen, sieht anfangs sich unvermerkt zu allen denkmälern der vorzeit hingezogen und von denen der gegenwart abgewandt, je weiter aufwärts er klimmen kann, desto schöner und vollkommner dünkt ihn die leibliche gestalt der spräche, je näher ihrer jetzigen fassung er tritt, desto weher thut ihm jene macht und gewandtheit der form in abnahme und verfall zu finden, mit solcher lauterkeit und Vollendung der äuszeren beschaffenheit der spräche wächst und steigt auch die zu gewinnende ausbeute, weil das durchsichtigere mehr ergibt als das schon getrübte und verworrene, sogar wenn ich bücher des sechzehnten ja siebzehnten jahrhunderts durchlas, kam mir die Sprache, aller damaligen Verwilderung und roheit unerachtet, in manchen ihrer züge noch beneidenswerth und vermögender vor als unsere heutige, welchen abstand aber auch von ihnen stellte die edle, freie natur der mittelhochdeutschen dichtungen dar, denen angestrengteste mühe zu widmen unvergleichlichen lohn abwirft, doch nicht einmal aus ihrer fülle schienen alle grammatischen entdeckungen von gewicht müssen hergeleitet zu werden, sondern aus sparsam flieszenden fast versiegenden althochdeutschen und gothischen quellen, die uns unserer zunge älteste und gefügeste regel kund thaten. es gab stunden, wo für abhanden gekommne theile des U L F I L A S ich die gesamte poesie der besten zeit des dreizehnten jahrhunderts mit freuden ausgeliefert haben würde, den leüchtenden gesetzen der ältesten spräche nachspürend verzichtet man lange zeit auf die abgeblichenen der von heute. Allein auch sie weisz schon ihren anspruch zu erheben und verborgene anziehungskräfte auf uns auszuüben, nicht nur ist der neue grund und boden viel breiter und fester als der oft ganz schmale, lockere und eingeengte alte, darum aber mit sichererem fusze zu betreten, sondern jener einbusze der form gegenüber steht auch eine geistigere ausbildung und durcharbeitung. was dem alterthum doch meistens gebrach bestimmtheit und leichtigkeit der gedanken, ist in weit gröszerem masze der jetzigen zu eigen geworden, und musz auf die länge aller lebendigen Sinnlichkeit des ausdrucke überwiegen, sie bietet also einen ohne alles Verhältnis gröszern, in sich selbst zusammenhängenden und ausgeglichenen reichthum dar, der schwere Verluste, die sie erlitten hat, vergessen macht, während die Vorzüge der alten spräche oft nur an einzelnen plätzen, abgebrochen und abgerissen, statt im ganzen wirksam erscheinen, bei allen durch die zeit hervorgebrachten Verschiedenheiten waltet im groszen dennoch eine beträchtliche durchblickende gemeinschaft zwischen alter und neuer Sprache, die in allen ihren Wendungen und Sprüngen zu belauschen überraschende freude macht, wenn auf zahllose stellen unserer gegenwart licht aus der Vergangenheit fällt, so gelingt umgedreht es auch hin und

250

23. Jacob Grimm ( 1 7 8 5 - 1 8 6 3 )

wieder im dunkel liegende flecken und gipfel der alten Sprache eben mit der neuen zu erhellen, manches im alterthum vorragende beruht ganz auf sich selbst und läszt auszerhalb seiner schranke sich weiter nicht verfolgen; die ungleich gröszere masse des heutigen Sprachschatzes wird durch überflieszende belege lehrreich begründet, wahr ist, die alte spräche leistet der grammatik bessere dienste, aber für auffassung der Wortbedeutungen wird die neue offenbar wichtiger, die gothische formlehre, wo wir sie nur anrühren, trägt zehnfach mehr frucht als die neuhochdeutsche, doch die magerkeit eines gothischen oder selbst althochdeutschen glossars gegen das mittelhochdeutsche springt ins auge, wie könnte das mittelhochdeutsche sich messen mit einem neuhochdeutschen Wörterbuch? Hier also kehrt sich die betrachtung zu gunsten des übernommenen werkes, das auf dem geebneten gründe historischer Sprachforschung ruhend eine weit vollere und lebendigere samlung aller deutschen Wörter veranstalten soll, als sie noch stattgefunden hat. ein deutsches Wörterbuch mislang bisher aus dem doppelten gründe, dasz es weder den gelehrten noch dem volk ein genügen that. Die wiederanfachung der classischen literatur im fünfzehnten und sechzehnten jahrhundert hatte den abstand der einheimischen, wissenschaftlich unausgebildeten spräche von der griechischen und lateinischen sehr fühlbar gemacht und nun begann die kluft zwischen ihnen und jener desto schroffer vorzutreten, unsre eigne muttersprache, welche doch seit jene classischen zungen aus dem leben verschwunden waren, vor allen europäischen ehmals zuerst sich geregt und eignes lebens fähig erzeigt hatte, muste bald nur für eine dienende handlangerin, für die brücke gelten, über welche man aus dem schlämm heimischer barbarei ans gestade jener beiden, vielmehr die hebräische, heilig gehaltne hinzugerechnet, der drei einzig vollkommnen sprachen schreite; die beschaffenheit einer rein menschlichen, uns unmittelbarst nahe liegenden wundervollen gäbe zu erwägen, fiel lange gar niemand ein. man war weder gewohnt noch darauf eingerichtet, hinter dem, was seiner natur nach feine und tiefe regel haben musz, sie auch wirklich zu suchen, und schleppte für den oberflächlichsten gebrauch fortwährend sich mit mageren leeren behelfen, die der spräche selbst keinen nutzen, nur empfindlichen schaden zufügten, die classischen sprachen waren gelehrt und zünftig, die deutsche wurde nicht in die lehre genommen und in keine zunft gelassen. Unvergessen sein sollen die namen GOLDAST, SCHILTER, SCHERZ, BODMER, 2 welche mit erfolg auf rettung und herausgabe altdeutscher quellen dachten, die namen DASYPODIUS, MAALER, HENISCH, F R I S C H , denen samlung der deutschen wörter innig am herzen lag. alle, ohne ausnähme, weisen nach Süddeutschland, wo vor alters hochdeutsche spräche und poesie erwachsen war, wo die meisten handschriften aufbewahrt lagen und die fortlebende volksmundart stärker als anderswo an das alterthum gemahnte und dessen Verständnis förderte, gleichwol traten die bemühungen dieser männer nicht so weit vor, dasz ihnen selbst schon gelungen wäre, sich eine geläufige künde der frühern grammatik zu erwerben, durch deren darstellung allein den nur unbefriedigend bekannt gemachten quellen hätte können

23.3. Text

251

eingang verschaft und das Verhältnis der heutigen zur alten spräche festgesetzt werden.

Was im verschiedensten sinn LEIBNITZ, LESSING, KLOPSTOCK, ADELUNG, V O S S , sämtlich dem norden Deutschlands angehörig, zum heil der deutschen spräche gewollt und geleistet haben, wird jederzeit hochgeachtet bleiben, konnte diese aber immer nicht im auge der classischen philologen als voll erscheinen lassen, und es war vergeblich das zu empfehlen, dessen ebenbürtigkeit der schule erst auf überzeugendere weise dargethan werden muste. niemals blieb einer der rechten wege, die dahin führten, nur von ferne eingeschlagen, sollte man es glauben, das im gesamten alterthum unserer spräche durch die untiefen der vorzeit wie ein fels ragende hauptwerk, auf dessen grund jeder bau zu errichten war, Holländern, Engländern, Schweden überlassen, wurde vor dem neunzehnten jahrhundert niemals in Deutschland gedruckt und zugänglich gemacht, durch KNITTELS entdekkung auf ULFILAS geführt, dachte LESSING ( 1 1 , 2 9 7 ) nur dem mageren theologischen gewinn, nicht dem groszen sprachlichen nach 3 : diesen hellen, scharfen geist lenkte seine Vorliebe für fabel und spruch nur zu wenigen altdeutschen Dichtern zweiten oder dritten rangs; hätte er die besten je gelesen, er würde auch mittel gefunden haben für sie zu gewinnen, von KLOPSTOCK, den das alterthum und die schöne unsrer spräche entzündete, der ihre grammatische eigenheit fein herausfühlte, und in Kopenhagen leicht hätte an die nordische lautere quelle näher treten können, von ihm wäre gut gethan gewesen, sich doch mit dem wollautreichen OTFRIED und einigermaszen mit den minnesängern vertraut zu machen; schlimmer ist, dasz er in altsächsischer zunge, aus stellen die ihm HICKES darreichte, nur ganz dilettantische kenntnisse zu ziehen verstand und doch zur schau legt, auch der ihm nacheifernde, in der versbildung bald überlegne Voss gibt, bei gröszerer belesenheit, namentlich in seiner schrift von der Zeitmessung höchst unzureichende einsieht in die altdeutsche spräche wie dichtkunst kund, darin zur seite tritt beiden der ihnen sonst überall entgegenstehende nüchterne ADELUNG, dem nur gedichte von H A GEDORN, GELLERT, WEISZE gefielen, unter den ältern höchstens noch die von OPITZ und dessen anhang eine halbe autorität, alle seiner jüngeren Zeitgenossen zuwider waren; wie hätte er über sich gewonnen, die vermeinte roheit des mittelalters mit ernsten blicken anzusehen? ihm genügte fast an dem aller poesie baaren Teuerdank und an einzelnen aus BODMERS samlung erlesenen anführungen oder an denen, die schon FRISCH und SCHILTER reichten, leichter als die der alten dichtkunst wäre ihm wol noch die anerkennung einer alten sprachregel gefallen, von welcher er keine ahnung hatte, und die doch vielen irrthümern und verstöszen seines Wörterbuchs abzuhelfen allein vermocht hätte, dem verleugnen der altdeutschen poesie ein unbeabsichtigtes ende machte, dasz es der neuen gelang ihren thron prächtig aufzuschlagen. GÖTHES und SCHILLERS hohe Verdienste um unsere spräche strahlen so glänzend, dasz ihre gelegentlich etwa dargegebne abneigung vor einigen dichtungen des mittelalters, deren gehalt dabei weniger in betracht gekommen sein kann, als zufallige umstände, gar nicht angeschlagen werden darf.

252

23. Jacob Grimm (1785-1863)

Nachdem diese groszen dichter vor dem ganzen volk mit immer steigendem erfolg, was deutsche Sprachgewalt sei und meine, bewährt hatten und durch feindliche Unterjochung in den wehevollen anfangen dieses jahrhunderts allen gemütern eingeprägt war, an diesem kleinod unsrer spräche stolzer festzuhalten; fand sich das bewustsein eines auch in ihr seit frühster zeit waltenden grundgesetzes so erleichtert, dasz es nichts als der einfachsten mittel bedurfte, um es auf einmal zur anschauung zu bringen, diese willfahrig aufgenommene erkenntnis traf aber glücklicherweise zusammen mit einer vom sanskrit her erregten vergleichenden Sprachwissenschaft, 4 welche keiner sie nah oder fern berührenden Spracheigentümlichkeit aus dem wege gehend vor allen andern auch der einheimischen das gebührende recht widerfahren zu lassen geneigt sein muste, in welcher noch mehr als eine saite zu den volleren klängen jener ehrwürdigen Sprachmutter anschlug. So hat sich unter mancherlei gunst und abgunst allmälich eine deutsche philologie in bedeutenderem umfang als je vorher gebildet, deren selbständige ergebnisse vielfache frucht tragen, unabhängigen werth behaupten und fortdauernde theilnahme in anspruch nehmen können, früherhin liesz alles und jedes, was von den denkmälern unseres alterthums mühsam gedruckt erschienen war, in ein paar folianten und quartanten sich beisammen haben; jetzt stehn in den bibliotheken ganze gefache von altdeutschen büchern erfüllt und die Verleger zagen nicht mehr vor dieser literatur. wie viel noch übrig bleibe zu thun, ein rühmlicher eifer regt sich alle lücken zu ergänzen und ungenügende durch bessere ausgaben zu verdrängen, nicht länger verschlossen liegen die quellen unserer spräche und ihre bäche und ströme dürfen oft bis auf die stelle zurückgeführt werden, wo sie zum erstenmal vorgebrochen sind; fortan aber kann eine deutsche grammatik, ein deutsches Wörterbuch, die sich dieser forschungen und aller daraus erwachsenen fordernisse entäuszern, weder gelten noch irgend ersprieszlichen dienst leisten. Von an der Oberfläche klebenden, nicht tiefer eingehenden arbeiten beginnt heutzutage auch die ernstere Stimmung des volks sich loszusagen, aufgelegt zum betrieb der naturwissenschaften, die den verstand beschäftigen und mit einfachen mittein, wenn sie recht verwendet werden, das nützlichste ausrichten, wird ihm auch sonst das unnütze und schlechte verleidet; wozu ihm noch immer handbücher und auszüge unseres gewaltigen sprachhortes und alten erbes vorlegen?, die statt dafür einzunehmen davon ableiten und nichts als schalen absud seiner kraft und fülle bieten, aus dem keine nahrung und Sättigung zu gewinnen steht, als sei der unmittelbare zutritt verschlagen und die eigne anschau verdeckt. Seit den befreiungskriegen ist in allen edlen schichten der nation anhaltende und unvergehende sehnsucht entsprungen nach den gütern, die Deutschland einigen und nicht trennen, die uns allein den Stempel voller eigenheit aufzudrücken und zu wahren im stände sind, der groszen zahl von Zeitgenossen, vor deren wachem auge die nächsten dreiszig jähre darauf sich entrollten, bleibt unvergessen, wie hoch in ihnen die hofnungen giengen, wie stolz und rein die gedanken waren; wenn nach dem gewitter von 1848 rückschläge lang und schwerfällig die luft durchziehen, können

23.3. Text

253

Sprache und geschichte am herlichsten ihre unerschöpfliche macht der beruhigung gewähren, auch die kräfte der unendlichen natur zu ergründen stillt und erhebt, doch ist nicht der mensch selbst ihre edelste hervorbringung, sind nicht die blüten seines geistes das höchste ziel? seiner dichter und schriftsteiler, nicht allein der heutigen auch der früher dagewesenen will das volk nun besser als vorher theilhaft werden und sie mit genieszen können; es ist recht, dasz durch die wieder aufgethanen schleuszen die flut des alterthums, so weit sie reiche, bis hin an die gegenwart spüle, zur forschung über den verhalt der alten, verschollenen spräche fühlen wenige sich berufen, in der menge aber waltet das bedürfnis, der trieb, die neugier, den gesamten umfang und alle mittel unsrer lebendigen, nicht der zerlegten und aufgelösten spräche kennen zu lernen, die grammatik ihrer natur nach ist für gelehrte, ziel und bestimmung des allen leuten dienenden Wörterbuchs, wie hernach noch entfaltet werden soll, sind neben einer gelehrten und begeisterten grundlage nothwendig auch im edelsten sinne practisch. Durch warme theilnahme des volks allein ist die erscheinung dieses deutschen Wörterbuchs möglich und sicher geworden, das also im auffallenden gegensatz steht zu den Wörterbüchern anderer landessprachen, die von gelehrten gesellschaften ausgegangen auf öffentliche kosten an das licht getreten sind, wie es in Frankreich, Spanien, Dänemark geschah; heute befaszt zu Stockholm die vitterhets academie sich mit einem schwedischen. 5 ein solcher verein der mitarbeiter ist nach Verschiedenheit der völker anders zu beurtheilen: wo durch Verfeinerung des geselligen lebens die spräche überall bestimmt war gleich der französischen, konnte sie fast nur auf diesem wege ihren weltton finden und niedersetzen; das dictionnaire de l'academie hat ihn zum wenigsten für eine reihe von geschlechtern angegeben, später einmal wird man seinen unerträglichen zwang brechen, dem wahren begrif eines Wörterbuchs stand es von anfang an fremd, anderwärts verschwinden aber die vortheile einer gesellschaftlichen bearbeitung vor den hemmungen und gebrechen, die sie heranführt: mitten aus dem fleisz und der einigkeit können vorwände der trägheit und des zwistes entspringen, zunächst läge nun, alle eigentliche last und bürde der arbeit in eines oder weniger hände zu geben, die dazu den wahren beruf in sich tragen, dann aber könnte sie ebenwol unabhängig auszerhalb dem kreise der gesellschaft sich entwickeln, diese nur den aufwand der geldmittel ganz oder zum theil bestreiten und so läszt sich allerdings die mitwirkung eines gelehrten Verbands an dem Wörterbuch, dessen spitze er vertretend schützte, förderlich denken. Doch in Deutschland haben bei dem geringen ansehen, dessen, wie vorhin gesagt wurde, die eigne spräche genosz, unsere vorwaltend classische und orientalische philologie, naturwissenschaft und geschichte hegenden academien niemals weder dem entwurf eines neuen, noch der hut und Unterstützung eines in arbeit begriffenen deutschen Wörterbuchs ihre aufmerksamkeit zugewandt, von DASYPODIUS und PICTORIUS an bis auf A D E L U N G und CAMPE herunter sind alle unsere Wörterbücher überhaupt ohne irgend eine öffentliche anregung oder beisteuer gedruckt worden und, was röthe in die wangen jagt, die herausgabe der einhei-

254

23. Jacob Grimm ( 1 7 8 5 - 1 8 6 3 )

mischen Sprachdenkmäler hat, einzelne ruhmwürdige ausnahmen abgerechnet, meistens nur mit ärmlichen mittein, durch halb unwillige Verleger, fast ohne lohn für die herausgeber bewerkstelligt werden müssen. Wie vaterländisch gewesen wäre sie insgesamt in groszartigen schütz zu nehmen und ihnen vollständige bekanntmachung im angesicht des volks angedeihen zu lassen, dem es nicht entgehen kann, welche pflege dafür ausländischem alterthum und fremden sprachen unter uns zu theil geworden ist. Ich wollte auch den wust und unflat unsrer schimpflichen die gliedmaszen der Sprache ungefüg verhüllenden und entstellenden Schreibweise ausfegen, ja dasz ich dafür den rechten augenblick gekommen wähnte, war einer der hauptgründe mich zur Übernahme des Wörterbuchs zu bestimmen, dessen ganze Ordnung fast an jeder stelle durch das beibehalten der unter uns hergebrachten Orthographie sichtbar gestört und getrübt werden muste. es ist nichts kleines, sondern etwas groszes und in vielen dingen nützes seine spräche richtig zu schreiben, das deutsche volk hängt aber so zäh und unberaten an dem verhärteten schlimmen misbrauch, dasz es eher lebendige und wirksame rechte, als von seinen untaugenden buchstaben das geringste fahren liesze. unmittelbar mit dem ersten eindruck, den ein neu auftretendes Wörterbuch hervor zu bringen im stände wäre, mit dem einflusz, den es allmälich üben könnte, schien es am schicklichsten zugleich die längst reife neuerung, vielmehr zurückführung der schreibregel auf ihre alte einfachheit zu verbinden; in der bewegung der zeit selbst hätte diese abkehr und wendung von dem bloszen Schlendrian der letzten, nicht der früheren jahrhunderte minderes aufsehen erregt und sich unvermerkt den beifall oder die gewöhnung der menge gewonnen. Als aber sonst überall in die jüngst verlassenen gleise zurück geschoben wurde, leuchtete ein dasz es nun unmöglich gewesen wäre hier in die ältesten wieder einzulenken; was geschehen konnte, war eine nur theilweise zu versuchende abhülfe und linderung des hervorstechendsten Übels, welche wähl im einzelnen zu treffen sei, welche mittel einzuschlagen ratsam, darüber muste nothwendig die ansieht hin und her schwanken und diese unschlüssigkeit ist es eben, die in den letzten jähren längeren aufschub des Wörterbuchs verursachte: rechtfertigung aber der unabweisbar gebliebnen, jedermann ins auge fallenden abweichungen von dem seitherigen schreibgebrauch wird nachher folgen. 6

23.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2

Gemeint ist natürlich das „Deutsche Wörterbuch". Die rund zwanzig Autoren, die Grimm hier und im weiteren Verlauf des Textes wegen ihrer Beschäftigung mit der deutschen Sprache und Literatur meist lobend, gelegentlich kritisierend, nennt, bleiben ohne Anmerkungen. Lebensdaten und Werktitel, um deretwillen Grimm die Genannten für bedeutsam hält, sind im „Quellenverzeichnis" (Deutsches Wörterbuch. Bd. 33. Berlin [ D D R ] 1971) so gut wie vollständig verzeichnet.

23.4. Anmerkungen des Herausgebers 3

4

5

6

255

Franz Anton Knittel (1721 — 1792), auch persönlich mit Lessing bekannt, entdeckte 1756 Fragmente der gotischen Bibelübersetzung in einer Wolfenbütteler Handschrift. Vgl.: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Hrsg. v. Gotthold Ephraim Lessing. Beytrag 1 — 6. Braunschweig 1773-1781. Die „vom sanskrit her erregte vergleichende Sprachwissenschaft" setzte die Sanskritstudien von William Jones (1746 — 1794) voraus und wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Friedrich Schlegel („Über die Sprache und Weisheit der Indier", 1808) und Franz Bopp („Über das Conjugationssystem der Sanskrit-Sprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache [...], 1816) begründet. Das „Dictionnaire de l'Academie Frangaise" erschien erstmals 1694, 1835 in 6. Auflage; das Wörterbuch der spanischen Akademie zwischen 1726 und 1839; das „Dansk Ordbog" der dänischen Akademie 1793—1881. Das von der schwedischen Akademie herausgegebene Wörterbuch, mit dem ein altes, steckengebliebenes Unternehmen wieder aufgenommen wurde, begann erst 1894 zu erscheinen. Abschnitt 19 rechtfertigt „Schreibung und Druck" (LH —LIV), insbesondere die Verwendung der Antiqua; Abschnitt 20 Grimms Entscheidungen hinsichtlich der „Rechtschreibung", insbesondere der „radikalen Kleinschreibung" im heutigen Sinne.

24. Wilhelm Wackernagel ( 1 8 0 6 - 1 8 6 8 ) 24.1. Einführende Bemerkungen Wilhelm Wackernagel, nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Philipp, der als Schulmann und Literarhistoriker in verwandten Bereichen wirkte, war einer der führenden deutschen Hochschulgermanisten der zweiten Generation. Texteditionen in der Nachfolge seines Berliner Lehrers Lachmann stehen neben literaturgeschichtlichen Studien vornehmlich zur mittelalterlichen Literatur, Vorlesungen zur Poetik, Rhetorik und Stilistik und einem breiten Spektrum sprachhistorischer Abhandlungen. Seine Wirkungsstätte war Basel, wo er seit 1833 eine ordentliche Professur der deutschen Sprache und Literatur innehatte — nach vergeblichen Versuchen, in Berlin oder in Deutschland überhaupt eine beamtete Stellung zu erlangen. Zugleich war er als Lehrer am Basler Gymnasium tätig. Mit diesem zweiten Tätigkeitsbereich ist der folgende Text, eine Schulrede über das Thema „Von der deutschen Pedanterei" verbunden, mit der er auf Jacob Grimms Spuren wandelte. Dieser hatte 1847 in seiner Akademierede „Ueber das Pedantische in der deutschen Sprache" das gleiche Thema behandelt und damit selbst nur ein Problem wieder aufgenommen, das ihn schon 1819 zur Stellungnahme herausgefordert hatte (vgl. Kap. 11 in diesem Band). In allen Fällen ist Gegenstand der Betrachtung nicht direkt die deutsche Sprache, sondern das Bemühen der Sprachpfleger, diese durch kritische und normierende Einflußnahme vor wirklichen oder vermeintlichen Schäden zu bewahren. Der von Wackernagel vertretene Standpunkt ist wie bei Grimm der der „historischen Betrachtungsweise", die hinsichtlich der Möglichkeit und Wünschbarkeit sprachnormierender Eingriffe äußerste Zurückhaltung erfordert. Daß diese Haltung auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unbestritten war, zeigt das Fortleben der Traditionen normativer Sprachbeschreibung, z. B. bei Heyse, und der „philosophischen" Grammatik, z. B. bei Becker. Doch wäre das Problem mißverstanden, wenn man es nur als theoretisch-innerwissenschaftliches begriffe. Gesellschaftliche Bedeutung erhielt es vor allem wegen der unterschiedlichen Konsequenzen, die die jeweiligen Antworten der Sprachforscher für den schulischen Sprachunterricht hatten. — Wackernagel unterscheidet sich allerdings von Grimm in seinem Bemühen um eine unparteiische Haltung: Pedanterei findet er hier wie dort, und auch bei Grimm.

24.3. Text

257

24.2. Literaturhinweise Textvorlage Wilhelm Wackernagel: Von der deutschen Pedanterei. In: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte 3 (1854), Jan.—Juni, 295—303. Weitere Literatur A: Deutsches Lesebuch. 3 Theile. Basel: Schweighauser'sche 1839-1843.

Buchhandlung

Poetik, Rhetorik und Stilistik. Academische Vorlesungen. Hrsg. v. Ludwig Sieber. Halle: Buchhandlung des Waisenhauses 1873. Abhandlungen zur Sprachkunde. Mit einem Anhange: Biographie und Schriftenverzeichnis des Verfassers. Hrsg. v. Moritz Heyne. Leipzig: S. Hirzel 1874 (Kleinere Schriften 3). B: Siehe den Anhang in den „Abhandlungen zur Sprachkunde".

24.3. Text Von der deutschen Pedanterei (1854) Indem ich mich anschicke, unser heutiges Schulfest mit einigen Worten einzuleiten, muß ich von der Theilnahme, welche Sie Vorträgen der Art zu schenken gewohnt sind, mir heut zwiefache Nachsicht erbitten. Denn abweichend von dem meist beobachteten Gebrauch, gedenke ich dießmal nicht, Ihnen ein Probestück und Zeugniß vorzuführen, wie die Lehrerschaft überhaupt und wie in seinem besondern Fach das gerade sprechende Glied derselben das Gebiet des Wissens durch neue Forschungen zu erweitern, mit neuen Ergebnissen zu bereichern suche: im Hinblick auf diejenigen, denen die Feierlichkeit eigentlich gilt, auf den Theil unserer Jugend, der eine gelehrtere, voraus von Sprach* und Geschichtsstudien getragne Bildung sich erwerben will, hat es mir angemeßner geschienen, einen Gegenstand mehr von pädagogischer Art und zwar der Warnung wegen ein Uebel zu besprechen, das mit solcher Gelehrsamkeit, wie sie erstreben, sich gern verbindet. Kaum aber wird von demselben zu reden sein, ohne daß Mancher finden dürfte, es sei damit eine offene Beichte im Namen Vieler, die jetzt auf anderen Bänken als der Schulbank sitzen, abgelegt, und fragen dürfte, wer denn mich berufen habe, auch für Andere als für mich allein zu beichten. Ich werde reden von der Pedanterei; mehr jedoch als etwa nur die Hauptlinien der Betrachtung, als nur die Grundzüge und den Umriß zu geben, kann ich bei solch einem leider allzu reichen Stoffe mich nicht anheischig machen.

258

24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868)

Wer ist ein Pedant? was ist Pedanterei? Gehn wir, um diese Frage zu beantworten, von Beispielen aus, von einzelnen Fällen, in denen wir mehr oder weniger übereinstimmend alle finden werden, daß jene Benennung am Platze sei. Wenn Jemand statt l a t e i n i s c h l a t i n i s c h braucht, weil es ja LATINUS heiße, aber doch weder r o m i s c h noch g r ä k i s c h , sondern wie die Andern r ö m i s c h und g r i e c h i s c h ; wenn er nicht von J a n i t s c h a r e n redet, sondern besser türkisch von J e n i t s c h e r i , und zwar N i u y o r k und M e c h i c o oder gar unrichtig M e j i c o spricht und doch N e u h o l l a n d und doch weder G e n e v e noch G e n o v a , N a p o l i noch L i s b o a noch K j ö b e n h a v n ; wenn er, falls du den M ü n s t e r und d a s C h o r gesagt hast, mit aufdringlicher Zurechtweisung in seiner Antwort den C h o r und d a s M ü n s t e r sagt, als wäre um des Lateinischen willen das nur gültig, und doch nicht d e r M a u e r und d e r K a n z e l , d i e K r e u z und d i e D o m , das T e m p e l und d a s A l t a r , obwohl die Grundsprache auch alles dieß und wie viel der Art sonst noch fordern würde; wenn er, damit ja im Sprechen kein geschriebener Buchstab verloren gehe, Zusammensetzungen wie S c h i f f f a h r t , R ü c k k e h r , O h r r i n g , F i s c h s c h w a n z , s e l b s t s t ä n d i g mit mühsamer Ausdrücklichkeit wieder in ihre Bestandtheile trennt: S c h i f f = f a h r t , O h r = r i n g , s e l b s t s t ä n d i g ; wenn er auch im lebendig vorwärts strebenden Gespräche sich stets mit Sorgfalt der strengsten Correctheit des Ausdruckes befleißt und der Anacoluthie, der CONSTRUCTIO A D SENSUM auch da, wo sie die Deutlichkeit befördern würden, mit furchtsamer Berechnung aus dem Wege geht; wenn er schreibend und sprechend seine eigenen Gedanken gern noch mit den Gedanken Anderer umkränzt, mit Anspielungen, mit Anführungen; am liebsten, weil es so am gebildetsten und am gelehrtesten klingt, in fremden Sprachen: solch einen Menschen werden wir alle wohl einen Pedanten oder werden wenigstens diese eine seiner Aeußerungen, dieß eine Benehmen und Verfahren eine Pedanterei benennen. Der Pedant also schulmeistert, auch wenn vor ihm kein Schüler und er selbst durchaus kein Meister ist; er gefallt sich in der Consequenz: aber es ist die eigensinnig geradlinige jener Rattenart des Nordens 1 , die, blind gegen das Links und Rechts und alles Andre, nur vorwärts auf Einen Punkt zu wandert; er will und giebt eine todte Eintönigkeit anstatt mannigfaltigen Lebens, Kleinigkeiten anstatt des Großen, Einzelnes anstatt des Ganzen; für ihn ist nur die Beengung durch Regeln, nur die Theorie, nur die Form da, nicht aber die Freiheit, die Praxis, der Geist, und inmitten derer, die größer denken, freier handeln, steht er wie der Kleinstädter in der Residenz oder ein Krämer unter Kaufleuten. Der Pedant, wenn seiner Pedanterei nicht andere Eigenschaften gesellt sind, die mit noch stärkerer Unwiderstehlichkeit wiederum das Herz gewinnen müssen, ist ein höchst unliebenswürdiger Mensch, abstoßend und nicht in der Gesellschaft, ja selbst in der viel verzeihenden Freundschaft kaum zu brauchen: denn er wird Schritt für Schritt dadurch, daß er Alles anders und besser weiß, verletzen; er wird überall, und den Gelehrten selbst nicht am wenigsten, beschwerlich fallen durch sein Prunken mit

24.3. Text

259

verzettelter Gelehrsamkeit; er wird zuerst lächerlich, bald aber langweilig sein durch den Ernst, womit er Lappalien erörtert, und durch seine Vorliebe und sein Geschick, gerade über die geringfügigsten Dinge am ausführlichsten, in den gewähltesten Worten, in umständlichem Periodenbau zu sprechen. Der Pedant: ich hätte stets auch hinzufügen können: die Pedantin. Denn allerdings, wie kein Alter und kein Stand, so ist auch kein Geschlecht von dieser Unart frei. Ein Kind z. B., das mit altkluger Zweifelsucht die Erzählung eines Märchens zurückweist, eine Erzieherin, die grundsätzlich dem Kinde kein Märchen erzählt, weil sie in der Engheit ihres Sinnes keinen Unterschied zwischen Dichtung und Lüge kennt, sie beide sind hierin und schwerlich dann bloß hierin pedantisch. Nur ist bei Weibern und bei Kindern die Pedanterei seltener, darum aber auch auffälliger, und weil man von der Kindeseinfalt am wenigsten solche Befangenheit, von der weiblichen Natur, die sonst auf dem ganzen Gemüthe ruht, nicht diese Halbheiten des Verstands erwartet, bei ihnen doppelt unangenehm berührend. Allgemein betrachtet, ist die Pedanterei das leidige Vorrecht derer, deren Sache mehr als des Weibes und des Kindes die Verstandesthätigkeit und somit auch jene beschränkte Ausübung derselben ist, ein Vorrecht des männlichen Geschlechtes, des Jünglings, des gereiften Mannes. Und hier, je nach Amt und Beruf in welcher Mannigfaltigkeit der Kundgebungen kommt sie hier zu Tage! Unter den Künstlern, wenn z. B. ein Componist, statt ein Gedicht seinem ganzen Charakter nach aufzufassen und diesen in dem ganzen Charakter seiner Musik zurückzuspiegeln, sich an die einzelnen Worte hängt und Wort für Wort eine neue Empfindung zu malen sucht: Lieder durchzucomponiren und nicht auf Eine Melodie zu setzen, dieser Lieblingsbrauch unserer Zeit hat seinen ersten Ursprung kaum anderswo als in pedantischem Unvermögen; im Wehrstande sodann, wenn dessen Leiter ihre Aufgabe und ihre Lust nur in den Aeußerlichkeiten der Kleidung und der Haltung, in der Ausklügelung nutzloser Kleinlichkeiten und Peinlichkeiten des Exercitiums finden, als Kamaschendienst also; ferner beim Staatsmanne, der über die Formen und seine doctrinären Sätze und im Angesichte der höchsten inneren Berechtigung nicht über die äußeren Bedenklichkeiten hinweg kann, vor jeder großen Maßregel erschrickt und der biblischen Warnung zum Trotz lieber stets nur ausbessert, als ein neues Ganzes macht. Zumeist aber und mit dem meisten Recht auch wird jener Name auf die vom Gelehrtenstande angewendet. Für sie als die beste Probe auf ihren Gehalt an Pedanterei kann ihre Stellung gegenüber einem neuen bedeutenden Systeme dienen, sei es das einer einzelnen Wissenschaft, wie etwa der Grammatik, oder der Wissenschaft aller Wissenschaften, der Philosophie. Die Wenigsten (wir sehen von Solchen ab, die aus Stumpfheit oder Eigendünkel sich um alles Neue, oder was von Anderen kommt, überhaupt nicht kümmern), vielleicht die Wenigsten werden die Probe mit Ehren bestehn, werden der neuen Lehre frei und mit der Berechtigung des eigenen vollen Denkens entweder beifallen oder ihr entgegentreten: die Mehrzahl der Widersprechenden widerspricht nur, weil ihr jeder Versuch, eine Wissenschaft als

260

24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868)

Ganzes zusammenzufassen und aufzubauen, von Natur zuwider ist; die Mehrzahl der Anhänger hängt nur an, weil sie der bloße Formalismus des Systemes, lediglich die Maschinerie gefangen nimmt. Pedanterei hier, Pedanterei dort; Pedanterei bei den meisten Jüngern Hegels und Beckers, Pedanterei bei deren meisten Gegnern. 2 Unter den Gelehrten wiederum sind es besonders wir Schulmänner, denen jenes Gebrechen zur Last fallt, denen, wo wir nicht ganz und gar Pedanten sind, doch zum mindesten die oder jene einzelne Pedanterei wie ein neckender Stachel im Fleische sitzt. Auch hat das Wort PEDANTE im Italiänischen, woher es stammt, ursprünglich ohne Weiteres einen Schullehrer bezeichnet. Wir sind zu entschuldigen: wer Tag für Tag von Amts wegen schulmeistert, schulmeistert nur zu leicht auch da, wo es nicht seines Amtes, und schulmeistert bald auch an der Jugend mehr und anders, als recht ist; wer durch sein Amt, wie uns nur zu oft geschieht, an weiteren Fortschritten gehindert wird, und so wenig er weiß, immer doch noch mehr weiß, als die Schüler, der wird dieses Wenige, diese Einzelheiten bald überschätzen lernen: es sind ihm theure Reste eines Schiffbruchs, und er klammert sich daran mit verzweiflungsvoller Liebe. Nicht alle Gelehrten aber, nicht alle Lehrer sind der Gefahr der Pedanterei gleichmäßig ausgesetzt. Die in geringerem Grade, die auf eine höhere Stufe der Kenntnisse und des Wirkens gestellt sind: sie führt ihre Gelehrsamkeit eher, wenn auch nicht zur Wissenschaft (ich nehme das Wort in seinem vollen Sinne), doch zu einer achtungsvollen Ahnung derselben, die dem Mißbrauch steuert. Viel mehr dagegen die Halbgelehrten, die Halbwisser, die einseitig nur ein einziges, vielleicht gar schmales Fach, oder die von vielen, von allen Fächern nur den Anfang und hie und da noch sonst ein Bruchstück inne haben, die Vielwisser, die Alleswisser. Diese, wenn sie in ihrem Amte nicht nachlässig sind, werden dann fast ausnahmslos Pedanten und die nächsten und die täglichen Opfer ihrer Pedanterei werden ihre Zöglinge sein; diese werden, in und außer der Schule, in Lehre und Leben und im Bücherschreiben, bald, wo es das Ganze gilt, als träge Diener der Gewohnheit an dem Ueberlieferten kleben, bald wieder mit müßiger Neuerungssucht jedem Einfalle nachgehn, durch den sie ein Einzelnes besser zu machen hoffen. Wie aber der Mensch, erklärlich genug, in nichts so mangelhafte Einsicht hat, als was von höheren Dingen ihn zunächst berührt und umgiebt (kennt er doch sich selber stets am allerwenigsten), und dennoch, verkehrt genug, gerade hier die meiste Einsicht schon von Haus aus und die vollste Berechtigung des Dareinredens zu besitzen wähnt (wie viele Professoren außerhalb der Zunft hat deshalb die Politik, und die Theologie nicht minder): so regt sich die Pedanterei der Pedanten am liebsten und häufigsten und es schlägt auch in Solchen, die sonst von diesem Uebel frei sind, eine pedantische Ader gerne da, wo es die Muttersprache gilt. Dieß ist die große Allmend, worauf sich die Gelehrten und die Ungelehrten aller Fächer weiden und Blümchen in den Kranz ihrer Verdienste pflücken: wer sonst vielleicht nichts ohne die genaueste Forschung finden will, hier soll es ihm ungesucht in die Hände wachsen; wer sonst vor dem, was in Natur und Geschichte gegeben ist,

24.3. Text

261

eine fast abergläubische Achtung hegt, hier meint er einmal selbst machen zu können; wer sonst auch gar nichts weiß, hier weiß er Alles und Jedes. 3 Hier denn tritt uns die Pedanterei so vollständig wie nirgend mehr mit all ihren Merkmalen, in der ganzen bunten Mannigfaltigkeit ihrer Arten und Spielarten und Unarten entgegen. Scheinbar noch die bescheidensten hier, weil sie auf den untersten Stufen bleiben, sind die, deren ganze Sprachgelehrsamkeit in Schreibung und Rechtschreibung aufgeht: aber gerade sie werden uns mit jedem neuen Worte von Neuem unbequem, und ohne Noth versetzen sie Schüler und Laien in Gewissensunruhe. Denn sie machen eine Gewissensfrage daraus, ob die lateinische oder die sog. deutsche Schrift zu gebrauchen, ob nach den Regeln, die sie erfunden haben, nicht T e i l mit bloßem T, G l i d mit bloßem i und G e w i ß e n mit ß zu schreiben sei; sie erörtern mit Tiefsinn, wann m a l e n und w o h l ein h und wann sie keines haben; sie wissen sich viel damit, daß sie in F i l o s o f hinten und vorn ein f und kein ph und in A k z e n t ein kz und kein doppeltes c setzen: die Worte seien damit deutscher geworden; gerade, als wenn wir die Zeichen f und k und ζ nicht auch aus dem Lateinischen hätten. Andre, muthiger und höher hinauf, greifen mit ihren Fünden und Satzungen an die Laute selbst und deren Aussprache, an die Bildung der Worte, an die Satzbildung, und quälen ζ. B., weil sie nicht wissen, daß im deutschen th das h immer nur die Länge des benachbarten Vocals bezeichnet, die armen Kinder, es gleichwohl eigens hören zu lassen, also T = h a t , W u t = h: eine doppelte Q u a l und Beängstigung, weil gerade hier die Pedanterei in sich selber uneins ist und vielleicht in Schulbüchern dergleichen Kinder T a t und W u t auch ohne das h gedruckt stehn. Oder sie ändern Worte, die ihrem kurzsichtigen Blick undeutlich sind, frischweg um: g e h o r s a m , das von g e h ö r e n kommt, in g e h o r c h s a m , k o s t s p i e l i g , das s. v. a. Kosten verschwendend ist, in ein sehr sinnloses k o s t b i l l i g . Sie haben zufallig in einem älteren Buche l e s c h e n mit e gelesen: gleich bringen sie das in ihr Deutsch und an die Schüler; e r g ö t z e n aber und s c h ö p f e n und H ö l l e und z w ö l f und wie viele Worte sonst noch ein früheres e gegen ö vertauscht haben, die alle gehen sie nichts an. Mit Beharrlichkeit verlangen sie als Lehrer der Mathematik, daß d e r D r i t t h e i l gesagt werde, wie d e r T h e i l , nicht d a s D r i t t h e i l : armer Luther, bei dem Maria dennoch d a s gute Theil erwählt hat; als Lehrer der Geographie E r d t h e i l , ja nicht W e l t t h e i l , ich weiß nicht, ob auch E r d m e e r und E r d g e s c h i c h t e ; als Lehrer aber der Geschichte A r a b e r , nicht A r a b e r . So sticht der Pedant immer nur je eines heraus; eben derselbe sollte nun auch (aber er thut es nicht) von P e r i o d e n und E p o c h e n und K a t a s t r o p h e n sprechen, von T r o g l o d y t e n und I c h t h y o p h a g e n und N o m a d e n , von T e u t o n e n und H e r m u n d u r e n und G e p i d e n und V a n d a l e n , von der Besiegung der B a r b a r e n an den T h e r m ö p y l e n , v o n d e n P h i l o s o p h e n des Alterthums und den P h i l o l o g e n der neueren Zeit: denn überall hier gölte dasselbe Recht, als bei jenen einzigen A r a b e r n . Wir betonen eben dergleichen Worte nicht griechisch noch

262

24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868)

lateinisch, sondern französisch, damit nicht, der Eigenheit unserer Sprache zuwider, so volllautende Schlußsylben tonlos seien. Es möchte noch hingehn, falls nur Grillen der Art beschränkt blieben auf die Person derer, die sie zuerst gehegt, und auf ihre Schule oder Schulklasse: schon die nächste Beförderung oder nach der Schule das Leben würde dem Knaben, dem Jünglinge das lächerliche Zwangskleid wieder abstreifen. Aber laienhaft, wie solche Einfälle sind, berücken sie durch Wahlverwandtschaft auch die übrigen Laien, die Laien entweder bloß im Sprachstudium oder in den Studien überhaupt, und setzen sich auch in deren Kopf so fest, daß ein Gelehrter, wenn ihm viel daran liegt, was von seinem Wissen die Ungelehrten halten, zuletzt mit den Wölfen heulen und auch A r a b e r betonen muß. Und um noch durchgreifender so auf die Laien einzuwirken, braucht die Herrschsucht der Pedanterei, nicht unklug, aber doppelt widerwärtig, Zeitungen, die überall hin zu Tausenden verbreitet, Bücher, die von Haus zu Haus und von Geschlecht auf Geschlecht in aller Welt Händen sind. Wäre Jean Paul noch so der allgemeine Liebling wie vordem, die Grille, welcher er in der Gesammtausgabe seiner Werke, 60 Bände hindurch, nachgegangen ist, die Weglassung des Bindelautes s in Zusammensetzungen, so daß er sich selbst auch L e g a t i o n r a t h nannte, diese mißlautige Grille würde zahlreicher, als nun geschehen, Nachfolger gefunden haben 4 : den Grillen der Allgemeinen Zeitung 5 fehlt es an Nachfolge nicht, ihrem unpäßlichen u n b ä ß l i c h , ihrem St. G a l l e r e r statt St. G a l l e r , ihrem T h ü r i n g e n s c h , ihrem Z ü r i c h e r s c h , ihrem S i n d f l u t . Allerdings hat noch Luther S i n d f l u t gesagt, und das Wort hat ursprünglich mit S ü n d e nichts zu thun, sondern ist der Ausdruck für jegliche Ueberschwemmung: aber einem Triebe folgend, der vielfach in ihr thätig ist, hat sich die neuere Sprache das unverständlich gewordene alte Wort frisch umgedeutet und gewiß nicht unangemessen umgebildet. Wer dennoch auf S i n d f l u t zurück will, der sage nur auch z. B. wieder B e i s p e l l statt B e i s p i e l und e r ä u g n e n statt e r e i g n e n , G e f ü g e l statt G e f l ü g e l , F r e i t h o f statt F r i e d h o f . Ist nun aber die gelehrte Pedanterei in allen Fächern der Gelehrsamkeit zu Hause? Mengt sie mit ihren Halbheiten, ihren Willkürlichkeiten, ihrer Langenweile sich gleichmäßig in alle Wissenschaften? Ich glaube, nein. Die mit den Wissenschaften, welche man exacte nennt, sich beschäftigen, der Mathematiker, der Naturforscher, man wird sie, so lange sie innerhalb dieser ihrer Fächer bleiben, vielleicht trocken, vielleicht unwissenschaftlich, als Lehrer vielleicht tyrannisch finden: aber Pedanten wird man sie da schwerlich heißen. Sondern das Reich der Pedanterei erstreckt sich, wie schon aus all den Beispielen, welche bisher gegeben worden, erhellt, lediglich über jene Gebiete des Wissens, wo es sich um Kräfte und Wirkungen, die nicht so dem Maß und der Wage und der Berechnung unterliegen, wo es sich um die niemals voll zu ergründenden Offenbarungen des göttlichen Geistes in dem Denken und dem Thun der Menschen, wo es sich um Dinge handelt, die noch nicht bis an das Ende ihrer Erscheinungsformen gelangt, die stets noch in der Entwickelung, im Wachsthum

24.3. Text

263

und Fortschritt begriffen sind: es erstreckt sich über das Gebiet der Geschichte und namentlich das der Sprachwissenschaft. Denn hier ist, um das Einzelne zu verstehn, nothwendiger als sonst auch ein Yerständniß des Ganzen erforderlich: wie schwer aber ist letzteres zu gewinnen, wie groß daher und zugleich wie schädlich die Verlockung, bloß an Einzelheiten sich zu heften! Weil die Sprache ein Bewegtes ist, so meint der erste der beste, welcher spricht, auch als bewußte Kraft dabei mitwirken, hier hemmen, dort vorwärts treiben zu können: ihm entgeht, daß jene Bewegung nur ein großer, noch unabgeschlossener Naturproceß ist, dem er und jeder Einzelne ohne bewußtes Dazuthun mitfolgt. Ueber wie viele oder wie wenige Stufen hin eine Sprache, wie mannigfach oder wie ärmlich eine Litteratur sich entwickelt hat, sie hat eben immer sich, sie selbst hat sich entwickelt; sie ist geworden und wird, Niemand hat sie gemacht, noch macht sie Jemand. Der Gelehrte kann auch hier nur forschen, nicht schaffen; die wahre Wissenschaft ist auch hier nur eine exacte, die beobachtet und die Gesetze sucht. Aber der Pedant will von sich aus Regeln geben. Wenn so die Pedanterei sich vornehmlich in der gelehrten Betrachtung und Behandlung der Sprache zeigt, so ist damit die Frage, seit wann es Pedanten gebe, eigentlich schon beantwortet. Dem Alterthume, so lange es noch in der vollen frischen Blüte stand, und in gleicher Weise dem Mittelalter war als ein allgemeiner herrschendes Uebel die Pedanterei noch fremd. Erst da es an beiden Orten zur Neige ging, da die eigene Sprache ein Gegenstand der Grammatik, die eigene Kunst der sprachlichen Darstellung ein Gegenstand der Rhetorik, und Grammatik und Rhetorik ein Gegenstand des Unterrichtes wurden, da erst gab es auch in Griechenland und Rom Pedanten, Pedanten der Accentlehre, Pedanten der Orthographie, da ward der Edda des Nordens die Skalda mit ihren Regeln und Musterbeispielen des Dichtens nachgeschickt, da machten die deutschen Meistersänger ihre Gedichte nach den Verboten und Strafansätzen der Tabulatur. Im vollstem Strome aber und so, daß es lang und breit noch bis auf uns fortflutet, ist die Pedanterei erst an der Grenzscheide des Mittelalters und der neueren Zeit hervorgebrochen, damals, als plötzlich die ganze fremde Welt des classischen Alterthums an die späten Nachkommen herantrat, als die neue Wissenschaft der Philologie erstand und sie die erste und die Grundlage aller anderen Wissenschaften ward, als sich auf ihr die Schule, die Litteratur, alles Leben der Gebildeten neu erbaute. Erst mit dem Humanismus ist als ein trüber Schatten, den er warf, die rechte nachhaltige Pedanterei in die Welt gekommen, und hat alsogleich auch sie die Schule, die Litteratur, das Leben der Gebildeten überschattet. Aber wie, soll das unterschiedlos von all den Völkern gesagt sein, in deren Boden der Humanismus seine frühesten Wurzeln geschlagen hat? auch von denen, aus deren Mitte Manutius und Sigonius und die Scaliger, Muretus und Casaubonus und die Stephanus hervorgegangen? auch von den Italiänern, unter denen gerade nun ein Maler wie Raphael, ein Dichter wie Ariost, Geschichtschreiber wie Mac-

264

24. Wilhelm Wackernagel ( 1 8 0 6 - 1 8 6 8 )

chiavelli und Guicciardini sich erleben sollten? auch von den Franzosen, durch welche die antike Baukunst nun zu einer glänzenden Wiedergeburt gedieh? Nein, von ihnen nicht so: ihnen, die mit dem Alterthume noch mannigfach und eng zusammenhingen durch Verwandtschaft des Blutes, durch Gemeinsamkeit des Bodens, durch eine nie ganz unterbrochene Ueberlieferung in Sprache und Litteratur und Kunst, ihnen war dessen vollere Erneuerung nichts so Fremdes und Ueberwältigendes: darum ist ihnen auch nicht mit dem Humanismus zugleich als ein Uebel, das sie alle beschlich und wie nothwendig mit dazu gehörte, die Pedanterei gekommen, nicht mit der Sonne zugleich der verfinsternde Trabant. Zwar ist das Wort ρ ED a n τ ε selbst zuerst von den Italiänern gebraucht worden, aber, was bezeichnend genug ist, eben nur als Name eines Schullehrers, nicht eines Pedanten. So hat denn auch bei ihnen und den Franzosen niemals die eigene Sprache so als Gegenstand einer unausgesetzten pedantischen Mißhandlung dienen müssen, wie bei uns Deutschen. Nicht Italien, nicht Frankreich, es ist Deutschland, in welchem damals das böse Unkraut so geil aufgeschossen ist, um endlos fortzuwuchern. In seinen Anfangen noch, wo Namen wie Rudolf Agricola und Erasmus ihn vertraten, war auch hier der Humanismus voller Größe und Freiheit; alsbald aber sank er hinab in Beengung und alle Kleinlichkeiten, und wie sodann für manches Menschenalter die Pedanterei eine liebevoll bewahrte Mitgift des gesammten deutschen Geisteslebens und eine beständige Verderbniß desselben gewesen sei, das lehrt den Geschichtsforscher jeder Blick, den er auf die Litteratur und die Kunst, auf Schule und Kirche und Staat wirft. Der Zank um die Abweichungen des evangelischen Bekenntnisses, der von vorne herein die Kirchenbesserung lähmte, die Weitläuftigkeiten von Speier und Wetzlar und von Regensburg, an denen Recht und Reich in Langerweile dahinstarben, sie waren doch nur das Werk jener Pedanterei, welche die Form und die Formel für das Wesen und die Grillen des Einzelnen je für die Hauptsache hält, derselben Pedanterei, die auch während des sechzehnten Jahrhunderts schon in das Studium der Classiker jene Kritik des subjectiven Dafürhaltens und die Gewohnheit gebracht hat, auch den größten Autor nur als einen Anlaß zum Notenmachen zu behandeln. Und wie hat von eben diesem Jahrhundert an die deutsche Litteratur selbst unter der Ueberlast geseufzt, die mit solchen Eitelkeiten und Nichtigkeiten auch auf sie gelegt war! Hat doch ein Dichtergeschlecht nach dem andern gar nie mehr ehrlich und gerade heraus von Liebe und Wein und Krieg, sondern, damit das Stückchen Gelehrsamkeit auch hier nicht fehle, nur noch von Cypria und Lyäus und Bellona u. s. w. singen dürfen, und nicht genug, daß allgemach die ganze Geschichtschreibung zu Grunde ging, weil um das Gerüst von Namen und Zahlen, das eine pedantisch=kleinliche Pragmatik aufgezimmert hatte, die pedantische Gelehrtthuerei immer noch ein zweites Gerüst aus bequem zusammengelesenen Beweisstellen glaubte aufzimmern zu müssen: nicht genug an dieser Unart, selbst wo man seine eignen Gedanken vortrug, erschien es als Pflicht und Schmuck, daß

24.3. Text

265

jedem derselben durch ein Citat erst die rechte Bekräftigung gegeben würde. Belachen wir das nicht, als wäre es eine abgethane Lächerlichkeit: auch Manchem wohl unter uns sind zahlreich angeführte Belegstellen das hauptsächlichste Mittel, wodurch er den wissenschaftlichen Werth einer eigenen Arbeit zu sichern wähnt, und das Hauptmerkmal, nach welchem er bei einer fremden Arbeit den wissenschaftlichen Werth ermißt; der Graf von Platen hat sogar eins seiner Dramen, die Liga von Cambrai, mit geschichtsgelehrten Anmerkungen begleitet, ungewiß, ob bei der Aufführung dieselben vielleicht von einem Chore zu singen seien. Nun gar die deutsche Sprache! Kein Volk auf Erden hat schon so viel und so durch einander an der seinigen gepfuscht als wir, von dem halblateinischen Deutsch der Schulen und der Canzleien bereits des sechzehnten Jahrhunderts an, durch den nicht minder sinn= und geschmacklosen Purismus des siebzehnten und wieder des achtzehnten und wieder des neunzehnten und durch allerlei immer neue Kunststücke der Orthographie hindurch bis auf uns, wo, um die Buntheit zu vollenden und doch wieder nur ein Halbes zu thun, griechische Namen und Worte nicht mehr mit lateinischen, sondern mit griechischen Lauten, aber doch mit lateinischen Accenten aufgefaßt werden, A i s c h y l o s und P e i s a n d r o s und C h a i r o n e i a , wo zwar von Obrigkeits wegen festgesetzt ist, wie B a y e r n und W ü r t t e m b e r g zu schreiben seien, nämlich B a y e r n mit ay und W ü r t t e m b e r g sehr schön mit einem doppelten t, wo aber in Betreff des Hauptnamens selbst, des Wortes d e u t s c h , noch dieser und jener seine wichtig abweichende Meinung hat und lieber t e u t s c h sagt. Schauen wir bis in das erste Jahrhundert unserer neueren Zeit zurück und von da hinab bis in das letzte Jahrzehend, hier lebhafter, dort schwächer, niemals aber gänzlich ruhend, nichts als Kämpfe der Pedanterei gegen Vernunft und Verstand und Kämpfe der Pedanterei gegen die Pedanterei. Pedanterei, wenn unsere H ö l d e r l i n und K ö p f l i n und H a u s s e l e i n und K ü r s n e r und H e r b s t e r sich S a m b u c e l l u s und C a p i t o und O e c o l a m p a d i u s und P e l l i c a n u s und O p o r i n u s nannten, nicht minder jedoch, wenn um ein Jahrhundert später Philipp von Zesen M a r s und V e n u s und P a l l a s und D i a n a in H e l d r e i c h und L u s t i n n e und K l u g i n n e u n d J a g t i n n e u. s. f. verdeutschte 7 ; Pedanterei, wenn Jemand, der sonst vielleicht kein Wort Englisch noch Spanisch recht auszusprechen vermag, sich gleichwohl mit N i u y o r k und M e c h i c o brüstet, nicht minder jedoch, wenn die Allgemeine Zeitung N a n c y gegen N a n z i g und Leo 8 , als ob er noch im Mittelalter lebte, M a n t u a und P a v i a gegen M a n t a u und P a v e i , V e r o n a gegen D i e t r i c h s b e r n und L y o n gegen W ä l s c h = L e i d e n vertauscht; Pedanterei, die unter allen Völkern allein uns Deutsche mit den großen Anfangsbuchstaben der Substantiva behelligt und die in dem Wittenberger Bibeldrucke von 1545 gar noch den Unterschied zwischen deutschen und lateinischen Anfangsbuchstaben getroffen hat, daß mit jenen ein guter, mit diesen ein böser Sinn bezeichnet, G n a d e z. B. mit großem deutschem G, Z o r n mit großem lateinischem Ζ gedruckt ward; nicht minder jedoch Pedanterei, wenn jetzt, wo der orthographische oder gar nur kalligraphische Gebrauch einmal seine 300 Jahre besteht, er wiederum mit viel Aufhebens soll

266

24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868)

abgeschafft werden9; Pedanterei, wenn bis vor wenigen Jahrzehenden die Herausgeber kirchlicher Gesangbücher jeden nur einigermaßen alterthümlichen Ausdruck meinten modernisiren zu müssen, nicht minder jedoch, wenn nun Andere aus den Gesangbüchern Antiquitätensammlungen machen möchten; Pedanterei genug in den Schulen vor Basedow10, nicht minder jedoch, nur anders, nur kindischer angethan bei Basedow selbst und noch bei manchem pädagogischen Steckenpferdritter späterer und noch unserer Tage. So die Deutschen; und falls in solchen Dingen noch ein anderes Volk ihnen gleichkommen oder gar sie noch übertreffen mag, dann nur ein Volk ihrer Nachbarschaft und nächsten Verwandtschaft, die Holländer. Allerdings hat auch hier (und wer wüßte davon nicht?) die Pedanterei alle Verhältnisse des Lebens und alle Lebensthätigkeit tief durchdrungen. Nirgend hat je in so reicher Blüte als bei den Holländern die philologische Notengelehrsamkeit gestanden; aus holländischem Boden ist die peinliche Kunst der Genremalerei (jenen Gherard Dow konnte die Vollendung eines Besenstieles drei Tage lang beschäftigen), aus ihm die pedantische Verklärung des Genrebildes, das Stillleben, erwachsen, das mit täuschendster Treue der Nachahmung Hausgeräth und Küchengeschirr vor Augen stellt; in Holland auch ist die große Angelegenheit der Orthographie wiederholendlich theils durch Erlasse der Regierung, theils durch Gelehrtencongresse geregelt worden.11 Wie aber kommt es, daß die Pedanterei mit ihrem Halbwissen und Wissensdünkel, mit ihrer anmaßlichen Aufdringlichkeit, mit ihren Einfallen, die oft nur wie schlechte Späße aussehen, mit all diesen Widerwärtigkeiten oder Lächerlichkeiten ihre Heimath gerade unter den Holländern, den Deutschen hat, denselben Deutschen, die man gewohnt ist um ihres Ernstes, ihrer Gründlichkeit, ihrer Gewissenhaftigkeit willen zu rühmen und manchem anderen Volke deßhalb vorzuziehn? Wohl, eben diese Tugenden sind es, aus denen durch Mißwachs solch eine Untugend, wenn man das starke Wort gebrauchen darf, hervorgeht und hervorgegangen ist, aus denen durch eine schiefe, halbe, krankhafte Anwendung auf Dinge des geistigen Lebens die Pedanterei geworden ist und wird. Sie haben aber so mißwachsen und es hat das ungesunde Wachsthum für so lange hinaus sich fest verhärten können, weil zu der Zeit, da Deutschland das Erbe der Wissenschaft und Kunst des Alterthums antrat, die Zustände des Staats und der Gesellschaft eine freiere, größere, höhere Verwerthung unmöglich machten, weil es mehr als damals irgend ein anderes Land, weil es seit dem vierzehnten Jahrhundert schon politisch und sittlich und litterarisch so tief gesunken und in sich selbst zerbröckelt war, daß es in das sechzehnte und in manches dem noch folgende Menschenalter nicht mehr Kraft genug mitbrachte, um ein Ganzes zu erfassen und an dem Großen wieder groß zu werden, sondern nur noch die Befähigung, das Große kleinlich zu behandeln, und eine Geistesarmuth, die bloß von den Aeußerlichkeiten der Form noch berührt ward. Bentley, wäre er ein Deutscher oder ein Niederländer gewesen, kaum ist zu zweifeln, daß seine Gelehrsamkeit und sein Scharfsinn auf den tiefer liegenden Stufen wären stehn geblieben, auf denen damit sein Gegner Peter Burmann12 weilte:

24.3. Text

267

die freiere Luft, das größere Leben Englands hat ihm selbst auch die Größe und Freiheit des Genius verliehen. Dieser verwandtschaftliche Zusammenhang zwischen den Tugenden der Gewissenhaftigkeit und des strengen Ernstes und den Verirrungen der Pedanterei giebt oft genug zu Mißbrauch und Mißdeutung Anlaß. Wie Mancher lehnt unter dem Vorwand, nur Pedantereien abzulehnen, bei einer theoretischen Wissenschaft die Begründung durch Geschichte von sich ab, die der Gewissenhaftigkeit Bedürfniß wäre, und baut, unpedantisch allerdings, ob aber auch mit dem wohlthuenden Gefühl einer ganz erfüllten Pflicht? seine Sätze schimmernd in die Luft hinaus! Wie Mancher auch, dessen Geist für den Geist verschlossen ist, und der nur Augen für die Dinge, nur Sinn für das Handgreifliche hat und Nutzen nur von dem unmittelbar Nützlichen erwartet, dem es deßhalb unbegreiflich bleibt, wozu die Geschichte des Alterthums und des Mittelalters treiben, da Griechenland und Rom und die Heerstraßen der Kreuzfahrer ja außerhalb unseres Gewerbs= und Handelsverkehres liegen, wozu eine Sprache auf ihre Gesetze hin erforschen, da mit Geläufigkeit sie sprechen zu können die Hauptsache sei, wie Mancher, der in solcher Art selbst geistig beschränkt ist, nennt es darum frischweg eine Pedanterei, wenn dennoch jene Geschichts- und Sprachforschung Männern ein mit Ernst, Jünglingen ein mit Eifer verfolgter Gegenstand ihrer Studien ist! Noch ärger aber ist der Mißbrauch, wenn man den Scheltnamen der Pedanterei gradaus auf das sittliche Verhalten selbst überträgt und, um die eigene oder fremde Sittenlosigkeit zu rechtfertigen, von einer pedantischen Moral spricht. Es wäre kein gutes Wort, wenn ein Beamter die Verletzungen seiner Amtspflicht durch Unordnung oder gar durch Untreue, wenn ein Arzt seine mit dem Leben der Kranken spielenden Versäumnisse damit beschönigen wollte, daß er eben kein Pedant sei, und so ist es auch kein gutes Wort gewesen, als die Beschwerde eines Deputirten, wie häufig auf den französischen Eisenbahnen Unglücksfalle vorkämen und wie selten doch auf den deutschen, von dem Minister Guizot damit abgefertigt ward, die Franzosen seien eben nicht solche Pedanten wie die Deutschen. Es ist das freilich wahr, und insbesondere pflegen auch ihre Sprach* und Geschichtsgelehrten und Lehrer keine Pedanten zu sein, aber wie oft nur deßhalb, weil ihnen zugleich der gute sittliche Grund der Pedanterei, der Ernst, die Gründlichkeit, die Gewissenhaftigkeit, abgeht! Und nun ein Wort zu euch, meine jungen Freunde! Habt nicht auch ihr schon einen Lehrer, der es genau mit euch und genau mit der Sache nahm, einen Pedanten geheißen? Habt ihr nicht auch schon das cursorische Lesen zwar noch erträglich, das statarische aber pedantisch gefunden? 13 und eine Pedanterei, wenn ihr angehalten wurdet, von den Spracheigenheiten eines Schriftstellers euch ein Bild zusammenzutragen und in Aufsätzen hübsch Acht zu haben auf Logik und Grammatik? Und vielleicht habt auch ihr nur deßhalb so geurtheilt, weil ihr merket oder meint, daß all diese Einzelheiten selbst und unmittelbar späterhin nicht mehr in eben solchen Betracht kommen. Das heißt, ihr seid der Ansicht, weil im Ernst des Kampfes nicht so genau auf Zollsbreite geschwenkt und von Allen gleichmäßig Tempo für

268

24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868)

Tempo das Gewehr kann geladen werden, so sei das Exercieren den Recruten unnütz und lediglich eine Pedanterei. Allerdings, was ihr jetzo lernt, ihr lernt es alles für eine spätere Freiheit: aber eben deßwegen dürft ihr nicht mit dem beginnen, was ihr jetzt schon Freiheit nennen würdet. Auch das Volk Gottes ist durch das Gesetz für die Freiheit erzogen worden. Also sehet euch vor, daß ihr nicht den unnachgiebig pflichtgetreuen Ernst, womit euch ein Lehrer in der Ausübung seines Berufs entgegentritt, und nicht die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit in Allem, die er hinwiederum von euch verlangt, vorurtheilsvoll und um eurer Bequemlichkeit willen nur als Pedanterei verurtheilet. Sehet aber, wenn auch euer Streben ein ernstes ist, wenn ihr euch des Fleißes und des Gewinnes von eurem Fleiße freut, sehet euch selbst auch vor, daß ihr nicht zu Pedanten werdet. Ein pedantisches Kind mag man noch mit Lächeln betrachten: ein pedantischer Jüngling aber ist nur widerwärtig: er setzt schon Frucht an, da er noch blühen sollte, und die Frucht ist verschrumpft und verkrüppelt schon vor der Zeit ihrer Reife. Erwerbet euch also mit all der sittlichen Freudigkeit, deren die Jugend so beneidenswerth noch fähig ist, erwerbet und sichert euch den Besitz jener Tugenden, der Zierde eures deutschen Geblütes: zugleich aber, damit sie nicht auch euch auswachsen in Pedanterei, haltet von eurem Geistesleben fern die Engbrüstigkeit und die Kurzsichtigkeit; übt an den Alten, die mit glänzenden Mustern täglich vor euch stehn, euren Blick für das Hohe und Große, euren Athem für das weit und frei Bewegte; ergänzt, was euch die Schule nicht bieten kann, noch durch eigenen Fleiß und bereichert euer Wissen und eure Empfänglichkeit nach immer neuen Seiten hin! Tretet an jegliche Wissenschaft ohne Eigendünkel, tretet an sie nur mit der Begier des Forschens heran und stets mit Ehrfurcht, wie vor ein Wunder, das nicht auszuforschen ist: dann wird die Treue auch im Kleinen, die Gründlichkeit in jedem Einzelnen euch der Weg zu dem Ganzen, dann wird auch die unvollständige Kenntniß keine Halbwisserei und die Vielseitigkeit des Wissens keine Vielwisserei sein. Seid Jünglinge jetzt und suchet euch die Jugendlichkeit, das kindliche Gemüth mit der Kraft des Mannes, auch hinüber in das spätere Alter noch zu retten: dann seid ihr jetzt in den Jahren der Blüte bewahrt vor der pedantischen Altklugheit und einst in reiferen auch vor den Kindereien der Pedanten. Und wahrlich, euch davor zu hüten ist euch leichter gemacht als Tausenden eurer Altersgenossen, die unter anderen, engeren Staatsformen erwachsen, deren eigene freiere Entwickelung vielleicht schon durch die Pedantereien eines überall hin verzweigten Schreiberregimentes beeinträchtigt ist, ist euch jetzt leichter, als es uns Aelteren gewesen, wie es uns schon leichter gewesen ist als unseren Vätern. Denn bereits ein Jahrhundert entlang von Geschlecht zu Geschlecht hat unsere Lebenslust immer mehr jenen bösen Dunst ausgesondert. Wie gereinigter ist die Alterthumswissenschaft seit Friedr. Aug. Wolf und wiederum durch Jac. Grimm, die Geschichtschreibung seit Joh. v. Müller und nun bei Ranke, die deutsche Litteratur überhaupt seit Lessing und Herder und Goethe und Schiller! Darum,

24.4. Anmerkungen des Herausgebets

269

w e n n gleichwohl noch in der D ä m m e r u n g des halben Wissens hie und da ein Irrlicht kleiner Pedantereien selbstgefällig tanzt, so soll euch diese Neckerei nur v o r den Gefahren eines verdorbenen Bodens warnen, aber irre leiten darf sie euch füglich nicht mehr.

24.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2

3

5 6

7

8

9

10

Die gern zum Vergleich bemühten Lemminge. Wackernagel vermeidet eine eindeutige Parteinahme im Streit der sprachwissenschaftlichen Schulen. Als vehementer Kritiker der Beckerschen Grammatik, insbesondere ihres Einflusses auf den Schulunterricht, ist sein Bruder Philipp aufgetreten. Siehe dazu und zum gesamten Problemkomplex Grammatik und Schule das vierte Kapitel in Bahner/Neumann: (Bibl. C 2), 2 4 9 - 2 8 1 . „Ein jeder, weil er spricht, glaubt, auch über die Sprache sprechen zu können". So drückt Goethe die gleiche Beobachtung in den „Maximen und Reflexionen" aus (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, 511). Da Wackernagel sich weiter unten gegen die Unart wendet, den eigenen Gedanken „durch ein Citat erst die rechte Bekräftigung" zu geben, kann er sich auch hier nicht auf den passenden Satz Goethes berufen, obwohl er ihm bekannt gewesen sein dürfte. Zum „Bindelaut s" vgl. die Texte von Grimm 1819 und Jean Paul 1825 in diesem Band. Die „Allgemeine Zeitung", 1798 von J. F. Cotta in Tübingen gegründet, seit 1810 in Augsburg ansässig, war das räumlich am weitesten verbreitete Blatt Deutschlands. Zum Zeitpunkt der Rede Wackernagels wurde sie von Gustav Kolb als Redakteur geleitet. Philipp von Zesen (1619 — 1689) machte die erwähnten Verdeutschungsvorschläge in seiner Schrift „Der Heidnischen Gottheiten Vernunft" von 1688; vgl. Herbert Blume: Die Morphologie von Zesens Wortneubildungen. Diss. phil. Gießen 1967. Gemeint wahrscheinlich Heinrich Leo (1799—1878), der in seinem bewegten Leben mit mancherlei Brüchen u. a. als Historiker und speziell Sprachhistoriker tätig war. Um 1854 spielte er als Mitarbeiter der (reaktionären) „Kreuzzeitung" eine nicht unbedeutende Rolle in der Bekämpfung der Bestrebungen um die nationale Einheit. Hier wird Jacob Grimm in die Schar der Pedanten eingereiht. — Zwei Jahre später, 1856, warnt auch Grillparzer vor den Konsequenzen der Einführung einer neuen Rechtschreibung in den Schulen und schließt mit dem Satz: „Man beherzige dies und überlasse die urhochdeutschen Bestrebungen den Phantasten und Pedanten. Es gibt in Deutschland nämlich auch Pedanten des Neuen und, was sonst überall unerhört ist: phantastische Pedanten." Der kurze Text enthält auch den erfrischenden Satz des Konservativen mit Augenmaß: „Wie unsere Altvordern gesprochen und geschrieben haben ist uns höchst gleichgültig, denn sie waren albern und wir wollen uns bemühen gescheit zu sein" (Sämtliche Werke. Hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher. München: Hanser 1964, Bd. 3, 280 f. Johannes Bernhard Basedow (1723—1790) war der Begründer des Philanthropinums in Dessau, das auch in der Geschichte der Sprachpedanterei eine Rolle gespielt hat, waren doch in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts vorübergehend sowohl Campe als auch Kolbe und Wolke dort tätig.

270 11

12 13

24. Wilhelm Wackernagel (1806-1868) Staatliche oder zumindest offiziöse Normierungen der Rechtschreibung gab es in Holland, erheblich früher als in Deutschland, schon während der Amtszeit van der Palms als Unterrichtsminister zwischen 1790 und 1806. In der Jahrhundertmitte wurde eine neue Regelung auf den seit 1849 jährlich stattfindenden „Taal- en letterkundige congressen" erarbeitet. Richard Bentley (1662-1742) und Peter Burmann (1668—1741) waren klassische Philologen. Cursorisches Lesen = fortlaufendes, ununterbrochenes Lesen; statarisches Lesen = abschnittsweises Lesen mit eingeschobenen Anmerkungen und Erklärungen des Lehrers.

25. Heinrich Rückert ( 1 8 2 3 - 1 8 7 5 ) 25.1. Einführende Bemerkungen Heinrich Rückert, der Sohn des Dichters Friedrich Rückert, gehörte wie Rudolf Hildebrand und der an Jahren freilich wesentlich ältere Wackernagel zur zweiten Generation der deutschen Hochschulgermanisten nach Benecke, Grimm und Lachmann, war eigentlich aber Historiker. Er hatte sich 1845 in Jena für Geschichte und deutsche Altertumskunde habilitiert und vertrat als a. o. Professor für Geschichte die ältere Germanistik nur mit. 1852 wurde er zum ordentlichen Professor in Breslau ernannt. Neben der Arbeit an einer Reihe von z. T. mehrbändigen Werken zur deutschen und zur Weltgeschichte betätigte er sich germanistisch als Herausgeber von Texten der mittelalterlichen deutschen Literatur. In der Forschung waren seine Hauptarbeitsgebiete der schlesische Dialekt und die Geschichte der deutschen Sprache. Die Ergebnisse der Sprachgeschichtsstudien veröffentlichte Rückert in seinem Todesjahr 1875 in der zweibändigen „Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache", deren erster Band „Die Gründung der neuhochdeutschen Schriftsprache" und deren zweiter die Zeit „Vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts" behandelt. Das 19. Jahrhundert fehlt also, obwohl Rückert schon elf Jahre zuvor den Aufsatz „Die deutsche Schriftsprache der Gegenwart und die Dialekte" geschrieben hatte, der sowohl das Interesse als auch die nötigen Kenntnisse und Einsichten dokumentiert. Die Gegenwartssprache hatte zu dieser Zeit in wissenschaftlich ambitionierten Büchern und Zeitschriften noch keinen Platz. So ist es nicht zufallig, daß Rückert den genannten Aufsatz 1864 nicht in einem genuin germanistisch-wissenschaftlichen Publikationsorgan erscheinen ließ, sondern in der Cottaschen „Deutschen Vierteljahrs-Schrift". Vom Standpunkt des heutigen sprachhistorisch interessierten Linguisten aus betrachtet, ist Rückerts Aufsatz, zumindest für den, der sich nicht nur mit den zeitgenössischen Reflexionen über die deutsche Sprache, sondern auch mit den Entwicklungen auf der Objektebene vertraut machen will, sicher der sachlich lohnendste des ganzen Bandes. Streicht man die Hoffung auf die deutschen Dialekte im Schlußteil, kürzt hier und da, modernisiert den sprachlichen Ausdruck und reichert man ihn, wenn es denn sein muß, mit etwas linguistischer Terminologie an, so ist nicht einmal der Gedanke ganz abwegig, daß man mit diesem Aufsatz auf einer Tagung heute noch einen diskutablen Beitrag zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts liefern könnte.

272

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

25.2. Literaturhinweise Textvorlage Heinrich Rückert: Die deutsche Schriftsprache der Gegenwart und die Dialekte. In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 27 (1864), H. 3, Abt. 1, 9 0 - 1 3 7 . Weitere Literatur A: Der gegenwärtige Zustand des Unterrichts im Deutschen und sein Verhältnis zur allgemeinen Bildung. In: Deutsches Museum 1865, 850 — 871, 881—899. Die deutschen Mundarten und die moderne Sprachwissenschaft. In: Die Grenzboten 1866, 4 9 - 6 8 . Zur Charakteristik der deutschen Mundarten in Schlesien. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 1869, 1873, 1874 [in Fortsetzungen], Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache. 2. Bde. Leipzig: Weigel 1875. Heinrich Rückert in seinem Leben und seinen kleineren Schriften dargestellt. Hrsg. v. Alexander Reifferscheid und Amelie Sohr. 3. Bde. Weimar: Böhlau 1877-1880. B: Sohr, Amelie: Heinrich Rückert in seinem Leben und Wirken dargestellt. Weimar: Böhlau 1880 [Bd. 3 von: Heinrich Rückert in seinem Leben und seinen kleineren Schriften dargestellt].

25.3. Text Die deutsche S c h r i f t s p r a c h e der G e g e n w a r t und die Dialekte (1864) Wer ohne vorgefaßte Meinung Gegenwart und Vergangenheit des deutschen Lebens vergleicht, kommt zu dem Ergebniß, daß der Zug nach individueller Ausbildung aller seiner einzelnen Richtungen und Momente sich fortschreitend immer kräftiger und entschiedener durchgesetzt hat. Um nur einen raschen Blick auf eine der augenfälligsten Gestaltungen zu werfen: wie anders individualisirt erscheinen doch die deutschen Staaten des neunzehnten Jahrhunderts selbst da, wo sie durch ihre Kleinheit und Zerstücktheit in der Entfaltung des Staatsbegriffes unserer Zeit gehemmt sind, wenn man die analogen Gebilde des Mittelalters dagegen hält. Es ist unmöglich in einem Staatskörper wie Bayern, Hannover, Württemberg, ja selbst wie Kurhessen und Oldenburg ein durchaus individuelles Gepräge zu verkennen, das sich nicht bloß auf einige Besonderheiten in der Administration oder in dem, was man jetzt Verfassung zu nennen pflegt, erstreckt. Es reicht durch alle Schichten des Volkslebens bis hinunter zu den elementarsten Grundlagen des Daseyns und verleiht auch diesen eine Eigenartigkeit, die keine

25.3. Text

273

frühere Zeit in dieser Weise kannte. Ein deutscher Partikularstaat zur Zeit Rudolfs von Habsburg sah in allen Theilen des deutschen Reiches ungefähr so aus wie der andere. Die Lande des Pfalzgrafen am Rhein und die der Weifischen Herzoge in Niedersachsen waren in allem dem, was zum Begriffe „Staat" gehört, damals einander so ziemlich gleich. Was sie von einander unterschied, war die natürliche Geschiedenheit der Lage und der Volksart, die sich ebenso wie in häuslicher Sitte auch in Recht und Einrichtung der kleineren und größeren Kreise des öffentlichen Lebens bethätigte. Wären sie räumlich neben einander gestellt, und folglich den Einwirkungen derselben ursprünglichen Einflüsse unterworfen gewesen, so würde sich ihre ganze Verschiedenheit bloß auf die an sich damals so unerhebliche Besonderheit der Dynastien bechränkt haben. Diese konnte jeden Augenblick beseitigt werden, wie tausend Vorgänge damaliger Zeit darthun, ohne daß die lokale Eigenthümlichkeit der einzelnen Kreise des deutschen Lebens irgend wie davon Notiz zu nehmen genöthigt gewesen wäre, gerade so wie umgekehrt dieselbe Dynastie oder dieselbe fürstliche Persönlichkeit durch die Gunst des Zufalls die verschiedensten lokalen Gebilde zu einer Staatseinheit verbinden konnte, die eben nur in einer Person vertreten war und mit ihr wieder unterging. Unserer Zeit hat sich eine Anschauungsweise immer mehr zu empfehlen gewußt, die in allen Einzelerscheinungen eines lebendigen Organismus nur Aeußerungen eines und desselben zu Grunde liegenden Lebensprincipes erkennt. Der vereinigende Gedanke versteht es, die Starrheit des Besonderen aufzuheben und es nur als Reflex des allgemeinen innerhalb eines bestimmten Materials zu begreifen. Aber diese eigentlich organische Auffassung scheint sich im Bereiche unseres deutschen Volkslebens nicht zu bewähren. Neben seiner immer mehr durchgebildeten Individualisirung steht die Thatsache einer immer stärkeren Consolidirung und Ausgleichung wenigstens in einem Gebiete, dem der Sprache. Es bedarf keiner Begründung, um diesem einen Gebiete seine wahrhaft unermeßliche Bedeutung zuzuweisen. Ist doch jeder Einzelne in die Sprache hineingeboren und empfangt von ihr und durch sie alles, was er als sein eigentliches geistiges oder höheres Leben bezeichnet, was, ehe es in ihr sich zu fester Gestaltung erhebt, bloß als wesenloser Schatten durch die Seele flog oder als ein gestaltloser Keim in der Tiefe des Gemüthes ruhte. Unter allen irdischen Mächten ist sie die umfassendste und kräftigste, die eigentliche Gebieterin des ganzen menschlichen Daseyns, um so mächtiger, je weniger sich das Individuum von selbst bewußt wird, daß es in fortwährender Dienstbarkeit ihren Geboten hingegeben ist. Glaubt doch jedermann die Worte, die er spricht, als sein eigenstes Eigenthum in Anspruch nehmen zu können, oder den stillen Gedanken, der sich der Außenwelt nicht einmal durch eine Veränderung der Mienen verräth. Und doch ist das eine wie der andere nichts weiter als eine Uebertragung schon völlig fertiger Formen auf eine Materie, die sich nur in dieser Formirung lebendig bethätigen kann, die ohne eine solche aber nichts weiter als eine todte Kraft bleiben würde. Ist die Sprache in so eminentem Sinne die Schöpferin und Beherrscherin der geistigen Lebensthätigkeit des Einzel-

274

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

nen und des Ganzen, das sich aus Einzelnem zusammensetzt, so wiegt sie für sich allein mindestens eben so schwer, wie viele andere Momente des Einzel» und Gesammtdaseyns. Mögen diese immerhin sich mehr und mehr individualisirt und zerspalten haben, das feinste und zugleich stärkste Band ist doch unzerstört geblieben, ja es ist im direkten Gegenstz immer fester und enger geworden. Die unzerstörbare Einheit des deutschen Wesens, der innerste Kern seiner unendlichen äußeren Mannigfaltigkeit hat in ihr seinen nächsten und deutlichsten Ausdruck gefunden. Je mehr sich die Vielgestaltigkeit seiner Anlage frei und kräftig entfaltete, desto fester mußte sich jenes Einheitsband ziehen, dessen providentielle Stärke nur selten von der Reflexion gemessen, gewöhnlich nur instinktiv empfunden wird, wie es ja auch nicht durch einen bewußten Willen, durch irgend einen reflektirten Akt, sondern durch die Natur selbst geknüpft und immer fester gezogen worden ist. — Was die Thatsache selbst betrifft, so wird sie eine auch nur flüchtige Umschau im Gebiete der deutschen Sprachgeschichte ohne Mühe begründen, vorausgesetzt, daß sie nicht an sich schon als allgemein bekannt und zugegeben gelten dürfte. Des allgemeinen Verständnisses wegen können wir sie noch näher dahin bestimmen: die deutsche Sprache der Gegenwart ist in ihrer Eigenschaft als Sprache des gesammten schriftlichen und höheren mündlichen Ausdrucks viel gleichförmiger und gleichartiger in sich als in irgend einer früheren Periode im ganzen Laufe der Geschichte des deutschen Volkes. Sie ist aber zugleich auch allgemeiner verbreitet und in massenhafterem Gebrauche als jemals vorher. Setzen wir noch hinzu, daß sie nach beiden Richtungen hin vor unsern Augen in der unmittelbarsten Gegenwart fortwährend in raschem Vorschreiten begriffen ist. Um das erstere zu verdeutlichen, möge sich die Aufmerksamkeit derer, die unserer Darstellung zu folgen geneigt sind, einen Augenblick auf etwas ganz äußerliches und manchen vielleicht unwesentlich scheinendes lenken. Die deutsche Orthographie ist bekanntlich ein Thema, das dem Kundigen wie dem Laien unerquicklich genug dünkt. Ohne über die Berechtigung der Klagen, Vorwürfe und spöttlichen Angriffe hier irgend zu entscheiden, die oft vom entgegengesetzten Standpunkt der jetzt gewöhnlichen schriftlichen Bezeichnung unserer Sprache gemacht zu werden pflegen, weisen wir nur auf die Thatsache hin, daß sich dennoch eine allgemein gültige deutsche Orthographie gebildet hat, von der sich nur Sonderlinge oder Ungebildete abzuweichen erlauben dürfen. Niemand hat ein Gesetz darüber gegeben: keine Macht in der Welt wäre auch stark genug, um eines zu geben, das etwas mehr als bloß momentane Verwirrung erregen könnte, und nichts desto weniger ist das vom Standpunkte des gesunden Menschenverstandes wie der eindringenden Sprachkunde gleich barocke und unsinnige Gemisch, was uns als Norm alles Schreibens gilt, allgemein durchgesetzt worden. Es ist noch nicht lange her und doch schon dem Bewußtseyn der Gegenwart entschwunden, daß jeder deutsche Schriftsteller seine besondere Orthographie in aller Naivetät, ohne jede Spur von eigensinniger Besonderheit haben durfte. Klopstock wollen wir bei Seite lassen: er stand hierin wie in andern sprachlichen Dingen unter dem

25.3. Text

275

Einfluß wohl= und ernstgemeinter, aber sehr ungenügend begründeter Theorien und huldigte ihnen mit dem bekannten Enthusiasmus des Dilettantenthums, das immer nur eine Seite eines Wissens, einer Kunst, und diese nicht einmal scharf zu sehen vermag. 1 Aber Lessing, Wieland, Geliert, ja selbst Goethe und Schiller in den Originalgestalten ihrer Schriften haben jeder für sich, ohne irgend eine Pedanterie, doch ihr selbstständiges orthographisches Gepräge, das zwar im allgemeinen mit der Gewohnheit aller damaligen Druckwerke stimmt, im einzelnen aber an unzähligen Stellen davon abweicht. Warum haben die neueren und neusten Ausgaben unserer Klassiker sich bemüßigt gesehen, von dieser „ächten" Gestalt abzuweichen, die sie ja doch nur einfach zu kopiren gebraucht hätten? Offenbar nicht sowohl deßhalb, weil der allgemeine Charakter der damaligen Orthographie ein veralteter ist — in vielen Stücken ist er z. B. bei Wieland in der Abneigung gegen das eingeschobene h, gegen die Doppelconsonanten IC. ebenso modern wie der unserer gelehrten orthographischen Puristen — sondern weil das Auge des gegenwärtigen Lesers sich gewöhnt hat, die Sprache nur in gleichförmigem Gewände vor sich zu sehen. Jede Abweichung davon erscheint störend, gleichsam als würde dadurch die Einheit des Geistes, welche die stillschweigende Voraussetzung dieser äußerlichen Gleichförmigkeit ist, beeinträchtigt. Freilich läßt auch noch unser gegenwärtiger orthographischer Gebrauch mehr Licenzen zu, wie der anderer Sprachen, z. B. der französischen oder englischen. Theilweise erklärt es sich aus der Geschichte unserer Orthographie, die, wie eben bemerkt, sich erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit zu einem festeren Abschluß bequemt hat, theilweise auch aus der lokalen Zerstreutheit unserer literarischen Thätigkeit. In Deutschland wird fast an jedem irgend namhaften Ort nicht bloß für den nächsten Tagesbedarf, sondern auch im Gebiete dauernder Produktionen geschrieben und gedruckt; in Frankreich und England nur an wenig größeren Orten, eigentlich in Frankreich nur an Einem, in Paris, in England an zwei: in London und Edinburg. Was außerdem gedruckt wird, ist zusammen nicht so viel, als an einem der Verlagsorte zweiten Ranges in Deutschland, z. B. in Jena oder Heidelberg zu Tage kommt. Es versteht sich von selbst, daß bei allem unwillkürlichen Drange nach einer gleichförmigen Gestalt der Druckwerke doch jeder Ort ebenso unwillkürlich seine besonderen Usancen mit sich führt, welche jenem Zuge modificirend entgegen treten. Auf diese Art bieten auch die Bücher von heute und gestern bei uns im Vergleich mit den gleichzeitigen französischen oder englischen eine relative Unstätigkeit der Orthographie. Vergleicht man sie aber mit den vor 50 oder gar 100 Jahren gedruckten, so wird man erstaunen, welche riesige Fortschritte nach der Gleichförmigkeit hin hier ganz von selbst gemacht worden sind. Selbst die bewußten Abweichungen, denen wir in dem autonomen Felde deutschen Schriftthums natürlich noch immer viel häufiger begegnen, als es in England oder gar in Frankreich möglich wäre, tragen im Vergleich mit früher ein charakteristisches Gepräge. Einstmals machte sich jeder Schriftsteller und eigentlich auch jeder Schriftsetzer seine besondere Orthographie aus einem Gemisch von

276

25. Heinrich Rücken (1823-1875)

zufälligem Gebrauche, angelernten Eigenthümlichkeiten und einigen mehr oder minder naiven Theorien über deutsche Grammatik zurecht, ohne gerade die Forderung aufzustellen, damit das allgemein giltige oder eigentlich richtige zu treffen. Man schrieb und druckte so, wie einem der Schnabel gewachsen war, und nahm kein Arg daran, daß andere anders schrieben und druckten, in so ferne sie nur nicht gar zu wunderlich von der idealen Mitte und Regel der allgemein üblichen Rechtschreibung abwichen, die faktisch von niemanden eingehalten wurde. Wer jetzt eine besondere Orthographie führt, thut es immer aus einem bestimmten Systeme heraus, mag sich dasselbe, wie bei manchen deutschen Philologen und Alterthumsforschern, auf die Grundsätze der historischen Grammatik, oder, wie bei verschiedenen Männern der sogenannten pädagogischen Praxis, auf die angeblich lebendige Aussprache des Schriftwortes stützen. 2 In dem einen wie in dem andern Falle wird aber darauf gerechnet und dahin gearbeitet, daß das neue Licht der ganzen Literatur leuchte. Jeder soll ebenso schreiben und drucken, weil nur allein auf diese besondere Art recht geschrieben und gedruckt werden kann. Daß sich der Instinkt der Schriftsprache dadurch nicht beirren läßt, ist schon bemerkt worden, gleichviel ob ihr die neue Norm von einem Großmeister der Wissenschaft oder von einem wohlmeinenden, aber unklaren MAGISTER PEDANEUS octroyirt werden soll. Daß die deutsche Orthographie trotz ihrer schon erlangten Gleichförmigkeit in einer fortwährenden allmähligen Umgestaltung, Vereinfachung und Annäherung an die sprachlich richtigen Formen der Lautgebung des Wortes begriffen ist, ist eine offenkundige Thatsache. Aber sie vollzieht sich ebenso instinktiv, wie sich ihre bisherigen Veränderungen instinktiv vollzogen haben, und jedenfalls immer so, daß die einmal errungene Gleichförmigkeit nicht wieder gestört, sondern noch vollständiger durchgesetzt werden wird. Richten wir unsern Blick noch einmal auf das dornenvolle Gefilde der Orthographie. Es ist noch nicht lange her, als es gewissermaßen für selbstverständlich galt, daß kein noch so gebildetes Frauenzimmer orthographisch schreiben könne. Mit dem Ausdrucke „Frauenzimmer" ist auch diese Ansicht verschwunden, wenn auch die Thatsache selbst noch hie und da richtig befunden werden dürfte. Es gilt jetzt als erstes Zeichen dessen, was man wohl oder übel Bildung zu nennen pflegt, wenn man orthographisch richtig schreibt. Daß selbst ein Goethe niemals mit den Forderungen der Orthographie zu Rande kam, erscheint dem gegenwärtigen Geschlechte fast wie ein Mährchen, und doch legen alle seine handschriftlichen Reliquien, so wie die getreu nach den Originalien abgedruckten Briefe ein unwidersprechliches Zeugniß dafür ab. Wenn unsere vornehmen Leute sich gleiches oder noch stärkeres zu Schulden kommen ließen, so kann man zur Erklärung auf ihre theils ungenügende, theils ausländische Bildungsweise recurriren. Friedrich der Große, dessen größter Ehrgeiz war, so gut französisch zu schreiben, daß ihm seine Pariser Schöngeister keine Sünden gegen die Grammatik und das Lexikon nachzuweisen vermochten, durfte freilich in seinen geschäftlichen deutschen Briefen und Erlassen so schreiben, wie er sprach, und damit eine alte Regel unserer Schule

25.3. Text

277

auf die wunderlichste Weise ins Leben einführen. Gegenwärtig möchte aber auch in den exklusivsten Kreisen der deutschen vornehmen Welt nicht leicht jemand männlichen oder weiblichen Geschlechts gefunden werden, der sich nicht bei'einem unwillkürlich entschlüpften d für t, b für ρ von einigem Schamgefühl anwandeln ließe. Die äußere Vermittelung dieser gründlichen Umänderung liegt vor aller Augen. Es ist der unendlich verbreitetere und bessere Schulunterricht. Aber daß dieser auch auf diese formale Seite der Bildung so viel fruchtbare Mühe wendet, hat einen tieferen Grund. Dieser ist aber kein anderer, als der Instinkt der Zeit, der auch hierin unaufhaltsam nach einer Herrschaft der Gleichförmigkeit in dem sprachlichen Ausdruck drängt. Unsere großen Dichter und Gelehrten des vorigen Jahrhunderts waren meist eben so gut, ja noch besser mit den gewöhnlichen Schulkenntnissen ausgestattet wie wir, aber ihre Schule behandelte die deutsche Orthographie als etwas gleichgültiges, wie es die Zeit überhaupt that, und so sind sie selbst nie zu jener maschinenmäßigen Sicherheit in dieser Orthographie gelangt, die wir jetzt als Frucht der gegenwärtigen Schulmethode schon bei Kindern in dem zartesten Alter antreffen. Wenn unsere Schule früher irgend ein Gewicht auf die Orthographie legte, so verband sich gewöhnlich damit irgend eine Absonderlichkeit. Jeder Schulmonarch wollte seinen Zöglingen nicht bloß eine besondere Hand, sondern auch eine besondere Rechtschreibung als Resultat irgend welcher sprachlichen Grillen aufnöthigen. Daraus erklärt sich zum Theil das buntscheckige in den schriftlichen Denkmalen einer noch nicht lange vergangenen Zeit, so weit darin System und nicht bloß naive Unwissenheit zu erkennen ist. Gegenwärtig werden solche orthographische Marotten sehr bescheiden gepflegt. Sie sind zwar noch nicht ganz verschwunden und werden wohl auch nicht so bald ganz verschwinden, so wenig wie unser Bücherdruck eine bis ins einzelste unabänderliche Gleichförmigkeit der Lautbezeichnung erlangt hat, aber sie stören doch nicht mehr oder höchst selten. Wer in seiner früheren Jugend damit geplagt wurde, streift sie sehr bald ab, wenn er in das wirkliche Leben oder nur in eine andere Umgebung tritt, wo das Ansehen seines Elementarlehrers oder Rektors nichts mehr gilt, und bequemt sich, dem allgemeinen Strom zu folgen, um nicht ausgelacht oder für einen ungebildeten Menschen gehalten zu werden. Früher war es anders, wie man aus einzelnen noch in die Gegenwart hineinragenden Anachronismen sehen kann. Man behielt das was man gelernt hatte bei, weil man es gelernt hatte, und glaubte im besten Rechte zu seyn, wenn man auch hierin auf seiner Eigenartigkeit bestand, deren Erwerb Mühe genug gekostet hatte. Doch verlassen wir diese Aeußerlichkeiten. Freilich sind sie nicht so gleichgültig, als sie gewöhnlich genannt werden, wie eben schon die Thatsache beweist, daß sich niemand ihrem Banne entziehen kann. Die Sprache selbst zeigt genau dieselbe Physiognomie wie ihre Schriftzüge. Was gegenwärtig in Deutschland geschrieben und gedruckt wird, gleicht sich in den Wortformen, in dem Gebrauche der Wörter und Satzfügungen so sehr, wie es niemals früher sich geglichen hat

278

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

und gleichen konnte. Die Vorausset2ung ist leicht zu entdecken. Unsere klassische Literatur ist der Quell, aus welchem alle Späteren schöpfen mußten. Aber diese klassische Literatur selbst zeigt noch wenig von jener uniformen oder vielmehr unisonen Einheit der Gegenwart. Die Individualität ihrer Repräsentanten mag dabei ganz bei Seite gelassen werden: es versteht sich von selbst, daß Klopstock einen andern Styl als Goethe und dieser wieder einen andern als Wieland angeboren haben mußten. Er wäre auch innerhalb einer schon so völlig fixirten Schriftsprache, wie etwa das Französische oder Englische zur Zeit unserer Klassiker war, zum Durchbruch gekommen. Wir meinen etwas ganz anderes, was sich ebensowohl bei den Heroen unserer Literatur, wie bei den geringsten Schildknappen findet, und bei den letzteren noch ausgeprägter als bei den ersteren. Es ist der Einfluß einer besonderen örtlichen Umgebung, mit einem Worte des Dialektes, der sich neben dem allgemein gültigen Grundton der Sprache überall durchhören läßt. Selbstverständlich haben alle die, welche für die ganze Nation schrieben, auch damals sich allen deutlich machen wollen und ihre Sprache so formirt, wie sie dieß am besten erreichen zu können glaubten. Was sie an dialektischen Eigenthümlichkeiten mit fortführten, drängte sich fast ohne Ausnahme unwillkürlich ein; selten daß damit eine besondere Wirkung beabsichtigt wurde. Nun werfe man einen Blick auf die Jugendschriften Schillers, die von den stärksten schwäbischen Idiotismen wimmeln, freilich nicht in den jetzt handgerecht gewordenen Drucken, sondern in ihrer Originalgestalt, die den meisten heutigen Gebildeten barock genug erscheinen würde, wenn sie je Gelegenheit haben, sie in die Hand zu nehmen. Und damals war doch schon ein gewisser Kanon des schriftlichen Ausdrucks stillschweigend durchgesetzt, wenigstens in dem Bildungskreise, dem Schiller angehörte, in dem protestantischen. Klopstock und Geliert hatten sich mit vollem Bewußtseyn bemüht, alle lokale Beschränkung aus ihrer Sprache und damit aus der Sprache der Zeit, auf die beide unter allen am meisten wirkten, zu entfernen. Aber beide haben es nicht allzuweit darin gebracht. Klopstock in seiner ächten Gestalt bedarf für den heutigen gebildeten Leser recht wohl eines fortlaufenden sprachlichen Commentars, wenn er sich nicht mit dem allgemeinen Verständniß des Gefühls begnügt, sondern sich über die Schärfe des einzelnen Ausdrucks Rechenschaft geben will. Ein Theil seiner Eigenthümlichkeiten stammt von der Zeit überhaupt; es ist unterdessen abgestorbenes Sprachmaterial, das nur auf gelehrtem Wege wieder belebt werden kann. Ein Theil gehört dem autonomen Gestalten des Dichters selbst an, der sich weniger mit Geschick als mit Kühnheit neue Bahnen auf dem Sprachgefilde zu öffnen suchte, aber der bei weitem größte Theil ist doch den unwillkürlichen Einflüssen der lokalen Umgebung zuzuweisen. Es sind nicht geradezu Elemente der Volkssprache, in die sich Klopstock getaucht hätte; diese blieb ihm bei seiner allgemein kühl vornehmen Haltung immer fremd. Vielmehr hat der Einfluß gewisser socialer Kreise des damaligen norddeutschen Lebens, besonders der Hamburger besseren Gesellschaft, ihr eigentliches Material gegeben, das selbst wieder erst durch mancherlei Umformungen aus der gerade hier so weit von der höheren

25.3. Text

279

und gebildeten Sprache abstehenden Lokalmundart stammt. Nichts desto weniger ist auch in dieser sehr abgeleiteten Gestalt der allgemeine Eindruck des lokal Norddeutschen in Klopstocks Sprache ein viel mächtigerer, als er bei einem heutigen Schriftsteller seyn würde, der unter gleicher äußerer Umgebung schreibt. Aehnlich verhält es sich mit Geliert, obwohl sich dessen sprachliche Eigenthümlichkeit weniger in seinem individuellen Reichthum als in einer gewissen Armuth und Kahlheit zu erkennen gibt, die man keineswegs dem Schriftsteller allein zurechnen darf. Sie liegt vielmehr in dem Sprachidiom, in das er nothwendig sich fügen mußte, dem damaligen Meißnischen oder speciell dem Leipziger gebildeten Dialekt. Was Geliert noch an frischer Naturwüchsigkeit aus seiner beinahe ländlichen Heimath mitbrachte, opferte er dem damals kanonischen Ansehen der großstädtischen Ausdrucks weise. Somit ist auch er unter die Herrschaft eines lokalen oder dialektischen Einflusses gerathen, der sich freilich damals mit der Anmaßung hervorthat, die eigentlich „reinste" deutsche Sprache und mustergültig für den mündlichen und schriftlichen Gebrauch zu seyn, wie es besonders Gottsched seinen neuen Landsleuten und dem übrigen Deutschland einzureden versucht hatte. Daß man damals und zum Theil noch viel später an einer solchen Vorstellung haften konnte, ist charakteristisch genug. Ohne Zweifel haben jene mitteldeutschen Landschaften, wozu auch Meißen und Leipzig gehört, zu einer gewissen Zeit einen großen Einfluß auf die deutsche Schriftsprache geübt. Es war dieß während und unmittelbar nach der Reformation, wo dort so viele und so wichtige geistige Interessen das Centrum Wittenberg oder vielmehr Luthers Persönlichkeit und der nächste Kreis seiner Genossen vereinte. Was Luther der deutschen Schriftsprache geworden ist, darf als allgemein bekannt angenommen werden. Es ist das einzige Verdienst dieses eminenten Mannes, das in der ganzen deutschen Nation anerkannt und geehrt wird, und die Zeit, wo obscure katholische Scribenten auch auf Luthers Sprache Koth werfen durften, ist für immer vorbei. Merkwürdig genug, daß es gerade sein Verdienst um das einzige unbestreitbare und zugleich festeste Einheitsband der Nation ist, was nicht angetastet werden kann. In wie weit nun Luther selbst von der Sprache seiner Heimath abhängig war, gehört nicht hieher. Es ist dieß eine noch nicht genügend erörterte wissenschaftliche Frage, die nicht mit einigen Worten, sondern mit sehr mühsamen und umfassenden Untersuchungen gelöst werden kann. Jedenfalls steht aber so viel fest, daß die von Luther ausgehende Schriftsprache nirgends festere Wurzeln schlug und sich rascher verbreitete, als in seiner örtlichen Heimath. Die obersächsischen Prosaiker und Dichter des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts sind diejenigen, welche meist mit vollem Bewußtseyn der Sprache Luthers am genauesten folgen. Anderwärts hat wenigstens so weit, als das Lutherthum oder die Reformation überhaupt durchdrang, seine Sprache wohl auch eine stätige Wirkung ausgeübt. Ist doch selbst in der deutschen reformirten Kirche überall seine Bibelübersetzung in Gebrauch gekommen. Wo man auch nicht sich so rasch daran gewöhnen konnte, die heimischen E i g e n t ü m lichkeiten der Sprache aufzugeben, wie sie namentlich im südlichen und westlichen

280

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

Deutschland länger hafteten als im nördlichen, erkannte man doch die Norm der Sprache Luthers an. Allmählig setzte sich diese durch eine halb bewußte, halb naive Escamotage von Seite der zunächst Betheiligten in das Meißner Deutsch um, und so that Gottsched eigentlich nichts weiter, als daß er nach seiner Art derb und aufdringlich das aussprach, was alle glaubten, Meißen, speciell Leipzig sey der wahre Sitz der deutschen Schriftsprache. Damit ist aber zugleich zugestanden, daß anderwärts nicht dieselbe reine Sprache herrsche. Auch das stimmt mit der Wirklichkeit. Noch während und unmittelbar vor Gottsched schrieb man in Schlesien, in Hamburg, in Württemberg, in der Schweiz ein Deutsch, das ohne alle feindliche Rancune und Polemik gegen die theoretisch zugegebene Suprematie des Meißnischen doch sich seiner Selbstständigkeit bewußt war und blieb. Neben dem einen lokalen Kreis also noch eine ganze Reihe anderer, die alle auf der Basis uralter Spracheigenthümlichkeiten oder Volksdialekte ruhten, wenn gleich sie sich weit über das Niveau bloßer Volksdialekte erhoben hatten. Heutzutage ist der Vorzug des Meißnischen Dialektes ein verklungenes Mährchen. Adelung war der letzte namhafte Mann, der noch daran glaubte, hauptsächlich auch nur, weil er Oberbibliothekar in Dresden war. 3 Daß sein ehrwürdiger Scheitel für unser Geschlecht mit einer Aureole der Lächerlichkeit umgeben ist, rührt ohne Zweifel mit von seiner eifrigen Leidenschaft für die Schönheiten seines heimischen Idioms her, die schon damals von allen Seiten mit ernsthaften und spöttischen Angriffen bestritten und herabgesetzt wurden. Man schlug im naturnothwendigen Contrast zu früher den entgegengesetzten Weg ein und erklärte die Meißnische Sprache für das schlechteste, albernste und häßlichste aller deutschen Idiome, eine Ansicht, die auch gegenwärtig noch ihre Vertreter findet. Jedenfalls kommt es jetzt niemand in den Sinn, den eigentlichen Muttersitz der deutschen Kultursprache dahin oder dorthin verlegen zu wollen, weder an die Ufer der Elbe, noch an die der Pleiße, oder der Spree oder der Leine. Eingeborene, die niemals über das Weichbild ihrer Heimath hinausgekommen sind oder von dem, was jenseits liegt, nichts gesehen und gehört haben, wenn sie auch, wie jetzt allgemein üblich, ihre verschiedenen großen und kleinen Eisenbahntouren pflichtmäßig abgefahren haben, pflegen sich wohl noch in der Abgeschiedenheit gemüthlicher Stammkneipen mit den Vorzügen ihrer Sprache zu brüsten, wenn zufallig einmal ein anderer Laut als der in ihrem Ohre allein berechtigte sich vernehmen läßt, aber sie besitzen doch so viel richtigen Instinkt, um sich erst vorsichtig umzusehen, daß sie nur von ihresgleichen gehört werden können. In der That steht die Sache so, daß an jedermann in jedem Theile Deutschlands die Forderung gestellt wird, eines oder vielmehr des einen vollkommen richtigen schriftlichen Ausdrucks mächtig zu seyn. Die besondere Heimath gibt weder ein Anrecht auf eine Besonderheit der Sprache, noch weniger entschuldigt sie direkt oder indirekt eine solche. Es ist gegenwärtig unmöglich, einem deutschen Schriftsteller von einiger Bildung seine Heimath in seiner Sprache abzusehen. Der Hamburger schreibt ebenso wie der Berliner, der Berliner wie der Frankfurter, der Frankfurter wie der Züricher. Was dem Einzelnen

25.3. Text

281

Eigenthümliches zugehört, haftet nicht an seiner Heimath, sondern an seiner Person, natürlich im weitesten Sinne des Wortes, wenn er nicht vorsätzlich sein lokalmundartliches Element pflegt und hervorkehrt. Früher wollte jeder Schriftsteller sich einer allgemein gültigen oder der allgemein gültigen Sprache bedienen, aber die Macht der lokalen Einflüsse war noch so groß, daß er sie trotz seines Willens nicht zu bewältigen vermochte. Jetzt steht die Sache umgekehrt. Jetzt muß sich jeder Gebildete, der die Feder ansetzt, Mühe geben, irgend etwas Lokalmundartliches in seine Sprache zu bringen, denn von selbst fließt ihm nur das ganz und gar von aller Lokalität gelöste Schriftdeutsch aus der Feder. Daß dieß so geworden, ist das Resultat unserer klassischen Literaturperiode, welches der nach sprachlicher Einheit strebende Instinkt des deutschen Volkes gezogen hat. Alle unsere klassischen Heroen, selbst Lessing nicht ausgenommen, obgleich es für ihn unter allen am wenigsten gilt, sind noch stark landsmannschaftlich oder mundartlich gefärbt, aber die nationale Bildung hat dieß Element in ihnen ganz beseitigt und mit staunenswerther Energie und Consequenz bloß das allgemein gültige, so zu sagen das abstrakt schriftdeutsche herausgenommen und dieß zu ihrem Wirthschaftskapital gemacht. So sind sie es gewesen, die alle jene lokalen Kreise, in welche das Leben der deutschen Sprache von ihnen gepfercht war und denen sie selbst noch theilweise angehörten, gesprengt haben. Sogar jene noch im vorigen Jahrhundert unübersteigliche Mauer, welche die Sprache des protestantischen von der des katholischen Deutschlands trennte, ist seit dieser Zeit gefallen. Wie lange sie noch stand und wie schwer es hielt sie niederzuwerfen, davon gibt die erwachende literarische Thätigkeit in Oesterreich und Bayern etwa seit 1750 interessante Zeugnisse ab. Ihre Pfleger bemühten sich im Gegensatze zu dem alten vom Klerus und besonders den Jesuiten sorgfaltig genährten Glauben, daß Luther wie die Kirche so auch die Sprache verdorben habe und daß jeder, der wie die Nachtreter Luthers, d. h. alle Protestanten schriebe, eine doppelte Ketzerei begehe, ebenso zu schreiben wie ihre bewunderten Muster, die alle Protestanten waren. Dieß möchte auch gegenwärtig noch das einzige Gebiet deutscher Zunge seyn, auf welchem die Schriftsprache wenigstens einen Schatten landschaftlicher Eigenthümlichkeit bewahrt, wenn er gleich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr sich verflüchtigt. Für ein feineres Ohr ist es noch jetzt möglich, ein aus Oesterreich stammendes literarisches Erzeugniß von der sonst unisonen Masse aller übrigen deutschen Schriftwerke herauszuhören, obwohl es schwer halten dürfte, die dem Gefühl untrüglichen Entscheidungsgründe auf Begriffe und Worte zu reduciren. Wir reden nicht von jenem seltsamen officiellen Style, der nicht bloß in den Kanzleien untergeordneter Behörden in Deutschösterreich anzutreffen ist und seinen Ursprung direkt auf die Sprachmengerei und Sprachverdrehung nach dem dreißigjährigen Kriege zurückführt. Dieß komische Produkt ist auch im übrigen Deutschland noch nicht ganz zu Grabe getragen, obwohl auch hierin, gleichfalls zum Zeichen der immer weiter vordringenden Herrschaft einer allgemein gültigen Schriftsprache, die weder lokale noch sociale Schranken anerkennt, im Laufe des

282

25. Heinrich Rücken (1823-1875)

letzten Menschenalters gewaltig aufgeräumt worden ist. Und zwar ist es, wie man zu sagen pflegt, ganz von selbst geschehen. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat sich eine ziemlich umfangreiche Literatur die Bekämpfung der schnörkelhaften, unverständlichen und widersinnigen Kanzlei» und Gerichtssprache zur Aufgabe gemacht, die Alles, was vom Standpunkt der gesunden Vernunft dagegen gesagt werden konnte, sagte. Indessen waren ihre Erfolge kaum der Erwähnung werth. Unsere Kanzleien und Gerichte orakelten in allen deutschen Landen nach wie vor in ihrem barbarischen Halblatein. Nachdem die literarischen Angriffe aufgehört hatten, hat einfach die Macht der Verhältnisse selbst, das schrankenlose Vordringen der gleichartigen Schriftsprache das ganze Palissadenwerk unserer älteren Bureaukratie beseitigt, so daß mit kaum nennenswerthen Ausnahmen, wovon die bedeutendsten eben in jenen südöstlichen Landschaften gefunden werden, jede deutsche Behörde in jedem Theile Deutschlands ungefähr ebenso gut oder schlecht deutsch schreibt, als die andere. Auch dort wird es sich voraussichtlich gegen die unsichtbare, aber unwiderstehliche Gewalt der Sprache, die ganz Deutschland überspannt, nicht zu halten vermögen, so wenig wie jener specifische Bodengeschmack der österreichischen Literaturerzeugnisse in Prosa und Versen länger als noch einige Jahrzehnte haften wird. Sehen wir von der Gegenwart ab, so hat die ganze Vergangenheit unserer deutschen Schriftsprache nur in einer einzigen kurzen Periode eine ähnliche Tendenz der Ausgleichung und Beseitigung aller lokalen Einflüsse bekundet. Die Sprache der ritterlichen Kulturwelt, des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, das sogenannte Mittelhochdeutsch läßt sich in dieser Hinsicht, sowie in mancher andern, einigermaßen mit der Schriftsprache der Gegenwart vergleichen. Auch das Mittelhochdeutsch ist, wie die Kultursprache unserer Zeit, ein wesentlich literarisches Produkt, der Niederschlag großer schöpferischer Talente, eines Veldeke, Hartmann von der Aue, Wolfram von Eschenbach. Wie unsere moderne Sprache die Voraussetzung in sich trägt und sie auch nahezu erfüllt, überall in Deutschland auf gleiche Weise gehandhabt zu werden, wie sie keine lokale Beschränkung kennt und anerkennt, so auch jenes um so viel zierlichere Schriftdeutsch des dreizehnten Jahrhunderts. Unter den Musensitzen damaliger Zeit sind nicht bloß Burgen und Schlösser in Schwaben, oder an den gesegneten Ufern des Rheins und der Donau, sondern auch das ganze niederdeutsche Flachland ist damit übersäet bis zu den Ufern der Ostsee, ja sogar weit über die Grenzen hinaus, in denen das Deutsche damals als Volkssprache herrschte. Die Vertreter dieser Literatur gehören allen möglichen Stämmen und Dialekten an, und es kann als das Ziel, das sie sich selbst in Hinsicht auf ihre sprachliche Technik gesetzt haben, angesehen werden, daß sich aller landschaftliche Beischmack verwischte und es ganz unmöglich würde, den Süddeutschen von dem Norddeutschen, den Rheinländer von dem Oesterreicher zu unterscheiden. Wenige haben dieß Ziel vollständig erreicht, und hierin liegt ein wesentlicher Unterschied von der Gegenwart. Aber es will z. B. doch noch immer nicht gelingen, die eigentliche Heimath eines der größten Vertreter damaliger

25.3. Text

283

Sprachkunst, des Walther von der Vogelweide, bloß aus seiner Sprache selbst zu ermitteln, da andere sichere Anzeichen dafür nicht vorhanden sind. Gleich bedeutende Autoritäten setzen ihn aus sprachlichen Gründen entweder nach Oesterreich oder nach Franken oder nach Schwaben. Ebenso ist in dem Dichterschwarm der sogenannten Minnesänger gar mancher urkundlich ein ächter Niederdeutscher, der, wenn wir bloß ihn singen hörten, uns so gut wie ein anderer für einen Rheinländer oder Schweizer gelten könnte. Dennoch darf den unterscheidenden Momenten zwischen damals und jetzt ihr Recht nicht verkürzt werden. Es ist immer nur eine Ausnahme, was jetzt als Regel gilt, wenn ein deutscher Schriftsteller jener Zeit — falls man den in vieler Hinsicht so ungeschickten Ausdruck Schriftsteller für jene Zeit anwenden darf — sich aller heimathlichen Reminiscenzen in seiner Sprache völlig, oder richtiger gesagt beinahe völlig zu entäußern vermochte, obgleich alle, die damals um den Preis in der schönen Literatur rangen, sich darnach mit vollem Bewußtseyn bemühten. Jeder wollte die reine „höfische" Sprache reden und schreiben, aber dennoch läßt sich für ein heutiges, durch genauere historische Sprachstudien geschärftes Ohr und Auge gewöhnlich bald erkennen, ob diese ideale höfische Sprache aus dem Munde eines Schwaben oder Schweizers, eines Bayern oder Oesterreichers, eines Thüringers oder Meißners, eines Niederrheinländers oder Westphalen, eines Sachsen oder Pommern tönt. Was unsrer gegenwärtigen Literatursprache ein so festes Relief gibt, die scheinbare Aeußerlichkeit einer geregelten Orthographie, war damals aus verschiedenen Gründen lange nicht so entschieden fixirt. Lasse man sich nicht durch unsere kritischen Ausgaben mittelalterlich deutscher Literaturwerke beirren. Diese zeigen eine beinahe ebenso constante Schreibung, wie man sie heute in unsern Büchern und in den Schriften aller Gebildeten findet. Schade nur, daß diese Regelrichtigkeit ein Kunstprodukt moderner Sprachgelehrsamkeit ist: Jakob Grimm, Benecke und Lachmann sind die Schöpfer derselben, und alle späteren haben es vorgezogen, die Straße dieser großen Meister zu gehen, statt auf eigene Hand den oft sehr verworrenen Pfaden der Originalhandschriften nachzuspüren. Man muß auf die meist ausführlich verzeichneten Lesarten recurriren, wenn man den wirklichen Schreibgebrauch jener Zeit und zugleich sein gegen heute fast regelloses Schwanken kennen lernen will. Wer aber weiß, welche Macht die Form, auch wenn sie nur die äußerlichste Hülse ist, über den Stoff übt, den sie umschließt, wird schon daraus abnehmen können, daß die Gleichartigkeit der damaligen Schrift* oder Literatursprache nach anderem Maßstab gemessen werden muß, als die der heutigen. Damals ist sie ein ideales Ziel geblieben, das wenige, vielleicht keiner ganz erreicht hat, heute ist sie die gleichsam natürliche Basis, von der jeder ausgeht, der eine Feder ansetzt, der sich allgemein verständlich und gebildet ausdrücken will. Unsere Schriftsprache hat sich das ganze Geistesgebiet unterworfen, das überhaupt von der Sprache beherrscht werden kann. Sie ist ebensowohl die Sprache

284

25. Heinrich Rücken (1823-1875)

des Kothurns, wie die des Soccus, der Geschichtschreibung wie der physikalischen Demonstration, der geistlichen Rede wie des gerichtlichen Plaidoyers. Die Sprache des dreizehnten Jahrhunderts beschränkte sich eigentlich nur auf die Poesie, und noch dazu auf eine im Wesen sehr engbegrenzte Art von Poesie. Selbst das Epos, wenn es sich aus einem gewissen Kreise von Motiven und Darstellungsmitteln herauswagte, konnte nicht mehr vollständig von der Sprache der höchsten Bildung umspannt werden. Der Beweis dafür liegt in den Nibelungen vor Augen. In ihrer jetzigen Gestalt sind sie unzweifelhaft das Produkt eines Dichters oder Literaten, der sich vorgesetzt hatte, auch diesen epischen Stoff in den klassischen Formen der Zeit zu behandeln. Aber so wenig wie er die eigentlich unklassische Strophe los werden konnte, weil sie für seine Kraft zu fest mit dem Stoffe verwachsen war, ebenso wenig reichten die Sprachmittel der eigentlich höfischen Diction ihm aus. Er mußte wohl oder übel vieles einfließen lassen, was den gebildeten Kennern seiner Zeit als Rohheit der Sprache galt, während er doch, da wo es ihm der Stoff möglich machte, zeigt, daß er der polirten Eleganz der eigentlich klassischen Sprache ebenso gut wie tausend andere Kunstgenossen seiner Zeit mächtig gewesen ist. So bald die Lyrik, das Schoßkind damaliger Kunst, sich etwas natürlicher gehen lassen wollte, sprang auch sie über die engen Grenzen der klassischen Sprache hinüber. Kein Zweifel, daß die unläugbare Eintönigkeit jener Poesie zum Theil nur durch die eigenthümliche Beschränktheit der Sprache verursacht wurde. Denn diese blieb, was sie in ihrem lebendigen Ursprünge war, eine Coteriesprache der höheren gesellschaftlichen Kreise, die, weil sie mit den Standesgrenzen des Ritterthums im allgemeinen zusammenfallen, mit Recht als ritterliche, mit demselben Rechte aber auch als höfische bezeichnet werden. Was dem natürlichen Interesse dieser so eng begrenzten Volksschichte homogen war, das vermochte auch ihre Sprache darzustellen, ebensowohl im mündlichen Verkehr, wie in seinem Gegenbilde, der Literatur. Diese aber kann trotz ihres massenhaften Auftretens doch nur für eine Ergänzung jenes angesehen werden, während sich jetzt das Verhältniß thatsächlich umgedreht hat. So wenig die ritterliche Gesellschaft Neigung und Beruf hatte, sich mit wissenschaftlichen Studien zu beschäftigen, so wenig war auch ihr Produkt und Eigenthum, die Sprache, dazu befähigt. So eng begrenzt das Herrschaftsgebiet jener Sprache des Ritterthums in der berührten Sphäre war, es erstreckte sich auch nicht sehr weit, wenn man eine Zählung der wirklich ihr angehörigen Individuen anstellen wollte oder könnte. Auch hierin hat die gebildete Sprache unserer Zeit Eroberungen gemacht, die noch jeden Tag durch neue und größere überboten werden und allen Maßstab der Vergleichung mit früher aufheben. Das mächtigste äußere Vehikel ist die Schule auf der einen Seite, auf der andern die politische Tagespresse. Eines wie das andere ist eine Schöpfung dieses Jahrhunderts, und fällt gewiß nicht bloß durch Ungefähr zusammen mit der allmächtigen Gewalt unserer klassischen Literatur. Was vorher in beiden geleistet war, verhält sich zu dem Jetzt wie der Handelsverkehr auf den altherkömmlichen Landstraßen des vorigen Jahrhunderts zu den Eisenbahnen

25.3. Text

285

unserer Tage. Wären es nur die höheren Schulen, deren Einfluß in Betracht käme, so würde wenig Gewicht darauf zu legen seyn. Auch sie haben sich, es ist wahr, dem Zuge der Zeit nicht verschließen können, und, wenn auch ungern, der Pflege der Muttersprache eine gewisse Berücksichtigung angedeihen lassen müssen. Doch haben sie bisher im Durchschnitt sich mit dem Minimum begnügt. Vergleicht man, was anderwärts in ähnlichen Anstalten, z. B. in den französischen Gymnasien und Lyceen im Fache der nationalen Literatur und Sprache geleistet wird oder werden soll, so repräsentiren unsere deutschen höheren Schulen, namentlich die sogenannten gelehrten, noch immer den Typus einer längst beseitigten Periode der Bildung, wo sich Alles auf die alten Sprachen bezog. Uebrigens würde auch, selbst wenn an diesen Stellen noch weniger geleistet würde, dieß von keinem besondern Einfluß auf das Ganze seyn. Die relativ geringe Zahl der in ihnen gebildeten Schüler gehört durch Herkunft und Lebensstellung denjenigen Kreisen der Gesellschaft an, die auch außerhalb der Schule fortwährend und überall von der Allmacht der Schriftsprache beherrscht und bedingt werden. Was die Schule in dieser Hinsicht versäumt, wird ganz von selbst durch das Leben gelernt, oder gewöhnlich schon in die Schule mitgebracht. Kein Philologe, Theologe, Jurist, Mediciner unserer Tage kann, selbst wenn er nur auf die Bildung seines Faches Anspruch macht, diese erwerben und als damit ausgestattet gelten, wenn er nicht das unentbehrliche Medium, einen möglichst gewandten Gebrauch der Schriftsprache, sich angeeignet hat Die Zeit ist zwar noch nicht lange, aber doch völlig und für immer vorbei, wo ein elegantes Latein die Schäden und Mängel des deutschen Ausdruckes decken und übertragen durfte. Es wird zwar auch noch Latein genug in Deutschland geschrieben, wenn gleich nicht gerade häufig ein sogenannt elegantes, aber man setzt voraus, daß jeder, der es schreibt, mindestens eben so gut auch deutsch zu schreiben verstehe, und diese Voraussetzung allein, die gar nicht weiter diskutirt wird, zwingt jeden, sich ihr zu fügen. Unser Hauptaugenmerk muß auf die Volksschule gerichtet seyn. Ihr Netz umspannt ganz Deutschland ungefähr auf gleiche Weise, und seine Maschen werden täglich enger. Es wird viel und gewiß nicht mit Unrecht über die Sprachpedanterie, die sich hier zum Theil eingebürgert hat, geklagt und gespottet. 4 Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Sprachkunde aus sind die Theorien, unter deren Einfluß sich die Praxis unserer Volksschule gestaltet hat und noch befindet, leicht in ihrer ganzen Blöße und Einseitigkeit darzustellen, mag nun Wurst oder Becker das Licht dazu hergeben. 5 Doch kommt es darauf nicht an, wenn es sich darum handelt, den praktischen Einfluß der Schule auf die Sprache zu betrachten. Es wird selten einen der jetzigen Generation unserer Elementarlehrer angehörigen Mann geben, der es sich nicht zur Pflicht gemacht hätte, den schriftdeutschen Ausdruck nicht bloß bei den Aufgaben des eigentlichen Unterrichts, dem Lernen und Aufsetzen der verschiedenen Memorirstücke, den eigenen Erklärungen und Fragen, den regelrechten Antworten der Schüler möglichst durchzusetzen, ohne Rücksicht auf die Hindernisse, welche die häusliche Gewöhnung oder die Besonderheit der Landes= und

286

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

Ortsmundart entgegenstellt. Der Lehrer versucht es auch, über den Kreis der Schule hinaus auf seine Schüler zu wirken, und schärft ihnen das Gebot, richtig zu sprechen, mit demselben Nachdruck ein, mit welchem gute Sitte und anständiges Betragen zu Hause und auf der Straße der Jugend geboten wird. Mag nun die Natur immerhin durchbrechen und namentlich die ländliche Schuljugend das Gebot des richtigen Sprechens im Drange des Straßen= und Feldlebens jeden Augenblick vergessen oder zum mindesten aufs Wunderlichste verpfuschen: in jedem Falle bleibt doch das Postulat selbst mit allem Nachdruck vor dem Geiste des Kindes aus dem Volke stehen. Es glaubt daran, wie an die andern sittlichen Postulate, welche der Lehrer stellt. Es hat keine Ahnung, daß es nur eine rein formale Forderung ist, wohl aber hört es sich von allen denen, an deren Beifall ihm gelegen ist, loben, wenn es auch noch so ungeschickte Versuche macht, seine in der Schule erlernte richtige Sprache auch im Hause zu verwerthen. Wer unter dem Volke gelebt hat, weiß, daß nur in den seltensten Fällen der heimische Dialekt noch als eine Art von Ehrensache auch den Kindern dieser Tage ans Herz gelegt wird. In den verschiedensten Theilen Deutschlands sind uns selbst tausende von Fällen begegnet, in welchen die Eltern, die sich selbst aus einem von ihnen gewöhnlich oft und laut beseufzten Mangel an Schulbildung nicht zu einer „richtigen Sprache" erheben konnten, wenigstens alles thun, was sie verstehen, um ihre Kinder mit diesem Schatze zu versehen. Daß sie ein richtiger, auch praktisch richtiger Instinkt dabei leitet, ist keine Frage, so wunderlich und befangen auch oft die dafür laut werdenden Motive seyn mögen. Die wachsende Ausbreitung des Zeitungslesens verdiente wohl von einem Kulturhistoriker nach allen ihren schon merkbar gewordenen umbildenden Einflüssen auf unser Volksleben dargestellt zu werden. Es würde ein Bild von größtem sittengeschichtlichem Interesse geben. Hier haben wir nur eine Seite herauszugreifen, die Beziehung zwischen dieser Tagesliteratur und der Volkssprache. Es ist bemerkenswerth genug, daß man nirgends in Deutschland auf den so nahe liegenden Einfall gerathen ist, politische Blätter für den gemeinen Mann auch in der Sprache des gemeinen Mannes, im Volksdialekt zu schreiben. Was derartiges versucht wurde, hatte immer nur eine ganz momentane Bedeutung, diente irgend einer Agitation besonders aufgeregter Perioden und verschwand damit, oder es war von vorneherein nicht zur politischen Belehrung, sondern zu humoristischen Zwecken bestimmt, wozu sich der Dialekt am besten eignet. Unsere eigentliche politische Tagespresse, auch die Blätter, die nicht bloß dem Namen, sondern auch der That nach, in die untersten Schichten des Volkes und gegenwärtig schon in die verstecktesten Winkel unserer Gebirgsthäler, Heiden und Mooreinöden dringen, schreiben alle das allgemeine Schriftdeutsch und thun sich etwas darauf zu gute, es in seiner vollen Reinheit zu schreiben. Weist man ihnen eine Sünde dagegen nach — was freilich nicht sehr schwer ist, da der größere Theil des hier gedruckten aus der Feder von Leuten stammt, deren Anspruch auf Bildung, selbst im jetzt geläufigen Wortsinn, ziemlich zweifelhaft ist — so schämen sie sich, oder läugnen, oder gerathen in

25.3. Text

287

Zorn, je nachdem sich das eine oder andere am besten schickt, fast eben so sehr, als wenn man ihnen einen Verrath an ihrem politischen Credo nachgewiesen hätte. So dringt der schriftmäßige Ausdruck durch tausend und aber tausend Adern in Theile des Volks hinein, die sonst keine andern Bücher, als höchstens die Bibel zu sehen bekamen.Diese wurde höchstens alle Sonntage einmal aufgeschlagen und dann mehr andächtig beschaut als gelesen; die Zeitung liest man alle Tage, oder wenigstens die Woche einigemale, und schon ist es überall dahin gekommen, daß nicht mehr eine Zeitung einem Orte genügt, sondern es werden selbst in den kleinsten Dörfern mehrere gehalten, die dann auch in ganz natürlicher Folge allmählig eine neben der andern von denselben Leuten gelesen werden, die ohne sie wahrscheinlich schon lange vergessen hätten, daß sie einmal in der Schule lesen gelernt haben sollten. Doch ist es damit nicht allein gethan. Das überall wachsende Interesse für politische Angelegenheiten verbreitet das politische Diskutiren oder Kannegießern immer weiter. Es mag zunächst nicht viel für die Bildung und Moralität der untern Volksklassen dabei herauskommen, wenn das, was die Zeitung eben gebracht hat, von einem Leser dem andern fast mit denselben Worten wiedererzählt und mit einem Commentar versehen wird, der seine Gedanken aus dem schon überall eingebürgerten Leitartikel ausschließlich entnimmt. Doch ist es jedenfalls dem maulfaulen Schweigen, dem dumpfen Hinbrüten der Stammgäste älteren Schlages vorzuziehen, wie man es in so vielen öffentlichen Orten großer und kleiner Dimension noch immer beobachten kann. Auch ist es besser, als das leere, wüste Geschwätz über Gegenstände von oft sehr zweideutiger Natur oder als der ganz gewöhnliche Privatklatsch. Alles dieß behauptet noch immer sein leidiges Anrecht über das Publikum und wird es auch immer behaupten, aber die „Zeitung," d. h. der politische Theil des Inhalts der Tagespresse hat ihm doch glücklicherweise sein Gebiet sehr geschmälert. Sehen wir davon ab, welchen allgemeinen Einfluß auch nur das bloße Nachsprechen gebildet stilisirter Phrasen übt, die sich auf Angelegenheiten höherer Art beziehen, wozu denn doch alles, was Staat, Gemeinwohl, Politik überhaupt betrifft, zu rechnen seyn wird. Wir berücksichtigen auch hier nur das sprachliche Moment. Man höre nur einmal dem gewöhnlichen Wirthshausgespräch an einem Orte zu, der sonst noch durch einen prononcirten Dialekt sich auszeichnet. So lange geklatscht wird, Schnurren gerissen werden IC. behauptet der volksthümliche Ausdruck sein Recht: sobald aber das Gespräch, wie es jetzt von Tag zu Tag mehr geschieht, sich auf die Politik wirft, tritt wenigstens eine schwache Annäherung an das ein, was man unter gebildetem Ausdruck versteht. Die Begriffe, mit denen hantiert wird, sind alle hochdeutsch fixirt und lassen sich gar nicht anders als in diesem Gewände geben. Der stereotype Gedankengang, dem die Masse des Publikums dabei gehorcht, ist, da er aus der gedruckten Weisheit der Zeitung stammt, gleichfalls Schriftdeutsch vorgezeichnet und läßt sich nicht mehr, am wenigsten von der Masse des Publikums, dieses seines Gewandes entkleiden. Kommen noch besondere Veranlassungen hinzu, etwa Zeiten einer außer-

288

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

gewöhnlichen Aufregung, oder auch nur periodisch wiederkehrende Epochen von Wahlen für Ständekammern und Ortsbehörden, so erstehen aus der sonst nur passiven Masse des Publikums eine Menge praktischer Politiker. Geht ihr Ehrgeiz auch nicht weiter, als irgendwo eine Rede zu halten, so können sie diese nicht anders als in den Formen und Wendungen halten, die ein für allemal für alle öffentliche Wirksamkeit gelten sollen. Kleinbürger und Bauern hört man, wenn auch oft sehr ungeschickte Versuche machen, sich in reiner Sprache vernehmen zu lassen. Mag man sie immerhin belächeln: sie selbst, wenn sie merken, daß sie wegen ihrer „Sprache" ausgelacht werden, geben sich gewiß alle ersinnliche Mühe, um das nächstemal ihre „Bildung" besser zu dokumentiren. Mag sich die Entwickelung der deutschen öffentlichen Verhältnisse in nächster Zukunft gestalten wie sie will, gewiß wird die Heranziehung immer zahlreicherer Individuen zur Betheiligung an der politischen Diskussion ein charakteristisches Moment der folgenden Jahre seyn, wie sie es schon jetzt ist im Vergleiche mit fünfzig, ja mit zwanzig Jahren früher. Aber es werden nicht bloß immer mehr Leute und immer häufiger, und wie zu hoffen steht, immer einsichtiger über Politik reden, es müssen sich, man mag wollen oder nicht, auch immer mehr Einzelkräfte aus dem Volke an der Thätigkeit für das öffentliche Wohl betheiligen. Diese Betheiligung findet aber ihr natürliches Mittel durch das gesprochene Wort, seltener durch das geschriebene. Goethe hat zu seiner Zeit noch nichts bei seinen Landsleuten zu reden gefunden, und deßhalb humoristisch bedauert, daß er im Sinne der Gallischen Schädellehre seinen Beruf verfehlt habe. 6 Gegenwärtig aber gibt es schon überall genugsam öffentlich zu reden, und in einigen Jahrzehnten wird es zehn= ja hundertfach mehr Gelegenheit dazu geben. Damit wächst aber ganz naturgemäß auch der kritische Maßstab des Publikums von formeller Seite her, von Seite des sprachlichen Ausdrucks. Wer unsere öffentlichen Redegelegenheiten seit einer Reihe von Jahren genauer beobachtet hat, wird mit uns dahin übereinstimmen, daß von der wachsenden Masse der Redenden, ganz abgesehen von den Individuen, ihrer verschiedenen Begabung und Bildung, heute durchschnittlich schon viel besser und richtiger gesprochen wird — beides im rein formalen sprachlichen Verstand genommen — als etwa im Jahre 1848. Natürlich gehen auch hier die großen Städte voran, in denen tausend andere Motive zusammen kommen, um bis zu dem gewöhnlichen Tagelöhner und dem eben sprechen lernenden Kinde herab einem schriftgemäßen Ausdruck Vorschub zu leisten. Aber auch auf dem Lande und selbst da, wo der Lokaldialekt sonst noch mit großer Zähigkeit sich behauptet, hört man volksthümliche Redner, die des höheren Ausdruckes oft recht leidlich mächtig sind, und wo sie es nicht sind, geschieht es wenigstens ihnen unbewußt, wenn sie in den Dialekt herabsinken. Was die Volksschule mit ihrer systematischen Propaganda für die Schriftsprache nie durchsetzen würde, das wird so durch die Macht der Zeitverhältnisse, durch das Volk selbst ins Leben eingeführt. Was Volksschule und Tagespresse sammt dem regsameren öffentlichen Leben für die Verbreitung der schriftgemäßen oder höheren Sprachweise leisten, ist doch

25.3. Text

289

zuletzt nur der Ausdruck eines tiefer liegenden Grundzuges der Zeit. Das unbedingte Streben nach einer Ausgleichung der von der früheren Geschichte geschaffenen Unterschiede, nach einer Niederlegung aller der Schranken, die Oberes und Unteres, Höheres und Niederes sonst trennten, gibt der ganzen politischen und socialen Arbeit der Neuzeit ihr eigentliches Lebensprincip. Der Staat auf breitester Grundlage und die Gesellschaft auf ebenso breiter bleibt das Ideal, dem diese Zeit nachstrebt, mag sie es auch noch so dürftig fassen und noch so schwerfallig und albern sich in ihrem Ringen darnach anstellen. Wie aber Staat und Gesellschaft alle Prärogative zu Gunsten Aller oder des abstrakten Volkes fallen lassen müssen, so auch die Sprache. Auch diese demokratisirt sich, aber so, daß sie vornehmer wird. Jedermann sucht den Unterschied der Bildung, der denn doch auch für das Bewußtseyn des Bildungslosen bleibt, selbst wenn alle andern Unterschiede aufgehört haben, unwillkürlich dadurch auszugleichen, daß er sich, so gut es eben gehen will, dem offenkundigsten und allgemein zugestandenen Kennzeichen der höheren Bildung, der höheren Sprache nähert. Dabei waltet in den meisten Fällen keine Spur bewußter Reflexion. Das Streben nach dem Firniß der Bildung ist jedem Kinde unserer Zeit gleichsam eingeboren, weil jedem jener schrankenlose Gleichheitssinn eingeboren ist, aus dem jenes stammt. Mag man darüber denken wie man will, von unserem Standpunkt aus wollen wir nicht kritisiren, sondern bloß registriren. Seine Folgen lassen sich mit Händen greifen. Wer etwas mit dem deutschen Volksleben vertraut ist, wer namentlich Gelegenheit und Sinn dafür hat, auch in abgelegenen Winkeln unseres großen Vaterlandes dem Umschwung der Zeit nachzugehen, und eine noch kaum abgeschlossene Vergangenheit mit dem Jetzt zu vergleichen, wird die lehrreichsten Beobachtungen auf unserem Sprachfelde, das wir hier allein betreten, gemacht haben. Uns selbst steht eine kaum übersehbare Reihe davon zu Gebote. An Orten, wo vor etwa zwanzig Jahren eine hochdeutsche Frage kaum verstanden wurde, und die Antwort jedenfalls im derbsten Lokaldialekte erfolgte, kommt man jetzt gewiß nicht mehr in diesen Fall. Tönt uns auch noch immer, namentlich aus dem Munde der Frauen und Alten, der ungebrochene Dialekt entgegen, so versteht doch alles eine hochdeutsche Rede und findet sie nicht mehr lächerlich oder vexirlich. Die Männer und alle Jüngeren wissen sich nun vollends in ganz leidlichem Hochdeutsch gegen den Fremden zu expliciren, wenn sie auch unter sich noch ihrer heimischen „Sprache" treu bleiben. Wir übergehen eine Reihe anderer specifisch moderner Einrichtungen und Lebensverhältnisse, die alle unwillkürlich nach dem einen Ziele hin, der Ausbreitung der literarischen oder gebildeten Sprache zu wirken berufen sind, obwohl sie an sich damit in keiner Beziehung zu stehen scheinen. Wir rechnen hieher unter Anderem den so unendlich gesteigerten Reiseverkehr, die überall eingeführten militärischen Institutionen. Das wachsende Bedürfniß nach einem möglichst correkten schriftlichen Ausdruck, der schon als fast unerläßliche Vorbedingung für jeden Geschäftsmann gilt, ist auch eine moderne Erscheinung. Da sich alle Erwerbs= und Berufsverhältnisse, selbst die elementarsten, wie der Betrieb der bäuerlichen

290

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

Wirthschaft, mehr und mehr zu einem Geschäfte im speciflschen Sinne des Wortes umgestaltet haben oder umzugestalten beginnen, so öffnet sich mit dieser durchgreifenden Metamorphose, welche Millionen von Individuen erfahren, ein ergiebiges Feld für unsere an sich schon üppig genug wuchernde Schreibseligkeit. Das papierne Zeitalter verlangt aber, daß das, was zu Papier gebracht wird, in Form und Sprachfassung möglichst richtig, d. h. dem allgemeinen Gebrauche des höheren Ausdruckes möglichst angenähert sey. Unsere Volksschule gibt sich staunenswürdige Mühe, auch diese Forderung des Lebens zu befriedigen, und ihre Resultate sind, wenn man die Summe davon zieht, ebenfalls wahrhaft staunenswerth, obwohl nicht behauptet werden soll, daß jeder ehemalige Zögling einer Volksschule, der es zu einer gewissen Federgewandtheit gebracht hat, sich diese in der Schule selbst erworben habe. Aber der Grund wird doch fast ausnahmslos daselbst gelegt, wenn auch das Leben und seine tausendfältigen Bildungseinflüsse weiter darauf fortbauen. Es ist keine Frage, daß das, was von der Masse des Geschriebenen gedruckt wird, nicht immer das vorzüglichste davon ist. Dieß wird zu jeder Zeit so gewesen seyn, aber zu keiner andern mag es so häufig und so auffällig, wie jetzt, vorgekommen seyn. Der gebildete Ausdruck hat bis in die untersten Schichten der Schreibenden sich in einer geläuterten Vollkommenheit verbreitet, deren Bedeutung es keinen Eintrag thut, daß sie selten angetroffen wird. Es ist schon genug, daß sie überhaupt vorkommen kann. Sie findet sich nach unseren eigenen Erfahrungen auch da, wo weder besonders günstige Umstände ihren Erwerb befördert haben, noch eine eminente persönliche Begabung vorausgesetzt werden darf. Die Möglichkeit, dahin zu gelangen, ist bereits durch die ganze Atmosphäre des heutigen Volkslebens verbreitet, das Streben darnach ist ein allgemeines, wenn gleich selten genug es der Drang des übrigen Lebens gestattet, etwas Besonderes dafür zu thun. Eine gewisse Receptivität, die immer vorausgesetzt werden muß, kann unter solchen Umständen auch durch unmerkliche, geringfügige und planlose Bemühungen zu einem überraschenden Resultat gelangen. Es sey uns gestattet, noch einen Blick auf den Einfluß der großen Städte für die allgemeine Verbreitung der Schriftsprache zu thun, weil unter all den verschiedenen Kräften, die unwillkürlich dafür thätig sind, keine wirksamer ist als diese. Unsere großstädtische Bevölkerung wird an sich durch alle die Momente, die wir für die Schriftsprache thätig sehen, am meisten berührt. Das Schulwesen ruft zwar überall noch Klagen genug hervor, aber gewiß übt es auch in derjenigen großen Stadt, wo es am schlechtesten bestellt seyn mag, intensivere Wirkung auf die Volksbildung, wie auf dem Lande. Die Tagespresse ist hier schon zu einem Lebensbedürfnisse auch des ärmsten und ungebildetsten geworden. Politische Bewegungen haben hier ihren natürlichen Herd und erlöschen hier selbst in Zeiten relativer allgemeiner Lethargie nie ganz. Die immense Steigerung des Verkehrs und der gewerblichen Thätigkeit und Concurrenz hat die meisten unserer großen Städte eben zu großen Städten gemacht. Dazu kommt die örtliche Berührung der verschiedensten Gesellschaftskreise und Stände. Die u r b a n i t a s im Sinne der Sprache

25.3. Text

291

ist ein ganz nothwendiges Ergebniß für die zusammengepferchten Bewohner eines solchen Ortes. In der Gegenwart tritt aber noch anderes, für unsere Betrachtung besonders wichtiges hinzu, was die Vergangenheit nicht entwickeln konnte. Unsere großen Städte sind durch eigenthümliche Verhältnisse der allgemeinen V o l k s w i r t schaft in einer ganz unverhältnismäßigen Proportion an Bevölkerung seit dem letzten Menschenalter gewachsen. Die Zunahme ist nicht erfolgt durch Ueberschuß der Geburten, sondern durch immer massenhaftere Einwanderung vom Lande und den verhältnißmäßig verödenden kleineren Städten. Die neuen Einwanderer bringen, falls sie nicht schon sich ihres heimischen Dialekts entwöhnt haben, diesen nur mit, um ihn sobald als möglich abzulegen. Aber sie vertauschen ihn nicht mit dem neuen Lokaldialekt, denn dieser ist selbst schon so weit zurückgedrängt, daß er keine Eroberungen mehr machen kann. Sie gewöhnen sich mehr oder minder an die allgemeine Durchschnittssprache der Gebildeten und pflanzen diese in ihrem nächsten Kreise fort. Von dem Lokaldialekt bleibt unter einer Bevölkerung, die großentheils selbst eingewandert ist, deren Väter und Großväter fast alle Fremde gewesen sind, nichts mehr übrig, als höchstens einige besondere Wörter und Wendungen und eine lokale Aussprache der allgemein deutschen Sprache. Dadurch mag sich immerhin noch der Berliner vom Danziger, der Hamburger vom Kölner unterscheiden: in der Substanz ist die Sprache des Volkes hier wie dort schon wesentlich dieselbe und wird es jeden Tag mehr. Daher denn auch die Klagen unserer gelehrten Antiquare, daß manche originelle Stadtdialekte, z. B. der Nürnberger, der Breslauer, der Frankfurter, in der That ausgestorben seyen. Man pflegt zwar noch von einem „allerreinsten" Berliner, Frankfurter iC. zu sprechen, doch damit ist noch kein wirklicher Dialekt gemeint, wie er früher gelebt hat oder anderswo auf dem Lande und in den kleinen Städten noch lebt. Ein wirklicher Dialekt verhält sich zu der Schriftsprache wie ein Bruder zum andern, allenfalls auch ein Zwillingsbruder zum andern. An ihm ist alles selbstständig, vom Wirbel bis zur Zehe, wenn er auch seine Aehnlichkeit mit der Schriftsprache nicht verläugnen kann. Es ist ein Organismus für sich selbst, der bis ins Einzelnste durch seine eigenen Gesetze bestimmt wird. Nun aber jene angeblichen großstädtischen Dialekte: wenn der Berliner mir und mich verwechselt, wat und dat für was und das sagt, einige Dutzend seltsame Ausdrücke für betrunken seyn und stehlen gebraucht und das, was er spricht, mit einem eigenthümlichen Tonfall und Rhythmus vorträgt, so macht das alles zusammen noch keinen Dialekt. Es sind nur Dialektfetzen, die einen ganz schriftdeutschen Sprachleib bekleiden. Das fremde Ohr, namentlich das des weniger Gebildeten, wird bei diesen Besonderheiten stutzen, wenn es dieselben zum erstenmale vernimmt, aber so wie, um ohne alle ärgerlichen Nebenbezüge ein anderes Bild zu gebrauchen, der Esel in der Löwenhaut immer ein Esel bleibt, so bleibt der heutige Großstädter immer ein hochdeutsch redender, er mag einen Dialekt sprechen, welchen er will. Höchstens im Süden und Südosten, deßgleichen im niederdeutschen Norden, steht die Sache noch etwas anders. Dort hat sich die hochdeutsche Kultursprache,

292

25. Heinrich Rücken (1823-1875)

weil sie doch wesentlich protestantischen Ursprungs ist, noch nicht der ausschließlichen Herrschaft über die Gebildeten, geschweige denn über das Volk bemächtigen können. Man kann daher noch mit einigem Rechte von einem Wiener, einem Münchener Volksdialekte reden. Doch wird auch hier eine nicht lange Reihe von Jahren dieselben Erscheinungen hervorrufen, wie in dem übrigen Theile Deutschlands. Wie das Schrift deutsche mehr und mehr in seiner abstrakten Gestalt die Sprache der Literatur geworden ist und der lokale Beischmack verschwindet, so auch wird es in der gebildeten Gesellschaft und sehr bald auch durch den Gleichheitssinn der Massen in den Massen selbst werden. Die Tendenz dazu ist auch hier dieselbe, wie anderwärts, und alle Motive, die dafür wirken, die nämlichen, nur sind sie einstweilen noch nicht in derselben Stärke, wie anderwärts, thätig. Gleiches gilt von unseren niederdeutschen Großstädten. Ihr plattdeutscher Dialekt steht so selbstständig neben dem Schriftdeutschen, daß an keine allmählige Vermittelung zu denken ist. Er wird noch eine Zeitlang Widerstand leisten, vielleicht weniger im Volke selbst, als in einer gewissen Mittelschicht der Gebildeten. Aber sein totaler Untergang ist nur eine Frage der Zeit, wie jeder Sachverständige sieht. Man hört wohl noch gelegentlich den alten Satz als Norm für den schriftlichen Ausdruck aufstellen: schreibe wie du sprichst. Tragen wir den wirklichen Zuständen Rechnung, so müßte er lauten: sprich wie du schreibst. Denn das Uebergewicht des geschriebenen oder genauer des gedruckten Wortes ist so groß, daß es allein als der eigentliche Sprachkörper gelten muß. Die lebendige Rede mag es je nach der Individualität und Lokalität modificiren wie sie will, immer geht sie von dieser Basis aus und strebt nach ihr zurück. Keine andere Periode der allgemeinen Sprachgeschichte zeigt ein ähnliches Ueberwuchern der Sprache im eigentlichen Wortsinn durch ihr todtes Gegenbild, die Literatur, und vielleicht findet es sich auch nirgends anders in solchem Maße, als bei uns in Deutschland. Nirgends anders wird so viel gedruckt, wie bei uns, wie jedermann weiß. Doch würde dieß allein noch wenig entscheiden. Anderwärts, z. B. in Frankreich und England, gibt es einen allgemein anerkannten Mittelpunkt der gebildeten Welt, der wie in andern Stücken, so auch für die Sprache des höheren Lebens tonangebend ist. Die Literatur steht unwillkürlich unter der Macht der Einflüsse, die von hier aus, aus dem wirklichen Leben, wenn auch nur aus einer Sphäre desselben in sie hineinreichen und durch tausend Fäden vermittelt werden, worunter einer, die Thatsache, daß die meisten hervorragenden Vertreter der Literatur in Paris oder in London leben, keiner der schwächsten ist. In Deutschland fehlt der Begriff einer solchen höheren Gesellschaft ebenso wie es kein allgemein anerkanntes Centrum des äußeren Lebens der Nation gibt. Unsere Schriftsteller wohnen überall und gewöhnlich nicht einmal an den relativ noch am ersten zu solcher Centralisirung befähigten Orten, wie Wien, Berlin oder Hamburg. Von einer fortdauernden lebendigen Verbindung des Schriftstellers mit der höheren Gesellschaft ist bei uns keine Rede, folglich auch nicht von dem Einfluß, den ihre Ausdrucksweise auf seine Feder üben kann. Der

25.3. Text

293

französische Autor denkt doch zunächst an das Pariser Publikum, oder vielmehr, dieß ist die selbstverständliche concrete Gestalt, unter der ihm das Publikum überhaupt erscheint. Er kann kein Arg darin finden, dessen Sprache wenigstens insoweit auf sich wirken zu lassen, als es sein eigener guter Geschmack erlaubt, und dieß wird sehr weit seyn, da er ja selbst seinen Geschmack nach jenem Kanon gebildet hat und ihm unbewußt gehorcht. Unsere Autoren können nur das Publikum IN ABSTRACTO berücksichtigen, von dem sie wohl in Gesinnungen und Gedanken bis auf einen gewissen Grad abhängig sind, niemals aber in der Sprache ihrer Darstellung. Dafür sind sie nur auf ihre eigenen Mittel, ihre eigene Bildung gewiesen, die von der Elementarschule an bis zu dem Tage, wo sie den ersten Bogen unter die Presse geliefert haben, nur eine literarische ist. Sie schreiben so, wie ihre literarischen Muster geschrieben haben oder wie andere neben und mit ihnen schreiben. So ist unsere Sprache der Gegenwart in der That mit einem Paradiesvogel zu vergleichen, der nach der alten naturgeschichtlichen Mythe keine Füße hat. Sie steht nirgends auf dem Boden einer Oertlichkeit, eines Gesellschaftskreises, sondern schwebt über allen frei in den Lüften, gleich unabhängig von allen und sie alle beherrschend. Aber auch ein Paradiesvogel kann nicht immer fliegen, auch er braucht ein Nest, gelegentlich auszuruhen und es sich heimathlich zu Muthe seyn zu lassen. Daß dieß Nest nur aus starrem, kaltem Papier mit ebenso starren kalten Lettern besetzt geflochten ist, hat denn doch sein Bedenkliches. Die meisten der unläugbaren Schäden und Gebrechen unserer Sprache lassen sich daraus ableiten, denn daß solche trotz ihres enormen äußeren Gedeihens vorkommen, ist wenigstens dem nicht verborgen, der ruhig und eindringend die Grundbedingungen und das Werden jenes wundersamen Himmelskindes, das wir Sprache nennen, prüft und zu erkennen strebt, der auch noch besonders die Geschichte unserer eigenen Sprache, wie sie in einer festgeschlossenen Reihe von genügenden Dokumenten anderthalb Jahrtausende unserem prüfenden Blicke vorliegt, nicht bloß als eine Uebung des Gedächtnisses, sondern als Material eines wirklichen Urtheils zu verwerthen versteht. Es kann hier natürlich auf keine sprachwissenschaftliche Deduktion abgesehen seyn, und doch läßt sich das, was wir sagen wollen, nicht anders, als durch eine solche begründen, wobei man der Deutlichkeit wegen noch dazu genöthigt wäre, andere entweder näher oder ferner liegende Sprachgestaltungen vergleichend heranzuziehen. Es bleibt darum nichts übrig, als bis zu einem gewissen Punkte apodictisch zu verfahren und den Beweis dem eigenen Gefühle des Lesers zu überlassen, an welches zu appelliren sonst nicht unsere Gewohnheit ist. Daß von keiner Herabsetzung unseres kostbarsten nationalen Kleinodes die Rede seyn kann, bedarf wohl keiner Versicherung. Selbst das vorurtheilsloseste, bloß auf wissenschaftliche und sachliche Motive gegründete Urtheil gibt übereinstimmend zu, daß sich keine andere der lebenden und todten Sprachen im Ganzen und Großen genommen mit der unsrigen dieser Gegenwart vergleichen darf. Keine ist ein so

294

25. Heinrich Rücke« (1823-1875)

reiches und bildsames Organ des Geistes und der Seele, des ganzen höheren menschlichen Daseyns wie sie. Gegen ihre Unermeßlichkeit gehalten, erscheinen die sonst als die reichsten gepriesenen, wie griechisch und arabisch, dürftig und beschränkt, von ihrer Tiefe und Fülle der Innerlichkeit ist anderwärts nicht einmal eine Ahnung vorhanden. Aber gerade hier liegen auch die Gebrechen unserer Sprache. Ihr überschwenglicher Reichthum erfordert eigentlich stets die Hand eines Meisters; für das Mittelmaß derer, die sich ihrer bedienen, ist er entweder nicht vorhanden oder eher ein Hinderniß als eine Förderung. Es ist schon darum viel leichter, gut französisch, spanisch oder italienisch zu schreiben, als gut deutsch. Auch ist es nicht zu läugnen, daß sich ihr Reichthum nicht gleichmäßig nach allen Seiten hin entfaltet hat. Neben der erdrückenden Fülle des Wortschatzes steht doch eine gewisse Dürftigkeit der Hülfsmittel, wodurch modificirte Begriffe aus ursprünglicheren gebildet werden. Das Gebiet der Wortableitung, das im Griechischen, in den slavischen Sprachen, ja selbst in den romanischen als Erbtheil ihrer klassischen Mutter schön und vielseitig entwickelt ist, ist im Deutschen unserer Gegenwart sehr ärmlich bestellt, und was davon vorhanden ist, großentheils mit einer gewissen Schwerfälligkeit behaftet. Man denke nur an die überall sich aufdrängenden Substantivbildungen mit =ung, =heit oder =keit, =schaft und =thum. Der Ersatz für die hier fehlende Beweglichkeit ist auch ein nicht durchweg unbedenklicher. Er besteht in der bis zum Extrem getriebenen Wortzusammensetzung, die keine andere alte oder neue Sprache in dieser Ausdehnung kennt, vielleicht das einzige Sanskrit abgerechnet, dessen einzelne Wortelemente aber unendlich geschmeidiger sind. Dadurch entstehen jene Wortungeheuer von 10, 12, 15, 20 Sylben, denen man in unsern Büchern überall begegnet. Sie sind ebenso unästhetisch, durch unerträgliche Qualen, die sie dem Munde und Ohre anthun, wie sehr häufig schwer verständlich, indem in der Masse der zusammengelötheten Begriffe das Verständniß für die Gliederung derselben versteckt wird. Allerdings kann keine andere Sprache es der deutschen hierin gleich thun; es fragt sich aber, ob es irgend eine andere thun würde, selbst wenn sie könnte. Geschrieben und gedruckt sind diese Wortriesen allenfalls noch erträglich, aber gesprochen dürfen sie nicht werden. Sie hätten auch nicht in die Sprache kommen können, wenn sie nicht eine Büchersprache mehr als irgend eine andere lebende wäre, die das Correktiv des lebendigen Wortes nahezu entbehrt oder nicht darauf reflektirt. Und doch ist die Sprache eigentlich nur da, um gesprochen zu werden und schreiben ist immer nur ein trauriges Surrogat dafür. Es kann wunderlich scheinen, daß man diesen selbstverständlichen Satz noch besonders betont, aber in unsern gegenwärtigen Sprachzuständen ist er, was noch wunderlicher erscheinen möchte, wenn man nicht die Ursachen davon kennte, in Vergessenheit gerathen. Aus dem allem stammt ein anderer Charakterzug unserer Sprache, dessen Unschönheit allgemein anerkannt wird. Wir meinen ihre Ueberfüllung mit Fremdwörtern. Die Sache ist freilich nicht so schlimm, wie sie aussieht, wenn man fast

2 5 . 3 . Text

295

in jeder literarischen Anzeige Fremdwörterbücher als dringendstes Bedürfniß jedes Zeitungslesers, überhaupt jedes Gebildeten oder gar jedes Menschen angekündigt findet. Das eine soll 20,000, das andere gar 50,000 der „gangbarsten" Fremdwörter enthalten. Die Frage liegt nahe, wie viel weniger „gangbare" außerdem in unsere Sprache eingedrungen seyn möchten, wenn die gangbaren schon den Wortschatz einer andern selbstständigen Sprache erreichen. So wenig aber einem pedantischen Purismus das Wort zu reden ist, wie er sich schon seit Zesens Zeit immer wieder unter Literaten und Sprachtheoretikern breit gemacht hat und selbst dem Spotte der Gegenwart nicht ganz weichen will, so wenig kann man die Thatsache selbst durchweg in der Ordnung finden. Unsere Sprache hat von Anfang an die Neigung und die Fähigkeit gehabt, fremde Elemente in sich aufzunehmen. Sie ist darin auch in ihren naivsten Zeiten viel weniger spröde gewesen als andere, etwas das Griechische oder unter den modernen Sprachen das Slavische in verschiedenen seiner Zweige. Schon das Gothische zeigt nicht bloß etwa auf kirchlich=christlichem Gebiete, wo man die Erscheinung zuerst vermuthet, viele lateinische und sogar slavische Eindringlinge. So ist es während des ganzen Mittelalters immerzu gehalten worden. Latein und die romanischen Sprachen sind die Quellen gewesen, aus denen die unsrige ohne Arg schöpfte. Wörter, wie Natur, Pflanze, Frucht wird niemand mehr aus der Sprache herauswerfen; sie sind so gut deutsch wie Himmel, Erde, Wasser, wenn gleich der Sprachkundige ihre klassischen Originale sofort nachweisen kann. Die Gegenwart hat durch das massenhafte Einströmen neuer technischer Erfindungen, das Bekanntwerden unzähliger neuer Stoffe und die Einzelausarbeitung der Naturkenntnisse geradezu die Nothwendigkeit, diese Menge fremdartiger Gegenstände auch mit den fremden Namen zu bezeichnen. Es würde eine heillose Confusion entstehen, wollte man sie ohne weiteres verdeutschen, etwa so wie Oken die Terminologie der Naturgeschichte zu verdeutschen gesucht hat. 7 Aber man bleibt dabei nicht stehen; man greift auch auf dem Gebiete des Gedankens, der Empfindung und des Gefühls nach Fremdworten, theils weil dem Schreibenden die Herrschaft über die eigene Sprache versagt, theils weil diese in ihrer schon erwähnten Ungelenkheit es zu schwer oder zu bedenklich macht, ihre Mittel zu gebrauchen, theils endlich auch nur einer leidigen Sucht nach etwas Besonderem zu Liebe, das an der Stelle einer wirklichen schriftstellerischen Individualität als Reiz der Neuheit wirken soll. Diese Einschleppung überflüssiger Fremdwörter wirkt aber ihrerseits wieder ungünstig zurück auf jene schon berührten Schäden unserer Sprache, denen sie zum Theil ihren Ursprung verdankt. Es ist auch hier ein CIRCULUS VITIOSUS, aus welchem das Ganze nur schwer, der Einzelne nur durch systematische Zusammenfassung hinausgeräth. Das buntscheckige Aeußere unseres heutigen deutschen Styles möchte noch die geringste üble Folge davon seyn, obgleich auch diese immerhin Beachtung verdient, da unsere Sprache ihre äußerlichste Formgebung ohnehin so wenig unter dem Einfluß eines durchgreifenden Schönheitssinnes ausgebildet hat. Bedenklicher ist es, daß die Masse der Leser, die doch überwiegend nur die Kenntniß

296

25. Heinrich Rückert ( 1 8 2 3 - 1 8 7 5 )

ihrer Muttersprache mitbringen, zu einem gewissen halben und dreiviertels Verständniß veranlaßt wird. Man weiß ungefähr, was das Fremdwort bedeuten soll, oder man weiß es auch nicht, läßt es sich aber doch gefallen, und wendet es vielleicht nächstens, nur um groß zu thun, selbst mündlich oder schriftlich auf die verkehrteste Weise an. Gewöhnt man sich aber einmal, auf eine so duselige Weise mit der Sprache zu hantiren, so verliert diese ihre Hauptaufgabe, eine treue und scharfe Darstellerin von Begriffen und Anschauungen zu seyn, ganz aus dem Gesichte. So sind denn auch die namentlich von Franzosen unserer Sprache gemachten Vorwürfe der Unbestimmtheit und Undeutlichkeit nicht unbegründet. Die Fremdwörter tragen das ihrige dazu bei, sie wahr zu machen. Noch mehr freilich der ebenso schlottrige wie unbehülfliche Satzbau, an welchem wir leiden. Auch dieß ist in seiner nächsten Ursache ein Produkt fremder Einflüsse. Das Lateinische, das nach ganz andern Principien seine Sätze bauen konnte, hat seit dem sechzehnten Jahrhundert bewußt oder unbewußt als Model unserer Literatur zunächst im Gebiete der Satzfügung gedient. Seine wohlgefügten Perioden mußten auch mit den dazu gar nicht geeigneten Hülfsmitteln unserer Sprache reproducirt werden. Seit Lessing hat man freilich sich von dieser Abhängigkeit zu emancipiren gesucht, aber es ist doch nur einzelnen Talenten, nicht der Sprache selbst gelungen. Es hätte ihr gelingen müssen, wenn sie nicht so überwiegend eine bloße Büchersprache, zum stillen Lesen bestimmt geworden wäre. In einer solchen mag man sich eingeschachtelte und verschraubte Sätze, wie wir sie nun einmal nicht anders aus der Feder bringen, gefallen lassen; die Rede kann diese Knäuel und Labyrinthe nicht brauchen. Daß sie sich aber doch auch in sie da eingedrängt haben, wo sie Anspruch auf oratorische Durchbildung macht, in unsern Predigt», Gerichts» und Feststyl, läßt sich nur daraus erklären, daß bei uns die Schrift gerade das umgekehrte Verhältniß zum Worte eingenommen hat, als es ihr zukommt. Sie ist nicht sein Supplement, sondern seine despotische Beherrscherin. Wie soll sich aber unsere Sprache von diesen und andern Gebrechen befreien, wenn sie immer energischer es durchsetzt, bloße Schriftsprache zu werden, wenn alle Individualisirung des Ausdruckes vor dem kanonischen Ansehen ihrer abstrakt» kühlen Allgemeinheit immer mehr verschwindet? Jedes Menschenalter wird es statt besser schlimmer werden sehen, und wenn auch nach wie vor hervorragende Talente sich über diese Mängel erheben, so wird der Zustand im Ganzen dadurch nicht gebessert. Die Geschichte unserer Sprache zeigt uns wenigstens einmal eine ähnliche Phase. Als der höfische Ausdruck der gebildeten Gesellschaft des dreizehnten Jahrhunderts sich das Recht einer allgemein giltigen Literatursprache erworben hatte, offenbarte er allerlei Gebrechen, die eine gründliche Abhülfe im Interesse der Sprache oder des Volksgeistes erheischten. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, daß sich jenes ächte Mittelhochdeutsch doch nur als eine Koteriesprache erweist, wenn wir die schroffste Bezeichnung des Sachverhalts wählen

25.3. Text

297

wollen. Eine solche muß etwas kühl Conventionelles in sich tragen und immer mehr hervorkehren, bis sie zu formelhafter Erstarrung fortschreitet, welche nur Phrasen, aber keine selbstwüchsigen Gedanken und Empfindungen darstellen läßt. Die spätere Literatur unseres Ritterthums zeigt diesen Charakter in einer erschrekkenden Weise. Ihre innere Oede und Dürre bei großer äußerer Massenhaftigkeit und formaler Gewandtheit stammt nicht von ihren talentlosen Vertretern oder der Wahl ihrer Stoffe her: in der einen wie in der andern Hinsicht steht sie noch auf demselben Niveau wie im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts, zur Zeit Hartmanns, Wolframs, Gottfrieds, sondern von der ausgelebten, ausgetrockneten, eingepferchten Sprache, welche allen Geist und alles Gefühl der Individuen verschlingt. An Eleganz und Zierlichkeit übertrifft diese Sprache, wie jeder Kenner zugibt, unsere heutige trotzdem so weit, wie das Kunstgefühl der Zeit, in welcher unsere großen Dome entstanden, dem der Gegenwart überlegen ist. Aber es war unmöglich, in den alten Bahnen fortzuwandeln und dabei das Herz zu rühren, oder auch nur die Ansprüche des Verstandes zu befriedigen. Damals trat eine Reaktion der Natur und des Volksgeistes auf eine ebenso unmerkliche wie unwiderstehliche Art ein, die man deßhalb völlig organisch nennen muß. Der enge Kreis der gebildeten Sprache wurde verlassen. An die Stelle der rein conventionell gewordenen Ausdrücke der Höfe traten andere, die dem Gebrauche des gewöhnlichen Lebens entnommen waren. Die Sprache wurde gröber und plumper, aber auch natürlicher, wärmer und reicher. Vorher wäre es unmöglich gewesen, außer dem einmal gegebenen Kreise von Stoffen und Formen noch andere zur Darstellung zu bringen. Es gab nur höfische erzählende Dichter und eine höfische Lyrik und Didaktik, aber keine andere Poesie, geschweige denn eine Prosa. Seit dem vierzehnten Jahrhundert entfalteten sich alle möglichen Gattungen der Literatur, und alle fanden in der Sprache der Zeit ein ausreichendes Darstellungsmittel. Die Umwälzung ist allein dadurch vollbracht worden, daß man sich auf die Basis der wirklichen Volkssprache stellte, ohne darüber weiter zu reflektiren, auch ohne alle Tendenz einer systematischen Opposition gegen die frühere Literatur und Sprache. Beide behielten ihr traditionelles Ansehen als Muster des guten Geschmackes und es fehlte nicht an freilich immer dürftigeren Versuchen, in alter Manier neues zu produciren. Aber die Mehrzahl der Schreibenden griff in der größten Naivetät nach dem, was ihnen ihre unmittelbare Umgebung bot. Sie nahmen aus ihren Volksdialekten, was sie für brauchbar erachteten, und reihten es der Sprache ein, die sie als allgemein giltig anzusehen gewohnt waren. Sie verlor dadurch ihre Uniformität, in der sie eine Zeit lang unserer heutigen geglichen hatte. Jetzt war es nicht mehr eine Sache des Zufalls, ob der Autor dem Süden oder Norden unseres Vaterlandes entstammte, jetzt schrieb der Oesterreicher ganz anders wie der Schwabe, der Schweizer anders wie der Franke, und es ist nicht schwer, die Sprachdenkmale des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts nach ihrer Heimath zu klassificiren, was bei denen des dreizehnten häufig unmöglich ist. War es auch nicht der reine, ungemischte Volksdialekt, so war es doch sehr oft etwas,

298

25. Heinrich Rückert ( 1 8 2 3 - 1 8 7 5 )

das diesem sehr nahe stand. Freilich wollte die Mehrzahl noch immer für ganz Deutschland schreiben und wußte, daß dieß nur möglich sey, wenn man sie auch anderwärts verstand. Daher dann auch noch immer selbst auf niederdeutschem Boden eine Reihe von Schriftwerken, die ihrem Wesen nach hochdeutsch verbleiben, daneben allerdings auch eben so viele und in sich bedeutendere, die den ächten Volksdialekt in die Literatur einführen. So dauerte der Zustand bis an die Reformation heran. Was die Sprache an Zucht und Formvollendung verlor, gewann sie mehr als reichlich wieder an Fülle und Vielseitigkeit. Wäre der Zug der Entwickelung in dieser Richtung weiter gegangen, so hätte die noch immer als ideales Postulat und Correktiv vorhandene Einheit der Sprache endlich zertrümmert werden können. Es würden sich eine Anzahl Lokalmundarten selbstständig zu Schriftsprachen erhoben haben, wie es unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse eine derselben dauernd gethan hat, die nordwestlichste niederdeutsche, die wir jetzt holländisch nennen. Damals stand sie auf demselben Niveau mit ihren nächsten Verwandten, dem sächsischen Niederdeutsch und dem niederrheinischen Dialekt, oder auch dem Wesen nach mit allen selbstständigen mittel· und oberdeutschen Dialekten. Ihre innere Berechtigung und äußern Ansprüche waren keine andern, als die aller ihrer Schwestern, denen sie jetzt mit angemaßten Ansprüchen so hochmüthig entgegen zu treten pflegt. Nicht in ihr, sondern in der Politik lag der Grund, daß sich ihr Geschick glänzender gestaltet hat. In der Gegenwart oder Zukunft unserer Sprache wird sich dieser geschilderte Vorgang ihrer innerlichen Auffrischung und Erneuerung durch volksthümliche Elemente von selbst nicht wieder vollziehen können. Es gehörte dazu vielerlei, was jetzt fehlt. Die Sprache der Höfe des dreizehnten Jahrhunderts war denn doch immer trotz ihrer ausgebreiteten Literatur eine Sprache des mündlichen Verkehrs, des wirklich gesprochenen Wortes und die Schrift nur eine ihrer Darstellungsweisen, keineswegs aber ihre eigentliche Beherrscherin. Wie sich die wirkliche Sprache der höfischen Coterie der Gesellschaft gegen das Andringen der volksthümlichen Rede nicht mehr zu schützen vermochte, so geschah es auch in nothwendiger Folge der davon bedingten Literatur. Eins wie das andere war das Ergebniß großer socialer Umgestaltungen, die andere Schichten des Volkes in die Mitte der Geschichte stellten. Die mittleren Stände, das städtische Bürgerthum löste das Ritterthum ab, wie im Staate und in der Volkswirthschaft, so auch in der Sprache und Literatur. An der Stelle der adeligen Minnesänger traten die bürgerlichen Meistersänger, an die Stelle der adeligen Didaktik die bürgerlichen Lehrdichter. Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert tragen einen ebenso ausgeprägten demokratischen Charakter, wie das zwölfte und dreizehnte aristokratisch sind. Denn neben dem Bürgerthum in seiner engeren Begrenzung rühren sich überall auch die eigentlichen Massen, deren Daseyn vorher kaum beachtet wurde. Die städtische Bevölkerung derjenigen socialen Stufe, die wir jetzt als städtisches Proletariat zu bezeichnen gewohnt sind, greift überall in das Leben und den Verkehr der eigentlichen Bürger

25.3. Text

299

ein. Hinter den einen wie den andern steht noch das Landvolk. Alle 2usammen aber sind damals sprachbildende Faktoren geworden. Aus ihrem Kreise nimmt die Umgangssprache ebenso wohl wie die der Literatur, was ihr paßt, wie ja auch damals Söhne aus ihnen allen den deutschen Parnaß ersteigen oder sich als lehrhafte Schriftsteller hervorthun. So mußte die Sprache eine Reaktion von unten nach oben erfahren, deren Resultate schon geschildert worden sind. In der Gegenwart steht es anders, und die Zukunft wird die einmal eingeschlagene Bahn nicht verlassen. Unsere Sprache bleibt doch eine literarische oder Büchersprache, auch wenn die demokratische Bewegung der Neuzeit sich immer mehr ausbreitet und, wie zu vermuthen, alle ihre Consequenzen entwickelt. Die Schriftsprache wird und kann nicht von der lebendigen Sprache der Massen erreicht werden, auch wenn diese die vollständige sociale und politische Gleichberechtigung mit den jetzt noch vorhandenen Resten der privilegirten und höheren Stände durchsetzen sollten. Der Begriff der gleichmäßigen „Bildung" ist eine unwiderstehliche Macht geworden. Es war keine Phrase, wenn er auf dem Programm der liberalen Forderungen des Jahres 1848 überall figurirte. Das Programm selbst ist für den Augenblick beseitigt, aber seine einzelnen Punkte, namentlich dieser, sind in das Herz des Volkes geschrieben. Thatsachen genug für jeden, der sehen will, zeigen es. Hier geht uns nur die eine an, auf die wir schon einmal hingewiesen haben: wer gebildet seyn will, und das will jetzt jedermann, sucht sich so vollständig als möglich der Norm der höheren Sprache anzubequemen. Er verhält sich dabei ganz receptiv. Er bringt von seinen Eigenthümlichkeiten nichts mit, oder sucht sich vielmehr mit stätiger Consequenz ihrer so vollständig zu entäußern, daß wenigstens für sein eigenes Bewußtseyn nichts davon übrig bleibt. Sein Ideal ist, so zu sprechen, wie ein Buch, ein Ausdruck, der charakteristisch genug sehr häufig im lobenden Sinne gebraucht wird, wenn ihn gleich der andere: er lügt wie gedruckt, das Erzeugniß einer früheren Zeit, die noch nicht so unbedingt unter der Herrschaft der Drukkerpresse stand, Lügen zu strafen scheint, aber auch nur scheint. Wo soll auf diese Art ein befruchtender Einfluß der noch immer lebendigen Volksdialekte herkommen, oder wie soll er sich vollziehen? Diejenigen, die dazu berufen wären, haben keine Ahnung davon, oder streben gerade nach der entgegengesetzten Richtung hin. Die wirklich aktiven Repräsentanten der Sprache und ihrer Weiterbildung, die Schreibenden, stehen durch ihre eigene Bildung und Gewöhnung ganz außerhalb der Sphäre, wo die Volkssprache wirkt. Sie wissen entweder gar nichts davon, oder verachten und bekämpfen sie als einen Rest der Dumpfheit und Gebundenheit früherer Zeiten. In dem allgemeinen Befreiungskampfe, den unsere Literatur ihrer bei weitem überwiegenden Zahl nach führt, hat eine solche Anschauungsweise ihre Berechtigung. Soll das Volk oder die Masse wirklich aus jenen elementaren Zuständen erhoben werden, so darf es auch nicht dem wichtigsten Hilfsmittel, das sich der Geist geschaffen hat, der Sprache der höheren Bildung unzugänglich

300

25. Heinrich Rückert (1823-1875)

bleiben. Wenn es ebenso denken und fühlen soll, wie die früher exclusiv Gebildeten, so muß es auch ihre Sprache verstehen und zu der seinigen machen. Dieß alles hindert aber nicht zu sagen, daß unserer Sprache selbst dadurch ihr natürlichster Erfrischungsquell zu versiegen droht. Woher anders soll sie die ihr so nothwendige Verjüngung schöpfen, als aus ihm, der, wenn auch verborgen und halb verschüttet, doch noch so reich genährt ist und alles hat, was sie bedarf? Es wäre ein großer Irrthum, wenn man eine eigenthümlich=literarische Erscheinung der Gegenwart, die reich entfaltete Literatur in den verschiedensten Volksdialekten, als ein Zeichen betrachten wollte, daß eine wirkliche Verbindung zwischen der Schriftsprache und Volkssprache eingetreten sey oder daß sich eine solche durch diese Vermittelung von selbst vorbereite. Es ist überhaupt ganz anders mit dieser Dialektliteratur beschaffen, als der ferner stehende vermuthet. Sie spricht zwar die Sprache des Volks oder sucht sie zu sprechen, aber sie stammt nicht aus dem Volke und hat keinen Einfluß auf dasselbe. Sie ist ein Erzeugniß einer raffinirten und reflektirten Bildung, die sich theils aus bloßer Curiosität, theils aus einem gewissen Drange nach einem frischeren und naturwüchsigeren Material, als die leblose Büchersprache gewährt, damit beschäftigt. In früherer Zeit ist der Dialekt von unsern gebildeten Literatoren eigentlich nur zu komischen oder burlesken Zwecken benützt worden, nachdem einmal seit dem 16. Jahrhundert unsere Sprache sich als eine einheitliche Büchersprache festzusetzen begonnen hatte. So in den Comödien des Herzogs Julius von Braunschweig, in der Dornrose des Andreas Gryphius und sonst. Der Contrast der tölpelhaften Volksthümlichkeit mit der höheren Bildung wird durch die Sprache deutlich genug symbolisirt. Es ist also dieselbe Anschauungsweise, die das Volk gegenwärtig von seinen Dialekten hat, ohne es zu wissen. Wer in der Volkssprache redet, macht sich lächerlich, weil er in der Sprache der Bildungslosigkeit redet. Zwar fehlt es nicht an Vorkämpfern für den Dialekt gegen die Schriftsprache auch in jener Zeit. Der geniale Johann Lauremberg hat seinem Plattdeutsch die Ehre vindicirt, unverruckt zu bleiben und Bestand zu haben im Gegensatz zu den vielfach zerspaltenen hochdeutschen Mundarten, den wechselnden Moden und den fremdartigen Füttern der Schriftsprache. Aber er hat doch auch seine geliebte Sprache nur zu „Scherzgedichten" brauchbar befunden und darin freilich das beste geleistet, was die deutsche Literatur dieser Zeit und vielleicht bis auf diesen Tag hervorgebracht hat. Uebrigens hatte bei ihm und andern seiner Landsleute damaliger Zeit die Vertheidigung der Selbstständigkeit ihres Plattdeutschen noch ihre Berechtigung. War es doch noch in Kirche und Schule, theilweise im öffentlichen Leben vielfach in Gebrauch, beherrschte es doch noch den ganzen Familienverkehr auch der gebildeten Stände. Es war noch zu keinem Winkeldialekt herabgesunken, wie es ihm jetzt geschehen ist, gerade wie seinen hochdeutschen Geschwistern, die im Grunde auch nicht schlechter als jenes sind und nicht mehr Schuld daran tragen, daß sie nicht mehr von der Kanzel, vom Katheder, in den Gerichtssälen ertönen. Nur seine größere Entfernung von den Centren der deutschen Literatur sowohl

25.3. Text

301

im Mittelalter wie in den ersten Jahrhunderten nach der Reformation hat ihm seine relative Unberührtheit länger wie jenen zu erhalten vermocht. Aber die Neuzeit hat sich auch hier nicht zurückhalten lassen zu nivelliren, und wer jetzt noch für die Gleichberechtigung des Plattdeutschen als Schrift oder höhere Cultursprache ficht, mag es ein wunderlicher gelehrter Einsiedler thun, wie Scheller war, oder ein gemüthlicher Dichter, wie Claus Groth, ist besiegt, ehe er das Schwert zieht. Es bedarf gar nicht jenes systematischen Vertilgungskrieges, den noch Wienbarg aus wahrem Interesse für die Sache des Fortschrittes und der Bildung empfahl 8 : es macht sich auch hier alles ganz von selbst. Unsere Dialektliteratur zählt eine Menge hervorragender Talente. Von J. H. Voß aus durch Hebel, Kobell, Jeremias Gotthelf, Claus Groth, Fritz Reuter sind nur die höchsten Spitzen bezeichnet, denen sich die entsprechende Umlagerung durch geringere Höhen anschließt. Und doch, wie beschränkt ist ihr wirklicher Erfolg, wenn man nur die Zahl der Lesenden und Theilnehmenden veranschlägt und die Sprache selbst einstweilen außer Acht läßt! Es sind nicht viele Gebildete im Stande einen andern Dialekt als den ihrigen zu verstehen, wenn sie überhaupt nur die wirkliche Volksmundart ihrer eigenen Heimath verstehen. Es gehört besonderes sprachliches Geschick oder allerlei zufällige Vorbereitung oder eine besondere wissenschaftliche Vorbildung dazu, um nur die seltsame Außenseite des gedruckten mundartlichen Elementes zu überwinden, namentlich wenn es eine fremde Mundart ist. Innerhalb der heimathlichen Grenzen darf aber der mundartliche Schriftsteller immer nur auf ein an Zahl geringes Publikum rechnen, auch wenn er noch so sehr Mode ist. Denn die Mode beschränkt sich hier gewöhnlich darauf, für ihn zu schwärmen und seine Bücher ungelesen zu lassen. Sollte allein das Renomme über die wirkliche Popularität, über die wirkliche Verbreitung in der lesenden Welt entscheiden, so würden von älteren derartigen Produktionen Hebels allemannische Gedichte oder von neuesten Claus Groths Quickborn zu den verbreitetsten Büchern in deutscher Zunge gehören. Doch selbst da, wo sie in Miniatur=Prachtgestalt, wie sie dieser Tag liebt, auf dem Büchertische liegen, werden sie nicht oft gelesen und noch weniger verstanden. Man kann auch in der That dem Publikum, dem gebildeten wie dem ungebildeten nicht zumuthen, daß es sie, trotz ihres entschiedenen innern Werthes, lesen soll. Der Gebildete fühlt, daß ihm zu dem vollen Verständniß doch zu viel fehlt, was er nur mit einem großen Aufwand von Zeit und Kraft erlangen würde. Die angehängten Wörterbücher und Noten reichen doch wahrlich nicht aus, auch wenn sie erschöpfender und zweckmäßiger gemacht wären, als es gewöhnlich geschieht. Der gewöhnliche Leser verlangt von seinem Buche unwillkürlich, daß es über ihm stehe, ihm imponire. Wie kann ihm aber die Sprache des gemeinen Volkes imponiren? Sie reizt ihn höchstens zum Lachen oder ärgert ihn als ein fatales Spiegelbild seiner eigenen Sprechweise. Unsere allgemeine Schriftsprache könnte auf zweierlei Wegen sich eines reichen Gewinns aus der Dialektliteratur bemächtigen. Der eine wäre, wenn unsere Schrift-

302

25. Heinrich Rücken (1823-1875)

steller hochdeutscher Sprache selbst recht fleißig und verständig die besten Muster jener Branche studierten und benützten, nicht um irgend einen Dialektlappen auf ihr hochdeutsches Gewand zu setzen, wo er barock stehen würde, sondern um das Weben einer natürlichen Sprache zu belauschen und ihrem Style Frische und Mark, Gedrungenheit und Anschaulichkeit zu geben. Aber leider gehört die Mehrzahl aller Schriftsteller zu sehr dem durchschnittlichen Mittelmaß der Bildung an, als daß sie die nöthige Vorbereitung und die Neigung dazu besitzen sollten. Auch sie fühlen sich eher genirt als angezogen durch ein Buch in einem Volksdialekt, sie vermeiden es eher, als daß sie es aufsuchten, gerade so wie sie der lebendigen Volkssprache aus dem Wege gehen, weil sie sie nicht verstehen. Es müßte ihnen erst durch eine gründlichere sprachliche und ästhetische Vorbereitung der Sinn für das, was ihrem Darstellungsmaterial, der Schriftsprache fehlt, geöffnet werden, sie müßten erst lernen, wie sie diese Mängel, die nicht den Individuen, sondern der Sache selbst angehören, verbessern können und was man überhaupt der Sprache anlernen kann und soll. Bis dahin wird noch manche Zeit vergehn, und wenn nicht noch Beihilfe von anderer Seite herkäme, wahrscheinlich so lange Zeit, bis es zu spät wäre. Ein anderer Weg liegt noch näher und ist doch äußerst selten eingeschlagen worden. Wenn ein und derselbe Schriftsteller sowohl in seinem heimischen Dialekt, wie in der Schriftsprache thätig ist, so muß auch sein hochdeutscher Styl von selbst wenigstens einen volksthümlichen Hauch erhalten. Das glänzendste Beispiel dafür, in vieler Hinsicht für immer mustergültig wird Hebel bleiben. In seinem Schatzkästlein, seinem klassischen hochdeutschen Produkt, ist alles äußerliche der Sprache durchweg Schriftdeutsch, einige unwesentliche Nebendinge abgerechnet. Aber Satzbau und die Wendungen des Ausdrucks sind ganz und gar, bis in jede Faser hinein volksthümlich, man kann nicht sagen dialektisch, weil das äußere Colorit des Dialekts fehlt. Niemand hat es so wie er verstanden, für das Volk vom Volke zu schreiben und zugleich dem gebildeten Geschmacke durch die wahre Quintessenz des volksthümlichen Sprachgeistes einen unvergleichlichen Genuß zu bereiten. Würde sein Vorgang zu zahlreicherer Nachfolge anreizen, selbst wenn sie mehr ein sinniges Ablernen und Anfühlen, als ein selbstständig produktives Können wäre, so würde sich das Gesicht unserer Schriftsprache bald verjüngen. Aber bis jetzt hat er keinen ihm ebenbürtigen Nachfolger gefunden. Selbst ein anderer gewaltiger Meister in der Plastik der Darstellung, der in vieler Hinsicht unschätzbare Jeremias Gotthelf ist ihm in dieser völlig kunstgerechten, dem innersten Wesen der Sprache, sowohl der Volks» wie der Schriftsprache völlig homogenen Vermittelung beider durchaus nicht gleichgekommen. Es würde sehr lehrreich seyn, wenn man von diesem Gesichtspunkte aus eine Parallele zwischen den beiden genannten Volksschriftstellern ziehen wollte, denen sich an vielseitiger Begabung kein anderer auch von den begabtesten vergleichen darf. Hebel ist ein wahrhafter Volksschriftsteller geworden, d. h. sein Schatzkästlein wird überall gelesen und gehört in diesem und in jedem anderen Sinne zu dem

25.3. Text

303

wahren Schatze unserer klassischen Literatur. Gotthelf dagegen ist kaum in das eigentliche Volk gedrungen. Hebel hat hochdeutsch geschrieben, Gotthelf seinen Dialekt entweder rein oder in einer selbst zurecht gemachten Vermischung von Hoch= und Schweizerdeutsch. Gerade daran nimmt das Volk Anstoß und die Gebildeten müssen sich selbst bei den halb hochdeutsch umgeschriebenen Meisterwerken des einzigen Mannes häufig durch unverständliche Brocken gestört sehen, wenn sie nicht zufällig aus dem Canton Bern stammen. Am wenigsten ist gewonnen mit einer an sich recht gut gemeinten Selbstüberhebung der Dialekte, wie sie noch immer nicht vom Volke, das gerade das Gegentheil erstrebt, sondern von einer romantischen Liebe zur Heimath und zur Volksthümlichkeit einzelner hochgebildeter Leute vertreten wird. Wenn der treffliche Claus Groth in seinen Briefen über Hochdeutsch und Plattdeutsch die Vorzüge des letzteren nach allen Seiten hin hervorhebt, wenn er nicht bloß die eigenthümliche Reichhaltigkeit des Wortvorraths, die Menge anschaulicher und treffender Bezeichnungen für alle möglichen Gegenstände der sinnlichen Welt der Armuth der hochdeutschen Sprache, d. h. der Schriftsprache gegenüberstellt, wenn er zugleich auch die unendlich leichtere Beweglichkeit der niederdeutschen Laute und Formen und die ebenso große Behendigkeit, Durchsichtigkeit und Bestimmtheit des Satzbaues und der Stylisirung in schlagenden Beispielen darthut, so wird ihm jeder Kenner der Sprache zustimmen. Alle diese Vorzüge des Dialektes vermissen wir schmerzlich in unserer Schriftsprache, und es ist unser sehnlichster Wunsch, daß sie ihr eben aus dem Dialekte wieder zufließen möchten. Aber wenn man weiter geht und sich zu der Behauptung versteigt, der Dialekt sey im Stande nach allen Seiten hin eine dem hochdeutschen ebenbürtige literarische Stellung einzunehmen, wenn er oder vielmehr die Schriftsteller nur wollten, so müssen wir dagegen bemerken, daß sich das Versäumte nicht wieder nachholen läßt, daß es eine barocke Zumuthung ist, eine philosophische oder staatsrechtliche Deduction oder auch eine Tragödie in plattdeutscher Sprache auch nur sich möglich zu denken und dabei ein ernsthaftes Gesicht zu behalten. Der Dialekt kann nur im niederen Gebiete der Literatur, im Schwank, in der Idylle, im Bereiche des Humors ertragen werden. Sobald er auf den Kothurn tritt, erscheint er parodisch und wirkt nur auf die Lachmuskeln, denn er ist dann wegen der geistigen Substanz der Stoffe nichts weiter als eine Travestie der ein für allemal durch die Geschichte selbst dafür geprägten Form. Können wir uns aus den eben dargelegten Gründen nicht zu der Hoffnung erheben, daß unsere Schriftsprache das, was ihr fehlt und was die Dialekte ihr geben könnten, auf dem Wege einer unmittelbaren Aneignung aus der Dialektliteratur erwerben werde, so vertrauen wir desto mehr auf die wissenschaftliche Regsamkeit, die sich jetzt überall in Deutschland, wenn auch nicht überall in gleicher Stärke mit der Sammlung des volksthümlichen Sprachmaterials und seiner systematischen Verarbeitung beschäftigt.

304

25. Heinrich Rückert ( 1 8 2 3 - 1 8 7 5 )

Die letzten zwanzig Jahre haben in diesem Zweige der deutschen Sprachwissenschaft Erstaunliches geleistet. Es ist um so mehr anzuerkennen, da die äußeren Erfolge solcher Arbeiten in keiner Art die darauf verwendete Mühe belohnen. Der Kreis des receptiven Publikums für Gegenstände der deutschen Philologie ist immer noch ein sehr enger und in diesem Kreis ist es nur ein kleines Segment, welches sich für die eigentlichen Volksmundarten der Neuzeit interessirt. Welche Opfer hat nicht ein Unternehmen wie Firmenichs „Germaniens Völkerstimmen" 9 gekostet! Wie selten ist aber auch ein Gelehrter in der Lage, solche Opfer bringen zu können! Hat doch jene treffliche Zeitschrift, 10 die ausschließlich der wissenschaftlichen Erforschung der Dialekte gewidmet war, selbst unter der Leitung Frommanns es nur zu kümmerlicher Existenz gebracht und mußte schon nach sechs Jahrgängen wieder eingehen, ohne daß sich für den Moment eine Aussicht auf ihr Wiederaufleben eröffnete. Und doch ist von jedem Gesichtspunkt aus betrachtet keine Zeit zu verlieren. Wir haben schon die Klagen über das Zurückweichen der Volksmundarten vernommen und gesehen, daß sie vollkommen gegründet sind. Jedes Jahr bringt ihnen größere Einbuße, und wenn auch nicht zu erwarten steht, daß sie ganz zu Grunde gehen, wie manche fürchten und manche hoffen, so wird doch viel unschätzbares Sprachmaterial, das einstweilen nur noch auf mündlicher Ueberlieferung basirt ist, von dem Tage und dem lärmenden Vordringen der „Bildung" verschlungen. Was sich zufällig und trümmerhaft an mundartlichen Sprachproben noch aus dem vorigen oder vorvorigen Jahrhundert erhalten hat, zeigt, wie viel unterdeß alle Dialekte, nicht etwa bloß dieser oder jener, an eigenthümlicher Kraft und Reichthum, an jener originellen Frische des Ausdrucks eingebüßt haben, die unserer Schriftsprache zu ihrer nothwendigen Erfrischung so wohl hätte zu statten kommen können. Was noch zu retten ist, muß gerettet werden, und setzen wir hinzu, es wird gerettet werden, wenn die wissenschaftliche Thätigkeit auch nur in derselben Proportion, wie seit der Begründung der modernen Sprachwissenschaft, weiter fort lebt. So wenig sie bisher durch die Ungunst des Publikums gehindert wurde, so wenig wird sie sich auch künftig dadurch beirren lassen. Es würde dann noch der Weg zu finden seyn, auf dem sich der Gewinn der Wissenschaft dem praktischen Bedürfniß der Schriftsprache übermitteln läßt. Bis jetzt, wo man auf Seite der Wissenschaft noch ganz und gar in dem Geschäft des Sammeins und Sichtens vertieft war und auf Seite der Schriftsteller entweder das Bedürfniß selbst noch nicht erkannt oder die Bedeutung der Volksmundarten verkannt zu werden pflegte, ist er noch nicht einmal gesucht worden. Es kann aber nicht fehlen, daß unsere Dialektforscher bald sich fragen werden, wie sich ihre Arbeit allgemeiner verwerthen lasse, denn jeder will doch naturgemäß möglichst reiche Früchte seiner Mühe sehen, auch wenn er Früchte im uneigennützigsten und geistigsten Sinne versteht. Sie werden sich dazu bequemen, alles abstruse und schwerfallige, was als eine lästige Hülse den süßen und allgemein erwünschten Kern verdeckt, möglichst abzustreifen und sich mit ihrem lebendigen Stoffe auch

25.4. Anmerkungen des Herausgebers

305

mit dem Leben selbst in Verbindung zu setzen. Wird die Gabe auf die rechte Art geboten, so wird sie auch überall willkommen seyn und der Segen für unsere Sprache nicht ausbleiben.

25.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3 4 5

6

7

8

9 10

Klopstocks Vorschläge zur deutschen Rechtschreibung sind in den drei Bänden „Über Sprache und Dichtkunst. Fragmente" (Bibl. A 1) enthalten. Die Hauptvertreter der beiden unterschiedenen Richtungen sind bekanntlich Jacob Grimm und Rudolf von Raumer gewesen. Vgl. dazu den Text von Campe in Kap. 1 dieses Bandes. Siehe dazu die Texte von Grimm (Kap. 2) und Wackernagel (Kap. 24) in diesem Band. Die „Schulgrammatik der deutschen Sprache" von Karl Ferdinand Becker (siehe Kap. 21 in diesem Band) erschien erstmals 1831 und erlebte bis 1872 (unter verändertem Titel) 10 Auflagen. Von noch größerem Einfluß auf den Sprachunterricht in der Schule war die vereinfachte Version der Beckerschen Grammatik, die Raimund Jakob Wurst mit seiner „Praktischen Sprachdenklehre für Volksschulen und die Elementarklassen der Gymnasial- und Real-Anstalten" 1836 in Reutlingen veröffentlichte. Sie erreichte bis 1894 73 Auflagen, ergänzt durch die „Kleine praktische Sprachdenklehre" von 1841 (23. Aufl. 1883). Rückert bezieht sich auf die letzten Sätze des zweiten Teils von „Dichtung und Wahrheit", wo Goethe Galls Meinung, er, Goethe, „sei eigentlich zum Volksredner geboren", mit dem Satz kommentiert: „Über diese Eröffnung erschrak ich nicht wenig: denn hätte sie wirklichen Grund, so wäre, da sich bei meiner Nation nichts zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf gewesen." Lorenz Oken (1779 — 1851) entwickelte, von Schelling beeinflußt, ein die gesamte Natur umfassendes System und zu dessen Darstellung ein System „durchsichtiger" Namen, das die Möglichkeit bieten sollte, an den Wortbildungen den Stellenwert der bezeichneten Elemente im System der Natur zu erkennen. Der gelehrte Einsiedler war der Arzt Karl Friedrich Arend Scheller (1773 — 1843), der auch als Übersetzer medizinischer Schriften tätig war und sich als Autodidakt in den 20er Jahren intensiv mit der Herausgabe und Erforschung niederdeutscher Sprachdenkmäler befaßte, die er in der Wolfenbütteler Bibliothek vorfand. Er trat nicht nur, wie Rückert schreibt, für die „Gleichberechtigung des Plattdeutschen" ein, das „Sassische" schien ihm als Sprache des „europäischen Urvolks" noch zu seiner Zeit würdig, die erste Sprache des Erdbodens zu werden. Als sein Hauptwerk ist anzusehen die „Bücherkunde der sassisch-niederdeutschen Sprache, hauptsächlich nach den Schriftdenkmälern der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Braunschweig 1826. — Claus Groth (1819 — 1899), seit 1866 Professor in Kiel, hat sich, wie viele Dialektdichter des 19. Jahrhunderts, auch theoretisch mit dem Problem befaßt, so in den „Briefen über Hochdeutsch und Plattdeutsch" (Bibl. A 92), die Rückert anschließend selbst nennt, und in einer Reihe von Aufsätzen in der Zeitschrift „Die Gegenwart" in den 70er Jahren. — Zu Wienbargs „Vertilgungskrieg" siehe die Literaturangaben in 16.2. J. Firmenich-Richartz: Germaniens Völkerstimmen. Sammlung der deutschen Mundarten in Dichtungen, Sagen, Mährchen, Volksliedern [...]. 3 Bde. Berlin 1843—1854. Gemeint die Zeitschrift „Die deutschen Mundarten", Bd. 1—6, 1851 — 1859.

26. Ferdinand Kürnberger (1821-1879) 26.1. Einführende Bemerkungen Ferdinand Kürnberger, der wegen seiner Sympathien für die Revolution von 1848 Österreich für einige Jahre verlassen mußte, entging dem Gefängnis trotzdem nicht. 1849 wurde er wegen des Verdachts der Beteiligung am Dresdner Aufstand verhaftet und blieb ein halbes Jahr in Dresden in Haft. Bekannt wurde er zunächst durch seinen Roman „Der Amerikamüde" von 1856. Seine eigentliche Bedeutung liegt jedoch nicht in diesem oder seinen späteren Romanen und Novellen, sondern in seiner journalistischen Tätigkeit, insbesondere in seinem Beitrag zur Entwicklung des Feuilletons in Deutschland in der Traditionslinie von Börne über Heine und die Jungdeutschen zu Rodenberg, Speidel, Fontane u. a. Karl Kraus bezeichnete ihn in dem Artikel „Aus dem dunkelsten Österreich" (Die Fackel, Dez. 1906) als den „größten politischen Schriftsteller, den Österreich je verkannt hat". Der Feuilletonist ist nicht von vornherein auch Sprachkritiker, doch geht beides in den literarischen Kritiken Kürnbergers, wie vor ihm gelegentlich bei Börne und nach ihm bei Kraus, Hand in Hand. Kürnberger kann deshalb auch in der Geschichte der Sprachkritik im 19. Jahrhundert einen Platz beanspruchen. Allerdings gehören seine primär werk- oder autorbezogenen Kritiken nicht eigentlich zu den Texten, die in diesem Band dokumentiert werden sollen. Um ihn trotzdem ins Blickfeld rücken zu können, wurde sein Essay über „Sprache und Zeitungen" gewählt, obwohl die ansatzweise systematische Behandlung eines allgemeinen Themas für das Feuilleton und Kürnberger speziell eher untypisch ist. Der Aufsatz erschien erstmals 1866; abgedruckt wurde er in der Fassung der 1. Auflage der „Literarischen Herzens-Sachen" von 1877. Die kritische Zielrichtung ist der Schopenhauers und Nietzsches vergleichbar. Allen dreien geht es nicht in erster Linie um die Sprache der Zeitungen selbst, sondern um die, wie Kürnberger schreibt, „corrosive Einwirkung" des Journalismus auf die deutsche Sprache allgemein. Doch hat Kürnberger bei aller Kritik ein größeres Verständnis für die besonderen Funktionen, die die Sprache in der Presse zu erfüllen hat, und billigt ihr ausdrücklich eine eigene Redeweise zu. Er sieht sie in dreifacher Weise als Sprache der Aufregung, Sprache der Abspannung und Sprache der Höflichkeit bestimmt. So fällt sein Urteil weniger vernichtend als das seiner Vorgänger (und vieler Nachfolger) aus, und dies nicht nur deshalb, weil er selbst Journalist ist, sondern weil er, linguistisch-modern ausgedrückt, die Notwendigkeit der funktionalstilistischen Differenzierung erkennt und anerkennt. Das hindert ihn freilich nicht daran, auch der Presse als Maßstab unbeirrt die Sprache Lessings und Goethes vorzuhalten.

26.3. Text

307

26.2. Literaturhinweise Textvorlage Ferdinand Kürnberger: Literarische Herzens-Sachen. Reflexionen und Kritiken. Wien: L. Rosner 1877, 1 2 - 2 7 . Weitere Literatur A: Siegelringe. Eine ausgewählte Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Hamburg: O. Meißner 1874. Fünfzig Feuilletons. [Von einem ungenannten Herausgeber aus dem Nachlaß veröffentlicht] Wien: Daberkow 1905. B: Haacke, Wilmont: Handbuch des Feuilletons. 3 Bde. Emsdetten: Lechte 1951, 1952, 1953.

26.3. Text Sprache und Zeitungen (1866/1877) Als die preußische Stempelsteuer für deutsche Zeitungen decretirt wurde, während fremdländische frei eingingen, wußte der Münchner Punch einen guten Rath. Er meinte, die deutschen Zeitungen sollten einmal berechnen, wie viel deutsche Wörter und wie viel fremde ihr Text hätte; wahrscheinlich fänden sie den gegründetsten Rechtstitel, als ausländische Journale zu passiren. Für Puristen (Sprachreiniger) mag das ein guter Witz gewesen sein. Was uns betrifft, wir sind eigentlich nicht Purist und finden jene Satyre schon nicht mehr gerecht. Sie paßte vollständig für ein gewisses Stadium der deutschen Sprachgeschichte. Sie paßte z. B. für das Franzosendeutsch, welches vom 30jährigen Krieg bis auf Friedrich II. herrschte. Sie paßte für das französische Salonkauderwälsch, welches noch in den 30ger und 40ger Jahren die Romane der Hahn=Hahn lächerlich machte. Nur Blinde können leugnen, daß die deutsche Schreibart seitdem reiner, natürlicher, nationaler geworden ist. Und zuletzt macht es im Gebrauch der Fremdwörter einen großen Unterschied, ob man sie muthwillig, aus purem Affentrieb annimmt, oder im Geiste einer wirklichen Bereicherung und Ergänzung des nationalen gegenüber dem kosmopolitischen Genius. Schon Karl V. bemerkt, es heißt so viele Seelen haben als man Sprachen spricht, und Varnhagen erinnert im echtesten Zeitgeist unserer Freihandels 5 Aera, daß im internationalen Verkehr der Völker nicht nur Güter zum Austausch kommen, sondern auch Ideen und Ideenkleider — Wörter. Die Theorien sind überwunden, die darauf drangen, „daß das Geld im Lande bleibe" oder die von einer „Ueberschwemmung unserer Märkte" sprachen, wenn wir mit den Wohlthaten der Natur und des Fleißes von jenseits unsrer

308

26. Ferdinand Kürnberger (1821-1879)

Kirchthürme berieselt wurden. Ebenso lächerlich kann der Purist werden, der mit der Schlafmütze auf dem bezopften Schädel ängstlich aus seinen Kyffhäuser=Träumen aufschreit, daß jeder Sprachsechser im Lande bleibe und ja nicht gegen die Sixpences oder Francs und Bajocchi der gottlosen Fremden verwechselt werde. Als ob Sprachbereicherung effectiv Sprach verberb sein müßte! Und als ob Sprachverderb nur von außen und nicht auch von innen kommen könnte! Leider, er kommt auch innen! Und die Quelle aus der er kommt, ist jene Literatur, welche vor allen Harpyen des Leipziger Meßkatalogs, vor Allem was für Belehrung, Unterhaltung, Müssiggang, Unsterblichkeit, Wissenschaft und Verdummung geschrieben, gedruckt, verlegt und eingestampft wird, den kolossalsten und überwiegendsten Sprachverbrauch an sich gerissen — der Journalismus. Der Journalismus dringt wie der Sauerstoff in der Luft, zerstörend, zersetzend, auflösend und freilich auch neubildend auf das feste Gebilde der Büchersprache ein, er allein reagirt thätiger auf sie als alle übrigen Sprach=Agenden zusammengenommen. Neuerungen in einzelnen Wörtern und ganzen Redensarten, Neuerungen in Orthographie und Syntax, kurz Sprach=Neuerungen in allen Mustern, creirt der Journalismus fast ausschließlich. Was der gesammten Buchliteratur nicht gelingt, vollendet leicht und spielend die Blattliteratur. Sie ist das Mäuschen, welches die Netze zernagt, in denen die Löwen ihre Ohnmacht fühlen. Voltaire wollte den Franzosen statt des übelklingenden Αουτ das latinisirende A U G U S T insinuiren, Goethe den Deutschen statt Eidechse Lacerte. 1 Die beiden mächtigsten Sprachkaiser der modernen Welt haben 80 Jahre ihres Lebens drangesetzt und diese winzige Neuerung nicht forcirt. Jean Paul schrieb in Dutzenden von Romanen, welche die tonangebende Welt beherrschten, Hilfmittel und Neuerungsucht statt Hilfsmittel und Neuerungssucht; aber der vergötterte Mann hatte nicht Hilfsmittel genug, seine kleine unschuldige Neuerungssucht durchzusetzen. 2 Man lese dagegen die Sprache Voltaire's, Goethe's und Jean Pauls im Journalismus — und sie ist um und um revolutionirt. Der Journalismus hat noch ganz andere Dinge mit ihr fertig gebracht. Wer zweifelt daran? Schreiber Dieses ist noch kein alter Mann und doch ist ihm ein Theil seiner Schul= und Jugendsprache bereits abhanden gekommen. In seiner Jugend schrieb man Gegenwart, heutzutage sagt man J e t z t z e i t , 3 ein gräulicher Zischlaut, einer Schlangensprache würdiger als einer Menschensprache! In seiner Jugend sagte man, der Anfang, die Beurtheilung. Jetzt sagt der Journalismus d i e I n a n g r i f f n a h m e , d i e I n b e t r a c h t n a h m e . Es fehlt wenig und man wird bald auch schreiben: d i e I n s l e b e n t r e t u n g ; hin und wieder ist's schon geschehen. Statt der Schreibart: ein gewisser Meyer, taucht mehr und mehr das Gelüste auf, ein s i c h r e r Meyer zu schreiben. Unlogisch sind im Grunde beide Ausdrücke, sie wollen nahezu ihr Gegentheil bezeichnen, nämlich das was ein wenig ungewiß und unsicher ist. Aber der Gebrauch von jenem „gewiß" wird vom Sprachgenius wenigstens durch die Analogie gedeckt; man sagt, ein gewisser Meyer, wie man

26.3. Text

309

sagt: ich habe ein gewisses Gefühl, es gibt gewisse Dinge iC. Man sage in diesen Fällen statt gewiß, sicher und die Verstandlosigkeit springt in die Augen. Noch ärger aber wird dieser muthwillige Kitzel der Neuerungssucht, wenn er ohne Grund und Verstand noch mehr als den Sprachgebrauch, nämlich das Sprachgesetz, die Grammatik selbst verletzt. Das zusammengesetzte Verbum ü b e r g e h e n ist trennbar und untrennbar, nicht nach Belieben und Laune, sondern nach dem Wechsel seiner Bedeutung. Einen andern Sinn gibt „ich übergehe" und einen andern „ich gehe über". Dort ist die Hauptsache die Person, welche geht; hier aber die R i c h t u n g , in welcher gegangen wird. Die Deutlichkeit der letzteren Bedeutung verstärkt sich noch eine Präposition, und Präpositionen haben, so lange die Welt steht, die Raumverhältnisse, den Ort und die Richtung einer Thätigkeit angezeigt. Man sagt: ich gehe zu einer Sache über. Gar nicht selten aber schreiben bereits die Zeitungen: „Wir übergehen zur Tagesordnung", anstatt: wir gehen zur Tagesordnung über. Wenn's nur neu klingt! Möchte es doch der boshafte Zufall recht oft fügen, das sich beide Bedeutungen dicht neben einander einstellten, denn das gäbe dann so prächtige Sätze, wie z. B. diesen: Indem wir diesen Punkt übergehen, übergehen wir zu folgendem Gegenstand!! Die genannten Ausdrücke sind so unglücklich, größtentheils schon für Auge und Ohr so beleidigend, daß man sie nur zu nennen braucht, um sie zu richten. Sie kritisiren sich von selbst. Ein wenig versteckter liegt die Unschönheit oder Sinnwidrigkeit — um über einzelne Wörter hinauszugehen — in folgenden Phrasen und Redensarten, welche Kinder des Journalismus sind, und welche von der Umgangs^ und Büchersprache schon nachgesagt werden, ohne daß Jemand ein Arg daran hätte. Indem wir sie anführen, wird man uns daher Raum gönnen müssen, es unter Begleitung kleiner kritischer Excurse zu thun. Ein Lieblingsausdruck des Journalismus ist die Redensart: u n b e r e c h e n b a r e T r a g w e i t e . Wir denken recht gut die Zeit, wo man sich noch mit Folgen und Wirkungen begnügte, die man etwa groß oder wichtig nannte. Das reicht nun länger nicht aus. Die guten ehrlichen Alten sind gestürzt, entthront von dem jüngeren Zeus der unberechenbaren Tragweite. Ein stattliches Wort, wir gestehen es! Wenn es nur eben so gut die Kritik vertrüge, als es pompös ins Ohr fallt! Das Wort ist bildlich und das Bild ist von dem Geschützwesen entlehnt. Aber wie weit trägt ein Geschütz? Wenns hoch kommt, eine halbe Meile. Und mit dieser Spanne im Räume will man die Unendlichkeit geschichtlicher Wirkungen in der Zeit vergleichen? Und der Vergleich soll noch grandios scheinen? Aber freilich, die Tragweite allein thuts nicht. Sie muß unberechenbar sein, das ist der Effect von dem Defect. Ein Defect in Wahrheit! Wir leugnen zwar nicht, daß manches in die Geschichte getreten ist, was wol unberechenbar heißen kann, z. B. das Pulver, die Buchdruckerkunst, die Entdeckung von Amerika, die Reformation, die Encyklopädie 4 , die Elektricität, der Dampf. Aber es läßt sich zählen. Wir möchten

310

26. Ferdinand Kürnberger (1821-1879)

nicht jahraus jahrein fast bei Allem, was um uns vorgeht, mit dem Bekenntniß zur Hand sein, daß es uns „unberechenbar" däucht. Das ist demüthigend. Das ist kein Zeugniß für den Scharfsinn der menschlichen Denkkraft. Der Koloß der unberechenbaren Tragweite thut vielleicht Einmal im Jahrhundert seine Wirkung; täglich producirt, wird er ein recht kleiner, hilfloser Zwerg. Eine Journal=Creatur, die Jedermann zuläßt, die aber fast allein schon im Stande wäre, uns das ganze jüngere Schriftthum zu verleiden, ist der Gebrauch des Wortes v e r t r e t e n . Sonst sprach und schrieb man: Herr A. hat den Hamlet gespielt, der Düsseldorfer Maler B. hat eine Landschaft nach München geschickt. Jetzt schreibt und spricht man: der Hamlet war durch Herrn A. vertreten, Düsseldorf war durch eine Landschaft von B. vertreten. Ist diese Neuerung gleichgiltig? Wir glauben es nicht; wir halten sie vielmehr für bedeutungsvoll. Es bedeutet einen gewissen Servilismus des Subjects gegen das Object, der uns weder anständig noch logisch däucht. Der Ausdruck ist dem Parlamentarismus entlehnt. Fünfzigtausend Menschen z. B. schicken einen in's Parlament, der sie vertritt. Hier erscheint der Eine im Dienste der Fünfzigtausend; das hat seinen Sinn. Welchen Sinn aber hat es, daß ein Schauspieler den Hamlet vertritt oder daß ein Maler Düsseldorf vertritt? Der Schauspieler vertritt nicht den Hamlet, er s c h a f f t ihn. Der Hamlet des Shakespeare ist nur für die Einbildungskraft da, der Hamlet mit Mienen und Geberden, der Hamlet der sinnlichen Anschauung ist das W e r k des Schauspielers. Ebenso schickt ein Düsseldorfer nicht eine Landschaft nach München, um Düsseldorf zu vertreten, sondern um sich selbst zu vertreten, in s e i n e m Interesse, nach s e i n e m Belieben. Sehen wir also dem „Vertreten" schärfer ins Auge, so ist es genau aus dem Geiste geboren wie die unberechenbare Tragweite: sein Wesen ist äußere Großheit bei innerer Armuth. Denn freilich ist dem kleinen kurzen Dasein der Individualität scheinbar geschmeichelt, daß man ihr den großen Hintergrund der Gattung gibt, daß man sie als Repräsentanten auffaßt und zum Ambassadeur ihres ganzen Begriffes stempelt. Wie aber der Ambassadeur seine meisten und liebsten Handlungen denn doch auf eigene Rechnung vollzieht, z. B. bei Tisch oder in der Liebe; so wird die freie, lebendige Individualität ganz gewiß wünschen, in ihrem eigenen Namen zu existiren und nicht als Silhouette in der Schattenwelt der Begriffe zu lohndienern. Diese Auflösung und Nichtachtung der Persönlichkeit scheint uns in merkwürdiger Uebereinstimmung mit dem zu stehen was man heute den Materialismus nennt, ja wir erblicken in dem Ausdrucke „vertreten" das wahre Schiboleth dieses Materialismus. Sollten wir nämlich kurzweg sagen was Materialismus ist, so würden wir sagen, er ist das Setzen der S a c h e über die P e r s o n . Und das ist die Signatur unseres Zeitalters. Eine rapide Folge großer Erfindungen hat die Generation so überrascht und trunken gemacht, daß sie in Anstaunen ihrer eigenen Werke nach Art der Wilden ihre Gebilde für göttlicher hält als sich selbst. Sie nennt ihr Zeitalter das Jahrhundert des D a m p f e s , während man im vorigen Jahrhundert von einem Zeitalter Rousseaus und Friedrich des Großen sprach. Für diese Denkungsart ist der Ausdruck „vertreten" wie

26.3. Text

311

geschaffen. Er verleiht der Sache den ersten, der Person den zweiten Rang. Er kehrt das natürliche Verhältniß vom Subject und Object um, und stellt den Gesichtspunkt so als ob die Dinge nicht durch den Menschen da wären, sondern ganz abstract durch sich selbst und der Mensch nur angestellt wäre, sie zu vertreten. Kurz, der Sturz des Idealismus! Aber noch leben Idealisten, Leute welche den guten Willen haben, gut zu sprechen und zu schreiben. Diese machen wir aufmerksam, wie sehr sie ihren Styl verunzieren, wenn sie dem Journalismus solche Barbarismen nachschreiben. So lesen wir z. B. in Tschudi's Thierleben der Alpen sehr oft, wie diese und jene Thiergattung „bei uns vertreten" ist — was sich in einem Naturgemälde, wo doch Alles nur concrete Sinnlichkeit ist, doppelt leidig ausnimmt. Als ob ein Bär auf dem Jura hauste, um das Bärengeschlecht in der Schweiz zu „vertreten"! Ganz das Nämliche, wenn auch im minderen Grade, haben wir der Phrase „ a n g e z e i g t " nachzusagen. Dieser Kunstausdruck gehörte sonst ausschließlich der praktischen Heilkunde an. Er scheint erst in den letzten Jahren, in welchem Cholera und Typhus den Verkehr zwischen Arzt und Publikum so verhängnißvoll gesteigert haben, aus dem Munde der Aerzte in die Schriftsprache, und hier zunächst in den hungrigen Schlund aller Neuerungen, in die Journalsprache, übergegangen zu sein. Vor zwei Decennien kannte ihn keine Zeitung; heute spielt er eine außerordentlich beschäftigte Rolle. Ueberall wo man sonst passend, dienlich, schicklich, rathsam, anwendbar, wohlthätig, erfolgreich, heilsam, geboten, ersprießlich, dankbar, zweckmäßig, lohnend, erforderlich, nothwendig, schuldig, nützlich gesagt, kurz einen Ausdruck erwählt hätte, welcher die individuelle Physiognomie der Sachlage sprechender porträtirt hätte, dort ist jetzt alles a n g e z e i g t oder n i c h t a n g e z e i g t . Eine Unzahl von zarteren Aussprüngen des Sprachwuchses wird durch diese Redensart vernichtet, ja, es ist eigentlich nicht abzusehen, wie weit diese Vernichtung n i c h t gehen sollte. Denn daß „angezeigt" einfach die Synonyma verdrängte, d. h. ein einzelnes Wort das andere, wäre noch der geringere Nachtheil; aber auf den Ruhepunkt eines solchen Schlagwortes wird oft der ganze Gedanke selbst umgelegt. Warum z. B. sollte ein moderner Flaneur sein Gehirn anstrengen und den Gedanken erzeugen: eine Strafe würde die Selbstachtung dieses Kindes in ihrem zartesten Keime verletzen — wenn ihm sein Zeitungsstyl die Phrase an die Hand gibt: eine Strafe wäre hier nicht a n g e z e i g t ? In der Vulgärsprache verschluckt man Silben und Wörter; wie bequem ist es nun, den Gedanken selbst zu verschlukken! Der Presse, die oft so peinlich pressirt ist, könnte man solche Abbreviaturen noch nachsehen; wenn wir aber bedenken, daß von den Millionen Zeitungs= Exemplaren, welche zu jeder Stunde gelesen werden, die Phraseologie unaufhaltsam ins Volk dringt, so müssen wir auch der Presse solche gedankentödtende Phrasen strenger zurechnen. Sie verderben die Umgangssprache, machen sie fauler, monotoner, langweiliger. Mit einer andern Phrase macht sich's der Journalismus als Kunstkritiker bequem. Wir meinen die Phrase, e i n s c h ö n e s S t r e b e n . Was ist heutzutag

312

26. Ferdinand Kürnberger ( 1 8 2 1 - 1 8 7 9 )

gangbarer als diesem und jenem Künstler ein schönes Streben nachzurühmen, sein schönes Streben zu loben, ihm ein schönes Streben zu bezeugen ic. IC.? Die Kunstsprache früherer Kritiker kennt diesen Ausdruck nicht; selbst Goethe, der doch ganze Generationen zu beurtheilen hatte, braucht ihn kaum zwei oder dreimal. Heutigen Datums aber ist er landläufig. Wir halten das für ein betrübendes Zeichen der Zeit. Es muß eine Zeit des Marasmus, der byzantinischen Greisenhaftigkeit sein; es muß ein gewisses Bewußtsein von Unfähigkeit und Ohnmacht durch die Gemüther schleichen, wenn in der Kunst, die vom K ö n n e n sich nennt, das bloße S t r e b e n zugerechnet wird. Wie, haben wir uns oft gefragt, will man sich wirklich mit dem Streben begnügen? Will man dem Streben im Ernste die Würde und das Verdienst des Machens zuerkennen? Was ist schön am Streben, wenn nicht das richtige und entsprechende Verhältniß zu einer That? Wenn ein Lappländer das Streben hätte, auf seinem Grundstück Orangen zu ziehen, wäre das auch ein schönes Streben? Das Streben ohne Furcht ist also unmöglich ein schönes, vielmehr ein krankhaftes, eitles; das fruchtbare Streben aber ist über den Ausdruck s t r e b e n hinaus: es ist ein Erreichen, ein Fertigmachen, es ist eine That. Was heißt also: ein schönes Streben? Heißt's eine That? Nein, denn sonst würden wir dem Thäter die That rühmen. Heißt's ein Thun=wollen, aber nicht können? Es scheint so. Oder heißt's nicht einmal ein Thun=wollen, sondern nur ein Haschen nach dem Effect, ein Geizen nach dem Gewinn, ein Jagen nach der Ehre der That, ohne daß man überhaupt etwas thun wollte? Es scheint noch mehr so. Das schöne Streben wäre also eine jener Phrasen, womit die Presse das Virtuosenthum, oder vielmehr, da der ausgewachsene Virtuos ungleich stärkerer Kost bedarf, die Brut des Virtuosenthums, die zarte Jugend der künftigen Taugenichtse pflegt. Das schöne Streben verträte demnach auf den Kunstpässen die Rubrik der Polizeipässe: Besondere Kennzeichen — keine. Die Charakterlosigkeit, die undefinirbare Mittelmäßigkeit, die Abwesenheit irgend eines bestimmten Kraftausdruckes, kurz, alles was sonst Halbheit, Schwäche, Unfertigkeit, Dilettantismus, Nihilismus hieß, das soll unter der Empfehlung eines schönen Strebens endlich dreister auftreten dürfen. Wir verwahren uns dagegen! — Mit den obigen Phrasen im directen Widerspruch steht die Phrase: eine M i s s i o n haben. Mission heißt Sendung und zwar Sendung von Gott. Moses hatte eine Mission, die Jungfrau von Orleans hatte eine. Aus der Heiligensprache ging das Wort in die Profansprache über und zwar für große und erhabene Veranlassungen. Der Journalismus endlich tilgte auch diese letztere Bedeutung daran; in seinem Streben, den Tag möglichst interessant zu machen, beehrt er alles beim Tag und der Stunde Beschäftigte mit dem Complimente, daß es eine Mission habe. Seltsam; während der Mensch die Dinge nicht mehr erzeugt, sondern nur noch vertritt, während er keine That mehr hat, sondern nur noch ein schönes Streben, wird ihm deßungeachtet jede Bagatelle zur Mission. Im Munde der Zeitungen hat der moderne Mensch keinen Beruf, keine Pflicht, keine Arbeit mehr, sondern er schwimmt in Missionen. Aber wie komisch, wenn ein Legationssecretär dritten

26.3. Text

313

Rangs eine Mission nach Flachsenfingen hat, oder wenn eine Sängerin durch einen Schnupfen ihrer Mission entzogen wird, oder wenn ein Dorfgeschichtenschreiber im Drama seine Mission verfehlt und in der Kuh= und Ochsenpoesie seine Mission erfüllt u. s. w.! Der Ausdruck Beruf ist also mit Mission offenbar schlecht übersetzt. Was aber sollen wir dazu sagen, daß in allen Dictionärs der Zeitungsbureaux engagiren zu deutsch g e w i n n e n heißt? Eine wunderliche Uebersetzung! Indem wir sie zu begreifen suchten, war unser erster Gedanke, man übersetzt vielleicht so in seltenen und ausnahmsweisen Fällen, in Fällen, wo wirklich ein auszeichnender Grad von Höflichkeit „angezeigt" ist. Man sagt für engagiren g e w i n n e n , etwa von einem großen bedeutenden Künstler, welchen gleichzeitig viele zu engagiren wünschen, so daß derjenige, der ihn wirklich engagirt, in der That wie der glückliche Gewinner eines Treffers zu betrachten ist. Aber dem ist nicht so. Nicht bloß das Beste, Alles wird „gewonnen". Die obscursten Namen werden gewonnen, frische und ausgesungene Stimmen, neue und abgespielte Comödianten. Auch gut. Im Grunde ist es so mißbräuchlich nicht; jeder Miethcontract zielt auf Gewinn; Jeder der ein Engagement anbietet, hofft zu gewinnen. Also schreiben wir statt engagirt, gewonnen werden. Aber schreiben wir's consequent; schreiben wir auch: die Köchin ist von ihrer Frau, der Schneidergeselle von seinem Meister gewonnen worden. In der That dürfte eine gute Köchin viel schwerer zu g e w i n n e n sein als ein Hüpfer und Schreier. Nicht doch, sagt ihr, man will der K u n s t die Ehre geben. Wirklich? Wir wollen sehen! Zeigt uns also gefälligst das Zeitungsblatt, auf welchem gedruckt steht: Die Nibelungen von Hebbel sind dort und dort zur Aufführung g e w o n n e n worden! Und die Nibelungen von Hebbel gehören doch ein klein wenig in die Kunst, nicht wahr? Ihr erröthet? Aha! wir stehen also vor einer jener Zeitungsphrasen, welche die Gedankenlosigkeit, nicht eine durchdachte und anständige Absicht creirt hat. Dramen werden nicht gewonnen! Ein Drama wird nur schlecht und recht a n g e n o m m e n . Annehmen hat zum Gegensatz Abweisen, und eine fatale aber unausbleibliche Ideenverbindung nöthigt uns, bei dem einem auch das andere zu denken. Zu denken? nur zu denken? Ei doch, man schreibt es ja ausdrücklich! Man schämt sich nicht zu schreiben: Hebbel's Nibelungen sind von dem Hoftheater in Kuhschnappel zurückgewiesen worden. Zurückgewiesen! Pfui über das gendarmenhafte, bettelvogtmäßige Wort in der Kunstsprache! Wenn schon ein Drama nicht gewonnen wird, könnt ihr nicht sagen, es wird erworben? Und könnt ihr nicht sagen, es wird abgelehnt, statt zurückgewiesen? Jedermann fühlt, wie weit wir diese Proben der journalistischen Sprachfabrik noch fortführen könnten. Ja, vielleicht nimmt sich ein aufmerksamer Leser in der Provinz, der seine Zeitung wirklich noch liest, nicht blos durchfliegt, nach dieser Anregung die Mühe und notirt sich einmal aus dem Laufe seiner Jahrgänge alle sprachlichen Neubildungen, die ihm nach und nach auffallen. Der Mann dürfte schöne Sylvesternächte feiern! Er dürfte die Entdeckung machen, daß ihm von der Sprache Goethe's und Lessing's Jahr für Jahr ein Stück abhanden gekommen ist.

314

26. Ferdinand Kümberger (1821-1879)

Man mißverstehe uns nicht. Das Princip, welches diesen Neuerungen zu Grunde liegt, fechten wir keineswegs an. Die Zeitung bedarf ihre eigene Redeweise; wir gestehen ihr das zu. Stets neu, stets interessant, stets wachsam, wichtig und allarmirend wie sie ist, sein muß und sein will, spricht sie die Sprache der A u f r e g u n g . Stets fatiguirt, stets enttäuscht, stets um Erfolge und Ziele, ja oft ums Dasein betrogen, stets sclavisch im Joche, mit Schnellpressen und Setzmaschinen, mit Posten und Telegraphen stets im Wettrennen, spricht sie aber auch die Sprache der A b s p a n n u n g . Drittens spricht die Zeitung, die mit der ganzen Mitwelt mitleben, und um Einfluß zu haben, auf gutem Fuß mit ihr stehen muß; die das Vortreffliche nur selten, dagegen das Schlechte und Mittelmäßige als Regel, als Tuch und Unterfutter des Jahrhunderts sieht, die Sprache der Schonung, der H ö f l i c h k e i t . Auf dieses dreitheilige Schema ungefähr wird sich alles zurückführen lassen, was von neuerungssüchtiger Eigenthümlichkeit den Zeitungsstyl kennzeichnet, was seine Phraseologie motivirt. Wir haben nichts dagegen. Kein Motiv ist schlecht, nur die Art, ihm genug zu thun, kann es sein. Spricht die Zeitung die Sprache der Aufregung, so kann sie damit sicherlich übertrieben, schwülstig und hyperbolisch=mißbräuchlich werden (siehe: Mission und unberechenbare Tragweite!), sie kann aber eben von dieser Aufregung Schwung, Glanz, Feuer und Leben, dichterische Kraft und Originalität erhalten und die Sprache aufs glücklichste heben. Spricht die Zeitung die Sprache der Abspannung, so kann sie freilich Gefahr laufen, sich das Denken ein wenig leicht zu machen, sich Denk=Abbreviaturen zu erfinden, Ausdrücke, die in passenden Fällen angehen, in tausend unpassenden zu wiederholen (vertreten und angezeigt!), kurz einen s t e h e n d e n S t y l auszubilden, der wo möglich sich selbst schreibt. Andererseits aber wäre ein stehender Styl gar nicht so übel. Alle Welt weiß, wie sehr es unserem Deutsch daran fehlt, wie spröde der Stoff jeder einzelnen schriftstellernden Hand widerstrebt, wie geschmeidig dagegen die Plasticität — um ein physiologisches Wort zu gebrauchen — des Französischen und selbst auch des Englischen zur Hervorbringung bezeichnender und handsamer Rede»Stereotypen sich anläßt. Spricht endlich die Zeitung die Sprache der Schonung und Höflichkeit (schönes Streben, gewonnen für engagirt werden), so ist es ebenso bekannt, daß unser Deutsch, welches mehr zur derben Aufrichtigkeit, als zur feinen Umschreibung inclinirt, eine Schule des guten Tones gar wohl vertragen könnte und noch lange keinen Ueberfluß, vielmehr einen rusticalen Mangel an wohlthuenden Redensarten besitzt. Auch hier könnte die Zeitung um unsere Sprachcultur von Verdienst sein. Aber in all diesen Fällen mußten wir sagen: sie könnte! Unsere angeführten Proben dagegen dürften gezeigt haben, was für ein Unterschied ist zwischen dem möglichen Können und dem wirklichen Thun. Die Zeitung kann Beides: sie kann unsere Sprache ausbilden und kann sie mißbilden. Ja, eines von Beiden muß sie sogar, denn nichts ist gewisser, als daß sie die Sprache nicht lassen kann, so wie sie ist. Journale müssen nun einmal anders sprechen als Bücher und unaufhaltsam

26.3. Text

315

ist der moderne Massen=Bildungsgang vom Buch zum Journal. Sehr richtig hat Lamartine bemerkt: sonst wuchsen die Journale aus den Büchern, heute wachsen die Bücher aus den Journalen. Mehr und mehr wird der Roman Feuilletonroman, die gelehrte Abhandlung populäre Vorlesung, die Wissenschaft Correspondenz; der Zeitungs=Mitarbeiter pflegt nach und nach sein Eigenthum in Buchform zu sammeln und wieder an sich zu nehmen, und zahllos sind bereits die Bücher, welche nichts anderes sind, als zurückgenommenes Zeitungsgut. Schriftsprache wird mehr und mehr heißen: Journalsprache. Kleinlich, kindisch und veraltet ist unter diesen Umständen die Aufgabe des Purismus. Was will eine Handvoll Fremdwörter mehr oder weniger zu bedeuten haben, wo es sich innerhalb der Sprache selbst um eine ganze große Revolution handelt?! Auch ist diese Revolution den Puristen entwachsen. Glaubt man, der Riese wird Gesetze annehmen von einer ACADEMIE FRAN^AISE oder einer A C C A DEMIA DELLA CRUSCA? Das waren Institutionen für jugendliche Literaturen, für aristokratische zumal, die in Händen nur eines kleinen Bildungsadels lagen. Die großgewachsene, allgemein verbreitete und demokratische Literatur des Journalismus läßt sich vom privilegirten Puristen nicht gängeln. Nur einer kann jetzt Purist sein, nämlich der Journalist selbst, der denkende Journalist an tonangebenden Blättern. Wir haben den Journalismus in seiner corrosiven Einwirkung auf die Sprache mit dem Sauerstoff in der Luft verglichen. Aber e i n Unterschied ist doch. Der Sauerstoff ist eine blinde Naturkraft und Journale werden von bewußten Vernunftwesen geschrieben. Sie können aufmerken auf das was sie thun, sie können zerstören und aufbauen mit freier Wahl. Mög' euch denn das Bewußtsein eurer Mission — einer wirklichen Mission! — keinen Augenblick verlassen, Hüter der Sprache, Schreiber der Sprache! Bedenkt dieses: Vor einem gutgehaltenen Parke steht das Placat: „Es wird höflichst ersucht, nichts abzureißen und zu beschädigen." Den Bestand eines Forstes hütet das Waldfrevelgesetz und der Zerstörer, welcher Muthwillen übt, oder durch sein unvernünftiges Vieh Muthwillen üben läßt, wird empfindlich bestraft. Den Wald und Garten der Sprache schirmt — n i c h t s ! Er ist eurer gänzlichen Discretion überlassen. Kein Hand= und Fußeisen bestraft eure Baumfrevel, nicht einmal ein hölzerner Pfahl steht da mit einer polizeilichen Bitte. Wehrlos ist euch die Sprache preisgegeben, wie nie ein Volk seinem Despoten, eine Sclavin ihrem Herrn überliefert war. Nichts beschränkt euren Mißbrauch, wenn euch die stumme Schönheit nicht rührt, welche aus Lessings und Winkelmanns Schriften, aus Goethes und Schillers Kunstwerken den Gruß heimatlicher Ehren euch entgegenbringt. Geht mit eurer Sprache um, wie mit eurer Ehre! Verleidet dem Sohn des Jahrhunderts den Genuß eurer neuen Ideen nicht durch eure neuen Barbarismen. Bedenkt, daß das Neue schon an sich genug der Widersacher hat, wollt ihr auch noch jene Gemüther zurückschrecken, welche eure Neuerungen aus bloßer — R e i n l i c h k e i t s l i e b e zurückweisen? Wollt ihr zu euren religiösen und politischen Feinden

316

26. Ferdinand Kürnberger (1821-1879)

auch noch ästhetische haben? Diese Gefahr aber liegt gar nicht so fern. Wir sind bald hier bald dort feinfühligen Gemüthern begegnet, welche sich das Zeitungslesen abgewöhnt haben aus Abscheu vor dem modernen Zeitungsjargon. Auch der Sprachsinn hat seine Empfindlichkeit wie ihn der Gehörsinn gegen falsche Noten hat. Aber nur ein Operndirector ist in der Lage, heute einen Mozart und morgen einen Richard Wagner aufzuführen um sowohl die Harmonischen als auch die Disharmonischen zu befriedigen. Die Zeitungssprache dagegen kann nicht heute für Classiker und morgen für Barbaren schreiben. Sie muß Partei ergreifen. Und entscheidet sie sich für die Partei der Barbaren, so gibt es im Parteidienst bekanntlich keinen Stillstand und keine Mäßigung, sondern sie wird es in Kurzem dahin gebracht haben, — daß das Deutsch Lessings und Goethes aufhört eine lebende Sprache zu sein!

26.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2 3

4

Wo Voltaire bzw. Goethe ihre Vorschläge machen, habe ich nicht ermitteln können. Zum Verzicht auf das Fugen-s siehe die Texte von J. Grimm (Kap. 11) und Jean Paul (Kap. 12) in diesem Band. Zur Geschichte dieses Wortes und der Kritik an ihm siehe verschiedene kurze Beiträge in der „Zeitschrift für deutsche Wortforschung" 2 (1902), 70 u. 256; 5 (1903/04)), 114; 11 (1909/10), 115. Das Wort scheint zuerst von Jean Paul 1807 in der „Levana" gebildet worden zu sein („Jetzt-Zeit"; in der 2. Aufl. „Jetzo-Zeit"). „Jetztzeitig" verwendet Jahn im „Deutschen Volksthum" (1810). „Jetztzeit" kommt nach Jean Paul bei vielen Schriftstellern vor, so bei Wienbarg, Heine, Hebbel und Robert Blum. Anfang der 50er Jahre gab es für kurze Zeit sogar eine Wiener Zeitschrift mit dem Titel „Die Jetztzeit". — Die Kritiker, unter ihnen Jochmann (1828), Schopenhauer (1851), Kürnberger (1866), Hildebrand (1868), Nietzsche (1873), Wustmann (1891), empfinden das Wort aber immer wieder als neues Wort gerade ihrer jeweils gegenwärtigen Zeit. Gemeint die der französischen Aufklärung von Diderot und d'Alembert, die als welthistorisches Ereignis also den Vorzug vor der Französischen Revolution erhält.

27. Rudolf Hildebrand ( 1 8 2 4 - 1 8 9 4 ) 27.1. Einführende Bemerkungen Rudolf Hildebrand war nach seinem Studium der klassischen und deutschen Philologie und einer vorübergehenden Tätigkeit in der Redaktion der Deutschen Allgemeinen Zeitung ab 1848 zwanzig Jahre Gymnasiallehrer an der Thomasschule in Leipzig, derselben Schule, die er als Schüler besucht hatte. 1869 wurde er außerordentlicher, 1874 ordentlicher Professor für neuere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Leipzig. Neben anderen germanistischen Forschungen — u. a. zur Geschichte des deutschen Volksliedes — war ein jahrzehntelanger Schwerpunkt seiner Arbeit die Fortführung des Grimmschen Wörterbuches, für das er u. a. die berühmt gewordenen Wortmonographien zu „Geist" und „Genie" geschrieben hat. Die größte Wirkung hatten jedoch seine pädagogischen und deutschdidaktischen Veröffentlichungen, vor allen anderen die ursprünglich 1865 entworfene Schrift „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule", nachdem er sie 1879 in 2. Auflage als selbständiges Buch veröffentlicht hatte. Sie bestimmte, zunächst für die Volksschule konzipiert, für Jahrzehnte die Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts auch auf den Realschulen und Gymnasien. 1962 erschien die 27. Auflage. Ab 1887 gab Hildebrand, zusammen mit Otto Lyon, die Zeitschrift für den deutschen Unterricht heraus. Für diesen Band ausgewählt wurden Hildebrands Überlegungen zum Hochdeutschen seiner Zeit im dritten Kapitel der Schrift „Vom deutschen Sprachunterricht", das er ganz auf dem (wirklichen oder vermeintlichen) Gegensatz von Büchersprache und gesprochener Sprache aufbaut. Der letzte Satz der abgedruckten Seiten lautet vollständig: „Das Hauptgewicht im deutschen Unterrichte sollte künftig auf die gesprochene und gehörte Sprache gelegt werden, nicht auf die geschriebene und gesehene — es fragt sich nur, wie das zu machen sei." Die letzten sieben Seiten des Kapitels, hier nicht mit aufgenommen, sind der Frage, „wie das zu machen sei", gewidmet und enthalten konkrete didaktische Hinweise für den Deutschlehrer.

27.2. Literaturhin weise Textvorlage Rudolf Hildebrand: Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von etlichem ganz Anderen, das doch damit zusammenhängt. In: Pädagogische Vorträge und Abhandlungen. Hrsg. v. W.Werner. Bd. 1. Leipzig: J. Klinkhardt 1868, 92-107.

318

27. Rudolf Hildebrand (1824-1894)

Weitere Literatur A: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur deutschen Philologie und zum deutschen Unterricht. Leipzig: Teubner 1890. Das Deutsche in der Schule der Zukunft. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 5 (1891), 1 - 6 . B: Frank, Horst Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfangen bis 1945. München 1973.

27.3. Text D a s H a u p t g e w i c h t s o l l t e a u f die g e s p r o c h e n e S p r a c h e g e l e g t w e r d e n (1868) Das scheint feindlich auf die Schriftsprache zu zielen, dieses unser nationales Kleinod und die Hauptarbeit der Schule. Ich muß daher meine Meinung deutlich machen. Der jetzt meist geltende Satz, das unser gebildetes Deutsch eine Schriftsprache sei und nirgends wirklich gesprochen werde, ist keineswegs ganz wahr und doch in den Wirkungen seiner Uebertreibung sehr schädlich. Wäre er ganz wahr, so müßte ja unser Deutsch eigentlich eine todte Sprache sein, meint das jemand? Dann müßte es seit der Zeit seines Entstehens als abgeschlossenes Ganze sich nur künstlich, aber im Ganzen unverändert fortpflanzen, wie das Latein; wie verschieden ist aber z. B. das Bücherdeutsch von heute und das von vor hundert Jahren. Noch vor sechzig Jahren übrigens sagte man nicht so, noch Adelung bezeichnete das Hochdeutsch vielmehr als eine Ausbildung der M u n d a r t , die die gebildete Gesellschaft in einer Provinz, wie man damals sagte, und zwar in Meißen wirklich spräche.1 Auch der Satz, den man jetzt oft als unanfechtbar äußern hört, daß Luther so zu sagen die neuhochdeutsche Sprache gemacht habe, scheint in dieser Uebertreibung erst unserm Jahrhundert anzugehören. Freilich hat die geschriebene und gedruckte Sprache und das Lesen wesentlich das nöthige Geschäft vollzogen (aber nicht erst seit Luther), aus der unendlichen Fülle gleichgeltender und an und für sich im Ganzen gleich guter Formen, Wörter und Redensarten eine gewisse, immer noch gewaltige Menge auszuscheiden und zu einem Ganzen zusammenzuschließen, das alle gewissermaßen als ihre Sonntagssprache neben der Werkeltagssprache anerkennen konnten, oder mußten, soweit sie an dem Segen der nationalen Bildungswelt Theil nehmen wollten. Aber es hat wenigstens bis ins 18. Jahrhundert und eigentlich doch auch heute noch fortwährend eine solche Wechselwirkung zwischen der Büchersprache und der gesprochenen Sprache der Gebildeten bestanden, daß die Bezeichnung des Neuhochdeutschen als reiner Schriftsprache zu keinem Zeitpunkt völlig zutrifft. 2 Es gibt freilich Stellen im Vaterlande, wo das Hoch-

27.3. Text

319

deutsch sich in einem schwer zu vermittelnden Gegensatze darstellt zu der Sprache die man hört, und niemand muß das schärfer auffallen als dem Lehrer der z. B. in einem vorarlbergischen oder in einem meklenburgischen Dorfe Hochdeutsch zu lehren hat. Aber selbst diesen grellsten Unterschied übertreibt man leicht; muß doch auch den Bauernbuben im Alpenthale dort plötzlich ein anheimelndes Gefühl aus dem Schriftdeutsch anwehen, wenn er die ihm geläufige Deminutivendung -lein in den vornehmen Büchern plötzlich wiederfindet in der Ehre der höheren, ja dichterischen Form, und ebenso einem niederdeutschen Schüler, der sein heimisches düster, dröhnen, dreist u. a. in den fremden Büchern entlehnt wiederfindet und sogar als edlern Ausdruck gebraucht sieht! Solche Dinge sollten die Lehrer dort stark hervorheben, um dem Schüler Vertrauen zu dem Bücherdeutsch einzuflößen. Daß die gesprochene Sprache die Dienerin der Büchersprache sei, wie man jetzt verlangt, und letztere das einzige wahre Hochdeutsch, dieser Satz war in seiner heutigen Schärfe noch dem 18. Jahrhundert fremd. Wo sollte man denn das reine Hochdeutsch, wie es der L e h r e r sich denkt, eher suchen als bei den größten Schriftstellern unserer großen Literaturepoche? und wo da eher als in der höchsten Leistung der Kunst, im Drama? Nun sehe einmal der Lehrer mit dem Auge, mit dem er deutsche Aufsätze corrigirt, Folgendes aus Goethes Tasso an, der doch sicher auf dem Höhepunkte des edlen Stils steht: So sehr um deint= als der Geschwister willen. 12, 162 (Ausgabe v. 1850); Der Quell des Ueberflusses rauscht darneben. 107; Und glaubst du, daß wir das G e s c h ä f t e bald Vollenden können? 105; Und eines solchen F r e u n d s bedurft' ich lange. 125; Und daß er klüger ist als wie man denkt. 153; Ganz etwas a n d e r s als ich sagen will. 124; Wenn g a n z was Unerwartetes begegnet. 193; nicht wahr, lauter Fehler! — Fehler? es ist geschrieben wie man sprach und meist heute noch spricht! d. h. die Zeit wo Goethe das schrieb, kannte den heutigen Satz vom Schriftdeutsch noch nicht, Goethe war noch so naiv in S p r a c h e etwas das man spricht zu sehen. Jetzt ist man darin weiter, gesprochen wird auch noch das ist ganz was anders, aber schreiben muß man das ist etwas ganz Andres oder Anderes. Jetzt ist nämlich anders als Adverb fein zu unterscheiden von Andres, jetzt gilt dar- nur noch vor Vocalen und z. B. darneben ist angeblich „plebej" geworden, wie angeblich als wie nur der gemeine Mann sagt, z. B. du bist auch nicht klüger als wie ich — angeblich, denn wer sich nur selber belauschen will, wird sich über beidem noch ertappen. Auch was für etwas wird allmälich plebej, nur daß mans dem Dichter noch eine Zeit lang gnädig gestatten wird. Aber findt für findet wagt wol jetzt kaum ein Dichter noch, wie doch Goethe, sicher ohne irgend ein grammatisches Nachdenken:

320

27. Rudolf Hildebrand ( 1 8 2 4 - 1 8 9 4 )

Ein König, der Unmenschliches verlangt, Findt Diener gnug. Iphigenie 5, 3. Es ist hier nicht der Platz auszuführen (leider) wie das alles dem geschichtlichen Blicke des deutschen Philologen erscheint; nur aussprechen darf ich, daß er auf gute wissenschaftliche Gründe hin n i c h t s daran auszusetzen hat, und daß er in dem Verurtheilen dieser Dinge, wie es die Zeit verlangt, fast nur — schlimme Pedanterei sehen kann. Freilich fehlt noch viel, daß die Stimme des deutschen Philologen als die eines Sachkenners in deutscher Sprache auch gehört werde, nicht ohne seine Schuld; aber hier weiß ich auch, daß er mit solchen Urtheilen sogar Gefahr läuft, in den Geruch zu kommen, daß er doch bis zur Spitze der Bildungsbewegung nicht vorgedrungen sei (sammt Goethen vorhin), eine Art altdeutscher Zopfgelehrter. Denn s o l c h e Dinge sind es, Aeußerlichkeiten, auf die man unwillkürlich das Hauptgewicht legt, sobald man Schrift mit gut geschultem Auge ansieht, und solche Dinge sind es die den Lehrer seine gute Zeit und Mühe und Stimmung kosten! Wer sind denn aber die Pedanten, die den Riß zwischen der gesprochenen und der zu schreibenden Sprache seit jener Zeit so ohne Noth erweitert haben? Die Schriftsteller sind es nicht. Man weiß daß vielmehr der Schriftsteller zwischen der Ablieferung der Handschrift und dem Erscheinen im Druck sich in solchen Dingen einer Art Mauser unterziehn muß, die die unreinen und veralteten Federn ausmerzt und in der Druckerei vor sich geht, und wenn Goethes Prosaschriften weit weniger solcher Freiheiten zeigen als oben der Tasso, so ist nicht Goethe daran schuld, sondern die Setzer und Correctoren, die vollends über den in der betreffenden Druckerei geltenden Leisten schlugen was Riemer noch übrig gelassen hatte. Ich gehe nicht mit leichtem Herzen an die Aeußerungen die an dieser Stelle in aller Schärfe nöthig sind. Ich thue niemand gern weh, auch einem Gegner nicht, geschweige einem ehrenwerthen Stande, dessen Erdenloos nicht das leichteste ist und sicher zu den undankbarsten gehört, wie ich selbst aus langer Erfahrung weiß, und der doch eben um unsere Sprache und Literatur unleugbar große Verdienste hat, die am Ende vor dieser Aeußerung hier noch nie öffentlich erwähnt worden sind. Unser Hochdeutsch würde ohne diese Nebenarbeit der namenlosen Correctoren um ein paar Jahrhunderte zurück viel buntscheckiger aussehen als es wirklich aussieht, und gerade die Leipziger Correctoren stehen da durch das ganze 18. Jahrhundert in erster Reihe. Hätten sie dabei nur die rechte Einsicht in die Natur der Sprache gehabt, oder hätten sie die heute, so wäre für unser Deutsch gut gesorgt. Aber die schlimme Pedanterei, die sich seit etwa 60 Jahren in unsre Sprache eingeschlichen hat, ist wesentlich auch das Werk der Correctoren, zum Theil gerade auch der Leipziger, und es wird Zeit, auch das endlich einmal auszusprechen, wobei ich nur vorbemerken muß, daß es ohne etwas Spott dabei nicht abgehen kann, beim besten Willen nicht! Welches Gewicht legt man z. B. in Druckereien auf das ck in Winckelmann, oder genauer auf das c! Winkelmann, wie noch z. B. J. Grimm schrieb und ver-

27.3. Text

321

langte, beleidigt ja förmlich das Auge des gebildeten Mannes; es beschleicht ihn, wenn er auf seine Schulbildung irgend etwas hält, das Gefühl, als risse eine glücklich überwundene Barbarei damit an einem kleinen Eckchen wieder ein, nur daß sich als Gegengewicht auch das wolthuende Gefühl einstellt, wie er doch in der Literaturgeschichte der Nation nicht unbewandert ist, ja sogar mit besonderen Feinheiten wolvertraut. Damals als der große Mann lebte, schrieb man seinen Namen mit k oder ck, jenachdem einer auch sonst nach der neuen oder alten Art Winkel oder Winckel schrieb, Wolke oder Wolcke, Volk oder Volck, und keinem Menschen fiel es ein, darauf Gewicht zu legen oder nur darauf zu achten. Ja aber jetzt sind wir eben weiter in wirklicher Bildung, die wichtige Frage ist glücklich entschieden und das c gehört für das neunzehnte Jahrhundert wesentlich zu dem Manne, ja es gibt Leute für die es das Wesentlichste an ihm ist, das ihnen sicher bei dem Namen zuerst einfällt. Wie sprechen sie denn nur Winckelmann aus im Unterschied von Winkelmann? „Der große Winkelmann mit ck," wie denn anders? Doch ich habe einmal Einen Namens Tzschetzschingk in allem Ernst stolz behaupten hören, keiner als er selbst könne seinen Namen aussprechen, und nun machte ers auf Verlangen: T=z=schet=z=sching=k; das war heutige Schulbildung in höchster Blüthe!* Als Lassalle auftrat, mußte ja auch von seinen Anhängern die Rede sein, man s p r a c h von Lassallianern, und anfangs war auch gedruckt so zu lesen. Das muß aber ein Corrector bald bemerkt haben: Um Gottes Willen, der Mann heißt ja nicht Lassall! sondern Lassalle! welche Ungenauigkeit! Nun list man denn richtig seit einiger Zeit Lassalleaner und alle Leute von guter Schulbildung, solche die in der Schule einst immer die Eins hatten, denken schon dran, auch so zu sprechen, während man doch den Mann selbst wirklich nicht Lassalle, sondern Lassall nennt! Ja aber zufrieden kann ein Correctorenauge auch damit noch nicht sein: Lassalle'aner erst wäre doch das Sichere; ob man das aber dann nicht Lassallaner a u s s p r e c h e n sollte? Ja, da sieht man die fortgeschrittene Bildung, die endlich die Sprache als etwas Heiliges erkannt hat, das man aller Willkür entziehen muß! Besonders in Bezug auf Namen sind wir weit, Namen behandelt man mit amtlicher Genauigkeit, als ob sichs um ein Testament handelte, das ist der deutschen Gewissenhaftigkeit würdig. Daß Namen eigentlich auch bloß Wörter sind und ursprünglich etwas bedeuten, der Gedanke gehört den zopfigen Stubengelehrten. Die Göthischen Schriften, der Schillerische Idealismus, solcher Barbarei war wol das 18. Jahrhundert fähig, wo die Möglichkeit blieb daß einer dachte, Göthi, Schilleri wäre der Name; das ist nun * Doch will ich zur Ehre des Jahrhunderts und zum Trost altfränkischer Gemüther hier auch die Thatsache niederzulegen nicht unterlassen, daß man in der neuesten Epoche unsrer Geschichte den wichtigen Namen Bismarck wirklich zwischendurch auch als Bismark findet, freilich nicht in den großen Blättern, sodaß für künftige Geschichtsschreiber eine Irreführung kaum zu befürchten steht.

322

27. Rudolf Hildebrand ( 1 8 2 4 - 1 8 9 4 )

Gott sei Dank ins Reine gebracht durch treue Arbeit und Kampf in Druckereien: Goethe'sch, Schiller'sch heißt es nun, denn die Endung ist ja 'sch, nicht etwa isch! * Diese ganze Behandlung von Namen mit Endungen ist aber im Grunde noch ein Stückchen mittelalterlicher Barbarei, die den Franzosen und Engländern fremd ist!** Wie lange wird wol der Hallische Courier, die Vossische Zeitung noch leben? Man muß doch endlich die Barbarei auch in Halle und Berlin bemerken, die in Leipzig längst ein Dorn im Auge der Leute vom Fach ist, und den Muth haben ins 19. Jahrhundert überzutreten mit Halle'sche, Voß'sche! Doch ruhig! in Voßische, wie man auch schreibt, ist ja mit dem ß wirklich schon die Brücke dazu betreten, also die Rettung nahe. Aber hier handelte es sich doch wesentlich noch um Buchstaben! Doch die Fortbildung der Muttersprache durch den Corrector geht noch weit mehr ins Feine hinein, in Regionen wo alles Stoffliche aufhört. Seit etwa 60 Jahren hat sich allmälich ein Zeichen breit gemacht in der Schrift, das man früher nur sparsam anwendete, die Strichelchen die den hübschen Namen Gänsefüßchen führen, der gewiß einem launigen Corrector zu verdanken ist, obwol man auch ehrbarer und wolklingender Anführungszeichen sagen kann. Man brauchte sie vor hundert Jahren nur, wo mitten im Text eines Andern Rede als solche klar hervorzuheben war. Nachher nahm man sie auch für einzelne Worte oder Wendungen, die aus einem andern Zusammenhang herausgenommen werden, jetzt aber außerdem auch wo ein Wort oder eine Wendung als Titel auftritt, z. B. „das Leipziger Tageblatt." Das hat so etwas statistisch Officielles, das war ein süßer Fund für die Druckereien in ihrem braven Bestreben, für die Fortbildung der theuern Muttersprache mitzuwirken. Die Form, das Kleid der Muttersprache im Druck zu besorgen ist ja seit lange eine selbstübernommene Nebenpflicht oder vielmehr Hauptpflicht des Correctors, kein Wunder daß er viel Gewicht darauf legte, auch kein Wunder daß dieses Gewichtes zu viel wurde bei seiner Arbeit, die nothwendig vom Inhalte, vom Kerne mehr absehen muß. Aber was ist daraus geworden! Das Leipziger Tageblatt kommt im Genitiv vor im Manuscript, und zwar da gewöhnlich lüderlicher Weise noch ohne die Gänsefüßchen (die Schrift-

* Bitte um Verzeihung, mein besseres Ich besinnt sich eben, es tritt da eine neue Regel ins Mittel: im Nominativ wird das wichtige ' nicht gesetzt, nur in den andern Casus. Damit ist denn ein feiner Unterschied mehr gewonnen, als Beitrag zur höhern Ausbildung des deutschen Verstandes und Geschmackes und zur Erleichterung des Deutschlernens für Ausländer. Ja, bei den Correctoren müßten die Lehrer und die Ausländer eine Zeit lang in die Schule gehen! ** Die Freunde des Vaterlandes und der Bildung können sich übrigens trösten: die einfache fran2Ösische Art ist schon im Einführen begriffen, vom parlamentarischen Leben aus. Ein Abgeordneter, der eben aus einer kleinen Stadt kommt, spricht allenfalls noch von einem Laskerschen Amendement, er lernt dort aber bald das Amendement Lasker sagen. Auch die Kaufleute helfen dazu.

27.3. Text

323

steller sind von jeher erfahrungsgemäß um 50 Jahre zurück in der Grammatik); aber das geht ja nicht, also: „des Leipziger Tageblattes." So sieht man es denn auch noch in den meisten Tagesblättern. Ja aber die zierlichen Strichelchen sehen bei dem Genitiv wirklich mehr spaßhaft als nützlich aus. Und ist nicht eine Gefahr dabei? sie heben ja das Wort aus dem Zusammenhange heraus als etwas für sich! Könnte da nicht ein Leipziger Leser in schwacher Stunde denken, das Blatt hieße auf einmal vielmehr d a s Leipziger Tageblattes?! oder vielmehr, was das Schlimmste wäre, der Leser könnte in bösen Gedanken der Druckerei vorrücken, man hätte wol gar dort gedacht, es hieße so, oder hätte wenigstens die Gefahr nicht bedacht die man dadurch unters Publicum warf, die Gemüther zu verwirren.* Was also thun? des „Leipziger Tageblatt"es gieng doch wirklich auch nicht! also: des „Leipziger Tageblatt," und damit ist das Gewissen erleichert und zugleich für die edle Muttersprache etwas gethan — der Genitiv geknickt und beschädigt, wahrscheinlich für immer. Und so heißt es nun auch: in den Spalten des „Rheinischen Kurier," wobei freilich in der Druckerei doch immer noch ein unbehagliches Gefühl übrig sein muß, denn „des Rheinische Kurier" müßte es doch nothwendig eigentlich heißen? Na vielleicht in zehn Jahren!** Und der neue Fund, der beim stillen Lesen das Auge kitzelt so wie ein Pfefferkorn in faderer Suppe den Gaumen, muß sehr gefallen haben, denn alles was irgend mehr ist als NOMEN A P P E L L A T I V U M , wird nun so behandelt, und auch ohne die Gänsefüßchen: die Bücher des Alten Testament, die Ufer des Rhein, des Main u. s. w.; das stimmt ja nun zugleich so schön zu der Form unsrer in allem gewandtem und bewunderungswürdigen Nachbarn LES BORDS DU RHIN!*** Und auch „des Altes Testament" oder „des Alte Testament", „des Norddeutschen Bund" oder „des Norddeutsche Bund" ist wol von der deutschen Gewissenhaftigkeit noch zu erwarten, ob aber auch „die beiden Testament"e, wie es doch dann heißen müßte. Die verwünschten Endungen, die dem armen Corrector

* Man kann wirklich sagen, vor lauter Gewissenhaftigkeit wird der Leser mit solchen Dingen jetzt förmlich wie ein dummer Kerl behandelt. Wie sind in aller Welt nur die Griechen ohne Gänsefüßchen und Apostrophe ausgekommen?! und sie habens doch auch ziemlich weit gebracht in dem was man Bildung nennt! Und sollte man nicht in lat. Büchern CICERO'NIS, CAESAR'EM einführen, um spätere Geschlechter vor Misverständnissen zu sichern? ** Das Sicherste und Gewissenhafteste wäre aber doch: in den Spalten des „der Rheinische Kurier." *** Die Rheinischen und Frankfurter Blätter übrigens sind darin noch zurück, sie schreiben sogar noch des Maines, des Rheines, selbst am Rheine; sie glauben vermuthlich, naseweis genug, über die Namen ihrer Flüsse am ersten die Verfügung zu haben. Sobald aber von dort oder von Berlin die Ufer des Maines gedruckt nach Leipzig kommen, so muß hier der Main unfehlbar seine Endung hergeben, sie wird ein Opfer der höhern Bildung, und da gilt kein Ansehen der Person, man läßt z. B. auch den König von Preußen in der Thronrede von den Brüdern im Süden des Main reden, wie neulich am 24. Febr.

324

27. Rudolf Hildebrand ( 1 8 2 4 - 1 8 9 4 )

und Setzer auf seinem ohnehin steinigen Pfade immer zwischen die Beine kommen! im Französischen ist das doch viel einfacher!* So bildet sich im 19. Jahrhundert unsere Sprache fort unter den Händen derer, die sich vor Allen dazu berufen glauben und wirklich auch dazu berufen sind, da sie das in der Gewalt haben, woran sie sich in der That jetzt am raschesten fortentwickelt, die Zeitungen! Wirkungen davon sieht man schon in Inseraten z. B., auch bei der Jugend, ich habe z. B. in einer einzigen deutschen Arbeit folgende Genitive zu bekämpfen gehabt: in Begleitung eines sehr gemüthlichen Colditzer Strumpfwirker; da wir auch die Bekanntschaft eines Oesterreicher machten; in angenehmer Gesellschaft eines höheren Mönches und eines reichen jungen Wiener; kurze Zeit vor Abgang des nächsten Zug! Ich denke, man ist berechtigt im Namen Aller die unsre Muttersprache noch werth halten, alle Firmen die das pflegen oder dulden, förmlich aufzufordern, daß sie sich entschließen von diesem Unfug abzustehn, obwol man damit gefaßt sein muß in die Rolle des Pudels zu treten, der den Mond anbellte. Zudem hat das Uebel fast schon zu tief und zu weit gefressen, z. B. im Geschäftsstil der Buchhändler, wie folgende urkundliche Probe zeigt: Aus: Deutsche Roman=Zeitung f. 67 u. s. w. Kleine Roman=Zeitung (Anhang zu Obige). Da sieht man förmlich die lebendige Gestalt der Sprache zu Grunde gehen. Doch genug des Spottes und der Bitterkeit, die mir wahrlich selbst nicht schmecken. Freilich sinds auch im Grunde nur Kleinigkeiten um die sichs handelt, aber sie offenbaren eine große Krankheit an dem Leibe unserer Sprache (und nicht der Sprache nur), an der eben auch die Schule krankt. Wie spricht man denn die „ —" aus? und das '? Naive Frage das! nicht wahr? Wer jetzt in den Fall kommt, vorzulesen, wo es auf volle Genauigkeit ankommt, muß mitten zwischen amtlich ernsten Text das joviale Wort Gänsefüßchen einfügen, also z. B.: Gänsefüßchen, die erste Kleinkinderbewahranstalt, Gänsefüßchen. Oder wo es nicht auf solche Genauigkeit ankommt, muß man mit dem betreffenden Worte den Hörer anschreien, wie es mir immer ist als würde ich aus dem Buche heraus angeschrien von solchen angeführten Wörtern. — Ja was hatte man denn aber früher statt dieses einfachen Mittels? Ein sehr einfaches, das eben aussprach, was man mit den „ —" sagen will: Der... wie man damals sagte, oder: wie es dort

* Tröste sich niemand, daß der Spott in unserer Zeit die wirklich Gebildeten nicht mehr treffe, sprechen sie doch z. B. Vilmar als Wilmar aus, Varnhagen als Warnhagen, als ob die Männer Franzosen wären. Ich habe auch mehr als einmal Mathisson, Bronnzell französisch aussprechen hören, und „gegenüber von dieser Behauptung" (vis-Ä-vis DE ...) u. ä. statt „dieser B. gegenüber" list man jetzt täglich. Ja ein Deutsch, wo so etwas Französisch durchscheint, ist doch immer gebildeter, als bloßes Deutsch; das spricht ja jeder — Andere.

27.3. Text

325

heißt, oder: wie vorhin schon gesagt wurde, oder der sogenannte u. s. w. Ja im 19. Jahrhundert hat man das Hochdeutsch wirklich zu einer bloßen Schriftsprache gemacht, und ist im Begriffe es zu einer todten Sprache zu machen in noch ganz andrem Sinne als ausgestorbene Sprachen todte heißen: sie soll bei lebendigem Leibe todt gemacht werden. Denn das ist klar, wer wie jetzt Zeichen, die nur gesehen, nicht gesprochen werden können, also sprachlich nichts sind, als wesentlich zur Sprache gehörend behandelt, und wer vollends diesen Zeichen Einfluß auf die Fortbildung der Sprache einräumt, der macht die Muttersprache zu einer todten Sprache, soviel an ihm liegt. Er versetzt ihr Leben und Wesen aus ihrem natürlichen Bereich des Klanges aufs Papier, in die Druckerschwärze auf dem Papier. Es geht ihm genau wie dem Schüler in der ersten Geographiestunde, der zwischen dem in bunten und schwarzen Zeichen auf dem Papier ihm vorgelegten Lande und dem Lande da draußen, von dem dabei der Lehrer spricht, keinen Unterschied kennt — das Verhältniß ist hier und dort genau dasselbe, nur hier ins Ungeheure vergrößert, daß es keiner übersehen kann. Das ist das Leiden, an dem unsere Sprache krankt, auch in der Schule: die schwarzen Striche auf dem Papiere sind unsrer Zeit das Wesentliche des Wortes, das Z e i c h e n ist uns zur Sache selbst geworden, die Schale gilt als der Kern. Im Auge lebt uns das Wort, nicht mehr im Ohre; wer gut geschult ist und sich ein Wort vorstellt, dem tritt es in schwarzen Buchstaben vor das Auge der innern Vorstellung, nicht mehr als Klang summt es im Ohre, wie es das einzig Natürliche ist; und selbst wer ein Wort sprechend mittheilt, denkt dabei nicht an den Klang den er ihm selbst gibt, sondern an die schwarzen Zeichen in denen es der Andere auffassen soll. Das hängt eng zusammen mit unserm stillen raschen Lesen, das beim Gebildeten immer mehr ein Ueberfliegen mit dem Auge wird und allerlei w e s e n t l i c h schlimmen Einfluß ausübt, den hier auszuführen nicht der Platz ist; diese Art zu lesen mit ihren Wirkungen ist ein rechtes Kennzeichen unsrer Zeit in ihrer Schattenseite. Ein paar Proben passen doch auch hier zur Sache. Ich könnte wol von Namengebung reden, wie man z. B. in Leipzig einen Kauz, der zwar geschichtlich sehr merkwürdig, ein gebliebenes Stückchen aus der ältesten Zeit der Stadt, aber doch nun veraltet und plebej geworden war, in das bequemere und salonmäßigere die kleine W i n d m ü h l e n s t r a ß e umtaufte, zugleich um jede Verwechselung mit der W i n d m ü h l e n s t r a ß e abzuschneiden, die nun zur g r o ß e n W i n d m ü h l e n s t r a ß e heranwuchs — aber ich will nicht wieder spotten. Also z. B. K l e i n k i n d e r b e w a h ranstalt — keine Zeit, der noch die Sprache etwas Gesprochenes war, hätte ein solches Unwort bilden können; still lesend und mit dem Auge ist es gebildet worden, von einem der dabei stumm vor seinem Schreibtische saß und sich das Wort auch nur still gelesen dachte, ohne es nur auch einmal mit dem Munde zu probiren. Ich wage dreist zu behaupten, daß noch im 18. Jahrhundert diese Probe mit dem Munde jeder gemacht hätte, der in den Fall kam; die Bürgschaft dafür gibt eben der uns unbegreifliche Umstand, daß man z. B. damals für das c in

326

27. Rudolf Hildebfand ( 1 8 2 4 - 1 8 9 4 )

Winckelmann oder Winkelmann noch gar kein rechtes Auge hatte. Ich fragte mich einst, wie wol das 16. Jahrhundert das Wort gebildet haben würde, und kam auf Kinderhaus; und in einer thüringischen Stadt nennt mans wirklich so, wie ich nachher erfuhr. Gesprochen mußte nun freilich nachher das Geschöpf des Auges auch werden: Kleinkinderbewahranstalt — es ist einem als würde man von einem Winde darüber hinweg gejagt, denn die sieben Silben müssen ja nach deutscher Art sich um Eine Haupttonsilbe sammeln wie die Küchlein unter die Flügel der Henne.* Oder Jetztzeit — so ein Ungethüm zu schaffen ist nur einer eigentlich ohrlosen Zeit möglich! Man zerlege nur dem Ohre die Laute, die sich da so glücklich vermählt haben: jet-s-t-t-seit! Da haben die Ausländer wahrlich das Recht, unsere Sprache, im K l a n g e eine barbarische zu nennen; im 13. Jahrhundert und nicht nur da war freilich so etwas auch bei uns unmöglich. Wer recht deutlich empfinden will, wie weit die beiden Erscheinungen der Sprache, der Klang und die Schrift auseinandergerissen sind und wie weit man jenen vergessen hat als mitberechtigt oder selbst als vorhanden, der sehe sich folgende beiden Thatsachen genau an. Als man durch Platens Auftreten auf einmal das Gesetz des reinen Reimes in aller Strenge anerkannte und neu einführte, da wurde völlig arglos z. B. T r o s t und M o s t als streng reiner Reim angesehen; sie sehen ja ganz gleich aus! Und in den gelehrten Schulen verschwindet jetzt erst allmälich, daß in prosodischen Stunden arglos von Lehrer und Schüler gesagt wird Z. B. NÖVUS hat ein kurzes O! BÖNÄ ist zweimal kurz! ÄGERE ist dreimal kurz! BÖNÖS ist vorne kurz, hinten lang. Der Schüler wurde gelobt für so etwas, und doch ists gar nicht anders als zeigte der Lehrer der Klasse etwas Schwarzes und lehrte sie dabei mit ernstem Gesicht, daß es weiß aussehe. Ja, das vom Lehrer und Schüler g e s p r o c h e n e BONA meint eben gar nicht einen K l a n g ! nur die Buchstaben auf dem Papiere! Es gab freilich eine Zeit, wo auch in deutschen Schulen vom Lehrer z. B. gesagt wurde: Beite wird ja mit dem e=u geschrieben! Das war die eigentliche Blüthezeit der Jungfrau Orthographie, sie war da beinahe die Sprache selber, und alles Sprechen galt eigentlich nur noch als Nothbehelf fürs Schreiben. — Aber nicht nur in solchen Einzelheiten wirkt das als Herr anerkannte stumme Augenlesen nachtheilig, und daß das Ohr im neunzehnten Jahrhundert auf den Altentheil gesetzt ist, auch ins Wesen der Sprache, mitten in den Kern dringt der Schade vor. Jeder erinnert sich, schon einmal ein Lied gefunden zu haben, bei dem ihm trotz des stillen Lesens unwillkürlich zugleich eine Melodie in den Kopf kam aus den Zeilen heraus, wenn auch nur schattenhaft, wie in dunkeln Grundzügen, oder nur der Rhythmus davon. So gibts einen Stil, bei dem einen auch im stillen * Neue Qualen brachte übrigens das Wort für den wirklich Gewissenhaften mit sich, denn die Frage war für die Bildung unsrer Zeit gar nicht gleichgültig, ob zu schreiben sei Kleinkinder^-Bewahranstalt, oder Kleinkinderbewahr=-Anstalt, oder nicht Klein»Kinder» bewahr* Anstalt?

27.3. Text

327

Augenlesen wie eine Stimme anklingt, bei dem unwillkürlich das Ohr der Phantasie sich plötzlich an der Auffassung betheiligt, bei dem man unmerklich die schwarzen Zeichen und das Papier vor sich vergißt und wol gar, wenn einmal der Inhalt nachdrücken hilft, auf einmal in halb lautes Lesen übergeht. So schrieb Goethe in seiner frischesten Zeit und hat es nie völlig gelassen, so schrieb Lessing, auch Geliert in seinen Fabeln, so schreibt noch jetzt hie und da einer bei uns, in Frankreich aber jeder gute Stilist — so ist ziemlich alles geschrieben was über das 16. oder 17. Jahrhundert rückwärts geschrieben wurde. Wenn freilich darüber ein recht lesegeübter moderner Mann kommt und der Stoff ist ihm nicht schon halb bekannt, guter Gott der findet darin mehr holperige als gute Sätze, mehr zerhackte Rede als wirklichen Stil, und allerhand Unreifes; ja es ist da nachweislich das Wunder möglich, daß einer Fades oder Unreifes zu lesen glaubt, und wenns ihm einer dann vorlist der es erkannt hat oder er selbst list es wieder in empfanglicher Stunde, so steht an Stelle des Faden ergreifende Wahrheit, an Stelle des Unreifen Klassisches! Jeder Philolog wird das an sich selbst erfahren haben. Und wann geschah ihm das am häufigsten? Bei lautem Lesen, am meisten beim Lesen vor Anderen, weil der Klang der Stimme selbst schon das Leben aus der Seele herauf lockt, und die Theilnahme Anderer daran es vollends gestaltet. Dagegen gibt es einen andern Stil, der zu unserer Zeit und besonders in Deutschland wol der vorherrschende ist — man nennt ihn wol den akademischen, er geht besonders leicht aus Gymnasien hervor, als Sohn des Schullateins* — dabei kann das Ohr ausruhen oder schlafen (und der lebendige Theil der Seele meist auch), das Auge braucht keinen Gehülfen, da gleitet alles so glatt und klar in weit ausholenden wolgeschwungenen Linien dahin, fast wie eine moderne Equipage über eine macadamisirte Straße, während jener Stil mehr an einen Spaziergänger erinnert der beim Gehen mit uns im lebhaften Sprechen manchmal plötzlich stehen bleibt, wol gar einen Schritt zurück oder quer neben uns hintritt mit lebhaften Mienen und Handbewegungen und wechselndem Stimmtone — sehr unbequem für manche die gern in gleichem Strich fort gehen und denken und leben, freilich auch für Andere, wenn einem der Gesprächsstoff gleichgültig ist. Diese Art zu gehen und zu reden findet man am meisten in kleinen Städten, hauptsächlich bei Feierabendsstimmung, in großen Städten aber selten (wie ja auch die Feierabendsstimmung da im Verschwinden ist), am wenigsten bei Gebildeten, * Herder in den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur, 3. Sammlung 1767 S. 5, nennt ihn den akademischen Paragraphenstil (vergl. das. S. 3: Der deutsche Periode ist gemeiniglich die Klippe derer, die ihre Denkart nach dem Latein gebildet); in der Augsb. Allg. Zeit, nannte ihn neulich jemand den periodologischen Stil. Manche suchen ihm jetzt zu entgehen durch einen Stil in zerhackten Sätzen (thronredenartig), nur daß sie damit auch die Gedanken zerhacken, die man sich nun selber zum Ganzen zusammensuchen muß. Das ist dann pikant, weil man dabei immer kleine Stöße bekommt die einen hübsch munter erhalten.

328

27. Rudolf Hildebrand ( 1 8 2 4 - 1 8 9 4 )

am ehesten noch bei Kindern, aber auch unter denen gibts welche die das schon abgestreift haben, die altklugen. Und altklug ist auch jener Stil, eine rechte Ausgeburt des stummen Augenlesens und nur für stummes Ueberlesen bestimmt, besonders gern mit langen Perioden, die einer in einem Athem gar nicht sprechen könnte. Ja aufs Sprechen ist er ja auch gar nicht angelegt, und hört man einmal eine Rede in solchem Stil, da trägt oder list der Redner gleich so vor als wäre es nur aufs Nachschreiben berechnet, nicht aufs Hören, und dem Redner geht der Athem aus mitten in Sätzen, und dem Hörer geht so zu sagen der Athem des Mitdenkens aus mitten im Zusammenhange, er pflegt sich instinktmäßig gleich vorzunehmen: das muß du doch noch einmal lesen! falls ihn die Sache interessirt. Redner und Hörer sehen in stiller Uebereinkunft gleichmäßig (da in beiden Theilen der Zeitgeist lebt) das Vorlesen als ein leidiges Nebenwerk an und denken und empfinden wol sogar beide mitten hinein ganz Anderes als die Sache mit sich brächte. Doch das Ganze wird hinterdrein gern gelobt, selbst als beredt, sobald von der Schulrhetorik Spuren genug sichtbar wurden; stammt doch diese ganze Richtung wesentlich aus der gelehrten Schule, als eine Frucht des Ciceronischen Lateins wie es dort weitverbreitet zugerichtet war als Werkzeug womit den deutschen Jünglingen des 19. Jahrhunderts der letzte Schliff ihrer Geistesbildung beigebracht wurde. Freilich mehr noch ist sie eine Frucht der ganzen Richtung, die bis vor kurzem den ganzen Unterricht, die ganze höhere Erziehung so ziemlich in ihrer Gewalt hatte und zu nicht geringem Theile noch hat. Denn es gibt auch ein Denken, das jenem stummen Lesen in seinem Wesen genau entspricht, ich möchte auch kurz sagen ein stummes Denken, und d i e ß galt und gilt vielfach noch auf Schulen und sonst als das Höchste was einer an geistiger Bildung erreichen kann. Doch das wäre wieder ein reiches Kapitel für sich, zumal dieses Denken weit hin auch vom Leben Besitz ergriffen hat, es zu lenken und leiten in Anspruch nimmt. Es war eigentlich schon im ersten Kapitel davon die Rede, sein Träger und Meister ist der Verstand, der von den Dingen die Verhältnisse erfaßt und weiter nichts — ihr I n h a l t und vollends ihr L e b e n ist ihm gänzlich unzugänglich. Sein Reichthum ist gedächtnißmäßiges Wissen, wolgeordnet in Fächern über und unter und neben einander, worin die Dinge niedergelegt sind in Form von Begriffen, und feine Fäden werden von einem zum andern gezogen die das Ganze halten sollen, und das alles mit dem Tröste daß darin das Wesen der Dinge gerettet ist, sodaß den Denker selbst in einer stolzen Minute das Gefühl anwandeln kann, daß eigentlich die Dinge selbst zu Grunde gehen könnten und es wäre eigentlich nichts wirklich verloren. Nur ein Mangel hängt noch der ganzen Herrlichkeit an: daß das alles (außer in Büchern) nur eben in einem Menschenkopfe niedergelegt werden kann, wo es doch mancherlei Beschädigungen und Störungen des Zufalls ausgesetzt ist. Nicht nur durch ungewöhnliche Ereignisse, die wie Stöße daran kommen, daß das Gerüste wankt und bricht und der Mann plötzlich daraus hernieder fällt auf die lebendige Erde und sich wie aus den Wolken gefallen sieht: auch im gewöhnlichen Leben durch Stimmungen, Leidenschaften u. dgl. die von

27.3. Text

329

unten vorwitzig auftauchen und dazwischen fahren; ja manchmal kommt auch wie von oben ein großer Gedanke dazwischen, und zu gleicher Zeit von unten eine große Empfindung, mit der er sich vermählt, und da erscheint auf einmal die ganze Herrlichkeit in dem Fachwerke, die Himmel und Erde ersetzen wollte oder sollte, wie lauter farblose leere Hülsen, und es sieht einen recht erbärmlich an. Ja schon wenn sich der Kopf, dieses arme Gefäß für jenes Gerüste, einmal nach unten bückt, oder einmal im Sommer etwa auf einer Fußreise ins Gras legt, da verschiebt sich augenblicklich das Gerüste und thut seinen Dienst nicht recht, wie es Manche nur daheim vor dem Schreibtische haben und es verschwindet, wenn sie unter die Leute kommen, wo es erst nöthig wäre. Aber wir alle, glaub ich, leiden daran. Ja die liebe Abstraction, wie man das Ding nennt,* diese ausgewachsene Frucht des Kriticismus, die vom nachfolgenden falschen Idealismus nicht wieder gesund gemacht werden konnte und vom falschen Realismus eben so wenig — diese Abstraction ist die Krankheit unserer Zeit, und sie tritt am schärfsten in Deutschland auf (was ich doch noch als Ehre für uns in Anspruch nehmen möchte). Es ist aber ganz genau bei einem Volke das, was beim Einzelnen die natürliche Krankheit des Greises, dessen Lebenskraft in den Gliedern schwindet, dessen Zusammenhang mit der wirklichen Welt sich langsam auflöst, während das Gehirn noch in seiner Art fort thätig ist. Mich hat es immer an die alexandrinische Zeit des Griechenthums eirnnert. Am deutlichsten sieht man die Greisenkrankheit eben an der Geltung der Sprache; daß man deren Leben in die Schale, in die Schrift und Orthographie versetzt hat, ist genau wie bei einem altersschwachen Baume, dessen Kern abzusterben beginnt, während das Leben in den äußersten Theilen noch fortgeht. Ja, es ist für eine frische Zukunft eine große Umkehr nöthig, ein durchgreifender Bruch mit der bisher doch noch vorwiegenden Gedankenrichtung. Doch meldet sich die Umkehr schon länger, schon seit einem Jahrhundert wird von immer Mehreren und an immer mehrern Stellen redlich und sauer daran gearbeitet, auch an der Stelle schon, wo der Hebel angesetzt werden muß, in der Schule. Nur im deutschen Unterrichte, der den Kern des deutschen Geistes der Zukunft in der Hand hat, ist der Hebel noch nicht recht zu spüren. Das Hauptgewicht im deutschen Unterrichte sollte künftig auf die gesprochene und gehörte Sprache gelegt werden, nicht auf die geschriebene und gesehene [...]

* Es ist kein Zufall, daß diese schwindsüchtige Richtung mit ihrem Verderben fürs frische Leben in Denken und Empfinden vorwiegend in der gelehrten Fremdwörterei haust, dieser liebenswürdigen, buntscheckigen Sammlung von verblaßten oder verknöcherten Begriffsmarken, meist ausgebrannten Schlacken von Gestein, dessen Lebensbedingungen längst abgerissen und erstorben sind.

330

27. Rudolf Hildebrand (1824 - 1 8 9 4 )

27.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2

Siehe dazu den Text Campes in Kap. 1. Die These, daß eine überregionale deutsche Sprache nur als Schrift- oder Büchersprache existiere, ist zweifellos die herrschende Ansicht auch unter den in diesem Band versammelten Autoren der ersten Jahrhunderthälfte.

28. Friedrich Nietzsche (1844-1900) 28.1. Einführende Bemerkungen Die Sprachreflexion Nietzsches, die sich durch das gesamte Werk zieht, hat in den letzten 15 Jahren in der Forschung große Beachtung gefunden. Im Vordergrund steht dabei allerdings ein sprachphilosophisches, sprachtheoretisches oder poetologisches Interesse, das den Blick in andere Richtungen lenkt als auf die für diesen Band bedeutsame Auseinandersetzung Nietzsches mit der deutschen Sprache und dem Stil seiner Zeit. Diese gewinnt vor allem in der ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung" über David Friedrich Strauß, in einer Serie von Paragraphen im zweiten Band von „Menschliches, Allzumenschliches" und im 104. Abschnitt der „Fröhlichen Wissenschaft", betitelt „Vom Klange der deutschen Sprache", Gestalt, darüberhinaus in zahlreichen verstreuten Bemerkungen im handschriftlichen Nachlaß aus den Jahren 1872—1875 im Umkreis der „Unzeitgemäßen Betrachtungen". Das hier abgedruckte 11. Kapitel aus der ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung" dokumentiert nicht die sonst gerühmte Modernität Nietzsches. Der Text erweist sich in Zielsetzung, Methode und sprachtheoretischer Grundlegung im wesentlichen als Wiederaufnahme einer Sprachkritik, die Schopenhauer zwanzig Jahre zuvor in den „Parerga und Paralipomena" praktiziert hatte. In beiden Fällen, besonders aber bei Nietzsche, ist es für den heutigen Leser überraschend zu sehen, wie problemlos sich die Kritik am Bildungs-Philister verträgt mit dem eigenen Pochen auf die (z. T. irrtümlich angenommenen) Sprachstandards der deutschen klassischen Literatur, d. h. mit einer Haltung, die der kritisierten Begrenztheit spätbürgerlicher Bildungsideologie näher ist, als es die vehemente Kritik Nietzsches vermuten läßt. — Es hätte nahegelegen, die letzten drei Kapitel der „Betrachtung" in diesen Band aufzunehmen; aus Platzgründen habe ich mich auf Kapitel 11 beschränkt. In diesem gerät die deutsche Sprache der „Jetztzeit" über den unmittelbaren Anlaß Strauß hinaus ins Blickfeld.

28.2. Literaturhinweise Textvorlage Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig: E.W. Fritzsch 1873, 76—85.

332

28. Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Weitere Literatur A: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. 2. Bd. Neue Ausgabe. Leipzig: E.W. Fritzsch 1886 [darin bes. Nr. 8 7 - 1 4 8 der Abt. „Der Wanderer und sein Schatten"]. Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe. Leipzig: E. W. Fritzsch 1887 [darin: „Vom Klange der deutschen Sprache", 2. Buch, Nr. 104], B: Goth, Joachim, Nietzsche und die Rhetorik. Tübingen: Niemeyer 1970. Simon, Josef: Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition. In: Nietzsche-Studien. Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 1 (1972), 1—26. Sonderegger, Stefan: Friedrich Nietzsche und die Sprache. Eine sprachwissenschaftliche Skizze. In: Nietzsche-Studien 2 (1973), 1 - 3 0 . Albrecht, Jörn: Friedrich Nietzsche und das „Sprachliche Relativitätsprinzip". In: Nietzsche-Studien 8 (1979), 2 2 5 - 2 4 4 . Thurnher, Rainer: Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche. In: NietzscheStudien 9 (1980), 3 8 - 6 0 . Ungeheuer, Gerold: Nietzsche über Sprache und Sprechen, über Wahrheit und Traum. In: Nietzsche-Studien 12 (1983), 134-213. Crawford, Claudia Frances: The beginnings of Nietzsche's theory of language. Ph. D. Univ. of Minnesota 1985.

28.3. Text * D i e g r a s - u n d b a u m l o s e W ü s t e des A l l t a g s d e u t s c h e s ( 1 8 7 3 ) Der Tadel, ein sehr schlechter Schriftsteller zu sein, 1 schwächt sich freilich dadurch ab, dass es in Deutschland sehr schwer ist, ein mässiger und leidlicher, und ganz erstaunlich unwahrscheinlich, ein guter Schriftsteller zu werden. Es fehlt hier an einem natürlichen Boden, an der künstlerischen Werthschätzung, Behandlung und Ausbildung der mündlichen Rede. Da diese es in allen öffentlichen Aeusserungen, wie schon die Worte Salon-Unterhaltung, Predigt, Parlaments-Rede ausdrücken, noch nicht zu einem nationalen Stile, ja noch nicht eimal zum Bedürfniss eines Stils überhaupt gebracht hat, und alles, was spricht, in Deutschland aus dem naivsten Experimentiren mit der Sprache nicht herausgekommen ist, so hat der Schriftsteller keine einheitliche Norm und hat ein gewisses Recht, es auf eigene Faust einmal mit der Sprache aufzunehmen: 2 was dann, in seinen Folgen, jene grenzenlose Dilapidation der deutschen Sprache der „Jetztzeit" hervorbringen muss, die am nachdrücklichsten Schopenhauer geschildert hat. „Wenn dies so

28.3. Text

333

fortgeht", sagt er einmal, „so wird man anno 1900 die deutschen Klassiker nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Sprache mehr kennen wird, als den Lumpen-Jargon der noblen „Jetztzeit" — deren Grundcharakter Impotenz ist." 3 Wirklich lassen sich bereits jetzt deutsche Sprachrichter und Grammatiker in den allerneuesten Zeitschriften dahin vernehmen, dass für unseren Stil unsere Klassiker nicht mehr mustergültig sein könnten, weil sie eine grosse Menge von Worten, Wendungen und syntaktischen Fügungen haben, die uns abhanden gekommen sind: wesshalb es sich geziemen möchte, die sprachlichen Kunststücke im Wort- und Satzgebrauch bei den gegenwärtigen Schrift-Berühmtheiten zu sammeln und zur Nachahmung hinzustellen; wie dies zum Beispiel auch wirklich in dem kurzgefassten Hand- und Schand-Wörterbuch von Sanders4 geschehen ist. Hier erscheint das widrige Stil-Monstrum, Gutzkow, als Klassiker: und überhaupt müssen wir uns, wie es scheint, an eine ganz neue und überraschende Schaar von „Klassikern" gewöhnen, unter denen der erste, oder mindestens einer der ersten, David Strauss ist, derselbe, welchen wir nicht anders bezeichnen können, als wir ihn bezeichnet haben: nämlich als einen nichtswürdigen Stilisten. Es ist nun höchst bezeichnend für jene Pseudo-Kultur des Bildungs-Philisters, wie er sich gar noch den Begriff des Klassikers und Musterschriftstellers gewinnt — er, der nur im Abwehren eines eigentlich künstlerisch strengen Kulturstils seine Kraft zeigt und durch die Beharrlichkeit im Abwehren zu einer Gleichartigkeit der Aeusserungen kommt, die fast wieder wie eine Einheit des Stiles aussieht. Wie ist es nur möglich, dass bei dem unbeschränkten Experimentiren, das man mit der Sprache Jedermann gestattet, doch einzelne Autoren einen allgemein ansprechenden Ton finden? Was spricht hier eigentlich so allgemein an? Vor allem eine negative Eigenschaft: der Mangel alles Anstössigen — atistössig aber ist alles wahrhaft Produktive. — Das Uebergewicht nämlich bei dem, was der Deutsche jetzt jeden Tag liest, liegt ohne Zweifel auf Seiten der Zeitungen nebst dazu gehörigen Zeitschriften: deren Deutsch prägt sich, in dem unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter, seinem Ohre ein, und da er meistens Stunden zu dieser Leserei benutzt, in denen sein ermüdeter Geist ohnehin zum Widerstehen nicht aufgelegt ist, so wird allmählich sein Sprachgehör in diesem Alltags-Deutsch heimisch und vermisst seine Abwesenheit nötigenfalls mit Schmerz. Die Fabrikanten jener Zeitungen sind aber, ihrer ganzen Beschäftigung gemäss, am allerstärksten an den Schleim dieser Zeitungs-Sprache gewöhnt: sie haben im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren und ihre Zunge empfindet höchstens das ganz und gar Corrupte und Willkürliche mit einer Art von Vergnügen. Daraus erklärt sich das tutti unisono, mit welchem, trotz jener allgemeinen Erschlaffung und Erkrankung in jeden neu erfundenen Sprachschnitzer sofort eingestimmt wird: man rächt sich mit solchen frechen Corruptionen an der Sprache wegen der unglaublichen Langeweile, die sie allmählich ihren Lohnarbeitern verursacht. Ich erinnere mich, einen Aufruf von Berthold Auerbach „an das deutsche Volk" gelesen zu haben, 5 in dem jede Wendung undeutsch verschroben und erlogen war, und der als Ganzes einem

334

28. Friedrich Nietzsche ( 1 8 4 4 - 1 9 0 0 )

seelenlosen Wörtermosaik mit internationaler Syntax glich; um von dem schamlosen Sudeldeutsch zu schweigen, mit dem Eduard Devrient das Andenken Mendelsohns feierte. 6 Der Sprachfehler also — das ist das Merkwürdige — gilt unserem Philister nicht als anstössig, sondern als reizvolle Erquickung in der gras- und baumlosen Wüste des Alltags-Deutsches. Aber anstössig bleibt ihm das wahrhaft Produktive. Dem allermodernsten Muster-Schriftsteller wird seine gänzlich verdrehte, verstiegene oder zerfaserte Syntax, sein lächerlicher Neologismus nicht etwa nachgesehen, sondern als Verdienst, als Pikanterie angerechnet: aber wehe dem charaktervollen Stilisten, welcher der Alltags-Wendung eben so ernst und beharrlich aus dem Wege geht als den „in letzter Nacht ausgeheckten Monstra der Jetztzeit-Schreiberei", wie Schopenhauer sagt. 7 Wenn das Platte, Ausgenutzte, Kraftlose, Gemeine als Regel, das Schlechte und Corrupte als reizvolle Ausnahme hingenommen wird, dann ist das Kräftige, Ungemeine und Schöne in Verruf: so dass sich in Deutschland fortwährend die Geschichte jenes wohlgebildeten Reisenden wiederholt, der in's Land der Bucklichten kommt, dort überall wegen seiner angeblichen Ungestalt und seines Defektes an Rundung auf das schmählichste verhöhnt wird, bis endlich ein Priester sich seiner annimmt und dem Volke also zuredet: beklagt doch lieber den armen Fremden und bringt dankbaren Sinnes den Göttern ein Opfer, dass sie euch mit diesem stattlichen Fleischberg geschmückt haben. Wenn jetzt Jemand eine positive Sprachlehre des heutigen deutschen Allerweltstils machen wollte und den Regeln nachspürte, die als ungeschriebene, ungesprochene und doch befolgte Imperative, auf dem Schreibepulte Jedermanns ihre Herrschaft ausüben, so würde er wunderliche Vorstellungen über Stil und Rhetorik antreffen, die vielleicht noch aus einigen Schul-Reminiscenzen und der einstmaligen Nöthigung zu lateinischen Stilübungen, vielleicht aus der Lektüre französischer Schriftsteller, entnommen sind, und über deren unglaubliche Roheit jeder regelmässig erzogene Franzose zu spotten ein Recht hat. Ueber diese wunderlichen Vorstellungen unter deren Regiment so ziemlich jeder Deutsche lebt und schreibt, hat, wie es scheint, noch keiner der gründlichen Deutschen nachgedacht. Da finden wir die Forderung, dass von Zeit zu Zeit ein Bild oder ein Gleichniss kommen, dass das Gleichniss aber neu sein müsse: neu und modern ist aber für das dürftige Schreiber-Gehirn identisch, und nun quält es sich von der Eisenbahn, dem Telegraphen, der Dampfmaschine, der Börse seine Gleichnisse abzuziehen und fühlt sich stolz darin, dass diese Bilder neu sein müssen, weil sie modern sind. In dem Bekenntnissbuche Straussens finden wir auch den Tribut an das moderne Gleichniss ehrlich ausgezahlt: er entlässt uns mit dem anderthalb Seiten langen Bilde einer modernen Strassen-Correction, er vergleicht die Welt ein paar Seiten früher mit der Maschine, ihren Rädern, Stampfen, Hämmern und ihrem „lindernden Oel." (S. 362)8: Eine Mahlzeit die mit Champagner beginnt. — (S. 325): Kant als Kaltwasseranstalt. — (S. 265): „Die schweizerische Bundesverfassung verhält sich zur englischen wie eine Bachmühle zu einer Dampfmaschine, wie ein Walzer oder ein Lied zu einer Fuge oder Symphonie." — (S. 258): „Bei jeder Appellation muss

28.3. Text

335

der Instanzenzug eingehalten werden. Die mittlere Instanz zwischen dem Einzelnen und der Menschheit aber ist die Nation." — (S. 141): „Wenn wir zu erfahren wünschen, ob in einem Organismus, der uns erstorben scheint, noch Leben sei, pflegen wir es durch einen starken, wohl auch schmerzlichen Reiz, etwa einen Stich, zu versuchen." — (S. 138): „Das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleicht dem Gebiet der Rothhäute in Amerika." — (S. 137): „Virtuosen der Frömmigkeit in den Klöstern." — (S. 90): „Das Facit aus allem Bisherigen mit vollen Ziffern unter die Rechnung setzen." — (S. 176): „Die Darwinische Theorie gleicht einer nur erst abgesteckten Eisenbahn — — — wo die Fähnlein lustig im Winde flattern." Auf diese Weise, nämlich hoch modern, hat sich Strauss mit der PhilisterForderung abgefunden, dass von Zeit zu Zeit ein neues Gleichniss auftreten müsse. Sehr verbreitet ist auch eine zweite rhetorische Forderung, dass das Didaktische sich in langen Sätzen, dazu in weiten Abstractionen ausbreiten müsse, dass dagegen das Ueberredende kurze Sätzchen und hintereinander herhüpfende Kontraste des Ausdrucks liebe. Ein Mustersatz für das Didaktische und Gelehrtenhafte, zu voller Schleiermacherischer Zerblasenheit auseinander gezogen und in wahrer Schildkröten-Behendigkeit daherschleichend, steht bei Strauss S. 132: „Dass auf den früheren Stufen der Religion statt Eines solchen Woher mehrere, statt Eines Gottes eine Vielheit von Göttern erscheint, kommt nach dieser Ableitung der Religion daher, dass die verschiedenen Naturkräfte oder Lebensbeziehungen, welche im Menschen das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit erregen, Anfangs noch in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit auf ihn wirken, er sich noch nicht bewusst geworden ist, wie in Betreff der schlechthinigen Abhängigkeit zwischen denselben kein Unterschied, mithin auch das Woher dieser Abhängigkeit oder das Wesen, worauf sie in letzter Beziehung zurückgeht, nur Eines sein kann." Ein entgegengesetztes Beispiel für die kurzen Sätzchen und die affectirte Lebendigkeit, welche einige Leser so aufgeregt hat, dass sie Strauss nur noch mit Lessing zusammen nennen, findet sich Seite 8: „Was ich im Folgenden auszuführen gedenke, davon bin ich mir wohl bewusst, dass es Unzählige eben so gut, Manche sogar viel besser wissen. Einige haben auch bereits gesprochen. Soll ich darum schweigen? Ich glaube nicht. Wir ergänzen uns ja alle gegenseitig. Weiss ein Anderer Vieles besser, so ich doch vielleicht Einiges; und Manches weiss ich anders, sehe ich anders an als die Uebrigen. Also frischweg gesprochen, heraus mit der Farbe, damit man erkenne, ob sie eine ächte sei." Zwischen diesem burschikosen Geschwindmarsch und jener Leichenträger-Saumseligkeit hält allerdings für gewöhnlich der Straussische Stil die Mitte, aber zwischen zwei Lastern wohnt nicht immer die Tugend, sondern zu oft nur die Schwäche, die lahme Ohnmacht, die Impotenz. In der That, ich bin sehr enttäuscht worden, als ich das Straussische Buch nach feineren und geistvolleren Zügen und Wendungen durchsuchte und mir eigens eine Rubrik gemacht hatte, um wenigstens an dem Schriftsteller Strauss hier und da etwas loben zu können, da ich an dem Bekenner nichts Lobenswerthes fand. Ich suchte und suchte, und meine Rubrik blieb leer. Dagegen füllte sich eine andere, mit der Aufschrift:

336

28. Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Sprachfehler, verwirrte Bilder, unklare Verkürzungen, Geschmacklosigkeiten und Geschraubtheiten, derart, dass ich es nachher nur wagen kann, eine bescheidene Auswahl aus meiner übergrossen Sammlung von Probestücken mitzutheilen. 9 Vielleicht gelingt es mir, unter dieser Rubrik gerade das zusammenzustellen, was bei den gegenwärtigen Deutschen den Glauben an den grossen und reizvollen Stilisten Strauss hervorbringt: es sind Curiositäten des Ausdrucks, die in der austrocknenden Oede und Verstaubtheit des gesammten Buches, wenn nicht angenehm, so doch schmerzlich reizvoll überraschen: wir merken, um uns Straussischer Gleichnisse zu bedienen, an solchen Stellen doch wenigstens, dass wir noch nicht abgestorben sind und reagiren noch auf solche Stiche. Denn alles Uebrige zeigt jenen Mangel alles Anstössigen, soll heissen alles Produktiven, der jetzt dem klassischen Prosaschreiber als positive Eigenschaft angerechnet wird. Die äusserste Nüchternheit und Trockenheit, eine wahrhaft angehungerte Nüchternheit erweckt jetzt bei der gebildeten Masse die unnatürliche Empfindung, als ob eben diese das Zeichen der Gesundheit wäre, so dass hier gerade gilt, was der Autor des dialogue de oratoribus sagt: „illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur". 10 Darum hassen sie mit instinktiver Einmüthigkeit alle firmitas, weil sie von einer ganz anderen Gesundheit Zeugniss ablegt, als die ihrige ist, und suchen die firmitas, die straffe Gedrungenheit, die feurige Kraft der Bewegungen, die Fülle und Zartheit des Muskelspiels zu verdächtigen. Sie haben sich verabredet, Natur und Namen der Dinge umzukehren und fürderhin von Gesundheit zu sprechen, wo wir Schwäche sehen, von Krankheit und Ueberspanntheit, wo uns wirkliche Gesundheit entgegentritt. So gilt denn nun auch David Strauss als „Klassiker". Wäre nur diese Nüchternheit wenigstens eine streng logische Nüchternheit: aber gerade Einfachheit und Straffheit im Denken ist diesen „Schwachen" abhanden gekommen, und unter ihren Händen ist die Sprache selbst unlogisch zerfasert. Man versuche nur, diesen Straussen-Stil in's Lateinische zu übersetzen: was doch selbst bei Kant angeht und bei Schopenhauer bequem und reizvoll ist. Die Ursache, dass es mit dem Straussischen Deutsch durchaus nicht gehen will, liegt wahrscheinlich nicht daran, dass dies Deutsch deutscher ist als bei jenen, sondern dass es bei ihm verworren und unlogisch, bei jenen voll Einfachheit und Grösse ist. Wer dagegen weiss, wie die Alten sich mühten, um sprechen und schreiben zu lernen, und wie die Neueren sich nicht mühen, der fühlt, wie dies Schopenhauer einmal gesagt hat, eine wahre Erleichterung, wenn er so ein deutsches Buch nothgedrungen abgethan hat, um sich nun wieder zu den anderen alten wie neuen Sprachen wenden zu können; „denn bei diesen", sagt er, „habe ich doch eine regelrecht fixirte Sprache mit durchweg festgestellter und treulich beobachteter Grammatik und Orthographie vor mir und bin ganz dem Gedanken hingegeben, während ich im Deutschen jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des Schreibers, der seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolligen Einfälle durchsetzen will: wobei die sich frech spreizende Narrheit mich anwidert. Es ist wahrlich eine rechte

28.4. Anmerkungen des Herausgebers

337

Pein, eine schöne, alte, klassische Schriften besitzende Sprache von Ignoranten und Eseln misshandeln zu sehen." 11 Das ruft euch der heilige Zorn Schopenhauers zu, und ihr dürft nicht sagen, dass ihr ungewarnt geblieben wärt. Wer aber durchaus auf keine Warnung hören und sich den Glauben an den Klassiker Strauss schlechterdings nicht verkümmern lassen will, dem sei als letzes Recept anempfohlen, ihn nachzuahmen. Versucht es immerhin auf eigene Gefahr: ihr werdet es zu büssen haben mit eurem Stile sowohl als zuletzt selbst mit eurem eigenen Kopfe, auf dass das Wort indischer Weisheit auch an euch in Erfüllung gehe: „An einem Kuhhorn zu nagen, ist unnütz und verkürzt das Leben: man reibt die Zähne ab und erhält doch keinen Saft." —

28.4. Anmerkungen des Herausgebers 1

2

3

4

Nietzsche nimmt hier zu Beginn des Abschnitts 11 den Tadel wieder auf, den er überleitend im letzten Satz des Abschnitts 10 geäußert hatte: „Es bleibt nämlich übrig zu sagen, daß Strauß ein schlechter Schauspieler und sogar ein ganz nichtswürdiger Stilist ist." Dies zu belegen ist der Sinn des abgedruckten 11. und des die Betrachtung abschließenden 12. Abschnitts. Das Fehlen eines „nationalen Stils", einer .„einheitlichen Norm" als Grundlage für das individuelle Reden und Schreiben ist ein, wenn nicht das Charakteristikum der öffentlichen Sprache in Deutschland, das kaum ein Kritiker im 19. Jahrhundert, orientiert am Gegenbild Frankreich, zu betonen versäumt. Doch hat das Argument in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine veränderte Zielrichtung. Das nationale Forum, von dem sich A. Müller, Jochmann, Mündt u. a. die Ausbildung eines nationalen Stils erhofft hatten, war ja in vielen gesellschaftlichen Bereichen entstanden und hatte in der Tat auch zu einer Vereinheitlichung des sprachlichen Ausdrucks geführt. Das Produkt jedoch war in der Beurteilung Schopenhauers und Nietzsches kein „Stil", sondern „Lumpen j argon". Nietzsche zitiert aus den 1864 von J. Frauenstädt herausgegebenen „Materialien zu einer Abhandlung über den Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache getrieben wird" (S. 58; siehe die Literaturhinweise in 22.2.). Daniel Sanders: Handwörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig: O.Wigand 1869. — Sanders (1819 — 1879), einer der produktivsten und einflußreichsten Lexikographen der zweiten Jahrhunderthälfte, hatte mit seiner Schrift „Das deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, kritisch beleuchtet" (Hamburg 1852—1853) auch die Kritik, wenn nicht den Haß Jacob Grimms auf sich gezogen. In der „Vorrede" zum 1. Band des „Deutschen Wörterbuches" attackiert Grimm Sanders und Wurm, einen zweiten Konkurrenten, ohne Namensnennung als „hämische gesellen", „die nicht einmal halbkenner unserer spräche heiszen können", und spricht ihnen das Recht ab, „ein vaterländisches werk ... zu verlästern." Einige Sätze zuvor sind es „zwei spinnen", „die auf die kräuter dieses wortgartens gekrochen [sind] und ... ihr gift ausgelassen[haben]" (LXVIII). — Extremes Beispiel für den Versuch der Ausmerzung der „uns abhanden gekommenen" Wörter und Wendungen ist der einige Jahre nach Nietzsches „Betrach-

338

5

6 7 8 9 10

11

28. Friedrich Nietzsche (1844-1900) tung" veröffentlichte Aufsatz von Hamerling (siehe Bibl. A 110). Daß auch entschiedene Kritik an Goethe möglich ist, zeigt der Text von Du Bois-Reymond (in diesem Band). Einen Aufruf „an das deutsche Volk" habe ich nicht ermitteln können, es sei denn, Nietzsche meinte das Flugblatt „Was will der Franzos, und was will der Deutsche?", das im Juli 1870 in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurde und Auerbach ein Ständchen patriotischer Cannstatter Bürger eintrug. — Der „undeutsche" Jude Auerbach (vgl. den Text in Kap. 19) vereinigte fast alles, was Nietzsche für bekämpfenswert hielt. In den Vorarbeiten zu „David Strauß" findet man das folgende Verdikt: „Wo Heine und Hegel zugleich gewirkt haben, wie z. B. bei Auerbach (wenn auch nicht direct), und dazu eine natürliche Fremdheit in der deutschen Sprache aus nationalen Gründen kommt, entsteht ein Jargon, der in jedem Worte, jeder Wendung verwerflich ist" (Nietzsche, Gesammelte Werke. Musorionausgabe. Bd. 6, 226). Eduard Devrient: Meine Erinnerungen an Felix Mendelsohn-Bartholdy und seine Briefe an mich. 3. Aufl. Leipzig 1891. Wiederum nach den „Materialien" (vgl. Anm. 3), 61. Nietzsche zitiert hier und weiterhin die erste Auflage von David Strauß: Der alte und der neue Glaube. Leipzig 1872. Die angekündigte Sammlung folgt im 12. Abschnitt. „[So traurig und schmucklos] erreichen sie jene Gesundheit, mit der sie sich brüsten, nicht durch ihre Festigkeit, sondern ihre Kargheit" (Tacitus, Dialogue de oratoribus, Kap. 23,3). — Aper, einer der vier Redner des „Dialogus", polemisiert mit dieser Charakterisierung gegen die archaisierende Tendenz in der römischen Rhetorik der Kaiserzeit. Materialien, 60 f.

29. Emil du Bois-Reymond ( 1 8 1 8 - 1 8 9 6 ) 29.1. Einführende Bemerkungen Der Autor war seit 1855 außerordentlicher, seit 1858 ordentlicher Professor der Physiologie an der Universität Berlin und Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, deren ständiger Sekretär er 1867 wurde. In seinem Fach beschäftigte er sich vor allem mit Problemen der Muskel- und Nervenphysik und der tierischen Elektrizität. Er galt als ein Hauptvertreter der physikalischen Physiologie im Gegensatz zum Vitalismus. Daneben entfaltete er, vor allem verbunden mit seiner Mitgliedschaft an der Akademie der Wissenschaften, eine rege Vortragstätigkeit, meist mit Themen über wichtige Vertreter der Naturforschung vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Traut man den Lexika, dann gehört nicht zuletzt die Prägung des geflügelten Wortes „ignoramus et ignorabimus" zu seinen bildungsbürgerlichen Leistungen. Der hier abgedruckte Text ist, soweit erkennbar, die einzige Veröffentlichung, in der sich du Bois-Reymond mit Problemen der Sprache befaßte. Er wählte diesen Gegenstand zum Thema seiner Festrede in der Akademie der Wissenschaften „Zur Geburtstagsfeier Sr. Majestät des Kaisers und Königs am 26. März 1874". Aufgenommen ist ausnahmsweise nicht der ganze Vortrag, sondern nur der Schlußteil, in dem er sich nach längeren Ausführungen über die Verhältnisse in anderen europäischen Staaten seinem eigentlichen Anliegen zuwendet, wobei er die Zäsur mit dem Eingangssatz „Ich träume eine Kaiserliche Akademie der deutschen Sprache" selbst deutlich markiert. Was den Vortrag charakterisiert, ist weniger ein verstärktes Bewußtsein von der Notwendigkeit sprachlicher Normierung — dieses ist zunehmend schon seit der Jahrhundertmitte feststellbar, als der gezielte Versuch, dafür einen organisatorischen Rahmen zu schaffen. Die Möglichkeit dazu bot die Reichsgründung von 1871. Letztlich führten die verstärkten Bemühungen zur Pflege der deutschen Sprache allerdings nicht zur Einrichtung einer kaiserlichen Akademie, sondern zur Gründung des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" im Jahre 1885.

29.2. Literaturhinweise Textvorlage Emil du Bois-Reymond: Über eine Akademie der deutschen Sprache. Uber Geschichte der Wissenschaft. Zwei Festreden in öffentlichen Sitzungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Dümmler 1874, 20 — 34.

340

29. Emil du Bois-Reymond ( 1 8 1 8 - 1 8 9 6 )

29.3. Text * I c h t r ä u m e eine K a i s e r l i c h e A k a d e m i e der d e u t s c h e n S p r a c h e ( 1 8 7 4 ) [...] Ich träume eine K a i s e r l i c h e A k a d e m i e der d e u t s c h e n S p r a c h e . Zu fast allem soeben von England und Frankreich Gesagten bietet Deutschland den geraden Gegensatz. Jede Bemühung, die deutsche Sprache und ihre Rechtschreibung festzustellen, blieb bisher vergeblich. J A C O B G R I M M ' S Rechtschreibung war wohl ein zu radicaler Reformversuch, und lässt zuviel Einwände zu. * Sie wird von einem getreuen Häuflein Sprachkundiger in- und ausserhalb dieser Akademie befolgt, die grosse Menge kennt nicht einmal ihr Dasein, und staunt, wenn sie eine Probe davon sieht. Nach wie vor haben wir zwei Schriften, für die gangbarsten Wörter zwei Schreibweisen, für viele Zeitwörter zwei Arten der Beugung ohne allgemein anerkannte Regel für deren Gebrauch. Die mangelhafte Synonymik erlaubt denselben Gedanken ohne bestimmte Nüancirung nach Belieben auf mehrere Arten auszudrücken. Die daraus entspringende Leichtigkeit verführt zu der Nachlässigkeit, welche uns den Vorwurf zuzieht: Les Allemands n'ont pas le mot propre. Wir sind schon zufrieden, wenn der Ausdruck den Gedanken nur ungefähr deckt, und auf einen kleinen Denkfehler kommt es uns nicht an. Mit seltenen Ausnahmen spricht jeder Deutsche, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Nicht bloss jede Landschaft besteht in Aussprache, Wortbildung und Wortfügung auf ihren Eigenheiten, sondern jeder Einzelne hat dergleichen von Aeltern, Pflegerinnen, Lehrern überkommen, oder selber sich ausgedacht. Wie nach B O I L E A U jeder Protestant mit der Bibel in der Hand Papst ist,** so dünkt sich, aber auch ohne A D E L U N G , H E Y S E und G R I M M , jeder Deutsche eine Akademie. Ein grosser Theil der musikalischsten Nation der Welt kann die Consonanten mit und ohne Stimme, und die einander näher stehenden Vocale und Diphthongen nicht unterscheiden.*** Viele unserer schönsten Gedichte sind deshalb durch unvollkommene Reime entstellt. Sogar von der Bühne herab verfolgt das feinere Ohr der unleidliche Missklang schlechter Vocalisirung. Um so merkwürdiger er* Vergl. MICHAELIS, Über JACOB GRIMM'S Rechtschreibung. Berlin 1 8 6 8 . — Der in gegenwärtiger Rede entwickelte, naheliegende Gedanke, an die Wiederherstellung des deutschen Reiches eine neue und durchgreifende Anstrengung zur Feststellung der deutschen Rechtschreibung zu knüpfen, wurde schon von Anderen gefasst. Siehe Dr. DANIEL SANDERS, Vorschläge zur Feststellung einer einheitlichen Rechtschreibung für Alldeutschland. Berlin 1873. ** Satire XII. Sur l'Equivoque. *** ü und i; e, ä und ö; eu, äu, oi und ei, ai. JACOB GRIMM selber sagt: „Nicht anders setzt er (der Deutsche) grün aber kühn, schnüren aber führen, h e e r m e e r beere aber w e h r e und n ä h r e s c h w ö r e , haar aber wahr jähr, w e l c h e n W ö r t e r n ü b e r a l l g l e i c h e r l a u t z u s t e h t . " (Über das pedantische u. s. w. S. 204.) 1 Danach scheint es, als sei auch ihm e, ä, ö einerlei gewesen.

29.3. Text

341

scheint dies, als, wie wir jetzt wissen, die Vocale durch bestimmte, in ihnen vorklingende Obertöne gekennzeichnet sind,* die Fähigkeit, sie zu unterscheiden, mit der musikalischen Begabung also gleichen Schritt halten sollte. Der Mehrzahl auch der literarisch und wissenschaftlich gebildeten Deutschen ist dies Alles vollkommen gleichgültig, wenn sie es überhaupt wissen. Oder sie ziehen sogar die aus der Gesetzlosigkeit entspringende Ungebundenheit dem doch heilsamen Zwange eines geregelten Zustandes vor. Denn durch je festere Regeln das sonst Willkürliche bestimmt ist, mit um so grösserer Sicherheit bewegt sich, wer sie einmal erfasst hat, und kann nun sein Augenmerk wichtigeren Dingen zuwenden. Die auffallende Fehlerhaftigkeit des deutschen Druckes im Vergleich zum englischen und französischen beruht, wie Sachverständige versichern, zum Theil darauf, dass der deutsche Setzer nicht bloss die deutsche Rechtschreibung im Kopf haben, sondern auch die seines jedesmaligen Autors beachten muss. Viel eher als Englisch und Französisch bedürfte das Deutsche einer gewissen formalen Beaufsichtigung, wegen der Leichtigkeit, mit der es neue Wortbildungen zulässt, und der Unfähigkeit, lateinische und griechische Wörter sich wahrhaft zu verähnlichen. Aus letzterer entsteht die, Engländern und Franzosen unbekannte, schon oft vergeblich bekämpfte, nie ganz auszurottende Plage der Fremdwörter, der aber doch unter gleichen Verhältnissen die Holländer viel erfolgreicher begegnen als wir. Sehr nöthig wäre uns gerade jetzt etwas von der französischen und englischen Sprachpolizei, wo das öffentliche Leben, die überall tagenden Versammlungen, die Zeitungen zahlreiche neue Redensarten aufbringen, von denen wenige als Bereicherung des Sprachschatzes erscheinen. Dazu kommt, die Verwirrung zu steigern, das Dasein jenes zweiten grossen Mittelpunktes deutscher Bildung im Südosten. Spät von der deutschen literarischen Bewegung ergriffen, unter dem Einfluss eines babylonischen Zungengemisches, liess der österreichische Stamm in seiner Sprechweise eine Menge Eigenheiten sich einwurzeln, welche ebenso schwer zu beseitigen, wie vom classischen Standpunkte zu dulden sind. Hand in Hand mit der Gleichgültigkeit gegen die formale Seite der Sprache geht bei den Deutschen die Vernachlässigung des Stils. Wenn ich hier von Stil rede, meine ich nur dessen grundlegende Eigenschaften, die bei einem gewissen Maass von Begabung Jeder durch Schulung sich aneignen kann. Es ist nicht von Jedem zu verlangen, dass er geistreich, fein, schwunghaft schreibe, dass er mit sinnvollen Wendungen den Leser gewinne, mit treffenden Gleichnissen ihn erfreue, durch Leidenschaft ihn fortreisse. Dagegen ist von Jedem zu verlangen, dass er in gutem Deutsch seine Meinung bündig, kurz und klar mittheile. *

HELMHOLTZ, Die Lehre von den Tonempfindungen u. s. w. 3. Ausgabe. Braunschweig 1870. S. 162 ff.

342

29. Emil du Bois-Reymond (1818-1896)

U m bei den deutschen Naturforschern stehen zu bleiben, wie viel unter ihnen giebt es denn, welchen der Gedanke, dass man auf die Darstellung Fleiss verwenden müsse, und dass eine wissenschaftliche Abhandlung ein Kunstwerk sein könne wie eine Novelle, nicht als wunderliche Grille erscheint? Weil sie die grundlegenden von den verschönernden Eigenschaften des Stiles nicht trennen, meinen sie, gutes Deutsch sei ein Geschenk des Himmels, um das, wer es nicht besitze, umsonst sich bemühe, und welches überdies nicht werth sei, dass man seinetwegen sich plage. Unbekümmert um die äussere Erscheinung treten sie im Schlafrock vor die Oeffentlichkeit, und, was kaum minder schlimm ist, die Oeffentlichkeit ist es zufrieden. J a sie suchen etwas darin, äusserer Hülfsmittel sich zu entschlagen, als ob die Wahrheit unter gefälliger F o r m litte, und als ob nicht formale Durchbildung eines Gedankengefüges der sicherste Weg wäre, übersehene Lücken und Fehler aufzudecken. J e hastiger gegenwärtig die wissenschaftliche Production, um so grösser die stilistische Verwilderung. Lehrreich ist zu beobachten, dass sie weniger bei den Forschern um sich greift, deren Gegenstand strenges Denken erheischt, bei den Physikern, mehr bei denen, die am anderen E n d e der Reihe stehen, den Medicinern. Namentlich treiben diese einen nicht genug zu tadelnden Missbrauch mit Fremdwörtern. E s wäre schwer, hier nicht A L E X A N D E R ' S V O N H U M B O L D T mit einer gewissen Wehmuth zu gedenken. Er hatte in der J u g e n d das aesthetisch erregte Deutschland der Jenenser Zeit verlassen. Nach seiner Reise hatte er ein Yierteljahrhundert im Institut, dem Mittelpunkte französischer literarischer Bewegung, verlebt. Nach Deutschland zurückgekehrt, wo schon die Reaction gegen den Idealismus sich vorbereitete, in der wir uns befinden, sah er in seinen stilistischen Bestrebungen sich schmerzlich vereinsamt. U m so tiefer empfand er dies, je mehr in Frankreich sein Formtalent bewundert worden und ein je mächtigerer Hebel es ihm dort gewesen war. Für mich ist kein Zweifel, dass vornehmlich diese E m p f i n d u n g ihn zu V A R N H A G E N h i n z o g . * Wie ist es möglich, dass seit so langer Zeit die deutsche J u g e n d die kostbarste Zeit des Lebens auf den Schulbänken mit dem Studium der antiken Muster verbringt, aber nicht sie zum Vorbilde nimmt? Lateinisch zwar lernte sie schreiben, aber sie lernte nicht schreiben, wie die Lateiner. Höchstens die Verwickelung des Satzbaues entlehnten wir den Römern, ohne gleich ihnen den Ariadnefaden starker Beugungen durch das Labyrinth der Rede zu besitzen. D a g e g e n Franzosen und Engländer, über deren humanistische Studien unsere Gymnasial-Directoren und Oberlehrer die Achsel zucken, stets bemüht waren, die stilistischen Vollkommenheiten der Alten so viel wie möglich in ihren Sprachen wieder aufleben zu lassen. * Eine treffende Beurtheilung HUMBOLDT'S als Stilisten gab A. DOVE in: ALEXANDER VON HUMBOLDT. Eine wissenschaftliche Biographie u. s. w. von K . BRUHNS. Leipzig 1872. Bd. II. S. 374 ff.

29.3. Text

343

Bekanntlich ist auch die Zahl derer, die im späteren Leben zum Vergnügen einen Classiker aufschlagen, verhältnissmässig kleiner bei uns als in England. Es liegt nahe, diese Widersprüche davon herzuleiten, dass unser classischer Unterricht auf die formale Ergründung der alten Sprachen, als auf ein Bildungsmittel an sich, zu viel Gewicht legt. Ueber dem Betrachten der Einzelnheiten geht der Gesammteindruck verloren; vor lauter Bäumen sieht der Schüler den Wald nicht. Schade nur, dass auch von der so angelernten ,Akribie' nichts der Muttersprache zu Gute kommt. Vielleicht ist die bei uns, im Vergleich zumal mit den Franzosen, ausgedehntere Beschäftigung mit dem Griechischen zum Theil Schuld daran, dass wir aus dem Studium der Alten für unseren Stil geringeren Vortheil zogen. Die griechische Sprache besitzt eine Fülle von Beugungsformen des Zeitwortes und von Partikeln, denen im Deutschen nichts entspricht. Wir mögen es dahin bringen, diese Formen im einzelnen Fall aus grammatischen Regeln zu rechtfertigen. Aber meist ist die Regel den Beispielen entnommen, und dann bleibt solche Erklärung ein Zirkelschluss. Wahre Einsicht in die Nothwendigkeit einer bestimmten Form an einer bestimmten Stelle gewährt die Regel meist so wenig, wie eine empirische Formel die Umstände kennen lehrt, die den danach interpolirten Werth der Variablen bedingen. Es mag jederzeit in Europa ein paar Graecologen geben, die durch unaufhörliches Sichversenken in die Texte zu solchem Sprachgefühl gelangen, dass die verschiedenen Aoriste, und andere Dinge der Art, ihnen wahrhaft lebendig werden. Seiner Natur nach ist solches Gefühl nicht übertragbar, und so verharrt die ungeheure Mehrzahl der Griechisch Lernenden auf einer Stufe, wo sie bei Vielem sich nichts Rechtes zu denken wissen. Die unaussprechbaren Accente gewöhnen sie vollends daran, Bedeutungsloses gelten zu lassen. Wenn sie nun eine Seite Griechisch, auf der sie von Vielem keine deutliche Rechenschaft sich geben können, als unerreichbares Muster des Stiles rühmen hören, wie sollen sie mit der obersten Wahrheit der Stilistik sich durchdringen, dass der Stil die Minimumaufgabe zu lösen hat, durch möglichst wenig Zeichen eine gegebene Gedankenreihe zu erwecken, dass also ohne zureichenden Grund kein Zeichen dastehen darf? Ferne sei mir, dem das Hellenenthum als Quell aller wahren Bildung erscheint, deshalb das Studium des Griechischen einschränken zu wollen. Ich wünschte nur, dass, wenn der Jugend die griechische Diction zum Vorbilde gegeben wird, dieser Umstand nicht unberücksichtigt bliebe. Die geringere Fertigkeit der Deutschen im Gebrauch der Muttersprache wird sodann, wenn nicht entschuldigt, doch zum Theil erklärt durch die sprachliche Vielseitigkeit, die in ihrer umfassenderen Weltanschauung, ihrem Weltbürgerthum, wie man es nennen kann, wurzelt. Von den geistig beschäftigten Deutschen haben viele den löblichen Ehrgeiz, neben Deutsch auch noch Französisch, Englisch und womöglich Italiänisch leidlich fehlerfrei zu sprechen und zu schreiben. Kein Wunder, dass sie in der Muttersprache es nicht zur Meisterschaft des Franzosen oder Engländers bringen, für den es meist nur Eine Sprache in der Welt giebt.

344

29. Emil du Bois-Reymond (1818-1896)

Auch die Beschäftigung mit der speculativen Philosophie und der grosse Platz, den diese im deutschen Geistesleben lange einnahm, ist zu den Umständen zu zählen, die unserer sprachlichen Entwickelung geschadet haben. Sie hat die Deutschen daran gewöhnt, ungenau Gedachtes, locker Geschlossenes, mitunter Sinnloses, unter dem Schutz orakelhafter Dunkelheit und einer sinnverwirrenden Kunstsprache, als tiefe Weisheit sich bieten zu lassen. Sie hat sie in dem Fehler bestärkt, zu dem sie ohnehin neigen, ihre Gedanken nicht zu voller Schärfe auszuarbeiten, und bei deren Ausdruck gleichsam mit einer ersten Annäherung sich zu begnügen. Leider muss hinzugefügt werden, dass auch die kritische Philosophie durch die rauhe Härte und ungefüge Verwickelung ihrer Schreibart der deutschen Sprache nicht zum Heile gereichen konnte. Endlich ist hier noch ein schweres Bekenntnis abzulegen. Unser grösster Dichter hat auf den deutschen Stil lange keinen guten Einfluss geübt. Auch da er die Iphigenie „Zeile für Zeile, Periode für Periode regelmässig erklingen Hess",* war GOETHE in den grundlegenden Eigenschaften des Stils im Allgemeinen kein Muster. Er besass Alles, was der Himmel seinen Lieblingen schenkt, und was den Zauber der Darstellung ausmacht, aber ihm fehlte oft, was gesunder Geschmack so wenig entbehren mag, wie neben Leckerbissen das Brod, und was nur zähe Arbeit verschafft, Reinheit und Richtigkeit der Sprache, straffe Verkettung der Gedanken, knappe Gedrungenheit. Er klagt, die Sprache habe sich unüberwindlich gezeigt.** Die Spuren seines Ringens, Unaussprechliches auszusprechen, sind nur zu häufig in seinen Werken. Unstreitig gewann dabei in seinen Händen die Sprache an Reichthum und Biegsamkeit, aber die Nachlässigkeit und Willkür, mit welchen er sie, durch sein ungeheures Talent verführt, in Prosa wie in Versen oft behandelte, waren nicht geeignet, erziehend auf das noch unmündige Volk zu wirken, das zu ihm als Lehrer und Führer emporblickte. Sieht man dann den alternden GOETHE mehr und mehr in seine bekannte Manier verfallen, zu behaglichster Breite zerflossene Phrasen voll nichtssagenden Füllsels, gewohnheitsmässiger Beiwörter und Wendungen bequem aneinander zu hängen, so kann man nur den Gegensatz zu V O L T A I R E beklagen, der bis zuletzt ein unerreichtes Vorbild raschen, frischen, treffenden Ausdruckes blieb. Und wenn lange nach G O E T H E ' S Tode halb Deutschland noch immer wie der alte G O E T H E schrieb, so kann man sich nur wundern, wie ein Volk von Kritikern das freilich schwerer nachzuahmende Beispiel wahrhaft classischer Schreibart vergessen konnte, das doch schon von LESSING gegeben war. Forscht man nach dem letzten Grund unserer schon oft beklagten sprachlichen Mängel, so ist er meines Erachtens nicht, wie zu geschehen pflegt, in den politischreligiösen Wirren des siebzehnten Jahrhunderts zu suchen, sondern, wie Eingangs angedeutet wurde, in dem bei uns minder lebendigen Formensinn, verbunden mit jenem starken Gefühle für Unabhängigkeit, welches den Deutschen schwer macht, * Italiänische Reise. Rom, den 6. Januar 1787. ** Epigramme aus Venedig. 77.2

29.3. Text

345

aus Gemeingeist, ohne dass bürgerliches Gesetz oder militärische Zucht es gebieten, ihre persönlichen Neigungen einer Regel unterzuordnen. Genährt und gesteigert wurde freilich dies Gefühl durch die nach dem dreissigjährigen Krieg hinterbliebene Zerrissenheit Deutschlands, in welcher den verschiedenen Stämmen das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit fast verloren ging, und durch den daraus folgenden Mangel an einem allgemeine Achtung gebietenden Mittelpunkte nationaler Cultur. 3 Wie wäre wohl der Entwicklungsgang der deutschen Sprache und Literatur gewesen, hätte Deutschland, als unsere grossen Dichter lebten, eine mächtige Hauptstadt wie London oder Paris gehabt, die Sammelplatz der vorzüglichsten Talente geworden wäre? Manche liebliche Blüthe unserer Poesie hätte sich nicht entfaltet. Wir wären ärmer um die Erinnerungen aus der Weimarischen Zeit. Ilmenau's düstere Fichtenhöhen umwöbe nicht in unserer Phantasie der Zauberschleier aus der „Zueignung". Minder stürmischen Adlerschwunges vielleicht wäre SCHILLER'S Genius in großstädtischer Atmosphäre emporgestiegen. Aber vielleicht hätte er Schwulst und Härte seiner ersten Periode früher abgelegt. Im aufregenden Verkehr, nicht mit wenigen gleich beschaulichen Geistern, sondern mit einer bewegten Welt mannigfach bedeutender Menschen, auf dem Schauplatz einer Alles mit sich fortreissenden rastlosen Thätigkeit, unter den Augen einer nicht unbedingt fügsamen, kritisch aufgeweckten Gesellschaft, wären vielleicht GOETHE jene etwas unfruchtbaren Lebensabschnitte vor der italiänischen Reise und vor der Begegnung mit SCHILLER erspart geblieben, die fast an die ,flache Unbedeutenheit' erinnern, mit der Mephisto Faust bedroht. Er hätte vielleicht weniger begonnen, mehr vollendet; weniger gespielt, mehr geleistet; vielleicht mehr Achtung vor der Lesewelt bewahrt, und nicht so leichthin mit dem Gastmahl den Abhub in den Kauf gegeben. Die gesellschaftlichen Zustände solcher Stadt hätten für Roman und Komoedie mehr Stoff geboten, als das kleinbürgerliche Deutschland des vorigen Jahrhunderts. Im Treiben dieser Stadt hätte möglicherweise die deutsche Anrede etwas von der Unbeholfenheit verloren, die JACOB GRIMM so bitter tadelt. * Auch sonst wäre dort wohl mancher allzueckige Kiesel unserer granitenen Sprache, wie die Engländer sie genannt haben, zu einem glatteren Geschiebe abgeschliffen worden. Endlich bei dem literarischen Leben in einer erst KLOPSTOCK und LESSING, dann WIELAND, HERDER, GOETHE, SCHILLER und JOHANN HEINRICH VOSS, dann wieder TIECK und die SCHLEGEL, zuletzt RÜCKERT, PLATEN und HEINE, dazu jederzeit eine Schaar von Sprachkundigen, Geschichtschreibern, Kritikern und Tagesschriftstellern in sich schliessenden Metropole, wäre eine sich Bahn brechende Festsetzung der Sprache leichter vor sich gegangen. Dem unbestrittenen Ansehen, in welchem diese Stadt als Sitz des Talents und Geschmackes überall gestanden hätte, würde gern oder ungern, über kurz oder lang, die Nation sich gefügt haben. Die nun eingewurzelten Schäden, welche die sonst unermesslichen Vorzüge unserer * Über das pedantische u. s. w. S. 191.

346

29. Emil du Bois-Reymond ( 1 8 1 8 - 1 8 9 6 )

Sprache verdunkeln, wären als Jugendfehler beizeiten getilgt worden. Hundert Jahre nachdem der junge GOETHE, wie der leuchtende Gott der Dichtung, unter uns trat, brauchten wir nicht vor dem Ausland uns sprachlicher Zustände zu schämen, die eines grossen Culturvolkes unwürdig sind, und uns auch wirklichen Nachtheil bringen. Denn sie tragen wesentlich dazu bei, den Fremden das Erlernen unserer Sprache zu verleiden, und ihr den Wettstreit als Weltsprache mit Englisch und Französisch unmöglich zu machen. Leider giebt es nichts Eitleres, obschon man stets wieder dazu sich verleiten lässt, als so zu erwägen, wie wohl unter gewissen Voraussetzungen die menschlichen Dinge geworden wären. Es fragt sich vielmehr, was noch heute thunlich ist, um Versäumtes nachzuholen, geschehenen Schaden zu bessern, weiteren zu verhüten. Für die bildenden Künste hat Deutschland zahlreiche Akademien, für die Musik Conservatorien. Sogar die Hebung des Kunstgewerbes findet gegenwärtig grosse Theilnahme und von Seiten des Staates willige Unterstützung. Warum sollte man nicht versuchen, da es von selber nun eimal bei uns nicht geht, für Reinigung und Feststellung der Sprache, für Hebung der Kunst der Rede entsprechende Veranstaltungen zu treffen? Das höchste geistige Kleinod des Volkes dürfte solcher Bemühung doch wohl werth sein. Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass zu diesem Zweck an Vereinigung geeigneter Kräfte in Form einer Akademie oder gelehrten Gesellschaft gedacht wird. Schon das siebzehnte Jahrhundert sah, zunächst nach Vorbild der Accademia de IIa Crusca,4 Vereine für deutsche Sprache entstehen, von denen ich nur den Palmen-Orden oder die Fruchtbringende Gesellschaft, den pegnesischen BlumenOrden und den Elbschwanen-Orden nenne, denen im achtzehnten Jahrhundert eine Leipziger, in diesem Jahrhundert, im Anschluss an den nationalen Aufschwung der Befreiungskriege, eine Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache folgten.* Die meisten dieser Vereine hatten nur kurzen Bestand, keiner griff durch. Der Fruchtbringenden Gesellschaft schreibt G E R V I N U S nützliche Wirkungen zu,** J A C O B G R I M M dagegen sagt, sie führe ihren Namen wie lueus a non lucendo.*** Doch war

* Nachricht von diesen Gesellschaften findet man in: O T T O SCHULTZE, Die Sprachgesellschaften des siebzehnten Jahrhunderts. Vorlesung am Stiftungsfest der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache. Berlin 1824. — Siehe auch F.W. BARTHOLD'S Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft u. s. w. Berlin 1848. 5 ** Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd. III. 5. Aufl. Herausgegeben von K. B A R T S C H . Leipzig 1872. S. 241 ff. *** Über das pedantische u. s. w. S. 207. — Doch ist zu bemerken, dass in der Antwortrede des ersten Vorsitzenden der Berliner Akademie, J A B L O N S K I , auf die Eröffnungsrede des Ministers v. PRINTZEN, am 1 9 . Januar 1 7 1 1 , der Fruchtbringenden Gesellschaft und des Schwanen-Ordens, zusammen mit der Kaiserlichen Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher, ehrenvoll gedacht und die neue Akademie als eine jenen dreien sich anreihende vierte Stiftung gleicher Art und Würde bezeichnet wird, welche

•29.3. Text

347

sie die Schöpfung wohlmeinender fürstlicher Personen, 6 und der grosse Churfürst, unter dem Beinamen des ,Untadelichen', ihr Mitglied. Im Stiftungsbrief unserer eigenen Akademie vom 11. Juli 1700, durch den LEiBNiz'Plan die Churfürstliche Bestätigung erhielt, 7 heisst es sodann: „Solchemnach soll bei dieser Societaet unter andern nützlichen Studien was zur Erhaltung der teutschen Sprache in ihrer anständigen Reinigkeit, auch zur Ehre und Zierde der teutschen Nation gereichet, absonderlich mit besorget werden"*. Auch in den von FRIEDRICH dem Grossen gegebenen neuen Statuten der Akademie vom 24. Januar 1744 wird die deutsche Sprache, als besonders zu pflegender Gegenstand, der vierten oder philologischen Klasse empfohlen**. Dass die Akademie bald theilnahmlos für einen ihrer ursprünglichen Hauptzwecke wurde, hat nach JACOB GRIMM, den ich hier reden lasse, seinen Grund in zwei sie nahe berührenden Richtungen der folgenden Zeit. Die Akademie musste es damals erleben, dass ihr für ihre Abhandlungen die französische Sprache aufgedrängt wurde, unter deren vorwaltendem Einfluss lange Jahre hindurch Förderung der einheimischen am wenigsten als zeitgemässe akademische Aufgabe angesehen werden durfte. Die andere Ursache liege in dem Aufschwung, den seit den letzten hundert Jahren die exacten Wissenschaften überall in Europa genommen haben. Den Naturwissenschaften sei auf der Höhe, zu welcher sie sich gehoben haben, nationale Farbe fast entwichen, und sie pflegen heutzutage geringen oder gar keinen Antheil am Gedeihen oder Wachsthum unserer Sprache zu nehmen. *** Als bei derselben Gelegenheit, 1 8 4 7 , JACOB GRIMM von dieser Stelle aus unsere sprachlichen Zustände ungleich härter beurtheilte, als ich es dürfte, schien ihm der rechte Augenblick noch nicht gekommen, bestimmte Maassnahmen für deren Abhülfe vorzuschlagen. Ihm war es nicht vergönnt, die Sehnsucht seines Lebens gestillt und das deutsche Reich hergestellt zu sehen. Nun ist erfüllt, was er und seine Jugendgenossen geträumt, und wer könnte zweifeln, dass eine Kaiserliche Akademie der deutschen Sprache nach seinem Sinn wäre? 8 Der Zeitpunkt, wo das auf Grund des nationalen Gedankens wiedererstandene deutsche Reich nach Einheit in allen Dingen trachtet, in welchen Nachgeben der Einzelnen nur irgend zu hoffen ist; wo unter dem hinreissenden Eindruck weltgeschichtlicher Ereignisse die Einzelnen mehr als sonst nachgiebig gestimmt sind; deren sämmtliche Zwecke umfassen solle: „Id erat reliquum, ut ineunte N o v o Seculo, Rex Augustus Quartam fundaret, quae Linguas juxta atque Scientias, adeoque discreta illarum Objecta, una complecteretur." (Histoire de l'Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres, depuis son origine jusqu'a present. Α Berlin, 1752. 4°. p. 44. 269) Das Ansehen, in welchem jene beiden Sprachgesellschaften damals also noch standen, kann wohl kein ganz unverdientes gewesen sein. * Histoire de l'Academie etc. p. 7. 252. ** Ibidem, p. 88. 283. *** Über das pedantische u. s. w. S. 297. 208.

348

29. Emil du Bois-Reymond (1818-1896)

wo in Gesetzgebung, Heer-, Münz- und Verkehrswesen Einigung grossentheils schon erreicht ist: dieser Zeitpunkt scheint auch der rechte, um den Versuch zu erneuern, unsere Sprache endgültig festzustellen, und den auf ihre Pflege gerichteten Bestrebungen einen Vereinigungspunkt zu schaffen. Eine über Deutschland verbreitete, durch Wahl unter Kaiserlicher Bestätigung sich ergänzende Akademie der deutschen Sprache, welche die ersten Schriftsteller und Sprachkenner in sich vereinte, und in der Reichshauptstadt ihren Sitz oder geschäftlichen Mittelpunkt hätte, wäre eine an das Reich sich anlehnende Schöpfung, durch welche dieses, der verkörperte Wille der Nation, laut ausspräche, dass die Pflege der deutschen Sprache ihm am Herzen liegt. Die Sprache war lange beinahe das einzige Band, welches die jetzt das Reich ausmachenden deutschen Stämme zusammenhielt. Ihr verdankt das Reich seine Neuerstehung. Danach erscheint solche Schöpfung fast als Pflicht der Dankbarkeit. Die Hindernisse, auf welche trotz der Gunst des Augenblicks eine Akademie der deutschen Sprache bei Lösung ihrer Aufgabe noch immer stossen würde, sind nicht zu gering, aber auch nicht zu hoch anzuschlagen. Ihre Mitglieder wären eben so viel Verkünder ihrer Entscheidungen. Sie geböte schon über mächtige Mittel, wenn, wie zu hoffen, wissenschaftliche, politische und städtische Körperschaften, gelehrte und literarische Vereine, Buchdrucker und Verleger, die höhere Tagespresse, vor Allem die Schulbehörden ihr mit gutem Willen entgegenkämen. Der Beistand der Reichs- und der preussischen Behörden wäre ihr gewiss, die Behörden der anderen Einzelstaaten würden den ihrigen kaum versagen. Ein sehr grosser Theil des literarischen Deutschlands wäre auf diese Weise umfasst, in welchem die Akademie den formalen Theil ihrer Aufgabe, Codification der Sprache, sicher durchführen könnte. Die äussere Anerkennung literarischen Verdienstes durch Aufnahme in die Akademie und durch Preise würde aber auch unfehlbar nützlichen Wetteifer in richtiger und schöner Behandlung der Sprache erwecken, und allmählich dahin führen, dass die schmähliche Gleichgültigkeit gegen die Form der Rede, und die barbarische Geringschätzung stilistischer Bemühungen einem Streben nach Vollkommenheit und einem Gefühl für nationale Würde auch in diesen Dingen wiche. Man sieht wenigstens nicht ein, weshalb die Mittel, von denen man in Wissenschaft und Kunst Heil erwartet, nicht auch in Pflege der Sprache einmal versucht werden, weshalb, wenn sie erfahrungsmässig dort sich nützlich zeigten, sie hier unwirksam bleiben sollten. England freilich besitzt, wie schon gesagt, keine Akademie der englischen Sprache, aber auch seine vornehmste wissenschaftliche Körperschaft ist keine Akademie in unserem Sinn. Ohnehin haben wir noch von den Engländern zu lernen, wie grösste Ungebundenheit des Einzelnen sehr gut mit williger Unterwerfung unter heilsame, wenn auch zuweilen unbequeme Satzungen sich verträgt. Warum also nicht hier das Beispiel der Franzosen nachahmen, ohne ihnen in ihre Abwege zu folgen? Eine Akademie der deutschen Sprache, wenn sie nicht zum Guten ausschlüge, würde wenigstens sicher nicht schaden. Unsere Literatur ist kein

29.4. Anmerkungen des Herausgebers

349

K i n d mehr. Sie lässt sich nicht mehr mit willkürlichen Regeln g ä n g e l n , durch falschen Geschmack missleiten, durch gespreiztes Wesen einschüchtern. Heute noch der deutschen Prosa charakterlose Eintönigkeit, der deutschen Dichtung prosodische Schnürstiefel, der deutschen Aesthetik Scheuklappen a u f z w ä n g e n , hiesse Geschehenes ungeschehen, hiesse machen wollen, dass Nibelungenlied und des Knaben Wunderhorn uns noch nicht e r k l u n g e n , dass durch HEBEL und F R I T Z REUTER die Schätze unseres ober- und niederdeutschen Volkshumors noch nicht gehoben wären. Diese Befürchtungen v o n der , D e u t s c h e n A k a d e m i e ' zu hegen, weil es Sitte ist, der Academie fran^aise Aehnliches nachzureden, erscheint mir in dem Maasse w e n i g e r gerechtfertigt, in w e l c h e m die Academie fran^aise an dem, dessen man sie anklagt, meines Erachtens w e n i g e r schuldig ist.

29.4. Anmerkungen des Herausgebers 1 2

3

4 5

6

7

8

Siehe Bibl. A 83. Das Epigramm lautet: „Was mit mir das Schicksal gewollt? Es wäre verwegen,/Das zu fragen: denn meist will es mit vielen nicht viel./Einen Dichter zu bilden, die Absicht war' ihm gelungen,/Hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt." Die Ableitung des Mangels eines Mittelpunktes nationaler Kultur aus dem verlorengegangenen Zusammengehörigkeitsgefühl, das seinerseits mit einem letztlich völkerpsychologisch gedachten Gefühl für Unabhängigkeit bei den Deutschen begründet wird, unterscheidet sich merklich von der politischen und gesellschaftlich-historischen Argumentation der ersten Jahrhunderthälfte bei Adam Müller, Jochmann, Mündt u. a. Gegründet in Florenz 1582. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte die Herausgabe eines italienischen Wörterbuches. Siehe auch Otto, Karl: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1972. — Stoll, Christoph: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München: List 1973. Die Gesellschaft wurde am 24. 8. 1617 auf Schloß Hornstein bei Weimar gegründet. Anwesend waren u. a. Ludwig und Johann Casimir, Fürsten zu Anhalt, drei Herzöge von Weimar und Caspar von Teutleben. Leibniz, der eine Sprachakademie in der Tat verschiedentlich gefordert hatte, erwähnt die Pflege der deutschen Sprache in seinen Denkschriften zu der zu gründenden kurfürstlichen Societät allerdings gerade nicht. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Gessinger (Bibl. C 8, S. 116 ff.). Zweifel sind angebracht, aber der 11 Jahre zuvor gestorbene Jacob Grimm konnte sich nicht mehr wehren.

Bibliographie zur Sprachkritik und zur Sprachbewußtseinsgeschichte im 19. Jahrhundert A. Zeugnisse von 1780 — 1880. Eine Zeittafel 1780 1. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ueber Sprache und Dichtkunst. Fragmente. Hamburg: Heroldsche Buchhandlung 1779. — Dass.: Erste Fortsezung 1779; Zweite Fortsezung 1780. 2. Friedrich II. von Preußen: De la litterature allemande, des defauts qu'on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger. Berlin: Decker. — Dass, aus dem Franz. übersetzt von Christian Wilhelm von Dohm: Ueber die deutsche Literatur, die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, die Ursachen derselben und die Mittel, sie zu verbessern. Berlin: Decker 1781. 1781 3. Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm: Ueber die Teutsche Sprache und Litteratur. Berlin: [ohne Verlagsangabe]. 4. Moser, Justus: Ueber die deutsche Sprache und Litteratur. Schreiben an einen Freund. Osnabrück und Hamburg: Campe. 5. Tralles, Balthasar Ludwig: Schreiben von der deutschen Sprache und Litteratur. Breslau: [ohne Verlagsangabe]. 1782 6. Adelung, Johann Christoph: Was ist Hochdeutsch? In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, Erstes Stück, 1—31. 7. Adelung, Johann Christoph: Auch etwas von dem Zustande der Deutschen Litteratur. In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, Erstes Stück, 84—100. 8. Adelung, Johann Christoph: Beweis der fortschreitenden Cultur des menschlichen Geistes aus der Vergleichung der älteren Sprachen mit den neuern. In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, Zweytes Stück, 3—28. 9. Adelung, Johann Christoph: Sind es Schriftsteller, welche die Sprache bilden und ausbilden. In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, Drittes Stück, 45 — 57. 10. Rüdiger, Johann Christian Christoph: Neuester Zuwachs der teutschen, fremden und allgemeinen Sprachkunde in eigenen Aufsätzen, Bücheranzeigen und

Α. Zeugnisse von 1780—1880. Eine Zeittafel

351

Nachrichten. 1. —4. Stück. Leipzig: [ohne Verlagsangabe] 1782—1785; 5. Stück, Halle 1793; 6. Stück, Halle 1796. 11. Wieland, Christoph Martin: Über die Frage: Was ist Hochteutsch? und einige damit verwandten Gegenstände. In: Der Teutsche Merkur, Viertes Vierteljahr (November), 1 4 5 - 1 7 0 . 12. Wieland, Christoph Martin: Beschluß des Versuchs über die Frage: Was ist Hochteutsch? In: Der Teutsche Merkur, Viertes Vierteljahr (Dezember), 193-216. 1783 13. Biester, Johann Erich: Ist Kursachsen das Tribunal der Sprache und Litteratur für die übrigen Provinzen Deutschlands. In: Berlinische Monathsschrift 1, 2. Stück, 1 8 9 - 1 9 9 . 14. Wieland, Christoph Martin: Musophili Nachtrag zu seinem Versuche über die Frage: was ist Hochteutsch. In: Der Teutsche Merkur, Zweites Vierteljahr (April), 3 0 7 - 3 0 [richtig: 334], 15. Adelung, Johann Christoph: Ueber die Frage: Was ist Hochdeutsch? Gegen den Deutschen Merkur. In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, 4. Stück, 79-111. 16. Adelung, Johann Christoph: Ueber die schöne Litteratur der Deutschen, auch gegen den Deutschen Merkur. In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, 4. Stück, 112-126. 17. Adelung, Johann Christoph: Noch etwas über Deutsche Sprache und Litteratur, auf Veranlassung der Berlinischen Monathsschrift. In: Magazin für die Deutsche Sprache 1, Viertes Stück, 134—159. 18. Bürger, Gottfried August: Über deutsche Sprache. An Adelung [zu Lebzeiten Bürgers unveröffentlicht]. 1784 19. Adelung, Johann Christoph: Herr Hauptmann von Blankenburg über Deutsche Sprache und Litteratur. An den Herausgeber, mit dessen Anmerkungen. In: Magazin für die Deutsche Sprache 2, 2. Stück, 3 — 50. 20. Adelung, Johann Christoph: Fernere Geschichte der Frage: Was ist hochdeutsch. In: Magazin für die Deutsche Sprache 2, 4. Stück, 138 — 163. 1787 21. Bürger, Gottfried August: Ueber Anweisung zur deutschen Sprache und Schreibart auf Universitäten. Einladungsblätter zu seinen Vorlesungen. Göttingen: Dieterich. 22. Meister, Leonhard (Hrsg.): Friedrich des Großen wolthätige Rücksicht auch auf Verbesserung teutscher Sprache und Litteratur. Zürich: Orell, Gessner, Füssli u. Comp.

352

Bibliographie 1792

23. Moritz, Karl Philipp: Nachricht über die akademische Deputation zur Ausbildung der vaterländischen Sprache. In: Berlinische Monathsschrift 20, Nov., 491 - 4 9 3 . 1793 24. Koch, Erdmann Julius: Über deutsche Sprache und Literatur. Berlin: Franke. 25. Moritz, Karl Philipp: Uber die bisherigen Beschäftigungen der akademischen Deputation zur Kultur der vaterländischen Sprache. In: Deutsche Monatsschrift, 1. Stück, 3 8 - 4 1 . 26. Beiträge zur deutschen Sprachkunde. Vorgelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Erste Sammlung. Berlin: Karl Matzdorfs Buchhandlung. 1794 27. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Grammatische Gespräche. Altona: Kaven. 1795 28. Campe, Joachim Heinrich: Was ist Hochdeutsch? In wiefern und von wem darf und muß es weiter ausgebildet werden. In: Beiträge zur Beförderung der fortschreitenden Ausbildung der Deutschen Sprache. Von einer Gesellschaft von Sprachfreunden. Erstes Stück. Braunschweig: In der Schulbuchhandlung, 145-184. 29. Beiträge zur Beförderung der fortschreitenden Ausbildung der Deutschen Sprache. Von einer Gesellschaft von Sprachfreunden. 3 Bde. Braunschweig: In der Schulbuchhandlung 1795-1797. 30. Ueber Prose und Beredsamkeit der Deutschen. In: Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, Bd. 1 (Januar-Juni), 2 4 9 - 2 5 4 , 3 7 3 - 3 7 7 [als Autor gilt Daniel Jenisch]. 31. Goethe, Johann Wolfgang von: Litterarischer Sansculottismus. In: Die Hören 1, 5. Stück, 50—56 [Auseinandersetzung mit Nr. 30. — Siehe auch: Berichtigung eines auffallenden Mißverständnisses in den Hören [...] nebst einer Nacherinnerung der Redaktoren. In: Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, Bd. 2, 239-245]. 1796 32. Beiträge zur deutschen Sprachkunde. Vorgelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Zweyte Sammlung. Berlin: Maurer.

Α. Zeugnisse von 1780—1880. Eine Zeittafel

353

1797 33. Senckenberg, Renatus Leopold Christian Freiherr von: Gedanken über einige Gegenstände, die deutsche Sprache betreffend. Frankfurt a. M.: Gebhardt u. Komp. 1798 34. Schlegel, August Wilhelm: Die Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche. In: Athenäum 1 , 1 . Stück, 3 — 69. 1802 35. Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. [Neue Aufl. in zwei Teilen hrsg. v. Johann Caspar Friedrich Manso] Leipzig: Dykische Buchhandlung. [Darin: Ueber den Einfluß einiger besondern Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur, 3 — 28; Ueber die Frage: warum stehen die Deutschen, nach dem Geständniß ihrer besten Schriftsteller, in Ansehung einer guten prosaischen Schreibart, gegen Griechen und Römer, vielleicht auch gegen Franzosen und Engländer, zurück? und welches ist der besten deutschen Prosaisten charakteristisches Verdienst? Ein Fragment, 61—82; Einige allgemeine Betrachtungen über Sprachverbesserungen, 317 — 357; Discours sur l'utilite des Academies, 358 — 379.] 1804 36. Herder, Johann Gottfried: Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands. In: Adrastea, 6. Bd., 12 Stück, II, 213 — 242. 37. Jean Paul (Friedrich Richter): Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Hamburg: F. Perthes. [Darin: Fragment über die deutsche Sprache: § 83 Ihr Reichthum; § 84 Campes Sprachreinigkeit; § 85: Vermischte Bemerkungen über Sprache.] 38. Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp: Bemerkungen über die deutsche Sprache, eine Vorarbeit zu einer kritischen Grammatik der hochdeutschen Sprache. Helmstedt: Fleckeisen. 1806 39. Kolbe, Karl Wilhelm: Über den Wortreichthum der deutschen und französischen Sprache, und beyder Anlage 2ur Poesie; nebst andern Bemerkungen, Sprache und Litteratur betreffend. 2 Theile mit Anhang. Berlin: Reclam 1806-1809.

354

Bibliographie 1808

40. Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin: In der Realschulbuchhandlung. [Darin: Vierte Rede. Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft.] 1810 41. Herder, Johann Gottfried: Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen. [Schulrede 1796] Erstdruck in: Sophran. Gesammelte Schulreden. Hrsg. v. Johann Georg Müller. Stuttgart, Tübingen: Cotta. 42. Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck: Niemann. [Darin: Allgemeine Ausbildung der Muttersprache, 79 — 81; Ersterlernen der Muttersprache, 144—157; Achtung der Muttersprache, 289 — 297.) 1811 43. Bouterwek, Friedrich: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts. Bd. 11, Göttingen: Röwer [Darin über die neueste Zeit, 347-533.] 1812 44. Steigentesch, August Freiherr von: Ein Wort über deutsche Litteratur und deutsche Sprache. In: Deutsches Museum 1 , 1 . Bd., 3. Heft, 197 — 220. 45. Schlegel, Friedrich: Über die deutsche Litteratur, aus einem Briefe vom Apellationsrath Körner in Dresden, nebst der Antwort des Herausgebers [d. i. Friedrich Schlegel], In: Deutsches Museum 1, 2. Bd., 9. Heft, 2 5 2 - 2 6 0 , 2 6 0 - 2 8 3 [zu Nr. 44], 1813 46. Schwarzott, Georg: Ein teutsches Wort gegen die unteutschen, widersinnigen, oder willkürlich geschaffenen sinn- und gehaltlosen Kunstausdrücke in heuttagigen Schriftverhandlungen; besonders nach philosophischer und heilkundiger Beziehung. In: Deutsches Museum 2, 2. Heft, 109 — 128. [Dazu: Zusätze des Herausgebers [d. i. Friedrich Schlegel], 128 ff.] 1814 47. Arndt, Ernst Moritz: Entwurf einer teutschen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Eichenberg. 48. Bachmann, Carl Friedrich: Über Sprach- und Begriffsverwirrung der deutschen Philosophen in Verstand und Vernunft. Jena: Schreiber.

Α. Zeugnisse von 1780—1880. Eine Zeittafel

355

49. Docen, Bernhard Joseph: Über die Selbständigkeit und Reinerhaltung unserer Literatur und Sprache. In: Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte 1, 2. Bd., 2 7 3 - 3 0 2 , 4 0 1 - 4 2 1 . 50. Radlof, Johann Gottlieb: Frankreichs Sprach- und Geistestyrannei über Europa seit dem Rastadter Frieden des Jahres 1714. München: Fleischmann. 1815 51. Gründung der Berlinischen Gesellschaft für Deutsche Sprache. [Dazu: Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für Deutsche Sprache. Bd. 1, Berlin: Maurersche Buchhandlung 1820.] 1816

52. Müller, Adam: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, gehalten zu Wien im Frühlinge 1812. Leipzig: G. J. Göschen. 1817 53. Gründung des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache. [Dazu: Abhandlungen des Frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache. 4 Bde., Frankfurt: F. Varrentrapp 1818—1824; Bd. 4: Hermannsche Buchhandlung.] 54. Jean Paul (Friedrich Richter): Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche. Stuttgart, Tübingen: Cotta. [Darin: Nachschrift über die deutsche Sprache.] 55. Ruckstuhl, Carl J. H.: Von der Ausbildung der Teutschen Sprache, in Beziehung auf neue, dafür angestellte, Bemühungen. In: Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte, 8. Bd., 3. Stück, 337-386. 56. Goethe, Johann Wolfgang von: Deutsche Sprache. In: Über Kunst und Alterthum in den Rhein- und Mayn-Gegenden 1, 3. Heft, 39 — 51. [Zu Nr. 55.] 1818

57. Arndt, Ernst Moritz: Geist der Zeit. Bd. 4. Berlin: Reimer. [Darin: Unsere Sprache und ihr Studium, 397—452.] 1819 58. Grimm, Jacob: Jean Paul's neuliche Vorschläge, die Zusammensetzung der deutschen Substantive betreffend. In: Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur 1, 2. Stück, 2 7 - 3 3 .

356

Bibliographie 1820

59. Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Die Sprache der Teutschen, philosophisch und geschichtlich für akademische Vorträge und für den Selbstunterricht dargestellt. Leipzig: Weidmanns. 1823 60. Börne, Ludwig: Aus Paris. Französische Sprache. In: Morgenblatt für gebildete Stände 17, Nr. 231, 9 2 1 - 9 2 3 ; Nr. 232, 9 2 6 - 9 2 8 ; Nr. 233, 9 3 0 - 9 3 1 . 1825 61. Jean Paul (Friedrich Richter): Kleine Bücherschau. Gesammelte Vorreden und Rezensionen, nebst einer kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule. Breslau: Max u. Komp. [Darin: Fragment über die deutsche Sprache: § 22 Sprachautorität; § 23 Ausrottung des Miston-S in Doppelwörtern.] 62. Humboldt, Wilhelm von: Über das Entstehen der grammatischen Formen, und ihren Einfluß auf die Ideenentwicklung. Gelesen in der Academie der Wissenschaften am 17. Januar 1822. In: Abhandlungen der historisch-philologischen Klasse der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus den Jahren 1822 und 1823. Berlin, 4 0 1 - 4 3 0 . 63. Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesammtgebiet der teutschen Sprache, nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und practisch dargestellt. 4 Bde. Leipzig: Hinrichs. 64. Radlof, Johann Gottlieb: Teutschkundliche Forschungen und Erheiterungen für Gebildete. 3 Bde. Berlin: [ohne Verlagsangabe] 1825—1827. [Auch Berlin: Voß 1824-1826.] 1826 65. Hauff, Wilhelm: Freie Stunden am Fenster. In: Der Eremit in Deutschland 1, 4. Heft, 2 8 7 - 3 0 6 . [Darin: 7. Die deutsche Literatur.] 1827 66. Börne, Ludwig: Bemerkungen über Sprache und Stil. In: Morgenblatt für gebildete Stände 21, Nr. 24, 9 3 - 9 5 ; Nr. 25, 9 8 - 1 0 0 . 1828 67. Jochmann, Carl Gustav: Über die Sprache. Heidelberg: Winter. 1832 68. Graf Gustav v. Schlabrendorf in Paris über Ereignisse und Personen seiner Zeit. Aus K. G. Jochmanns Papieren. In: Prometheus. Für Licht und Recht. Zeitschrift in zwanglosen Heften 1, 148 — 204. [Darin: Bemerkungen über Sprache, 166-171.].

Α. Zeugnisse von 1 7 8 0 - 1 8 8 0 . Eine Zeittafel

357

69. Weber, Karl Julius: Dymokritos, oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. 6. Bde. Stuttgart: Brodhag. 1832—1836. [Darin verstreute Reflexionen über die Sprache.] 1834 70. Wienbarg, Ludolf: Ästhetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg: Hoffmann u. Campe. [Darin besonders die Vorlesungen 18 u. 24.] 1835 71. Goertz-Wrisberg, Moritz Graf von: Wörterbuch über die Schwierigkeiten der deutschen Sprache. Oder bequemes Nachschlagebuch, um sich in schwierigen Fällen sowol hinsichtlich der Sprachlehre, als auch der Rechtschreibung und der Fremd- und sinnverwandten Wörter Raths zu erholen. Quedlinburg, Leipzig: Basse. [Darin: Vorrede.] 1836 72. Laube, Heinrich: Moderne Charakteristiken. Mannheim: Löwental. [Darin besonders das Kap. Der Stil.] 73. Pischon, Friedrich August: Ueber den Zweck einer deutschen Gesellschaft und Uebersicht der Geschichte der unsrigen. (Vorgelesen am 8ten Januar 1835, bei Uebernahme des Ordneramtes.) In: Neues Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für Deutsche Sprache und Alterthumskunde 1, 1 — 12. 74. Mündt, Theodor: Ueber die Sprachverwirrung des deutschen Gesellschaftslebens. In: Dioskuren für Wissenschaft und Kunst 1, 288 — 309. 75. Gutzkow, Karl: Ueber Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte. Berlin: Plahn. 1837 76. Mündt, Theodor: Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literaturgeschichtlich, gesellschaftlich. Berlin: Veit u. Comp. 1838 77. Heyse, Johann Christian: Theoretisch-praktische deutsche Grammatik oder Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen Sprache, nebst einer kurzen Geschichte und Verslehre derselben. Zunächst zum Gebrauch für Lehrer und zum Selbstunterricht. 5., völlig umgearbeitete und sehr vermehrte Ausgabe von Karl Wilhelm Ludwig Heyse. Hannover: Hahn'sche Hofbuchhandlung. [Darin das Kapitel: Siebenter Zeitraum. Von Klopstock bis auf unsere Zeit, bes. 85 — 93.]

358

Bibliographie 1842

78. Walesrode, Ludwig, Glossen und Randzeichnungen aus unserer Zeit. Vier öffentliche Vorlesungen, gehalten zu Königsberg. 2. Aufl. Königsberg: Voigt. 1846 79. Auerbach, Berthold: Schrift und Volk. Grundzüge der Volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebel's. Leipzig: Brockhaus. 80. F. J.: Ein frommer Wunsch in Sachen deutscher Rede. In: Jahrbücher der Gegenwart 4, 4. Heft (April), 2 9 3 - 3 0 6 . 81. Lindemann, Heinrich Simon: Die deutsche Wissenschaftssprache. In: Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie 10, 16. Bd., 86—102. 82. Rüge, Arnold: Zwei Jahre in Paris. Studien und Erinnerungen. 2. Theil. Leipzig: Jurany. [Darin: Aus Timons Buch der Redner, a) Parlamentarische Beredsamkeit in verschiedenen Ländern, 375 — 386.] 1847 83. Grimm, Jacob: Über das Pedantische in der deutschen Sprache. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1847. Berlin: Dümmler, 1 8 7 - 2 0 9 . 1848 84. Gründung des Vereins der deutschen Reinsprache durch Josef Dom. Carl Brugger und des Potsdamer Vereins für deutsche Sprache durch Friedrich Karl Keil. 85. Becker, Karl Ferdinand: Der deutsche Stil. Frankfurt a. M.: Kettembeil. 86. Grimm, Jacob: Die Sprachpedanten. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 6, 545-547. 1849 87. Stifter, Adalbert: Die Sprachverwirrung. In: Der Wiener Bote v. 27. 5. 1849. 1851 88. Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Vereinzelte, jedoch systematisch geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände. 2 Bde. Berlin: Haynsche Buchhandlung. [Darin: 23. Über Schriftstellerei und Stil; 25. Über Sprache und Worte.] 1854 89. Grimm, Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Erster Band. Leipzig: Hirzel. [Darin: Vorrede J. Grimms.]

Α. Zeugnisse von 1780-1880. Eine Zeittafel

359

90. Wackernagel, Wilhelm: Von der deutschen Pedanterei. Eine Schulrede, gehalten in Basel. In: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte 3, Januar-Juni, 2 9 5 - 3 0 3 . 1858 91. Gründung der Junggermanischen Gesellschaft in Hamburg durch Franz Jacob Kruger u. a. [Dazu: Teut. Jahrbuch der Junggermanischen Gesellschaft. Hamburg 1 (1859) ff.] 92. Groth, Claus: Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch. Kiel: Schwers'sche Buchhandlung. 1859 93. Kurz, Heinrich: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3, Leipzig: Teubner. [Darin: Einleitende Bemerkungen, 1 — 12.] 1862 94. Hebbel, Friedrich: 22. 2. 1862.

Unsere

Muttersprache.

In:

Illustrierte

Zeitung

v.

1864 95. Rückert, Heinrich: Die deutsche Schriftsprache der Gegenwart und die Dialekte. In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 27, 3. Heft, 1. Abt., 9 0 - 1 3 7 . 96. Schopenhauer, Arthur: Materialien zu einer Abhandlung über den argen Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache getrieben wird. In: Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Hrsg. v. Julius Frauenstädt. Leipzig: Brockhaus, 53—102. 1866

97. Freytag, Gustav: Zwei deutsche Naturdichter. In: Grenzboten 25, 1. Vierteljahr, 109-120. 98. Steinthal, Heymann: Von der Liebe zur Muttersprache. In: Berthold Auerbachs Deutscher Volks-Kalender für 1866. Berlin: F. Dümmler, 2 9 - 3 8 . 1868

99. Freytag, Gustav: Das neue Stadttheater. In: Die Grenzboten 27, 2. Vierteljahr, 409-421. 100. Hildebrand, Rudolf: Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von etlichem ganz Anderen, das doch damit zusammenhängt. In: Pädagogische Vorträge und Abhandlungen (Leipzig: Julius Klinkhardt) 1, 69—147.

360

Bibliographie 1872

101. Groth, Claus: Die Mundart als Kunstmittel und die deutsche Schriftsprache. In: Die Gegenwart 1, 13. Heft, 2 0 1 - 2 0 3 . 102. Scherer, Wilhelm: Die deutsche Spracheinheit. In: Preußische Jahrbücher 29, 1. Heft, 1 - 2 2 . 1873 103. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück. David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig: Fritzsch. [Darin die Kapitel 1 0 - 1 2 . ] 104. Noire, Ludwig: Sprachsünden und Sprachreinheit. In: Die Gegenwart 2, 33. Heft, 103-105. 1874 105. Du Bois-Reymond, Emil: Uber eine Akademie der deutschen Sprache. Über Geschichte der Wissenschaft. Zwei Festreden in öffentlichen Sitzungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Dümmler, 1 —34. 1875 106. Zacharias, O.: Ein paar Worte über den Sprech- und Schreibstil. In: Die Gegenwart 4, 14. Heft, 2 1 7 - 2 1 8 . 1877 107. Kürnberger, Ferdinand: Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. Wien: Rosner. [Darin: Sprache und Zeitungen (1866), 12 — 27; Die Blumen des Zeitungsstyls (1877), 1 - 1 2 . ] 108. Lehmann, August: Sprachliche Sünden der Gegenwart. Braunschweig: Wreden. 109. Buchwald, Otto: Sprachliche Sünden der Gegenwart. In: Die Gegenwart 6, 12. Heft, 1 0 4 - 1 0 5 . 1878 110. Hamerling, Robert [d. i. Rupert Hammerling]: Über irrationale Bestandtheile der deutschen Sprache. In: Deutsche Revue 2, 2. Quartal, 366 — 370. 1879 111. Heussner, Friedrich: Unsere Muttersprache und ihre Pflege. Kassel: Freyschmidt. 112. Keller, Karl Gustav: Deutscher Antibarbarus. Beiträge zur Förderung des richtigen Gebrauchs der Muttersprache. Stuttgart: Liesching. 113. Sanders, Daniel: Deutsche Sprachbriefe. Leipzig: Brockhaus.

Β. Textsammlungen/C. Darstellungen

361

1880 114. Andresen, Karl Gustav: Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit im Deutschen. Heilbronn: Henninger. 115. Volz, Robert: Sprachliche Unarten. In: Die Gegenwart 9, 1. Heft, 12—14. 116. Wolzogen, Hans Paul Freiherr von: Über Verrottung und Errettung der deutschen Sprache. Leipzig: Schloemp.

B. Textsammlungen 1. Christmann, Hans Helmut (Hrsg.): Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1977. 2. Cloeren, Hermann Josef (Hrsg.): Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert. Textauswahl I. Stuttgart: frommann-holzboog 1971. 3. Daniels, Karlheinz (Hrsg.): Über die Sprache. Erfahrungen und Erkenntnisse deutscher Dichter und Schriftsteller. Eine Anthologie. Bremen: Schünemann 1966. 4. Hofmannsthal, Hugo v. (Hrsg.): Wert und Ehre deutscher Sprache. In Zeugnissen herausgegeben von Η. v. H. München: Verlag der Bremer Presse 1927. 5. Pietsch, Paul (Hrsg.): Deutscher Sprache Ehrenkranz. Was die Dichter unserer Muttersprache zu Liebe und zu Leide singen und sagen. Berlin: Verlag des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 1898. 6. Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert. Textauswahl II. Stuttgart: frommann-holzboog 1971. 7. Steinmetz, Horst (Hrsg.): Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1985.

C. Darstellungen 1. Arntzen, Helmut: Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine Einführung. Münster: Aschendorff 1984. [Kap. X: Literatur und Sprache.] 2. Bahner, Werner/Werner Neumann (Hrsg.): Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Berlin: Akademie-Verlag 1985. 3. Baum, Richard: Hochsprache, Literatursprache, Schriftsprache. Materialien zur Charakteristik von Kultursprachen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987. 4. Beutin, Wolfgang: Sprachkritik — Stilkritik. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 1976. 5. Cherubim, Dieter: Zur bürgerlichen Sprache des 19. Jahrhunderts. Historischpragmatische Skizze. In: Wirkendes Wort 33 (1983), 3 9 8 - 4 2 2 .

362

Bibliographie

6. Cherubim, Dieter: Sprachentwicklung und Sprachkritik im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Konstitution einer pragmatischen Sprachgeschichte. In: Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages in Aachen 1982. Hrsg. v. Th. Cramer. Tübingen 1983, Bd. 2: Sprache, 170-188. 7. Fahrenkrog, Clay G.: Neuere Versuche der Sprachpflege in den deutschsprachigen Ländern. Mit historischem Rückblick. Ph. D. University of Colorado at Boulder 1981. 8. Gessinger, Joachim: Sprache und Bürgertum. Zur Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1980. 9. Fiesel, Eva: Zur Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Tübingen: Mohr 1927. 10. Gipper, Helmut/Peter Schmitter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik. Tübingen: Narr 1985. 11. Gloy, Klaus: Sprachnormierung und Sprachkritik in der Geschichte des Deutschen. In: Besch, Werner/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin/New York: de Gruyter 1984, 1. Halbband, 2 8 1 - 2 8 9 . 12. Greule, Albrecht/Elisabeth Ahlvers-Liebel: Germanistische Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986. 13. Kirkness, Alan: Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789 — 1871. Eine historische Dokumentation. 2 Teile, Tübingen: Narr 1975. 14. Kirkness, Alan: Das Phänomen des Purismus in der Geschichte des Deutschen. In: Besch, Werner/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin/New York: de Gruyter 1984, 1. Halbband, 2 9 0 - 2 9 9 . 15. Kurka, E.: Die deutsche Aussprachenorm im 19. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Probleme ihrer Kodifizierung vor 1898. In: Studien zur deutschen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts: Existenzformen der Sprache. Hrsg. v. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin 1980, 1 - 6 7 (Ling. Studien. Reihe A: Arbeitsberichte 66/ II)· 16. Linn, Marie-Luise: Studien zur deutschen Rhetorik und Stilistik im 19. Jahrhundert. Marburg: Elwert 1963. 17. Mattausch, Josef: Klassische deutsche Literatur und Entwicklung des deutschen Sprachstandards. Zu einem Kapitel Wirkungsgeschichte. In: Studien zur deutschen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts: Existenzformen der Sprache. Hrsg. v. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin 1980, 1 2 1 - 1 7 6 (Ling. Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 66/1).

C. Darstellungen

363

18. Müller, Jörg Jochen (Hrsg.): Germanistik und deutsche Nation 1806—1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Stuttgart: Metzler 1974. 19. Naumann, Bernd: Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Die Kategorien der deutschen Grammatik in der Tradition von Johann Werner Meiner und Johann Christoph Adelung. Berlin: E. Schmidt 1986. 20. Polenz, Peter von: Sprachkritik und Sprachnormenkritik. In: Nickel, Gerhard (Hrsg.): Angewandte Sprachwissenschaft und Deutschunterricht. München: Hueber 1973, 118-167. 21. Polenz, Peter von: Die Sprachkrise der Jahrhundertwende und das bürgerliche Bildungsdeutsch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 14 (1983), H. 52, 3 - 1 3 . 22. Reichmann, Oskar: Deutsche Nationalsprache. Eine kritische Darstellung. In: Germanistische Linguistik 1978, H. 2 - 5 , 3 8 9 - 4 2 3 . 23. Roth, Klaus-Hinrich: Positionen der Sprachpflege in historischer Sicht. In: Besch, Werner/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin: de Gruyter 1984, 1. Halbband, 2 6 4 - 2 8 1 . 24. Schieb, Gabriele: Zu Stand und Wirkungsbereich der kodifizierten grammatischen Norm des 19. Jahrhunderts. In: Studien zur deutschen Sprachgeschichte: Existenzformen der Sprache. Hrsg. v. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin 1980, 1 7 7 - 2 5 1 (Ling. Studien. Reihe A: Arbeitsberichte 66/1). 25. Schlaefer, M.: Grundzüge der deutschen Orthographiegeschichte vom Jahre 1800 bis zum Jahre 1870. In: Sprachwissenschaft 5 (1980), 2 7 6 - 3 1 9 . 26. See, Klaus von: Politisch-soziale Interessen in der Sprachgeschichtsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Besch, Werner/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin/New York: de Gruyter 1984, 1. Halbband, 2 4 2 - 2 5 7 . 27. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 — 1848. 3 Bde. Stuttgart: Metzler 1971, 1972, 1980. [Darin u. a.: Die Literatursprache, Bd. 1, 3 6 8 - 6 4 7 . ] 28. Sonderegger, Stefan: Sprachgeschichtsforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Besch, Werner/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin/New York: de Gruyter 1984, 1. Halbband, 300-331. 29. Wehler, Hans Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700—1815. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" 1815-1845/49. München: C. H. Beck 1987.

Thematischer Wegweiser Α. Charakter und Geschichte der deutschen Sprache 1. Die deutsche Sprache als Ursprache: 39f., 4 5 - 5 4 , 172-174, 220f., 242 2. Die deutsche Sprache als Ausdruck und Bedingung der Nationalität: 35 f., 45 f., 53 f., 57, 93 f., 172-174, 185, 191, 204, 214, 220, 229, 274

4. Die Geschichte der deutschen Sprache Mittelalter: 6, 65, 147, 206, 218, 222, 2 4 9 - 2 5 1 , 272f., 282 - 284, 295f. Frühe Neuzeit: 13f., 33 f., 65 f., 1 4 7 149, 206, 222, 2 4 9 - 2 5 1 , 263, 266, 279 f., 297 f., 300, 346

3. Reichtum und Armut deutscher Sprache: 2 5 - 3 0 , 3 3 - 4 0 , 118-147, 172, 293f.

18. Jahrhundert: 7, 21, 35, 6 6 - 6 9 , 84, 113, 117 f., 251, 2 7 4 - 2 8 2 , 319, 327, 345, 347 Verfall oder Höherentwicklung? 4, 7, 69f., 74, 88, 94, 113, 125, 185-191, 218 f., 241 f., 249 f., 329, 332 f.

B. Deutschland im Vergleich mit anderen Sprachen und Kulturen 1. Möglichkeit und Sinn des Vergleichs: 26, 4 4 - 5 4 , 64, 83f., 8 7 - 8 9 , 186 2. Griechische und römische Antike: 53, 98, 141, 178, 218 f., 222, 240, 243, 250, 336 3. Frankreich: 72, 8 3 - 9 4 , 9 7 - 9 9 , 101 f., 135 f., 141, 152, 159,172-174,186,194f., 206, 209,

220, 242, 244, 253, 275, 292 f., 342 f., 346, 348 4. England: 89, 94, 9 9 - 1 0 1 , 1 4 7 , 150, 157,159,165, 194 f., 206, 209, 220 f., 242, 275, 292, 342 f., 346, 348 5. Andere Sprachen und Kulturen: 44, 93, 9 9 - 1 0 1 , 157, 195, 206 f.

C. Zustand und Veränderung der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert 1. Räumliche Gliederung Landschaftliche Differenzierung und Vereinheitlichung: 66, 159, 199, 2 0 5 214, 2 7 3 - 2 8 3 , 291 f., 341

Beziehungen zwischen Hochsprache und Dialekten: 4 - 2 2 , 2 0 5 - 2 1 1 , 278f., 291, 3 0 0 - 3 0 3 , 319 Der geographische Ort der Hochsprache: 4 - 2 2 , 28, 157, 279 f., 318

Thematischer Wegweiser 2. Soziale Schichtung Ständische Differenzierung und Vereinheitlichung: 66, 119, 156-159, 274, 284-292 Sprache der höheren Stände: 4, 7 — 9, 37, 66, 83, 9 8 - 1 0 1 , 1 1 7 , 156 f., 188, 190, 212 Die Sprache der Gebildeten, ihre Volksferne und die Erweiterung ihrer sozialen Basis: 66, 113, 117, 119f., 136f., 1 5 3 159, 194-201, 2 0 4 - 2 1 4 , 2 2 1 - 2 2 3 Sprache der niederen Stände: 6—9, 101, 117-119, 137, 156 f., 159, 178f., 188, 196 f., 205, 207, 211, 222, 319 3. Funktionale Differenzierung Literatur und Theater: 18, 37, 7 0 - 7 4 , 8 2 - 9 3 , 9 9 - 1 0 5 , 112, 150f., 172-174, 179,181,188 f., 223, 278, 2 8 2 - 2 8 4 , 292, 297, 319, 344 f. Philosophie und Wissenschaft: 35, 59, 6 4 - 7 0 , 73f., 7 9 - 8 2 , 86 f., 9 1 - 9 3 , 9 8 102, 117-119, 135 f., 153-156, 174, 178, 182, 188-190, 195f., 198, 222f., 2 2 9 - 2 4 5 , 265, 342, 344 Kirche und Religion: 158, 178, 188, 195 f. Staatliche Institutionen: 36, 58, 98, 156-158,165, 188 f., 196,199, 208, 213, 238, 281 f. Politische Öffentlichkeit: 98, 159-161, 188, 195, 208 f., 286 f. Presse und Publizistik: 68, 86 f., 127, 142-144, 158, 190, 196, 200, 2 2 9 - 2 4 5 , 262, 286, 307-316, 324, 333f. Gesellschaftlicher Verkehr: 36, 98, 159, 162 f., 190 Privater Alltag: 98, 158, 205, 207, 210 f. 4. Geschriebene und gesprochene Sprache Die deutsche Sprache als Büchersprache: 9 8 - 1 0 0 , 117 f., 149, 165 f., 178, 195, 205 f., 2 9 2 - 2 9 6 , 318 f., 325 Das Fehlen einer gesprochenen Hoch-

365

sprache und ihre allmähliche Entwicklung: 97, 106, 156, 159, 161-164, 178, 188, 195, 207-214, 287f. Die Beziehungen zwischen geschriebener und gesprochener Sprache: 6, 163-165, 196 f., 234, 2 9 2 - 2 9 4 , 299, 318 - 321, 324 - 329 5. Ebenen/Einheiten der Sprache Lautung/Aussprache: 9 f., 16, 19, 64, 91, 125, 160, 2 0 8 - 2 1 4 , 218f., 237, 258, 261 f., 265, 324, 326, 340 f. Schreibung/Rechtschreibung/Druck: 8, 10, 26, 242, 254, 261, 265, 2 7 4 - 2 7 7 , 283, 3 2 0 - 3 2 6 , 340 f. Grammatische Formen: 12 f., 16—21, 27, 123-126, 181 f., 196f., 2 1 8 - 2 2 0 , 236f., 249f., 258, 309, 319, 322-324, 343 Wortbildung: 4 6 - 5 2 , 122-127, 131 f., 2 3 7 - 2 4 1 , 262, 294, 308, 321 f., 325f., 341 Satzbau: 6 8 - 7 1 , 86, 91, 152f., 174, 177-182, 195 f., 236, 242, 244, 296, 327 f., 334f. Wortschatz und Wortgebrauch: 12, 19— 21, 2 7 - 2 9 , 35, 4 6 - 5 2 , 5 9 - 6 1 , 80, 87, 90 f., 143, 153-155, 160, 196-199, 2 2 0 - 2 2 4 , 232f., 2 3 7 - 2 4 1 , 249, 261, 294, 3 0 8 - 3 1 3 , 325f., 334 Stil: 65, 6 8 - 7 0 , 80f., 90f., 9 9 - 1 0 4 , 140-142, 152-156, 173f., 177-182, 198, 2 1 8 - 2 2 5 , 2 2 9 - 2 4 5 , 295, 314, 326 f., 332-337, 3 4 1 - 3 4 5 Das Fehlen einer nationalen Norm und die Individualität des Sprachgebrauchs: 27, 66, 86, 90, 98, 101-103, 135, 141, 150, 153, 159 f., 164, 178, 197, 210, 243, 332 f., 336, 340 f., 344 f. 6. Fremdsprachlicher Einfluß Fremde Sprachen in Deutschland: 34— 37, 58, 66, 9 8 - 1 0 1 , 112,151 f., 186,190, 222 f., 229, 285

366

Thematischer Wegweiser

Fremdsprachlicher Einfluß auf das Deutsche, insbesondere Fremdwörter: 20f., 26, 3 4 - 4 0 , 4 9 - 5 2 , 5 7 - 6 1 , 86,

113, 117, 151 f., 178-182, 186, 198— 200, 2 2 0 - 2 2 2 , 258, 2 6 1 - 2 6 3 , 265, 2 9 4 - 2 9 6 , 307 f., 327 f., 341

D. Sprachexterne Bedingungsfaktoren für den Zustand und die Veränderungen der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert 1. Staatliche und kulturelle Vielfalt und der Mangel eines kulturellen Zentrums/ Zentralisierung: 212, 272 f., 275, 292 f., 341, 345 2. Ständische Schichtung und die Volksferne der Gebildeten/Abbau der ständischen Grenzen: 65, 118-120, 136, 155-158, 2 8 8 - 2 9 1 3. Das Fehlen einer politischen Öffentlichkeit und die Auswirkungen der Zensur/ Politische Liberalisierung: 36, 9 8 - 1 0 1 , 1 1 9 , 136, 140,143f., 156— 158, 163, 174, 191, 194 f., 200 f., 287 f. 4. Ökonomische Entwicklungen Entstehung von Großstädten:

288,

290-292 Entwicklung des Verkehrswesens: 213, 289 Entwicklung des Zeitungswesens: 284 - 286, 290, 308, 314 f. 5. Entwicklung des Schulwesens und des Sprachunterrichts: 86, 178-181, 2 6 0 262, 2 8 4 - 2 8 6 , 290, 327 f., 334, 342 f. 6. Sozialpsychologische Faktoren Nachahmung des Ausländischen: 25 f., 3 3 - 3 5 , 151, 188, 199 Mangel an Geschmack: 64,72, 75,224 f., 333 Das Prestige der Bildung: 288 f., 299 f.

E. Möglichkeiten und Wege der Sprachverbesserung 1. Notwendigkeit, Möglichkeit und Wünschbarkeit von Eingriffen in die sprachliche Entwicklung: Sprachpflege oder Sprachpedanterie? 4, 3 5 - 3 7 , 64, 82, 88f., 1 1 1 - 1 1 3 , 1 2 5 127, 130 f., 166 f., 181, 187, 188, 191, 2 5 7 - 2 6 9 , 315f., 320, 3 4 0 - 3 4 9 2. Instanzen Sprachforscher: 9, 14 f., 28, 38, 58, 64, 88, 130 f., 168, 186, 2 5 0 - 2 5 4 , 263, 276, 303-305 Sprachgesellschaften/Akademien: 74, 167f., 253, 315, 340, 3 4 6 - 3 4 9 Dichter und Schriftsteller: 2 8 - 3 0 , 37, 59, 130, 239, 251 f., 329

Staatliche Institutionen: 35 f., 74, 88, 238 f., 348 Verlagslektoren und -korrektoren: 3 2 0 - 3 2 3 , 341 Schule und Sprachunterricht: 86, 100, 142, 187, 213, 2 5 7 - 2 6 9 , 2 7 7 - 2 8 6 , 290, 342 f. 3. Indirekte Einflußnahmen auf die sprachliche Entwicklung Erziehung zum Nationalbewußtsein und Förderung der nationalen Einheit: 37, 43, 54, 191, 213, 249, 252 Politische und gesellschaftliche Liberalisierung: 36, 119, 168 f., 201

Thematischer Wegweiser 4. Ziele und Inhalte der auf die Hochsprache gerichteten Sprachverbesserung Rückgriff auf die Geschichte der deutschen Sprache: 27 f., 59, 89, 1 6 6 - 1 6 8 , 2 5 0 - 2 5 4 , 262, 266, 276 Rückgriff auf die Dialekte und die Volkssprache: 27, 59, 120, 1 9 6 - 1 9 8 , 210-213, 297-305 Rückgriff auf die gesprochene Sprache

367

zur Verbesserung der Schriftsprache und Ausbildung einer gesprochenen Hochsprache: 100, 1 9 6 - 1 9 8 , 207, 276, 329 Orientierung an antik-klassischen Vorbildern: 1 4 2 - 1 4 4 , 178-182, 243, 333, 342 f. Fremdwortreinigung: 35—40, 52, 58 — 61,113,166 f., 198 f., 265, 295, 307, 315, 341

Personenregister Adelung, Johann Christoph 4—22, 27—29, 64, 131, 168, 251, 253, 280, 318, 340 Addison, Joseph 150 Agricola, Rudolf 264 Anton, Karl Gottlob 26 Arndt, Ernst Moritz 187 f. Ariosto, Ludovico 99, 263 Auerbach, Berthold 333 f. Augustus, römischer Kaiser 144 Baco, Jean Baptiste 154 f., 229 Balde, Jakob 112 Bärenhorst, Georg Heinrich 67 Barthold, Friedrich Wilhelm 346 Bartsch, Karl 346 Basedow, Johannes Bernhard 266 Beccaria, Cesare 167 f. Becker, Karl Ferdinand 260, 285 Benecke, Georg Friedrich 283 Bentley, Richard 266 f. Boccaccio, Giovanni 180 Bodmer, Johann Jakob 250 f. Boileau-Despreaux, Nicolas 232, 340 Bonald, Louis Gabriel Ambroise de 92 f. Bonstetten, Karl Viktor von 151 Bossuet, Jacques Benigue 104 Börne, Ludwig 179 Bötticher, Wilhelm 182 Bruhns, Karl Christian 342 Brutus, Marcus Junius 144 Buffon, Georges Louis Leclerc de 99, 140 f., 164, 173 f. Burmann, Peter 266 Burnet, Gilbert 150 Büsching, Anton Friedrich 59 Campe, Joachim Friedrich 38, 58 f., 131, 168, 253 Cäsar, Gajus Julius 141, 144, 181

Casaubonus, Isaac 263 Chateaubriand, F r a n c i s Rene Vicomte de 92, 173 Cicero, Marcus Tullius 36, 141, 178-182, 245, 328 Clarendon, Edward Hyde Comte de 150 Clauren, Heinrich (Heun, Karl) 137 Condillac, Etienne Bonnot de 92 Corneille, Pierre 72, 99, 173 Cramer, Karl Gottlieb 137 D'Alembert, Jean le Rond 71, 73, 99 Darwin, Charles 335 Dasypodius, Petrus 250, 253 Demosthenes 167, 245 Descartes, Rene 73, 229 Devrient, Eduard 334 Diderot, Denis 99, 173 Docen, Bernhard Joseph 132 Dove, Alfred 342 Dow (auch Douw), Cherard 266 Engel, Johann Jakob 61 Erasmus von Rotterdam 264 Erigena, Johannes Scotus 229 Erskins, Thomas 104 Fichte, Immanuel Hermann 182 Fichte, Johann Gottlieb 136, 173 f., 182, 221, 230 f., 234 f. Filangieri, Gaetano 168 Firmenich-Richartz, Johann Matthias 304 Fox, Charles James 165 Friedrich I (Barbarossa), deutscher Kaiser 123 Friedrich II, deutscher Kaiser 71 Friedrich II (der Große), König von Preußen 66, 151, 158, 276, 307, 310, 347

Personenregister Friedrich Wilhelm (der Große Kurfürst), Kurfürst von Brandenburg 347 Frisch, Johann Leonhard 250 f. Fromann, Georg Karl 304 Garrick, David 233 Garve, Christian 36 Geliert, Christian Fürchtegott 28, 251, 275, 278 f., 327 Geoffroy, Julien Louis (Abbe Geoffroy) 68 Gervinus, Georg Gottfried 346 Gillray, James (Gilray) 60 Goethe, Johann Wolfgang von 27, 30, 39, 6 0 , 9 1 , 9 8 , 1 0 3 - 1 0 5 , 1 3 0 , 137,172-174, 189 f., 210,235,251,268,275 f., 278,288, 308, 312 f., 315 f., 319 f., 327, 3 4 4 - 3 4 6 Goldast, Melchior 250 Gottfried von Straßburg 297 Gotthelf, Jeremias 3 0 1 - 3 0 3 Gottsched, Johann Christoph 18, 279 f. Gretry, Andre 113 Grimm Jacob 131, 187, 268, 283, 320 f., 340, 345 - 347 Groth, Klaus 301, 303 Gryphius, Andreas 300 Guicciardini, Francesco 264 Guizot, Guillaume 267 Gustav II. Adolf, König von Schweden 58 Gustav III., König von Schweden 57 Gutzkow, Karl 333 Hagedorn, Friedrich von 251 Hahn-Hahn, Ida Gräfin von 307 Haller, Albrecht von 59 Hamilkar (Barkas) 57 Hartmann von Aue 282, 297 Hebbel, Friedrich 313 Hebel, Johann Peter 3 0 1 - 3 0 3 , 349 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 136, 210, 230 f., 234 f. 241, 260 Heine, Heinrich 345 Heinrich II., König von Frankreich 148 f. Heinrich von Veldeke 282 Heinsius, Otto Friedrich Theodor 160 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 341

369

Helvetius, Claude-Adrien 92 Hemsterhuys, Franz 92 Henisch, Georg 250 Herder, Johann Gottfried von 30, 82, 155, 268, 327, 345 Herodot 66 Heynatz, Johann Friedrich 27 f. Heyse, Johann Christian August 340 Hickes, George 251 Hippel, Theodor Gottlieb von 82, 180 Hobbes, Thomas 229 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 172 Homer 167 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 40, 59, 143 f., 231 Hugo, Victor-Marie 173 Humboldt, Alexander von 342 Humboldt, Wilhelm von 182 Hume, David 71 Hutten, Ulrich von 66, 140 Jablonsky, Daniel Ernst 346 Jahn, Friedrich Ludwig 191 Jean Paul (Friedrich Richter) 122 f., 1 2 5 - 1 2 7 , 137, 174, 223 - 225, 262, 308 Jeanne d'Arc 312 Johnson, Samuel 150, 168 Joseph II., deutscher Kaiser 57, 158 Julius, Herzog von Braunschweig 300 Kant, Immanuel 35, 68, 82, 136, 334, 336 Karl I. (der Große), römischer Kaiser 15, 101 Karl IV., römisch-deutscher Kaiser 57 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 148, 307 Klopstock, Friedrich Gottlieb 28 f., 58, 84, 98, 130, 150, 251, 274 f., 278 f., 345 Knigge, Adolf Freiherr von 82 Knittel, Franz Anton 251 Kobell, Franz Ritter von 301 Koppen, Friedrich 132 Krünitz, Johann Georg 74 Lachmann, Karl 283 Lafontaine, August Heinrich Julius 137 Lamartine, Alphonse de 315

370

Personenregister

Lassalle, Ferdinand 321 Lauremberg, Johann Wilhelm 300 Lavater, Johann Kaspar 29 Leibniz, Gottfried Wilhelm 28, 34 f., 151, 222, 251, 347 Leo, Heinrich 265 Lepsius, Karl Richard 239 Lessing, Gotthold Ephraim 21, 27—30, 69, 71, 82, 98, 105, 130, 155, 166, 251, 268, 275, 281, 296, 313, 315 f., 327, 335, 344 f. Lichtenberg, Georg Christoph 82, 233 Livius, Titus 66 Locke, John 73 Luther, Martin 6, 10, 15, 47, 148 f., 261, 2 7 9 - 2 8 1 , 318 Maaler, Josua (Pictorius) 250, 253 Machiavelli, Niccolo 60, 141, 263 f. Malebranche, Nicolas de 92 Manso, Johann Kaspar Friedrich 180 Manutius (italienische Buchdruckerfamilie) 263 Marchand, Theobald 113 Mendelsohn-Bartholdy, Felix 334 Michaelis, Johann David 340 Milton, John 166 Mirabeau, Honore Gabriel Victor de 36 Mithridates VI., König von Pontos 57 Moliere, Jean Baptiste 72, 173 Montesquieu, Charles de 99 Moser, Friedrich Karl Freiherr von 58 Moser, Justus 148, 155 Moses 151, 312 Mozart, Wolfgang Amadeus 316 Müller, Johannes von 70 f., 81, 91 f., 150, 268 Müllner, Amadeus Gottfried 131 Muretus, Marcus Antonius (Marc Antoine Muret) 263 Musäus, Johann Karl August 82 Muzio, Girolamo Nuzio 168 Napoleon I (Bonaparte), Kaiser der Franzosen 130, 143 Neumeister, Erdmann 60

Nicolai, Christoph Friedrich 28 Niccolini, Giovanni Battista (Nicolini) 167 Nitzsch (Vorname nicht ermittelt) 60 Ochsenstierna, Axel Graf von 58 Oelsner, Engelbert 151 Oken, Lorenz 295 Opitz, Martin 251 Passow, Franz 112 Pauli, Christian Moritz 36 Petrarca, Francesco 229 Phidias 166 Pictorius (s. Maaler, Josua) Pitt, William (der ältere), Earl of Chatham 165 Platen, August Graf von 265, 326, 345 Plato 243 Printzen, Marquard Ludwig Freiherr von 346 Quintilian, Marcus Fabius 99 Racine, Jean Baptiste 72, 99, 173 Raffael 263 Ramler, Karl Wilhelm 28 Ranke, Leopold von 268 Reuter, Fritz 301, 349 Richelieu, Armand Jean du Plessis Herzog von 58 Riemer, Friedrich Wilhelm 320 Robertson, William 71 Rotteck, Karl von 196 Rousseau, Jean Jacques 28, 71, 135, 141, 173, 310 Rückert, Friedrich 345 Ruckstuhl, Carl 111 f. Rüdiger, Johann Christian Christoph 6, 11, 13, 18 f. Rudolf von Habsburg, deutscher König 273 Rüssel, William Lord, Herzog von Bedford 165 S., W. 186 Saint-Martin, Louis Claude de 92 f. Sand, George 211

Personenregister Sanders, Daniel 333, 340 Scaliger, Julius Caesar 263 Scheller, Karl Friedrich Arend 301 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 136, 230 f., 234 f. Scherz, Johann Georg 250 Schiller, Friedrich von 39, 60, 98 f., 101-103, 105, 130, 137, 174, 235, 251, 268, 275, 278, 315, 345 Schilter, Johann 250 f. Schlegel, August Wilhelm von 27, 345 Schlegel, Friedrich von 345 Schleiermacher, Friedrich 174, 335 Schopenhauer, Arthur 332, 334, 336 f. Schultze, Otto 346 Scott, Sir Walter 151 Secundus, Johannes 112 Shakespeare, William 60, 72, 310 Sidney, Algernon 165 Sigonio, Carlo (Sigonius) 263 Spieß, Christian Heinrich 137 Spinoza, Baruch 229 Spittler, Ludwig Timotheus Freiherr von 92 Stael-Holstein, Germaine Baronne de (Madame de Stael) 150 Steigentesch, August Ernst Freiherr von 79, 8 4 - 8 7 , 8 9 - 9 1 Stephanus (auch: Estienne, franz. Druckeru. Verlegerfamilie) 263 Sterne, Laurence 59 Strauß, David Friedrich 3 3 3 - 3 3 7 Sulla, Lucius Cornelius 144 Swift, Jonathan 150

371

Tacitus, Cornelius 141, 143, 179-182, 336 Talleyrand, Charles Maurice Herzog von 58, 179 Tasso, Torquato 99 Tauler, Johannes 222 Temple, Sir William 150 Thomas (Vorname nicht ermittelt) 104 Tieck, Johann Ludwig 137, 345 Tschudi, Aegidius von 311 Varnhagen von Ense, Karl August 307, 342 Voltaire 72, 90,135, 141, 173, 235, 308, 344 Voß, Johann Heinrich 27 f., 58, 130, 180, 251, 301, 345 Wackernagel, Wilhelm 222 Wagner, Richard 316 Walther von der Vogelweide 283 Weiße, Christian Felix 10, 12, 251 Wiarda, Tileman Dothias 60 Wieland, Christoph Martin 28 f., 69, 275, 278, 345 Wilhelm I., deutscher Kaiser 323 Winckelmann, Johann Joachim 82, 315 Wolf, Friedrich August 268 Wolff, Christian Freiherr von 35, 231 Wolfram von Eschenbach 282, 297 Wolke, Christian Hinrich 131 Wurst, Raimund Jakob 285 Zesen, Philipp von 265

Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung Beiträge zu der Marburger Tagung vom Juni 1985 Herausgegeben von Reiner Hildebrandt und Ulrich Knoop Groß-Oktav. X, 299 Seiten. 1986. Ganzleinen DM 1 3 8 , ISBN 3 11 010673 6 (Historische Wortforschung. Untersuchungen zur Sprach- und Kulturgeschichte des Deutschen in seinen europäischen Bezügen, Band 1)

Deutscher Wortschatz Lexikologische Studien Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern Herausgegeben von Horst Haider Munske, Peter von Polenz, Oskar Reichmann, Reiner Hildebrandt Groß-Oktav. XXXII, 927 Seiten, diverse Abbildungen und Karten. 1988. Ganzleinen DM 3 8 0 , - ISBN 3 11 010892 5

Sprache und Recht Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag Herausgegeben von K. Hauck, K. Kroeschell, St. Sonderegger, D. Hüpper, G. v. Olberg 2 Bände. Groß-Oktav. 1986. Ganzleinen DM 3 2 5 , - ISBN 3 11 010893 3 Band 1: XII, 514 Seiten. - Band 2: VIII, Seiten 5 1 5 - 1 0 2 0 .

Preisänderungen vorbehalten

Walter de Gruyter

W G DE

Berlin · New York

ELISABETH FELDBUSCH

Geschriebene Sprache Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie Groß-Oktav. XVI, 436 Seiten, 42 Abbildungen und 5 Tabellen. 1985. Ganzleinen DM 2 1 8 , - ISBN 3 11 010219 6

Sprachwandel Reader zur diakronischen Sprachwissenschaft Herausgegeben von Dieter Cherubim Groß-Oktav. X, 368 Seiten. 1975. Kartoniert DM 3 6 , ISBN 3 11 004330 0 (Grundlagen der Kommunikation) de Gruyter Studienbuch

PETER VON POLENZ

Geschichte der deutschen Sprache Neubearbeitung der früheren Darstellung von Hans Sperber 9., überarbeitete Auflage Oktav. 226 Seiten. 1978. Kartoniert DM 16,80 ISBN 3 11 007525 3 (Sammlung Göschen, Band 2206)

Preisänderungen vorbehalten

Walter de Gruyter

w DE

G

Berlin · New York