Regierung als Rechtsbegriff: Verfassungsrechtliche und staatstheoretische Grundlagen unter Berücksichtigung der englischen und französischen Verfassungsentwicklung [1 ed.] 9783428435111, 9783428035113

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Regierung als Rechtsbegriff: Verfassungsrechtliche und staatstheoretische Grundlagen unter Berücksichtigung der englischen und französischen Verfassungsentwicklung [1 ed.]
 9783428435111, 9783428035113

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 285

Regierung als Rechtsbegriff Verfassungsrechtliche und staatstheoretische Grundlagen unter Berücksichtigung der englischen und französischen Verfassungsentwicklung

Von

Werner Frotscher

Duncker & Humblot · Berlin

WERNER FROTSCHER / REGIERUNG ALS RECHTSBEGRIFF

Schriften

zum

Öffentlichen Band 285

Recht

Regierung als Rechtsbegriff Verfassungsrechtliche und staatstheoretische Grundlagen unter Berücksichtigung der englischen und französischen Verfassungsentwicklung

Von Dr. W e r n e r F r o t s d i e r Privatdozent an der Universität Kiel

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Reditswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Alle Rechte vorbehalten £> 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Budidruckerei Vollbehr u. Strobel, Kiel Printed in Germany ISBN 3 428 03511 9

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Februar 1974 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel als Habilitationsschrift angenommen. Sie wurde inzwischen geringfügig überarbeitet, um auch neueres Schrifttum noch zu berücksichtigen. Meinem verehrten Lehrer Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh, der die Arbeit i n vielfältiger Weise angeregt und gefördert hat, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Desgleichen danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Beihilfe zu den Druckkosten. Kiel, im Mai 1975

Werner

Frotscher

Inhaltsverzeichnis Eintührung

13

Erster

Teil

Die Begriffe „government" und „gouvernement" im englisdien bzw. französischen Staats- und Verfassungsrecht 1. Kapitel : Herkunft und Bedeutung des Begriffes „government" im englischen Recht I. Etymologische Beziehungen

17 17

II. Ausprägung des Government-Begriffes im 17. Jahrhundert . . .

18

III. Konsolidierung und Ausdehnung auf die nordamerikanisdien Kolonien im Laufe des 18. Jahrhunderts

28

IV. Bedeutungsentwicklung im 19. Jahrhundert

36

V. Government-Begriff und angelsächsische Staatsauffassung heute

39

2. Kapitel: Der Begriff „gouvernement" im französischen Verfassungsrecht

44

I. Ancien Régime II. Die Zeit der Revolution (1789 — 1799)

44 53

III. Konsulat und 1. Kaiserreich (1799 — 1814)

57

IV. Restauration, Parlamentarismus und Demokratie (1814 —1851)

60

V. 2. Kaiserreich (1852 — 1870)

64

V I . 3. Republik (1871 — 1945)

66

V I I . 4. Republik (1946—1958)

73

V I I I . 5. Republik (1958 —heute)

77

IX. Zusammenfassung

80

8

Inhaltsverzeichnis Zweiter

Teil

Die Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Staats- und Verfassungsredit 1. Kapitel: Seine Entstehung und seine Verwendung im Reichsstaatsrecht zu Beginn der Neuzeit I. Regierung als ursprünglich funktioneller Begriff

83 83

II. Regierung als organisatorischer Begriff

84

2. Kapitel: Verfall des Reiches und Aufstieg der Territorien im 17./18. Jahrhundert — Der Regierungsbegriff im Zeitalter des Absolutismus I. Die Begriffsbildung im Reichs- und Landesrecht

87 87

II. Die Begriffsbestimmung in der Wissenschaft

91

3. Kapitel: Der Regierungsbegriff in der Epoche der konstitutionellen Monarchie .

105

I. Die verschiedenen Formen des Konstitutionalismus und ihre Auswirkungen auf den Regierungsbegriff

105

II. Monarchisches Prinzip und Regierungsbegriff im deutschen Frühkonstitutionalismus

106

III. Die Auffassungen in der staatsrechtlichen Literatur zur Zeit des Deutschen Bundes

110

1. Die Anhänger des umfassenden, „ vorkonstitutionellen" Regierungsbegriffes

110

2. Die Vertreter eines eingeschränkten Regierungsbegriffes

117

IV. Die „monarchistische Befangenheit" in Verfassungslehre -Wirklichkeit

. . und

130

V. Die Revolution von 1848/49

139

VI. Die Herausbildung eines neuen, eingeschränkten Regierungsbegriffes gegen Ende des 19. Jahrhunderts VII. Die Entwicklung des organisatorischen Regierungsbegriffes der Epoche der konstitutionellen Monarchie

142

in

4. Kapitel: Der Regierungsbegriff in der Republik

154 .

158

I. Die „Regierung" im Verfassungsrecht der Weimarer Republik

158

II. Regierung und Führung im nationalsozialistischen Staat . . . .

168

Inhaltsverzeichnis Dritter

9

Teil

Der Regierungsbegriff im demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Gegenwart 1. Kapitel: Der verfassungsgemäße Regierungsbegriff

173

I. In Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes . . . II. Im Spiegel der Rechtsprechung

173 177

III. Im Meinungsstand der deutschen Staatsrechtslehre

180

2. Kapitel: Die Ablehnung einer eigenständigen Regierungsgewalt . . .

193

I. Zusammenhang zwischen Regierungsbegriff und Staatsverständnis

194

II. Staat und Staatsgewalt im demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Gegenwart

205

III. Die Teilung der Gewalten und der Bereich der Regierung . . .

215

1. Die Dreiteilung als von der Verfassung vorgegebenes Organisationsprinzip

215

2. Rechtliche Bindung und gerichtliche Kontrolle im sog. Regierungsbereich

223

3. Der Begriff des Politischen

228

. . .

Zusammenfassung

233

Literaturverzeichnis

236

Personenregister

253

A bkürzungs verzeidinis a. A. Abt. abw. a. E. AÖR

anderer Ansicht Abteilung abweichend am Ende Archiv des öffentlichen Rechts

Bern. BGBl. BT. BVerfG E BVerwG E

Bemerkung Bundesgesetzblatt Bundestag Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Amtliche Sammlung)

DA d. h. d. i. Diss. DÖV dt., Dt. DVB1.

Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters das heißt das ist Dissertation Die öffentliche Verwaltung deutsch (e, er) Deutsches Verwaltungsblatt

Einf. Einl. erg. Erl.

Einführung Einleitung ergänze Erläuterung (-en)

frg.

Fragmente

GG GS.

Grundgesetz Gesetzessammlung

H. HDStR HdSW Hg. r hg. h. L.

Heft Handbuch des Deutschen Staatsrechts Handwörterbuch der Sozialwissensdiaften Herausgeber, herausgegeben herrschende Lehre

i. e. S. i. w. S.

im engeren Sinn im weiteren Sinn

Jh. JÖR JuS JW JZ

Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung

Komm.

Kommentar

Lib.

Liber (Buch)

Abkürzungsverzeichnis

11

n. F. NJW

neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift

o. a.

oben angegeben (-e, -en)

PR.

Parlamentarischer Rat

Rdnr. red. RGBl. RuG RVB1.

Randnummer redigiert Reichsgesetzblatt Recht und Gesellschaft Reichsverwaltungsblatt

seil. Sp.

scilicet, nämlich Spalte

TStR

Teutsches Staatsrecht (J. J. Moser)

umstr.

umstritten

Verw Ardi VVDStRL

Verwaltungsarchiv Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WSA

Wiener Schlußakte

ZfP ZgesStW ZHR ZParl ZRP

Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift

für für für für für

Politik die gesamte Staatswissenschaft das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Parlamentsfragen Rechtspolitik

Einführung Der Begriff „Regierung" hat in der Rechtswissenschaft bislang keine eindeutige Festlegung erfahren. Ähnlich wie die Begriffe Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung 1 erschließt er keinen für jeden Rechtskundigen von vornherein genau bestimmten Vorstellungsinhalt. Man unterscheidet etwa zwischen „Regierung im materiellen Sinn", „Regierung im organisatorischen Sinn" und „Regierung im formellen Sinn", wobei der organisatorische Regierungsbegriff in einen Begriff im weiteren Sinn und einen solchen im engeren Sinn weiter aufgegliedert wird 2 . Andere Sinn-Deutungen der „Regierung" ließen sich anführen. Sie kennzeichnen im wesentlichen zwei verschiedene Bedeutungsbereiche: einmal die Regierung im institutionellen, organisatorischen, formellen oder subjektiven Sinn, soweit ein Verfassungsorgan (Bundes-, Landesregierung) gemeint ist, und zum anderen die Regierung im funktionellen, inhaltlichen, materiellen oder objektiven Sinn, soweit die Ausübung der Staatsgewalt und die Aufgabe der Staatsleitung angesprochen sind 3 . Während der erste Bereich noch verhältnismäßig klar abgegrenzt erscheint 4 , gehen die Meinungen in der deutschen Staatsrechtslehre über die Frage, was Regierung im materiellen oder funktionellen Sinn sei, seit jeher weit auseinander. Hier liegt deshalb auch der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung. Der erste, der sich eingehend mit dem Bereich der Regierung auseinandergesetzt hat und dessen Auffassung bis in die Gegenwart fortwirkt, war Rudolf Smend. In seiner 1923 erschienenen Abhandlung über „Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform" bestimmte er die Regierung als die politische Gewalt im Staate, d. h. als den Bereich, „in dem der Staat sich und sein Wesen bestimmt und durchsetzt" 5 . Smends Gedanken sind auch unter veränderten verfassungsrecht1 Dazu E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 14, und N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 1 ff. 2 So H. J. Wolff in Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 18? ähnlich G. und E. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, S. 160. 8 P. Badura, Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1835. 4 Allerdings wirft auch der organisatorische Regierungsbegriff gewisse Zweifelsfragen auf. So stellt Klein (Mangoldt/Klein, Art. 62, Vorbem. I V 1) fest: „Die Bezeichnung Bundesregierung' ist nicht eindeutig". Dazu unten im 3. Teil, Kap. 1, I. 5 R. Smend, Die politische Gewalt, S. 79.

14

Einführung

liehen Gegebenheiten wiederaufgenommen worden. Vor allem Ulrich Scheuner hat daran angeknüpft und die Regierung als einen Teil der politischen Sphäre angesehen, die den Bereich des eigentlichen Verfassungslebens umspannen soll 6 . Diese Auffassung ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. In einer neueren monographischen Behandlung des Themas hat sich Georg Kassimatis gegen „die Vermengung des Politischen mit der Regierungstätigkeit" gewandt 7 . Nach seiner Meinung ist Regierung im materiellen Sinn „die leitende, das Interesse des Staatsganzen berücksichtigende staatliche Ermessenstätigkeit" 8 . Die bestehende Vielfalt in den Vorstellungen und die Unsicherheit in der juristischen Begriffsbildung geben Anlaß, das rechtliche Phänomen „Regierung" — ein halbes Jahrhundert nach Smends grundlegendem Beitrag — neu zu durchdenken und einen für die Rechtswissenschaft in der Gegenwart sinnvollen Begriffsinhalt zu erarbeiten. Diesem Ziel soll die vorliegende Untersuchung dienen. Der Verfasser geht dabei davon aus, daß sich der Begriff Regierung als ein staatstheoretisches Problem, das mit der Frage nach dem Wesen des Staates und der Staatsgewalt unlösbar verknüpft ist, nicht durch dogmatische Überlegungen allein, sondern nur durch Einbeziehung seiner langen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung erschließen läßt. Die „geschichtlich-politische Bedingtheit der staatsrechtlichen Begriffsbildung" 9 , die sich gerade auch in bezug auf „die Regierung" als zutreffend erweist, verlangt ein solches Vorgehen. Deshalb ist der Entstehung des Begriffes Regierung und seiner Verwendung im deutschen Verfassungsrecht ein breiter Raum gewidmet. Bei der historischen Analyse sollen in erster Linie die Quellen selbst herangezogen werden, das sind in diesem Fall die Texte von Verfassungsgesetzen und die Werke der Staatsrechtslehre, während das Schrifttum über die behandelten Autoren in den Hintergrund treten kann. Das Zurückgehen auf die Quellen bannt die Gefahr, daß rein ideologisch ausgerichtete, aber nicht weiter begründete Behauptungen über die Vergangenheit aufgestellt werden. Es bedeutet auf der anderen Seite nicht, daß die historische Betrachtung „objektiv" oder „wertfrei" erfolgt. Die Staatsrechtslehren der Vergangenheit können ebensowenig wie die Staatslehre der Gegenwart „entpolitisiert" werden, wie es früher teilweise als Ideal bürgerlicher Wissenschaft angesehen wurde. Nicht nur ihre dogmatischen Mängel und Schwächen, sondern auch ihre politische Verstrickung und ihre Abhängigkeit von den Machtfaktoren der Zeit müssen aufgezeigt 6

U. Scheuner, Der Bereich der Regierung, S. 275 ff. G. Kassimatis, Der Bereich der Regierung, S. 49. 8 Ebd., S. 54. 9 E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 15; ähnlich ders., Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, S. 12. 7

Einführung

werden. Dabei bestimmt der Standpunkt des Betrachters, seine heutige Sicht der Ereignisse audi die Darstellung der Vergangenheit. Der Verfasser hat sich insoweit ein Wort Hermann Hellers zu eigen gemacht, der in seiner „Staatslehre" ausgeführt hat: „Alle Geschichte bleibt aber auch — noch für den objektivsten Historiker, der in reiner Treue nur darstellen will, ,was gewesen ist 4 — immer »Geschichte der Gegenwart', d. h. aus der Perspektive des Jetzt gesehen" 10 . Die verfassungsgeschichtliche Betrachtung bliebe unvollständig, wenn sie sich nur auf die Entwicklung in Deutschland beschränken würde. Der Rechtsbegriff „Regierung" ist so eng mit der Auffassung vom Staat verknüpft, daß die Staats- und Regierungslehren anderer Nationen, die in der westeuropäischen Tradition wurzeln, nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben können. So soll versucht werden, jedenfalls die wesentlichen Ansätze auch in der Entwicklung des englischen Government- und des französischen Gouvernement-Begriffes aufzuzeigen. Der gemeinsame Ursprung der von den lateinischen Verben „regere" und „gubernare" abgeleiteten Regierungsbegriffe wird dabei ebenso offenkundig wie die unterschiedliche Entwicklung, die sie genommen haben. Insbesondere das englische Beispiel ist geeignet, anhand der völlig anderen Bedeutung, die das Government im Vergleich mit dem deutschen Regierungsbegriff erlangt hat, die Divergenz in den Grundlagen, zwischen angelsächsischer und kontinentaler Staatsanschauung, aufzuweisen. Dem rechtsvergleichenden Vorgehen kommt daneben praktische Bedeutung für Verständnisprobleme in der Gegenwart zu. Beispielhaft soll hier der sog. Berlin-Vorbehalt der Besatzungsmächte angeführt werden, der sich i n Nr. 4 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. M a i 1949 findet und der auch in dem ViermächteAbkommen über Berlin vom 3. September 1971 ausdrücklich aufrechterhalten worden ist. In englischer Sprache heißt es dort, daß Berlin „may not be accorded voting membership in the Bundestag or Bundesrat nor be governed by the Federation . . . " n . Die deutsche Übersetzung „. . . und auch nicht durch den Bund regiert werden wird" wird dem unterschiedlichen Sinngehalt, den die Begriffe „Government" und „Regierung" im englischen bzw. deutschen Staatsrecht angenommen haben, nicht ge10 H. Heller, S. 28, in Anlehnung an Benedetto Croce; vgl. Theorie und Geschichte der Historiographie, S. 3 ff. 11 So die Fassung des Genehmigungsschreibens; Hervorhebung vom Verf. Die entsprechende Passage im Viermächte-Abkommen, Teil II, B, lautet: „. . . that these Sectors continue not to be a constituent part of the Federal Republic of Germany and not to be governed by it". Bereits im Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 findet sich eine ähnliche Bestimmung (Art. 49), die das Deutsche Reich verpflichtete, auf die „Regierung" des Saargebiets zu verzichten: „Germany renounces in favour of the League of Nations, in the capacity of trustee, the government of the territory defined above" (vgl. H. Triepel, Recueil Général de Traités, S. 363).

16

Einführung

recht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 21. M a i 1957 zutreffend herausgestellt, daß der englische Begriff des Government Staatsgewalt im weitesten Sinne bedeute, mit der Folge, daß das Gericht gehindert sei, „mit Wirkung für Berlin zu judizieren, soweit sein Spruch die Ausübung von Regierungsgewalt (,government') über Berlin bedeuten würde. Darüber, daß ,govern' im angelsächsischen Sprachgebrauch (Man könnte ergänzen: anders als .regieren' im deutschen Sprachgebrauch) auch die Tätigkeit der Gerichte mitumfaßt, herrscht Übereinstimmung" 1 2 . Das Wort „regieren" im deutschen Text des Berlin-Vorbehalts muß also im Sinne des englischen „to govern" verstanden werden. Die spätere, den Vorbehalt des Nicht-Regierens einschränkende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt dagegen eine Auseinandersetzung mit dem Government-Begriff des englischen Staatsrechts vermissen 13 . Ein letztes Wort gilt der Abgrenzung dieser Untersuchung gegenüber den Fragestellungen i n anderen Wissenschaftsdisziplinen. Der Verfasser hat bewußt das Thema „Regierung als .Rechfsbegriff" gewählt, um von vornherein eine gewisse Beschränkung deutlich zu machen. Die Problematik des Regierungsbegriffes wird nur aus der Sicht der Rechtswissenschaft behandelt. Das heißt nicht, daß der Regierungsbegriff von seinen historisch-politischen Grundlagen abgelöst und nach dem Muster eines den Blick verkürzenden Rechtspositivismus Labandscher Prägung betrachtet werden soll. Auf der anderen Seite w i l l der Verfasser aber auch keine umfassende Untersuchung der Phänomene „Herrschaft" und „politische Führung" 1 4 unter Einbeziehung philosophischer, politologischer und soziologischer Forschungen liefern. Eine dahingehende interdisziplinäre Verflechtung würde das ohnehin weite Thema ins Uferlose erstrecken. Der Regierungsbegriff i n der Rechtswissenschaft gibt bereits so viele Probleme auf, daß es geboten ist, zunächst diesen Begriff eindeutig zu bestimmen und in den Zusammenhang des Verfassungsrechts einzuordnen.

12

BVerfGE 7/1 ff., 14 = N J W 1957, S. 1273 ff. Vgl. BVerfGE 19/377, 384 f. = N J W 1966, S. 723 ff; E 20/257, 266 = N J W 1967, S. 339 ff; dazu kritisch K. Finkelnburg, AöR Bd. 95 (1970), S. 581 ff, 593. Auch die Entscheidung des BVerfG im Fall Brückmann vom 27. März 1974 (NJW 1974, S. 893 = D Ö V 1974, S. 309) hat die mit den westlichen Sdiutzmäditen bestehenden Meinungsverschiedenheiten über Inhalt und Umfang des sog. BerlinVorbehalts nicht beendet; vgl. zu der Entscheidung und dem diesbezüglichen Bescheid des Britischen Stadtkommandanten vom 29. Mai 1974: K. Finkelnburg, N J W 1974, S. 1969 ff; u. allg. R. Mußgnug, Die Bindung Berlins an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, S. 157 ff. 14 Dazu etwa Th. Ellwein, Regierung als politische Führung; O. Kirchheimer, Politische Herrschaft. 18

Erster Teil

Die Begriffe „government" und „gouvernement" im englischen bzw. französischen Staats- und Verfassungsrecht 1. Kapitel

Herkunft und Bedeutung des Begriffes „government" im englischen Recht I. Etymologische Beziehungen Das englische Wort „government" leitet sich von dem lateinischen „gubernare" (griechisch „kybernan") her, dessen gegenständliche Bedeutung die Lenkung eines Schiffes bezeichnete. Das Bild des „gubernators" am Steuerruder seines Schiffes wird auf den Vorgang der Lenkung und Beherrschung eines Volkes bzw. einer politischen Gemeinschaft übertragen. Es ist nicht verwunderlich, daß gerade ein Inselvolk die Lenkung der politischen Gemeinschaft mit einem Wort aus dem nautischen Bereich kennzeichnet. Die Angelsachen haben damit die antike Tradition des „Staats-Schiff"-Vergleiches fortgeführt, die bis auf Alkaios, Theognis und Aischylos zurückreicht 1 . Die Parallele zwischen der Steuerung eines Schiffes und der eines Volkes ist jedoch auch später noch auf dem Kontinent gezogen worden. So schmückte Karl der Große seinen Kaisertitel mit dem Zusatz „Romanum gubernans imperium" 2 , und Wipo, ein Zeitgenosse der ersten deutschen Könige aus dem salischen Haus, berichtet, daß Konrad II. den überpersönlichen Charakter des Reiches mit den Worten hervorgehoben habe: „Si rex periit, regnum remansit, sicut navis remanet, cuius gubernator cadit" 2 a . Dieser Ausspruch macht zugleich die 1 Vgl. Alkaios frg. 46 D.; Theognis 667 ff? Aischylos, Sieben gegen Theben, Vers 2 ff; dazu D. van Nes, Die maritime Bildersprache des Aischylos, S. 71 ff; A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, S. 162, 286; Th. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S. 653; Bibliographie zur antiken Bildersprache, S. 561 mit weit. Hinweisen. 2 Dazu P. Classen, Romanum gubernans imperium, DA 1952, S. 103 ff. 2a Wipo, Gesta Chuonradi I I Imp., Kap. V I I ; zit. nach H. Beumann, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, S. 185 ff.

2 Frotscher

18

I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

enge Verwandtschaft zwischen den Worten „regere" und „gubernare", den Vorläufern von „Regierung" und „government", deutlich. II. Ausprägung des Government-Begriffes im 17. Jahrhundert Die eigentliche staatstheoretische Ausprägung des Government-Begriffes erfolgte im 17. Jahrhundert. Der vereinzelten Verwendung dieses Wortes i n älteren Schriften kommt dagegen keine Aussagekraft zu. Das gilt insbesondere auch für das erste Werk über die englische Verfassung, das in englischer Sprache abgefaßt wurde 3 , nämlich Sir John Fortescues um das Jahr 1471 entstandenes 4 Buch „On the Governance of England", obwohl der Titel auf die zentrale Bedeutung des Begriffes „government" hinzuweisen scheint. Fortescues Schrift wurde jedoch in mehreren Manuskripten bewahrt, von denen nur das Yelverton-Manuskript aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts den angegebenen Titel trägt 5 . Im Text selbst w i r d der Begriff „governance" nur selten verwendet, davon einmal im Sinne von funktioneller Regierung, d. h. von Ausübung der Staatsgewalt durch den König 6 . Im übrigen gebraucht Fortescue zur Kennzeichnung der Staatsgewalt die aus seinen beiden anderen Hauptschriften, De Natura Legis Nature und De Laudibus Legum Anglie, geläufigen lateinischen Begriffe „dominium" und „regimen". Er unterscheidet zwischen der Herrschaftsform des „dominium regale", bei welcher der König sein V o l k nach von ihm allein bestimmten Gesetzen regiert und den Untertanen deshalb nach seinem W i l l e n ohne ihre Zustimmung Steuern und andere Abgaben auferlegen kann, und der von Fortescue befürworteten Regierungsform des „dominium politicum et regale", die den König an die Zustimmung seines Volkes bindet 7 . Mag man auch Fortescue das Verdienst zuerkennen, als erster die Staatstheorie aus den Wolken reiner Spekulation auf den Boden der zeitgenössischen Verfassungsgegebenheiten herabgeholt zu haben 8 , so ist andererseits nicht zu übersehen, daß dieser Autor keine Staatslehre im modernen Sinn entwickelt hat, sondern durchaus noch in mittelalter8

Ch. Plummer, in: J. Fortescue, The Governance of England, Einl. S. 86. Der genaue Zeitpunkt der Entstehung liegt nicht fest, vgl. Plummer ebd. 5 Dazu Plummer S. 86, 89. 6 Kap. X I V a. E. . . nor off murmor ageynes the kynges person, ffor the mysgouernance of his reaumel" In einem ganz anderen Sinnzusammenhang erscheint der Begriff „gouernance" in Kap. X X a. E.: „ . . and many men wil than be of better gouernance, for the kynges counseil shuld deme hem worthy to be rewarded". Als Verbum steht „to gouerne" dagegen häufig neben „to rule" und „to reigne" (s. z.B. Kap. II). 7 Vgl. Kap. I. 8 So Plummer S. 82: „F. first of mediaeval writers brings down political philosophy from the clouds to earth by basing his theoretical analysis upon observation of existing constitutions". 4

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

19

liehen Vorstellungen befangen war. Die Lehre vom „dominium" beruht auf einer von der Person des Königs ausgehenden, also rein personalen Herrschaftsauffassung, die nicht mit späteren Aussagen über „Staat" und „Staatsgewalt" verglichen werden kann. Fortescue versteht Herrschaft „nicht als eine Erscheinung institutionalisierter Staatlichkeit, sondern als das persönliche Herrschaftsrecht des Königs" 9 . Insofern muß jeder Versuch mißlingen, i n seinen Schriften eine „position of liberal constitutionalism" aufzudecken 10 , zu der die englische Verfassungsentwicklung erst zwei Jahrhunderte später findet. M i t der Idee des Verfassungsstaates sollte dann auch erst das Government zu einem Leitbegriff des politischen Denkens werden. Das 17. Jahrhundert hat für die englische Verfassungsentwicklung überragende Bedeutung. Sicherlich haben andere Verfassungsepochen ihren Anteil dazu beigetragen, das Bild des „modern English government" zu prägen, und es w i r d zumeist die Sicht des Betrachters darüber entscheiden, welchen Ereignissen er besonderes Gewicht beilegt. Das Verfassungsgeschehen im 17. Jahrhundert läßt aber doch eine Heraushebung gerade dieses Zeitabschnittes gerechtfertigt erscheinen 11 . Nur die wichtigsten konstitutionellen Fakten sollen hier in Erinnerung gerufen werden: Die Tudors hatten seit dem Ende des 15. Jahrhunderts den Weg zum Absolutismus vorbereitet. Sie hatten zwar die hergebrachten Verfassungseinrichtungen, insbesondere das Parlament, nicht beseitigt, jedoch durch weitgehende Einflußnahme auf das Parlament, vor allem aber mit Hilfe einer unbeschränkten königlichen Verordnungsgewalt, einer zentralistischen Verwaltungsorganisation, an deren Spitze der Privy Council stand, und der berüchtigten Rechtsprechung der Star Chamber sowie anderer Sondergerichte eine quasi absolute monarchische Herrschaft aufgebaut 12 . Die ersten Stuarts, Jakob I. und Karl I., wollten diesen W e g 1 3 weitergehen, trafen jedoch auf eine immer stärker werdende Opposition 9

P. Badura, Verfassungsdenken und Finanzklugheit, S. 87 ff, 100. Vgl. G. P. Gooch, English Democratic Ideas in the Seventeenth Century, S. 28, der sich diese Beurteilung jedoch nicht — wie Badura (ebd., S. 98) meint — zu eigen macht: F. „should have taken up a position . . .". 11 Rudolf Gneist (Die Geschichte des Selfgovernment in England, S. 343) meinte sogar, daß „die gewaltigen Bewegungen und Kämpfe des so zusammengesetzten Staatswesens während des 17. Jahrhunderts seit Menschenaltern alle, welche den Verhältnissen von Staat und Gesellschaft mit ernstem Sinn sich zugewandt, mehr beschäftigt haben als irgendeine andere Änderung in dem inneren Leben der europäischen Staaten". 12 Dazu D. L. Keir, The Constitutional History of Modern Britain, S. 94 ff., insb. S. 99 f, 153; J. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 326 ff.; spez. zur Star Chamber: F. W. Maitland, The Constitutional History of England, S. 261 ff. 13 Den Jakob I. auch theoretisch in seiner Schrift „Trew Law of Free Monarchies" vorzeichnete; s. M. Henningsen, Divine Right of Kings. 10

2*

20

I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

im englischen Parlament. Der offene Konflikt endete schließlich 1649 mit der Niederlage des Königtums und der Enthauptung Karls I. 1 4 . A m 19. M a i 1649 wurde England durch Parlamentsgesetz zum „Commonwealth and Free State" erklärt, „without any King or House of Lords" 1 6 . Aber die republikanische Staatsform konnte sich nicht verfestigen. Bald nach dem Tode ihres Protektors Oliver Cromwell brach die Republik wieder auseinander, und im Jahre 1660 konnten die Stuarts auf den englischen Thron zurückkehren. Doch der Versuch Jakobs II., das Rad der englischen Verfassungsentwicklung noch weiter zurückzudrehen und ein absolutes Königtum zu restaurieren, scheiterte ebenso wie die vorangegangenen Bemühungen um Einführung der Republik. In der Glorious Revolution von 1688/89 legte die englische Nation den Grundstein, auf dem sich das für England charakteristische Staatsgebäude einer parlamentarischen Monarchie aufbaute. Wilhelm von Oranien und seine Gemahlin Marie, die vom Parlament als neue Herrscher auf den Thron berufen wurden, erkannten die in der Declaration of Rights zusammengefaßten parlamentarischen Forderungen an, und ein entsprechendes Gesetz vom Dezember 1689, die Bill of Rights, bestätigte diese Übereinkunft. So entschied sich in England bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts das Schicksal der absoluten Monarchie, aber auch das der Republik. Früher als in den großen kontinentaleuropäischen Staaten konnte der Absolutismus zurückgedrängt und schließlich endgültig überwunden werden. Die Zeit war andererseits noch nicht reif, um dem republikanischen Gedanken und der damit Hand in Hand gehenden Idee einer geschriebenen Verfassung 18 eine dauerhafte Grundlage zu geben. Die frühzeitige Beschränkung der monarchischen Gewalt war von besonderer Bedeutung, weil sie die unterschiedliche Entwicklung der Staatsidee in England im Vergleich etwa mit der traditionellen deutschen Auffassung zu erklären vermag. „Das neue Verfassungssystem von 1688/89, das durch mehrere Parlamentsakte in den folgenden drei Jahrzehnten gesichert wurde, dokumentierte den Sieg der Stände des Landes über den König. Dieses Ereignis markiert zugleich den Wendepunkt der englischen Sonderentwicklung innerhalb der gesamteuropäischen Geschichte der frühen Neuzeit. Denn mit der Glorious Revolution nahm eine spezifisch englische Lösung einer allgemeinen europäischen Krise Gestalt an und sollte für die folgenden Jahrhunderte im angelsächsischen Zivilisationskreis bestimmend bleiben" 1 7 . 14

C. V. Wedgwood , The Trial of Charles I. Abgedruckt bei S. R. Gaidinei, Constitutional Documents, S. 388. 16 Vgl. die verschiedenen Verfassungsentwürfe vom „Agreement of the People" bis zum „Instrument of Government", in: S. R. Gardiner, Constitutional Documents. 17 M. Henningsen, Englisches politisches Denken im 17. Jh., S. 7. 15

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

21

Die spezifisch englische Lösung bestand in der gemeinsamen Herrschaftsausübung (government) von König und Parlament, die — jedenfalls in der Theorie — auf dem Vertrauen (trust) der als politische civitas verstandenen Gesellschaft (civil society) beruhte. Wäre der Absolutismus in England nicht frühzeitig niedergerungen worden, hätte sich eine solche Staatsauffassung nicht bilden können. Die absolute Monarchie, das zeigt die Verfassungsentwicklung in Deutschland und Frankreich, hat die Idee des Staates als der Inkarnation des „objektiven Geistes" hervorgebracht und der Gesellschaft eine unpolitische, negativ zu bewertende Rolle zugewiesen. Denn das monarchische Prinzip bedurfte, als die Vorstellung des Gottesgnadentums langsam verblaßte, einer neuen Legitimationsgrundlage, die ihm die idealistische Staatstheorie dann auch lieferte. Im Gegensatz dazu hatte die englische Gesellschaft, verkörpert in den Ständen und im Parlament, den Absolutismus besiegt. Sie brauchte sich deshalb nicht aus der eigentlichen Sphäre des Politischen zurückzuziehen, sondern blieb vielmehr deren Mittelpunkt, neben dem sich ein Staatsbegriff im kontinentaleuropäischen Sinne gar nicht entwickelte. Leibholz hat diese Besonderheit der englischen Staatsauffassung zutreffend gekennzeichnet, wenn er sagt 18 : „Das angelsächsische und insbesondere das englische politische Denken unterscheidet sich von diesem kontinentaleuropäischen Denken entscheidend dadurch, daß es primär Gesellschaftsdenken und nicht Staatsdenken ist. Es ist der Begriff der Gesellschaft, der Society, der noch heute in England der entscheidende Substanzbegriff ist und allen anderen Begriffen vorgelagert ist, . . .". Zu dem Begriff der „civil society" trat der funktionelle Begriff des „government" hinzu. Beide zusammen haben in England den Platz ausgefüllt, den in Deutschland der Begriff „Staat" eingenommen hat. Die bisherige Untersuchung hat die entscheidende Bedeutung der Geschichte des 17. Jahrhunderts für Verfassungsentwicklung und Staatsdenken in England deutlich gemacht. Im folgenden gilt es, die theoretischen Grundlagen, wie sie in den wissenschaftlichen Arbeiten der „political theory" und der „jurisprudence" 1 9 zutagegetreten sind, auf ihr Verständnis von Staat und Regierung genauer zu überprüfen. Ein Jahr, nachdem mit dem Erfolg der Glorious Revolution die Weichen in der Verfassungswirklichkeit gestellt waren, veröffentlichte John Locke seine „Two Treaties of Government" und schuf damit die theoretische Basis für die neue Verfassungsordnung. Man mag darüber streiten, ob Thomas Hobbes

18

G. Leibholz, Staat und Gesellschaft, S. 113. Diese beiden Wissenschaftsdisziplinen erfassen im Englischen neben der Politischen Theorie und der Rechtsphilosophie auch den Bereich, der in Deutschland in der „Allgemeinen Staatslehre" und teilweise im „Staatsrecht" behandelt wird. 19

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

der schärfere Denker i n seiner Zeit gewesen ist 2 0 , fest steht, daß Locke das angelsächsische Staatsdenken am nachhaltigsten beeinflußt hat. Er stand „an der Wiege des amerikanischen Regierungssystems" 21 , und dieses Urteil gilt in abgeschwächter Form auch für das englische System. Hobbes hatte den „Staat", den „mighty Leviathan", in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt. Er rückt damit in eine offenkundige geistige Verwandtschaft zur späteren deutschen Staatslehre vor allem des 19. Jahrhunderts. Hätten Cromwell oder Karl II. seine im „Leviathan" formulierten Lehren übernommen 22 und in eine dauerhafte politische Form umsetzen können, so wäre Hobbes vielleicht der Ahnherr englischen Verfassungsdenkens in der Neuzeit geworden. Die Glorious Revolution entschied jedoch zugunsten von Locke. Locke geht in seinen „Two Treaties of Government" von der Gesellschaft aus. Das w i r d bereits in der Begriffswahl deutlich. Die Begriffe „civil society" und „government", die bei Hobbes nur eine untergeordnete Rolle neben den Leitbegriffen „Common-wealth" und „Soveraigne power" spielen 23 , treten nun in den Mittelpunkt. Die „civil society" beendet den „State of Nature", in dem sich die Menschen ursprünglich befunden haben. „State" heißt hier, wie zumeist im Englischen, soviel wie „Zustand", also nicht „Staat" 2 4 . Die Menschen geben den Naturzustand auf, um ihre „property" besser bewahren zu können. Unter „property" sind dabei sowohl sämtliche materiellen Güter als auch Leben und Freiheit zu verstehen. „The preservation of their property" wird zum höchsten Staatszweck, zum maßgeblichen Ziel von Society und Government 25 . Der Ubergang vom State of Nature in die Civil Society wird mit Hilfe der naturrechtlichen Konstruktion eines Gesellschaftsvertrages („original compact" oder „consent") verrechtlicht 26 . Die so entstandene Gesellschaft ist in Aufbau und Funktion nicht mit privaten Personenvereinigungen vergleichbar, wie sie z. B. zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Herrn und Diener bestehen. Das Besondere der „civil" oder auch „political society" wird in folgender Definition sichtbar: „Whereby it is easy to discern who are, and who are not, in Political Society together. Those who are united into one Body, and 20

So P. J. Opitz, Thomas Hobbes, S. 61. E. Fraenkel, Das Amerikanische Regierungssystem, S. 180. 22 Wie es der Autor selbst ausdrücklich gewünscht hat: Leviathan, Teil II, Kap. 31 a.E. (S. 408). 28 Vgl. Leviathan, Teil II, insb. Kap. 17 u. 18. 24 Einzelne Fundstellen für eine Verwendung des Ausdrucks „state" i. S. von „Staat" reichen zwar bis in das 16. Jahrhundert zurück, diese Begriffsbildung konnte sich jedoch nicht durchsetzen; dazu J. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 79. 25 Two Treatises of Government, Buch II, §§ 123, 124, 222. 26 II, §§ 95 ff. 21

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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have a common establish'd Law and Judicature to appeal to, w i t h Authority to decide Controversies between them, and punish offenders, are i n Civil Society one w i t h another" 2 7 . Allein die Wortzusammenstellung „political society", die hier synonym mit dem Begriff „ c i v i l society" gebraucht wird, zeigt, daß die englische Staatstheorie der Neuzeit bereits in ihren Anfängen einen Gesellschaftsbegriff ausgeformt hat, der es ihr später verbot, die Gesellschaft — ähnlich wie auf dem Kontinent und insbesondere in Deutschland — ihres politischen Charakters total zu entkleiden. Uber dem Gebäude der Civil Society wölbt sich das Dach des Government. Dieser Begriff hat eine umfassende funktionelle Bedeutung. Er bezeichnet die Regierung im weitesten Sinne, die Ausübung aller hoheitlichen Gewalt. Das Government gründet sich nicht auf einen zweiten „compact", den Herrschaftsvertrag der Naturrechtslehre, sondern steht in dem für das englische Rechtsdenken typischen 28 „trust"-Verhältnis zur politischen Gemeinschaft. Ein Trust ist nach englischem Recht kein Vertrag. Peter Laslett hat diese eigenartige Beziehung zwischen Civil Society und Government folgendermaßen charakterisiert: „Although contractually related to each other, the people are not contractually obliged to government, and governors benefit from governing only as fellow members of the »Politick Body' (I, § 93). They are merely deputies for the people, trustees who can be discarded if they fail in their trust (II, § 240) " 2 9 . Locke betont immer wieder die treuhänderische Natur aller politischen Gewalt. Der Trust-Gedanke rechtfertigt auch die Auflösung und das gewaltsame Zerbrechen der Herrschaft durch das V o l k („dissolution of government"), wenn die Regierungsgewalten ihre Treuhandstellung mißbrauchen („act contrary to their trust" oder „breach of trust") 3 0 . Ein solcher Fall liegt dann vor, wenn diejenigen, die die Staatsgewalt ausüben, dem Staatszweck, nämlich der Bewahrung von Leben und Eigentum („property") aller Bürger, offenbar zuwiderhandeln. „For all Power given w i t h trust for the attaining an end, being limited by that end, whenever that end ist manifestly neglected, or opposed, the trust must necessarily be forfeited, and the Power devolve into the hands of those that gave it, who may place it anew where they shall think best for their safety and security" 3 1 . Hier kommt deutlich Lockes Bemühen zum Ausdruck, die 27

II, § 87. Zur Entwicklung und Ausbreitung des Trust im englischen Rechtsdenken: J. W. Gough, Political Trusteeship, in: ders., John Locke's Political Philosophy, S. 136 ff; F. W. Maitland, Trust und Korporation, vgl. insb. S. 75: „Der Trust jedoch . . . drängt vorwärts, bis er sich schließlich allen mit staatlicher Macht Gebietenden, allen Organen des staatlichen Körpers aufdrängt". 29 Einleitung zu der angegebenen Locke-Ausgabe, S. 113. 30 II, §§ 221, 222. 31 II, § 149. 28

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

bürgerlichen Revolutionen seiner Zeit gegenüber dem monarchischen Prinzip zu verteidigen und theoretisch zu legitimieren. Man sollte dabei nicht verkennen, daß Locke bei dem gegen die Staatsgewalt revoltierenden „ V o l k " nicht an die breite Masse der Besitzlosen, sondern in erster Linie an das aufstrebende Besitzbürgertum gedacht hat 3 2 . Er war, wie G. H. Sabine bemerkt 8 8 , „the ideal spokesman of a middle-class revolution", ein „konservativer Revolutionär". Government ist nach Locke in verschiedenen Formen möglich. Ein Staat kann als Demokratie, als Oligarchie, als Monarchie oder als Mischform verfaßt sein 84 . Locke wendet sich dagegen, einfach zu glauben, die monarchische Staatsform sei die von der Natur vorgegebene 85 . Er kommt bemerkenswerterweise zu der Auffassung, Civil Society und Government schlössen bereits von ihrem Begriff her die absolute Monarchie aus. „Absolute Monarchy . . . is indeed inconsistent w i t h Civil Society, and so can be no Form of Civil Government at all" 3 6 . Denn in der absoluten Monarchie ist der Herrscher sein eigener Richter, damit aber fällt die Gesellschaft i n den Naturzustand zurück 37 . Lockes Betrachtungen über die verschiedenen Formen des Government und deren Wert sind in gleicher Weise von der englischen Verfassungssituation des ausgehenden 17. Jahrhunderts geprägt wie seine Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes und der „dissolution of government". Die Auseinandersetzungen zwischen König und Parlament werden reflektiert, und das Ergebnis der Glorious Revolution w i r d staatstheoretisch abgesichert. Das gilt auch für den Teil des Second Treatise, in dem Locke seine Gewaltenteilungslehre entwickelt 88 . Die Ausübung der Staatsgewalt, das Government, soll auf drei Gewalten („powers") aufgeteilt werden: Legislative, Exekutive und Föderative. Die Legislative erhält eine Vorrangstellung, die durchaus auch demokratischen Staatsvorstellungen in der Gegenwart entspricht. Sie ist die „supreme power", die den Einsatz aller staatlichen Kräfte zur Erreichung des Gemeinwohls lenkt 8 9 . Ihre Macht reicht allerdings nicht weiter als die des Government überhaupt: Das auf die Erhaltung von Leben und Besitz der Bürger beschränkte Staatsziel und der diesbezügliche Trust ist auch für die Ausübung der Legislativgewalt maßgebend. 32

W. Euchner, Locke, S. 21. A History of Political Theory, S. 456 bzw. 453. 34 II, § 132. 35 II, § 106: „to mistake, and think, that by Nature Government was Monarchical". 36 II, § 90. 37 II, § 91 u. dazu P. Laslett, Einleitung zu der angegebenen Locke-Ausgabe, S. 99. 38 G. H. Sabine, A History of Political Theory, S. 452: „Every detail of Locke's account of the relation between legislatures and executives reflects some phase of the controversy between the king and parliament". 39 II, §§ 132, 134, 143. 33

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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Exekutive und Föderative sind der Legislative grundsätzlich untergeordnet. Zur föderativen Gewalt 4 0 rechnet Locke die auswärtigen Angelegenheiten, insbesondere die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie Vertragsschlüsse mit anderen Staaten. Die Föderative hat kaum eigenständige Bedeutung. Sie ist organisatorisch mit der Exekutive verbunden, d. h. beide Gewalten liegen in der Hand des englischen Königs. Das Bedürfnis, die Föderative als dritte Gewalt zu konzipieren, ergibt sich für Locke als Folge des Gesellschaftsvertrages. Der (fiktive) Gesellschaftsvertrag wird nur zwischen den Angehörigen einer Volksgemeinschaft abgeschlossen, die dadurch zur Political Society erstarkt. Er schafft keine Rechtsbeziehungen zu anderen Völkern. Im Verhältnis der Völker untereinander bleibt vielmehr der Naturzustand fortbestehen. Die auswärtige Gewalt stellt sich deshalb für Locke als etwas qualitativ anderes (ein „natural power") dar als die auf den Gesellschaftsvertrag gründenden innenpolitisch wirksamen Funktionen der Legislative und der Exekutive (die „political powers"). Legislative und Exekutive sollen nach Meinung Lockes verschiedenen Personen anvertraut sein, um Recht und Freiheit besser zu gewährleisten. Allerdings durfte die Legislative so ausgestaltet sein, daß der Inhaber der Exekutivgewalt, der englische König, zugleich einen gewissen Anteil an der Gesetzgebung hatte („King in Parliament"). Das Lockesche Gewaltenschema läuft im Ergebnis auf eine Zweiteilung der Staatsgewalt hinaus 41 . Legislative und Exekutive bzw. Parlament und König stehen sich darin gegenüber. Die Rechtsprechung nimmt keinen eigenen Platz unter den Gewalten ein. Sie ist für Locke ein selbstverständliches Attribut staatlicher Gewalt. Die Legislative als höchste Gewalt soll „by standing Laws" und „by indifferent and upright Judges" regieren 42 . Die von Locke befürwortete Zweiteilung der Staatsgewalt, des Government, bildet kein bloßes staatstheoretisches Modell, sondern ist, wie es bereits für andere Abschnitte seines Second Treatise aufgezeigt wurde, unmittelbar an der englischen Verfassungswirklichkeit des Jahres 1690 ausgerichtet. Dabei geht Locke ebenso wie später Montesquieu 43 von den realen gesellschaftlichen Machtfaktoren seiner Zeit aus. Die Krone erhält die Exekutive einschließlich der föderativen Gewalt sowie eine gewisse Mitbestimmung bei der Gesetzgebung. Die Commoners, d. h. das besitzende Bürgertum einschließlich des Landadels, der Gentry, übernehmen die Führung im Parlament und können so die Legislative „steuern". 40

II, §§ 145, 146. Ebenso W. Euchner, Locke, S. 19. 42 Vgl. II, §§ 131, 136 u. P. Laslett, Einleitung zu der angegebenen Locke-Ausgabe, S. 118. 43 Dazu s. u. Teil III, Kap. 2, III. 41

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

Schließlich ist der Standort der Prärogativen Gewalt bei Locke zu bestimmen. Man hat in der deutschen Staatsrechtslehre, nachdem sich die Vorstellung von der Regierung als einer eigenständigen, richtunggebenden Funktion, einer A r t vierten Gewalt, ausgebreitet hatte 44 , versucht, die Prärogative der englischen Krone zur Rechtfertigung dieser Ansicht heranzuziehen und als die eigentliche Entsprechung der deutschen „Regierungsgewalt" zu begreifen 45 . Solche Überlegungen finden bei Locke keine Stütze. Seine Ausführungen zum Problem der Prärogative weisen gerade in die andere Richtung. Die Prärogative ist für ihn keine selbständige Staatsgewalt, sondern ein Teilbereich der Exekutive. Für diese Auffassung spricht schon die äußere Einteilung, die Locke vorgenommen hat. In Kapitel X I I des Second Treatise werden die Legislative, die Exekutive und die Föderative als die drei Gewalten aufgeführt und abgehandelt, die zusammen das Government bilden. Die Prärogative wird nicht erwähnt, sondern erst im Anschluß daran im Kapitel X I V untersucht. Der Inhalt des Kapitels über die Prärogative stimmt mit der äußeren Gliederung überein. Locke definiert die Prärogative als die Befugnis „to act according to discretion, for the publick good, without the prescription of the Law, and sometimes even against i t " 4 6 . A n anderer Stelle sagt er: „For Prerogative is nothing but the Power of doing publick good without a Rule" 4 7 . Da der Gesetzgeber nicht alle Dinge vorhersehen und regeln kann, bleibt für die Exekutive ein Freiraum eigener Gestaltung, eben die Prärogative. Ein Handeln gegen das Gesetz kommt etwa in Betracht, um die Strenge des Gesetzes zu mildern und Gnade zu erweisen („to mitigate the severity of the Law, and pardon some offenders" 48 ). Locke betont mehrfach, daß dieser Prärogative Freiraum in den Bereich der Exekutive fällt: „There is a latitude left to the Executive power, to do many things of choice, which the Laws do not prescribe" 49 . Locke weist außerdem darauf hin, daß sich der Bereich der Prärogative in den Anfängen staatlicher Existenz sehr weit erstreckt hat, während er in hochentwickelten Staaten durch das Gesetz immer mehr eingeengt wird 5 0 . Auch insoweit stimmt er mit den Zielen der puritanischen Revo-

44

Vgl. Teil I I der Arbeit, Kap. 3, VI. G. Jellinek, Staatslehre, S. 617; daran anknüpfend G. Kassimatis, Der Bereich der Regierung, S. 26. 46 II, § 160. 47 II, § 166 a. E. 48 II, § 159. 49 II, § 160. Vgl. weiter II, § 159: „. . . several things should be left to the discretion of him, that has the Executive Power". II, § 161: „But if there comes to be a question between the Executive Power and the People, about a thing claimed as a Prerogative; . . .". II, § 168: „Between an Executive Power in being, with such a Prerogative, . . .". 45

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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lution überein, die die königliche Prärogative nicht zur staatlichen Vollgewalt erstarken lassen wollte 5 1 . Faßt man seine Aussagen zusammen, so ergibt sich daraus, daß die prärogative Gewalt nicht mit der in der deutschen Staatsrechtslehre propagierten eigenständigen, richtunggebenden Gewalt „Regierung" verglichen werden kann. Seine Konzeption einer Exekutive mit Prärogativen Befugnissen entspricht vielmehr einer modernen Auffassung von exekutiver oder vollziehender Gewalt, die diese nicht auf den reinen Gesetzesvollzug beschränkt. Die oberste Führungsaufgabe 52 liegt jedoch bei der Legislative als der „Supreme power". Locke hat die in seinen Two Treaties enthaltenen Prinzipien in bezug auf Civil Society und Government nicht völlig neu „erdacht". Er hat die Gedanken der Zeit, die Staatsidee der puritanischen Revolution, aufgenommen und in ein verhältnismäßig geschlossenes System gebracht. Die enge Beziehung zwischen seinen Aussagen und den zeitgenössischen Vorstellungen, die letztlich zur Überwindung des monarchischen Absolutismus i n England geführt haben, läßt sich bis hin zur W a h l und Verwendung der Leitbegriffe verfolgen. Die für Locke wesentliche Regierungskonzeption eines „government", das vermittels „trust" an die, allerdings noch nicht umfassend ausgeprägte Volkssouveränität gebunden ist, knüpft an Formulierungen an, wie sie bereits im Agreement of the People vom Oktober 1647 zu finden sind 53 . Das Agreement of the People stellt den ersten Entwurf einer neuzeitlichen, geschriebenen Verfassung in Europa dar 5 4 . „Alle Grundsätze, auf denen die heutige Demokratie, namentlich die amerikanische, beruht, wurden schon damals im Keim wenigstens angedeutet" 55 . Dieser Verfassungsentwurf 60

II, § 162. Zur Entwicklung der Prärogative des englischen Königs: J. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 600 ff. 52 Vgl. II, § 143: „The Legislative Power is that which has a right to direct how the Force of the Commonwealth shall be imploy'd for preserving the Community and the Members of it". 53 Ebenso P. J. Opitz, John Locke, S. 127 ff., 141. Auch T. C. Pease (The Leveller Movement, S. 4, 364) hat darauf hingewiesen, daß die politischen Theorien, die Locke aufstellte, im wesentlichen bereits 40 Jahre vorher von den sog. Levellern formuliert worden waren. Zum Verhältnis von Trust und demokratischer Repräsentation bei den Levellern vgl. M. Gralher, Demokratie und Repräsentation in der Englischen Revolution, insb. S. 65 ff. Das Trust-Konzept spielte auch bei Cromwell eine große Rolle (dazu J. W. Gough, Political Trusteeship, in: ders., John Locke's Political Philosophy, S. 139 f, 160). 54 Die Frage nach dem ältesten Verfassungsentwurf ist umstr.; s. dazu H. O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit. Die dem Agreement vorausgegangenen „Verfassungspapiere", der „Plantation covenant" auf der „Mayflower" von 1620, das Privileg Karls I. für die Kompanie der Massachusetts Bay von 1628 und die Fundamental Orders of Connecticut von 1639 bezeichnen jedenfalls keine europäischen Entwürfe. 65 J. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 339. 51

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

ist im Jahre 1647 von der gegen den König kämpfenden Armee 5 6 beraten und am 20. Januar 1649 dem britischen Unterhaus vorgelegt worden. Unter Punkt 8 heißt es dort: „Eighthly. That the Representatives have, and shall be understood to have, the supreme trust in order to the preservation and government of the whole; and that their power extend, without the consent or concurrence of any other person or persons, to the erecting and abolishing of Courts of Justice and public offices, and to the enacting, altering, repealing and declaring of laws, and the highest and final judgment, concerning all natural or civil things, but not concerning things spiritual or evangelical" 5 7 . Das Government, dessen treuhändischer Charakter deutlich hervorgehoben wird, umfaßt alle Bereiche der Staatsgewalt: die Organisationshoheit in bezug auf Verwaltung und Gerichtswesen, die Gesetzgebung im weitesten Umfang und — ausgenommen in religiösen Fragen — die höchste Jurisdiktionsgewalt. Im Unterschied zu Locke geht das Agreement allerdings von einem republikanischen Staatsmodell aus. Die Funktion des Government wird nicht geteilt und zwei Trägern, dem König und dem Parlament, anvertraut, sondern ungeteilt in die Hand eines einzigen, vom V o l k gewählten Organs gelegt, der sog. Repräsentativkammer, die alle Angelegenheiten der Gemeinschaft entscheiden sollte, soweit diese nicht ausdrücklich oder stillschweigend den Wählern vorbehalten waren. Als Locke jedoch seine Two Treaties of Government schrieb, waren die republikanischen Bestrebungen bereits endgültig gescheitert.

III. Konsolidierung und Ausdehnung auf die nordamerikanischen Kolonien im Laufe des 18. Jahrhunderts Die Idee des liberalen Verfassungsstaates, wie sie Locke entwickelt hatte, konnte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts weiter entfalten. Die politisch wirksame „society" und das treuhänderisch gebundene „government" blieben dabei die wesentlichen Grundlagen angelsächsischen Staatsverständnisses. Das läßt sich zunächst an den Arbeiten von Hume, Blackstone und Bentham für das englische Mutterland nachweisen, gilt darüberhinaus aber auch für die Staatswerdung von dessen nordamerikanischen Kolonien. 56 Zu den staatspolitischen Vorstellungen der puritanischen Armee vgl. G. P. Gooch, English Democratic Ideas in the Seventeenth Century, S. 118 ff., u. spez. zu den Levellern, auf deren Initiative das Agreement zurückging, T. C. Pease, The Leveller Movement. Pease schildert auch die Entstehung des Agreement und ihre Hintergründe (ebd., S. 193 ff.). 57 S. R. Gardiner, Constitutional Documents, S. 368. Hervorhebungen vom Verf.

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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David Hume (1711—1776) hat in seinen politischen Schriften eine streng empirische Betrachtungsweise gewählt. Er steht damit in der Tradition englischen Staatsdenkens, das ganz überwiegend den logischen Vorrang allgemeiner Begriffe und Vernunftkategorien ablehnt und die Erfahrung zur wesentlichen Erkenntnisgrundlage erhebt 68 . Fragen nach dem „Staat an sich", wie sie i n der Staatslehre des deutschen Idealismus gestellt werden, treten für Hume gegenüber den Problemen der konkreten politischen Ordnung in den Hintergrund. Der Staat wird nicht verselbständigt, sondern die Gesellschaft wird, ebenso wie bei Locke, mit hoheitlicher Gewalt ausgestattet. Society und Government bleiben die Grundbegriffe auch der Humeschen Staatsauffassung. Der treuhänderische Charakter des Government wird dagegen nicht betont. Das Recht (law) nimmt die Stelle des Trust ein. Kennzeichnend für Humes Grundhaltung, die durchaus dem „die britische Regierungsweise des 18. Jahrhunderts durchdringenden Geist des Legalismus" entsprach 59 , ist insoweit der folgende Abschnitt aus seinem Essay „Of Civil Liberty": „But though all kinds of government be improved in modern times, yet monarchical government seems to have made the greatest advances towards perfection. It may now be affirmed of civilized monarchies what was formerly said in praise of republics alone, that they are a government of laws, not of men" 6 0 . In dieser Antithese offenbart sich allerdings eine Vorstellung vom gesetzten Recht, die nach dem heutigen Stand der Erkenntnis nicht haltbar ist. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Fehleinschätzung der Macht, die darin zum Ausdruck kommt, daß Hume meint, politische Herrschaft sei nur auf Überzeugung gegründet, weil die Macht nicht bei den Regierenden, sondern bei den Regierten liege. „As Force is always on the side of the governed, the governors have nothing to support them but opinion. It is, therefore, on opinion only that government is founded; . . ." 6 1 . Hume spricht immer nur vom Government, von der Staatsgewalt im weitesten Sinn, nicht aber von „dem Staat". Wenzel hat dazu treffend bemerkt: „Es gibt nichts, was der Humeschen Philosophie fremder sein könnte, als der vollständig verselbständigte und idealisierte Staat beispielsweise der Hegeischen Philosophie. Das findet seinen äußeren Niederschlag schon darin, daß Hume das Wort ,state' fast gar nicht verwendet und in aller Regel vom »government 1, also von der Staatsgewalt und

58 F. Darmstaedter, Der englische Staatsgedanke u. die deutsche Theorie, S. 537 ff., 542. 59 G. A. Ritter, Das britische Parlament im 18. Jahrhundert, S. 71. 80 The Philosophical Works of David Hume, Bd. 3, S. 161. Dazu Ch. W. Hendel, David Hume's Political Essays, Einf. S. X X I I I . 61 Philosophical Works, Bd. 3, S. 110.

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

Regierung spricht" 62 . Der Staat in unserem Verständnis ist für Hume „nur die um eine ordnende Instanz vervollständigte menschliche Gesellschaft" 68 . Aus dieser — spezifisch angelsächsischen — Sicht ist es nicht gerechtfertigt, den Staat zu verselbständigen und in ihm etwas wesenhaft anderes zu sehen als in der Gesellschaft. Die Menschen haben die „political society" gebildet, um Recht und Gerechtigkeit („justice") und damit zugleich Sicherheit und Frieden zu gewährleisten 64 . Zwar gibt es Justice auch im Naturzustand, doch ist es dort ständig von besonderen Eigeninteressen und Versuchungen („peculiar interests and present temptations") bedroht. Deshalb bedarf die Gesellschaft einer Obrigkeit, des Government. „Order i n society, we find, is much better maintained by means of government; and our duty to the magistrate is more strictly guarded by the principles of human nature than our duty to our fellowcitizens" 65 . Die Freiheit, die an sich als höchstes Ziel der Gesellschaft hingestellt wird, erfährt durch das Government eine notwendige Einschränkung: „ A great sacrifice of liberty must necessarily be made in every government; . . . I n this sense, it must be owned, that liberty is the perfection of c i v i l society, but still authority must be acknowledged essential to its very existence" 66 . Der „vast apparatus" des Government umfaßt alle öffentlichen Ämter, „kings and parliaments, fleets and armies, officers of the court and revenue, ambassadors, ministers, and privycounsellors". Die angeführten Textstellen beweisen zur Genüge, daß Hume bei allen Abweichungen im einzelnen eine mit Locke gemeinsame „Staatsplattform" hatte: die mit dem Government bewehrte Civil Society. Das gleiche gilt für William Blacks tone (1723—1780). Seine „Commentaries on the Laws of England", deren erster Band im Jahre 1765 erschienen ist, sind ein Kompendium des englischen Rechts, keine Staatslehre wie Lockes Two Treaties of Government. Die Commentaries gehen dennoch auch auf staatstheoretische Fragen ein, die eigentlich Gegenstand der „jurisprudence" und der „political theory" sind. Die Erörterung des „municipal law", das mit allen Vorbehalten dem heutigen öffentlichen Recht vergleichbar ist, führt Blackstone, wie er selbst sagt, „into a short inquiry concerning the nature of society and civil government" 67 . Er lehnt die These von einem „state of nature", aus dem durch Gesellschaftsvertrag die politische Gemeinschaft hervorgegangen sein soll, als 82

L. Wenzel, David Humes politische Philosophie, S. 101. Wenzel S. 102. 64 Diese Darstellung stützt sich auf Humes Essay „Of the Origin of Government" (Philosophical Works, Bd. 3, S. 113 ff.). Der Govemment-Begriff hat in seinen anderen politischen Schriften eine entsprechende Bedeutung. 65 Ebd., S. 115. 66 Ebd., S. 116. 67 Commentaries on the Laws of England, Einf. § 2, S. 46. 63

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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unglaubwürdig ab. Nach seiner Ansicht sind die Menschen von Anfang an durch das Bewußtsein ihrer Schwäche („weakness") und Unvollkommenheit („imperfection") als Society zusammengehalten worden. Einzelne Familien haben zunächst „natural societies" gebildet, die sich dann ausweiteten und so den Grundstein für die „civil or political society" legten. M i t dem Entstehen einer solchen politischen Gemeinschaft hat sich zugleich auch die Staatsgewalt, das Government, gebildet: „For when civil society is once formed, government at the same time results of course, as neccessary to preserve and to keep that society in order" 6 8 . A n anderer Stelle erläutert Blackstone die Aufteilung des Government und die Zusammenarbeit der verschiedenen Teile. Er geht dabei von der Regelung der politischen Machtverhältnisse aus, wie sie seit der Glorious Revolution und seit Locke unbestritten in Geltung war, und interpretiert sie durchaus „modern" im Sinne einer Gewaltenverschränkung, eines Systems der Checks and Balances. „And herein indeed consists the true excellence of the English government, that all the parts of it form a mutual check upon each other. In the legislature, the people are a check upon the nobility, and the nobility a check upon the people; by the mutual privilege of rejecting what the other has resolved: while the king is a check upon both, which preserves the executive power from encroachments. A n d this very executive power is again checked and kept within due bounds by the two houses, through the privilege they have of inquiring into, impeaching, and punishing the conduct (not indeed of the king, which would destroy his constitutional independence; but, which is more beneficial to the public) of his evil and pernicious counsellors. Thus every branch of our civil polity supports and is supported, regulates and is regulated, by the rest . . . Like three distinct powers in mechanics, they jointly impel the machine of government . . ," 6 9 . Blackstones Commentaries wurden von Jeremy Bentham (1748—1832) heftig angegriffen. Bentham, der ursprünglich einen umfassenden „Comment on the Commentaries" verfassen wollte 7 0 , begnügte sich dann mit einer Teilveröffentlichung, die 1776 anonym unter dem Titel „ A Fragment on Government" erschien. Diese Schrift enthält zwar in erster Linie eine Kritik der Blackstoneschen Thesen, sie gewinnt aber dadurch eigenständigen Wert, daß der Autor bei der Auseinandersetzung mit Blackstone notwendigerweise seine eigenen Vorstellungen über das Thema herausarbeiten mußte. Man kann Bentham aufgrund dieser Untersuchungen als einen bedeutenden Theoretiker politischer Institutionen und sein Werk 68

S. 47. 1. Buch, 2. Kap., S. 154 f. 70 Entsprechende Manuskripte fanden sich im Nachlaß; vgl. J. Bentham, A Comment on the Commentaries. 69

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

als ein wesentliches Glied in der Kette englischer Staatslehre und »philosophie ansehen 71 . Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der von Blackstone bestimmten herrschenden Lehre hat Bentham die gemeinsame Basis, die in einer durch die Begriffe der Civil Society und des Government geprägten Grundvorstellung vom Staate besteht, nicht verlassen. So stellt er im ersten Kapitel seines „Fragment" die Frage nach der „Formation of Government", nach dem Ursprung hoheitlicher Gewalt oder, wie die deutsche Staatslehre ein entsprechendes Kapitel überschreiben würde, nach dem Wesen des Staates. Government entsteht nach Benthams Meinung durch gewohnheitsmäßigen Gehorsam („an habit of obedience"). Auf diese Weise verwandelt sich die ursprünglich vorhandene „natural society" allmählich in eine „political society". „When a number of persons (whom we may style subjects) are supposed to be in the habit of paying obedience to a person, or an assemblage of persons, of a known and certain description (whom we may call governor or governors) such persons altogether (subjects and governors) are said to be in a state of political society" 7 2 . Hier wie an vielen anderen Stellen verwendet Bentham für den, der die Staatsgewalt in Händen hält, auch den entsprechenden Ausdruck „governor", der sich allerdings in der Staatspraxis nur für wenige Regierende, nämlich die Gouverneure, durchgesetzt hat. Im zweiten Kapitel des „Fragment" behandelt Bentham, ausgehend von der altgewohnten Dreiteilung in Monarchie, Aristokratie und Demokratie, die „Forms of Government", die Staatsformen. Auch in diesem Zusammenhang wird keine besondere Rechtsperson „Staat" eingeführt, sondern es bleibt bei dem Government als einer Funktion der „political society". Bentham hat zwar ausnahmsweise das Wort „state", das er zumeist im Sinne von Zustand verwendet, als Bezeichnung für ein politisch organisiertes Gemeinwesen gewählt 7 3 , doch kommt diesem Wortgebrauch für seine Staatstheorie keine Bedeutung zu. überblickt man die Arbeiten von Hume, Blackstone und Bentham so läßt sich feststellen, daß alle drei an dem Grundschema festgehalten haben, das in Lockes „Two Treaties" bereits deutlich vorgezeichnet und das durch einen seines politischen Gehalts nicht entleerten Gesellschaftsbegriff und durch den funktionellen Government-Begriff bestimmt war. Das englische Staatsdenken des 18. Jahrhunderts übernahm insoweit die 71 F. C. Montague, Einl. S. 59, in: J. Bentham, A Fragment on Government; kritisch, insb. zu Benthams „Principles of Morals and Legislation", M. Weber, Jeremy Bentham. 72 A Fragment on Government, Kap. 1, Absdin. X. 73 So z.B. Kap. 1, Abschn. X X I V „an independent state", und Kap. 4, Abschn. X X V „in a state thus circumstanded, the road to a revolution . . .".

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Prinzipien, die sich am Ende des 17. Jahrhunderts in der nachrevolutionären Praxis des Staatslebens und i n der Lockeschen Theorie herausgebildet hatten. Alle politischen Denker der Zeit, so unterschiedlich ihre Vorstellungen im einzelnen sein mochten, waren sich auch darin einig, daß die Machtfülle des Government zum Schutze der Freiheit geteilt und in verschiedene Hände gelegt werden müsse. Legislative und Exekutive, Parlament und Krone waren die Eckpfeiler dieses Systems, in welchem dem Parlament die Führungsrolle zufiel. Dabei erscheint es bemerkenswert, daß der für die deutschen Staaten kennzeichnende Dualismus zwischen König und Ständevertretung in England nach dem Abschluß der Auseinandersetzungen, die das 17. Jahrhundert erschüttert hatten, nicht mehr in gleicher Weise spürbar wurde 7 4 . Ein Grund für diese Entwicklung könnte darin zu suchen sein, daß das britische Parlament ebenso wie die Krone Teil des Government war und daß beide als solche in einem Trust-Verhältnis zur politischen Gemeinschaft standen, während auf dem Kontinent der Monarch lange Zeit allein „den Staat" verkörperte, die Stände von staatlicher Repräsentation ausschloß und diese auf die Vertretung von als staatsfremd angesehenen gesellschaftlichen Interessen beschränkte. Die Lehre vom Government, wie sie für das englische Mutterland dargestellt wurde, hat auch in den amerikanischen Kolonien ihre Wirkungen entfaltet und die Grundlagen des staatlichen Zusammenschlusses der USA nachhaltig beeinflußt. John Lockes Staatsphilosophie beherrschte das amerikanische politische Denken am Ende des 18. Jahrhunderts. Locke war während der amerikanischen Revolution „die Parteilinie" 7 5 . Das ist nicht erstaunlich, wenn man berücksichtigt, daß die Kolonisten in der Mehrzahl sehr viel puritanischer waren als die alt-englische Bevölkerung und daß die Verbreitung Lockeschen Gedankenguts, vor allem seiner besitzbürgerfreundlichen Property-Ideologie und seiner Lehre vom Widerstandsrecht, mit den handfesten wirtschaftlichen Interessen der amerikanischen Siedler im Einklang stand. Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 kann geradezu als eine Exegese der „Two Treatises" gelten. Die dreizehn „United States of America" begründeten ihre Loslösung vom Mutterland staatstheoretisch mit der Lehre von der gewaltsamen Auflösung der Staatsgewalt, wenn diese ihre Treuhandstellung mißbraucht und den Besitz der Bürger gefährdet, anstatt ihn zu schützen 76 . Der folgende Auszug aus der Unabhängigkeitserklärung betont diesen treuhänderischen Charakter jedes Government deutlich: „That to secure these rights (erg. auf Leben, Freiheit und materiellen Besitz), Govern74

G. A. Ritter, Das britische Parlament im 18. Jahrhundert, S. 69 ff, 120. J. C. Miller, Origins of the American Revolution, S. 124. 76 Zur „dissolution of government" bei „breach of trust" vgl. die obigen Ausführungen (Teil I, Kap. 1, II.) zu John Lockes „Two Treatises of Government". 75

3 Frotscher

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

ments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its power in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness" 77 . Auch die wesentlichen Prinzipien der amerikanischen Verfassung vom 17. September 1787 beruhen auf denselben geistigen Grundlagen, die schon den Inhalt der Unabhängigkeitserklärung bestimmt haben. Allerdings ist in der Verfassungsurkunde selbst nicht ausdrücklich vom Government die Rede, sondern nur von den gemeinhin als den „three branches of government" bezeichneten 78 drei Gewalten der Legislative, der Exekutive und der Rechtsprechung. Umso mehr steht der Begriff des Government im Mittelpunkt eines die Verfassung ergänzenden und von dieser nicht zu trennenden Werks, der sog. Federalist Papers . Dabei handelt es sich um eine Zusammenfassung von Artikeln, die geschrieben wurden, um die öffentliche Meinung für die Ratifizierung des Verfassungsentwurfes von Philadelphia zu gewinnen, und die zu diesem Zweck die Grundzüge der Verfassung darstellten und verteidigten, unklare Bestimmungen erläuterten und die entscheidenden Verfassungssätze auch staatstheoretisch „untermauerten". So lassen sich die Federalist Papers zugleich als der erste Kommentar zur amerikanischen Verfassung und als die „klassische Einführung in die Grundprobleme des demokratischen Verfassungsstaates" 79 , also als ein bedeutendes Werk der Staatslehre apostrophieren, einer Staatslehre jedoch, die immer auf die konkrete politische Situation der USA in den Jahren 1787/88 zugeschnitten ist. In diesem Herzstück amerikanischer Staatstheorie nimmt der Government-Begriff eine zentrale Stellung ein. Government bezeichnet die politische Herrschaft, die öffentliche Gewalt, und spielt die Rolle, die sich in Deutschland „der Staat" erobert hat, ohne mit diesem bedeutungsgleich zu sein. Dementsprechend fragen die Autoren 8 0 des Federalist nach Wesen und Ursprung des Government und nach seiner zweckmäßigen Ausgestaltung. „ W h y has government been instituted at all? Because the passions of men w i l l not conform to the dictates of reason and justice without constraint" 81 . Wer diese Überlegungen mit „Warum werden 77

H. S. Commager, Documents of American History, Vol. I, S. 100. So E. Fraenkel, Das Amerikanische Regierungssystem, S. 181/182, Anm. 1 a. E. 79 C. von Oppen-Rundstedt, Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, S. 9. 80 Hamilton, Madison u. Jay; dazu J. Gebhardt, „The Federalist", S. 78 f. 81 The Federalist, Nr. 15 (S. 110). 78

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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überhaupt Regierungen eingesetzt?" ins Deutsche überträgt 82 , kann ihren Sinn leicht verfehlen. Selbst die zutreffendere Übersetzung „Warum ist der Staat überhaupt geschaffen worden?" 8 3 bedarf eigentlich eines Hinweises auf die Unterschiede in der deutschen und angelsächsischen Staatsauffassung. Ernst Fraenkel hat gerade im Zusammenhang mit dem Begriff „government" zu Recht darauf hingewiesen, daß sich in solchen Sprachnuancierungen „subtile Differenzierungen des politischen Denkens und Empfindens reflektieren, die in Rechnung gestellt werden müssen, wenn ein fremdes Regierungssystem v o l l verstanden werden soll" 8 4 . Das Government soll also nach Ansicht des Federalist die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit gewährleisten. Das w i r d an anderer Stelle noch einmal deutlich ausgesprochen: „Justice is the end of government. It is the end of civil society" 8 5 . Hier w i r d auch wieder die Verbindung von Herrschaft und politischer Gemeinschaft sichtbar. Der Begriff „ c i v i l society" wird im Federalist zwar nicht allzu häufig verwendet 8 6 , das Grundschema Lockescher Staatsphilosophie bleibt jedoch bestehen. Die treuhänderische Bindung des Government, die bei Locke auf relativ unbestimmter naturrechtlicher Basis beruhte, w i r d jetzt auf das positive Verfassungsrecht gestützt und durch die im Federalist erstmals ausgeprägte Konzeption der richterlichen Normenkontrolle, des sog. Judicial Review 8 7 , zusätzlich abgesichert. Die Idee der Gewaltenteilung wird von den Autoren des Federalist weiter ausgeformt, von ihrer monarchischständischen Grundlage befreit und auf einen republikanischen und demokratischen Staat übertragen 88 . Alle Einzelgewalten — Legislative, Exekutive und Judikative — fallen unter den umfassenden Begriff des Government. Sie werden als „powers of government", als „its several constituent parts" oder als „branches of government" bezeichnet 89 . Die Untersuchung hat deutlich gemacht, daß der Government-Begriff, wie er das englische Staatsdenken seit der Glorious Revolution beherrschte, auch in die amerikanische Staatstheorie eingedrungen ist. Während sich der Kern der Lockeschen Staatsauffassung in der Formel 82

So in der von F. Ermacora hg. dt. Übersetzung, S. 103. So C. von Oppen-Rundstedt, Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, S. 105. 84 Das Amerikanische Regierungssystem, S. 181, Anm. 1. 85 Federalist Nr. 51 (S. 324). 86 S. etwa noch Federalist Nr. 37 (S. 226): „chief blessings of civil society"; u. Nr. 39 (S. 241): „government . . . be derived from the great body of the society". 87 Federalist Nr. 78; dazu C. von Oppen-Rundstedt, Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, S. 98 ff. 88 Federalist Nr. 47—51. 89 Federalist Nr. 48 (S. 310, Jefferson-Zitat), Nr. 51 (S. 320) u. Nr. 39 (S. 240). 88

3*

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

ausdrücken ließe „Government is the trustee of the civil society", lautet der entsprechende Grundsatz im Amerikanischen: „The government is the trustee of the people" 9 0 . Die sprachliche Nuancierung trägt einer demokratischen Gesellschaftsstruktur Rechnung, von der Locke noch nicht ausgehen konnte. Seine „civil society" hat sich in England erst sehr viel später zur „Volks"-Gesellschaft erweitert 9 0 3 .

IV* Bedeutungsentwicklung im 19. Jahrhundert Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich in England neben dem umfassenden, funktionellen auch ein engerer, organisatorischer GovernmentBegriff entwickelt. Er kennzeichnet die Personen bzw. Organe, die der Krone die tatsächliche Leitung der Exekutive und dem Parlament die eigentliche Staatsführung abgenommen haben, nämlich das „Cabinet", von dem Bagehot gesagt hat, es sei ein „committee of the legislative body selected to be the executive body" 9 1 . Freeman erinnert sich in seinem 1872 erschienenen Buch „The Growth of the English Constitution from the Earliest Times", daß sich zu seinen Lebzeiten der sprachliche Wandel vollzogen habe: „We now familiarly speak, in Parliament and out of Parliament, of the body of Ministers actually in power, the body known to the Constitution but wholly unknown to the Law, by the name of ,the Government'. We speak of ,Mr. Gladstone's Government' or ,Mr. Disraeli's Government'. I can myself remember the time when such a form of words was unknown, when »Government' still meant .Government by King, Lords, and Commons', and when the body of men who acted as the King's immediate advisers were spoken of as »Ministers' or ,the Ministry' " 9 2 . Die Übertragung des ursprünglich rein funktionellen Begriffes auf das Organ, welches diese Funktion am intensivsten ausübt, ist offenkundig und findet in der Entwicklung des Begriffes „Regierung" im Deutschen ihre Entsprechung 98 . Der organisatorische Government-Begriff hat heute seinen festen Platz im englischen Staats- und Verfassungsrecht. Da dieses in viel stärkerem Maße als in Deutschland empirisch ausgerichtet ist und infolgedessen den Staatsorganen größere Beachtung schenkt als „dem Staat als solchem", herrscht der organisatorische Government-Begriff in den Lehrbüchern des „Constitutional Law" vor. „The Central Government" oder 90

E. Fraenkel, Das Amerikanische Regierungssystem, S. 181. Als Wendemarke kann man die zweite Wahlrechtsreform von 1867 ansehen. 91 W. Bagehot, The English Constitution, S. 66. 92 S. 118. 98 Vgl. Teil I I der Arbeit, Kap. 1, II. 90a

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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„His (Her) Majesty's Government" bezeichnet das Kabinett und die Ministerien („Central Departments") 94 , ist also dem organisatorischen Regierungsbegriff im Deutschen, wie er im Grundgesetz durch „die Bundesregierung" vorgegeben ist, vergleichbar. Daneben hat der funktionelle Government-Begriff seine alte Bedeutung behalten. Zwar hat auch das Wort „state" in der englischen Staatstheorie teilweise Verwendung gefunden, ohne sich jedoch gegenüber dem Begriff „government" durchsetzen zu können und, was am wichtigsten erscheint, ohne die englische Staatsauffassung in Richtung auf den „klassischen", von Hegel bestimmten deutschen Staatsbegriff zu verändern. So hat Salmond in seiner Rechts- und Staatslehre den Government-Begriff auf seinen organisatorischen Gehalt beschränkt 95 und im übrigen den Begriff „State" eingeführt. „The State" wird bei ihm jedoch nicht zu einer selbständigen Rechtsperson, die der Gesellschaft gegenübertritt, sondern bleibt mit der „political society" identisch. „ A state or political society is an association of human beings established for the attainment of certain ends by certain means. It is the most important of all the various kinds of society in which men unite" 9 8 . Der deutsche Idealismus und die Hegeische Staatslehre haben auch in England Anhänger gefunden wie z.B. Thomas H i l l Green und Bernard Bosanquet 97 , aber diese Strömung hat keine weitreichende und fortdauernde Wirkung erzielt. Das 19. Jahrhundert, in dem in Deutschland die Hegeische Verabsolutierung des Staates und dessen Trennung von der Gesellschaft zum vollen Durchbruch gelangten, bedeutete für England die Fortentwicklung des liberalen Verfassungsstaates, den John Locke und die Revolutionen des 17. Jahrhunderts vorbereitet hatten. Ein „Exponent des Viktorianischen Liberalismus" 98 , John Stuart Mill , hat seine Vorstellungen über den Staat und dessen zweckmäßigsten inneren Aufbau in der 1861 veröffentlichten Schrift „Considerations on Representative Government" dargestellt. Das Repräsentativsystem erschien ihm zwar als die beste Staatsform, doch seine Furcht vor einer „Tyrannei der Mehrheit" 9 9 ließ ihn die individuelle Freiheit über das demokra94 Vgl. etwa K. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, S. 403; J. F. Garner, Administrative Law, S. 27; D. C. M. Yardley, Introduction to British Constitutional Law, S. 67 f. 95 J. Salmond, Jurisprudence, S. 156. 96 J. Salmond S. 139. 97 Weitere Hinweise bei F. Darmstaedter, Der englische Staatsgedanke und die deutsche Theorie, S. 541. Bezeichnend ist bereits der Titel von Bosanquets Werk „The Philosophical Theory of the State". Vgl. dort insb. Kap. 9 u. 10, in denen sich der Verf. mit Hegels Rechtsphilosophie auseinandersetzt. 98 So die Einschätzung bei G. Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 446. 99 Vgl. dazu seine Schrift „On Liberty", S. 5: „the tyranny of the majority".

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

tische Gleichheitsgebot stellen. Government und Society waren für M i l l die Grundpfeiler im Verfassungsgefüge. Ausgehend von der Gesellschaft suchte er nach den Kriterien für eine „good form of government". Die enge Beziehung von Government und Society w i r d besonders am Eingang des 2. Kapitels deutlich, wo er die Frage stellt: „What are the distinctive characteristics of the form of government best fitted to promote the interests of any given society" 1 0 0 . Dabei w i r d die staatliche Gewalt nur als Mittel zur Beförderung gesellschaftlicher Zielsetzungen und Interessen betrachtet: „for, government altogether being only a means . . . " Im Ergebnis sah M i l l das ideale Government dort als verwirklicht an, wo „die Souveränität oder höchste Kontrollgewalt in letzter Instanz bei der Gesamtheit der politischen Gemeinschaft" liegt 1 0 1 . M i l l nahm auch den Gedanken des „trust" auf, dehnte ihn jedoch in fragwürdiger Weise von den Repräsentanten, den Abgeordneten, auf die Wähler aus, um so die Ablehnung des geheimen Wahlrechts begründen zu können 1 0 2 . Er beschränkte das Trust-Verhältnis zur Gesellschaft also nicht auf die Ausübung öffentlicher Gewalt (auf das Government), sondern erstreckte es auf alle öffentlichen Angelegenheiten, zu denen er auch den Wahlvorgang rechnete. Mills „großer theoretischer Gegenspieler" 103 war Walter Bagehot, dessen „English Constitution" 1867, also wenige Jahre nach Veröffentlichung des „Representative Government" gedruckt wurde. Bagehot war allerdings nur ein Gegenspieler innerhalb derselben politischen Richtung. Zwischen ihm und M i l l bestand kein fundamentaler Gegensatz in den Uberzeugungen. Beide waren Liberale, die darin übereinstimmten, daß die Vorherrschaft im politischen Bereich dem Bürgertum gehören sollte und daß man die „lower classes", also die Arbeiterklasse, von den Schalthebeln der Macht weitgehend fernhalten müsse 104 . Sie unterschieden sich dagegen in der konkreten Einschätzung des englischen Verfassungslebens und vor allem im methodischen Ansatz ihrer Untersuchungen. Bagehots Arbeit war weniger theoretisch als praktisch ausgerichtet. Er wollte, wie er selbst mit einem deutlichen Angriff gegen Mills „Representative Government" sagte, keine „paper description" liefern, sondern die „living reality" analysieren 105 .

100

Considerations on Representative Government, S. 7. Ebd., S. 21. 102 Ebd., S. 80. 108 H. Rausch, J. St. Mill, S. 261. 104 Vgl. etwa W. Bagehot, The English Constitution, S. 277 (Einl. zur 2. Aufl., 1872), und dazu R. H. S. Crossman, Einf. zu Bagehots „English Constitution", S. 6 ff. 105 S. 59. 101

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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Bei diesem Ausgangspunkt ist es nicht erstaunlich, daß Bagehot den Staats- bzw. Government-Begriff als solchen nicht ausdrücklich erörterte. Aber hinter der Beschreibung der Verfassungswirklichkeit wird eine Vorstellung vom Staate sichtbar, die i n ihrem Kern nicht von dem Bild abweicht, das bisher als repräsentativ für die englische Staatslehre gezeichnet wurde. Auch Bagehot ging nicht von einer selbständigen Rechtsperson „Staat", sondern von der alles Staatliche umfassenden Funktion des Government aus. Die gelegentliche Verwendung des Wortes „State" 1 0 6 steht dem nicht entgegen. Das Government wird von Bagehot in verschiedene Teile aufgegliedert. Er lehnte jedoch die herkömmliche Einteilung in die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Rechtsprechung als zu theoretisch ab. Stattdessen schlug er eine Zweiteilung in von ihm sog. „dignified parts of Government" und „efficient parts of Government" vor, die nach seiner Ansicht der praktischen Handhabung der englischen Verfassung besser entsprach 107 . Zu den „dignified parts of Government", die er keineswegs als überflüssiges Rankenwerk, sondern vielmehr als wichtigen integrierenden und die staatliche Autorität begründenden Faktor ansah, rechnete Bagehot die Krone und das Oberhaus. Dem Unterhaus schrieb er zwar auch einen „dignified aspect" zu, der jedoch gegenüber seiner Bedeutung als „efficient part of Government" hintanstand 108 . Hauptaufgabe der Commons, so meinte Bagehot, sei die Wahl des Premierministers. Das Kabinett in seiner Gesamtheit aber bilde den Schwerpunkt dieses Regierungssystems und zeige zugleich — entgegen allen landläufigen Theorien über die Gewaltenteilung in der englischen Verfassung — eine fast völlige Verschmelzung von Legislative und Exekutive 1 0 9 .

V . Government-Begriff und angelsächsische Staatsauffassung heute Der Government-Begriff ist bis heute ein Grundstein englischer Staatsauffassung geblieben. Hier kann nicht jeder Wortgebrauch wiedergegeben werden, den die einschlägige englische Literatur in bezug auf das Government vorgenommen hat. Zumeist, daran ist noch einmal zu erinnern, erörtert der das empirische Denken bevorzugende Engländer überhaupt nicht die Frage des „Staates an sich" oder des „Government als solchen", sondern er beschäftigt sich mit dem Aufbau und Zusammen108

So z. B. S. 63, 68, 95, 214. S. 61 ff; dazu eingehend F. Nuscheler, Walter Bagehot und die englische Verfassungstheorie, S. 40 ff. 108 S. 150. 109 S. 65. 107

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

spiel konkreter Verfassungseinrichtungen. Dabei wird jedoch immer wieder die umfassende, alles Staatliche einschließende Bedeutung des Government-Begriffes durchsichtig, etwa in der häufig wiederkehrenden Formulierung von der Legislative, der Exekutive und der Rechtsprechung als den „three functions (branches, powers) of government" 1 1 0 . Die Encyclopaedia Britannica versteht den Begriff „government" in diesem weiten funktionellen Sinn: „Wherever men attempt to work together through organization, government arises" 111 . Die übliche und für die Staatslehre notwendige Beschränkung auf den staatlich-politischen Bereich w i r d nur angedeutet 112 , weil die Encyclopaedia ihre Fragestellung auf das gesamte soziale Phänomen „Herrschaft" erstreckt. Es folgt der Versuch, die Begriffe „government" und „state" voneinander abzugrenzen: „It is important to distinguish the much broader phenomenon of government from the concept of the state, although many writers, especially in Europe, continually confuse the two and speak of the theory of the state when they really mean the theory of government". Nicht die kontinentalen Schriftsteller, sondern die Encyclopaedia bringt hier die Begriffe durcheinander, indem sie allein von der lexikalischen Übereinstimmung State = Staat ausgeht und die Entwicklung der Staatstheorie in England und auf dem Kontinent, i i i deren Verlauf die Begriffspaare State, Staat (bzw. Etat) und Government, Regierung (bzw. Gouvernement) einen unterschiedlichen Sinngehalt angenommen haben, nicht berücksichtigt. Die Untersuchung hat gezeigt, daß die englische Staatstheorie die für den kontinental-europäischen Staatsbegriff wesentlichen Elemente mit dem Wort „government" begreift. Eine selbständige Rechtsperson „Staat" fehlt daneben. Eine „theory of government" ist also in der Tat eine „ StaatstheorieEnglische Staatslehren tragen dementsprechend häufig den Titel „Treatise of government". „Die Grundbegriffe des englischen und amerikanischen Verfassungsdenkens sind nicht ,Staat' und ,Gesellschaft', sondern ,civil society' und .government'. Der Begriff government' vereinigt dabei institutionelle und personale Momente, Grundbegriff seines Verhältnisses zur ,civil society' ist der ,trust' " 1 1 3 . Im Ergebnis gilt es festzuhalten, daß der Begriff „government" in seiner funktionellen Bedeutung dem deutschen „Staat" entspricht, allerdings nur insoweit, als er den Bereich des Staatlichen, also die Ausübung von Hoheitsgewalt kennzeichnet. In der inhaltlichen Ausgestaltung dieses 110 Z. B. J. F. Garner , Administrative Law, S. 6; O. H. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 12 ff; J. Prophet, The Structure of Government, S. 5 f. 111 Bd. 10, S. 561. 112 Vgl. ebd.: „While it is usual to think of a nation or other large group when talking of a government . . .". 118 H. Ehmke, Staat und Gesellschaft, S. 23.

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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Bereiches bestehen dagegen grundlegende Unterschiede zwischen deutscher und englischer Staatsauffassung. Das Government erscheint nur als eine Funktion der von der Sphäre des Politischen nicht getrennten Gesellschaft. Woodrow Wilson hat diese Beziehungen in seinem „Staat" zutreffend zum Ausdruck gebracht: „ Society, it must always be remembered, is vastly bigger and more important than its instrument, Government. Government should serve Society, by no means rule or dominate it. Government should not be made an end in itself; it is a means only, — a means to be freely adapted to advance the best interests of the social organism" 1 1 4 . Den bloß instrumentalen Charakter des Government, wie er für die englische Staatstheorie seit Locke kennzeichnend ist, hat auch Frederick Pollock in einem Essay über das „Second Treatise of Government" betont, wenn er schreibt: „Nowadays we should all agree w i t h Locke as against Hobbes that government is the instrument and not the creator of society" 1 1 6 . Hobbes, vor allem aber Hegel und die an dessen Auffassung vom Staat als der Inkarnation des objektiven Geistes anknüpfende klassische deutsche Staatstheorie bezeichnen die Gegenposition. Für Hegel war der Staat gerade „not means but end"11®. Der Government-Begriff ist, wie die Untersuchung weiter ergeben hat, untrennbar mit der Stellung der Gesellschaft in der englischen Staatstheorie verknüpft. Das Government konnte sich gar nicht verselbständigen und in Richtung auf eine Verabsolutierung des Staates entwickeln, solange die Gesellschaft der primäre Faktor des politischen Geschehens blieb und nicht — wie im deutschen Staatsdenken des 19. Jahrhunderts — aus der eigentlichen Sphäre des Politischen heraus und in eine negativ bewertete 1 1 7 Bürgerlichkeit hinein gedrängt wurde. England hat die für das europäische Festland charakteristische Spaltung der societas civilis in die beiden einander entgegengesetzten Begriffe „Staat" und „Gesellschaft" nicht mitvollzogen 1 1 8 . Die Gesellschaft wahrte vielmehr ihr Wesen als eine „political" oder „civil society", die sich des Government als eines bloßen Mittels zur Erreichung ihrer Zwecke (wie immer diese auch 114

Th. W. Wilson, The State, § 1279. F. Pollock, Locke's Theory of the State, S. 100. 118 G. H. Sabine, A History of Political Theory, S. 553. Ähnlich L. T. Hobhouse, Die metaphysische Staatstheorie, S. 154: „Nach der demokratischen oder humanitären Auffassung ist der Staat Mittel. Nach der metaphysischen (Gemeint sind Hegel und die preußische Staatstheorie. D. Verf.) ist er Ziel". 117 G. Leibholz, Staat und Gesellschaft, S. 111 f., hat darauf hingewiesen, daß sowohl das typisch nationalstaatliche wie das traditionell preußisch-deutsche Staatsdenken „die Gesellschaft rein negativ bewertet hat". 118 G. A. Ritter, Nation und Gesellschaft in England, S. 66. Zum Auseinanderfallen der societas civilis in „Staat" und „Gesellschaft" vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft, S. 114 f. 115

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

bestimmt wurden: als „preservation of property", als „justice" oder mit einer utilitaristischen Grundformel als „greatest happiness of the greatest number") bediente. Ideengeschichtliche Erklärungen sind unvollständig, wenn man die konkrete, d. h. die „verfassungswirkliche" historische Entwicklung unberücksichtigt läßt. Der Begriff der Gesellschaft konnte in England nur deshalb seine Vorrangstellung im politischen Bereich bewahren, weil die Civil Society in den Verfassungskämpfen des 17. Jahrhunderts siegreich blieb und nicht wie in den kontinentaleuropäischen Ländern vom Absolutismus zurückgedrängt wurde. Anders — wie noch zu zeigen sein wird — als „die Regierung" in Deutschland wurde das Government nicht zu einer Funktion des Monarchen, sondern blieb seit der Glorious Revolution ein Werkzeug der Gesellschaft. Ausschlaggebender Teil des Government war nicht die Exekutive, sondern die Legislative, an der das englische Königtum zwar beteiligt war, ohne sich jedoch dem bestimmenden Einfluß des Parlaments entziehen zu können. Der Government-Begriff hat so nie einen demokratiefeindlichen monarchisch-absolutistischen Anstrich erhalten, wie er für die entsprechenden Begriffe des „gouvernement" und der „Regierung" in Frankreich und Deutschland zeitweise kennzeichnend war 1 1 9 . Das Government war „a means (instrument) of civil society", nicht „a means of monarchy". Diese politisch wirksame Gesellschaft, an die das Government gebunden blieb, war lange Zeit auf den Adel und das Besitzbürgertum beschränkt. Sie war also nicht mit dem demokratischen Begriff des Staatsvolkes gleichzusetzen. Erst die zweite Reform Bill von 1867 stellte die „civil society" auf eine breitere Basis, indem sie das Wahlrecht und damit die Aktivbürgerschaft auf die städtische Arbeiterschicht ausdehnte. Die dargelegte englische Staatsauffassung kann deshalb auf keinen Fall den Rang einer idealen oder jedenfalls einer von Grund auf demokratischen Staatskonzeption beanspruchen. Das Government-Modell ist ein staatliches Organisationsschema, das durchaus mit verschiedenen Inhalten gefüllt sein kann. „Government" ist nicht schon von seinem Begriff her, quasi automatisch, wie Fraenkel meint, „die Obrigkeit einer fundamentaldemokratischen Gesellschaftsordnung" 120 . Government und Civil Society bezeichnen im Gegenteil durch Jahrhunderte das Grundschema eines für heutige Maßstäbe viel zu liberalen und keineswegs „fundamental-demokratischen" Verfassungsstaates. Locke hatte dem Government vor allem eine Schutzfunktion („preservation") zugesprochen, die zur Gewährleistung des Rechtsstaates führte. Für den modernen Sozialstaat einer indu119

und 4. 120

Dazu im ersten Teil dieser Arbeit, Kap. 2, und im zweiten Teil, Kap. 3 Das amerikanische Regierungssystem, S. 181 Anm. 1 a. E. (S. 182).

1. Kap.: Der Begriff „government" im englischen Recht

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striellen Massengesellschaft ist dieses Ziel zu eng. Das Government muß deshalb heute weitere Funktionen treuhänderisch übernehmen. Dem steht die durch die Grundbegriffe des Government und der Civil Society gekennzeichnete englische Staatsauffassung nicht entgegen. Darin liegt ihr Wert. Sie verbaut nicht wie die an Hegel und der Trennung von Staat und Gesellschaft ausgerichtete traditionelle deutsche Theorie den Weg zu einem heutigen Bedürfnissen angepaßten Staatsverständnis. Der Gedanke des „trust" unterstreicht dabei die demokratisch wünschenswerte Bindung des Government an die Basis.

2. Kapitel

Der Begriff „gouvernement" im französischen Verfassungsredit I. Ancien Régime1 Der Begriff „gouvernement" wird ebenso wie der englische Govemment-Begriff von dem lateinischen „gubernare" abgeleitet 2 . Er findet sich, i n der altertümlichen Schreibweise „governement", zum ersten M a l in einem Sermon Bernhards von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert 3 . Staatsrechtliche Bedeutung erlangte das Gouvernement zunächst als Kennzeichnung eines militärischen Verwaltungsbezirks. M i t diesem Sinngehalt erscheint das Wort „gouvernement" bereits am Ende des 13. Jahrhunderts, als man diejenigen Gebiete so nannte, deren Schutz i n Kriegszeiten einem „lieutenant général" des Königs besonders anvertraut war 4 . Die Gouvernements waren Einheiten der militärischen Verwaltung des Königreichs. Bis zum 15. Jahrhundert gab es keine festen Regeln für die Schaffung, den Umfang und die Bezeichnung solcher Militärbezirke, die allein nach den Bedürfnissen des Augenblicks eingerichtet wurden. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurden die Gouvernements in den besonders gefährdeten Grenzgebieten des Königreichs institutionalisiert. Das waren la Provence, la Guyenne, le Languedoc, le Dauphiné, la Bourgogne, la Champagne, la Brie, la Picardie und la Normandie 5 . Im 16. Jahrhundert wurde dann ganz Frankreich in Gouvernements einge1 Unter „Ancien Régime" wird hier entsprechend einer geläufigen Terminologie (E. Schmitt, Neuere Forschungen zur Geschichte der französischen Generalstände, Der Staat 1972, S. 528, mit weit. Hinweisen) die politische und soziale Ordnung Frankreichs von der Feudalzeit bis zur Revolution von 1789 verstanden. 2 E. Gamillscheg, Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache, S. 491 ; O. Bloch / W. v. Wartburg, Dictionnaire Etymologique de la Langue Française, S. 297. 3 A. Hatzfeld / A. Darmesteter / A. Thomas, Dictionnaire général de la Langue Française du Commencement du XVIIe Siècle jusqu' à nos jours, S. 1184. 4 Ch. M ortet, in: La Grande Encyclopédie, Bd. 19, S. 76; R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 395; M. Marion, Dictionnaire des Institutions de la France aux XVIIe et XVIIIe Siècles, Stichwort „Gouvernements", S. 259 f; W. Schaeffner, Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs, Bd. II, S. 339, nennt das Ende des 14. Jh. 5 Ch. M ortet ebd.

2. Kap.: „Le gouvernement

im französischen Verfassungsrecht

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teilt. Neben den ursprünglich ein größeres Gebiet umfassenden (Provinz-) Gouvernements bildeten sich auch kleinere, sog. „gouvernements de villes", die von ersteren unabhängig waren. Franz I. beschränkte die Zahl der größeren Gouvernements durch ein Edikt vom 6. M a i 1545 auf vierzehn. Neben den oben aufgeführten neun Gouvernements gehörten noch l'Isle-de-France, la Bretagne, le Piémont, la Savoie und la Bresse dazu 6 . Das Edikt betonte ausdrücklich, daß es sich um eine Einrichtung der militärischen Sicherheit handelte, die nur für die Grenzprovinzen gedacht war und die von einer entsprechenden Anordnung des Königs abhing. In dem Edikt von 1545 sind bereits die Schwierigkeiten angedeutet, mit denen die französischen Könige im Verhältnis zu den Gouvernements zu kämpfen hatten. Nicht genug, daß sich Unbefugte fern der Grenzen des Königreichs den Titel eines „gouverneur" anmaßten, auch die rechtmäßigen Gouverneure blieben häufig nicht innerhalb des ihnen abgesteckten Aufgabenbereichs. Die Gouvernements sollten eigentlich nur Aufgaben der militärischen Verteidigung und der Truppenaufstellung, nicht dagegen solche der allgemeinen Verwaltung wahrnehmen. Die Gouverneure dehnten ihre Macht jedoch über den rein militärischen Bereich hinaus auf andere Sachgebiete aus. Sie griffen in allgemeine Verwaltungsangelegenheiten und in die Rechtspflege ein, erließen Verordnungen und erhoben gelegentlich sogar Steuern nach eigenem Gutdünken 7 . Ihr Machtzuwachs erfolgte vor allem auf Kosten der Baillis. Der französischen Krone konnte diese Entwicklung nicht gleichgültig sein, zumal sich die Gouverneursschicht aus dem hohen Adel, also aus den feudalen Gewalten, zusammensetzte. Die französischen Könige haben deshalb wiederholt versucht, die Mißbräuche abzustellen, die mit der Institution des Gouvernements verbunden waren. Neben dem Edikt von 1545 war vor allem die Ordonnance de Blois vom M a i 15798 auf dieses Ziel gerichtet. Heinrich III. erließ die Ordonnance im Anschluß an die Versammlung der Generalstände im November 1576, auf der mannigfache Klagen und Beschwerden über den Zustand der Verwaltung des Königreichs vorgebracht worden waren. Gemäß Art. 271 der Ordonnance wurde die Zahl der Gouvernements auf zwölf verringert 9 . Für jedes Gouvernement wurden ein Gouverneur und ein „lieutenant" eingesetzt, deren Aufgaben genau bestimmt waren. Art. 273 der Ordonnance legte 6 Edikt v. 6. 5.1545, in: Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 12, Nr. 399 (S. 892 f.). Ch. Mortet kommt auf die Zahl dreizehn, weil er la Champagne und la Brie als ein Gouvernement betrachtet. 7 R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 395; W. Schaeffner, Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs, Bd. I I 1, S. 339; M. Marion, Dictionnaire des Institutions de la France, S. 260. 8 Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 14, 2. Hälfte, Nr. 103 (S. 380 ff., insb. S. 441 f.). • Vgl. die Übersicht bei L. A. Warnkönig, Französische Staatsgeschichte, S. 506.

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

für beide eine Residenzpflidit fest, und Art. 274 untersagte ihnen jeden Eingriff in die Rechtspflege oder i n königliche Souveränitätsrechte. Ihre Befugnisse umschrieb Art. 274 dahin „de prester ayde et secours de force militaire à la justice, pour l'exécution des sentences et jugemens de nosdits prevosts de Paris, baillifs et sénéchaux, et arrests de nos parlemens, et tenir les pays à eux commis en sûreté, les garder de pilleries, visiter les places fortes, et nous avertir des entreprises qu'on pourroit faire en nos royaumes, pays et terres de nostre obéissance qui sont de leurs gouvernemens". Die in der Ordonnance de Blois angegebenen zwölf Gouvernements bildeten seit Ludwig XIII. auch die Grundlage ständischer Wahlen 1 0 . Sie waren militärverwaltungsmäßig in verschieden große Unterbezirke gegliedert, die „lieutenances de roi" genannt wurden 1 1 . Daneben bestanden die von den Provinzgouvernements unabhängigen „gouvernements de villes et places fortes" in großer Zahl weiter. Diese kleinen Gouvernements wurden durch ein Edikt vom August 169612 in jeder festen Stadt eingerichtet. Bis zum Ende des Ancien Régime stieg die Zahl der (Provinz-) Gouvernements wieder stetig an: Im Jahre 1789 waren es im französischen Mutterland allein vierzig, zu denen noch drei Generalgouvernements und sechs Sondergouvernements für die Kolonien kamen 18 . Die Institution der Gouvernements fand ihr Ende durch ein Dekret der verfassunggebenden Nationalversammlung vom 22. Dezember 1789, gefolgt von dem Gesetz vom 26. Februar 1790, mit dem der Begriff „département" für die neue verwaltungsmäßige Gliederung des Landes eingeführt wurde. Es bleibt festzuhalten, daß der Begriff „gouvernement" in dem beschriebenen Sinne der territorialen Abgrenzung eines militärischen Verwaltungsbezirks diente. Es handelte sich also um einen formellen oder institutionellen Begriff des Staatsrechts. Daneben gab es im Ancien Régime auch einen materiellen Gouvernement-Begriff. Er bezeichnete, ähnlich wie die Begriffe „government" und „Regierung" in der englischen und deutschen Staatsrechtslehre der frühen Neuzeit 1 4 , die Ausübung staatlicher Herrschaft in einem weiten und allgemeinen Sinn. Einige Beispiele aus der Verfassungspraxis und aus der Theorie sollen diesen Bedeutungsgehalt des Wortes „gouvernement" 10 W. Schaeffrier S. 340; vgl. auch die Liste der Mitglieder der 3 Stände auf dem Reichstag von 1614, abgedruckt bei L. A. Warnkönig, Anh. S. 64 ff. 11 Ch. Mortet S. 77. 12 Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 20, Nr. 1609 (S. 274). 18 Ch. Mortet S. 77; Warnkönig (S. 526) spricht von 41 Gouvernements. 14 Vgl. oben im ersten Teil der Arbeit, Kap. 1, u. unten im zweiten Teil, Kap. 1 u. 2.

2. Kap.: „Le gouvernement 11 im französischen Verfassungsrecht

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aufzeigen. So sprach der Kanzler des Herzogs von Orléans, Denys Lemercier, schon 1484 in einer Rede vor dem Pariser Parlament, in der er sich kritisch mit den Regierungsverhältnissen im Königreich auseinandersetzte, von dem „gouvernement du royaume" 1 5 . In einer königlichen Deklaration vom Juli 1648 wurde der Begriff „gouvernement de la monarchie" in dem gleichen Sinn gebraucht 16 . Auch das Pariser Parlament, das mit dem Aufhören der Generalstände die letzte bedeutende Instanz ständischer Regierungskontrolle bildete 1 7 , verwendete in einer Beschwerdeschrift an den König vom 21. Januar 1649 wiederholt einen weit gefaßten materiellen oder funktionellen Gouvernement-Begriff, um damit die Herrschaft einer politischen Gruppe („le gouvernement de ces puissances"), die Herrschaft über die Person des Königs und den Staat („le gouvernement de votre personne et de votre état") oder die verschiedenen Formen der Ausführung staatlicher Gewalt („toutes sortes de gouvernemens") zu kennzeichnen 18 . Schließlich ist noch auf eine königliche Deklaration vom 15. September 1715, also kurz nach dem Tode Ludwigs X I V . und der Krönung Ludwigs XV., hinzuweisen, mit der verschiedene neue Ratskollegien ins Leben gerufen wurden, darunter ein „conseil général", der sich mit „toute l'étendue du gouvernement" beschäftigen sollte. Die neue Einrichtung wurde damit begründet, daß Ludwig X V . in Anbetracht seiner Jugend die Last der Regierung noch nicht allein tragen könne („suffire seul au gouvernement de son royaume") 19 . Auch der Staatstheorie des Ancien Régime war dieser GouvernementBegriff geläufig, ohne daß er sich jedoch wie das englische „government" zu einem Leitbegriff des politischen Denkens in Frankreich entwickelte. Bei Bodin war „le gouvernement" Bestandteil seiner am Anfang aller weiteren Überlegungen stehenden und immer wieder aufgegriffenen Definition des Staates: „République est un droit gouvernement de plusieurs ménages et de ce qui leur est commun avec puissance souveraine" 2 0 . „La République" wird hier noch in ihrem ursprünglichen Sinne als res publica, also als Gemeinwesen oder Staat, verstanden. Auch die Monarchie war für Bodin „une sorte de République" 21 . Der Begriff „gou15 Im Auszug aus den Parlamentsakten wiedergegeben in: Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 11, Nr. 29 (S. 119 ff.). 19 Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 17, Nr. 103 (S. 86/87). 17 Dazu R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 321. 18 Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 17, Nr. 136 (S. 123 ff.). 19 Recueil Général des Anciennes Lois Françaises, Bd. 21, Nr. 5 (S. 36 f.). 20 Six Livres de la République, 1. Buch, Kap. 1. Der Originaltext wurde lediglich in ein modernes Französisch übertragen. Die später von Bodin selbst verfaßte lateinische Ausgabe seines Werkes bringt keinen weiteren Aufschluß über den Gouvernement-Begriff. 21 Six Livres de la République, 2. Buch, Kap. 2.

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

vernement" bedeutet in der angegebenen Definition des Staates soviel wie „Herrschaft", „Obrigkeit", „Regierung" im weitesten Sinne 22 . Eine rechtmäßige Herrschaft über mehrere Haushaltungen und deren Besitz, ausgestattet mit dem Attribut souveräner Gewalt, stellte also für Bodin einen Staat dar. Aber während Staat und Souveränität, „la République" und „la Souveraineté", im Mittelpunkt Bodinscher Staatslehren stehen, gewinnt der Begriff „gouvernement" keine zentrale Bedeutung. Man sollte sich in diesem Zusammenhang den Unterschied zu Locke und zu dessen auf die „civil society" und auf das „government" aufgebaute Staatskonzeption vergegenwärtigen. Während Bodin von dem in der Person des absoluten Monarchen verkörperten Staat ausgeht, verlegt Locke das Schwergewicht staatlich-politischen Lebens in die Gesellschaft. Bodin schreibt — auf eine vereinfachende 23 Formel gebracht — für den Absolutismus, Locke wendet sich gerade gegen ihn. Beiden ist gemeinsam, daß ihre Lehren jeweils der tatsächlichen politischen Kräfteverteilung entsprechen, die sich in den Machtkämpfen innerhalb ihrer Heimatländer durchgesetzt hat. Der Absolutismus erreichte seinen Höhepunkt in Frankreich am Ende des 17. Jahrhunderts. In der Folgezeit waren überall in den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit neue politische Ideen im Vordringen. Die französische Krone hielt allerdings noch lange an ihrem Absolutheitsanspruch fest. So hat Ludwig X V . in einer königlichen Gerichtssitzung (sog. Lit de Justice) am 3. März 1766 das Wesen der absoluten Monarchie ebenso deutlich zum Ausdruck gebracht wie zuvor Ludwig X I V . mit seinem unbewiesenen Ausspruch „L'Etat c'est moi". Ludwig X V . erklärte, wie er sich „le gouvernement de son royaume" 2 4 vorstellte, mit den Worten: „C'est en ma personne que réside la puissance souveraine . . c'est à moi seul qu'appartient le pouvoir législatif, sans dépendance et sans partage, c'est par ma seule autorité que les officiers de mes cours procèdent non à la formation, mais à l'enregistrement et à la publication de ma loi . . . L'ordre public tout entier émane de moi, j'en suis le gardien 22 Ebenso H. Striesow, Bodins Staatslehre, S. 11 u. 12; dazu auch H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, S. 308 f. 23 Vereinfachend deshalb, weil Bodin dem Monarchen auch gewisse Bindungen (an die Naturgesetze) auferlegt und sich selbst gegen den Vorwurf, er sei Absolutist, verteidigt hat; dazu G. Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, S. 182. Die Bindung an das Naturgesetz wird bereits in der Formel des „droit gouvernement" deutlich (J. Chanteur, L'Idée de Loi Naturelle dans la République de Jean Bodin, S. 195). Unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich des absolutistischen Gehalts der Bodinschen Staatslehre zeigten sich auch in den Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung 1970 in München; vgl. etwa die Beiträge von J. H. Franklin (Jean Bodin and the End of Médiéval Constitutionalism) und U. Scheuner (Ständische Einrichtungen und innerstaatliche Kräfte in der Theorie Bodins). 24 Vgl. oben (Anm. 19) die königliche Deklaration vom 15. 9.1715.

2. Kap.: „Le gouvernement im französischen Verfassungsret

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suprême; mon peuple n'est qu'un avec moi, et les droits et les intérêts de la nation . . . sont nécessairement unis avec les miens et ne reposent qu'en mes mains" 2 5 . Aber eine solche Erklärung, 26 Jahre vor dem Ende jeder, auch der eingeschränktesten monarchischen Herrschaft in Frankreich, erscheint im nachhinein als ein spätes Rückzugsgefecht der Krone, das von der Staatstheorie nicht mehr gestützt wurde. Die Vertreter der französischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts waren sich vielmehr einig in der Ablehnung eines von allen irdischen Bindungen losgelösten „gouvernement absolu" 26 . Der Begriff „gouvernement" spielte in den Werken dieser Staatslehre zwar eine größere Rolle als in Bodins „Sechs Büchern vom Staate", er blieb jedoch sehr allgemeiner A r t und beinhaltete, anders als das Government im angelsächsischen Rechtskreis, keine bestimmte Staatskonzeption. Das zeigt sich etwa, wenn man drei Autoren heranzieht, die durchaus unterschiedliche politische Richtungen am Ausgang des Ancien Régime repräsentieren: Argenson, Montesquieu und Rousseau. Der Marquis d'Argenson wollte das monarchische Prinzip mit einem vorsichtigen Liberalismus verbinden. Montesquieu berücksichtigte in seinem Staatsentwurf, bei aller Bedeutung, die seine Lehre von der Gewaltenteilung auch für die moderne Demokratie erlangt hat, vor allem die Interessen des Adels. Rousseau schließlich war der konsequente Verfechter eines radikal-demokratischen Staatsgedankens. In Argensons 1737 abgefaßter, aber erst nach dem Tode des Autors 1764 veröffentlichter Schrift „Considérations sur le Gouvernement Ancien et Présent de la France" kehrt der Gouvernement-Begriff immer wieder, ohne jedoch eine allzu feste Gestalt anzunehmen. Er hat eine umfassende Bedeutung im Sinne von Herrschaft oder Regierung im weitesten Sinn. Monarchie, Aristokratie und Demokratie werden in ihren verschiedenen Spielarten mit Hilfe des Begriffes „gouvernement" definiert, z.B. die Monarchie als „le Gouvernement d'un Etat par un seul homme" 2 7 . A n anderer Stelle kennzeichnet „le Gouvernement" den gesamten Herrschafts- oder Staatsapparat oder auch den Staat als solchen 28 . Argenson wendet sich sowohl gegen die alte Feudalherrschaft („le Gouvernement Féodal") 29 wie gegen die absolute Monarchie („le Gouvernement Monarchique et absolu") 80 . Er redet einem aufgeklärten Königtum das Wort, 25 Zit. nach J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, S. 4. 26 J. Godechot S. 7. 27 R. L. d'Argenson , Considérations sur le Gouvernement Ancien et Présent de la France, S. 2. 28 Vgl. S. 17 („les autres parties du Gouvernement"), S. 4 („le Gouvernement de Pologne") u. S. 6 („l'ancien Gouvernement" bzw. „un parfait Gouvernement"). 29 S. 117 ff. 30 S. 28.

4 Frotscher

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

in dem der König sich als „erster Diener des Staates" versteht und in dem den Bürgern weitgehende Selbstverwaltungsrechte und Gemeindefreiheiten eingeräumt sind. Auf diese Weise soll inmitten eines monarchischen Staatswesens eine „véritable Démocratie" entstehen 31 . Argenson nennt diese Form der Monarchie „la Royauté", die er wie folgt definiert: „La Royauté est le Gouvernement d'un Etat par un homme seul qui considère moins son droit de propriété, que le bien de l'Etat qu'il gouverne, et dont i l ne se regarde que comme le premier magistrat" 8 2 . Der Gouvernement-Begriff erscheint hier wieder in seiner umfassenden Bedeutung, die es erlaubt, ihn bei der Definition der verschiedensten Staatsformen zugrundezulegen. In demselben Sinne wie der Marquis d'Argenson verwendet auch Montesquieu den Begriff „gouvernement". In seinem 1748 erschienenen Hauptwerk „De l'Esprit des Lois", das die Verfassungtheorie der westlichen Welt bis in die Gegenwart so nachhaltig beeinflußt hat, bezeichnet „le gouvernement" die Ausübung aller staatlichen Gewalt, die Herrschaft im politischen Bereich. Wenn Montesquieu verschiedene Arten von Gouvernements aufzählt und beschreibt 33 , so meint er Formen der Herrschaft oder, wie es heutiger Terminologie entsprechen würde, Staatsformen. Es gibt für ihn drei solche „espèces de gouvernement": Die Monarchie, die Despotie und die Republik, wobei er letztere in eine demokratische und in eine aristokratische Spielart weiter aufgliedert. Montesquieu spricht sich für ein „gouvernement monarchique" aus, das jedoch nicht nach den Prinzipien einer absoluten, sondern nach denen einer konstitutionellen Monarchie ausgestaltet ist 3 4 . Der Adel nimmt in diesem Staatsaufbau eine Schlüsselstellung ein. Wesentlich ist das Prinzip der Teilung aller staatlichen Gewalt, das Montesquieu in dem berühmten 6. Kapitel des 11. Buches seines „Esprit des Lois" entwickelt. Im Interesse der zum höchsten Ziel jeder politischen Ordnung erhobenen Freiheit wird die Staatsgewalt in drei Funktionen unterteilt: „la puissance exécutrice de l'Etat", „la puissance législative" und „la puissance exécutrice du droit civil" (auch „la puissance de juger" genannt). Der Gouvernement-Begriff spielt in Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung keine Rolle. Seine weite, umfassende Bedeutung wird noch nicht, wie es später der Fall sein sollte, eingeengt und auf die Ausübung der Staatsgewalt im Bereich der Exekutive beschränkt.

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S. 28. S. 2. Die Vorstellung vom König als „premier magistrat" schlägt eine Brücke zu der preußisch-friderizianisdien Staatsauffassung und macht deutlich, in wie starkem Maße Friedrich II. von der französischen Aufklärung beeinflußt war. 88 De l'Esprit des Lois, Bd. I, 2. u. 3. Buch. 34 B. Falk, Montesquieu, S. 69 ff. 32

2. Kap.: „Le gouvernement" im französischen Verfassungsrecht

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Diesen Schritt vollzieht Rousseau, der sich im 3. Buch des „Contrat Social" mit dem Gouvernement und seinen verschiedenen Ausformungen beschäftigt. Dabei stellt er zunächst fest, daß der Begriff „gouvernement" bisher keine eindeutige Festlegung erfahren hat. Rousseau bemüht sich deshalb in einem besonderen Kapitel, diesen Begriff genauer zu bestimmen. Im Ergebnis versteht er unter einem Gouvernement sowohl die rechtmäßige Ausübung der vollziehenden Gewalt als auch das Organ, das diese Funktion im Staatsleben wahrnimmt: „J'appelle donc Gouvernement ou suprême administration l'exercice légitime de la puissance exécutive, et prince ou magistrat l'homme ou le corps chargé de cette administration *85. Der Gouvernement-Begriff hat also eine funktionelle und eine organisatorische Seite. Bemerkenswert ist, daß mit der Formulierung „Gouvernement ou suprême administration" bereits die später für die deutsche Staatslehre maßgebende Beschränkung der „Regierung" auf den obersten Bereich der Exekutive angedeutet wird 8 6 . Das Gouvernement wird von Rousseau in eine strenge Abhängigkeit zu dem „Souverän" gebracht. Es gibt die Befehle, die es vom Souverän als dem höchsten Gesetzgeber erhält, an das V o l k weiter und hat so eine entscheidende Mittlerrolle zwischen beiden. Es ist „un corps intermédiaire établi entre les sujets et le Souverain pour leur mutuelle correspondance, chargé de l'exécution des loix et du maintien de la liberté, tant civile que politique" 8 7 . M i t dem Ausdruck „le Souverain" bezeichnet Rousseau nicht etwa den König oder eine andere fürstliche Herrscherpersönlichkeit, sondern das Staatsvolk als aktives corpus politicum, dem jeder einzelne in seinem Status als „citoyen" angehört 88 . Der Souverän stellt so die ideelle Verkörperung der gesamten Staatsgewalt dar. Souveränität ist Ausübung der „volonté générale" 89 . Dem (aktiven) V o l k als Souverän steht das V o l k als passive Gemeinschaft von Befehlsunterworfenen, von Untertanen („sujets") gegenüber. Das Gouvernement bildet die intermediäre Gewalt. Nach den Vorstellungen, die Rousseau im „Contrat Social" entwickelt, soll sich das Gouvernement aus Organwaltern zusammensetzen, die er „magistrats", „rois" oder „gouverneurs" nennt 40 . Er unterscheidet je nach der Zahl der Organwalter verschiedene „formes de Gouvernement". Liegt das Gouvernement in der Hand eines einzelnen, nennt er es eine Monarchie. Gibt es eine kleine Gruppe von Organwaltern, so spricht er von 35 36 37 38 39 40

4*

Du Contrat Social, 3. Vgl. oben im zweiten Du Contrat Social, 3. Du Contrat Social, 1. Du Contrat Social, 2. Du Contrat Social, 3.

Buch, Kap. 1 (S. 71). Teil der Arbeit, Kap. 3. Buch, Kap. 1 (S. 70). Buch, Kap. 6 (S. 21). Buch, Kap. 1 (S. 31). Buch, Kap. 1 (S. 70).

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

einer Aristokratie. Gehört schließlich der überwiegende Teil der Bürger zu den „magistrats", soll diese Form Demokratie heißen 41 . Rousseaus Begriffsbildung kann an dieser Stelle leicht zu Mißverständnissen führen. Der Ausdruck „formes de Gouvernement" bedeutet hier nicht wie bei Montesquieu und Argenson, daß die äußere „Staatsform" im heutigen Sinn untersucht und die Frage nach dem Träger der Staatsgewalt gestellt wird. Bei Rousseau bleibt der eigentliche Träger der Staatsgewalt, der Souverän, immer derselbe, auch wenn sich die „formes de Gouvernement" ändern. Diese Änderung betrifft nur die Einrichtung der Mittelinstanz, die zwischen Souverän und Untertanen steht. Rousseaus „formes de Gouvernement", das ergibt sich als Folge der Beschränkung des Gouvernement-Begriffes auf die Exekutive, bezeichnen keine Staats-, sondern bloße Regierungsformen. In den „Lettres écrites de la Montagne" trifft Rousseau eine etwas andere Unterscheidung. Er meint dort, nur in einer Demokratie sei unter „le gouvernement" die vollziehende Gewalt zu verstehen, während in einer Monarchie das Gouvernement nichts anderes sei als der durch seine Minister und seinen Rat handelnde Souverän selbst 42 . Der scheinbare Widerspruch zu den Ausführungen im „Contrat Social" löst sich jedoch, wenn man berücksichtigt, daß Rousseau in den „Lettres" zu dem üblichen Sprachgebrauch zurückkehrt und mit den Begriffen „Demokratie" und „Monarchie" auf die Staats-, nicht auf die Regierungsform abstellt. In den „Lettres" ist die reale Staatenwelt Europas, insbesondere auch die französische Monarchie Basis der weiteren Überlegungen. In einer solchen Monarchie, in der — anders als in dem im „Contrat Social" von Rousseau als eigenes theoretisches Konzept entwickelten, von Grund auf demokratischen Staatsaufbau — die Ausübung der gesamten Staatsgewalt, also die Souveränität, mit der Ausübung der vollziehenden Gewalt in einer Person zusammenfällt, ist „le Gouvernement" tatsächlich zugleich „le Souverain". Dabei handelt es sich jedoch um eine praktische Ausgestaltung des Gouvernement, die der theoretische Begriff (bei Rousseau) keineswegs notwendig beinhaltet. Rousseau fährt dann auch unter Hinweis auf den „Contrat Social" fort, das Wort „Gouvernement" habe „rien d'effrayant en lui-même", womit im Zusammenhang gemeint ist, daß die in der Monarchie gegebene Verknüpfung von Souveränität und Gouvernement dem Begriff als solchem nicht immanent ist. Rousseaus Werk kündigt das Ende des Ancien Régime und den Anbruch einer neuen Zeit an. Die Revolution von 1789, mit der diese in Frankreich ihren Einzug hält, leitet nicht nur den Siegeszug der demokratischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit im Staatsleben ein, sie 41 42

Du Contrat Social, 3. Buch, Kap. 3 (S. 80). Lettres écrites de la N^ontagne, 5. Brief (S. 141/142).

2. Kap.: „Le gouvernement

im französischen Verfassungsrecht

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verhilft auch der Idee einer geschriebenen Verfassung endgültig zum Erfolg. V o n nun an kann man die Entwicklung des Gouvernement-Begriffes an Hand der Verfassungen verfolgen.

II. Die Zeit der Revolution (1789—1799) Die bestimmenden politischen Kräfte der Révolutions jähre haben die Rousseausche Auffassung, wonach der Begriff Gouvernement die rechtmäßige Ausübung der vollziehenden Gewalt in einem demokratischen Staatsaufbau kennzeichnen sollte, nicht übernommen. Für sie scheint „le gouvernement" gleichbedeutend gewesen zu sein mit der monarchischen Zusammenballung aller staatlichen Macht, wie sie aus der Zeit des Ancien Régime hinreichend bekannt war. Das wird deutlich, wenn man die Verfassungen von 1791, 1793 und 1795 sowie den Verfassungsentwurf der Girondisten von 1793 auf ihre Begriffswahl untersucht. Leitwort der Verfassung vom 3. September 1791 ist „la Nation". Das zeigt sich besonders in der Eidesformel „Je jure d'être fidèle à la Nation . . .", die immer wiederkehrt (vgl. Art. 5, 51, 57 und 77 43 ). Die Nation ist Inhaberin der höchsten Staatsgewalt (Art. 11). Alle einzelnen Staatsgewalten („les pouvoirs publics"), die untereinander scharf getrennt werden, sind von ihr abgeleitet. Es sind dies „le Pouvoir législatif", „le Pouvoir exécutif" und „le Pouvoir judiciaire" (Art. 13—15). Die Exekutive ist zwar im Vergleich mit der Legislative schwächer ausgestaltet (vgl. Art. lOOff), aber der König als Haupt der Exekutive bleibt durchaus ein gewichtiger Machtfaktor im Verfassungsleben 44 . Die kritische Feststellung, die Verfassung von 1791 habe dem König „jeden tragenden Einfluß und jedes Entscheidungsrecht auf die staatliche Entwicklung entzogen und somit nicht nur seine persönliche Stellung, sondern auch das Gewicht der Exekutive im Rahmen der Verfassung von innen her ausgehöhlt" 4 5 , erscheint nicht berechtigt. Die Vorrangstellung der Legislative und ihres Organs, der Nationalversammlung, entspricht sowohl dem damaligen wie einem heutigen demokratischen Staatsverständnis. Nur aus monarchischer Sicht kann man eine „Aushöhlung" der Exekutive beklagen.

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Soweit kein besonderer Hinweis erfolgt, werden alle französischen Verfassungstexte nach G. Beilia, Les Constitutions et les Principales Lois Politiques de la France depuis 1789, und zwar in der fortlaufenden Artikel-Numerierung, zitiert. 44 Dazu im einzelnen J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, S. 81 ff; G. Sautel, Histoire des Institutions Publiques, S. 50 ff. 48 So K. L. v. Stocmeier , Volk, Gesetz und Regierung in der französischen Revolution, S. 151.

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

Der Begriff „gouvernement" spielt in dieser Verfassung für den Staatsaufbau keine Rolle. Er w i r d einmal, in Art. 14, im Sinne von Regierungsform gebraucht, um die Organisation der Exekutive zu kennzeichnen: „Le gouvernement est monarchique: le Pouvoir exécutif est délégué au Roi". Zum anderen bestimmt Art. 98, daß die Minister der Legislative, also der Nationalversammlung, Mißbräuche anzeigen sollen, die sich „dans les différentes parties du gouvernement" eingeschlichen haben. Gemeint ist hier der Regierungs- und Verwaltungsapparat. Der mehr zufälligen Verwendung des Gouvernement-Begriffes steht der bewußte Gebrauch des Wortes „administration" gegenüber. Administration ist Ausübung der Exekutivgewalt, die in den Händen des Königs liegt (Art. 134). Die Verfassung widmet der „administration intérieure", ihren Aufgaben und ihrer Gliederung, einen eigenen Abschnitt (Art. 144 ff.). Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die mit dem eigentlichen Text der Verfassung vom 3. September 1791 verbunden ist, enthält den Begriff „gouvernement" gleich am Anfang des Vorspruches. Die Mitglieder der Nationalversammlung stellen darin fest, daß die Mißachtung der Menschenrechte der einzige Grund „des malheurs publics et de la corruption des gouvernements" gewesen sei. Der Wortgebrauch in diesem Zusammenhang gibt einen Hinweis, warum der Verfassunggeber von 1791 den Begriff „gouvernement" nicht für seine Staatskonzeption verwendet. Gouvernements sind für ihn die korrumpierten, undemokratischen Regierungen der Zeit vor der Revolution 46 . Der Begriff scheint damit in den Augen von Demokraten und Republikanern eine negative Färbung erhalten zu haben, die ihm auch später noch anhaftete. Nachdem die neugewählte französische Volksvertretung, der Konvent, bei seinem ersten Zusammentreten am 21. September 1792 das Königtum abgeschafft und, vier Tage später, die Republik ausgerufen hatte, sollte auch eine neue Verfassung den geänderten staatsrechtlichen Verhältnissen Rechnung tragen. Die Girondisten legten im Februar 1793 einen ersten Verfassungsentwurf vor. Danach sollte die Exekutive jetzt einem Kollegialorgan, dem „conseil exécutif", anvertraut werden (vgl. Art. 99 ff.). Der Begriff „gouvernement" steht in diesem Entwurf ebenso am Rande wie in der Verfassung von 1791. Art. 154 bestimmt, daß der Conseil exécutif Mißbräuche anzeigen soll, die „dans le gouvernement" eingetreten sind. Hier handelt es sich um eine nahezu wörtliche Übernahme des bereits erwähnten Art. 99 der Verfassung von 1791. Im übrigen findet der Gouvernement-Begriff nur noch in der Präambel Erwähnung, in dem weiten, umfassenden Sinne von „Ausübung der Staats46 Eine abgewogene Darstellung der Mißstände unter dem Ancien Régime bei R. Schmidt, Allgemeine Staatslehre, Bd. 2 II, S. 649 ff., 666 ff., 678.

2. Kap.: „Le gouvernement im französischen Verfassungsrecht

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gewalt" bzw. „Herrschaft". Es heißt dort, die Nation, verstanden als Inhaberin aller Staatsgewalt, gründe „son gouvernement" auf die Menschenrechte. Nach dem Sturz ihrer Verfasser hatte auch die sog. Constitution Girondine keine Aussicht auf Verwirklichung mehr. Die Montagnards bestimmten die neue Verfassung vom 24. Juni 1793. Ausgehend von einem Demokratieverständnis Rousseauscher Prägung wollten sie eine möglichst unmittelbare Demokratie schaffen. In dieses Konzept paßte keine starke Exekutivgewalt. Der neugebildete Conseil exécutif befand sich deshalb in weitgehender Abhängigkeit von dem Corps législatif (vgl. Art. 62 ff.). Burdeau stellt zu Recht fest, daß es sich in Wahrheit nicht mehr um eine eigenständige Gewalt (im Sinne der Gewaltenteilung), sondern um einen bloßen „agent de l'assemblée" gehandelt habe 47 . Der Begriff „gouvernement" hat i n dieser Verfassung keinen Platz. Er erscheint nur i n der Menschenrechtsdeklaration, die dem eigentlichen Verfassungstext vorangestellt ist, und hat dort einen rechtlich schwer faßbaren Gehalt. Art. 1 der Erklärung stellt zunächst das Staatsziel heraus: „Le but de la société est le bonheur commun". Sodann w i r d die Notwendigkeit eines „gouvernement" begründet, um dem einzelnen die Ausübung seiner natürlichen und unveräußerlichen Rechte zu gewährleisten. Die Handlungen des Gouvernements sollen — wie der Vorspruch sagt — von allen Bürgern zu jeder Zeit an dem Ziel jeder staatlichen Gemeinschaft gemessen werden. Für den Fall, daß sie die Rechte des Volkes verletzen, macht Art. 35 die Volkserhebung zum heiligen Recht und sogar zur Pflicht. Gouvernement bedeutet in der Deklaration von 1793 also soviel wie politische Herrschaft überhaupt und umfaßt dabei alle staatlichen Organe einschließlich der Legislative. Hier wird, insbesondere in dem angeführten Art. 1, in dem „la société" und „le gouvernement" in den Mittelpunkt gestellt sind, ein Anklang an die englische Staatsauffassung mit ihren Leitbegriffen „ c i v i l society" und „government" deutlich, der jedoch in der weiteren Verfassungsentwicklung wieder verlorengegangen ist. Die Verfassung von 1793 wurde zwar vom Volke mit klarer Mehrheit angenommen, sie trat jedoch nicht in Kraft, weil der Konvent in Anbetracht außen- und innenpolitischer Schwierigkeiten zunächst alle Machtbefugnisse selbst ausüben wollte 4 8 . Frankreich lebte in dieser verfassungslosen Zeit unter einer Ausnahmeregierung, dem sog. „gouverne47 G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 286. Ebenso K. L. v. Stocmeier, Volk, Gesetz und Regierung in der französischen Revolution, S. 176/177. 48 A. Lebon, Das Verfassungsrecht der französischen Republik, S. 4; G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 286.

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ment révolutionnaire", das durch die Diktatur des Konvents und insbesondere durch die Schreckensherrschaft seines Wohlfahrtsausschusses gekennzeichnet wurde. Wohlfahrts- und Sicherheitsausschuß wurden folgerichtig auch „Comités de gouvernement" genannt 49 . Vor allem Robespierre war ein Verfechter der Theorie des Gouvernement révolutionnaire, das er gegenüber allen Angriffen zu rechtfertigen suchte. Eine seiner Verteidigungsreden gipfelte in dem Satz: „Le gouvernement révolutionnaire doit aux bons citoyens toute la protection nationale, et ne doit aux ennemis du peuple que la m o r t . . ." 6 0 . Nach dem Sturz Robespierres am 27. Juli 1794 stellte sich die Frage, ob man nun die Verfassung von 1793 in Kraft setzen sollte. Der Konvent, durch die vorangegangenen blutigen Ereignisse ebenso beeinflußt wie durch die bourgeoise Zusammensetzung seiner Mitglieder, entschied sich für die Ausarbeitung einer neuen, weniger radikal demokratischen Verfassung, von der Godechot sogar meint, sie sei „un instrument de réaction destiné à arrêter la marche de la démocratie" 61 . Die neue Verfassung, die am 27. Oktober 1795 i n Kraft trat, schraubte die Macht der Legislative auf ein annehmbares Maß zurück und führte eine echte Gewaltenteilung ein. Die gesetzgebende Gewalt wurde nach amerikanischem Vorb i l d 6 2 in die Hände zweier Kammern gelegt, des Rates der Fünfhundert und des Rates der Alten (Art. 44 ff.). Die vollziehende Gewalt („le pouvoir exécutif") war einem Direktorium von fünf Mitgliedern anvertraut, die vom gesetzgebenden Körper ernannt wurden (Art. 132). Der Begriff „gouvernement" war dieser Verfassung unbekannt. Er wurde weder in seiner die gesamte Staatsgewalt umfassenden Bedeutung noch in einem engeren Sinn zur Bezeichnung der vollziehenden Gewalt oder eines ihrer Organe verwendet. Zusammenfassend kann man feststellen, daß der Gouvernement-Begriff nur an wenigen Stellen i n die Verfassungen der Revolutionszeit Eingang gefunden und auch dort keine weiterreichende Bedeutung für die Konzeption des Staatsaufbaus besessen hat. Diese offenbare „Abneigung" des Verfassunggebers gegenüber dem Begriff „gouvernement" läßt sich nur aus dem bereits angedeuteten Gedanken erklären, daß das monarchische Gouvernement, wie man es vor 1789 erlebt hatte, den Begriff als solchen in Mißkredit gebracht hatte. Man konnte sich ersichtlich nicht von der Vorstellung befreien, ein Gouvernement bedeute notwendi49 J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, S. 296, 303 ff. 50 Zitiert nach J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, S. 292. 51 Ebd., S. 458. 52 Vgl. den Bericht von Boissy-d'Anglas vor dem Konvent am 25. 6.1795, in: Le Moniteur, No. 283 v. 1. 7.1795 (S. 1139).

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gerweise eine undemokratische Machtzusammenballung. Selbst der von Robespierre verteidigte Begriff eines „gouvernement révolutionnaire" widersprach dieser Vorstellung nicht, bezeichnete er doch ebenfalls eine Konzentration aller staatlichen Macht, hier bei den „Comités de gouvernement", die nicht als der normale Verfassungszustand eines demokratischen Staates, sondern als eine durch die außen- und innenpolitische Notsituation bedingte Ausnahmeregelung von lediglich vorübergehender Geltungsdauer angesehen wurde. So behielt der Begriff „gouvernement" für diejenigen, die nach 1789 den Verfassungsaufbau bestimmten, etwas „Abschreckendes", „quelque chose d'effrayant en lui-même", das ihm der literarische Wegbereiter der Revolution, Rousseau, gerade abgesprochen hatte. Es hat allerdings nicht der Versuch gefehlt, den Gouvernement-Begriff aufzuwerten und in die Verfassung einzuführen. Im Laufe der Beratungen über eine neue Verfassung hat Sieyès in der Konventssitzung vom 21. Juli 1795 seine Meinung dargelegt und dabei ausdrücklich das Fehlen eines Gouvernements in dem vorliegenden Verfassungsentwurf bedauert: „J'ai beau regardé dans votre plan, je n'aperçois le gouvernement nulle part; cependant le temps est passé ou le gouvernement était considéré comme une institution anti-populaire" 58 . I n Sieyès' eigener Verfassungskonzeption spielt das Gouvernement neben dem Gesetzgeber („législature") und einem Verfassungsausschuß („jurie constitutionnaire") die entscheidende Rolle. Es ist das Staatsorgan, das alle Gesetze vorschlagen und ihre Ausführung überwachen soll. Bemerkenswerterweise unterscheidet er scharf zwischen „le gouvernement" und „le pouvoir exécutif". Nach seiner Auffassung ist „le pouvoir exécutif" das handelnde Organ, während „le gouvernement" das denkende, überlegende und beratende Organ darstellt 64 . Das Gouvernement, wie er es vorschlägt, hat auf den Bürger keinen direkten Einfluß. Sieyès hat sich mit diesen seinen Ideen in der Nationalversammlung nicht durchsetzen können. Der „anti-populäre" Aspekt des Begriffes Gouvernement war zu stark.

III. Konsulat und 1. Kaiserreich (1799—1814) Wenige Jahre später erlangte Sieyes einen weitaus stärkeren Einfluß auf die politische Verfassung seines Landes. Nach Bonapartes Staatsstreich am 9. November 1799 (18 Brumaire A n VIII) bildete er zusammen mit diesem und Roger Ducos eine Ubergangsregierung, das „Consulat 58 54

Sieyès, Opinion sur la Constitution, S. 19/20. Ebd., S. 21.

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provisoire", und bestimmte maßgeblich 55 die theoretischen Grundlagen der neuen Verfassung, die am 13. Dezember 1799 (22 Frimaire A n VIII) in Kraft trat. Diese Verfassung enthält den Begriff „gouvernement" im organisatorischen Sinne. Er bezeichnet die Spitze der Exekutive. Das Gouvernement ist drei Konsuln anvertraut, die vom Senat für die Dauer von 10 Jahren gewählt werden (Art. 39 i. V. m. Art. 20) Die Konsuln für die erste Regierungsdekade hat der Verfassunggeber allerdings gleich selbst ernannt: Bonaparte, Cambacérès und Lebrun (Art. 39). Entgegen dem ersten Anschein ist das Gouvernement kein Kollegialorgan. Der Erste Konsul, Bonaparte, ist für die meisten wichtigen Entscheidungen allein zuständig und nimmt so die beherrschende Stellung ein. Er fertigt u. a. die Gesetze aus, ernennt und entläßt die Mitglieder des Conseil d'Etat, die Minister und die Staatsbeamten (Art. 41). Auch bei allen anderen Regierungsgeschäften ist die Entscheidung des Ersten Konsuls maßgebend; die beiden Mitkonsuln haben nur eine beratende Stimme (Art. 42). So liegt praktisch die gesamte Macht des Gouvernements in der Hand des Ersten Konsuls, und diese Macht ist von der Verfassung außerordentlich weit ausgedehnt worden. Das Gouvernement wacht über die innere und äußere Sicherheit des Staates und befehligt zu diesem Zweck die Streikräfte (Art. 47). Es unterhält die diplomatischen Beziehungen, schließt Verträge mit anderen Staaten (Art. 49, 50), hat das alleinige Recht der Gesetzesinitiative und das Verordnungsrecht (Art. 25, 44) und kann sogar Einfluß auf die Zusammensetzung anderer Staatsorgane nehmen (vgl. Art. 16, 41). Die Legislative ist demgegenüber nur schwach ausgebildet. In sie teilen sich das Tribunat, das die vom Gouvernement vorgeschlagenen Gesetze diskutieren und eine eigene, aber völlig unverbindliche Meinung äußern darf (Art. 28, 29), und das Corps Législatif, das nach Anhörung der Vertreter des Tribunats und des Gouvernements ohne Aussprache über die Gesetzesentwürfe abstimmen muß (Art. 34). Insgesamt zeigt die Ausgestaltung der Staatsorgane, daß das Prinzip der Gewaltenteilung zugunsten einer starken Exekutive verschoben ist 6 6 . Es ist kein Zufall, daß die Verfassung vom Dezember 1799, die dem Ersten Konsul Bonaparte praktisch die Diktatur ermöglichte, auch wenn er diese Tatsache unter einem Mantel republikanischer Formen und Äußerlichkeiten zu verbergen trachtete, die beherrschende Gewalt im Staate, die Spitze der Exekutive, mit dem Begriff „gouvernement" be55 J. Godechot (Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, S. 554) bezeichnet Sieyès als „le principal auteur de la constitution de l'an VIII". Damit wird die Rolle Bonapartes aber wohl doch unterbewertet. G. Burdeau etwa spricht von einer Verfassung „faite par Bonaparte à la mesure de ses propres ambitions" (Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 289). 56 H. Gangl, Verfassungsfragen der Fünften Republik, S. 190.

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legt, der damit zum ersten M a l in einer französischen Verfassung eine entscheidende Rolle spielt. „Le pouvoir éxécutif" kommt dagegen in diesem Verfassungstext nicht mehr vor. Der Wortgebrauch macht bereits deutlich, daß sich hier ein „starker Mann" nicht darauf beschränken will, Gesetze auszuführen, also nur „vollziehende Gewalt" zu sein, sondern daß er regieren, herrschen möchte 57 . So erweist sich auch nachträglich, daß der Gouvernement-Begriff in der Revolutionszeit nicht ohne Grund auf Ablehnung gestoßen ist und in den Verfassungen keine rechtliche Relevanz erlangt hat. Das Gouvernement des Konsulats jedenfalls erscheint als „un régime autoritaire" 5 8 , das den Keim der Diktatur bereits in sich trägt. Sieyès hat diese Entwicklung vielleicht nicht gewollt, aber die damalige Verfassungswirklichkeit wurde nicht von der Person des Abbé, sondern von der des Feldherrn bestimmt. Bonaparte hat seine Machtposition in der Folgezeit auch verfassungsrechtlich weiter ausgebaut. Zunächst wurde er durch Senatsbeschluß vom 1. August 1802 (Sénatus-consulte du 14 Thermidor A n X) zum Ersten Konsul auf Lebenszeit ernannt. Ein weiterer Senatsbeschluß vom 3. August 1802 (Sénatus-consulte organique du 16 Thermidor A n X) dehnte die verfassungsmäßigen Rechte des Ersten Konsuls erheblich aus. Bonaparte konnte jetzt Männer seiner Wahl für die Ernennung zum zweiten und dritten Konsul vorschlagen, die der Senat zwar ablehnen konnte, jedoch nur zweimal. Der dritte Vorschlag war verbindlich. Außerdem war Bonaparte berechtigt, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Die Verfassungsänderung vom 18. Mai 1804 (Sénatus-consulte organique du 28 Floréal A n XII) schloß die Entwicklung mit der Ernennung Napoléon Bonapartes zum Kaiser der Franzosen ab. Art. 1 bestimmte: „Le Gouvernement de la République est confié à un Empereur . . .". Der Begriff Gouvernement bezeichnet hier nicht allein die machtvolle Spitze der Exekutive, sondern den Sitz der gesamten Staatsgewalt. Der Imperator als Inhaber dieser Gewalt sollte zwar die Interessen des Volkes berücksichtigen, wie es in der Eidesformel hieß: „Je jure . . . de gouverner dans la seule vue de l'intérêt, du bonheur et de la gloire du peuple français", aber selbst die äußeren Erscheinungsformen einer Demokratie, wie sie noch in der Verfassung vom Dezember 1799 enthalten gewesen waren, wurden abgebaut. Die Legislative war entmachtet, und der Senat 57 Vgl. auch M. Prélot, Institutions Politiques, S. 365: „11 n'est plus question de ,pouvoir exécutif', terme qui a quelque chose d'abstrait, d'étroit et de subordonné, mais de gouvernement', ce qui implique la plénitude de l'action directrice quant aux affaires de l'Etat". Ahnlich G. Sautel, Histoire des Institutions Publiques, S. 209: „. . . cette substitution de termes souligne à l'évidence le changement profond des conceptions". 58 J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, S. 564.

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nahm den Charakter eines Ausführungsorgans des Gouvernements an 59 . Der Gouvernement-Begriff erhielt damit die Bedeutung, die Rousseau ihm in den „Lettres" in bezug auf Monarchien beigelegt hatte: „Le Gouvernement" war zugleich „le Souverain". Die Verfassung des Kaiserreichs wurde noch einmal geändert. Nach seiner Rückkehr von der Insel Elba legte Napoléon eine Zusatzakte (Acte additionnel aux constitutions de l'Empire) vor, die, durch Volksentscheid angenommen, vom 1. Juni 1815 bis zu seiner Abdankung am 22. Juni in Kraft stand. Der Druck der Ereignisse zwang den Kaiser, der Legislative in dieser Zusatzverfassung wirkliche Mitbestimmung einzuräumen und die Macht des Gouvernements zurückzubilden. Art. 39 führte die Ministerverantwortlichkeit ein. Die Abgeordnetenkammer konnte Anklage erheben, die von der Ersten Kammer (Chambre des Pairs) beurteilt wurde (Art. 40 ff.). „Le Gouvernement" war nur noch eine immerhin starke Exekutive.

I V . Restauration, Parlamentarismus und Demokratie (1814—1851) Nach Napoléons Sturz traten die Konstitutionen des Kaiserreichs außer Kraft. Zugleich verlor der Begriff Gouvernement seine zentrale Bedeutung. Eine neue Verfassung, die der Senat am 6. A p r i l 1814 beschloß und der das Corps législatif am 7. A p r i l zustimmte, nahm die Bezeichnung „le pouvoir exécutif" wieder auf. Gemäß Art. 4 dieser Verfassung sollte die vollziehende Gewalt dem König zustehen, der darüber hinaus auch an der Gesetzgebung beteiligt war (vgl. Art. 5). Um die Regierungsform zu kennzeichnen, lautete Art. 1 : „Le Gouvernement français est monarchique et héréditaire . . .". Zum König sollte nach der freien Entscheidung des französischen Volkes Louis-Stanislas-Xavier de France berufen werden (Art. 2). Aber Ludwig X V I I I . wollte keine Inthronisation von des Volkes Gnaden. In seiner Erklärung vom 2. M a i 1814 lehnte er die Verfassung vom 6. A p r i l ab und kündigte einen eigenen Verfassungsentwurf an, der dann am 4. Juni unter dem den Bruch mit der revolutionären Verfassungstradition bereits äußerlich kennzeichnenden Namen „Charte Constitutionelle" Gesetz wurde. Schon die ersten Worte des Vorspanns „ V o n der göttlichen Vorsehung berufen . . . " zeigen, daß Ludwig X V I I I . fest auf dem Boden des monarchischen Prinzips stand. Die Staatsgewalt lag nicht beim Volk, sondern i n der Person des Königs. Die Verfassung wurde als eine A r t Geschenk des Monarchen aufgefaßt, mit dem er seine alleinige „autorité" freiwillig beschränkte. Der letzte Satz des Vorspanns macht 59

G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 293.

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die verfassungsrechtliche Situation besonders deutlich: „Nous avons volontairement, et par le libre exercice de notre autorité royale, accordé et accordons, fait concession et octroi à nos sujets . . . de la Charte constitutionnelle qui suit". Die der Verfassung zugrundeliegende Staatsauffassung läßt ein stark ausgebildetes monarchisches Gouvernement erwarten. Der Verfassungstext vermeidet diesen Begriff jedoch und verwendet stattdessen das demokratisch-konstitutionelle Vokabular: „puissance exécutive" (Art. 13), „puissance législative" (Art. 15) und „justice" (Art. 57). Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine wirkliche Aufteilung der Staatsgewalt im Sinne der Gewaltenteilungslehre. Der König spielt die dominierende Rolle. Er steht nicht nur an der Spitze der vollziehenden Gewalt, befehligt die Streitkräfte, erklärt Krieg und Frieden, schließt Verträge und erläßt Verordnungen (Art. 13, 14), sondern ist auch in starkem Maße an der Gesetzgebung beteiligt, die er zusammen mit der Abgeordnetenkammer und der Pairs-Kammer ausübt (vgl. Art. 15 ff.). Während die Person des Königs selbst unantastbar ist, können seine Minister von den Kammern zur Verantwortung gezogen werden (Art. 13). Auf Grund dieser Bestimmung und mehr noch auf Grund der Regierungspraxis Ludwigs X V I I I . kann man zu der Feststellung kommen, damals sei der Parlamentarismus zum ersten M a l in Frankreich eingeführt worden 6 0 . Eine solche Formulierung weckt allerdings leicht falsche Vorstellungen. V o n einem „Parlamentarismus" im heutigen Verständnis des Wortes kann nicht die Rede sein. Der König geriet nicht in Abhängigkeit zum Parlament. Die parlamentarischen Züge des Systems erscheinen vielmehr als Zugeständnis des im Prinzip souveränen Monarchen. Dabei muß man noch hinzufügen, daß sich das Parlament auf Grund des Wahlmodus (vgl, Art. 27, 30, 38 ff.) allein aus dem hohen Adel und den Reichen des Landes zusammensetzte. Die Charte von 1814 galt den Zeitgenossen als Muster der Verfassung einer konstitutionellen Monarchie 61 . Ihre Ausstrahlung reichte über die Grenzen Frankreichs hinaus, vor allem auch nach Deutschland, wo sich die Verfassunggebung vieler Einzelstaaten an dem französischen Vorbild ausrichtete. Die Charte war von den Ideen Benjamin Constants, des großen Theoretikers der konstitutionellen Monarchie, geprägt, der seinen „Cours de Politique Constitutionelle" am 24. M a i 1814, also nur wenige Tage vor Inkrafttreten der neuen Verfassung, veröffentlicht hatte. Constant unterschied fünf Verfassungsgewalten: „le pouvoir royal", „le pouvoir exécutif", „le pouvoir représentatif", „le pouvoir exécutif" und 80

Vgl. J.-Barthélémy, L'Introduction du Régime parlementaire en France sous Louis X V I I I et Charles X; G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 298. 61 O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 328.

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„le pouvoir municipal" 6 2 . Sieht man einmal von der in diesem Zusammenhang bedeutungslosen Munizipalgewalt ab, so bleiben vier Gewalten, von denen drei den herkömmlichen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative entsprechen. Entscheidend für das Constantsche Verfassungsmodell ist jedoch die „vierte Gewalt", le Pouvoir royal, die gewissermaßen über den anderen Gewalten steht und deren Zusammenspiel überwacht. „Cette force ne peut pas être dans l'un de ces ressorts (Gemeint sind die Legislative, die Exekutive und die Rechtsprechung.), car elle lui servirait à détruire les autres; i l faut qu'elle soit en dehors, qu'elle soit neutre en quelque sorte, pour que son action s'applique partout où i l est nécessaire qu'elle soit appliquée, et pour qu'elle soit préservatrice et réparatrice sans être hostile" 6 3 . Der konstitutionelle Monarch als Träger des Pouvoir royal wird auf diese Weise über die anderen Gewalten, insbesondere über die Volksvertretung gestellt. Eine wirkliche Gewaltenteilung findet nicht statt. Der König, der auch die Exekutive einsetzt, die Richter ernennt und auf die Gesetzgebung entscheidenden Einfluß nimmt 6 4 , ist im Grunde die einzige Quelle aller staatlichen Gewalt. Er repräsentiert recht eigentlich „den Staat". Ihm steht das Volk, vertreten im Parlament (in den „assemblées représentatives"), gegenüber. Der Dualismus Staat-Gesellschaft, der den Zugang zu einem demokratischen Staatsverständnis später sehr erschweren sollte, ist in dem Constantschen Modell einer konstitutionellen Monarchie deutlich angelegt 65 . Aus dieser Sicht hat Constants Staatsentwurf auch für die Ausformung des Regierungsbegriffes in Deutschland Bedeutung 6 6 . Der Begriff „gouvernement" spielte dagegen bei ihm ebensowenig eine Rolle wie in der Charte von 1814. Die Verfassung vom 14. August 1830 wirkt auf den ersten Blick wie eine bloße Neuausgabe der Verfassung von 1814. Die einzelnen Abschnitte sind ebenso aufgebaut und tragen die gleichen Überschriften. Die Artikel stimmen nach ihrem Inhalt und Wortlaut weitgehend mit den entsprechenden Bestimmungen der Charte von 1814 überein. „La puissance exécutive" bleibt dem König anvertraut, der auch weiterhin zusammen mit den Kammern die Legislative bildet. Der GouvernementBegriff w i r d in der Verfassung nicht verwendet. Trotz der äußerlichen Übereinstimmung mit ihrer Vorgängerin ist die Charte von 1830 eine gänzlich neue Verfassung. Vorausgegangen war eine Revolution, die Karl X. entmachtet hatte. Der neue König Louis82 63 84 65 86

Cours de Politique Constitutionnelle, Kap. 1 (S. 57). Cours de Politique Constitutionnelle, Kap. 1 (S. 58). Cours de Politique Constitutionnelle, Kap. 2 (S. 62 ff.). O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 329 f. Vgl. insb. den dritten Teil der Arbeit, Kap. 3.

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Philippe mußte einen Eid auf die Charte ablegen, ehe er den Thron Frankreichs besteigen durfte. Die Verfassung war nicht länger ein königliches „Geschenk", sondern die vertragliche Grundlage für sein Verhältnis zum französischen Volk, vertreten durch die Kammern. Die Monarchie von Gottes Gnaden wurde durch eine Monarchie auf der Basis nationaler Souveränität abgelöst. Hatte sich damit die Forderung Thiers' erfüllt, der am 4. Februar 1830 im „National" verlangt hatte, der König solle nicht „gouverner", sondern „régner" 67 ? Begreift man das Wort „gouverner" in einem umfassenden Sinne von „die gesamte Staatsgewalt ausüben", so ist sicher richtig, daß der König nach der Charte vom 14. August 1830 diese Definition nicht mehr in ihrem ganzen Umfang ausfüllte. Aber nach dem genauen Wortlaut der Thiers'schen Formulierung, die lautete: „Le roi règne, les ministres gouvernent, les chambres jugent", hatte der Begriff „gouverner" hier eine etwas engere Bedeutung. Der König sollte es den Ministern überlassen, zu regieren, d.h. die Politik zu bestimmen und die Staatsgeschäfte zu lenken. Dieser Vorstellung entsprach die Charte von 1830 nicht. Der König hatte nach wie vor so viele wichtige Befugnisse (vgl. etwa Art. 13, 15, 23, 42), daß für seine verfassungsmäßig vorgesehene Tätigkeit durchaus das Verbum „gouverner" zutrifft 68 . Burdeau 69 ist allerdings der Ansicht, daß die Regierungspraxis Louis-Philippes doch mit den berühmt gewordenen Worten Thiers' beschrieben werden kann. Auf jeden Fall stellte die Charte von 1830 einen Schritt auf dem Wege der Entwicklung zum modernen Verfassungsstaat dar. Dem „parlementarisme de fait" 7 0 unter der Verfassung von 1814 folgte nun ein „parlementarisme de doctrine" 7 1 . Die Verfassung von 1830 hatte zwar die königliche Macht beschränkt, aber doch auf Grund des zensus-abhängigen Wahlrechts nur den reichen 67 Thiers' bekannte Formulierung, die zur Leitschnur jeder parlamentarisch beschränkten Monarchie geworden ist, geht auf den polnischen Großkanzler und Hetmann Jan Zamoyski zurück, der schon 1573 dem Königskandidaten Henri de Valois, dem späteren Heinrich III. von Frankreich, den Regierungsgrundsatz „Rex régnât, sed non gubernat" entgegengehalten haben soll (H. Roos, Ständewesen und parlamentarische Verfassung in Polen 1505—1772, S. 353). Nach anderer Auffassung hat Zamoyski diesen Satz erst in einer späteren Rede im polnischen Reichstag gegenüber König Sigismund III. aufgestellt (vgl. G. Büchmann, Geflügelte Worte, S. 631). Von Zamoyski führt die Spur weiter in das römische Staatsdenken, das dem polnischen Großkanzler Zeit seines Lebens als Muster für die politische Gestaltung der Gegenwart gegolten hat (dazu H. Vahle, Die Rezeption römischer Staatstheorie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch Jan Zamoyski). 68 Ebenso H. Gangl, Verfassungsfragen der Fünften Republik, S. 21 f. 69 Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 301. 70 R. Capitant, Régimes parlementaires, S. 37. Die Fragwürdigkeit des Parlamentarismus-Begriffes im Zusammenhang mit der Charte von 1814 wurde bereits erörtert. 71 M. Prélot, Institutions Politiques, S. 402.

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Klassen ein politisches Mitspracherecht im Staat eingeräumt 72 . So wuchs die Gegnerschaft, bis es zur Revolution von 1848 kam. Die Monarchie wurde abgeschafft. Frankreich war wieder eine Republik, deren wichtigste Verfassungsneuerung in der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bestand. Die neue Verfassung vom 4. November 1848 erinnert in vielen Bestimmungen an die demokratischen Verfassungen der Revolutionszeit. Die Gewaltenteilung wurde als wesentlicher Verfassungsgrundsatz herausgestellt (Art. 19). Die gesetzgebende Gewalt lag wieder in der Hand einer einzigen Kammer, die aus 750 Abgeordneten bestand (Art. 20 ff.). Die Exekutive war dem „Präsidenten der Republik" anvertraut, der in allgemeinen Wahlen für 4 Jahre bestimmt wurde. Der diesbezügliche Art. 43 zeigt deutlich den Geist, der den Verfassunggeber von 1848 beseelte: „Le peuple français délègue le pouvoir exécutif à un citoyen qui reçoit le titre de Président de la République". Die Ableitung der vollziehenden Gewalt aus der Volkssouveränität, die auch in der unmittelbaren W a h l des Präsidenten zum Ausdruck kam, bedeutete eine Aufwertung der Exekutive, die nicht mehr wie etwa in der Verfassung von 1793 auf die Rolle des „agent d'assemblée" beschränkt war. Ein Antrag des Abgeordneten Grévy, der auf eine Schwächung der Exekutive abzielte, wurde von der Mehrheit verworfen 78 . Gesetzgebende und vollziehende Gewalt standen gleichgewichtig nebeneinander. Für diese Verfassung war der Begriff Gouvernement ohne wirkliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Die Präambel sprach von der Republik als der „forme définitive de gouvernement", und in einem ähnlich weiten, die staatliche Herrschaft überhaupt kennzeichnenden Sinne stellte Art. 19 die Gewaltenteilung als erste Voraussetzung „d'un gouvernement libre" heraus.

V . 2. Kaiserreich (1852—1870) M i t der Proklamation vom 2. Dezember 1851 löste Louis-Napoléon, der Präsident der Republik, die Nationalversammlung auf und beschritt, gestützt auf die Zustimmung der breiten Volksmassen, den Weg zur Alleinherrschaft. Dabei fühlte er sich als Erbe Napoléon Bonapartes. Die Proklamation vom 14. Januar 1852 war ein einziger Lobgesang auf den Ersten Konsul, und die neue Verfassung vom gleichen Tage enthielt deutliche Anklänge an die Verfassung von 1799. I n dieser Tradition lag die Vereinigung aller staatlichen Gewalt i n einem Gouvernement, 72 So besaßen im Jahre 1831 nur 167000 der rund 30 Millionen Franzosen das aktive Wahlrecht (D. Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip, S. 14). 73 G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 303.

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das mehr war als eine starke Exekutive. Die Verfassung sagte dazu in den Art. 2, 3: „Le Gouvernement de la République française est confié pour dix ans au prince Louis-Napoléon Bonaparte, Président actuel de la République. Le Président de la République gouverne au moyen des ministres, du Conseil d'Etat, du Sénat et du Corps législatif". Minister, Staatsrat, Senat und gesetzgebender Körper waren also bloße Herrschaftsinstrumente i n der Hand der Regierung, die durch den Präsidenten Louis-Napoléon dargestellt wurde. Die Minister waren nur dem Präsidenten verantwortlich (Art. 13). Die Mitglieder des Staatsrats, dessen wichtigste Aufgabe gemäß Art. 50, 51 darin bestand, die Gesetzentwürfe zu redigieren und „au nom du Gouvernement" vor dem Senat und vor dem gesetzgebenden Körper zu vertreten, wurden vom Präsidenten ernannt und abberufen. Der Senat setzte sich aus Kardinälen, Marschällen, Admirälen und vom Präsidenten ausgewählten Senatoren, insgesamt 150 Personen, zusammen (Art. 19, 20). Seine Stellung erinnert an die des „Sénat conservateur" in der Verfassung von 1799. Der Senat sollte Wächter der Verfassung sein. Zu diesem Zweck mußte ihm jedes Gesetz vor der Ausfertigung zur Prüfung vorgelegt werden ebenso wie alle anderen Akte, die von dem „Gouvernement" oder von einer Bürgerpetition für verfassungswidrig gehalten wurden (vgl. Art. 25—29). Die Abgeordneten des gesetzgebenden Körpers gingen zwar aus allgemeinen Wahlen hervor, aber die Kandidaten wurden von der Regierung vorgeschlagen und empfohlen 74 . Die Kammer hatte kein Recht der Gesetzesinitiative. Sie durfte lediglich über die Gesetzentwürfe der Regierung beraten und abstimmen (Art. 39), wobei sie jederzeit vom Präsidenten vertagt oder aufgelöst werden konnte (Art. 46). Nimmt man noch die in den Art. 6 ff. aufgeführten Befugnisse hinzu, so vervollständigt sich das Bild einer Alleinherrschaft, die sich nur dadurch von einer absoluten Monarchie unterschied, daß sie im Prinzip auf der Volkssouveränität und nicht auf dem Gottesgnadentum aufbaute (vgl. insb. Art. 1 und 5). Praktisch gab die Verfassung dem Präsidenten die gesamte Staatsgewalt in die Hand. Der Präsident verkörperte „le Gouvernement" und wurde auch mit diesem Begriff bezeichnet. Wieder stimmte — wie im Ancien Régime und unter der Herrschaft Napoléons — die Gleichung: „Le Gouvernement" war im Grunde „le Souverain". Der verfassungsändernde Senatsbeschluß vom 7. November 1852, angenommen durch Plebiszit vom 21./22. November und ausgefertigt am 2. Dezember d. J., verdeutlichte die staatsrechtlichen Verhältnisse. Er führte die erbliche Kaiserwürde ein. Louis-Napoléon bestieg als Napoléon III. den Thron.

74

A. Lebon, Das Verfassungsrecht der französischen Republik, S. 9.

5 Frotsdier

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Ungefähr seit dem Jahre 1860 vollzog sich eine gegenläufige Entwicklung, die zu einer gewissen Liberalisierung des Regimes führte. Wichtige Reformen brachten vor allem die Senatskonsuite vom 8. September 1869 und vom 21. M a i 1870. Die Verfassungsänderung vom 8. September 1869 gab dem gesetzgebenden Körper neben dem Kaiser das Recht der Gesetzesinitiative (Art. 1). Der Senat durfte öffentlich tagen (Art. 4) und konnte sich der Verkündung eines Gesetzes widersetzen oder eine neue Beratung verlangen (Art. 5). Alle Mitglieder der Kammer und des Senats erhielten das Recht der Interpellation „au Gouvernement" (Art. 7). Der Begriff Gouvernement (vgl. Art. 7, 8) blieb in seiner bisherigen Bedeutung erhalten. Die neuen Bestimmungen stellten nicht etwa eine Gewaltenteilung her, mit der Folge, daß das Gouvernement zum bloßen „pouvoir exécutif" herabgesunken wäre. Sie milderten nur die Erscheinungsformen einer totalitären Gewalt im Staat, nämlich des „Gouvernement de l'Empereur" 76 . Die Verfassungsnovellierung vom 21. M a i 1870, die sich auf ein Plebiszit stützte, ging erheblich weiter. Sie hätte den Parlamentarismus in Frankreich wieder eingeführt 76 , wenn sie nicht bereits am 4. September 1870 nach der Niederlage bei Sedan zusammen mit dem Untergang des Kaiserreichs ihr Ende gefunden hätte.

V I . 3. Republik (1871—1945) Nach der provisorischen Leitung der neuen Republik durch ein „Gouvernement de la Défense nationale", an dessen Spitze Gambetta, Ferry, Simon und Favre standen, übertrug die neugewählte Nationalversammlung am 17. Februar 1871 die Regierungsgeschäfte auf Adolphe Thiers. In dem Beschluß der Nationalversammlung heißt es bezeichnenderweise nicht, daß ihm „le gouvernement" anvertraut, sondern daß er zum „Chef du Pouvoir exécutif" ernannt werde. In dieser Begriffswahl kommt bereits die Tendenz zum Ausdruck, die Macht der Regierung im heutigen Wortsinn in engen Grenzen zu halten und der Nationalversammlung eine unbedingte Vorrangstellung einzuräumen. Die Resolution vom 17. Februar 1871 fährt denn auch folgerichtig fort, daß der „Regierungschef" seine Befugnisse „sous l'autorité de l'Assembleé nationale" ausübe. Anders als der Konvent der Revolutionszeit trug die überwiegend monarchisch gesinnte Nationalversammlung von 1871 sicher keine demokratischen Bedenken, ein starkes „gouvernement" und nicht nur ein par76

Begriff in Art. 11 des Senatsbeschlusses vom 8. September 1869. Vgl. Art. 19 n. F., dazu G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 308. 76

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lamentsabhängiges Vollzugsorgan einzusetzen. Aber die Mehrheit der Abgeordneten sah die „Regierung Thiers" lediglich als eine Übergangslösung an, die mit der Wiedereinführung der Monarchie ihr Ende finden sollte. Aus ihrer Sicht war es wichtig, Thiers in Abhängigkeit von der Nationalversammlung zu halten. Diesem Ziel diente auch das Gesetz vom 31. August 1871, das Thiers zwar den Titel eines Präsidenten der Republik verlieh, im übrigen aber die höchste Entscheidungsgewalt der Nationalversammlung erneut betonte 77 . In der Verfassungspraxis gelang es Thiers allerdings, aus der für ihn vorgesehenen Rolle eines „agent d'exécution" herauszutreten und „un vrai gouvernant" zu werden 78 . Die Nationalversammlung verabschiedete deshalb am 13. März 1873 ein Gesetz, das die Rechte des Präsidenten weiter einschränkte. Thiers versuchte daraufhin, einen Gesetzentwurf durchzubringen, der ein republikanisches Regime auf Dauer sichergestellt hätte. Als er damit scheiterte, trat er am 24. M a i 1873 zurück. Der Marschall Mac-Mahon wurde noch am gleichen Tage zum neuen Präsidenten gewählt. Das Gesetz vom 20. November 1873 vertraute ihm „le pouvoir exécutif" für 7 Jahre an. Man kann insgesamt feststellen, daß von 1871 bis zu den Verfassungsgesetzen von 1875 die Fülle der Staatsgewalt bei der Nationalversammlung lag. Die Exekutive sollte dagegen nur ein vom Parlament abhängiges Ausführungsorgan bilden, das folgerichtig in den verfassungsrechtlich bedeutsamen Gesetzen nicht mit dem Begriff „gouvernement", sondern mit dem Begriff „pouvoir exécutif" belegt wurde. Die autoritative Stellung der Nationalversammlung läßt es berechtigt erscheinen, in der verfassungsgeschichtlichen Literatur doch wieder in einem weiteren materiellen Sinn von einem Gouvernement zu sprechen, nämlich dem „Gouvernement de l'Assemblée 79 . Die Verfassung von 1875 bestand aus drei Gesetzen: dem Gesetz vom 24. Februar 1875 betreffend die Organisation des Senats, dem Gesetz vom 25. Februar 1875 betreffend die Organisation der staatlichen Gewalten und dem Gesetz vom 16. Juli 1875, das die Beziehungen zwischen den Gewalten regelte. Das gesamte Verfassungswerk stellte sich als ein Kompromiß dar, der viele Möglichkeiten der Entwicklung offenließ. Man wollte nur das unbedingt Erforderliche festlegen. Dazu schienen 34 Artikel ausreichend. Diese bestimmten in undogmatischer Weise die staatlichen Organe und deren Befugnisse. Allgemeine Prinzipien in bezug auf 77 Vgl. im Vorspruch: „. . . dans tous les cas la décision suprême appartient à l'Assemblée". 78 M. Piélot, Institutions Politiques, S. 447. 79 So z. B. G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 310; P. Bastid, Le Gouvernement d'Assemblée, S. 215, dort auch zum Begriff S. 3 ff.

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

Staat, Gesellschaft, Staatsgewalten und menschliche Freiheitsrechte fanden in die Verfassung keinen Eingang. Das Gesetz betreffend die Organisation der staatlichen Gewalten behandelte zwar in Art. 1 zunächst den Aufbau des Pouvoir législatif, die folgenden Artikel aber gingen nicht, wie es verfassungstheoretisch konsequent gewesen wäre, auf die beiden anderen Gewalten ein, sondern beschäftigten sich mit dem Organ „Präsident der Republik" und dessen Befugnissen. Der Präsident hatte zweierlei Funktionen: Zum einen konnte er auf die Gesetzgebung Einfluß nehmen, zum anderen war ihm die Exekutive anvertraut. In den Art. 7 und 9 des Gesetzes vom 25. Februar 1875 wurde dann auch der Begriff „pouvoir exécutif" verwandt. Art. 7 bestimmte, daß der Ministerrat die vollziehende Gewalt übernehmen sollte, wenn der Präsidentenstuhl vorübergehend unbesetzt war. Art. 9 sah Versailles als Sitz der beiden Kammern und des „pouvoir exécutif" vor 8 0 . A n anderer Stelle enthielten die Verfassungsgesetze von 1875 auch den Gouvernement-Begriff. Nach Art, 6 des Gesetzes vom 25. Februar waren die Minister für die Politik des „Gouvernement" verantwortlich, und nach Art. 7 des Gesetzes vom 16. Juli fertigte der Präsident die endgültig angenommenen Gesetze in dem der Übermittlung an das „Gouvernement" folgenden Monat aus. Dieser Wortwahl ist keine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung zuzumessen. Sie erscheint ebenso undogmatisch wie das gesamte Verfassungswerk. Denn mit dem Begriff Gouvernement ist in beiden Fällen dieselbe „Stelle" gemeint, die in den angeführten Artikeln 7 und 9 des Gesetzes vom 25. Februar 1875 als Pouvoir exécutif bezeichnet wird, nämlich die Leitung der vollziehenden Gewalt, die — jedenfalls de iure — dem Präsidenten allein zustand. Im Gegensatz zum Verfassunggeber versuchte man in der Staatsrechtslehre der 3. Republik, den Gouvernement-Begriff systematisch zu erfassen. Man unterschied im wesentlichen zwei große Bedeutungsbereiche, die auch in der hier vorliegenden Untersuchung hervorgetreten sind: Einmal kennzeichnet „le gouvernement" i n einem umfassenden Sinn die Ausübung der gesamten Staatsgewalt, das andere M a l ist der Begriff auf die Exekutive und (oder) ihre Organe beschränkt, wobei beide Bedeutungen — das hat die bisherige Untersuchung auch gezeigt — durchaus i n einer inneren Verbindung stehen. Esmein sagte dazu: „Le mot »gouvernement' est employé avec des sens divers en droit constitutionnel . . . Mais au sens propre et général, i l désigne l'exercice par le souverain de l'autorité publique; c'est la souveraineté mise en oeuvre" 8 1 . „Dans un 80

Das Gesetz vom 22. Juli 1879, das den „Regierungssitz" nach Paris verlegte, formulierte ebenso: „Le siège du Pouvoir exécutif et des deux Chambres est à Paris". 81 A. Esmein, Eléments de Droit constitutionnel français et comparé, S. 21.

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sens étroit et spécial, i l désigne seulement le pouvoir exécutif et ses organes immédiats" 82 . Esmein sah also die eigentliche Bedeutung des Begriffes in seinem weiten Inhalt, der die Ausübung der gesamten Staatsgewalt erfaßt. Er räumte aber ein, daß das Wort Gouvernement im engeren Sinne von Exekutive nicht nur in der Umgangssprache verbreitet sei, sondern auch in den Verfassungstexten, so in Art. 7 des Verfassungsgesetzes vom 16. Juli 1875, eine Rolle spiele. Er führte diesen Umstand einmal darauf zurück, daß die Exekutive häufig, wenn auch zu Unrecht, von den Bürgern als die alleinige Verwalterin aller Staatsgewalt angesehen werde, und zum anderen darauf, daß Rousseau, dessen mächtiger Einfluß auf Theorie und Sprache des Verfassungsrechts unverkennbar sei, den Begriff im engeren Sinne verstanden habe 88 . In der Tat hatte Rousseau im „Contrat Social", wie bereits ausgeführt, nur die Ausübung der vollziehenden Gewalt als Gouvernement bezeichnet. Andere Autoren beschränkten den Gouvernement-Begriff auf den Bereich der Exekutive. So erklärte Duguit: „Nous employons ici le mot gouvernement pour désigner ce que très souvent on appelle le pouvoir exécutif" 8 4 . Das Gouvernement war für ihn jedoch keine Staatsgewalt (pouvoir) im eigentlichen materiellen Sinne. Er unterschied drei „fonctions de l'Etat", nämlich die Legislative, die Administrative und die Rechtsprechung. Eine besondere „fonction gouvernementale" lehnte er, der den Staat als Dienstleistung (service public) begriff 85 , konsequenterweise ab 88 . „Le gouvernement" war nach seiner Auffassung ein Organ, und zwar das zweite Organ des Staates, „cet organe que, dans la langue politique moderne, on oppose au parlement, qui est placé à coté de lui, au sommet de l'Etat, souvent sous son contrôle, et qui joue particulièrement le rôle actif dans la direction des affaires publiques" 8 7 . Duguit vertrat also einen rein formell-organisatorischen Regierungsbegriff. Das Organ „Gouvernement" konnte an allen Staatsfunktionen teilhaben, es war nicht auf eine exekutive Tätigkeit beschränkt. A n seiner Spitze stand der Präsident, der de iure alle Kompetenzen in Händen hielt, auch wenn die Minister sie ausübten. Das galt jedenfalls für die Verfassung von 1875. Duguit unterschied prinzipiell zwei Regierungs82

Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. 84 Manuel de Droit Constitutionnel, S. 186; ebenso der s., Traité de Droit Constitutionnel, Bd. II, S. 768. 85 Zur Rechts- und Staatslehre Léon Duguits vgl. D. Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip, insb. S. 73 ff. 89 Manuel de Droit Constitutionnel, S. 88 ff. 87 Manuel de Droit Constitutionnel, S. 186. 83

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formen („formes de gouvernement") 88 . Entweder — so z.B. nach der amerikanischen Verfassung oder nach der französischen von 1875 — seien die Personen, welche die Regierung bildeten, wirkliche Repräsentanten der Staatsgewalt und stünden gleichberechtigt neben dem Parlament, oder die Regierung sei — wie nach der Constitution montagnarde von 1793 — ein bloßes Vollzugsinstrument des die Staatsgewalt allein repräsentierenden Parlaments. In anderer Weise als Duguit ordnete Carré de Malberg den Begriff „gouvernement" in den Bereich der Exekutive ein. Er unterschied drei staatliche Funktionen: die Legislative, die Administrative und die Rechtsprechung. Die Administrative unterteilte er in „l'administration stricto sensu" und „le gouvernement" 8®. Der Gouvernement-Begriff hatte für ihn also eine funktionale Bedeutung. Während sich die Administrative im engeren Sinn im bloßen Gesetzesvollzug erschöpfte, umfaßte das Gouvernement alle darüber hinausgehenden Regierungsbefugnisse. Aus dieser Unterscheidung ergab sich das Problem der „actes de gouvernement", d.h. die Frage, inwieweit im Regierungsbereich rechtliche Bindungen bestehen. Carré de Malberg sah den „acte de gouvernement" auch als einen „acte exécutif" an, nämlich als Rechtsvollzug, weil er zwar nicht an das einfache Gesetz, wohl aber an die Verfassung gebunden sei 90 . „Le gouvernement" gehörte deshalb nach seiner Meinung zur Exekutive, zur Administrative im weiteren Sinne. Malberg wandte sich entschieden gegen das Bestreben deutscher Autoren wie z.B. Otto Mayers, das Gouvernement nicht mit unter dem allgemeinen Begriff der Administrative zu begreifen. Im Jahre 1933 stellten Barthélémy / Duez fest, das Wort „Gouvernement" habe eine Vielzahl von Bedeutungen angenommen. Gewöhnlich umschreibe der Gouvernement-Begriff „l'ensemble des personnes qui, placées à la tête de l'Etat, exercent la souveraineté, et plus particulièrement l'ensemble des représentants du pouvoir exécutif" 9 1 . Es komme auch vor, daß sich die Bedeutung des Wortes „gouvernement" noch weiter verenge und sich ausschließlich auf die Minister in ihrer Gesamtheit, das Kabinett, beziehe. Schließlich bezeichne der Gouvernement-Begriff die höchste staatliche Leitungsbefugnis: „la direction suprême des affaires publiques". Die von Barthélémy / Duez beschriebenen Bedeutungsinhalte lassen sich wieder auf die beiden Grundkategorien des Gouvernement-Begriffes zurückführen. Einmal handelt es sich um den formellen oder organisatorischen Begriff: Gouvernement als die Gesamtheit der Personen, welche 88 89 90 91

Traité de Droit Constitutionnel, Bd. I V , S. 548. Contribution à la Théorie générale de l'Etat, S. 524. Ebd., S. 530 f. Traité de Droit Constitutionnel, S. 783.

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die Staatsgewalt ausüben, oder in einem engeren Sinne als derjenigen, welche die vollziehende Gewalt innehaben, oder, noch enger, als der Kabinettsmitglieder. Auf der anderen Seite steht die materielle Begriffsbestimmung: Gouvernement als die oberste Leitung der Staatsgeschäfte. Der materielle Begriff führte Barthélémy / Duez zu der Unterscheidung einer „fonction gouvernementale" und einer „fonction administrative", die jedoch in der Verfassungswirklichkeit nicht streng zu trennen seien 92 . Der Verfassung selbst waren, wie bereits dargelegt, solche Systematisierungen fremd. Das bedeutete nicht unbedingt einen Nachteil. So erklärt sich die außergewöhnliche Geltungsdauer der Verfassung von 1875 zumindest teilweise aus ihrem undogmatischen Charakter, der alle Möglichkeiten der Ausfüllung und Entwicklung offenließ. Erst im Juli 1940, nach der militärischen Niederlage gegen Deutschland, kam es zur Verfassungsrevision. M i t dem Verfassungsgesetz vom 10. Juli 1940 legte die Nationalversammlung alle Staatsgewalt in die Hände eines „Gouvernement de la République", mit dem Auftrag, eine neue Verfassung auszufertigen. Die Verfassungssprache nahm den Begriff Gouvernement i m organisatorischen Sinne zur Kennzeichnung des Exekutivorgans also gerade in dem Zusammenhang wieder auf, in dem diesem Organ alle Macht, sogar die verfassunggebende Gewalt, übertragen wurde. Damit bestätigt sich erneut die Feststellung, daß der Begriff Gouvernement immer eine starke, wenn nicht gar eine alle Staatsgewalt in sich vereinende Regierung bezeichnete. Mehrere Gesetze der Vichy-Regierung gaben dem organisatorischen Regierungsbegriff feste Umrisse, indem sie die Zusammensetzung des „gouvernement" festlegten. Das Gouvernement bestand aus dem Staatschef Marschall Pétain, seinen Ministern und einigen Staatssekretären 93 . Durch den Acte constitutionnel No. 11 vom 18. A p r i l 1942 wurde ein „chef du Gouvernement" eingesetzt. Das neue Staatsorgan hatte die Aufgabe, Frankreichs Innen- und Außenpolitik zu bestimmen. Sein Träger wurde vom Staatschef ernannt und war diesem gegenüber verantwortlich. Die Vichy-Regierung konnte ihre Pläne für eine neue Verfassung nicht mehr verwirklichen. Einer der letzten Entwürfe 9 4 sah eine Dreiteilung der Staatsgewalt in eine „fonction gouvernementale", eine „fonction législative" und eine „fonction juridictionnelle" vor, die von verschie92

Ebd., S. 783. Für die genaue personelle Zusammensetzung des Gouvernements, die sich mehrfach geändert hat, vgl. die Gesetze vom 12. Juli 1940, vom 6. September 1940, vom 1. November 1940, vom 10. Februar 1941, vom 23. Februar 1941 u. vom 18. April 1942. 94 Dieser Entwurf ist abgedruckt in: G. Beilia, Les Constitutions et les Principales Lois Politiques de la France depuis 1789, S. 386 ff.; vgl. dort auch zu seiner Herkunft. 98

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denen Organen ausgeübt werden sollten (Art. 12). Während der Senat und die Abgeordnetenkammer die Legislative bildeten, war die Gubernative dem Präsidenten der Republik, den Ministern und den Staatssekretären anvertraut (Art. 13, 14). „Le gouvernement" bezeichnete die Gesamtheit der die gubernative Gewalt ausübenden Personen (vgl. Art. 17 II, 26, 27). Neben dem materiellen Begriff „fonction gouvernementale" stand also der organisatorische Gouvernement-Begriff. Die im Vergleich zu früheren Verfassungstexten ungewöhnliche Wortwahl „fonction gouvernementale" machte deutlich, daß sich diese Staatsgewalt nicht auf die Ausführung von Gesetzen beschränken sollte (vgl. Art. 15 ff.). Die Vichy-Regierung hatte Zeit ihres Bestehens einen Gegenspieler, die Befreiungsfront des Generals de Gaulle, die den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht und deren „Kollaborateure" in Vichy organisierte. Nach dem Rückzug der deutschen Truppen trat die Befreiungsfront die Herrschaft in den befreiten Gebieten an und bildete eine provisorische Regierung, die mit der Ordonnance vom 3. Juni 1944 offiziell den Namen „Gouvernement provisoire de la République française" annahm. Die provisorische Regierung war zunächst ein sog. „gouvernement de fait", d.h. sie konnte sich im Gegensatz zu einem „gouvernement légal" nicht auf einen bestimmten, verfassungsrechtlich vorgesehenen Enstehungsvorgang berufen. A n ihrer Spitze stand der General de Gaulle, der Präsident des „Gouvernement provisoire". Er wählte die Minister aus, ernannte und entließ sie. Eine Gewaltenteilung fand nicht statt. Alle Staatsgewalt lag in der Hand eines Organs, das sowohl die Legislative wie die Exekutive ausübte. Eine Delegiertenversammlung, die sog. „Assemblée consultative provisoire", die den W i l l e n der Nation zum Ausdruck bringen sollte, hatte keine eigene Entscheidungsgewalt, sondern nur eine — wie schon der Name deutlich machte — beratende Funktion. Auf Grund dieser Machtverteilung hatte das Gouvernement provisoire quasi diktatorischen Charakter, „une structure autoritaire" 9 6 . Der Gouvernement-Begriff bezeichnete also auch in der Zusammensetzung „Gouvernement provisoire" eine übermächtige, alle Staatsgewalt in sich vereinende Regierung. Diese Bedeutung änderte sich mit dem Verfassungsgesetz vom 2. November 1945, das die provisorische Regierung auf eine rechtliche Grundlage stellte. Sie wurde ein „gouvernement légal". Gleichzeitig verlor sie einen erheblichen Teil ihrer Befugnisse an die neugewählte Nationalversammlung. Diese erhielt die gesetzgebende Gewalt (Art. 4). Sie sollte auch die neue Verfassung ausarbeiten (Art. 2). Sie nahm schließlich entscheidenden Einfluß auf die Bildung und den Fortbestand der Regierung, 95

G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 364.

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indem sie den „président du Gouvernement" wählte, die von diesem zusammengestellte Regierung und das Regierungsprogramm ihrer Billigung unterwarf und unter bestimmten Voraussetzungen den Rücktritt der Regierung erreichen konnte. „Le Gouvernement est responsable devant l'Assemblée" (Art. 1). Damit war das Gouvernement wieder auf den Bereich der Exekutive beschränkt. Es war nicht mehr der alleinige Sitz der Staatsgewalt, sondern nur noch eines ihrer Organe.

V I I . 4. Republik (1946 — 1958) Das Gesetz vom 2. November 1945 hatte eine Ubergangsregelung geschaffen, die mit dem Inkrafttreten einer neuen Verfassung ihr Ende finden sollte. Eine Kommission der verfassunggebenden Nationalversammlung arbeitete deshalb einen Verfassungsentwurf aus, der auch am 19. A p r i l 1946 im Plenum angenommen wurde. Der Entwurf wurde zwar in der Volksentscheidung vom 5. M a i 1946 mit knapper Mehrheit abgelehnt, er blieb jedoch für die verfassunggebende Versammlung auch nach dem negativen Abstimmungsergebnis der Ausgangspunkt für ihre weitere Arbeit, aus der schließlich die Verfassung vom 27. Oktober 1946 hervorging. Aus diesem Grunde wird der Entwurf vom 19. A p r i l 1946 in die vorliegende Untersuchung einbezogen. Der Begriff „gouvernement" w i r d im Text des April-Entwurfes weitgehend vermieden. W o er doch verwendet wird, handelt es sich einmal um die notwendige Übernahme der Bezeichnung „Gouvernement provisoire" für die bisherige Übergangsregierung (s. Art. 127, 128, 134) und zum anderen um zwei aus früheren Verfassungstexten bekannte Wendungen, in denen das Wort „gouvernement" eine weite, für den Verfassungsaufbau unwesentliche Bedeutung hat (vgl. Art. 21, 125). Der Verzicht auf den Gouvernement-Begriff ist, wie sich bereits am Beispiel früherer Verfassungen gezeigt hat 9 6 , ein sicheres Indiz dafür, daß die Stellung der Exekutive verhältnismäßig schwach ausgebildet ist. Die Nationalversammlung erhält dementsprechend auch in dem Verfassungsentwurf vom 19. A p r i l 1946 die absolute Vorherrschaft. Das V o l k übt seine Souveränität nur durch die Abgeordneten der Nationalversammlung aus (Art. 47) 97 . Damit entfällt jeder verfassungstheoretische Ansatz für eine Gewaltenteilung. Es gibt nur eine Gewalt, nämlich die Nationalversammlung. Diese wählt den Ministerpräsidenten (Art. 51, 76), der auch für die personelle Zusammensetzung und für das Programm 96

Vgl. oben insb. die Verfassungen der Revolutionszeit und die Verfassung von 1848. 97 Vgl. demgegenüber etwa Art. 20 Abs. 2 GG.

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seines Kabinetts die parlamentarische Zustimmung benötigt (Art. 79). Art. 80 legt die Ministerverantwortlichkeit fest, und Art. 57 spricht bezeichnenderweise davon, daß außerhalb der Sitzungsperiode das Bureau der Nationalversammlung „contrôle l'action du Cabinet". Die Regierung, wenn man diesen Begriff hier im Gegensatz zum Text des Entwurfes überhaupt verwenden will, ist darauf beschränkt, als parlamentsabhängiges Organ die Ausführung der Gesetze zu überwachen (vgl. Art. 78 Abs. 1). So konnte Pierre Cot in einem Bericht der Verfassungskommission zu Recht hervorheben, daß die Nationalversammlung „la pièce maîtresse, la clef de voûte de tout le système" sei 08 . Die verfassungsrechtliche Literatur hat dieses System der politischen Machtverteilung im Staate auch als „gouvernement d'assemblée" charakterisiert". Nachdem der Verfassungsentwurf vom 19. A p r i l 1946 die Probe des Volksentscheids nicht bestanden hatte, versuchte die Nationalversammlung, ohne ihr Konzept grundlegend zu ändern, mit Hilfe von Kompromissen eine breitere Mehrheit für einen neuen Entwurf zu finden. Nach wie vor sollte das Parlament die Vormachtstellung im Verfassungsgefüge erhalten, und die Exekutive durfte aus diesem Grund nicht allzu stark ausgebildet sein. Als entschiedenster Gegner des neuen Entwurfs der zweiten verfassunggebenden Versammlung erwies sich der General de Gaulle, der insbesondere die schwache Ausgestaltung der Exekutive bemängelte. I n einer Erklärung vom 27. August 1946 kritisierte de Gaulle das Fehlen eines Gouvernement — „dem Worte und dem Sinne nach" 1 0 0 : „Rien n'est plus nécessaire et rien n'est plus difficile à un Etat moderne que d'être gouverné, c'est — à-dire clairement et fermement dirigé dans son action intérieure et extérieure et administré avec méthode d'après cette seule direction. La Constitution devrait donc, avant tout, ménager au Gouvernement le maximum d'indépendance et de cohésion, faute desquelles i l ne serait rien qu'un organisme sans crédit et divisé contre lui-même. Or, le projet ne satisfait pas à ces nécessités essentielles. I l faut remarquer, tout d'abord, que le texte du projet ne contient même pas les mots de gouvernement' ou de ,pouvoir exécutif'. I l n'y est question que de ,Conseil des ministres' ou de »Cabinet*. Cependant, c'est la notion de gouverner, avec ce qu'elle implique de capacité d'action, et non pas seulement de délibération, qu'il importe, au contraire, de mettre en valeur jusque dans les termes" 1 0 1 . 98 Rapport supplémentaire fait au nom de la Commission de la Constitution sur les propositions de loi (vom 5. 4. 1946), zit. nach H. Gangl, Verfassungsfragen der Fünften Republik, S. 23. 99 P. Bastid, Le Gouvernement dAssemblée, S. 335; G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 388. 100 „Mot et chose", M. Prélot, Institutions Politiques, S. 531. 101 Ch. de Gaulle, Discours et Messages, Bd. II, S. 19/20. Hervorhebungen vom Verf.

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Diese Erklärung läßt de Gaulles Staatsvorstellung deutlich erkennen. Es gibt für ihn „den Staat", der mit fester Hand „regiert" werden muß. Insoweit nähert er sich einer Staatsauffassung in der deutschen Staatslehre, die auch „den Staat" und die diesen verkörpernde Regierung in den Mittelpunkt gerückt hat 1 0 2 . Der Gedanke des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie ist de Gaulle fremd. Deshalb steht das Gouvernement und nicht das Parlament im Vordergrund seiner Überlegungen. Die zusätzliche Verwendung des Begriffes „pouvoir exécutif" erscheint in diesem Zusammenhang als sprachlicher Fehlgriff. Die verfassungshistorische Untersuchung hat gezeigt, daß nur der Begriff „gouvernement" eine vom Parlament unabhängige, starke Regierung bezeichnet, wie sie von de Gaulle erstrebt wird, während der Begriff „pouvoir exécutif" gerade auf einen gegenteiligen Staatsaufbau hinweist. De Gaulle hat in seinen Reden gegen den Verfassungsentwurf von 1946 die Notwendigkeit eines „Gouvernement" immer wieder betont. Die Nationalversammlung sollte nach seiner Meinung auf eine Kontrollfunktion beschränkt sein, aber nicht selbst „regieren" 1 0 8 . Nur so könne die Exekutive über eine bloße „figuration exécutive" hinaus in die ihr gebührende Rolle des „Gouvernement" hineinwachsen 104 . In seiner berühmten Rede vom 16. Juni 1946 in Bayeux beschwor de Gaulle das Bild einer Nation „sous l'égide d'un Etat fort", mit einem „Gouvernement", das nicht nur eine von den Parteien beschickte „assemblage de délégations" darstellte 105 . Es ist sicher kein Zufall, daß sich gerade der General de Gaulle für eine starke Regierung, für ein Gouvernement aussprach. Autoritäre Führerpersönlichkeiten verlangen ein Gouvernement, sie wollen regieren, wie es in der Tradition des Wortes liegt, und nicht nur Gesetze ausführen 108 . Der Verfassunggeber von 1946 ist den de Gaulieschen Ideen nicht gefolgt. Er errichtete ein Regime, dessen demokratischer Charakter, wie Burdeau sagt, „est le plus accentué que nous ayons connu, tout en demeurant fidèle au principe représentatif et en excluant la démocratie directe" 1 0 7 . In diesem System war für den Gouvernement-Begriff kein Platz. Die Exekutive wurde nur durch ihre Organe bezeichnet: den Präsidenten der Republik (Art. 29 ff) und den Ministerrat (Art. 45 ff). Vom 102 103

Vgl. unten im dritten Teil der Arbeit, Kap. 2, I. Rede vom 29. September 1946 in Epinal, in: Discours et Messages, Bd. II,

S. 30. 104

Ebd., S. 30. Discours et Messages, Bd. II, S. 9 u. 11. 106 Aus diesem Grunde war de Gaulle auch im Januar 1946 als Präsident des „Gouvernement provisoire" zurückgetreten; dazu M. Prélot, Institutions Politiques, S. 522 f. 107 Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 391. 105

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Gouvernement war nur ausnahmsweise die Rede, und zwar einmal im Verhältnis zu den überseeischen Besitzungen und zu den in der französischen Union zusammengeschlossenen Gebieten (vgl. Art. 30, 62, 65), zum anderen in der sinngemäß aus der Verfassung von 1875 übernommenen Bestimmung, wonach der Präsident die vom Parlament beschlossenen Gesetze innerhalb von 10 Tagen nach der Übermittlung an das „Gouvernement" ausfertigen sollte (Art. 36). Der Exekutive stand ein Parlament gegenüber, dessen dualistischer Aufbau — neben die Nationalversammlung trat als Zweite Kammer der Rat der Republik (Art. 5) — nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß der Verfassunggeber nur die Erste Kammer mit den wichtigsten Machtbefugnissen ausgestattet hatte, der damit die Führungsrolle im gesamten Verfassungsystem zufallen sollte. Der theoretische Ansatz für dieses Konzept ergab sich schon aus der aus dem April-Entwurf übernommenen Bestimmung, wonach das französische V o l k als alleiniger Inhaber der Staatsgewalt diese nur durch die Abgeordneten der Nationalversammlung ausübte. Konsequenterweise oblag die Beschlußfassung über die Gesetze allein der Nationalversammlung (Art. 13), und die Minister waren nur gegenüber der Nationalversammlung verantwortlich (Art. 48). Der ausgeprägte demokratische Geist, der den Verfassunggeber von 1946 leitete, kam in der Devise zum Ausdruck, die mit an den Anfang der Verfassung gestellt war: „gouvernement du peuple, pour le peuple et par le peuple" (Art. 2). Das waren — nur in etwas geänderter Reihenfolge — die bekannten Worte, die Abraham Lincoln bei der Einweihung des Nationalfriedhofs von Gettysburg am 19. November 1863 gesprochen hatte 1 0 8 . Ebenso wie der angelsächsische Begriff „government", von dem die Übertragung in das Französische ausgehen mußte, bedeutete „le gouvernement" in diesem Zusammenhang staatliche Herrschaft schlechthin. Es handelte sich also um den umfassenden, materiellen Regierungsbegriff, der nicht auf die Kennzeichnung der Exekutive oder eines exekutiven Staatsorgans beschränkt war. Die Verfassung vom 27. Oktober 1946 erfuhr durch das Gesetz vom 6. Januar 1950 109 einige Ergänzungen in bezug auf die „pouvoirs publics". Das Gesetz, das Bestimmungen über den Sitz der Staatsorgane, über Petitionen, Untersuchungsausschüsse und Inkompatibilitäten, über Immunität und Indemnität enthielt, verwendete an mehreren Stellen den Gouvernement-Begriff (vgl. Art. 1, 11, 17, 19, 24), und zwar immer im organisatorischen Sinne zur Kennzeichnung des dem Parlament gegenüberstehenden Exekutivorgans. 108

„. . . and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth" (nach H. S. Commager, Documents of American History, Bd. I, Nr. 228. Journal Officiel 1950, S. 215 ff.

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Eine weitreichende Verfassungsänderung brachte das Gesetz vom 7. Dezember 1954 110 mit sich. Es bewirkte die teilweise Rückkehr zu dem parlamentarischen System der 3. Republik 1 1 1 . Der Begriff „gouvernement" spielte darin keine Rolle. Die Verfassungsrevision von 1954 konnte die 4. Republik nicht vor ihrem Schicksal bewahren. Frankreich stürzte von einer Regierungskrise in die andere. Der Grund lag nicht unbedingt in dem Fehlen einer von der Verfassung mit größeren Machtbefugnissen ausgestatteten Regierung, eines „gouvernement", wie es de Gaulle in seiner Erklärung vom 27. August 1946 gefordert hatte. Auch das System eines mehr oder weniger ausgeprägten „gouvernement d'assemblée" wäre funktionsfähig gewesen, wenn im Parlament klare Mehrheiten bestanden hätten. So war man sich in wechselnden Koalitionen zwar noch über den Sturz der einen und die Einsetzung einer anderen Regierung, nicht aber über das Programm der Regierungsarbeit einig. Als dann noch das Algerienproblem den französischen Staat in seinen Grundfesten erschütterte, erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Jetzt rief man den Kritiker des Systems an die Macht. Die Nationalversammlung setzte am 1. Juni 1958 die Regierung de Gaulle ein, die letzte Regierung der 4. Republik.

V I I I . 5. Republik (1958—heute) Der Übergang von der 4. zur 5. Republik erfolgte nicht auf revolutionärem, sondern — durch die Gesetze vom 3. Juni 1958 — auf legalem Wege. Das eine Gesetz, la Loi de Pleins Pouvoirs, übertrug die Ausübung aller Staatsgewalt auf die Regierung de Gaulle: „Pendant une durée de six mois à dater de la promulgation de la présente loi, le gouvernement de la République prendra par voie de décrets dénommés ordonnances, les mesures législatives nécessaires au redressement de la nation". Gesetzgebende und vollziehende Gewalt waren also während dieser Übergangszeit im Gouvernement vereinigt. Durch das zweite Gesetz vom 3. Juni 1958, la Loi Constitutionelle, erhielt die Regierung in Abänderung des Art. 90 der Verfassung von 1946 auch die verfassunggebende Gewalt, deren Ausübung allerdings an bestimmte Richtlinien geknüpft war. I n diesem Gesetz wurde der Begriff Gouvernement häufig verwendet. Er bezeichnete die Regierung im organisatorischen Sinn als das Organ, welches, abgesehen von seiner außerordentlichen und einmaligen Kompetenz für die Verfassunggebung, die vollziehende Gewalt 110

Journal Officiel 1954, S. 11440. M. Prélot, Institutions Politiques, S. 531. G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 389. 111

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

ausüben sollte. Das kam unter No. 2 besonders deutlich zum Ausdruck: „Le pouvoir exécutif et le pouvoir législatif doivent être effectivement séparés de façon que le gouvernement et le parlement assument chacun pour sa part et sous sa responsabilité la plénitude de leurs attributions". In der gleichen Bedeutung ist der Gouvernement-Begriff auch zum festen Bestandteil der neuen Verfassung vom 4. Oktober 1958 geworden. „Le gouvernement" ist in diesem Verfassungswerk ein kollegiales Staatsorgan, die Regierung im organisatorischen Sinn 1 1 2 . Sie besteht aus dem Ministerpräsidenten und seinem Kabinett (vgl. Art. 8, 21). Wer jedoch nach der oben wiedergegebenen Erklärung de Gaulles vom 27. August 1946 erwartet, daß die Verfassung von 1958 das Gouvernement zum mächtigsten Staatsorgan erhoben hat, sieht sich getäuscht. Schon rein äußerlich tritt zutage, daß die Regierung nicht den unbedingten Mittelpunkt des Verfassungsaufbaues bildet. Der Abschnitt betreffend „le gouvernement" ist kurz und steht nicht an der Spitze der Verfassung, sondern folgt im Anschluß an das umfangreiche Kapitel über die Stellung und die Rechte des Präsidenten der Republik. Der Staatspräsident ist der entscheidende Machtfaktor im konstitutionellen Gefüge der neuen Verfassung. Er ernennt den Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag auch die anderen Minister (Art. 8). Er hat den Vorsitz im Ministerrat (Art. 9). Er kann an der Gesetzgebung mitwirken (vgl. Art. 10) und unter bestimmten Umständen eine Volksentscheidung erzwingen (Art. 11) oder sogar die Nationalversammlung auflösen (Art. 12). Er ist Chef der Streitkräfte (Art. 15), ernennt die Staatsbeamten (Art. 13), schließt und ratifiziert die Verträge mit anderen Staaten (Art. 52). Schließlich räumt ihm Art. 16 noch besondere Befugnisse für den Fall eines nationalen Notstandes ein. Die Aufzählung seiner wichtigsten verfassungsmäßigen Befugnisse 118 soll die starke Stellung verdeutlichen, die der Staatspräsident nach der Verfassung innehat. Nach dem Wortlaut der Verfassung ist der „ElyséePalast" jedoch nicht der alleinige Hort der Staatsgewalt, sondern es ist eine Gewaltenteilung vorgesehen. So hat das Gouvernement nach Art. 20 Abs. 1 die bedeutende Aufgabe, die französische Politik zu bestimmen und zu leiten. In dieser Formulierung liegt zugleich eine Ausfüllung des organisatorischen Regierungsbegriffes mit materiellem Gehalt. Sie ent112 Nur in zwei Wendungen, die zudem wörtlich aus früheren Verfassungen übernommen sind, hat der Begriff „gouvernement" eine umfassendere materielle Bedeutung (vgl. Art. 2 Abs. 5 u. Art. 89 Abs. 5). 118 Eingehender dazu in der deutschsprachigen Literatur: P. Zürn, Die republikanische Monarchie, S. 50 ff; R. Echterhölter, Die verfassungsmäßige Ordnung der fünften französischen Republik, AöR Bd. 84, S. 336 ff; A. Sattler, Die Verfassung der Fünften Republik und das parlamentarische Regierungssystem, AöR Bd. 87, S. 335, 338 ff; C. J. Friedrich, Die neue französische Verfassung in politischer und historischer Sicht, S. 177 ff.

2. Kap.: „Le gouvernement" im französischen Verfassungsrecht

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spricht insoweit den Versuchen in der deutschen Staatsrechtslehre, einen materiellen Regierungsbegriff aufzustellen 114 . Die Bestimmung des Art. 20 Abs. 1 ist auch für die französische Staatsrechtslehre nicht neu. So hat Louis Trotabas 1930 mit ähnlichen Worten denselben Gedanken verfolgt, den die Verfassung von 1958 wieder aufnimmt: „Gouverner, c'est déterminer souverainement les buts de l'Etat — buts politiques, économiques, sociaux — et diriger l'Etat vers la réalisation de ces buts" 1 1 5 . In der Verfassungswirklichkeit der de Gaulle-Ära konnte der Art. 20 Abs. 1 seine Wirksamkeit allerdings nicht entfalten 116 . Der Staatspräsident übernahm auf Grund seiner Persönlichkeit und seines Einflusses auch die oberste politische Leitung des Staates. „II règne et i l gouverne" 1 1 7 . Den Weg dahin ebnete eine durch Volksentscheid vom 28. Oktober 1962 angenommene Verfassungsänderung, welche die plebiszitäre, d.h. auf unmittelbarer W a h l beruhende Präsidentschaft festlegte. A m 31. Januar 1964 konnte de Gaulle dann vor der Presse erklären „que l'autorité indivisible de l'Etat est confiée tout entière au Président par le peuple qui l'a élu, qu'il n'en existe aucune autre, ni ministérielle, ni civile, ni militaire, ni judiciaire, qui ne soit conférée et maintenue par l u i " 1 1 8 . Damit wies er „dem Staat", verkörpert in der Person des Staatspräsidenten, wieder den Platz im Verfassungsleben zu, den ihm Parlamentsherrschaft und Parteiendemokratie nach seiner Auffassung genommen hatten 1 1 9 . Die Regierung wurde ein bloßes Instrument in der Hand des Staatspräsidenten, der sich nicht mit der ihm vom Verfassunggeber ursprünglich zugedachten Rolle eines obersten Schiedsrichters (vgl. Art. 5) begnügen wollte. Der Staatspräsident habe, so erklärte de Gaulle in der Pressekonferenz vom 31. Januar 1964 weiter, jederzeit die Möglichkeit, einen Premierminister zu wechseln, der die ihm gestellte Aufgabe erfüllt habe oder der nicht mehr das Vertrauen des Präsidenten genieße 120 . Wenn man sich nicht an die Terminologie der Verfassung hält und unter dem Gouvernement bei einem weiteren Verständnis des Begriffes alle dem Parlament und den Gerichten gegenüberstehenden exekutiven Staatsorgane, also auch den Staatspräsidenten begreift, so hat de Gaulle 114

Dazu unten Teil I I der Arbeit, Kap. 4 I, und Teil III, Kap. 1 III. I . Twtabas, Constitution et Gouvernement de la France, S. 8. 116 P. E. Goose, Französisches Verfassungsrecht, JuS 1973, S. 601; P. Zürn, Die republikanische Monarchie, S. 105, 257 ff. 117 So S. Arne (L'Esprit de la Ve République, S. 666 ff) in einer kritischen Analyse der 5. Republik. 118 Zit. nach A. Hauriou, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 722. 119 Vgl. G. Burdeau, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 438: „Son originalité (Gemeint ist die Verfassung von 1958), c'est de réintroduire l'Etat sur la scène politique". Ähnlich ders., S. 572. 120 Vgl. bei A. Hauriou, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 721. 115

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

sein in der Erklärung vom 27. August 1946 angestrebtes Ziel doch verwirklicht: Eine starke Regierung, die den Staat „mit fester Hand" führen kann, ein „gouvernement présidentiel". In diesem Sinne versteht wohl auch Michel Debré, der „principal architecte" 1 2 1 der neuen Verfassung, den Begriff „gouvernement", wenn er das Verfassungswerk als eine „Chance" für alle diejenigen preist, „qui veulent un Etat, c'est-à-dire, avant tout autre chose, un gouvernement" 122 . Die Verfassung von 1958 hat noch heute Bestand. Die bedenklichen Erscheinungen eines „persönlichen Regiments" 128 des Staatspräsidenten, wie sie insbesondere in der Pressekonferenz vom 31. Januar 1964 zutagegetreten waren, schwächten sich nach de Gaulies Rücktritt ab, ohne daß der Grundsatz des „gouvernement présidentiel" aufgegeben wurde. Pompidou hatte ein nüchterneres Verhältnis zur Macht als sein von persönlichem Charisma durchdrungener Vorgänger. Aber während de Gaulle im wesentlichen nur die Außen- und Algerienpolitik sowie die Verteidigungspolitik seiner persönlichen Entscheidung vorbehalten hatte, dehnte Pompidou die unmittelbare Einflußnahme des Präsidenten auf alle Bereiche der Politik aus 124 . Die Art schließlich, in der er 1972 den damaligen Premierminister Chaban-Delmas ablöste und Messmer als neuen Premier einsetzte, zeigte deutlich, daß in dem Verhältnis zwischen Präsident und Regierung, wie es sich unter de Gaulle herausgebildet hatte, keine entscheidende Veränderung eingetreten war. Das „gouvernement" im eigentlichen Sinn lag weiterhin in den Händen des Staatspräsidenten. Es bleibt abzuwarten, wie die Entwicklung in der Amtszeit Giscard d'Estaings verlaufen wird.

IX. Zusammenfassung Die Untersuchung hat gezeigt, daß innerhalb der verfassunggebenden politischen Kräfte Frankreichs diejenigen, die ein besonders ausgeprägtes demokratisches ßtaatsverständnis für sich in Anspruch nahmen, den Begriff „gouvernement" aus dem verfassungsrechtlichen Vokabular zu verbannen suchten 125 . Sie zogen es vor, nur von „le pouvoir exécutif" oder „le conseil exécutif" zu sprechen, um den unbedingten Vorrang der gesetz121 jy Wahl, Aux Origines de la Nouvelle Constitution, S. 31, mit ausführlichen Hinweisen. 122 Rede vor dem Conseil d'Etat am 27. August 1958, abgedruckt in: Revue Française de Science Politique, Bd. IX, 1959, S. 7 ff, 29. 123 In der französischen Literatur wird von einer „monarchie élective" gesprochen (A. Hauriou, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 869 f.). 124 Vgl. P. E. Goose, JuS 1973, S. 601. 125 Ebenso H. Gangl, Verfassungsfragen der Fünften Republik, S. 35.

2. Kap.: „Le gouvernement" im französischen Verfassungsrecht

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gebenden Gewalt und des Parlaments deutlich zu machen. Beispielhaft für dieses Bemühen sind die Verfassungen der Revolutionszeit, sowie die Verfassungen von 1848 und 1946. Die Verfassunggeber von 1814 und 1830 waren nicht in gleicher Weise von demokratischen Idealen erfüllt, aber auch sie vermieden den Begriff „gouvernement" und verwendeten stattdessen den Begriff „puissance exécutive", um eine gegenüber der vorausgegangenen Verfassungsepoche deutliche Schwächung und eine gewisse demokratisch-parlamentarische „Anbindung" der Exekutive zum Ausdruck zu bringen. Die Motive für die Hintansetzung des Gouvernement-Begriffes in der französischen Verfassungssprache reichen bis in die Zeit des Ancien Régime zurück 126 . „Le gouvernement" als Kennzeichnung für den alle Staatsgewalt in sich vereinenden Machtapparat des absoluten Königtums wirkte auch auf spätere Verfassunggeber immer noch abschreckend. Hier bewahrheitet sich die Feststellung Haurious, daß die politischen Geschehnisse in Frankreich seit 1789 nicht zu begreifen sind, wenn man ihren Ausgangspunkt, das Ancien Régime, unberücksichtigt läßt 1 2 7 . Der Gouvernement-Begriff hat jedoch nicht nur im Ancien Régime, sondern auch in der jüngeren Verfassungsgeschichte wiederholt eine übermächtige oder sogar mit dem staatlichen Souverän gleichzusetzende Exekutivgewalt bezeichnet und auf diese Weise seiner Einschätzung als einer „institution antipopulaire 1 1 1 2 8 weiteren Vorschub geleistet. Hierfür legen die Konsulatsverfassung und die Verfassungen der beiden Kaiserreiche ebenso Zeugnis ab wie das „Gouvernement révolutionnaire" von 1793/94, das „Gouvernement de la Défense nationale" von 1870/71, das „Gouvernement de la République" Marschall Pétains und das „Gouvernement provisoire" General de Gaulies. Schwierigkeiten bereitet die Einordnung der gegenwärtig geltenden Verfassung vom 4. Oktober 1958. Geht man allein vom Wortlaut des Verfassungstextes aus, so bezeichnet der Begriff „gouvernement" ein exekutives Staatsorgan, das zwar stärker ausgebildet ist als der „Conseil des Ministres" in der Verfassung von 1946, das jedoch i n ein System der Gewaltenteilung eingebettet ist und innerhalb dieses Systems eindeutig im „Schatten" des Staatspräsidenten steht. Man trifft das Regierungsverständnis der verfassunggebenden Kräfte der 5. Republik aber nur dann, wenn man über die enge Terminologie der Verfassung hinausgeht und unter dem Gouvernement in einem weiteren Sinne auch das Amt des Staatspräsidenten begreift. So gelangt man wieder zu einem Gouverne128 Die „Belastung" des Gouvernement-Begriffes erfolgte also nicht erst unter Bonapartes Herrschaft (so aber M. Prélot, Institutions Politiques, S. 681). 127 A. Hauriou, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 620. 128 Vgl. oben Abschn. I I („Die Zeit der Revolution") a. E.

6 Frotsdier

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I. Teil: Die Begriffe „government" und „gouvernement"

ment-Begriff, der dem früherer Verfassungen entspricht: ein — jedenfalls i n der politischen Praxis — übermächtiges „gouvernement présidentiel". Andererseits weist die Terminologie der Verfassung von 1958 in eine Richtung, i n der sich der Gouvernement-Begriff sicherlich weiterentwickeln und durchsetzen wird, nämlich als eine ohne Rücksicht auf ihre „monarchische Vergangenheit" auch i n der Demokratie brauchbare Kennzeichnung des leitenden Exekutivorgans. In diesem engen organisatorischen Sinne w i r d der Begriff „gouvernement" bereits überwiegend im Schrifttum verwendet 1 2 9 .

129 So schon entgegen der Begriffswahl des Verfassimggebers von 1946: R. Pinto, Eléments de Droit Constitutionnel, S. 454. Zur Verfassung von 1958 etwa: J. Chateîain, La Nouvelle Constitution et le Régime Politique de la France, S. 36 ff, 75 ff; A. Hauriou, Droit Constitutionnel et Institutions Politiques, S. 748 ff.

Zweiter Teil

Die Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Staats- und Verfassungsrecht 1. Kapitel

Seine Entstehung und seine Verwendung im Reichsstaatsrecht zu Beginn der Neuzeit I. Regierung als ursprünglich funktioneller Begriff Zunächst bildete sich im späten 13. Jahrhundert aus dem lateinischen „regere" und dem altfranzösischen „reger" das mittelhochdeutsche Wort „regieren", „ein zierliches Schreiberwort", das i n fürstlichen und städtischen Kanzleien gebraucht wurde, „um die Kunst der obrigkeitlichen Gesamtleitung zu bezeichnen" 1 . Im 15. Jahrhundert kamen dann die Substantive „Regierung" und das vom lateinischen „regimentum" abgeleitete „Regiment" hinzu 2 . So sprach Friedrich III. in der Frankfurter Landfriedensordnung vom 14. August 14423 davon, daß er nach seiner Krönung „nu in anbeginn unsers regiments" von erheblichen Mißständen innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, von Raub, Mord und Brand, vernommen habe, und Maximilian formulierte im Vorspruch des sog. Ewigen Landfriedens vom 7. August 1495: „Als W i r hievor zu der Höche und Last des Hailigen Römischen Reichs erweit und nu zu Regierung desselben komen sind". Die Begriffe „Regierung" und „Regiment" wurden hier gleichbedeutend verwandt. Sie kennzeichneten die staatliche Gesamtleitung und damit die Herrschertätigkeit. Der König regierte, kam 1 J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 527. Zur Herkunft noch: F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Stichwort „regieren". 2 H. Paul/W. Betz, Deutsches Wörterbuch, S. 505; P.-L. Weinacht, Staat, Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, S. 42; Der Große Duden, Bd. 7, Stichwort „Regiment". 3 Texte betr. das alte Reichsstaatsrecht werden, soweit kein besonderer Hinweis erfolgt, nach K. Zeumers Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit zitiert.

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

an die Regierung, begann sein Regiment. Das Wort Regierung hatte also ursprünglich eine funktionelle, keine organisatorische Bedeutung. Das wird auch i n § 10 des Ewigen Landfriedens deutlich, in dem Maximilian alle Fürsten und Stände des Reiches auffordert, „das ir diesen obgeschriben Friden und Unser Gebot mit allen Puncten, Artikeln und Inhalt stät und vest halten, auch durch ewer Fürstenthumb, Graveschafft, Herrschaft, Gebiet, und was jecklicher in Regierung und Bevelch hat, mit ewren Amptlüten, Vitzthumen, Pflegern, Verwesern, Stathaltern, wie die Namen haben, auch ewrn Undertanen zu halten und zu voltziechen ernstlich schaffet. . .". Regierung und Verwaltung wurden zu dieser Zeit nicht unterschieden. Waren beide Ausdrücke gekoppelt, so handelte es sich um eine Tautologie 4 . Die Aufgliederung der hoheitlichen Gewalt in verschiedene Funktionen — Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung — erfolgte erst später. Insbesondere umfaßte der Begriff Regierung auch die richterliche Tätigkeit des Herrschers. Das Richteramt kann sogar als der Ursprung aller öffentlichen Gewalt angesehen werden, weil sich jedem Herrscher der Schutz von Frieden und Recht als erste Aufgabe stellte, aus der dann weitere nichtrichterliche Herrscherfunktionen erwuchsen. „Die Gerichtsbarkeit ist es, welche sich zur Landeshoheit entwickelt" 5 . Die sprachliche Verwandtschaft der Worte Regierung, regieren (regere), Regent und richten, Richter, die alle zu der indogermanischen Wortsippe von „recht" gehören 6 , bestätigt die aufgezeigte Entwicklung. Man darf diesen Zusammenhang zwischen Recht, Richteramt und Regierung allerdings nicht mißverstehen. Der Regent erlangte mit dem Richteramt und mit der Regierung ein auf Macht beruhendes Entscheidungsmonopol, ohne daß die sprachliche Verwandtschaft auch ein gewisses Maß an Recht im Sinne von materialer Gerechtigkeit indizieren könnte.

II. Regierung als organisatorischer Begriff Neben seinem funktionellen Gehalt nahm der Regierungsbegriff auch bald eine organisatorische Bedeutung an. Funktion und Funktionsträger wurden im Sprachgebrauch nicht mehr unterschieden, sondern mit demselben Wort belegt. Wer die Regierung ausübte, war die Regierung. 4

H. O. Meisner: Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, S. 35. A. Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, Bd. 1, Vorwort S. V. übereinstimmend E. Kaufmann, in: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. III, S. 690; O. Brunner, Vom Gottesgnaden tum zum monarchischen Prinzip, Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, S. 288; H. O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, S. 26 u. 37. 6 Der Große Duden, Bd. 7, Stichwort „regieren". 5

1. Kap.: Im Reichsstaatsrecht zu Beginn der Neuzeit

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Diese Entwicklung läßt sich besonders anschaulich anhand der sog. Regimentsordnungen vom 2. Juli 1500 und vom 26. M a i 1521 darstellen. Die auf dem Reichstag zu Augsburg beschlossene Regimentsordnung Maximilians I. verwirklichte ein Ziel der Reformbestrebungen, die sich damals, geführt von dem Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg i n Deutschland Bahn brachen 7. Der Kaiser stimmte der Errichtung eines von den Reichsständen zu besetzenden Regierungsausschusses, des „Reichsregiments", zu. Dieses Gremium, das aus 21 Personen bestand und dessen Vorsitz der Kaiser innehatte, sollte in der Zeit, in welcher der Reichstag nicht tagte, die Regierungsgeschäfte wahrnehmen 8 . Die Regimentsordnung von 1500 bezeichnete dieses Gremium jedoch noch nicht mit dem heute geläufigen Ausdruck Reichsregiment, sondern sprach durchweg von dem „Reichs-Raht" 9 . Nur in den §§ 49, 50, die den Schluß der Regimentsordnung bildeten, erfolgte eine Gleichsetzung von „Raht" und „Regiment": „das vorgemelt Regiment und Raht" und „dem gedachten Regiment und Raht". Daneben wurden die Worte „Regierung" und „Regiment" im funktionellen Sinne gebraucht, so im Vorspruch („zur Regierung kommen", „gut Regiment, Gericht, Recht und Handhabung") und in den §§ 49, 50 („Regiment und Ordnung", „Ordnung, Regiment, Recht . . ."). In der Folgezeit wurde der Begriff „Reichs-Raht" i n der Urkundensprache zurückgedrängt, und das Wort „Regiment" nahm seinen Platz ein. Schon im Augsburger Reichsabschied vom 10. September 1500 war ausdrücklich bestimmt, daß der Reichsrat von nun an „Regiment" heißen sollte: „Wiewohl Wir, auch Unser und des Heiligen Reichs aufgericht Regiment, in der Ordnung desselben, Unsers und des Heiligen Reichs Rath genannt und intituliert haben, wollen w i r doch aus Ursachen, Uns dazu bewegt, daß solcher Titul abseyn und nun hinfür Unser und des Heiligen Reichs Regiment, auch die Personen desselben Regiments, Unser und des Reichs Regenten geheißen und genannt werden sollen, von allermänniglich" (Abschn. X X X V I I ) . Damit wurde die Regierungsfunktion dieses Gremiums, das sich nicht nur auf „Rath"-Schläge beschränken sollte, auch sprachlich hervorgehoben. Das zweite Reichsregiment unter der Herrschaft Karls V. wurde dann durchweg mit dem Begriff „Regiment" bezeichnet. In der Wahlkapitulation vom 3. Juli 1519 versprach Karl, er wolle „ein löblich, erlich Regiment mit fromen, annemblichen, tapfern, verstendigen, redlichen Personen 7 O. Kimmmich, Deutsche Verfassungsgeschichte, Reichsregiment, insb. S. 27 ff. 8 Zur Zusammensetzung und zu den Aufgaben des einzelnen vgl. W. Römisch, Das Reichsregiment, der rungskollegien in den deutschen Territorien hinweist 9 Vgl. insb. § 1, aber auch die folgenden §§.

S. 132; W. Römisch, Das ersten Reichsregiments im auch auf ähnliche Regie(S. 31).

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

Teutscher Nation neben etlichen Churfursten und Fürsten . . . aufrichten". Dies Versprechen machte er mit der Regimentsordnung vom 26. M a i 1521 wahr. Danach wurde für die Zeit seiner Abwesenheit vom Reich ein Regierungskollegium, bestehend aus 22 Personen einschließlich des kaiserlichen Statthalters, in Deutschland eingesetzt. Dieser Ausschuß wurde anders als in der Regimentsordnung Maximilians nur noch ausnahmsweise als Reichsrat bezeichnet 10 . Er trug jetzt den Namen „Regiment" 1 1 . Regierungssitz wurde Nürnberg. § 8 bestimmte, daß zunächst für anderthalb Jahre „unser Regiment gen Nürenberg gelegt" werden sollte. Der organisatorische Regierungsbegriff, wie er in der Bezeichnung „Reichsregiment" besonders sinnfällig wurde, blieb jedoch die Ausnahme. Zumeist wurde der Begriff Regierung weiter i n dem Sinne verwandt, daß er die staatliche Gesamtleitung, die Herrschertätigkeit, kennzeichnete. Dafür einige Beispiele aus der Regierungszeit Karls V.: „. . . in Zeit solicher Kuniglicher Wirde, Ambts und Regierung . . ," 1 2 , in bzw. bei „Zeit Unserer Regierung" 13 , „zur Regierung des Reichs kommen" 1 4 , „ i n Eingang Unserer Regierung" 15 , „in Regierung und Befelch haben" 1 6 . A n anderer Stelle zielte der Regierungsbegriff weniger auf die leitende Funktion und die Tätigkeit des Herrschers als auf den Zustand der Herrschaft: „gut Regiment, Fride, Recht, auch gute Ordnung und Pollicei" 1 7 .

10

So etwa §§11, 15, 25. Vgl. § § 1 , 3 , 4, 6, 8, 9 u. a. 12 § 1 der Wahlkapitulation vom 3. Juli 1519. 18 §§ 11, 24 der Wahlkapitulation. 14 Vorspruch der Regimentsordnung von 1521. 15 Sog. Erklärung des Landfriedens vom 10. Februar 1522 u. ebenso § 1 des Landfriedens vom 30. Juni 1548. 18 Abschn. X X I X , § 4 des Landfriedens von 1548. 17 Vorspruch der Regimentsordnung von 1521. 11

2. Kapitel

Verfall des Reiches und Aufstieg der Territorien im 17./18. Jahrhundert Der Regierungsbegriff im Zeitalter des Absolutismus I. Die Begriffsbildung im Reichs- und Landesrecht In der Folgezeit blieb es bei der zweispurigen Verwendung des Begriffes „Regierung". Seine funktionelle Bedeutung trat in den häufig wiederkehrenden Formeln von der „Antrettung der Kayserlichen Regierung" und der „Zeit seiner Regierung" zutage 1 . Neben der kaiserlichen rückte allerdings die landesherrliche Regierung immer mehr in den Vordergrund. M i t dem Ende des 30-jährigen Krieges, also seit dem Westfälischen Frieden erlangten die deutschen Territorien endgültig den Status souveräner Staaten. Souveränität bedeutete die Innehabung der höchsten Herrschaftsgewalt im Innern und Unabhängigkeit nach außen. Obwohl die deutschen Territorien ihre Eigenstaatlichkeit im letzten Grund nur vom Reich ableiten konnten, wurde die Souveränität in Deutschland doch zu einer Eigenschaft der Landesherren, nicht des Kaisers 2 . Darin liegt die Besonderheit der deutschen Verfassungsentwicklung im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern. Die Konzentration der Souveränität in der Person des Landesherrn schuf die Voraussetzung für die Entstehung des absolutistischen Staates. Seine Kennzeichen waren der Abbau aller demokratischen Tendenzen, wie sie in den politischen Mitwirkungs- und Mitspracherechten der Stände zum Ausdruck gekommen waren, die einheitliche Ausrichtung und Unterordnung des politischen Geschehens unter den W i l l e n des Landesherrn, eine entsprechend straff organisierte Verwaltung und ein stehendes Heer 3 . Die Ausübung dieser 1 Vgl. die Belehnung des Freiherrn von Taxis mit dem Reichspostmeisteramt, Lehensbrief vom 27. Juli 1615; § 168 des Regensburger Reichstagsabschieds vom 17. Mai 1654; Art. 11, 13, 22, 23, 26 des Entwurfes einer immerwährenden Wahlkapitulation vom 8. Juli 1711. 2 O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 201. Zur Entwicklung der landesherrlichen Souveränität vgl. C. Bornhak, Deutsche Verfassungsgesdiichte vom Westfälischen Frieden an, S. 134 ff. 3 O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 240. G. Oestreich (Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 188 ff.) gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff „Sozialdisziplinierung", um den absoluten Staat zu kennzeichnen.

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

absolutistischen Macht eines souveränen Fürsten war gemeint, wenn von landesherrlicher Regierung im funktionellen Sinn die Rede war. Der Umfang des funktionellen Regierungsbegriffes war in diesem Fall also erheblich weiter gesteckt als bei der kaiserlichen Regierung. Im weiteren Verlauf der geschichtlichen Entwicklung wurde der Absolutismus dahin verfeinert, daß die allumfassende Herrschaftsgewalt des Landesherrn zwar nicht geschmälert, aber doch an einen sittlichen Maßstab gebunden wurde. Der sog. aufgeklärte Absolutismus 4 , der den Staat auf die naturrechtliche Lehre vom Gesellschaftsvertrag gründete, legte dem Monarchen Pflichten auf und verlangte von ihm, daß er sein Handeln am „Wohl des Staats", am „gemeinschaftlichen W o h l 5 ausrichtete. W i e der Regierungsbegriff unter diesen Verhältnissen zu bestimmen war, zeigt die Definition in Johann Heinrich Zedlers Universallexikon aus dem Jahre 1741: „Regierung, Regiment, Regence, Gouvernement, ist im eigentlichen und rechtlichen Verstände die Verwaltung des gemeinen Wesens und Besorgung alles dessen, so zur Erhaltung und Beförderung der Wohlfahrt des Staats ersprießlich ist, oder die höchste und oberste Bothmäßigkeit eines ordentlich regierenden Landes-Fürsten oder Herrn, welche von ihm über die Stände und Unterthanen und das ihm unterthänige Land, zur Erhalt- und Behauptung des gemeinen Nutzens und Wohlwesens, im geist- und weltlichen Stande, und zu Ertheilung des Rechtens verführet wird. Der höchste Zweck einer wohleingerichteten Regierung ist, oder soll seyn, wie in allen anderen menschlichen Handlungen, die Ehre Gottes; der nächste Zweck hingegen die schon gedachte Behauptung des gemeinen Nutzens und Wohlstandes. Die hierzu gehörigen Hauptstücke sind: Die Erhaltung der Ehre, Hoheit, Macht und Ansehens des Landes-Fürsten, die ihm in Ansehen seines Standes zukommen; die Handhabung der Gerechtigkeit, Friedes und Ruhe, zu Beförderund Verbesserung der Nahrung und des Vermögens der Einwohner; die Ertheilung eines gleich durchgehenden Rechts zwischen den Unterthanen, daß ein jeder bey dem Seinen geschützet, und ihm zu seinen rechtmäßigen Forderungen schleunig verholffen werde; die nöthige Anstalt, den Unterthanen Schirm und Sicherheit wider auswärtige Gewalt zu halten. Diejenigen in Deutschland, die dergleichen Regierung führen, werden zum Unterscheid der andern, regierende Herren genennet" 6 .

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Dazu F. Härtung, Der aufgeklärte Absolutismus, S. 152 ff.; G. P. Gooch, Der aufgeklärte Absolutismus, S. 65 ff.; H. Conrad, Staatsgedanke und Staatspraxis des aufgeklärten Absolutismus. 5 Vgl. §§ 77, 78 Einl. zum Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten vom 20.3.1791, in dem die Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus einen späten gesetzlichen Ausdruck gefunden hat; dazu H. Conrad ebd., S. 14, 25. 6 J. H. Zedlers Universallexikon, Bd. 30, Sp. 1793.

2. Kap.: Im Zeitalter des Absolutismus

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Neben der deutlich zum Ausdruck kommenden Verwandtschaft von Regierung und Regiment mit dem französischen Gouvernement ist noch bemerkenswert, daß die bereits zu Maximilians Zeiten bestehende Gleichsetzung der Begriffe „Regierung" und „Verwaltung" weiterhin wirksam ist. Der Regierungsbegriff war noch undifferenziert und umfaßte als solcher die gesamte Herrschertätigkeit. Deren wichtigste Aspekte wurden daher von Zedier in seine Regierungsdefinition aufgenommen: Die Erteilung gleichen Rechts und die Handhabung der Gerechtigkeit, die Aufrechterhaltung von Frieden und Ruhe im Innern, der Schutz der Untertanen gegen auswärtige Mächte, die Beförderung und Verbesserung der Nahrung und des Vermögens der Einwohner, auch die Behauptung des gemeinen Wohlwesens in geistlichen Dingen und schließlich die Erhaltung der Ehre, Hoheit, Macht und des Ansehens des Landesfürsten selbst. In ähnlicher Weise, nur mit den entsprechenden französischen Ausdrücken „gouvernement" und „administration", hat Friedrich II. von Preußen in seinem französisch abgefaßten Politischen Testament aus dem Jahre 1768 die Begriffe Regierung und Verwaltung gleichbedeutend verwandt 7 . Die systematischen Unterscheidungen in dem Bereich der Staatsgewalt, wie sie uns heute vertraut sind, waren erst ein Werk der konstitutionellen Staatslehre. Neben der funktionellen gewann die organisatorische Komponente des Regierungsbegriffes an Bedeutung. Wer die Regierung innehatte, war die Regierung. Diese Fortschreibung des Sprachgebrauchs von der Funktion auf den Träger wirkte sich nicht nur auf den im Rechtssinne alleinigen Inhaber der Regierungsgewalt, nämlich den Landesfürsten aus, sondern auch auf seine Helfer, die im tatsächlichen die Regierungsfunktion (mit-) ausübten. Sie bildeten Regierungskollegien oder, kurz genannt, Regierungen. Auf diese Weise ist der Begriff Regierung auf behördliche Institutionen übertragen worden 8 . Die Verfassungsurkunde für das Herzogtum Preußen vom 14. November 16619 gibt ein anschauliches Beispiel für die dargestellte Entwicklung. Nachdem zunächst nur von der Regierung bzw. dem Regiment im funktionellen Sinn die Rede ist, geht die Verfassung unter Nr. 9 auf das Organ „Regierung" ein und bestimmt, „daß die ordentliche Regierung in diesen landen allezeit von vier oberräthen, 7 Die politischen Testamente Friedrichs des Großen, S. 177 („. . . pour maintenir la sûreté publique et l'ordre dans le gouvernement. Dans un pays dont l'administration est sage, tout doit être combiné et les différentes branches de gouvernement si bien liées entre elles qu'elles composent un tout parfait".) u. S. 230 („Au reste, ayant porté le fardeau de l'administration toute ma vie, je n'ai pas la démance de vouloir gouverner après ma mort"). Im allgemeinen überwiegt der Begriff „gouvernement" (vgl. z.B. S. 37 f, 109 ff). 8 H. O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, S. 38. 9 Text nach W. Altmann, Ausgewählte Urkunden zur brandenburgisch-preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 1. Teil, S. 118 ff.

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

als einem landhofmeister oberburggrafen canzlern und obermarschallen bestellet und angeordnet sein soll". Sitz „dieser unserer Regierung" sollte Königsberg sein. Die Bezeichnung „Regierung", neben der durchaus auch andere Ausdrücke wie „Kanzlei", „Hofrat" oder „Geheimer Rat" 1 0 geläufig waren, bezog sich zumeist auf die Zentralbehörde im Territorialstaat. In Preußen allerdings trug gewöhnlich das oberste Landeskollegium in den Provinzen diesen Namen. Der Grund ist darin zu suchen, daß mehrere selbständige Territorialstaaten in dem größeren preußischen Gesamtstaat verschmolzen waren und dabei die ehemals zentralinstanzlichen Regierungen auf die nächst niedrigere Organisationsstufe absanken 11 . So wurde etwa die ostfriesische Zentralbehörde im 17. Jahrhundert als „Kanzlei" oder „Regierung" bezeichnet 12 . Ihre Aufgaben gingen dann mit Beginn der preußischen Herrschaft im Jahre 1744 auf die preußische (Provinzial-) „Regierung" über. Während die „Regierungen" ursprünglich für alle hoheitlichen Aufgaben zuständig waren, verwandelten sie sich später vielfach in reine Justizkollegien. Die Regierungen i n den preußischen Provinzen etwa waren zur Zeit Friedrichs I. noch „wirkliche Regierungsbehörden", die Justizund Administrativbefugnisse in sich vereinigten 18 . Sie mußten jedoch später ihre nicht-jurisdiktionelle Tätigkeit weitgehend an die 1723 gebildeten Kriegs- und Domänenkammern abgeben 14 . Das „Reglement, was für Justizsachen denen Kriegs- und Domänenkammern verbleiben und welche vor die Justiz-Collegia oder Regierungen gehören", das sog. Ressortreglement vom 19. Juni 174915 bekräftigte diese Kompetenzabgrenzung ausdrücklich. Ähnlich wie in Preußen 16 haben auch in einigen 10

Zur Entstehung und Entwicklung der Geheimen Räte vgl. K. Dülfer, Studien zur Organisation des fürstlichen Regierungssystems in der obersten Zentralsphäre im 17. und 18. Jahrhundert. 11 H. O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, S. 38; O. Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten König, S. 318. 12 G. Möhlmann / J. König, Geschichte und Bestände des Niedersächsischen Staatsarchivs in Aurich, S. 133. Die ostfriesische „Regierung" oder „Kanzlei" mußte später, nach der Gründung des Geheimen Rates im Jahre 1720, ihre wesentlichen Verwaltungsfunktionen an diesen abtreten und sich auf eine rechtsprechende Tätigkeit beschränken. 13 O. Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten König, S. 318. 14 Die Kriegs- und Domänenkammern gingen aus den alten Amtskammern und Kriegskommissariaten hervor, die den „Regierungen" auch schon einen Teil ihrer Befugnisse entzogen hatten. Zum preußischen Verwaltungsaufbau in dieser Zeit vgl. O. Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten König, S. 318 ff. 15 Dazu eingehend W. Rüiner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, S. 69 ff. Dort im Anhang auch der Text des Ressortreglements von 1749. 18 Auf die entsprechende Erscheinung in Ostfriesland wurde bereits in Anm. 12 hingewiesen.

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Landesteilen Sachsens Regierungen als Justizkollegien bestanden. Nach Kurfürst Johann Georgs I. Tod wurde das Land unter seinen vier Söhnen aufgeteilt, wobei der Erstgeborene die Landeshoheit ausüben sollte. Uber die in den einzelnen Landesteilen eingeführten „Fürstlichen Regierungen" bestimmte Titel 51 des Freund-Brüderlichen Haupt-Vergleiches von 1657: „Die Regierungen, so die Herren Brüdere in ihren LandesPortionen auffrichten wollen, sollen weiter nicht, als ad passum Jurisdictionis, und die ihnen in diesem Vergleiche zukommende Rechte und Actus zu verstehen seyn, selbige doch mit dem Ober-Hof-Gerichte zu Leipzig concurrentem Jurisdictionem haben, und dem Kläger frey stehen, seine Sache vor der Fürstlichen Regierung oder dem allgemeinen HofGerichte zu Leipzig anhängig zu machen" 17 . Die Justiz, die sich später als erster staatlicher Wirkungsbereich verselbständigte und von der Regierung trennte, war hier also noch Hauptaufgabe von „Regierungen". Insgesamt kann man feststellen, daß der organisatorische Regierungsbegriff im Zeitalter des Absolutismus ebenso weit und undifferenziert war wie der funktionelle 1 8 . Der Landesherr konnte nach seinem Belieben Regierungen als Organisationseinheiten bilden und sie mit allen herrscherlichen, d.h. aber „Regierungs"-Aufgaben betrauen.

II. Die Begriffsbestimmung in der Wissenschaft Das 18. Jahrhundert brachte die erste Entfaltung einer deutschsprachigen Staatsrechtswissenschaft. Das bedeutet, daß man bei der Bestimmung des Regierungsbegriffes nicht mehr allein auf staatsrechtliche Quellen und Urkunden angewiesen ist, sondern auch die einschlägige zeitgenössische Literatur zu Rate ziehen kann und muß. Eine frühe Schrift ist die „Einleitung zu der Lehre von den Regalien oder Majestätischen Rechten eines Regenten und sonderlich der Churund Fürsten des Heiligen Römischen Reichs", die von dem MecklenburgStrelitzischen Hofrat Christoph Georg Jargow im Jahre 1724 abgefaßt und 1726 veröffentlicht wurde. Seine Schrift enthält bereits einen eindeutig bestimmbaren funktionellen Regierungsbegriff. Regierung oder Regimen heißt die Herrschertätigkeit, die in der Ausübung der herrscherlichen Rechte, der sog. Regalia oder Majestätischen Rechte, besteht. Ein Regent erhält die Regalia, sobald er „die Regierung antretet", sich „der Regierung unterziehet", „ihm von den Ständen die Regierung aufge17

Zit. nach Zedlers Universallexikon, Bd. 30, Sp. 1818. Ebenso H. O. Meisner, Die monarchische Regierungsform in BrandenburgPreußen, S. 221. 18

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

tragen" wird 1 9 . Er verliert die Regalia, wenn er „unfähig wird, die Regierung zu führen" oder wenn er „die Regierung niederleget" 20 . Ohne „die Regalia oder jura Majestatica . . . die Republiquen nicht konnten regieret werden" 2 1 . Daraus ergibt sich der auch sprachlich offenkundige Zusammenhang zwischen dem Regenten (Rex), seiner Regierung (Regimen) und seinen Regalien. Der Herrscher übt seine majestätischen Rechte aus, d. h. er regiert. Jargow rechnet jedoch nicht alle Regalien zu dem Bereich der Regierung. Er unterscheidet die Regalia minora, „welche, ob sie wohl dem Lands-Herrn zustehen, dennoch nicht zu der Regierung selbst eigentlich gehören" 22 , von den Regalia majora oder Majestatis, „welche das Regimen Reipubl. selbst und die Dignitatem imperantis concerniren" 28 . Jargow beschäftigt sich dann mit dem Bereich der Regierung, indem er die einzelnen Regalia majora aufzählt, beschreibt und untersucht 24 . Zu diesen Regierungsrechten gehörten vor allem das Recht in Religionssachen; die Gewalt, Gesetze zu geben; die Macht, Privilegien einzuräumen; das Recht, Gerichte zu bestellen; das Recht betr. Handel und Kaufmannschaft (ius commerciorum); das Münzregal; das Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schließen, sowie schließlich die Befugnis, Bündnisse zu tätigen und Gesandte zu schicken. Alle diese Rechte machten in ihrer Gesamtheit das aus, was man heute „die Staatsgewalt" nennen würde. Vereinfachend kann man also davon sprechen, daß der Begriff Regierung bei Jargow die Ausübung der gesamten Staatsgewalt bedeutete. Dabei muß man sich jedoch vor Augen halten, daß die damalige Zeit nicht den erst auf der gewandelten Staatsauffassung des 19. Jahrhunderts beruhenden Begriff einer einheitlichen Staatsgewalt kannte, sondern die Vorstellung vieler Einzelrechte des Herrschers hatte, nämlich der Regalien, die dann in ihrer Gesamtheit die Majestät oder Landeshoheit als eine Eigenschaft des Fürsten bildeten. Neben dem funktionellen verwendet Jargow auch einen organisatorischen Regierungsbegriff, der allerdings geringere Bedeutung hat. Seine diesbezüglichen Ausführungen machen die bereits aufgezeigte Entwicklung erneut deutlich: W e i l der Regent die Regierung nicht ganz allein führen konnte, bediente er sich sog. Rats- oder Regierungskollegien, kurz „Regierungen" genannt. „Ein Regente hat zwar die Macht, vermöge seiner Majestätischen Gewalt, in der Republique über alles zu dispo19 20 21 22 28 24

Lib. Lib. Lib. Lib. Lib. Lib.

II, Cap. XI, § 2. II, Cap. XII, §§ 1, 3. II, Cap. XI, § 1. I, Cap. II, § 2. I, Cap. II, § 3. I, Cap. III—XI.

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niren, und alle Dinge anzuordnen; weil er aber offters nicht die Klugheit besitzet, selbst alles, wie es am profitablesten vor sich und dem Lande ist, ins Werde zu bringen . . . hat er auch die Macht Geheime RathsCollegia, Cantzeleyen, Regierungen und andere Dicasteria anzuordnen, worinnen theils von des Landes Bestem deliberiret, theils aber die Justice administriret w i r d " 2 5 . Die Regierungen im organisatorischen Sinn waren also für alle Landesangelegenheiten, insbesondere auch für die Rechtsprechimg zuständig. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts galt Johann Jacob Moser (1701— 1781) als der bedeutendste Staatsrechtslehrer seiner Zeit. Sein umfangreiches Werk macht es nicht leicht, der Verwendung des Regierungsbegriffes bis in alle Teile nachzuspüren. V o n der Regierung in einem funktionellen, die gesamte Staatsleitung umfassenden Sinn ist sehr häufig die Rede, ohne daß der Begriff selbst untersucht oder definiert würde. „Die Regierung antreten 26 , verwalten 2 7 , führen 28 , niederlegen 29 , übergeben 80 , sich der Regierung annehmen 31 , unterziehen 32 , begeben 33 , zur Regierung kommen 3 4 und in der Regierung nachfolgen 35 " sind nur einige Wendungen, die in seinem „Teutschen Staatsrecht" aus den Jahren 1737 —1746 und in seinem „Grundriß der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs", ungefähr aus der gleichen Zeit, immer wieder vorkommen. W o h l die einzige klare Feststellung dessen, was Moser unter dem funktionellen Regierungsbegriff verstand, findet sich dagegen erst im Rahmen seines „Neuen Teutschen Staatsrechts", in dem 1772 veröffentlichten Traktat „ V o n der Landeshoheit in Regierungssachen überhaupt" 3 6 : „Unter der Landes-Regierung verstehe ich die Besorgung derer Angelegenheiten des Landesherrns selbsten, so dann des gesammten Landes, wie auch dessen einzelner Theile, oder Unterthanen, in so ferne der Regent entweder schuldig oder doch berechtiget ist, selbige zu behandeln, zu entscheiden, oder doch die Aufsicht darüber zu tragen, damit so wohl das 25

Lib. I, Cap. VI, § 1. Z.B. Teutsches Staatsrecht (TStR), Teil II, 2. Buch, Kap. 6, § 46; ebd. Teil X X I I I , 3. Buch, Kap. 128, § 2; Grundriß, 3. Buch, Kap. 1, § 19. 27 TStR, Teil IV, 2. Buch, Kap. 73, § 3. 28 TStR, Teil IV, 2. Buch, Kap. 73, § 6; Teil X X I V , 3. Buch, Kap. 131, § 2; Grundriß, 3. Buch, Kap. 1, § 17. 29 TStR, Teil XX, 3. Buch, Kap. 111, § 22; Teil X X I V , 3. Buch, Kap. 131, § 8. 30 TStR, Teil X X , 3. Buch, Kap. 111, § 23. 31 Grundriß, 3. Buch, Kap. 1, § 18. 32 TStR, Teil II, 2. Buch, Kap. 6, § 66. 33 TStR, Teil XX, 3. Buch, Kap. 111, § 22. 34 TStR, Teil X X I I I , 3. Buch, Kap. 128, § 2. 35 TStR, Teil X X I V , 3. Buch, Kap. 131, § 8. 36 Kap. 1, § 4 26

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allgemeine Beste des ganzen Staats beförderet werde, als auch einem jeden dasjenige angedeyhen möge, worzu er berechtiget ist, mithin das gemeine Wesen in Ruhe und Sicherheit, so dann ein jeder bey dem seinigen, erhalten werde". Diese Regierungsfunktion stand dem Landesherrn allein zu. Die Landstände waren keine Mitregenten. Der Landesherr war jedoch nach Mosers Auffassung entsprechend dem jeweiligen Landesstaatsrecht verpflichtet „ i n der Ausübung derer wichtigsten Stücke der Regierung, resp. mit Gutachten oder auch mit Einwilligung, seiner Landstände zu verfahren, und diese seynd befugt, wann etwas zu des Landes Nachtheil vorgehet, oder zu dessen Bestem zu erinnern wäre, Vorstellungen deßwegen zu tun, auf welche auch der Regent gebührende Rücksicht zu nehmen hat" 8 7 . Während der Regierungsbegriff selbst bei Moser noch alles umfaßt, was in Ausübung der Landeshoheit geschah, also im heutigen Verständnis die gesamte Tätigkeit der Staatsgewalt einschließlich der Justiz, deutet sich in der Wortwahl für die weitere Untergliederung der Regierungsangelegenheiten bereits eine spätere Entwicklung an, die mit der Verselbständigung weiter Bereiche der Staatstätigkeit zu einer Verengung des Regierungsbegriffes führt. Moser unterscheidet nämlich in seinem „Teutschen Staatsrecht" zwischen Regierungs-, Justiz-, Kriegs-, Cameralund PoliceySachen88 und in seinem „Neuen Teutschen Staatsrecht" zwischen Regierungs-, Justiz-, Militär-, Steuer-, Cameral-, Policey- und Gnadensachen sowie Sachen, die Personen und Vermögen der Untertanen bzw. Erde und Wasser betreffen 39 . Diese verschiedenen Gebiete gehören alle zur Landeshoheit und damit zur Regierung. Die Regierungssachen, zu denen auch die Gesetzgebung zählt, könnte man auch als die allgemeinen Regierungsangelegenheiten bezeichnen — Moser selbst hat diesem Teil den Titel „ V o n der Landeshoheit in Regierungssachen überhaupt" gegeben —, während die übrigen Sachen als besondere Regierungsangelegenheiten anzusehen sind. Auch Moser erkannte, daß der Landesherr nicht alle Regierungsangelegenheiten in eigener Person besorgen konnte. Der Regent mußte die Regierungsgeschäfte aufteilen 40 , und zwar die wichtigen Dinge auf Kollegien, die weniger wichtigen auf Beamte. Moser nennt als Bezeichnung für diese Kollegien in den verschiedenen deutschen Territorien die Ausdrücke Regierungscollegium, Hofrathscollegium, Geheimes-Raths-Collegium, Regierungsrath oder Hofrath 41 . In kürzerer Form hießen sie ein37 88 39 40 41

Von der Landeshoheit in Regierungssachen überhaupt, Kap. 1, § 13. Teil IV, 2. Buch, Kap. 73, § 2. So heißen die 9 Teile des Abschnitts „Von der Landeshoheit im Weltlichen". Von der Landeshoheit in Regierungssachen überhaupt, Kap. 1, §§ 5—8. Ebd., Kap. 2, § 26.

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fach Regierungen. Ein Landesherr konnte auch mehrere Regierungen einrichten. Moser bringt als Beispiel Bayern mit vier und Hessen-Darmstadt mit zwei Regierungen 42 . Die enge Verbindung dieses organisatorischen Begriffes mit seinem funktionellen Ausgangspunkt zeigt Mosers Bemerkung, daß (organisatorische) „Regierungen in eigentlichem Verstand nur denen regierenden Herrn", nicht aber nachgeborenen und solchen Herren zustehen, die nicht die „Landes-Regierung" (funktionell) innehaben 43 . Mosers Ruhm hat die deutsche Staatslehre um die Mitte des 18. Jahrhunderts derart überstrahlt, daß andere Autoren zu Unrecht in den Schatten gedrängt wurden. Ein Mann, dem unbedingt eine große selbständige Bedeutung zukommt, war Johann Heinrich Gottlob von Justi (1720—1771). Während sich Moser darauf beschränkte, ohne kritische und systematische Verarbeitung das positive Material zu sammeln 44 , wobei er allerdings i n bezug auf den Umfang und die Vollständigkeit der Fakten eine staunenswerte Leistung vollbrachte, kann man Justi als einen der ersten Systematiker der Staatswissenschaften in Deutschland bezeichnen 45 . Ihm gebührt auch das Verdienst, die Gedanken Montesquieus aufgegriffen, kritisch gewürdigt und für das deutsche Staatsrecht fruchtbar gemacht zu haben. Dieser Einfluß des „Esprit des Lois" läßt erwarten, daß Justi auch hinsichtlich des Regierungsbegriffes neue Denkansätze vermittelt. „Regieren heißt die Handlungen anderer Menschen nach gewissen Absichten lenken", formulierte er ganz allgemein 46 und beschrieb damit zunächst nur eine Grundkategorie zwischenmenschlichen Verhaltens überhaupt. Staatsrechtlich ergiebiger war seine Definition des Substantivs „Regierung". „Die Anordnungen zu Ausübung der obersten Gewalt heißen die Regierung; und die äußerliche A r t und Weise, wie die oberste Gewalt ausgeübt werden soll, w i r d die Regierungsform genennet" 47 . Justi verstand unter der Regierung also auch die Ausübung der obersten Gewalt im Staate und stimmte insoweit äußerlich mit dem funktionellen Regierungsbegriff seiner Zeitgenossen überein. Er gab dieser Definition jedoch einen neuen Inhalt, der im Vergleich zu der durch die Aufklärung nur abgeschwächten absolutistischen Staatsauffassung der Zeit geradezu revolutionär erscheint und der selbst in der konstitutionellen Staatslehre 42

Ebd., Kap. 2, § 26. Ebd., Kap. 1, § 3. 44 Kritisch z. B. schon C. v. Kaltenborn, Einleitung in das constitutionelle Verfassungsrecht, S. 228 f. 45 So G.-Chr. von Unruh, Subjektiver Rechtsschutz und politische Freiheit in der vorkonstitutionellen Staatslehre Deutschlands, S. 13, der auch eine eingehende Würdigung von Persönlichkeit und Werk des Autors vornimmt und dessen Ausnahmestellung in der vorkonstitutionellen Staatslehre Deutschlands betont. 46 Der Grundriß einer guten Regierung, § 54. 47 Ebd., § 10; ähnlich in: Die Natur und das Wesen der Staaten, § 62. 48

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des 19. Jahrhunderts nur langsam Anerkennung finden sollte. Für Justi bedeutete nämlich die Regierung als Ausübung der obersten Gewalt nicht dasselbe wie die Ausübung der herrscherlichen (Majestäts-) Rechte 48 , also die Tätigkeit des Regenten. Er unterschied zwei Hauptzweige der obersten Gewalt: Die gesetzgebende und die vollziehende Macht 49 . Justi verstand diese beiden Hauptzweige nicht im Sinne der herkömmlichen Regalienlehre als zwei von vielen herrscherlichen Hoheitsrechten, sondern — entsprechend Montesquieus Vorstellungen von der Gewaltenteilung — als verschiedene, von der Person des Monarchen zunächst unabhängige staatliche Funktionen. Eine gute Regierungsform war für Justi gegeben, wenn die oberste Gewalt geteilt ist, wenn also z. B. der König die vollziehende Macht und das V o l k die gesetzgebende Macht in Händen hält 5 0 . Ein Gleichgewicht zwischen den Zweigen sei erforderlich, führte er aus, so daß eine Macht der anderen Einhalt gebieten könne, wenn diese die Grundverfassung und die Wohlfahrt des Staates außerachtlasse. „Die vollziehende Macht muß der gesetzgebenden durch Versagung ihrer Einwilligung zu neuen Gesetzen Einhalt tun, und die gesetzgebende Macht muß die vollziehende durch Versagung der Mittel zur Vollziehung in Schranken halten können" 5 1 . In Justis Staatslehre ist die Ausübung der obersten Gewalt, also die Regierung, nicht allein Sache des Monarchen. „Regierung" ist nicht gleichzusetzen mit der herrscherlichen Tätigkeit. Seine Vorstellung einer guten Regierung zielte vielmehr auf eine echte Gewaltenteilung, nicht nur auf Beschränkungen des Monarchen bei dessen Regierung. Die Regierungsfunktion sollte zwischen König und V o l k geteilt werden. Damit stand Justi im Widerspruch nicht nur zu der absolutistischen Staatspraxis seiner Zeit, sondern auch zum deutschen Konstitutionalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der ganz überwiegend am sog. monarchischen Prinzip, d.h. aber an der Vereinigung aller Staatsgewalt in der Person des Monarchen, festhielt. Das Bild einer erstaunlich modernen Staatskonzeption rundet sich ab, wenn man Justis Ausführungen über die Justiz hinzuzieht. Er stufte die Rechtsprechung zwar als Unterabteilung der vollziehenden Macht ein, verlangte aber zugleich, daß sie unabhängig vom König als dem Träger der vollziehenden Macht und unabhängig vom Gesetzgeber durch dritte 48 Wenn er in § 45, Die Natur und das Wesen der Staaten, Majestätsrecht und oberste Gewalt gleichsetzt, so bezieht er diese Rechte nicht wie üblich auf den Regenten, sondern auf das Volk. 40 Grundriß einer guten Regierung, §§ 13, 138; Die Natur und das Wesen der Staaten, § 51. 50 Grundriß einer guten Regierung, §§ 126—136; abgeschwächt in: Die Natur und das Wesen der Staaten, vgl. §§ 72, 95. 51 Grundriß einer guten Regierung, § 20.

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Personen, am besten aus dem Adel, ausgeübt werde 6 2 . Justi kam damit im Grunde bereits zu einer personellen Dreiteilung aller staatlichen Gewalt, wie sie noch heute das konstitutionelle Leitbild westlicher Demokratien darstellt. Die Regierung war für ihn der Oberbegriff, der den gesamten Bereich staatlicher Tätigkeit umfaßte. Die herrschende Staatslehre dieser Zeit ist Justis Meinung über die innere Ausgestaltung der Regierung nicht gefolgt. Für sie bedeutete „Regierung" im funktionellen Sinn die Ausübung der obersten Gewalt als der allein dem Monarchen vorbehaltenen Majestätsrechte. In diesem Sinne stellte der Regierungsbegriff für den Göttinger Staatsrechtslehrer Gottfried Achenwall einen wichtigen Eckstein in seinem staatstheoretischen System dar. Im Einklang mit der vorherrschenden naturrechtlichen Auffassung vertrat er die Meinung 5 3 , der Staat entstehe durch einen Vertrag. Dieser Vertrag, so lehrte er weiter, begründe „eine Oberherrschaft und oberste Gewalt oder Souveränität" 54 . Da die Ausübung der obersten Gewalt vom ganzen V o l k nicht bewerkstelligt werden könne, habe das V o l k die Ausübung an jemanden übertragen „und ihm dadurch das Recht gegeben, die oberste Gewalt auszuüben, das ist zu regieren" 55 . Die Regierung eines Staates bestand für Achenwall also in der Ausübung der obersten Gewalt 5 6 . Die oberste Gewalt selbst, auch Majestät genannt, war ein Inbegriff vieler Gerechtsame, nämlich der Majestätsrechte. Zu den Majestätsrechten zählte er die gesetzgebende und die vollziehende Macht, die höchste Gerichtsbarkeit, das Straf- und das Waffenrecht, das Recht über Bedienung und Ämter im Staat, die Verfügungsgewalt über die öffentlichen Einkünfte und Abgaben der Untertanen, das Recht über Polizei und Kirchenwesen sowie schließlich die Majestätsrechte in auswärtigen Staatsgeschäften, die Krieg und Frieden, Staatsverträge und Gesandtschaften betrafen 57 . Auch die Justiz gehörte also zur obersten Gewalt und damit i n den Bereich der Regierung, allerdings mit der Einschränkung, daß der Regent sie nicht selbst besorgen konnte, sondern daß sie gewissen Personen, den Richtern, als ein öffentliches Amt anvertraut werden sollte 58 . „Die Landesregierung" bedeutete bei Achenwall nicht wie bei Moser die „landesherrliche Regierung", sondern die „Regierung in Betracht der 52 Grundriß einer guten Regierung, §§ 140, 146; Die Natur und das Wesen der Staaten, § 97. 53 G. Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, Teil I, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 22. 54 Ebd., § 23. 65 Ebd., § 26. 68 So noch einmal ausdrücklich ebd.., § 27, u. 2. Buch, Einl., § 3. 67 1. Buch, 1. Hauptstück, §§ 30 ff. 58 2. Buch, 2. Hauptstück, § 16.

7 Frotscher

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inneren Landesangelegenheiten" im Gegensatz zu den auswärtigen Staatssachen50. Einen bestimmten Ausschnitt aus dem alles umfassenden Regierungsbereich kennzeichnete auch der Begriff „Verwaltung": „Die Regierung des Staats, wenn solche von dieser Seite, nehmlich als eine schuldige Sorgfalt für die Beförderung der gemeinschaftlichen Glückseligkeit betrachtet wird, heißt die Verwaltung des gemeinen Wesens, die Reichs Verwaltung" 60 . I n einem weniger theoretisch systematisierenden als historisch beschreibenden Werk wie den „Academischen Reden und Vorlesungen über das teutsche Staatsrecht" von Johan Jacob Schmauß (1690—1757), Achenwalls Göttinger Kollegen, hat das Wort „Regierung" nicht dieselbe begriffliche Schärfe. Auch Schmauß ging von einem funktionellen Begriff aus, der die oberste Staatsleitung kennzeichnete und insoweit mit der Landeshoheit bzw. der kaiserlichen Majestät eng verknüpft war. „Die Landeshoheit ist also ein Inbegrif aller Rechte, die zu einer Landesregierung (d.h. ,zur Regierung von Land und Leuten1) erfordert werden", stellte er fest 81 . Nach seiner Auffassung gab es „zweierlei Regierungen in unserm teutschen Reiche": Die majestätische, die sich über das ganze Reich erstreckte, und die untergeordneten Territorialregierungen, die von der allerhöchsten majestätischen Regierung abhingen 62 . Diese allerhöchste und allgemeine Regierung des gesamten Reichs wurde inhaltlich durch die Majestätsrechte bestimmt 68 . A m Sitz der allerhöchsten Reichsregierung, in Wien, wurde der Regierungsbegriff in ähnlicher Weise aufgefaßt. Die Vorträge zum Unterricht im Natur- und Völkerrecht sowie im deutschen Staats- und Lehnrecht, die dem Erzherzog Joseph, dem späteren Kaiser Joseph II., in den Jahren 1755 bis 1760 gehalten wurden, erwähnten an vielen Stellen die „Regierung" — z. B. der Regierung vorstehen, die Regierung erben, antreten, verwalten, aristokratische, demokratische, bürgerliche Regierung, Regierungsgeschäfte und Regierungskunst 64 . Und wenn der Vortragende 59

2. Buch, Einl., § 6. 2. Buch, 1. Hauptstück, § 18. 61 3. Buch, 2. Kap., § 3. 62 1. Buch, 3. Kap., § 4. 63 Vgl. das 2. Buch, insbesondere schon den Vorspruch. 64 Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph, in: H. Conrad, Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias, S. 226 f, 294, 470 f, 209, 212 f, 288 u. a. Die Vorträge wurden lange Zeit dem Freiherrn Karl Anton von Martini zu Wasserberg zugeschrieben, der im Jahre 1754 den ersten Lehrstuhl für Naturrecht an der Universität Wien erhielt. Erziehungsakten Josephs II. weisen jedoch nicht auf Martini, sondern auf den Professor Juris publici et feudalis an der Theresianischen Ritterakademie in Wien und späteren Hofrat Christian August Beck (1720—1784) als Lehrer des Erzherzogs hin (dazu H. Conrad, Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias, Einl., S. 2 ff). 60

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auch keine besondere Definition abgab, so läßt die wiederholte Verwendung des Wortes doch erkennen, daß Regierung hier im funktionellen Sinne als die Ausübung der höchsten Gewalt verstanden wurde. Die höchste Gewalt oder Majestät wiederum ist der Inbegriff der Rechte, die aus der Natur einer Regierung fließen und „die schlechterdings notwendig sind, den Endzweck eines Staats d. i. dessen Erhaltung, Sicherung und Wohlfahrt zu ereichen" 65 . Diese Rechte beziehen sich auf die Gesetzgebung, Rechtsprechung, Strafgewalt, auf Wissenschaften, Künste, Kommerzien und Polizeisachen, auf das Vermögen der Untertanen wie auf Staats- und Domänengüter sowie schließlich auf die äußere Sicherheit 66 . W i e im Unterricht zur Erziehung eines künftigen Regenten nicht anders zu erwarten, stand der Vortragende ganz auf dem Boden des monarchischen Prinzips. Er wandte sich scharf gegen die sog. Monarchomachen — Cromwell war für ihn ein abschreckendes Beispiel — und pries die monarchische Regierung als die beste Staatsform. Das bedeutete, die Ausübung der höchsten Gewalt sollte allein in der Hand eines Monarchen liegen. Die Majestät erfuhr im Regenten eine Personalisierung, sie wurde heilig und unverletzlich 67 . In den Lehrbüchern anderer Autoren wie des Jenenser Professors Johann Christian Majer, des Hallenser Staatsrechtslehrers Ernst Christian Westphal und des kurfürstlich mainzischen Hofrats und Professors Johann Richard Roth findet man die bisher in bezug auf den funktionellen Regierungsbegriff herausgearbeiteten Grundsätze bestätigt. Die Regierung des Staates bestand für Majer 6 8 i n der zweckmäßigen Anwendung der dem Regenten anvertrauten obersten Gewalt. Er unterschied innerhalb des gesamten Regierungsbereichs zwischen der eigentlichen Regierung und der Staatsverwaltung. Die „eigentliche Regierung" erstreckte sich auf die allgemeinen inneren („Staatspolicey" als Beförderung der gemeinen Wohlfahrt) und die äußeren Staatsangelegenheiten, deren Wahrnehmung dem Regenten selbst vorbehalten war, während die Staatsverwaltung die Materien umfaßte, die dem König nicht unbedingt vorbehalten waren, wie die Finanz- und die Militärverwaltung 6 9 . I n dieser Unterscheidung deutete sich die spätere Verselbständigung weiter Bereiche des ursprünglich alle staatlichen Tätigkeiten einschließenden Regierungsbegriffes an.

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Ebd., S. 241. Ebd., S. 241—281. 67 Ebd., S. 220 f. 68 Teutsdies weltliches Staatsrecht, Bd. 1, 2. Abt., I. Vorstell., X X X I V (S. 83). 69 Teutsches weltliches Staatsrecht, Bd. 1, 2. Abt., I. Vorstell., I. Kap., 1. Abschn., X X X V I C (S. 87/88) u. 2. Abt., I. Vorstell., II. Kap., X X X I X (S. 93). 66

7*

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Westphal erläuterte zwar nicht ausdrücklich, was er unter „der Regierung" verstand, aber sein Wortgebrauch 70 läßt deutlich erkennen, daß auch er damit die Ausübung der „oberherrlichen Gewalt" 7 1 im Staate meinte. Roth definierte die Landeshoheit als „die Regierungsgewalt, welche deutschen Reichsständen und Landesherrn in Ansehung ihrer deutschen Reichslande zusteht" 72 . Die Regierungsgewalt oder Landeshoheit setzte sich aus den einzelnen Regierungs- oder Hoheitsrechten zusammen. Dasselbe galt für die Regierungsgewalt des Kaisers, die sog. Majestät 7 3 . „Die Regierung" war also auch für Roth in erster Linie ein funktioneller Begriff, der die Ausübung der landesherrlichen bzw. majestätischen Rechte bezeichnete 74 . Eine führende Stellung i n der deutschen Staatsrechtslehre der Zeit erlangte die Göttinger Juristenfakultät dank Johann Stephan Pütter (1725—1807) und August Ludwig Schlözer (1735—1809). Vor allem Pütter konnte seinen Lehren weiterreichenden Einfluß verschaffen, so daß sein Kollege Häberlin festzustellen vermochte, fast auf allen deutschen Universitäten werde nach demselben das Staatsrecht vorgetragen 75 . Pütter gebrauchte den Begriff „Regierung" insoweit in einem etwas anderen Sinne, als er darunter nicht nur die Ausübung der höchsten Gewalt, also die Tätigkeit des Herrschers 76 , sondern auch die höchste Gewalt selbst, den Herrschaftsfaktor verstand 77 . Die Worte „Regierung" und „höchste Gewalt" stehen bei ihm oft gleichbedeutend nebeneinander. Diese Abweichung von der bei anderen Autoren üblichen Begriffsverwendung ist jedoch lediglich als eine sprachliche Ungenauigkeit anzusehen, die nicht überbewertet werden darf. Der funktionelle Regierungsbegriff hatte bei Pütter denselben Inhalt wie in den bisher untersuchten Staatsrechtslehren. Die Regierung wurde durch die Regierungsrechte oder Regalien 70 Das Teutsche Staatsrecht; vgl. etwa 1. Abhandlung, § 1; 8. Abhandlung, §§ 1, 3, 4, u. 16. Abhandlung. 71 Dazu 5. Abhandlung, § 1. 72 Staatsrecht deutscher Reichslande, Teil I, 1. Abschn., 1. Kap., § 12. 78 1. Abschn., 4. Kap., § 21 III. 74 Daneben findet man in Roths Staatsrecht auch den organisatorischen Begriff der „Landesregierung" (vgl. 1. Abschn., 9. Kap., § 35 B). 75 C. F. Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Vorrede zur ersten Ausgabe. Diese Einschätzung seines Wirkungsgrades hat auch heute noch Gültigkeit; vgl. E. Schmidt-Aßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, S. 35: „Im Werke Pütters findet die ,alte Reichsstaatslehre1 ihre eigentliche Repräsentation". 78 So etwa: Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 3. Buch, 3. Hauptstück: Von der Art und Weise der Regierung des Reiches. 77 Vgl. Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 3. Buch, insb. § 65, u. Beyträge zum Teutschen Staats- u. Fürstenrechte, 1. Teil, II. Von der Regierungsform des Teutschen Reichs, z.B. §§ 14, 15, 31.

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bestimmt, zu denen Pütter insbesondere die Gesetzgebungsbefugnis und die Gewalt hinsichtlich des gesamten Justizwesens sowie der Polizei 7 8 zählte 79 . Der Katalog der Regierungsrechte zeigt, daß die Regierung noch den ganzen Bereich staatlichen Handelns umfaßte. Einschränkungen ergaben sich nur aus dem Nebeneinander von kaiserlicher Gewalt und Landeshoheit. Pütter grenzte den Umfang der kaiserlichen Regierung dahin ab, daß zu ihr alles gehören sollte, was ganz Deutschland als einen Staat anging, sodann was alle deutschen Einzelstaaten zusammengenommen anging und schließlich was Rechte und Verbindlichkeiten eines Einzelstaats oder seines Oberhaupts oder unmittelbarer Personen oder Länder betraf 80 . Neben den funktionellen stellte Pütter den organisatorischen Regierungsbegriff, der das Kollegium bezeichnete, das den Regenten bei der Regierungsarbeit unterstützte 81 . Dabei wies auch er auf den uneinheitlichen Sprachgebrauch in Deutschland hin, wo die sich in ihren Aufgaben entsprechenden Gremien an dem einen Fürstenhof Regierung, an dem anderen Kanzlei, Hofrat oder Geheimer Rat hießen. Schlözer, der zu den einflußreichsten Publizisten der deutschen Aufklärung zu rechnen ist, stellte seinen staatsrechtlichen Erörterungen zunächst eine allgemeine Staatslehre auf dem Boden des Naturrechts voran. Dabei ging er davon aus, daß in jeder bürgerlichen Gesellschaft vier Hauptaufgaben entstehen: Die Aufgabe eines „Judex", d. i. Streit zu schlichten, die Aufgabe eines „Vindex", nämlich wenn nötig zu strafen, die Aufgabe eines „Tutor", d. i. für das Ganze zu sorgen, und die Aufgabe eines „Dux", d. i. die notwendigen gemeinsamen Aktionen zu leiten 8 2 . Demjenigen, der diese Aufgaben bewältigen sollte, mußte man nach Schlözers Meinung drei Eigenschaften zubilligen. Erstens war er „irresistibilis", also unwiderstehlich, d. h. er konnte sich aufgrund bewaffneter Macht Gehorsam erzwingen. Zweitens war er „inappellabilis", d. h. die letzte Instanz, und drittens „unus", was bedeuten sollte, daß der Träger dieser Aufgaben und Rechte, auch wenn er aus mehreren Individuen bestand, nach außen eine Einheit darstellen mußte. Derjenige „Mitgenosse", dem seine Mitbürger aufgrund eines Unterwerfungsvertrages (pactum subjectionis) die angeführten Aufgaben und Eigenschaften übertragen hatten, hieß Herrscher, Obrigkeit, oberste 78 Der Polizeibegriff ist auf die Gefahrenabwehr beschränkt. Die Polizei ist der Teil der höchsten Gewalt, der den Zweck verfolgt „zu verhüten, daß nichts gemeinschädliches im Staate vorgehe" (Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, § 185). 79 Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 5. u. 6. Buch, insb. §§ 138, 157, 185. 80 Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, § 65. 81 Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, 3. Buch, § 69; 4. Buch, § 131. 82 Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, Metapolitik, §§ 21, 22 (S. 73 ff.).

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

Gewalt, Souverän 83 . Der Herrscher regierte 84 . Die Regierung war also die Tätigkeit des Souveräns, der obersten Gewalt. Die genannten Funktionen und Eigenschaften umschrieben damit zugleich den Bereich der Regierung. Das „hohe RegirRecht", so führte Schlözer an anderer Stelle aus 85 , beinhalte: 1. die Fähigkeit, Gesetze zu machen (potestas legislativa), 2. die Macht, die Gesetze zu hüten (potestas executiva), und zwar bei Streitigkeiten den Richter zu spielen (potestas judiciaria) und bei Gesetzesübertretungen zu strafen (potestas punitiva), 3. das Recht, die Oberaufsicht über alle Beamten und Bediensteten zu führen (potestas inspectiva), 4. die auswärtige Gewalt (potestas repraesentativa) und 5. das Recht, von den Untertanen Dienste und Abgaben zu verlangen (potestas cameralis). Schlözer, vor allem aber Pütter galten ihrem Helmstedter Kollegen Carl Friedrich Häberlin als Vorbild 8 6 , der sein „Handbuch des Teutschen Staatsrechts" mit dem Untertitel „nach dem System des Herrn Geheimen Justizrath Pütter" versah. Auch in bezug auf den Regierungsbegriff läßt sich eine weitgehende Ubereinstimmung zwischen beiden Autoren feststellen. Häberlein sah die Oberherrschaft oder höchste Gewalt als das charakteristische Kennzeichen eines Staates an 87 . Die Handhabung der obersten Gewalt war für ihn die Regierung 88 . I n Deutschland war die oberste Gewalt aufgespalten: Neben der kaiserlichen Regierung bestand die landesherrliche Regierung. Die Abgrenzung dieser beiden Regierungsbereiche gehörte zu den wesentlichen staatsrechtlichen Fragen der Zeit. Die Einteilung der verschiedenen Gegenstände der kaiserlichen Regierung erfolgte bei Häberlin 8 9 i n unverkennbar enger Anlehnung an das oben wiedergegebene Püttersche Schema. Abgesehen von dieser allgemein geläufigen Einschränkung in der Vertikale, im Verhältnis zwischen kaiserlicher und landesherrlicher Regierung, gebrauchte auch Häberlin den Begriff „Regierung" in einem umfassenden Sinn. Das bedeutete, auf der Ebene des Reiches bzw. eines Landes schloß die Regierung alle Bereiche öffentlichen, nicht privaten 83

Ebd., § 22 (S. 75). § 5 (S. 100). 85 § 5 (S. 100 f.). 86 Vgl. das Titelkupfer und die Vorreden in der zweiten Ausgabe seines Handbuchs. 87 Einl., S. 3. 88 Vgl. 3. Buch, §§ 116 ff. 84

89

§ 118.

2. Kap.: Im Zeitalter des Absolutismus

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Handelns des Kaisers bzw. eines Landesherrn ein. Die Regierungs- oder Hoheitsrechte, i n bezug auf den Kaiser auch Majestätsrechte genannt, steckten die Gebiete ab. Häberlin rechnete dazu als wichtigste das Recht der höchsten Aufsicht, die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt und auch die richterliche Gewalt 9 0 . Die Behauptung Otto Mayers 9 1 , bei Häberlin im Unterschied zu Moser sei die Justiz bereits aus dem Regierungsbegriff ausgeschieden, ist danach nicht haltbar. Die von Mayer angeführte Belegstelle 92 bezieht sich nur auf die Zuständigkeit der Gerichtshöfe, in deren Rahmen es auf die — im übrigen auch schon bei Moser und anderen älteren Autoren zu findende — Unterscheidung von Justiz- und Regierungssachen ankam. Hier liegt vielleicht eine Wurzel für die spätere Herauslösung der Justiz aus dem Begriff „Regierung", aber zunächst handelte es sich doch nur um eine verfahrensrechtliche Regelung, die den gerichtlichen Rechtsschutz auf die — infolgedessen als Justizsachen gekennzeichneten — privatwirtschaftlichen Beziehungen der Landesobrigkeit beschränken sollte 93 . Der Begriff „Regierungssache" umfaßte demgegenüber alle Angelegenheiten der landesfürstlichen Regalien, er beinhaltete also als solcher gar keine Einengung. Der Regierungsbegriff erstreckte sich noch auf alle Teile der höchsten Gewalt, und als ein solcher Teil wurde die Rechtspflege angesehen. Häberlin bezeichnete die richterliche Gewalt mehrfach als „ i n der Landeshoheit der Reichsstände (bzw. der kaiserlichen Majestät) gegründet" 9 4 und ordnete sie systematisch unter den Regierungsrechten ein. Die Justiz war für ihn ein auf einen besonderen Zweck gerichtetes wesentliches Regierungsrecht ebenso wie etwa die Polizeigewalt, von der er ausdrücklich sagte, sie sei ein „Zweig der Regierung" 95 . W i l l man das Ergebnis der Untersuchung über den Regierungsbegriff, wie er der Staatsrechtslehre des 18. Jahrhunderts zugrundelag, kurz zusammenfassen, so kann man auf eine Schrift des Königsberger Professors Theodor Schmalz aus dem Jahre 1794 zurückgreifen. Seine im übrigen weniger bedeutungsvolle Abhandlung über „Das natürliche Staatsrecht" enthält eine genaue Definition dieses Begriffes, den man bei den meisten anderen Autoren erst herausarbeiten mußte. „Die Ausübung der Majestätsrechte überhaupt, insbesondere aber die der Gewalten, nennt man 90

261. 91 92

Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. 2, 6. u. 7. Buch, §§ 216, 221, 242, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, Einl., S. 4, Anm. 2. Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. 2, § 299; s. außerdem Bd. 1,

§ 120.

93 Zu den Regierungs- und Justizsachen vgl. C. Bornhak, Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an, S. 186. 94 Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. 2, §§ 287, 262, 263, 327. 96 § 331.

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

Regierung (regimen)" 96 . Die Gewalten, in denen sich die höchste Gewalt im Staat äußert, teilte Schmalz i n die gesetzgebende, die vollziehende und die aufsehende Gewalt ein 9 7 . Die richterliche Gewalt verwies er in den Bereich der Exekutive 9 8 , sie gehörte also auch zur Regierung.

99

§ 108.

97

§ 105. §§ 160, 185.

98

. Kapitel

Der Regierungsbegriff in der Epoche der konstitutionellen Monarchie I. Die verschiedenen Formen des Konstitutionalismus und ihre Auswirkungen au! den Regierungsbegriff Im 19. Jahrhundert setzte sich auch in Deutschland die Auffassung durch, daß jeder Staat einer „konstitutionellen" Ordnung bedürfe. Konstitutionalismus im allgemeinen Sinne bedeutet zunächst nur, daß der Staat eine geschriebene Verfassung besitzt, welche die Rechte des Souveräns insoweit beschränkt, als sie bestimmte Formen, Verfahren und Mitwirkungsbefugnisse für die Entscheidungsbildung festlegt. Der Souverän, also der Inhaber der Staatsgewalt, kann dabei entweder — wie in der Monarchie — eine einzelne Person oder — wie in der Aristokratie und in der Demokratie — eine Personenmehrheit sein 1 . Der Begriff Konstitutionalismus als solcher sagt also noch nichts über die politische Bestimmungsgewalt im Staat aus. Zwar haben bürgerlich-demokratisch gesinnte Vorkämpfer für eine Verfassung unter einem konstitutionellen Staat nur ein Gemeinwesen anerkennen wollen, in dem die Volksvertretung die Staatsgewalt innehatte, doch die tatsächliche Entwicklung in Deutschland verlief gerade gegenteilig und führte dazu, unter „Konstitutionalismus", jedenfalls unter dem deutschen Konstitutionalismus, ein Verfassungssystem auf dem Boden des monarchischen Prinzips zu verstehen 2 . Den entgegengesetzten Anschauungen über den „richtig verfassten" Staat kann man dadurch Rechnung tragen, daß man zwischen demokratischem und monarchischem Konstitutionalismus unterscheidet. Während die Idee des Konstitutionalismus in dem beschriebenen allgemeinen Sinn im Grunde allseitige Zustimmung fand, auch wenn einige deutsche Länder bis zum Jahre 1848 auf eine Verfassung warten mußten, so stellt die 1 J. Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus, Teil I, Kap. 149. 2 Dazu E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 3 ff., insb. S. 7; F. Härtung, Die Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in Europa, S. 183 ff, 186.

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

Auseinandersetzung zwischen monarchischem Konstitutionalismus und demokratischem Konstitutionalismus, der Kampf um monarchisches Prinzip oder Volkssouveränität, das eigentliche Problem des 19. Jahrhunderts dar«. Dieser Streit mußte sich notwendigerweise auf den Regierungsbegriff auswirken. Hatte Regierung im funktionellen, nicht organisatorischen Sinn bis dahin die Ausübung aller staatlichen Gewalt durch den Herrscher bedeutet, so konnte die Verlagerung von Staatsgewalt auf neue Träger nicht ohne Folgen für das begriffliche Verständnis bleiben. Die Idee einer gewaltenteilenden Demokratie, etwa nach dem Muster der Französischen Revolution in ihren Anfängen, mußte den umfassenden Regierungsbegriff früherer Jahrhunderte zerstören und entweder auf Teilbereiche staatlicher Machtausübung beschränken oder ganz aufgeben. Dazu kam es jedoch zunächst nicht, weil sich i n Deutschland nicht der demokratische, sondern der monarchische Konstitutionalismus eindeutig durchsetzte. Das monarchische Prinzip aber besagte, daß die Fülle der Staatsgewalt ungeteilt in der Person des Monarchen verblieb. Damit bestand verfassungstheoretisch auch keine Notwendigkeit, den Regierungsbegriff des Hoch- und Spätabsolutismus aufzugeben oder zu verändern, und tatsächlich wurde er in den frühkonstitutionellen Verfassungen ebenso wie in einem großen Teil der staatsrechtlichen Literatur nahezu unverändert übernommen. Insofern kann man nicht behaupten, der Regierungsbegriff habe sich bereits seit 1800 verengt und bezeichne seitdem nur noch die oberste Leitung im Bereich der Exekutive 4 . Die folgende Untersuchung wichtiger Verfassungstexte und einschlägiger Literaturstellen zeigt deutlich, daß die Entwicklung anders verlief, daß nämlich die Aussonderung bestimmter staatlicher Funktionen aus dem Regierungsbegriff — wie vor allem der Justiz und der Gesetzgebung, später auch der Verwaltung als bloßem Gesetzesvollzug — erst sehr viel später erfolgte.

II. Monarchisches Prinzip und Regierungsbegriff im deutschen Frühkonstitutionalismus V o n besonderer Bedeutung für das Staatsrecht aller im Deutschen Bund zusammengeschlossenen Einzelstaaten war die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820. Die Wiener Schlußakte enthält den Begriff Regierung 3 E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, S. 560; ders., Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, S. 146 ff. 4 So aber H. O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, S. 36.

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

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immer nur im organisatorischen Sinn 5 . Ein funktioneller Begriff war insoweit auch entbehrlich, als der Deutsche Bund als Staatenbund die Staatsgewalt den Mitgliedsstaaten beließ und deshalb keine Regelungen hinsichtlich der Ausübung der Staatsgewalt im Bund erforderlich waren. Die verfassungsrechtliche Frage „Wer regiert den Bund und auf welche Weise?" stellte sich nicht. Die Funktion „Regierung" fehlte dem Deutschen Bund. Die Bundesgewalt war keine Staatsgewalt im engeren Sinne 8 . Die Mitgliedsstaaten hatten nur einzelne Hoheitsrechte auf den Bund übertragen, die von der Bundesversammlung wahrgenommen wurden. Es gab dementsprechend auch kein Organ „Regierung". Der Ausdruck „Bundes-Regierung", wie er in den Artikeln 29, 32 und 50 WSA gebraucht wurde, bezeichnete die Regierungen der Mitgliedsstaaten, also eigentlich „Landesregierungen" (so Art. 22 WSA). Wenn die Schlußakte von der Staatsgewalt in den einzelnen Ländern handelte, wurde nicht der Begriff Regierung, sondern der Terminus „die gesamte Staatsgewalt" verwendet: Art. 57 legte fest, daß gemäß dem Grundbegriff jedes souveränen Fürstentums die gesamte Staatsgewalt in dem Staatsoberhaupt vereinigt bleiben mußte und der Souverän durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden konnte. Dieser Grundsatz sollte für alle deutschen Länder mit Ausnahme der freien Städte verfassungsrechtliche Gültigkeit haben. Art. 57 WSA bildete so „die institutionelle Garantie des deutschen Konstitutionalismus" 7 . Das monarchische Prinzip wurde als Bollwerk gegen alle demokratischen Bestrebungen und gegen das Gewaltenteilungsprinzip fest verankert. Die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus, von denen hier die bayrische, die badische und die württembergische als wichtigste einer näheren Prüfung unterzogen werden sollen, standen — obwohl zeitlich vorher erlassen — in voller Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Art. 57 WSA. Nach § 1 Abschnitt I I der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818 war der König das Oberhaupt des Staates, vereinigte in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übte sie unter den von ihm in der Verfassung festgesetzten Bestimmungen aus. Diese Tätigkeit des Königs, also die Ausübung der Staatsgewalt

5 Vgl. Art. 22, 25, 26, 27, 28, 29, 32, 33, 34, 50, 53. Alle Verfassungstexte aus dem 19. Jahrhundert, soweit kein besonderer Hinweis erfolgt, bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 u. 2. 8 J. L. Klüber, öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, §§ 103 a, 154; z. T. abw. R. Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, § 114, der die Bundesgewalt als „Analogon der Staatsgewalt" auffaßte und ihr alle Regierungsrechte zuschrieb (s. aber auch § 112). 7 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 7; ders., Deutsche Verfassungsgesdiichte, Bd. I, S. 652 ff.

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

entsprechend der Verfassung, wurde auch als „Regierung" bezeichnet8. Die Regierung des Monarchen umfaßte alle Rechte der Staatsgewalt, die „Regierungs-Rechte" ( § 1 7 Abschn. II). Dazu gehörte auch die Rechtspflege. „Die Gerichtsbarkeit geht vom Könige aus", bestimmte § 1 Abschn. V I I I . Die Verfassung gewährleistete zwar die richterliche Unabhängigkeit, ohne jedoch die Justiz aus dem Bereich der königlichen Regierung auszugliedern. Die beiden Kammern der allgemeinen Ständeversammlung hatten an der Ausübung der Staatsgewalt, an der Regierung, keinen Anteil. Die Staatsgewalt war nicht etwa zwischen Monarch und Volksvertretung geteilt. Die umfassende monarchische Regierungsgewalt war nur bei bestimmten Funktionen durch das vom König selbst 9 auf sich genommene Mitwirkungserfordernis der Kammern beschränkt. Ohne die Bedeutung dieser konstitutionellen Bindungen schmälern zu wollen, die einen wesentlichen Fortschritt gegenüber einer rein absolutistischen Regierungsweise darstellten und i n der Verfassungswirklichkeit doch zu einer gewissen „Teilung der Staatsgewalt" führen konnten, muß hier herausgearbeitet werden, daß die theoretische Konzeption der Staatsspitze, die Zuordnung aller Staatsgewalt an den Monarchen, „vorkonstitutionell" 1 0 war, d. h. sie hielt insoweit an dem Staatsaufbau früherer Epochen fest. Damit aber konnte auch der Regierungsbegriff „vorkonstitutionell" bleiben. Die aufgezeigte Stellung der Ständevertretung wird im Vorspann der bayrischen Verfassung deutlich, wenn es dort heißt: Sie ist „berufen, um in öffentlichen Versammlungen die Weisheit der Beratung zu verstärken, ohne die Kraft der Regierung zu schwächen". Ebenso bezeichnend ist der Inhalt der Eidesformel. Während der König schwören mußte, „nach der Verfassung und den Gesetzen des Reichs zu regieren*, versicherten die Mitglieder der beiden Kammern bei ihrer Eidesleistung, „des ganzen Landes allgemeines W o h l und Beste . . . zu berahten" 11. Auch die Verfassung für das Großherzogtum Baden vom 22. August 1818 beruhte auf dem monarchischen Prinzip. Nach § 5 der Verfassung vereinigte der Großherzog alle Rechte der Staatsgewalt in sich und übte sie entsprechend den Bestimmungen der Verfassung aus. Diese seine Funktion hieß „die Regierung des Landes" (§ 4). Die Bestimmung des 8 So etwa § 5 Abschn. I I (Der König bzw. das königliche Haus regiert) und §§ 9, 11, 15, 22 Abschn. I I (die Regierung ausüben, führen, antreten, in die Regierung eintreten). 8 Vgl. § 1 Abschn. II. 10 Ein Terminus, den E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 337, in diesem Zusammenhang verwendet. 11 § 1 Abschn. X u. § 25 Abschn. V I I I . Hervorhebungen vom Verf.

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

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§ 4 ebenso wie die Uberschrift dieses Verfassungsabschnittes sind Ausdruck eines umfassenden funktionellen Regierungsbegriffes, der die Ausübung aller Staatsgewalt beinhaltet. § 67, der den Kammern das Recht einräumt, Mißbräuche in der Verwaltung der Regierung anzuzeigen, steht dazu nicht im Widerspruch. „Regierung" und „Verwaltung" bezeichnen in dieser Verfassungsbestimmung keine unterschiedenen Staatsfunktionen, der Bereich der Verwaltung soll nicht von der übrigen Regierungstätigkeit getrennt werden. Es handelt sich vielmehr um eine organisatorische Verwendung der Begriffe. „Die Regierung", der die Mißbräuche in der Verwaltung angezeigt werden sollten, war die höchste Staatsbehörde 12 . Die Verfassung für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819 kam zwar nach langjährigen Auseinandersetzungen mit den Ständen im Gegensatz zur bayrischen und zur badischen Verfassung als ein echter Verfassungsvertrag zustande, aber in bezug auf die absolute Vorrangstellung des Königs im Verfassungsgefüge ergeben sich keine Unterschiede gegenüber den anderen Verfassungen. Nach § 4 der württembergischen Verfassung vereinigte der Monarch alle Rechte der Staatsgewalt in sich. Seine Person war heilig und unverletzlich. Die Staatsgewalt wurde ihm nicht erst durch den Verfassungsvertrag in die Hand gegeben. Ebensowenig mußte er sie mit seinen „Verfassungsvertragspartnern", den Ständen, teilen. Nur in der Ausübung der umfassenden Staatsgewalt waren dem Herrscher gewisse verfassungsmäßige Beschränkungen auferlegt. Die Tätigkeit des Monarchen war seine „Regierung". Der König regiert, hieß also, er übt die Rechte der Staatsgewalt aus 18 . Dieser funktionelle Regierungsbegriff, neben dem die Verfassung auch einen Begriff der Regierung im organisatorischen Sinn kannte 1 4 , findet sich in den §§ 7, 11, 13, 17, 104, im Vorspann und im Schlußsatz. Die Funktion Regierung umfaßte alle Rechte der Staatsgewalt. Weder die Justiz noch die Gesetzgebung waren ausgegliedert (§§ 85 ff). Gesetzgebung, Staatsverwaltung und Gerichtsbarkeit lassen sich nur auf Grund unterschiedlicher Mitwirkungsbefugnisse der Stände (§ 124) bzw. der Unabhängigkeit ihrer Dienststellen (§ 93) als Untergliederungen des umfassenden Bereiches „Regierung" unterscheiden.

12 Diese engere organisatorische Bedeutung des Regierungsbegriffes war schon im vorkonstitutionellen Staatsrecht geläufig (vgl. oben Kap. 2). 18 So deutlich § 15 Abs. 1. 14 Vgl. §§ 6, 31, 120, 125, 127, 185, 199.

110

II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

III.

Die Auffassungen in der staatsrechtlichen Literatur zur Zeit des Deutschen Bundes

1. Die Anhänger des umfassenden, „vorkonstitutionellen" Regierungsbegriffes

Die staatsrechtliche Literatur folgte den in Art. 57 WSA und den entsprechenden Verfassungsbestimmungen der deutschen Länder abgesteckten Prinzipien für den Staatsaufbau. Der Regent eines deutschen Bundesstaates war für Johann Ludwig Klüber Inhaber der gesamten Staatsgewalt 15 . Er regierte, trat die Regierung an, wobei er einen Regierungseid schwören mußte, und bei Regierungsunfähigkeit führte ein „interimistisch regierendes Subjekt" die Regierung solange, bis der Souverän wieder zur Selbstregierung fähig war 1 6 . Dies sind nur einige Beispiele für Klübers Gebrauch des Wortes Regierung in einem funktionellen Sinn, der die Ausübung der Staatsgewalt durch den Monarchen kennzeichnete. Klüber belegte allerdings nur die Ausübung der Staatsgewalt im Inneren mit dem Begriff „Staatsregierung", während er für die auswärtigen Angelegenheiten den Begriff „Staatsvertretung" und für die Ausübung der Staatsgewalt im inneren und äußeren Staatsverhältnis den Oberbegriff „Staatsverwaltung" prägte 17 . Der Bereich der Staatsregierung erstreckte sich danach auf die Ausübung aller Staatshoheitsrechte im Innern, zu denen drei allgemeine Hauptgewalten, nämlich das Recht der höchsten Oberaufsicht, die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt, sowie als besondere Gewalten die Justiz-, die Finanz-, die Kirchen-, die Wehrhoheit und schließlich die Polizeigewalt gehörten 18 . Sieht man von der Besonderheit in bezug auf die auswärtigen Angelegenheiten ab, die sich zudem nur auf den Begriff „Staatsregierung", nicht dagegen auf den allgemeineren Wortgebrauch „die Regierung antreten", „Regierungsfähigkeit", „Selbstregierung" usw. einschränkend auswirkte, so ist festzustellen, daß Klüber den umfassenden, in keiner Weise — etwa durch die Ausklammerung von Justiz oder Gesetzgebung — eingeengten Regierungsbegriff verwandte, wie er auch im Staatsrecht des 18. Jahrhunderts gebräuchlich war. Johann Christian von Aretins „Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie" fußte auf denselben Grundlagen. Die konstitutionelle Monarchie erschien dem Verfasser als die beste Regierungsform, weil sie am ehesten in der Lage sei, die notwendige Gewalt der Regierung mit der größt15 J. L. Klüber, öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, §§ 177, 217 b. 16 §§ 183, 184. 17 §§ 97, 177, 250, 261. 18 §§ 99, 100, 281.

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

möglichen Freiheit der Staatsbürger zu vereinen 19 . Die gesamte Staatsgewalt sollte als Einheit in der Hand des Monarchen liegen, der allerdings in ihrer Ausübung durch das Verfassungsgesetz beschränkt wurde. Das Prinzip der Gewaltentrennung lehnte Aretin entschieden ab 20 . Dem Monarchen als Inhaber aller Staatsgewalt sollten die „Regierungsrechte" zustehen, die den gesamten Bereich staatlichen Handelns abdeckten. Auch die Gerichtsbarkeit und die Gesetzgebung gehörten dazu 21 . Die Tätigkeit des Monarchen auf allen diesen Gebieten, auf die sich die Regierungsrechte bezogen, war seine „Regierung" 22 . „Die Staatsgewalt ausüben heißt: regieren, und das zur Ausübung berechtigte Subjekt heißt danach: die Regierung, der Souverän, der Regent, die Obrigkeit usw." definierte Romeo Maurenbrecher 23 den Regierungsbegriff. Souverän aber war in den deutschen Monarchien allein das Staatsoberhaupt, der Fürst 24 . Regierung in einem funktionellen Sinn bedeutete also auch bei Maurenbrecher die Ausübung aller Staatsgewalt durch den Monarchen. Der Regierungsbereich umfaßte dementsprechend alle Gebiete, auf denen staatliche Gewalt in Erschienung trat, Gesetzgebung und Rechtspflege eingeschlossen. Die gesetzgebende Gewalt hatte ihren Platz als wesentliches Hoheits- oder Regierungsrecht neben der vollziehenden und der oberaufsehenden Gewalt, während die richterliche Gewalt (Justizhoheit) als eine besondere Form der vollziehenden Gewalt eingestuft wurde 2 5 . Nur an einer Stelle deutete Maurenbrecher einen verengten Regierungsbegriff an. Bei der Einteilung der vollziehenden Gewalt in eine richterliche und eine verwaltende setzte er in Klammern den Begriff „regierende" Gewalt als gleichbedeutend mit der verwaltenden 26 . Diese Unterscheidung wurde jedoch in den folgenden Ausführungen nicht wieder aufgenommen, so daß sie hier außer Betracht bleiben muß. Maurenbrecher verstand danach unter „Regierung" die Ausübung der Staatsgewalt durch den Monarchen, gekennzeichnet durch die Zusammenfassung aller Hoheits- oder Regierungsrechte in der fürstlichen Hand. Neben der Beschreibung des Regierungsbereiches durch die Aufzählung aller Regierungsrechte, die er ausdrücklich als „die Rechte, welche auf die Staatsre-

19

Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, Bd. I, S. 164. S. 172—179. 21 S. 186 unter Nr. 6, 7. 22 So z.B. der Wortgebrauch S. 193 unter Nr. 9, 11 und in dem Kap. betr. den Regierungseid, S. 198. 23 Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, § 29. 24 § 144. 25 §§ 40—42 u. §§ 177 ff. 2 « § 42. 20

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

gierung sich beziehen" bezeichnete 27 , gab Maurenbrecher noch eine allgemeine Definition dessfen, was Regierung als Ausübung der Staatsgewalt bedeutete: Die Mittel zum Staatszweck aufsuchen, bestimmen und anwenden 28 . Auch Robert von Mohl, wie sehr er sich gegen Maurenbrechers Souveränitätstheorie wandte 29 , hat das monarchische Prinzip nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Soweit er „Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg" behandelte, war er schon durch die positive Bestimmung des § 4 der Verfassungsurkunde gebunden 80 . Danach war Württemberg, wie von Mohl es ausdrückte, „ein monarchisch regierter Staat". Was er unter einer monarchischen Regierung verstand, formulierte er wie folgt: „Das ausschließende Recht die Verfolgung des Staatszweckes zu leiten und dazu die gesamte Staatsgewalt, d. h. die von den einzelnen Staatsangehörigen zusammengeschlossene Masse von geistigen und materiellen Kräften, zu verwenden, steht also einer Person zu" 3 1 . Regierung im funktionellen Sinn war also auch für von Mohl ein umfassender Begriff, der die Ausübung der gesamten Staatsgewalt durch den Monarchen bezeichnete. Die Ständeversammlung hatte keinen Anteil an der Staatsgewalt, „die Volksvertreter haben nicht mitzuregieren" 82 . Die Einrichtung der Kammern stellte ebenso wie der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nur eine verfassungsmäßige Schranke für die königliche (Allein-) Regierung dar. Zur Staatsgewalt und damit zum Regierungsbereich zählte von Mohl alle Formen staatlicher Tätigkeit, insbesondere die Gesetzgebung, das Verordnungsrecht, die Vollziehung einschließlich der Justiz, sowie die auswärtigen Angelegenheiten 83 . In dieser umfassenden funktionellen Bedeutung wurde das Wort Regierung wiederholt verwendet 8 4 . Obwohl von M o h l bei seinen allgemeinen Erörterungen über „Staatsrecht, Völkerrecht und Politik" nicht in gleicher Weise an bestimmte Vorschriften des positiven Verfassungsrechts gebunden war wie bei der Behandlung des württembergischen Verfassungsrechts, hielt er auch hier an dem monarchischen Prinzip fest. Er sprach sich jedoch zugleich für eine parlamentarische Regierung aus und mußte damit notwendig das monarchische Prinzip zerstören oder jedenfalls aushöhlen, auch wenn er selbst meinte, der Fürst bleibe trotz parlamentarischer Regierungsform Inhaber 27

§ 173. § 39. 29 Dazu A. Bark, Robert von Mohl, in: M. J. Sattler, Staat und Recht, S. 24 f. 80 Vgl. oben Kap. 3, Abschn. II. 81 Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, § 30 (S. 185). 82 § 30 (S. 186). 88 §§ 31—41. 84 Z.B. § 29 (Verlust der Regierung), § 60 (Verhinderung an der Selbst-Regierung). 28

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

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der gesamten Staatsgewalt 85 . Der Regierungsbegriff erscheint in den staatsrechtlichen Untersuchungen dieses Buches zumeist in seiner organisatorischen Bedeutung 88 , wo er aber einen funktionellen Gehalt hat, bezeichnet er in Ubereinstimmung mit dem Wortgebrauch im „Württembergischen Staatsrecht" die Führung aller Staatsgeschäfte 87. Zieht man noch seine „Encyklopädie der Staatswissenschaften" zur Untersuchung heran, so findet man den bisher herausgearbeiteten Regierungsbegriff bestätigt. Die Aufgabe des Staatsoberhauptes, den Staat in allen dazu geeigneten Fällen in Tätigkeit treten zu lassen, nannte von Mohl „regieren" 8 8 . Dem Staatsoberhaupt, i n der Monarchie also dem Fürsten, sollte die Handhabung der zur Aufrechterhaltung des Staates und zur Erreichung seiner Zwecke bestimmten Gewalt zustehen 30 . Die „Regierungsrechte" des Staatsoberhauptes erstreckten sich auf alle Gebiete des inneren und äußeren Staatslebens 40 . Sie waren nur durch den Staatszweck begrenzt, nicht aber auf einen bestimmten staatlichen Bereich, etwa die Exekutive, beschränkt. Carl von Kaltenborn stellte die Begriffe „Verwaltung" und „Regierung" gleichbedeutend nebeneinander und bestimmte sie im Gegensatz zu der Verfassung, die er als einen gegliederten Bestand der politischen Ordnung ansah, als „die Tätigkeit der Staatsfunktionen gemäß diesem verfassungsmäßigen Bestände und auf dem Fundamente der nationalen und staatlichen Machtverhältnisse" 41 . Ohne Alexander Pope in vollem Umfange Recht zu geben und die Verfassung als gleichgültig zu bezeichnen, wollte er doch die Regierung als das wesentliche staatsbildende Element, als „das Lebensprinzip des Staatskörpers" verstanden wissen. Er meinte 42 , in der Regierung konzentriere sich die eigentliche Tätigkeit und das Leben des Staates als solchen, während „ein regierungsloser Staat wie ein entseelter Körper" sei, der alsbald in seine Teile zerfalle. 85 Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, S. 395, 400 ff; für das monarchische Prinzip vgl. auch S. 420, 432. Gegen die Vereinbarkeit von monarchischem Prinzip und parlamentarischer Regierung schon J. Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus, Teil II, Kap. 224 (S. 49); F. J. Stahl, Rechts- und Staatslehre, 2. Aufl., § 99. 88 Vor allem in der Gegenüberstellung von Regierung und Volk bzw. Regierung und Ständen, S. 29, 50 ff. 37 Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, S. 26, 27. 38 Encyklopädie der Staatswissenschaften, § 29 (S. 209). 39 § 28 (S. 199). 40 § 29. 41 Einleitung in das constitutionelle Verfassungsrecht, § 13 (S. 145). Unklar dagegen S. 147 a. E., wo der Begriff Regierung allerdings auch im organisatorischen Sinne gemeint sein könnte. 42 § 13 (S. 146).

8 Frotscher

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierung" im deutschen Recht

Führt man diese Bilder einer organischen Betrachtungsweise des Staates auf ihren konkreten verfassungsrechtlichen Gehalt zurück, so mindert das die Bedeutung der Funktion Regierung nicht. Es bleibt die Aussage, „Regierung" sei die im Rahmen der Verfassung verwirklichte Tätigkeit der Staatsfunktionen. „Tätigkeit der Staatsfunktionen" heißt aber dasselbe wie Tätigkeit der Staatsgewalt, denn diese wurde von Kaltenborn als der Inbegriff aller öffentlichen Funktionen des Staates definiert 48 . Zu den einzelnen Zweigen der Staatsgewalt rechnete er die Staatsoberaufsicht, die Gesetzgebung und die Vollziehung (Exekutive) als allgemeine Hoheits- oder Regierungsrechte und die Justizhoheit, die Polizeihoheit, die Kulturhoheit, die Kirchenhoheit, die Finanzhoheit, die Militärhoheit sowie die Föderativhoheit (Auswärtiges) als spezielle Regierungsrechte 44 . A l l e Regierungsrechte, mithin die gesamte Staatsgewalt, sollten i n der Person des Monarchen konzentriert sein. Diese Forderung wurde von Kaltenborn nicht nur als geltendes deutsches Verfassungsrecht wiedergegeben, sondern auch als Grundlage eines idealen Staatsrechts gepriesen. Der Verfasser nahm insoweit entschieden gegen jede Gewaltenteilung und Volkssouveränität und für das monarchische Prinzip Stellung 45 . Regierung bedeutete danach, jedenfalls i n der als idealer Staat herausgestellten Monarchie, die Ausübung der gesamten Staatsgewalt durch den Monarchen, wobei dieser allerdings im Gegensatz zum absolutistischen Königtum gewissen verfassungsmäßigen Einschränkungen unterworfen war. Kaltenborns monarchistische Staats- und Regierungstheorie mündete schließlich i n der prägnanten, aber nicht nur für unser heutiges Staatsverständnis befremdlichen, sondern auch in Anbetracht der Erfahrungen, welche die politische Entwicklung in Europa und den USA während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch dem Zeitgenossen vermitteln konnte, zweifelhaften Feststellung: „Die Regierung ist allemal ein aristokratisches Geschäft. Die demokratische Masse mit ihrer Durchschnittsbildung, mit ihren mehr negierenden, denn aufbauenden Tendenzen ist dazu im Allgemeinen unfähig" 4 6 . Geistig eng verwandt zeigte sich i n diesem Punkte Joseph Held mit seinem „System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands". Das monarchische Prinzip, wie es in Art. 57 W S A formuliert war, erschien ihm „als die wahre Monarchie überhaupt" 4 7 und besonders auch als der deutsch-nationale Grundgedanke des Konstitutiona48

§ 7 (S. 49). § 7 (S. 50). 45 § 7, § 10 (insb. S. 104 ff), § 14, § 35. 48 § 2 (S. 21). 47 System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus, Teil II, Kap. 267 (S. 133). 44

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

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lismus 48 . Er meinte, die Einherrschaft müsse „für uns Deutsche als die vorherrschende Staatsform der germanischen Culturvölker eine ganz besondere Bedeutung und Weihe haben" 4 9 . V o n der Einherrschaft, d. h. der Konzentration der gesamten Staatsgewalt in der Hand des Monarchen, führte der Weg wieder zu einem einheitlichen, umfassenden Regierungsbegriff. „Regierung" im funktionellen Sinn bedeutete für Held die Ausübung der ungeteilten Staatsgewalt einschließlich Gesetzgebung und Justiz. Er wandte sich ausdrücklich gegen den Versuch, Regierung und Verwaltung zu unterscheiden und den Regierungsbegriff auf die persönliche und unverantwortliche höchste Lenkung des Staatswesens durch den Monarchen zu beschränken. „Die Regierung ist die Verwaltung der Staatsgewalt", stellte er in diesem Zusammenhang fest 50 . Auch alle Tätigkeit von Verwaltungsbeamten war für den konsequenten Verfechter des monarchischen Prinzips im Grunde nichts anderes als die Durchführung des Regentenwillens und damit zugleich „Regierung". Im „Staatslexikon", einer von Rotteck und Welcker herausgegebenen Enzyklopädie der Staatswissenschaften, die in den gebildeten Schichten der Zeit außerordentliche Verbreitung und Beachtung fand, hatte Held Gelegenheit, seine „Regierungs"-Auffassung näher darzulegen 51 . Dabei scheint es zunächst, als wolle er den Regierungsbegriff einengen, wenn er von der Formulierung ausgeht, die Regierung sei die maßgebende oder entscheidende Leitung des Gesamtwesens, welches w i r Staat nennen. Zu der maßgebenden Leitung des Staates zählte er jedoch alle denkbaren Emanationen von Staatsgewalt, die ungeteilt in der Hand des Monarchen verbleiben sollte. Die in der französischen Staatstheorie entwickelte Unterscheidung verschiedener „pouvoirs" oder Regierungsgewalten lehnte er ebenso ab wie die Unterscheidung von „régner", „gouverner" und „exécuter". Nach seiner Auffassung war der Monarch in einer Monarchie der alleinige Träger der gesamten Staatsgewalt, einer Gewalt, die „man richtig mit Regierung bezeichnet". Das konstitutionelle System bedeutete keine Teilung der Regierungsgewalt, sondern stellte nur eine Garantie gegen willkürliche Regierungshandlungen dar. Die ständische Mitwirkung in der konstitutionellen Monarchie wurde insoweit mit den Wahlkapitulationen oder Pairsgerichten vorkonstitutioneller Zeit verglichen. Held räumte lediglich ein, daß sich die Regierungsfunktion im Rahmen von Gesetzgebung und Rechtsprechung in besonderen Formen äußere, die es rechtfertigen könnten, Gesetzgebungs- und Jurisdiktions-

48 49 50 51

Teil Teil Teil Das

II, Kap. 224 (S. 49). I, Kap. 148 (S. 350). II, Kap. 404 (S. 451). Staatslexikon, Bd. 12, Stichwort „Regierung".

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gewalt von dem übrigen Regierungsbereich zu unterscheiden. Damit blieb „Regierung" jedoch der umfassende Oberbegriff. Abweichend von der Ansicht, die er noch in seinem „System des Verfassungsrechts" vertreten hatte, war Held allerdings nun bereit, den Begriff Verwaltung für die verantwortliche, von dem Souverän übertragene Regierungstätigkeit der Beamten anzunehmen und der Regierung als der juristisch unverantwortlichen obersten Staatsleitung gegenüberzustellen. Die Definition der Verwaltung als einer übertragenen Regierungstätigkeit zeigt aber schon, daß es sich dabei letzten Endes nur um eine besondere Form von Regierung, eine Unterkategorie, handelte. Der umfassende funktionelle Regierungsbegriff wurde mithin nicht aufgegeben. Carl Friedrich von Gerber offenbarte seine positivistische Grundhaltung 6 2 bereits im Vorwort seines „Systems des Deutschen Staatsrechts", wo er dem Leser versprach, die durch die modernen Verfassungen gegebenen Begriffe weniger staatsphilosophisch oder politisch als vielmehr juristisch-dogmatisch zu bestimmen. Dabei kam auch er zu dem Ergebnis, daß mit dem „Gesamtworte ,Regierung'" die Staatsgewalt in Tätigkeit, und zwar in allen ihren Spielarten erfaßt werde 5 8 . Er unterschied die gesetzgeberische, die richterliche und die verwaltende Tätigkeit der Staatsgewalt, die also sämtlich unter den Begriff Regierung fielen. In der 1869 erschienenen zweiten Auflage seines Buches wandte er sich ausdrücklich gegen die immerhin „bemerkenswerthe Ansicht", nach der man die Verwaltung in eine „vollziehende" und eine „regierende" Funktion weiter aufteilen müsse 54 . Entsprechend dem monarchischen Prinzip, wie es in Art. 57 W S A und den meisten Verfassungen der deutschen Länder zum Ausdruck gekommen war, ordnete Gerber den gesamten Regierungsbereich dem Monarchen zu. Eine Gewaltenteilung fand nicht statt. Die Stände hatten „keine Regierungsakte" vorzunehmen, denn sie hatten keinen Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt, auch nicht hinsichtlich der Gesetzgebung 55 . Ihr Recht bestand allein darin, daß der Monarch gewisse in der Verfassung bestimmte Regierungshandlungen nur mit ihrer Genehmigung durchführen konnte. Ihre Mitwirkung wurde nicht als eine parlamentarische Mitherrschaft, sondern als eine verfassungsrechtliche Schranke der monarchischen (Allein-) Regierung aufgefaßt.

52

Dazu eingehend P. v. Positivismus, insb. S. 163 ff. 58 Deutsches Staatsrecht, 54 Deutsches Staatsrecht, 65 Deutsches Staatsrecht,

Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen § 9. 2. Aufl., § 9 (S. 29, Anm. 5). 1. Aufl., §§ 25, 40.

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2. Die Vertreter eines eingeschränkten Regierungsbegriffes Der erste Staatsrechtslehrer, der einen eingeschränkten, nicht mehr die Ausübung der gesamten Staatsgewalt umfassenden funktionellen Regierungsbegriff gebrauchte, war nach meinen Feststellungen der Heidelberger Ordinarius Karl Salomo Zachariä. I n der ersten Bearbeitung seiner „Vierzig Bücher vom Staate" aus dem Jahre 1820 führte er aus, „Regierung" in der engeren Bedeutung des Wortes bezeichne die Ausübung der vollziehenden Gewalt mit der Folge, daß „die Regierung der Gesetzgebung und der Gerechtigkeitspflege entgegengesetzt" werde 5 6 . Neben dem engeren Begriff behielt Zachariä allerdings auch den traditionellen weiten Begriff der Regierung bei. In diesem Sinne definierte er: „Die Staatsverwaltung oder die Regierung ist die Ausübung der Staatsgewalt"57. Beide Regierungsbegriffe 58 wurden von Zachariä nebeneinander und zumeist ohne weitere Kennzeichnung verwendet. Die Staatsverwaltung oder Regierung im weiteren Sinne spielte vor allem in der Gegenüberstellung mit der Verfassung eine Rolle, ein Verhältnis, das den Autor in den Büchern vom Staate wiederholt beschäftigte. Da das Endziel der Staaten darin bestehe, daß gerecht regiert werde, sah er nicht die Verfassung, sondern die Verwaltung (Regierung) des Staates als das Wesentliche an 59 . Er legte jedoch deshalb auf die Verfassung keinen geringen Wert. Denn eine vollkommene Staatsverfassung konnte nach seiner Meinung die Gewähr für die Vollkommenheit der Regierung, d. h. für die gehörige Verwaltung der Staatsgewalt leisten 60 . „Auch das Regieren ist eine Arbeit; und die Verfassung ist die Werkstätte dieser Arbeit" 6 1 . Den Begriff Regierung im engeren Sinn gebrauchte Zachariä seltener. Zumeist blieb er bei der Bezeichnung „vollziehende Gewalt". Keineswegs hat er mit seiner Definition der Regierung als der Ausübung der vollziehenden Gewalt im Gegensatz zu Gesetzgebung und Gerechtigkeitspflege die dem heutigen Verfassungsrecht geläufige Dreiteilung der Staatsgewalt vorweggenommen. Das zeigt bereits seine etwas seltsame Begründung für die Abgrenzung. Er stellte darin nämlich nicht auf eine 69

Vierzig Bücher vom Staate, Bd. I, S. 115. Bd. I, S. 115. Noch in seiner Abhandlung „über die vollkommenste Staatsverfassung" aus dem Jahre 1800 hatte Z. nur den herkömmlichen weiten Regierungsbegriff verwendet. „Die Staatsgewalt ausüben heißt regieren" (ebd. S. 12, ähnlich S. 42). Untergliederungen der Staats- oder Herrschergewalt waren die gesetzgebende, die richterliche und die exekutive Gewalt (ebd. S. 65 ff, 77, 198 ff). 58 Neben denen noch der Begriff „Regierung" im organisatorischen Sinn stand. 69 Bd. I, S. 214. 60 Bd. II, S. 32. « Bd. II, S. 59. 57

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Teilung der Macht im Staate ab, sondern führte als ausschlaggebenden Gedanken an, daß der Staat eigentlich nur durch die vollziehende Gewalt, also durch die Regierung im engeren Sinne, unmittelbar staatliche Gewalt ausübe, während Gesetzgebung und Gerechtigkeitspflege lediglich wissenschaftliche Arbeiten seien 62 . A n anderer Stelle wurde die richterliche Gewalt dann wieder der vollziehenden Gewalt untergeordnet 63 , mit der Folge, daß sich eine Zweiteilung i n Gesetzgebung und Vollziehung oder, wie sich Zachariä auch ausdrückte 64 , in Gesetzgebung und Regierung ergab. Wesentliche Voraussetzung einer echten Gewaltenteilung ist jedoch nicht diese systematische Unterscheidung verschiedener Ausflüsse der Staatsgewalt — eine bloße Einteilung des Regierungsbereiches und der Regierungsrechte, wie es sie i n der einen oder anderen Form auch schon im absolutistischen Staatsrecht gegeben hat 6 5 —, sondern die Aufteilung der staatlichen Machtbefugnisse auf verschiedene Träger. Aber auch i n dieser Hinsicht findet man bei Zachariä beachtliche Ansätze, die auf eine gewaltenteilende Monarchie mit aristokratischem und demokratischem Einschlag zielen. Er sprach sich für die konstitutionelle Monarchie aus, die er als „einherrschaftlichen Frey Staat" bezeichnete und deren Wesen er im krassen Gegensatz zu dem ungefähr gleichzeitig ausgearbeiteten Art. 57 W S A dahin bestimmte, daß der Monarch zwar das Haupt der vollziehenden Gewalt sei, die Gesetzgebung jedoch zwischen dem Volk, vertreten durch die Abgeordneten zweier Kammern, und dem Monarchen geteilt sein solle 66 . V o n der richterlichen Gewalt sagte er, sie sei eine besondere und selbständige Funktion, deren Ausübung weder der Volksversammlung noch dem Könige und seinen Beamten übertragen werden dürfe 67 . Die Rechtsprechung sollte allerdings im Namen des Königs erfolgen, dem auch die Richterernennung und das Begnadigungsrecht zustehen sollten. Die Herrenwürde, d. h. das Recht in der ersten Kammer zu stimmen, behielt Zachariä dem Adel vor, während er das Wahlrecht für die zweite Kammer allen Staatsbürgern zuerkannte 68 . Auf diese Weise bildete er die Struktur einer konstitutionellen Monarchie aus, von der er selbst feststellte, sie sei „aus der Einherrschaft, der Mehrherrschaft und der Volksherrschaft zusammengesetzt" 69 . 62

Bd. I, S. 115. Bd. I f S. 136 f. Bd. I, S. 126, 127. 65 Vgl. E. Kaufmann, in: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. III, S. 692: „So haben überhaupt alle Einteilungen der Majestätsrechte im absoluten Staat bloß klassifikatorische und keine begriffliche Bedeutung". 66 Bd. II, S. 255, 265 (Nr. 3), 289 (Nr. 17). 87 Bd. II, S. 268 f. (Nr. 5), 288 (Nr. 15, 16). 88 Bd. II, S. 296 ff. 69 Bd.. II, S. 360. 63

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Zachariä hat die hier herausgearbeiteten Grundsätze einer gewaltenteilenden Monarchie nicht i n seinem gesamten Werk durchgehalten. Er wechselte verschiedentlich seinen Standpunkt und wollte dabei offenbar gegensätzliche Auffassungen miteinander verbinden oder gar versöhnen. So hat er das oben beschriebene Gebäude eines monarchischen Staates mit aristokratisch-demokratischer Teilhabe an der Staatsgewalt eigentlich am Ende selbst wieder eingestürzt, indem er sich einen „Vorschlag zur Vervollkommnung" zueigen machte, der die Entscheidungsbefugnis der Volksvertretung in eine bloße Beratungsfunktion verwandelte und damit die Gesetzgebung allein in die Hand des Monarchen gab 70 . Solche Sinnesänderungen veranlaßten Bluntschli zu der etwas überspitzten, aber nicht unzutreffenden Bemerkung: „In der Rüstkammer Zachariäs wird, wie man sieht, jede Partei für jede Meinung gut gearbeitete Waffen holen können" 7 1 . I n einer Umarbeitung der „Vierzig Bücher vom Staate" aus dem Jahre 1840 hat Zachariä den eingeschränkten Regierungsbegriff zwar etwas abgeändert, aber nicht aufgegeben. I n Beziehung auf die konstitutionelle Monarchie bestimmte er jetzt die Regierung als „das Recht, die Staatsgewalt überhaupt — ausgenommen in den der gesetzgebenden oder der richterlichen Gewalt von der Verfassung vorbehaltenen Fällen — auszuüben" 72 . Die Regierung i n diesem engeren Sinne umfaßte die Vollziehung der Gesetze, Mitwirkung an der Gesetzgebung, einen Anteil an der Rechtspflege und i n bestimmten Fällen ein Tätigwerden anstelle der Gesetzgebung 78 . Die Regierung bezeichnete damit den Funktionsbereich des Monarchen, der jedoch nicht wie nach dem monarchischen Prinzip zugleich die gesamte Staatsgewalt erschöpfte. Gesetzgebung und Rechtsprechung blieben gesondert. Insgesamt kann man feststellen, daß Zachariä als erster Staatsrechtler die Regierung im funktionellen Sinne der Gesetzgebung und teilweise auch der Rechtspflege gegenübergestellt und daß er im Zusammenhang mit dieser begrifflichen Unterscheidung auch eine wirkliche Aufteilung der Staatsgewalt zwar nicht konsequent, aber doch i n bemerkenswerten Ansätzen vorgenommen hat. Seine Bücher vom Staate bildeten so einen wirkungsvollen Ausgangspunkt, von dem aus das monarchische Prinzip und der ältere umfassende Regierungsbegriff erschüttert werden konnten. Karl Heinrich Ludwig Pölitz hat Zachariäs Gedanken von der Teilung der Staatsgewalt aufgenommen 74 . Nach seiner Meinung zerfällt die höchste 70

Bd. II, S. 389 ff. Geschichte des Staatsrechts, 18. Kap., S. 605. Bd. I V der Umarbeitung, S. 86. 78 Ebd., S. 87 ff. 74 K. H. L. Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit, 1. Teil, S. 186 ff. 71 72

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Gewalt in zwei Teile: die Gesetzgebung, die von Staatsoberhaupt und Volksvertretung gemeinsam ausgeübt werden soll, und die Vollziehung, die allein Sache des Staatsoberhauptes ist. Die Rechtsprechung w i r d nicht als eine auf der gleichen Ebene stehende dritte Gewalt angesehen, sondern als eine Untergliederung der Verwaltung eingestuft. Unter Berufung auf Zachariä fährt Pölitz dann fort: „Der Begriff der vollziehenden Gewalt zerfällt aber i n zwei Hauptteile: in das Regieren und in das Verwalten, inwiefern unter dem Regieren der Oberbefehl über die Vollziehung der bestehenden Gesetze und die oberste Aufsicht über alle Zweige der Verwaltung, unter dem Verwalten hingegen die Vollziehung der Gesetze i n den einzelnen Kreisen und Verhältnissen des inneren Staatslebens verstanden w i r d " 7 5 . Hier deutet sich, wenn auch unvollkommen, die spätere Aufgliederung des Executivbereiches in Regierung und Verwaltung an. Pölitz hat dieses Problem in seinen weiteren Ausführungen jedoch nicht weiter vertieft. Ungefähr gleichzeitig mit Zachariä entwickelte auch Friedrich Hegel einen eingeschränkten Regierungsbegriff. I n den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" unterschied er die Regierungsgewalt von der gesetzgebenden und von der fürstlichen Gewalt 7 6 . Der Regierungsgewalt, zu deren Bereich er auch die Rechtsprechung rechnete, wies er das „Geschäft der Subsumtion" zu, „die Ausführung und Anwendung der fürstlichen Entscheidungen, überhaupt das Fortführen und Imstanderhalten des bereits Entschiedenen, der vorhandenen Gesetze, Einrichtungen, Anstalten für gemeinschaftliche Zwecke und dergleichen" (§ 287). Die Regierungsgewalt war bei Hegel also auf den bloßen Vollzug beschränkt, im heutigen Sprachgebrauch könnte man sagen: auf die reine Verwaltungstätigkeit. Sie mußte sich mit einer Stellung im Verfassungsgefüge begnügen, die mit derjenigen der Exekutive, des Pouvoir exécutif, in den Verfassungen der Französischen Revolution von 1791, 1793 und 1795 verglichen werden kann. Anders als in diesen Verfassungen sollte die Hegeische Exekutive jedoch nicht an die Entscheidung einer Volksvertretung, sondern an den W i l l e n des Monarchen gebunden sein. Die fürstliche Gewalt sollte „das Moment der letzten Entscheidung" enthalten, „als der Selbstbestimmung, i n welche alles übrige zurückgeht, und wovon es den Anfang der W i r k lichkeit nimmt"( § 275). Dieses absolute Selbstbestimmen machte für Hegel das unterscheidende Prinzip der fürstlichen Gewalt aus. Die Souveränität des Staates wird in der Person des Monarchen individualisiert. Denn „die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich" (§ 279). Volkssouveränität als Gegensatz zu der im Monarchen 75 76

Ebd., S. 216. Dazu auch J. K. Bluntschli, Geschichte des Staatsrechts, Kap. 16, S. 557 ff.

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existierenden Souveränität gehörte nach Hegels Meinung „zu den verworrenen Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zu Grunde liegt". Das Volk, ohne seinen Monarchen und die damit zusammenhängende Gliederung des Ganzen, „ist die formlose Masse, die kein Staat mehr ist . . . " ( § 279). Die Hegeischen drei Gewalten lassen sich im Grunde auf die fürstliche Gewalt reduzieren. Er unterscheidet zwar drei Bereiche staatlicher Tätigkeit, ohne diesen jedoch Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu geben. Die Staatsgewalt wird nicht geteilt, sondern bleibt in einer Hand, der fürstlichen 77 . M i t dieser Auffassung stand Hegel auf dem Boden des monarchischen Prinzips 78 . Eine Gewaltenteilung, wie sie in der Französischen Revolution versucht worden war, lehnte er entschieden ab. Jede Konstruktion, die auf dem Mißtrauen gegenüber der Staatsgewalt aufbaute und von daher „Dämme" — heute würde man sagen: checks and balances — aufrichten wollte, erschien ihm als Ausdruck einer negativen und falschen Haltung gegenüber dem Staat. „Man muß daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren", meinte er 7 9 auf Grund seiner eigenen idealistischen Auffassung vom Staat als der Wirklichkeit der sittlichen Idee. Es fragt sich, ob man Hegels Betrachtungen über die drei Gewalten im Staate ohne eingehende Erörterung ihrer philosophischen Grundlagen überhaupt für die vorliegende Untersuchung auswerten darf. Der Teil der Hegeischen Rechtsphilosophie, der die innere Staatsverfassung betrifft und der hier interpretiert wurde (§§ 272 ff), verläßt jedoch weitgehend den rein philosophischen Bereich und nimmt die konkrete Gestalt einer Staatslehre an, die unzweifelhaft auch politisch wirksam geworden ist 8 0 . Das rechtfertigt die Untersuchung, als deren Ergebnis festzuhalten ist: Die Hegeische Drei-Gewalten-Lehre entpuppt sich als bloße Unterscheidung einzelner Bereiche staatlichen Lebens, denen keine Selbständigkeit und Unabhängigkeit zukommt. Im Gegensatz zu Zachariäs Konzeption in den „Büchern vom Staate" führt von hier kein Weg zur Gewaltenteilung in einem demokratischen Staatsaufbau. Die Staatsgewalt bleibt vielmehr in Übereinstimmung mit dem monarchischen Prinzip bei dem Monarchen konzentriert. Der Begriff „Regierungsgewalt" bezeichnet die reine Vollzugstätigkeit der Staatsbeamten, die von der fürstlichen „als der entscheidenden und souveränen Staatsgewalt" 81 ernannt und angewiesen 77 Außer den angeführten allgemeinen Prinzipien vgl. noch die besonderen Bestimmungen über die Rechte der fürstlichen Gewalt, §§ 283, 292, 300, 329. 78 A. Baruzzi, Hegel, S. 187 ff, 214. 79 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 272. 80 E. Topitsch, Grundmotive der Sozialphilosophie Hegels, S. 370 f. 81 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 292.

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werden. Es hätte näher gelegen, wenn Hegel, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, die Ausübung der Staatsgewalt durch den Monarchen, also die fürstliche Gewalt, mit dem Begriff Regierungsgewalt gekennzeichnet hätte. Ein sachlicher Grund für seine ungewöhnliche Terminologie ist nicht ersichtlich. Sie wurde auch in der Folgezeit nicht wieder aufgegriffen. Anders verhielt es sich mit dem eingeschränkten funktionellen Regierungsbegriff, den Friedrich Julius Stahl in seiner „Christlichen Rechts- und Staatslehre" vertrat. Er unterschied ähnlich wie K. S. Zachariä, zwischen Gesetzgebung, Regierung und Gericht 82 . Der Begriff „Gericht" stellte in diesem Zusammenhang keine Organ-, sondern eine Funktionsbezeichnung dar, die in der zweiten Auflage des Werkes auch ausdrücklich durch den treffenderen Ausdruck „richterliche Gewalt" ergänzt wurde 8 3 . Die Gesetzgebung bestand für Stahl in der Aufstellung von Rechtsgrundsätzen für den Staat, wobei die Staatsgewalt ändernd und fortbildend auf ihre eigene Grundlage, das Gesetz, zurückwirkte. Die gerichtliche Tätigkeit bedeutete ein Wirken der Staatsgewalt, das darauf ausgerichtet war, das verletzte Gesetz gegen das Individuum wiederherzustellen. Die Regierung schließlich war das Wirken der Staatsgewalt vom Boden des Gesetzes aus, „die wirkliche (unmittelbare und reale) Versorgung des Staates, das Lenken und Beherrschen der Menschen nach seinen Geboten und Zielen" 8 4 . Die Regierung war deshalb die Verrichtung der Staatsgewalt, die ununterbrochen vorhanden und wirksam sein mußte, während Gesetzgebung und Rechtsprechung nur auf besondere Veranlassung tätig wurden. Innerhalb des gesamten Regierungsbereiches unterschied Stahl zwei Teilbereiche: die Vollziehung, deren Aufgabe nur darin lag, die bestehenden Gesetze auszuführen, und die Regierung im engeren Sinne, die auch solche im Gesetz nicht vorgezeichneten Zwecke wie die Aufstellung eines Schulplanes oder den Erlaß einer Paßordnung usw. anstreben durfte. Die ganze Einteilung w i r k t erstaunlich modern, solange man den Blick nur auf das äußere Begriffsschema richtet und nicht untersucht, wie Stahl die Macht im Staate tatsächlich aufteilen wollte. Anders als Zachariä war Stahl ein entschiedener Anhänger des monarchischen Prinzips. In seiner „auf die christliche Grundansicht gebauten Staatslehre" 85 war der König, jedenfalls unter einer vollkommenen Verfassung, der von Gott eingesetzte Souverän, der in dem „als Anstalt Gottes" verstandenen Staat alle Staatsgewalt in Händen hielt. Insbesondere die deutsche konstitutionelle 82 83 84 85

Rechts- und Staatslehre, 2. Abt., S. 42 ff. 2. Aufl., § 56 (S. 170). 1. Aufl., S. 43; 2. Aufl., § 55 (S. 167). 1. Aufl., Vorwort S. V I I .

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Monarchie stand nach Auffassung Stahls 86 unter dem monarchischen Prinzip, von dem er an anderer Stelle auch sagte, es sei „das Fundament deutschen Staatsrechts und deutscher Staatsweisheit" 87 . Restaurative Systeme 88 „mit ihrem Haften an den untergegangenen oder nie gewesenen Zuständen des Mittelalters" lehnte er zwar ab, andererseits war er auf Grund seiner Überzeugungen aber auch ein Gegner jeder liberalen Staatstheorie „mit ihren chimärischen Erwartungen von Herrschaft des vernünftigen Volkswillens, von gleicher Berechtigung der Menschen, von Beschränkung des Staates auf den Rechtszweck" 89 . Folgerichtig bekämpfte er „jene falsche und verderbliche Lehre" 9 0 , welche die Gewalten voneinander trennen und verschiedenen Subjekten zuteilen wollte. Der König sollte der Inhaber der gesamten Staatsgewalt bleiben. Die Einteilung in Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung sollte die Einheit der Staatsgewalt nicht zerstören, sondern lediglich die hinsichtlich des Verhältnisses zum Gesetz und hinsichtlich der Stellung des Souveräns verschiedenen Tätigkeitsformen der einen, unteilbaren Staatsgewalt bezeichnen 91 . Auch die Gesetzgebung war Sache des Souveräns. In der Monarchie war also der König Gesetzgeber, nur mit der Einschränkung, daß er anders als bei der Regierung an die Mitwirkung des Volkes (Stände) gebunden war. In der Unabhängigkeit der Gerichte sah Stahl mit der wenig überzeugenden Begründung, es handele sich bei der richterlichen Tätigkei bloß um eine untergeordnete, von der Gesetzgebung abhängige Verrichtung, ebenfalls keinen Verstoß gegen die Einheit der Staatsgewalt. Stahl läßt eigentlich alles beim Alten: Der König vereinigt in seiner Person die gesamte Staatsgewalt. Er ist zwar in der konstitutionellen Monarchie bei der Gesetzgebung und bei der Rechtspflege gewissen verfassungsmäßigen Einschränkungen unterworfen, aber das monarchische Prinzip wird nicht angetastet. Eine Gewaltenteilung findet nicht statt. V o n diesem materiellen Gehalt seiner Regierungslehre her ließe sich Stahl unschwer in die oben behandelte Gruppe von Autoren einordnen, die einen umfassenden, „vorkonstitutionellen" Regierungsbegriff vertreten haben. Er hat jedoch eine andere Begriffsbildung vorgenommen und sich damit zwar nicht inhaltlich, aber in der Ausdrucksweise von der genannten Gruppe entfernt. Seine Dreiteilung in Gesetzgebung, Regie88

Vgl. 2. Aufl., §§ 99—104 (insb. S. 354); ähnlich 1. Aufl., S. 73 ff. 2. Aufl., § 106 (S. 364). 88 Dabei ist in erster Linie an Carl Ludwig von Hallers „Restauration der Staatswissenschaft" zu denken. 89 1. Aufl., Vorwort S. V I I I , S. 17 ff. 90 1. Aufl., S. 54. 91 1. Aufl., S. 50. 87

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rung und richterliche Gewalt ist auf Grund ihres Verhaftetseins im monarchischen Prinzip kein wirklicher Ansatz für neue Entwicklungen, die zur Gewaltenteilung und zu einem demokratischen Staatsaufbau führen. Sein Regierungsbegriff trägt aber doch dazu bei, die besondere Stellung von Gesetzgebung und Rechtsprechung zu betonen und damit faktisch die Auflösung der in der Person des Monarchen konzentrierten Staatsgewalt vorzubereiten. Für diese These spricht auch die Überlegung, daß die herkömmliche und damals noch allgemein verbreitete Bedeutung des Begriffes Regierung, wonach dieser die gesamte herrscherliche Tätigkeit im staatlichen Bereich umfaßte, der Vorstellung unbewußt Vorschub leisten mußte, auch der engere Regierungsbegriff, wie ihn Stahl verwandte, erfasse bereits alle königlichen Rechte. Bei Johann Caspar Bluntschli, sowenig er mit Stahls christlicher Staatslehre übereinstimmte, die er kritisch als „ermäßigte Absolutie" bezeichnete 92 , ergeben sich im Hinblick auf den Gegenstand dieser Untersuchung deutliche Parallelen. Auch er hat sich einerseits für das monarchische Prinzip und die Bestimmung des Art. 57 WSA, also für die Vereinigung aller Staatsgewalt in einer Hand, ausgesprochen 93, andererseits aber nicht an dem umfassenden funktionellen Regierungsbegriff festgehalten, sondern den Bereich der Regierung von dem der Gesetzgebung und dem der Rechtsprechung begrifflich getrennt. Genau genommen unterschied Bluntschli bei der Ausübung von Staatsgewalt 5 Bereiche 94 . Zu den genannten drei Gruppen traten noch die Aufsicht und Sorge für die geistigen Kulturverhältnisse und die Verwaltung und Pflege der Wirtschaft hinzu. Kultur- und Wirtschaftspflege wurde jedoch nicht als Ausübung von Staatsgewalt im eigentlichen Sinne, nicht als „imperium" angesehen. Sie nahmen deshalb eine Sonderstellung ein. V o n den übrigen drei Gewalten räumte Bluntschli der Gesetzgebung den Vorrang ein. Die gesetzgebende Gewalt sei allen anderen Gewalten überlegen, weil sie die Staats- und Rechtsordnung selbst bestimme und ihr höchster, die ganze Nation umfassender Ausdruck sei, meinte er. A n nächster Stelle folgte die Regierungsgewalt als „die am meisten obrigkeitliche, die vorzugsweisende herrschende". Bluntschli beschränkte die Aufgabe der Regierung nicht auf den reinen Gesetzesvollzug. Die Regierung sollte zwar die Gesetze als Schranken ihres Wirkens beachten, sich aber innerhalb dieser Schranken frei entfalten. „Das Wesen der Regierungsgewalt liegt somit nicht in der Vollziehung, sondern in der Macht, im einzelnen das Rechte und Gemeinnützige zu befehlen und an92 Vgl. seine Kritik an Stahl in: Geschichte des Staatsrechts, Kap. 20, insb. S. 638 ff, 642. 93 Allgemeines Staatsrecht, 4. Buch, Kap. 21. 94 Ebd., 5. Buch, Kap. 2.

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zuordnen, und in der Macht, das Land und das V o l k vor einzelnen Gefahren und Angriffen zu schützen und dasselbe zu vertreten, und vor gemeinen Übeln zu bewahren" 9 5 . Als krankhaft und schwächlich betrachtete er eine Vorstellung, „welche in der Regierung nur eine Verwaltung sehen w i l l und die entscheidende Kraft des staatlichen Befehls in einen vagen und schwankenden Einfluß und Rat der Regierung abschwächen möchte" 96 . Trotz seines Bekenntnisses zum monarchischen Prinzip ging Bluntschli in einigen Formulierungen über eine bloß begriffliche Trennung von Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung hinaus und brachte — jedenfalls andeutungsweise — eine wirkliche Gewaltenteilung zum Ausdruck, die man als einen Einbruch i n die feste monarchische Position des Art. 57 W S A werten kann. So sagte er nur von der Regierungsgewalt, sie sei ausschließlich in dem Monarchen konzentriert, stehe ihm zu eigenem Rechte zu. Im Gegensatz dazu wollte er dem Monarchen bei der Gesetzgebung lediglich einen Anteil, allerdings den formell entscheidenden, zuerkennen 97 . Auf der anderen Seite hat sich Bluntschli so entschieden gegen demokratische und republikanische Ideen, gegen die Volkssouveränität und auch gegen eine parlamentarische Regierungsform gewandt 9 8 , daß seine Ausführungen über eine „geteilte" Gesetzgebungsgewalt ihren Wert verlieren. Die Aufgabe des umfassenden Regierungsbegriffes und die Einteilung in einen Regierungs-, einen Gesetzgebungsund einen Rechtsprechungsbereich führen Bluntschli nicht zur Überwindung des monarchischen Prinzips und zu einer demokratischen Verteilung der Staatsgewalt. Einen Durchbruch in diese Richtung bezeichnet dagegen die Staatslehre des Freiburger Professors Carl von Rotteck. Rotteck hat das monarchische Prinzip ausdrücklich aufgegeben und eine klare Gewaltenteilung befürwortet. Er faßte den Staat als eine Gesellschaft auf, die „Staats-Gesellschaft", in der die Staatsgewalt als Einheit nur in dem „idealen oder wahren Gesamtwillen" zu suchen war 9 9 . Diese ideale Staatsgewalt zerfiel jedoch in zwei Gewalten, sobald sie in der staatlichen Wirklichkeit dargestellt wurde. Die personifizierte Staatsgewalt konnte nach Rottecks Meinung nicht einheitlich sein, ohne in Despotie zu entarten. Er teilte deshalb alle Staatsgewalt zwischen der Regierung als „der künstlichen Personifikation der Staatsgewalt" und dem V o l k bzw. dessen Repräsentation, der Volksvertretung, als „der natürlichen Personifikation der Staatsgewalt" auf 1 0 0 . In der konstitutionellen Monarchie 95

Ebd., 5. Buch, Kap. 2 (S. 263). Ebd., 6. Buch, Kap. 19 (S. 413). Ebd., 4. Buch, Kap. 21 (S. 240/241); 6. Buch, Kap. 15 (S. 399). 98 Vgl. ebd., 4. Buch, Kap. 20 u. 21; 6. Buch, Kap. 2 (S. 237). 99 Allgemeine Staatslehre, §§ 7, 24, 26, 45. 100 Allgemeine Staatslehre, §§ 22, 24, 25, 26. 96

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sollte der König das künstliche Organ der Staatsgewalt, die Regierung, sein 1 0 1 . Der personellen Zweiteilung entsprach die sachliche Aufgabenverteilung: Rotteck unterschied nur zwei Staatsgewalten, nämlich die gesetzgebende, die im wesentlichen der Volksvertretung anvertraut war, und die verwaltende oder administrative, die er auch als Regierung im engeren und objektiven Sinn des Wortes bezeichnete und in die Hände der Regierung im subjektiven Sinn (des Königs) legte 1 0 2 . Damit war der Bereich der Regierung klar abgegrenzt und durch Ausscheiden der Gesetzgebung gegenüber früheren absolutistischen und zeitgenössischen monarchistischen Vorstellungen eingeengt. Die Regierung war jedoch nicht, wie etwa nach den Verfassungsmodellen der französischen Revolution, auf die Vollziehung der Gesetze beschränkt, sie war kein bloßer „agent" der Gesetzgebung, sondern konnte durchaus eigene Entscheidungen treffen. Rotteck billigte ihr „einigen Spielraum für einiges Ermessen" zu und wandte sich deshalb auch gegen die Bezeichnung als vollstreckende Gewalt 1 0 3 . Eine besondere Stellung nahm die richterliche Gewalt ein 1 0 4 . Das wesentliche Geschäft des Richters, die eigentliche Urteilstätigkeit war nach Rottecks Meinung kein A k t der Staatsgewalt. Die Justizverwaltung dagegen gehörte zum Bereich der Regierung, der Administration. Rotteck gebrauchte den Begriff Regierung zum Teil auch in seiner umfassenden, die gesamte Staatsgewalt einschließenden Bedeutung. Er nahm ausdrücklich zu der Vieldeutigkeit dieses Wortes Stellung und zeigte vier mögliche Begriffsinhalte auf. „Die Regierung" bezeichne i n einem weiten objektiven Sinn die Sphäre der gesamten Staatsgewalt, in einem engeren objektiven Sinn nur die administrative Gewalt, in einem weiten subjektiven Sinn alle die Staatsgewalt ausübenden Organe und Personen und schließlich in einem engeren subjektiven Sinn nur das künstliche Organ der Staatsgewalt 105 . Er selbst wollte den Regierungsbegriff vorwiegend in seinen engeren Bedeutungen verwenden. In Rottecks Staatslehre ging also die Einschränkung des Regierungsbereiches Hand in Hand mit einer echten Gewaltenteilung. Der König mußte sich mit der Volksvertretung in die volle Souveränität teilen. Natürlich konnte Rotteck sein System, wonach der König (Regierung im subjektiven Sinn) die administrative Gewalt (Regierung im objektiven Sinn) und die Volksvertretung die Gesetzgebung erhalten sollen, nicht ohne Überschneidungen durchführen. So konnte insbesondere die Regie101 102 103 104 105

Allgemeine Allgemeine Allgemeine Allgemeine Allgemeine

Staatslehre, Staatslehre, Staatslehre, Staatslehre, Staatslehre,

§ 73. § 67. § 67 (S. 203). §§ 68, 102. § 72; vgl. auch §§ 73, 102.

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

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rung durch ihr Vorschlags- und Bestätigungsrecht starken Einfluß auf die Gesetzgebung nehmen 106 . Andererseits sollten alle Rechte der Staatsgewalt, die der Regierung nicht ausdrücklich übertragen waren, dem V o l k oder dessen Vertretung zur eigenen, teils ausschließlichen, teils gemeinschaftlichen Ausübung vorbehalten sein 1 0 7 . Diese Zuständigkeitsregel „in dubio pro populo" zeigt, ebenso wie schon die Bezeichnung der Regierung als des „künstlichen" gegenüber der Volksvertretung als des „natürlichen" Organs der Staatsgewalt, daß die Regierung keineswegs die beherrschende Macht im Staate sein sollte. Rottecks Gewaltenlehre hatte eindeutig demokratische Grundzüge, die im krassen Widerspruch zu dem in Lehre und Staatspraxis vorherrschenden monarchischen Prinzip standen. Von daher erst gewinnt die Einengung des Regierungsbegriffes zukunftsweisende Bedeutung, weil sie nun mehr ist als eine vorwiegend akademisches Interesse beanspruchende neue Klassifizierung der in einer Hand vereinigten Staatsgewalt. Schwerer einzuordnen sind Friedrich Schmitthenners Betrachtungen über die Regierimg. Einerseits unterschied auch er die Regierungsgewalt von der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt, andererseits befürwortete er durchaus die Verfassung der konstitutionellen Monarchie in der Ausprägung, die sie im Deutschen Bund durch die Betonung des monarchischen Prinzips erfahren hatte. Die notwendige Übereinstimmung seiner Thesen gelang ihm mittels einer Aufspaltung des Begriffes Staatsgewalt, die für die damalige Staatsrechtslehre ungewöhnlich war und die sicher nicht den Intentionen der Schöpfer des Art. 57 WSA entsprach. Schmitthenner operierte nämlich mit einer Staatsgewalt im weiteren Sinne als dem „Inbegriff aller öffentlichen Funktionen im Staate" und einer Staatsgewalt im engeren Sinne als dem „vollkommenen Recht, in dem Staate zu regieren, d. h. die zufälligen Verhältnisse dieses Institutes . . . zu bestimmen" 1 0 8 . Das monarchische Prinzip sollte seiner Meinung nach nur bedeuten, daß der König die gesamte Staatsgewalt im engeren Sinne innehatte und insoweit das V o l k bzw. die Stände von der Ausübung staatlicher Gewalt ausschloß 109 . Staatsgewalt im engeren Sinn und (funktionelle) Regierung stimmten also überein. Aber der Kreis der Regierungsgewalt war enger als derjenige der Staatsgewalt im weiteren Sinne 110 . Diese Gesamtstaatsgewalt trat in drei Systemen oder Gewalten hervor, für die auch verschiedene Organe bestellt waren: für die Regierungsgewalt das Organ Regierung, für die gesetzgebende Gewalt die 106 107 108 109 110

Allgemeine Staatslehre, § 34; zur Gewaltenverschränkung allgemein: § 74. Allgemeine Staatslehre, § 83. Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechtes, § 64 (S. 279/280). Ebd., § 64 (S. 280), Anm. 1); § 135 (S. 447, Anm. 1, u. S. 450). Ebd., § 70 (S. 297); § 143 (S. 481, 482); § 144 (S. 484).

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II. Teil: Entwicklung des Begriffes „Regierug" im deutschen Recht

gesetzgebende Versammlung und für die richterliche Gewalt die Gerichte 111 . Schmitthenner wollte diese Gliederung allerdings nur auf einer höheren Stufe der Staatsentwicklung wie z. B. in der konstitutionellen Monarchie angewandt wissen. In den Staatsgebilden der Frühzeit ebenso wie in absolutistischen Systemen der Neuzeit dagegen, so meinte er, könne die Staatsgewalt im engeren Sinne mit derjenigen im weiteren Sinne zusammenfallen, die Regierung also alle öffentlichen Funktionen umfassen. Als Beweis führte er an, daß sich erst allmählich ein selbständiges Gerichtssystem entwickelt und so die Voraussetzung dafür gebildet habe, die Rechtsprechung zwar noch als ein Moment der Staatsgewalt, aber nicht länger als ein Regierungsrecht anzusehen 112 . Schmitthenners Gewaltenverständnis führte über die entsprechenden Lehren bei Stahl und Bluntschli hinaus, weil er die Dreiteilung in Regierungsgewalt, gesetzgebende und richterliche Gewalt nicht als bloße Einteilung der nach wie vor in der Person des Monarchen vereinigten Staatsgewalt in verschiedene Handlungsformen auffaßte, sondern als eine Aufteilung der staatlichen Macht, die mit einer organisatorischen Trennung verbunden war. Insoweit könnte man durchaus von einer modernen Konzeption sprechen. Dieser Eindruck schwindet jedoch, wenn man die nähere Ausgestaltung des bisher nur in groben Umrissen dargestellten Systems berücksichtigt und insbesondere die Befugnisse betrachtet, die Schmitthenner den einzelnen Gewalten zugesteht. Dabei ergibt sich ein erdrückendes Übergewicht der königlichen Regierungsgewalt. Die Regierung war für Schmitthenner „das System der eigentlich centralen und Obergewalt, welche alle die Rechte der Staatsgewalt, die nicht nach der Bestimmung der Verfassung andern Systemen zugeteilt sind, in sich begreift" 1 1 8 . Rotteck etwa hatte dasselbe Problem, wie bereits erwähnt, gerade umgekehrt entschieden: Der Regierung sollten nur die von der Verfassung ausdrücklich übertragenen Rechte zustehen. Schmitthenner betonte zwar mehrfach, daß die Regierungsgewalt in der konstitutionellen Monarchie anders als im absoluten Staat nicht mit der vollen Staatsgewalt gleichbedeutend sei, also nicht den gesamten Bereich auch der Gesetzgebung und Rechtspflege umfasse, aber der den anderen Gewalten verbleibende Anteil an der Staatsgewalt war gering. Nach seiner Auffassung war die Regierung bei monarchischer Staatsform „der lebendige Mittelpunkt" 1 1 4 , „die eigentliche Obrigkeit, der Kern der Staatsgewalt, die Seele des Staates, von der die Bewegung des öffentlichen Lebens ausgeht" 1 1 5 , „das Sensorium commune des Staates, i n das 111 112 118 114 115

Ebd., § 127 (S. 414/415), § 142 (S. 477). Vgl. ebd., § 70 (S. 297); § 142 (S. 477); § 144 (S. 487/488). Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechtes, § 127 (S. 414). Ebd., § 142 (S. 480). Ebd., § 143 (S. 483).

3. Kap.: In der Epoche der konstitutionellen Monarchie

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alle Strahlen der öffentlichen Gewalt zurückgehen, von der aus alle Organe des öffentlichen Lebens Antrieb und Bewegung erhalten" 1 1 6 . Die Regierung sollte nicht auf eine bloße Exekutivtätigkeit beschränkt sein, sondern im Rahmen der Gesetze frei handeln und die öffentlichen Angelegenheiten leiten und bestimmen. Vor allem aber kam ihr auch im Rahmen der Gesetzgebung eine entscheidende Rolle zu. Die Regierungsgewalt sollte alle Rechte der Gesetzgebung i n sich begreifen, die nicht ausdrücklich kraft Verfassung der gesetzgebenden Versammlung zustanden. Sie hatte die Gesetzesinitiative und konnte das verabschiedete Gesetz nach ihrem Belieben redigieren, sanktionieren und veröffentlichen. Sie war darüber hinaus berechtigt,