Reformation im Islam. Perspektiven und Grenzen 9783658230043, 9783658230036

Dass der Islam in der modernen Welt, die von Demokratie, Säkularismus und Fortschritt geprägt ist, nur bestehen könne, w

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Reformation im Islam. Perspektiven und Grenzen
 9783658230043, 9783658230036

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Jörgen Erik Klußmann Michael Kreutz Aladdin Sarhan Hrsg.

Reformation im Islam Perspektiven und Grenzen

Reformation im Islam

Jörgen Erik Klußmann · Michael Kreutz · Aladdin Sarhan (Hrsg.)

Reformation im Islam Perspektiven und Grenzen

Hrsg. Jörgen Erik Klußmann Evangelische Akademie im Rheinland Bonn, Deutschland

Michael Kreutz Bochum, Deutschland

Aladdin Sarhan Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz Mainz, Deutschland

ISBN 978-3-658-23003-6 ISBN 978-3-658-23004-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Michael Kreutz Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz Teil I  Reformation als Herausforderung Der Islam in einer modernen Gesellschaft – Die Reformnotwendigkeit im Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Mouhanad Khorchide Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in Geschichte und Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Erdal Toprakyaran Die islamische Rezeption der Reformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Assem Hefny Teil II  Islam und Politik Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Martin Riexinger Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Ammar Ali Hassan Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Aladdin Sarhan

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Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation . . . . . . . . . . . . . 127 Marwan Abou Taam Teil III  Reformation und die Geschlechterfrage Das Dilemma der religiösen Modernisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Amal Grami Keine Reformation ohne Gleichberechtigung – Feminismus vs. Fundamentalismus: Gleichberechtigung vs. Familie?. . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Dana Fennert Teil IV  Vergleichende Perspektiven Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus als Paradigmen der Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Jörn Rüsen Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Mona Ahmad Abuzaid Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen nicht, was anderen gelingt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Michael Kreutz Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Jörgen Erik Klußmann, Michael Kreutz und Aladdin Sarhan

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Jörgen Eric Klußmann,  (M.A.). Afrikanist und Islamwissenschaftler in Bonn, Studienleiter bei der Evangelischen Akademie im Rheinland ebd. Vormals tätig als Redakteur u. a. bei der Deutschen Welle und als Coach für systemische Konflikttransformation u. a. in Afghanistan, Burma, Indonesien, Nepal und Sri Lanka. Im Web unter: www.fremd-vertraut.de Michael Kreutz,  (Dr. phil.). Politikwissenschaftler und Orientalist in Bochum. Ehem. Stipendiat des Staates Israel, Mitbegründer der dt. Abt. von Scholars for Peace in the Middle East (SPME). Arbeitsschwerpunkte: Moderne Geschichte des Nahen Ostens u. Südosteuropas, politische Ideengeschichte, Europa und der Islam, Religion und Politik. Im Web unter: www.michaelkreutz.net Aladdin Sarhan, (M.A.). Islamwissenschaftler, Regierungsrat/wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Staatsschutz des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz, Mitbegründer des Muslimischen Forums Deutschland (MFD). Arbeitsschwerpunkt u. a. ist Islamismus, Salafismus und Dschihadismus. Im Web unter: www.sarhan-online.de

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Autorenverzeichnis Marwan Abou Taam, (Dr. phil.). Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz, Mitbegründer des Muslimischen Forums Deutschland (MFD) und assoziiertes Mitglied des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung mit den Arbeitsschwerpunkten internationaler Terrorismus, Migration und innere Sicherheit. Mona Ahmad Abuzaid,  (Prof.). Philosophin an der Universität Helwan (Kairo). Sie hat Veröffentlichungen u. a. über die Philosophie Avicennas und das Menschenbild in der islamischen Philosophie vorgelegt. Arbeitsschwerpunkte u. a.: Geschichte der islamischen Philosophie, arabischer Feminismus, interkultureller Dialog sowie Reformbewegungen im Nahen Osten und Nordafrika. Dana Fennert,  (Dr.). Politikwissenschaftlerin und Philosophin in Marburg und beim Integrationsfachdienst Migration in Neubrandenburg. Vormals u. a. bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rabat (Marokko) und an der Universität Rostock tätig. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. die Frauenforschung, islamischer Feminismus und Integration. Amal Grami, (Prof.). Historikerin und Literaturwissenschaftlerin an der Universität Manouba (Tunesien). Sie ist u. a. Mitglied der Groupe de Recherches Islamo-Chrétien (GRIC). Arbeitsschwerpunkte u. a.: Islamische und arabische Geschichte, interreligiöser Dialog, Frauen- und Geschlechterforschung. Ihr aktuelles Buch lautet Frauen und Terrorismus [Arab.] (2018). Ammar Ali Hassan,  (Dr.). Politikwissenschaftler, Journalist und Schriftsteller in Kairo. Sein Schwerpunkt als Wissenschaftler sind die politische Soziologie und besonders der Islamismus. Tätigkeit an verschiedenen Forschungsinstitutionen in der Arabischen Welt, u. a. am Emirates Center for Strategic Studies and Research in Abu Dhabi. Assem Hefny, (Dr. phil.). Arabist und Germanist in Marburg. Akademischer Rat am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) ebd. Ehem. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht e. V. (GAIR). Arbeitsschwerpunkte: Sprache und Politik des Islam, Koranexegese u. a. m. Im Web unter: www.cmbb-fcmh.de/en/de/cnms/arabistik Mouhanad Khorchide, (Prof. Dr.). Sozialwissenschaftler und Theologe in Münster. Leiter des Zentrums für Islamische Theologie ebd. und Mitbegründer des Muslimischen Forums Deutschland (MFD). Arbeitsschwerpunkte: Islamische

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Religionspädagogik und deren Didaktik; Koranhermeneutik; Islam in Europa u. a. Im Web unter: www.uni-muenster.de/ZIT/ Martin Riexinger, (Dr. phil. habil.). Islamwissenschaftler und Historiker an der Universität Aarhus (Dänemark). Habilitation über Said Nursi und die Nur Cemaati. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. der Islam im 19. und 20. Jahrhundert, islamische Theologie, Religion und Politik, Wissenschaftsgeschichte. Im Web unter: wwwuser.gwdg.de/~mriexin Jörn Rüsen, (Prof. em.). Historiker in Bochum. Bis zu seiner Pensionierung Professor an der Universität Witten/Herdecke und langjähriger Leiter des Kulturwissenschaftlichen Institutes (KWI) in Essen. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. historisches Denken, Theorie und Methodik der Geschichtswissenschaft, interkultureller Humanismus. Im Web unter: www.joern-ruesen.de Erdal Toprakyaran,  (Jun.-Prof.). Juniorprofessor und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Tübingen, Mitbegründer des Muslimischen Forums Deutschland (MFD). Arbeitsschwerpunkte: Islamische Geschichte und Mystik, Islam in Europa u. a. m. Im Web unter: www.uni-tuebingen.de/fakultaeten/zentrum-fuer-islamische-theologie/zentrum.html

Einleitung Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz

Fünfhundert Jahre Reformation ist ein Jubiläum mit einer Menge an historischem Gepäck, dessen Auswertung und Einordnung bis heute andauert. Seit der vor einhundert Jahren erschienenen Studie des Juristen Georg Jellinek, in der ihr Verfasser die Ursprünge der Menschenrechtsidee als „Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe“ identifizierte, gibt es eine anhaltende Debatte über die Bedeutung der Reformation für die Moderne. Der Zusatz „… und ihrer Kämpfe“ macht deutlich, dass Jellinek einen dialektischen Prozess meinte, an dessen Ende die Menschenrechte standen, wie auch die Institutionen, die sie verkörpern. Damals war dies noch nicht so deutlich wie heute, weswegen Jellinek an die Forschergemeinde appellierte, das Augenmerk verstärkt auf die Entstehungsgeschichte gesellschaftlicher Institutionen und nicht auf die blosse Rezeptionsgeschichte philosophischer Ideen zu legen. Jellinek selbst hat übrigens darauf hingewiesen, dass die Reformation ältere Rechtsvorstellungen aufgegriffen hat, „die niemals entschlummert waren“ und von ihr nur „in neue Bahnen gelenkt“ wurden. Das gilt vor allem für die älteren Naturrechtsdebatten, in denen sich schon ein Gegensatz von göttlichem und weltlichem Recht abzeichnete.

A. Sarhan (*)  Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] J. E. Klußmann  Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Kreutz  Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_1

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Dabei ist die Frage nach einer Reformation im Islam ein wiederkehrendes Thema seit mindestens dem 19. Jahrhundert, als progressiven Muslime, angespornt von der politischen und gesellschaftlichen Fortschrittlichkeit Frankreichs und Großbritanniens, ihre eigene Kultur daran anpassen wollten, wie dies auch im übrigen Europa der Fall war, wo modernistische bzw. reformerische Kräfte nach bürgerlichen Rechten, nationaler Staatlichkeit und demokratischer Teilhabe strebten. Diese Kräfte waren überwiegend säkular. Der islamische Modernismus hat sich damit begnügt, solche Errungenschaften, die man bewunderte, für die eigene Religion zu beanspruchen, ohne sich um die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu kümmern, die jene erst möglich gemacht haben. Der geschichtliche Aspekt moderner Errungenschaften tritt hinter ihrer vermeintlichen Islamizität zurück. Natürlich ist die europäische Reformation kein normatives Modell, das es um seiner selbst willen auf die islamische Welt zu übertragen gelte, aber der Wunsch nach Anschluss an die Länder des Westens ist unter fortschrittlichen Muslimen ungebrochen. Freilich hat die Religionskritik, von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, noch keinen Eingang in die mehrheitlich muslimischen Gesellschaften gefunden. Hier wird Vernunft noch immer als Magd der Theologie gesehen, die dieser zu dienen hat. Demgegenüber ist die westliche Religionskritik im Windschatten der Reformation entstanden. Dessen ungeachtet gibt es in den muslimischen Ländern den Ruf nach Veränderung sozialer und politischer Natur. Wer diesen Ruf unterstützt, hat oft auch eine Form von Reformation des Islam vor Augen. Der tunesische Jurist Mohamed Charfi hat schon vor mehr als zehn Jahren die muslimischen Gesellschaften dazu aufgerufen, gegen die Verlockungen des religiösen Extremismus eine Reform des Bildungswesens einzuleiten, die nicht nur mit dem Islam in Einklang steht, sondern diesen auch verändert und aus dem Islam einen Bildungsislam macht. Hier wirkt allerdings die Furcht mit hinein, jede noch so geringe Reformanstrengung werde den Islam seiner selbst entfremden. Kann es also im Islam eine Reformation als Antwort auf die vielfältigen Krisen in den muslimischen Gemeinschaften geben? Was wären Anknüpfungspunkte und Hindernisse für eine kritische Revision islamischer Traditionsbestände? Darüber haben muslimische und christliche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Rahmen eines gemeinsamen Symposiums am 7. und 8. Oktober 2016 in Düsseldorf diskutiert. Veranstalter waren der Arbeitskreis „Gesellschaftlicher Friede und innere Sicherheit in Deutschland: Muslime und Nichtmuslime im Dialog“ im Muslimischen Forum Deutschland (MFD), die Evangelische Akademie im Rheinland und die Konrad-Adenauer-Stiftung (Politisches Bildungsforum NRW). Im Vorfeld des 500-jährigen Reformationsjubiläums der

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evangelischen Kirchen gingen die Teilnehmenden den Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft, Spiritualität und religiös legitimiertem Recht, von Gott und Mensch und von Islam und Islamismus nach. Ob und wie eine tief greifende Reform – oder in Anlehnung an den Protestantismus eine Reformation – im Islam möglich ist, wird je nach religiösem, politischem oder ideologischem Standpunkt sehr unterschiedlich gesehen. Dass der Islam eine solche Reformation brauche, wird von Integrationspolitikern in öffentlichen Debatten immer wieder eingefordert. Nach Einschätzung von Mouhanad Khorchide, dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, streiten viele Muslime solch eine Notwendigkeit ab. Eine Reform-Notwendigkeit einzuräumen, impliziert für sie, dass der Islam defizitär sei. Allerdings geht es dem Münsteraner Theologen und Sprecher des Muslimischen Forum Deutschland (MFD) zufolge gar nicht darum, die Grundlagen des Islam zur Disposition zu stellen. Vielmehr müsse das Verständnis des Islam einer kritischen Revision unterzogen werden. Versteht man den Koran dialogisch, spiegelt er den Prozess einer 22-jährigen Kommunikation zwischen Gott und Muḥammad samt dessen Gemeinde wider. Gott lässt den Menschen zu Wort kommen. Das brauchen wir auch heute, wenn wir innerislamisch von einer Reform sprechen. Der Historiker Jörn Rüsen hält es in seinem Beitrag für möglich, dass sich eine Art „Kultur-Islam“ in Anlehnung an den Kultur-Protestantismus entwickeln könnte. Dieser „Kultur-Islam“ könne ein Gegengewicht zu einem fundamentalistischen Islam-Verständnis bilden. Dass er über das Potenzial zu einem solchen Humanismus verfügt, hat der Islam mehrfach in der Geschichte gezeigt. Dafür müssen Muslime allerdings das Verhältnis zwischen Glauben, Säkularität und kulturellem Pluralismus neu bestimmen, und zwar mit dem Ziel einer religiösen Affirmation des kulturellen Säkularismus. Die etablierte religiöse Autorität muss durch einen Subjektivierungsschub der gläubigen Menschen außer Kraft gesetzt, sprich: verstärkt an das Individuum gebunden werden. Dies ist das Programm des Humanismus und des Säkularismus. In diese Richtung geht auch der Beitrag von Mona Abuzaid von der Universität Kairo, die die Realisierung eines islamischen Humanismus für möglich hält, verfügt der Mensch im Islam doch über die volle Freiheit des Willens und der Überzeugung. Indem jeder Mensch in direkter Beziehung zum Heiligen steht, ist im Islam ein humanistisches Potenzial vorhanden, das auch Eingang in die islamischen Kulturen fand, doch hat der Begriff „Humanismus“ generell an Strahlkraft verloren, nachdem er die Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht hat verhindern können. Der Islam- und Politikwissenschaftler Marwan Abou Taam, ebenfalls MFD-Mitglied, mahnt eine Art „Hausputz in der islamischen Theologie“ an. Dazu ist es nötig, die Werke islamischer Theologen auf ihre Relevanz für die

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Moderne zu hinterfragen. Frühere Reformversuche von Muslimen haben daran gekrankt, dass sie immer nur oberflächliche Bemühungen gewesen seien, Antworten auf neue Herausforderungen zu finden. Zwar haben in Krisenzeiten Muslime immer auch neue Methoden entwickelt, ihr Religionsverständnis weiterzuentwickeln, doch waren diese einseitig auf die Ableitung religiös legitimierten Rechts ausgerichtet gewesen. Mit dieser Vorgehensweise kommen die Muslime heute jedoch nicht weiter. Vielmehr ist die bestehende Verrechtlichung des Glaubens ein wesentliches Hemmnis dafür, mit den Anforderungen der Moderne Schritt halten zu können. Der Politikwissenschaftler, Journalist und Schriftsteller Ammar Ali Hassan aus Kairo lotet in seinem Beitrag die Horizonte einer Reformation des Islam aus und betont, dass die Mensch-Gott-Beziehungen im Islam zwar einer dauernden Entwicklung unterliegen, die Starrheit des Fiqh diese Entwicklung jedoch nicht abbildet. Was jedoch derzeit in islamischen Ländern als „Erneuerung des religiösen Diskurses“ gefeiert wird, ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung, weil dieser Diskurs die Gründergeneration des Islam zu unkritisch betrachtet. Der Islamwissenschaftler Martin Riexinger von der Universität Aarhus (Dänemark) verweist in seinem Beitrag darauf, dass in den vergangenen zweihundert Jahren viele Reformversuche allein schon dadurch diskreditiert waren, dass sie dem Interesse der Kolonialherren zu entstammen schienen. Allgemein wird die Position von Reformern geschwächt, wenn ihre Bestrebungen zu sehr den Interessen von Regierungen oder westlichen Akteuren zu entsprechen scheinen. Wie die Arabistin Amel Grami von der Universität Manouba (Tunesien) zeigt, sind die Gründe, warum die Versuche einer religiösen Reform gescheitert sind, vielfältig. Ihre Untersuchung dschihadistischer Schriften ergibt, dass auch sie sich gegenüber der religiösen Modernisierung und der Art ihrer Repräsentation von Moderne zu verorten suchen und sich ihnen nicht einfach nur verweigern. Neben dem Rückgriff auf die „Altvorderen“ (salaf) ist es vor allem die „Tyrannei der maskulinen Ideologie“, mit der Dschihadisten einen Krieg der Geschlechter führen und gesellschaftliche Veränderung unterbinden. Auf patriarchale Widerstände gegen Reformen weist auch Dana Fennert, Beraterin beim Integrationsfachdienst Migration bei der Gesellschaft für nachhaltige Regionalentwicklung und Strukturforschung in Greifswald, in ihrem Beitrag hin. In vielen Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung ist das Personenstandsrecht stark am traditionellen Islam ausgerichtet. Dieses Personenstandsrecht zu reformieren, das in dem meisten Ländern die Möglichkeit der Polygamie einschließt, wird vielfach als Angriff auf den Kernbestand des Islam gesehen und vehement abgelehnt. Im Laufe der vergangenen 130 Jahre hat eine Reihe von muslimischen Gelehrten versucht, die rechtlichen und theologischen Verkrustungen der eigenen ­Traditionen

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aufzubrechen. Für den Marburger Islamwissenschaftler Assem Hefny war der Ägypter Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) einer der ersten, der Moderne und Islam in Einklang bringen wollte. Wie Luther hat auch ʿAbduh der freien menschlichen Vernunft im Umgang mit den religiösen Quellen einen hohen Stellenwert eingeräumt. Allerdings hat Luther davon profitiert, dass die allgemeine Bedeutung der Vernunft in Europa zu seinen Lebzeiten immer mehr zunahm. Demgegenüber hat ʿAbduh in einer Zeit gewirkt, in der die Vernunftentfaltung in der islamischen Theologie sich bereits wieder ihrem Ende zuneigte. Ob ein speziell deutscher oder europäischer Islam die Antwort auf Konflikte zwischen einem traditionellen Islamverständnis und der westlich geprägten Moderne bieten könne, ist umstritten. Der Theologe Erdal Toprakyaran (Tübingen), ebenfalls Mitglied des MFD, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die von türkischer Seite häufig zu hörende Ablehnung eines „deutschen Islam“ oftmals nicht schlüssig ist. Denn wer das Konzept eines „deutschen Islam“ unter Verweis auf die Universalität des Islam zurückweist, kann dann schlecht einen de facto „türkischen Islam“ vertreten. Das von türkischen Akteuren propagierte Religionsverständnis ist in vielen Fällen stark von der türkischen Geschichte geprägt. Der vorliegende Band hat das Ziel, das Themenfeld Islam und Reformation abzustecken, ohne in eine wohlfeile Apologetik zu verfallen, aber auch ohne dem Islam die Möglichkeit zur Veränderung von vornherein abzusprechen. Angesichts der Meinungsvielfalt und der teilweise konträren Deutungen der Glaubensgrundlagen ist eine Erneuerung des innerislamischen Diskurses geboten. Dabei gehe es nicht nur um das Verhältnis unter Muslimen. Auch die Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen müssten in diesem Diskurs thematisiert werden. Denn Ausgrenzungen und Anfeindungen von Juden, heterodoxen Muslimen oder Andersdenkenden gibt es nicht nur im radikalen Islam, sondern auch unter Mainstream-Muslimen. Ziel des innerislamischen Diskurses muss deshalb sein, auch den Mainstream-Islam zu verändern. Dafür ist eine Theologie nötig, die sich der Moderne und dem Humanismus verpflichtet fühlt. Auch wenn der Islam uns schon lange in den Medien verfolgt und nicht zuletzt mit dem islamistischen Furor auch auf lange Sicht von bleibender Aktualität sein wird, so wurde in den vergangenen Dekaden die Frage nach einer Reformation publizistisch eher stiefmütterlich behandelt. Ein Anfang ist nun gemacht. Wir, die Herausgeber, hoffen hiermit eine anregende Lektüre zustande gebracht zu haben, die das Interesse von Fachleuten ebenso wie von einem interessierten Publikum findet. Mainz, Bonn und Bochum im August 2018. Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz

Teil I Reformation als Herausforderung

Der Islam in einer modernen Gesellschaft – Die Reformnotwendigkeit im Islam Mouhanad Khorchide

Wie allgemein bekannt, feiern wir in diesem Jahr 500 Jahre Reformationsjubiläum, also 500 Jahre Luther. Da fragen sich viele: Und wie sieht es im Islam aus? Gibt es überhaupt Reformen im Islam? Wie würden diese aussehen und was muss genau reformiert werden? Es gibt viele Politiker, Journalisten aber auch Islamkritiker, die sich ständig in der öffentlichen Debatte melden und meinen, genau zu wissen was im Islam reformiert gehört. Allerdings kommunizieren viele den Islam sehr plakativ und meist aus einer stark subjektiven Wahrnehmung heraus. Immer wieder wird der Anspruch an die Muslime gestellt: „In den meisten islamischen Ländern gibt es keine Demokratie, keine Menschenrechte und vieles mehr. Dies alles muss dringend reformiert werden damit ihr Muslime auch so wie wir Europäer werdet: Länder mit demokratischen Grundwerten.“ Auch die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter kommt immer wieder in solchen Debatten vor. Das sind unter anderem die typischen Fragestellungen. Auch bezüglich der Frage des Verhältnisses des Islams zu anderen Religionen wird sehr oft kontrovers debattiert. Viele, gerade Islamkritiker wie Hamed Abdel-Samad, meinen, der Islam sei statisch und daher keineswegs reformierbar. Viele fragen nicht, was sich im Islam reformieren soll, sondern, ob der Islam überhaupt reformierbar ist. Thomas Bauer, Islamwissenschaftler an der Universität Münster, hat 2011 ein differenziertes Buch geschrieben: Die Kultur der Ambiguität mit dem Untertitel: Eine andere Geschichte des Islams. In diesem Buch zeigt er die Bandbreite an unterschiedlichen Auslegungen und die Vielfalt der islamischen Positionen,

M. Khorchide (*)  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_2

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­ chulen und Lehrmeinungen innerhalb der 1400-jährigen Ideengeschichte des S Islams. Er zeigt anhand von vielen Beispielen aus der islamischen Tradition auf, wie der Islam in seinem Selbstverständnis auch immer vielfältig war und dass diese Religion unterschiedliche Positionen, ja sogar auch widersprüchliche Lehrmeinungen als selbstverständlich kannte, denn diese haben nebeneinander existiert, standen zum Teil im Dialog miteinander, aber manchmal auch in Streit. Aber es war eine Selbstverständlichkeit, dass man diese Vielfalt akzeptiert hat. Thomas Bauer (2011) vertritt hier die These, dass es sich um eine moderne Erscheinung handelt, dass Muslime heute nach einer eindeutigen Auslegung des Islams, also nach dem einen wahren Islam suchen und sich somit weg von der Vielfalt, hin zu der Suche nach einem homogenen Islam bewegen. Diese Entwicklung gehe auf die Modernisierungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert in der islamischen Welt zurück. Demnach haben Muslime begonnen, nach der vermeintlich einzigen richtigen Antwort bzw. nach der einen wahren Position, nach der einen richtigen Schule zu suchen. Aber nun zurück zu der Frage nach den Reformen im Islam. Die Gegenwart der islamischen Welt zeigt mehrfach, dass es immer wieder zu Reformen kommt. Ein paar Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit: Weithin medial verbreitet wurde, dass seit September 2017 Frauen in Saudi-Arabien Auto fahren dürfen. Vorher durften Frauen in Saudi-Arabien, und zwar im Namen des Islams, nicht Auto fahren. Ich bin selber in Saudi-Arabien aufgewachsen und kenne auch viele Argumente der Theologen vor dem September, die gemeint haben, dass das Autofahren für Frauen im Islam, in der Scharia, verboten sei – als hätte es damals in der Prophetenzeit im 7. Jhd. Autos gegeben. Nach dem 11. September 2001 änderte sich die Sicht der Gelehrten, aber auch deren religiöse Argumentationen, es kam in dieser Frage zu Reformen. Jetzt dürfen Frauen in Saudi-Arabien Autos fahren, auch wenn das jetzt erst ab Juni 2018 umgesetzt wird, gesetzlich ist es nicht mehr verboten. Hat die absolute Mehrheit der muslimischen Gelehrten vor dem September 2017 die Position vertreten, das sei im Islam verboten, so vertritt nach dem September die absolute Mehrheit die gegensätzliche Meinung. Ein anderes Beispiel für ähnliche Reformen kommt aus dem Sommer dieses Jahres aus Tunesien. Dort haben Ende August das Parlament und auch das Muftiamt ein Gesetz von 1973 gekippt, wonach muslimische Frauen nichtmuslimische Männer nicht heiraten dürfen. Jetzt dürfen die muslimischen Frauen nichtmuslimische Männer in Tunesien heiraten. Ein weiteres Beispiel aus der Geschichte, vielleicht auch kein unwichtiges, weil es nicht um etwas Banales, sondern um etwas Grundsätzliches geht, sind die Glaubenssätze des Islams. Es gab im 8. und 9. Jhd. die sogenannte muʿtazilitische Schule, die als die rationalistische Schule im Islam bekannt wurde, weil sie die Vernunft als Haupterkenntnisquelle

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in religiösen Fragen gesehen hat. Die Vernunft alleine ist in der Lage, Gott zu erkennen sowie zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, die Offenbarung erinnert nur an das, was die Vernunft ohnehin erkennen kann. Daher vertraten die Muʿtaziliten die Ansicht, dass Menschen auch dann zur Rechenschaft vor Gott gezogen werden, wenn sie nie einem Propheten begegnet sind oder nie eine Offenbarung oder eine Religion kennengelernt haben. Denn alleine durch die Vernunft hätte man ja wissen können und sollen, dass es den einen Gott gebe und dass sich der Mensch verantwortungsvoll verhalten soll. Die muʿtazilitische Schule vertrat fünf andere Glaubenssätze des Islams als die sechs, die wir heute im sunnitischen Islam kennen. Im 9. Jhd. hat die Mehrheit der Muslime im damaligen abbasidischen Kalifat andere Glaubensgrundsätze kommuniziert, als diejenigen, die wir heute kommunizieren. Dies zeigt, dass die islamische Ideengeschichte eine Dynamik auch infragen der Grundsätze des Islams kennt. Die interessante Frage ist jetzt die folgende: Was war und ist der Hauptmotor dieser Reformen in der islamischen Ideengeschichte sowie in der Gegenwart des Islams? Der Motor des Wandels, der Reform, kam in all den angeführten Beispielen nicht primär aus einem theologischen Diskurs. Es sind ja nicht die Theologen in Saudi-Arabien, die sich zusammengesetzt und gemeint haben, wir müssen die Frage nach dem Autofahren für Frauen kritisch reflektieren oder zumindest neu erörtern. Auch waren es nicht die muslimischen Gelehrten in Tunesien oder damals im 9. Jahrhundert, die den Anstoß zu den Reformen gaben. In Saudi-Arabien hat sich die Situation im September geändert, weil der König ein Dekret erlassen hat. Via Dekret hat der König angeordnet, dass ab jetzt Frauen Auto fahren dürfen. In Tunesien war es der Staatspräsident Sebsi, der in seiner Rede Ende August angeordnet hat, muslimischen Frauen die Heirat von nichtmuslimischen Männern zu erlauben. Daraufhin hat das Parlament dies verabschiedet. Danach erst hatte der Großmufti des Landes auch ganz klar öffentlich verkündet: „Ja, wir als Muftiamt meinen, dass es im Islam erlaubt ist, dass muslimische Frauen nicht-muslimische Männer heiraten dürfen.“ Wie kam es überhaupt im 9. Jhd. dazu, dass die muʿtazilitische Schule sich so schnell etabliert hat? Der Kalif al-Ma’mūn (gest. 833) hat sich damals von den rationalen Überlegungen der muʿtazilitischen Schule begeistern lassen und so hat er deren Grundsätze zum Staatsdoktrin erklärt. Daraufhin kam es zu der ersten innerislamischen Inquisition. Denn die Gegner der mu‘tazilitischen Schule wurden verfolgt und zum Teil gefoltert. Mit anderen Worten, damals wie heute war und ist es die Politik, die den Anstoß zur Reform gab. Es waren nicht primär die theologischen oder religiösen Diskurse, die eine Notwendigkeit für Veränderung eingesehen haben bzw. die die Macht besaßen, diese Veränderungen durchzusetzen. Die Politik hatte und hat die Macht über die religiösen Diskurse, die offizielle Theologie folgt der Politik.

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Wenn wir heute über Islam und Reform sprechen, dann dürfen wir das nicht allein im luftleeren Raum reflektieren. Die ganze Frage rund um die Reform des Islams ist nicht unabhängig von den politischen Entwicklungen zu erörtern, wie die Beispiele oben gezeigt haben. Man darf nicht einfach die Theologen herausfordern und den Anspruch an sie stellen: „Liebe Theologen, setzt euch zusammen und reformiert den Islam.“ So wird das nicht funktionieren. Es mag sein, dass es Theologen gibt, die gute Ideen haben, aber das reicht nicht für eine Reform. Ägypten ist bestrebt, einiges in der Theologie zu reformieren. Der Rektor der Universität Kairo sagte mir kürzlich im persönlichen Gespräch, dass sie dringend Reformen benötigen. Man darf hier nicht sehr euphorisch sein, denn die angestrebten Reformen sind auch nur Ausdruck einer bestimmten politischen Entwicklung. Es handelt sich also um Reformen von oben. Echte Reformen müssen allerdings von einer breiten Basis getragen werden. Hier sind wir nun mitten in der Frage, was im Islam reformiert werden soll. Die Theologie muss sich von der politischen Instrumentalisierung loslösen. Sie braucht ihre eigene wissenschaftliche Sphäre und ihre eigenen Räume, um sich möglichst reflexiv zu entfalten. Muslime, ob Theologen oder auch normale Gläubige, sollten Subjekte ihrer Religion sein und nicht als Objekte der Geschichte wahrgenommen werden. Was ist damit gemeint? Objekt der Religion zu sein bedeutet Abhängigkeit von der Politik, denn diese verändert immer, was gerade in ihrem Sinne ist. Somit wird das ganze System „Religion“ nur funktionalisiert, im Sinne der Politik, oder um gewisse politische Ansprüche zu legitimieren. Die Menschen, auch die Theologen, sind in vielen islamischen Ländern Marionetten dieses politischen Willens, ob bewusst oder unbewusst. Aber sie spielen mit, sie sind keine Subjekte, die in Freiheit die theologischen Reflexionen anstoßen. Sondern sie stehen politischen Vorgaben gegenüber und versuchen, diese einfach nur religiös zu begründen. Das Ziel bzw. das Ergebnis theologischer Bemühungen steht schon zu Beginn der theologischen Auseinandersetzung fest. Somit sind die Menschen Objekte und nicht wirklich Subjekte der Geschichte. Dadurch wird Gott ein Objekt der Politik, weil auch Gott vereinnahmt wird. Man denke an den sogenannten politischen Islam oder Islamismus. Das ist eine andere Debatte, aber dort werden auch im Namen der Religion, im Namen des Heiligen, politische Interessen zu begründen versucht. Reform beginnt mit dem Subjektwerden des Menschen, sodass der Mensch nicht mehr Objekt der Politik oder überhaupt Objekt des Geschehens ist, sondern selber Subjekt, das sich selbst bestimmt. In anderen Worten ausgedrückt: Das „Gott-Mensch-Verhältnis“ in modernen Freiheitskategorien zu denken, wäre der erste notwendige Schritt einer islamischen Reform. Man denke auch an die Überlegungen von Fichte oder Schilling und später in deren Tradition Hermann Krings und Thomas Pröpper, die für die katholische Theologie fruchtbar gemacht wurden, um eben das Subjektwerden des religiösen Menschen in den Vordergrund

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zu stellen. Der Islam benötigt genau eine Reform in diese Richtung. Dabei geht es, wie gesagt, nicht nur um das Subjektwerden des Theologen, sondern auch des Menschen als solchem. Im folgenden sollen, vereinfacht auf epistemischer Ebene, aber auch etwas plakativ, zwei unterschiedliche Zugänge zum Islam gezeigt werden. Das oben Geschilderte soll so theologisch reflektiert werden und zwar jenseits politischer Debatten. Nach dem einen Zugang zum Islam ist der religiöse Mensch ein Objekt der Religion und nach dem anderen ist er ein Subjekt der Religion. Hiermit soll der erste Zugang zum Verstehen des Islam als monologischer, der zweite als dialogischer Zugang bezeichnet werden. Diese Unterscheidung ist eine idealtypische, denn in Wirklichkeit gibt es nicht den einen und den anderen Zugang, sondern Mischformen, die allerdings in die eine oder in die andere Richtung tendieren. Diese Unterscheidung lässt sich anhand der Frage des Gottesbildes im Islam vornehmen: Von welchem Gottesbild gehen wir Muslime aus? An welchen Gott glauben wir? Man kann vereinfacht sagen, dass wir nach dem monologischen Modell an einen Gott glauben, der die Menschen deshalb erschaffen hat, weil er angebetet werden und durch die Menschen verherrlicht werden will. Gott geht es nach diesem Verständnis um sich selbst. Also ein Gott, der die Menschen funktionalisiert oder sogar instrumentalisiert, um etwas zu bekommen, was er für sich haben will und für sich „braucht“. Und deshalb erschuf er die Menschen und befahl ihnen, sie mögen ihn auf eine bestimmte Art und Weise anbeten. Wer dies tut, mache Gott glücklich und wird im Jenseits dafür belohnt. Wer dies nicht tut, macht Gott zornig und wird deshalb im Jenseits bestraft. Das heißt, nach diesem monologischen Verständnis von der Religion geht es Gott nur um sich selbst. Der monologische Zugang geht von einem Gottesbild aus, wo Gott nur von sich selbst redet und es ihm um ihn geht. Er wird zornig, wenn er nicht das bekommt, was er für sich haben will und freut sich, wenn er das bekommt, was er für sich haben will. Religion wäre nichts anderes als ein Medium der Verherrlichung dieses Gottes, also eine Ansammlung an Instruktionen oder eine Art Bedienungsanleitung, wie Gott verherrlicht und angebetet werden will. Religion hat demnach eine Funktion. Es geht letztendlich um Gott. Der Mensch taucht nach diesem Modell, wie gesagt, als Objekt der Religion auf und nicht als Subjekt. Er hat eine klare Funktion. „Du bist hier um Gott zu verherrlichen, damit es Gott gut geht und nicht zornig wird.“ Der Mensch wird, wie gesagt, stark funktionalisiert und er bestimmt sich nicht selbst, sondern er ist fremdbestimmt. Das „Gott-Mensch-Verhältnis“ basiert nach diesem Verständnis eher auf Gehorsam, auf Unterwerfung gegenüber Gott. Es ist ein einseitiges Verhältnis. Man kann das mit einem Pfeil veranschaulichen, der von oben nach unten geht, wobei Gott oben ist und die Menschen unten sind. Die Offenbarung, sprich

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der Koran, wäre nach diesem Verständnis nichts anderes als eine Ansammlung von Instruktionen und Gesetzen, wie Gott verherrlicht werden will. Es geht immer nur um Gott. Das ist, zugegeben, etwas zugespitzt dargestellt, aber so soll die Idee klarer werden. Es dürfte wohl auch keine Gläubigen geben, die meinen, an einen Gott zu glauben, dem es um sich selbst geht, der durch den Menschen verherrlicht werden will. Allerdings gibt es viele Gläubige, die in ihrer religiösen Praxis eher unbewusst von so einem Gottesbild ausgehen. Wenn zum Beispiel ein Gläubiger meint: „Ich habe heute mein Frühgebet versäumt und deshalb ist Gott zornig, weil ich ihn nicht angebetet habe“, dann unterstellt man Gott ungewollt, dass er nicht in sich vollkommen ist und erst auf unser Anbeten angewiesen ist, um verherrlicht und vollkommen zu werden. Dies wird Gott jedoch nicht gerecht. Religion erscheint nach diesem monologischen Zugang zum Islam als Art Ansammlung an Gesetzen und Instruktionen wie Gott verherrlicht werden will. Der Islam wäre demnach eine Gesetzesreligion und der Koran ein Monolog Gottes, als hätte Gott also in der Ewigkeit, unabhängig von einem historischen Kontext, gesprochen und Anweisungen festgelegt, wie er verherrlicht werden will und deshalb müssten wir uns heute an die Instruktionen und den Wortlaut des Korans halten, ohne eine historische Kontextualisierung des koranischen Wortes in seinem Verkündigungskontext im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel anzustreben, ansonsten würden wir Gott zornig machen. Schon aus theologischen Gründen gibt es ein Problem mit diesem monologischen Modell, also nicht aus irgendwelchen (integrations-)politischen Gründen bzw. auch Gründen der Political Correctness. Wir haben im Islam wie auch im Christentum oder Judentum diese Formel, nämlich, dass Gott immer größer ist als gedacht werden kann. Egal was wir über Gott denken, Gott bleibt immer größer. Dies ist eine rationale Formel, die den Theologen immer hilft, um zu wissen, ob sie von Gott sprechen oder ob sie Dinge in Gott hineinprojizieren, die womöglich mit Gott nichts oder wenig zu tun haben. Gott ist größer als gedacht werden kann, weil Gott das Unbedingte ist und der Mensch das Bedingte. Das Bedingte kann das Unbedingte nicht erfassen. In den drei monotheistischen Religionen würden die Theologen sagen: „Wir können Gott nicht begreifen, wir können ihn nicht erfassen.“ Es wäre ja eine häretische Aussage: „Ich habe Gott jetzt verstanden, begriffen und erfasst“. Oder wie manche Fundamentalisten meinen: „Ich bin im Besitz der absoluten Wahrheit“, im Sinne von, ich bin im Besitz Gottes, denn Gott ist ja die absolute Wahrheit, er bleibt unerreichbar, die absolute Wahrheit bleibt auch unerreichbar. Wir können sagen, dass man sich Gott in Demut annähern kann. Man bleibt aber lebenslang ein nach der Wahrheit, nach Gott, Suchender. Diese Formel beschützt uns wie gesagt, davor, in Gott Dinge zu projizieren, die er nicht ist. Nun

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die Frage: Kann ich einen Gott denken, der größer ist, als von demjenigen Gott von dem das monologische Modell ausgeht? Kann ich einen Gott denken, der die Menschen nicht deshalb erschafft, weil er verherrlicht werden will? Kann ich einen Gott denken, dem es nicht um sich selbst geht? Mit anderen Worten ausgedrückt: Kann ich einen Gott denken, der in sich vollkommen ist und nicht auf meine Anbetung oder Verherrlichung angewiesen ist, um zu seiner Vollkommenheit zu gelangen? Die Antwort ist ein klares Ja! Denn ein Gott, der in sich vollkommen ist, ist größer als gedacht werden kann und dieses vollkommene Gottesbild ist der Rede von Gott viel gerechter, als die Rede von einem Gott, dem etwas fehlt und der auf mich angewiesen ist. Ein in sich vollkommener Gott braucht mich nicht. Er schenkt vielmehr bedingungslos. Und das ist die Antwort des anderen Modells, des anderen Zugangs zum Islam nach dem dialogischen Modell: Gott hat die Menschen aus seiner bedingungslosen Liebe und Barmherzigkeit erschaffen. Diese Vorstellung ist auch rational nachvollziehbarer, weil sie der Rede von einem vollkommenen Gott gerecht wird. Ein Gott, der einfach bedingungslos schenken und geben will, ist einer, der den Menschen bedingungslos zugewandt ist. Deshalb erschuf er die Menschen und nicht, um verherrlicht oder angebetet zu werden. Es ist also ein völlig anderes Gottesbild, das dem dialogischen Modell zugrunde liegt. Bedingungslos geben ist eine Beschreibung von Liebe. Liebe, die keinen Vertrag in dem Sinne eingeht, wonach jemand nur etwas gibt, wenn er etwas dafür bekommt, sondern man gibt bedingungslos, steht seinen Mitmenschen bedingungslos zur Verfügung. Es geht um das Gute, weil es gut ist, nicht weil man in opportunistischer Hinsicht etwas davon hat oder bekommt. Nach diesem dialogischen Gottesbild will Gott nichts von dem Menschen, sondern nur bedingungslos geben. Und diese Kategorie der Liebe als Bestimmungsmoment der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist eine genuin koranische Kategorie. Viele meinen, wenn sie mich von Gott und der Liebe reden hören, dass sich dies christlich anhört. Manche Muslime sagen: „Das ist eine christliche Vorstellung, dass Gott liebt, unsere islamische Vorstellung von Gott ist die, dass er will, dass wir Menschen uns vor ihm unterwerfen, da geht es nicht um Liebe“. Daher sei auf diese koranische Beschreibung der Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung verwiesen. Leider wird die Kategorie der Liebe von manchen als Schwäche Gottes assoziiert. Sie meinen, ein Gott, der Mitliebende sucht, sei ein schwacher Gott, weil er eben Emotionen zeigen würde, auch ein Gott, der Mitleid und Empathie zeigt, sei ein schwacher Gott. Aber gerade im Blick auf die Passion Gottes angesichts seines Ausgesetztseins unter den Menschen ergeben sich bei einer Koranlektüre aufregende Befunde, auf die in seiner Weise bereits der australische Jesuit Daniel Madigan (2003)

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a­ ufmerksam gemacht hat. Um die Brisanz seiner Entdeckung richtig würdigen zu können, sei festgehalten: Gott sagt sich im Koran selbst; er wird in dessen Rezitation erfahrbare Wirklichkeit und erfüllt uns durch, in und mit dem Koran mit seiner Gegenwart. Das bedeutet nun aber auch, dass es Gott nicht gleichgültig sein kann, wie die Menschen sein im Koran gegebenes Zusagewort aufnehmen und wie sie damit umgehen. In der Rezitation der Verse des Korans wird Gottes Gegenwart erfahrbar; in diesen Zeichen setzt er sich den Menschen aus. Kommen wir eingedenk dieser hermeneutischen Vorbemerkung nun zur Entdeckung Madigans. Madigan beobachtet, dass sich nahezu alle Termini, die in den Passionsgeschichten auf Jesus angewendet werden, im Koran wiederfinden – und zwar als Geschichte der Passion der Zeichen des Korans. Die Zeichen Gottes (also die āyāt und damit eben auch die Verse des Korans) werden geleugnet und verspottet (Q 4:140); über Gott und seine Zeichen machen sich die Gegner lustig (Q 9:65) und spotten über sie (Q 37:14). Sie verkaufen die Zeichen Gottes um einen geringen Preis (Q 9:9) und freveln an ihnen (Q 7:9.103). Sie wenden sich von ihnen ab (Q 6:4; 21:32) und bezeichnen sie als Lügen (Q 6:157; 7:36.40.136). Sie halten sich für erhaben über sie (Q 6:93; 7:36.40) und reden Falsches über sie (Q 41:40). Sie schmieden Ränke gegen sie (Q 10:21), versuchen ihnen entgegenzuwirken und sie zu vereiteln (Q 34:5.38). Über die Zeichen Gottes wird gestritten (Q 40:4.35.56.69; 42:35) und leichtfertig geredet (Q 6:68); man versucht sie zu entkräften (Q 22:51) und zu vergessen (Q 20:126). Die Menschen sagen sich von den Zeichen Gottes los (Q 7:175) und beachten sie nicht (Q 7:136; 10:7.92). Es ist wirklich erstaunlich, wie sehr die Reaktion der Gegner des Korans der Reaktion der Gegner Jesu gleicht und wie hier geradezu eine Passionsgeschichte erzählt wird. Gott setzt sich in seiner Offenbarung also dem Leiden aus und lässt sich von der Ablehnung des Korans betreffen. Insgesamt kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich auch im Koran Hinweise für das Leiden Gottes und seiner Propheten finden. Der Koran charakterisiert Gott als ein Wesen, das in personaler Weise dem Menschen unbedingt zugewandt ist. Gott gibt sich im Koran als der zu erkennen, der an der Seite des Menschen steht und sich für den Menschen interessiert, der sich für ihn und mit ihm freut und die Sorge des Menschen trägt. Von daher liegt auch in koranischer Perspektive der Gedanke nahe, dass Gott sich von den Leiden der Menschen betreffen lässt. In Sure 93 werden Muḥammad und mit ihm alle Frommen getröstet: „Dein Herr hat dich nicht aufgegeben noch verschmäht […] Dein Herr wird dir geben, dass du zufrieden bist. Hat er dich nicht als Waise gefunden und Zuflucht gewährt? Hat er dich nicht als Waise gefunden und Zuflucht gewährt? Hat er dich nicht als Armen gefunden und reich gemacht? Die Waise also bedrücke nicht! Den Bettler also schelte nicht!“ (Q 93:3.5–10).

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Diese tröstende Botschaft an Muḥammad geht auch in der nächsten Sure 94 weiter: „Haben wir dir nicht die Brust geweitet, dir nicht abgenommen deine Last, die schwer auf deinem Rücken lag, und haben wir nicht deinen Ruf erhöht? Darum siehe, mit dem Schweren kommt auch Leichtes. Wenn du frei bist, dann bemühe dich und richte dein Begehren auf deinen Herrn!“ (Q 94:1–8). Gott stellt sich hier in seiner Sorge um Muḥammad vor. Er bemüht sich um seine Bedürfnisse und Nöte und lässt sich umgekehrt von ihm Kummer bereiten; d. h. er zeigt Emotionen gegenüber seinem Geschöpf. Dieses Verhältnis prägt auch spätere Suren des Korans. Es ist Gott wichtig, dass nicht nur er mit seinem Gesandten zufrieden ist, sondern auch dieser mit ihm (vgl. Q 93:5). Diese Diagnose lässt sich insgesamt auf das Verhältnis von Gott und Mensch ausweiten – gerade wenn man die eschatologische Bestimmung des Menschen in den Blick nimmt. Denn an den vier Stellen im Koran, in denen es heißt, dass Gott mit den aufrichtig Handelnden zufrieden ist, heißt es weiter: „Gott hat an ihnen Wohlgefallen und sie an ihm.“ (vgl. Q 5:119; 9:100; 58:22; 98:8). Auch wenn hier erst einmal ein eschatologischer Kontext aufgerufen wird, zeichnet der Koran ein Bild von einem Gott, dem die menschlichen Bedürfnisse wichtig sind und der darauf Wert legt, dass auch die Menschen mit ihm zufrieden sind. Wenn dies aus koranischer Sicht auch eine paradiesische Erwartung für das Gott-Mensch-Verhältnis ist, darf man annehmen, dass Gott auch schon im Diesseits an den menschlichen Nöten und Sorgen gelegen ist und die Menschen zufrieden machen will. Jedenfalls ist an keiner Stelle im Koran die Rede davon, dass alleine Gott mit den Menschen zufrieden sein soll, ohne dass erwähnt wird, dass auch sie mit ihm zufrieden sein sollen. Zudem wird der Verkünder des Korans nicht müde, mit denjenigen zu hadern, die die Zeichen Gottes zurückweisen und nicht annehmen wollen. An dieser Stelle soll nur exemplarisch auf einige koranische Stellen verwiesen werden, die deutlich machen, dass es Gott nicht gleichgültig ist, ob seine Worte angenommen werden oder nicht. Die Sure 53 zum Beispiel appelliert mit einem ermahnenden Ton an einen Mekkaner, der die Verkündigung Muḥammeds zurückgewiesen hat. Diese Ermahnung beginnt mit einer rhetorischen Frage an Muḥammad: „Sahst du denn den nicht, der sich abgewandt und wenig gab und geizte? (Q 53:33 f.). Dieser wird nun an die eschatologischen Konsequenzen seiner Handlungen erinnert: „oder bekam er keine Kunde von dem, was in den Blättern Moses steht […] Dass eine lasttrangende Seele nicht die Last einer anderen trägt und dass dem Menschen nur das zuteil wird, wonach er strebte, und dass sein Streben schließlich sichtbar wird und ihm dann in vollem Maß vergolten wird? Und dass zu deinem Herrn der Dinge Ausgang ist, dass er es ist, der lachen lässt und weinen, dass er es ist, der sterben lässt und lebendig macht […] Ja, welche Gnadengaben deines Herrn willst du denn leugnen?“ (Q 53:36.38–44.55 f.)

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Man kann aus dieser Reaktion des Korans auf die Zurückweisung des Angebots Gottes kein unmittelbares Zeugnis für das Leiden Gottes ableiten, aber diese Reaktion zeigt doch, dass wir im Koran keinem gleichgültigen Gott begegnen, den es unberührt lässt, wie sich die Menschen zu seinem Wort verhalten. Die göttlichen Zeichen (āyāt), mit denen die Menschen zu Gott gerufen werden, sind Ausdruck göttlicher Emotionalität, die der Koran mit der Milde und Barmherzigkeit Gottes beschreibt, um die Menschen auf den Weg Gottes zu bringen: „Er ist es, der auf seinen Knecht klare Verse herniedersandte, um euch herauszuführen aus der Finsternis zum Licht. Siehe, Gott ist zu euch wahrhaft gütig, barmherzig“ (Q 57:9). Eben diese Barmherzigkeit können wir als eine Macht in Gott bestimmen, die sein Innerstes in Mitleidenschaft zieht und so Gottes Präsenz in der Not der Gottferne deutlich macht. Und wenn es um die Armen und Bedürftigen geht, dann identifiziert sich Gott mit ihrem Leid, er bittet sogar für sich selbst um eine Spende bzw. ein Darlehen: „Wer ist es, der Gott ein schönes Darlehen gibt, damit er es ihm bestimmt. Reicher Lohn ist ihm verdoppele? Reicher Lohn ist ihm bestimmt. Siehe, die Frauen und die Männer, die Almosen geben und Gott ein schönes Darlehen gewährten, denen wird doppelt gegeben, und ihnen ist reicher Lohn bestimmt“ (Q 57:11.18). Dies erklärt die sich im Koran wiederholende ermahnende Botschaft, gütig zu den Waisen und Bedürftigen zu sein (vgl. Q 93:9–10; 89:17–18). Wer die Waisen zurückstößt und nicht zur Speisung des Armen anhält, der glaube nicht an die Begegnung mit Gott (vgl. Q 107:1–3). Auch im Koran gibt es also Indizien dafür, dass wir Gott vor allem im Leidenden und im Bedürftigen begegnen. Die drastischen Strafen, mit denen Gott immer wieder droht, dürfen nicht als Ausdruck von Gottes Brutalität und Gewaltbereitschaft gelesen werden, sondern zeigen die Radikalität und die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen um den Menschen. Sie sollen den von Gott abgewandten Menschen nicht verdammen, sondern ihn eindringlich zu einem neuen Lebenswandel rufen – einem Lebenswandel, der Gott ins Zentrum seines Lebens rückt und auf dieser Basis solidarisch mit den Menschen ist, die unsere Hilfe brauchen. In diesem Sinne interpretiert al-Ġazālī (gest. 1111) das im Koran beschriebene Paradies bzw. die Hölle (al-Ġazzālī und Gramlich 1984). Die endgültige Glückseligkeit (den wahren paradiesischen Zustand) sieht er in der Nähe zu Gott, also in dem Gelangen in seine Gegenwart. Hingegen sei der wahre Zustand der Hölle die Trennung von Gott. Al-Ġazālī spricht vom „Feuer der Trennung“. Die koranischen Bilder vom Paradies und von Höllenstrafen stellen für al-Ġazālī lediglich Gleichnisse dar, die diese beiden Zustände der Nähe bzw. Ferne von Gott beschreiben wollen. Nach diesem Verständnis al-Ġazālīs beginnt die Hölle als Zustand schon hier auf der Erde, wenn sich der Mensch für Hass und Hochmut und gegen Liebe und Barmherzigkeit entscheidet.

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Der Koran spricht an vielen Stellen von göttlichen positiven wie negativen Emotionen: So liebt Gott nicht die Leugner (Q 3:32), die widerrechtlich handeln (Q 2:190); er liebt nicht die Hochmütigen (Q 4:36), die Verräter (Q 8:58) und die Unheilstifter (Q 28:77). All diese Verse nehmen bestimmte Handlungen des Menschen aufs Korn und drücken aus, dass Gott Menschen, die diese Handlungen tun, insofern sie diese Handlungen tun, nicht liebt. Seine Liebe findet offenbar ihre Grenze an der menschlichen Ablehnung. Daraus folgt keine Begrenzung Gottes oder seiner Liebe, sondern nur der Selbstausschluss des Menschen von dieser Liebe, den Gott in diesem Sich-Verschließen nicht liebt. Gott will also Resonanz auf sein Zugehen auf den Menschen und macht sich in seiner Zuwendung gewissermaßen von der menschlichen Antwort abhängig. Er überschüttet den Menschen nicht blind mit seiner Liebe, sondern kommt ihm dialogbereit und einladend entgegen. Dazu passt, dass der Koran bezeugt, dass Gott die Gütigen liebt (Q 2:195). Gott liebt diejenigen, die Reue zeigen und sich läutern (Q 2:222), die Frommen (Q 3:76), die Gerechtigkeit üben (Q 5:42). Damit ist nicht gemeint, dass Menschen sich die Liebe Gottes verdienen könnten oder müssten. Aber es wird deutlich, dass Gott in ein wechselseitiges Freiheits- und Liebesverhältnis zum Menschen eintreten will. Der Gelehrte Ibn Taimiyya nutzt ebenfalls diesen Vers, um diejenigen Theologen zu kritisieren, die die Liebe Gottes lediglich im Sinne seines Willens, gütig zu sein, interpretieren. Er beschreibt die Liebe als Eigenschaft der Vollkommenheit Gottes. Sie bilde den Kern und die Wurzel des Willens Gottes. Daher sei die Erschaffung seiner Kreaturen aus einer von ihm gewollten geliebten Veranlassung erfolgt. Liebe ist also nicht nur koranisch, sondern auch in der korantreuen Schultheologie Ausgangspunkt der göttlichen Zugewandtheit und seiner Freiheitsbeziehung zum Menschen. Der Koran erklärt: Gott ist nah, er erhört den Ruf der Rufenden (Q 2:186) und er begleitet die Menschen überall hier und jetzt (Q 57:4). Als Moses und Aaron ihre Ängste vor der Begegnung mit dem Pharao geäußert haben, sprach ein empathischer und mitfühlender Gott zu ihnen, um ihnen Mut zu machen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich bin mit euch, ich höre, und ich sehe“ (Q 20:46). Das Leiden des Menschen ist Gott eben nicht gleichgültig (Q 4:28). Er weiß um die Schwächen des Menschen und ist deswegen stets bereit, ihm auf seinem Weg zu unterstützen. Zugleich führt diese Unterstützung nicht zur Entmündigung des Menschen und entlässt ihn nicht aus seiner Verantwortung. Gott schenkt dem Menschen die Freiheit; er hat sich selber dazu bestimmt, sich von den Menschen bestimmen zu lassen, und so riskiert er eine entsprechend offene Geschichte mit ihnen. Entsprechend bindet er die Verwirklichung seines guten Willens an das Mittun der Menschen und lädt sie so ein, zu Mittätern seines guten Willens zu werden.

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„Siehe, Gott ändert an seinem Volke nichts, ehe sie nicht ändern, was in ihren Seelen ist“ (Q 13:11). Gott und Mensch befinden sich also in einem dialogischen Verhältnis und Gott erweist sich als ein Gott, der auf die Anliegen der Menschen reagiert und sie beständig wirkmächtig begleitet: „Ihn bittet, wer in den Himmeln und auf Erden ist. Jeden Tag ist er am Wirken“ (Q 55:29). Diese koranischen Befunde decken sich auch mit dem Bild, das der Prophet Muḥammad in seiner Verkündigung vermittelte – eben das Bild eines personalen Gottes, der sich vom Menschen emotional bewegen lässt. Auch wenn der Mensch sündigt, bleibt Gott dem Menschen zugewandt; denn seine Barmherzigkeit ist bedingungslos und absolut. Deshalb sagt der Prophet Muḥammad: „Gott streckt Arme der Liebe und Vergebung in der Nacht für diejenigen aus, die am Tag gesündigt haben, und er streckt Arme der Liebe und Vergebung am Tag für diejenigen aus, die in der Nacht gesündigt haben“. Dieses Bild eines barmherzigen Gott, der dem Menschen Hoffnung machen will, korrespondiert mit dem Bild Gottes, das auch im Koran begegnet, wenn es dort heißt: „Sprich: ,Meine Knechte, die ihr euch zu eurem Schaden übernommen habt: Verzweifelt nicht an Gottes Barmherzigkeit! Siehe, Gott vergibt die Missetaten allesamt, siehe, er ist es, der bereit ist zu vergeben, der Barmherzige‘“ (Q 39:53). Auch für viele Hadithe gilt: Der Mensch ist es, der sich Gott verschließt, der Mensch ist es, der Gott den Rücken zudreht, nicht aber Gott dem Menschen. Von daher soll die Rede von Emotionalität in Gott nicht seine Treue und Beständigkeit infrage stellen. In einer anderen Aussage des Propheten Muḥammad wird die Freude Gottes über jeden, der sich ihm wieder zuwendet, bildhaft beschrieben: „Stellt euch vor, jemand ist alleine in der Wüste mit seinem Kamel unterwegs und plötzlich läuft das Kamel mit all seinem Essen und Trinken davon. Als der Mann es aufgibt, sein Kamel wieder zu finden und sich resignierend, auf den Tod wartend, auf den Boden legt, steht plötzlich sein Kamel mit Essen und Wasser neben ihm. Stellt euch die Freude dieses Menschen vor! So freut Gott sich über jeden, der sich von ihm ab- und wieder zugewandt hat, mehr als dieser Mensch in der Wüste über das Kamel“. Es ist interessant, wie in dieser prophetischen Überlieferung das biblische Bild von der Zuwendung Gottes zum Menschen radikalisiert wird. Geht im Evangelium Gott als guter Hirte dem einen verlorenen Schaf nach, um es zur Herde zurückzubringen (Lk 15,3–7), obwohl noch 99 andere Schafe zu seiner Verfügung stehen, und freut sich der barmherzige Vater des Evangeliums über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, obwohl sein anderer Sohn ja immer bei ihm ist (Lk 15,11–32), radikalisiert Muḥammad die verwendete Bildsprache. Gott hat hier nur den einen Menschen, auf den er sich verlässt und dessen Rückkehr ihm neue Hoffnung bringt. Es gibt eben nur das eine Kamel, und dieses Kamel ist

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für seinen Besitzer lebensnotwendig. So braucht Gott jeden von uns, um seinen guten Willen Wirklichkeit werden zu lassen, und er verlässt sich auf uns – in letzter Radikalität. Dieses Sich-Verlassen Gottes auf uns bedeutet aber nicht, dass er uns alleine lässt. Vielmehr beantwortet er auch den kleinsten Schritt von uns auf ihn zu mit seiner übergroßen Barmherzigkeit und Liebe. So heißt es in einem weiteren Hadith: „Gott, der Erhabene, sagt: ‚Ich bin, wie mein Diener es von mir annimmt. Und ich bin mit ihm, wenn er meiner gedenkt. Gedenkt er meiner in seinem Inneren, gedenke ich seiner in meinem Inneren. Gedenkt er meiner in einer Gruppe, gedenke ich seiner in einer besseren Gruppe. Nähert er sich mir um eine Handbreit, nähere ich mich ihm um eine Elle. Nähert er sich mir um eine Elle, nähere ich mich ihm um einen Klafter. Kommt er mir gehend entgegen, komme ich ihm laufend entgegen.‘“ Dieser Hadith macht deutlich, wie sehr Gott ein reziprokes Verhältnis zum Menschen eingeht, zugleich aber eine grundlegende Asymmetrie in diesem Verhältnis liegt. Gott bleibt immer der Barmherzigere, weil er als der absolut Liebende aus seinen unendlichen Möglichkeiten immer neue Chancen für den Menschen kreiert und seine Möglichkeiten je neu weitet. Wendet man diese Verhältnisbestimmung soteriologisch, so wird klar, dass es aus muslimischer Sicht keine Rettung des Menschen an seiner Freiheit vorbei gibt. Gott entlässt den Menschen an keiner Stelle aus seiner Verantwortung. Hier gibt es keinen stellvertretenden Dienst, der den Menschen ersetzen könnte. Aber zugleich ist Gott vom Leiden des Menschen betroffen. Er wirbt um den Menschen, indem er sich in seiner Verletzlichkeit und Schwäche zeigt. Diese „Schwäche für den Menschen“ wird sicherlich erst deutlich, wenn wir den Koran in seiner performativen Gestalt als Selbstoffenbarung Gottes ernst nehmen. Aber wenn wir dies tun, wird immer wieder deutlich, wie sehr sich Gott dem Menschen aussetzt und sich von ihm bewegen lässt. Das heißt, dass das dialogische Modell der Gott-Mensch-Beziehung kein aufgesetztes Modell ist. Manche Muslime meinen an dieser Stelle, dass der Koran davon spricht, dass Gott gedient werden will und deshalb hat er den Menschen erschaffen, sie berufen sich auf die koranische Aussage, wonach Gott die Menschen erschaffen habe, um ihm zu dienen (Q 51:56). Der Koran lässt das allerdings so nicht stehen. Denn der Satz geht ja weiter: Es heißt nicht nur, „ich [Gott] habe den Menschen erschaffen, um mir zu dienen“, sondern der nächste Vers 57 sagt, „Ich brauche aber von den Menschen weder, dass sie mir etwas zum Essen geben, noch brauche ich etwas von den Menschen. Gott ist der Allmächtige“. Unter „Gottesdienst“ oder Gott dienen darf somit nicht missverstanden werden, dass Gott unsere Dienste für sich benötigt, Gottesdienst ist vielmehr ein Dienst an Gottes Schöpfung.

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In diesem Zusammenhang sei an die Aussage des Propheten Muḥammad erinnert: „Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ‚Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben, und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben.‘ Der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ‚Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig oder hungrig sein?!‘ Da wird ihm Gott antworten: ‚Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank‘, und du hast ihn nicht besucht; hättest du ihn besucht, hättest du mich dort, bei ihm, gefunden. An einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig, und du hast ihm nichts zum Essen gegeben, und an einem Tag war ein Bekannter von dir durstig, und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‘“ Diese Erzählung erinnert an das Matthäus-Evangelium, Kap. 25, das eine ähnliche Geschichte beinhaltet und an deren Ende betont wird: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40b). Der Mensch kann durch sein Zutun die Erde fruchtbar machen und damit die Barmherzigkeit Gottes veranlassen. Somit erhält die Offenbarung einen dialogischen Charakter, denn der Mensch selbst kann sie hervorrufen und veranlassen, indem er barmherzig und gütig handelt. Dies ist auch der Auftrag an den Menschen. Als der Prophet Muḥammad von einem Mann danach gefragt wurde, wo Gott sei, zeigte er auf einen armen Menschen und sagte: „Geh zu dem armen Menschen, dort findest du Gott.“ Dort, wo man eine Hand der Barmherzigkeit und der Güte ausstrecken kann, manifestiert sich Gott, dort ist Barmherzigkeit, dort ist Gott. Dort, wo eine Mutter ihr Kind umarmt, dort, wo man einen Menschen anlächelt, überall dort, wo man ein Zeichen der Güte, der Liebe und der Barmherzigkeit setzt, dort veranlasst man die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes, dort macht man Gott erfahrbar. Dort verwirklicht sich Gottes Dienst. Dort bezeugt der Mensch seine Liebe zu Gott, nicht durch das verbalisieren: „Gott, ich liebe dich“, sondern durch den eigenen Werdegang, durch den eigenen Charakter und durch das eigene Handeln, diese sind Räume der Entfaltung von Gottesdienst. Gottesdienst darf demnach nicht auf das Verrichten von religiösen Ritualen reduziert werden. Denn religiöse Rituale sind keineswegs Selbstzweck. Gott zu lieben bedeutet vielmehr, ein Medium der Entfaltung von göttlicher Liebe und Barmherzigkeit zu sein. Nach dem dialogischen Modell hat Gott Menschen deshalb erschaffen, um seine Liebe und Barmherzigkeit zu teilen. Allerdings macht Gott dies auf eine Art und Weise, die die Freiheit des Menschen nicht beeinträchtigt. Daher greift Gott nicht unmittelbar in die Welt ein. Die Menschen sind vielmehr die Hände Gottes, aber nur dann, wenn sie sich in Freiheit dazu entscheiden, sich als Medien göttlicher Liebe und Barmherzigkeit zur Verfügung zu stellen.

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Es ist nicht Gott, der unmittelbar in die Welt eingreift, um zum Beispiel die Hungersnot selbst zu beseitigen, sondern es sind die Menschen, die diese Intention Gottes verwirklichen. Das heißt, dass der Mensch nach diesem dialogischen Modell, anders als nach dem monologischen Menschenbild, nicht Objekt der Religion und passiver Empfänger von Instruktionen ist. Der Mensch ist hier Subjekt der Geschichte. Er ist „Partner“ Gottes. Man kann sagen, dass Gott die Welt so erschaffen hat, dass er auf die Kooperation des Menschen „angewiesen“ ist, um seine Intention nach Liebe und Barmherzigkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Gott ist allerdings nicht im ontologischen Sinne auf den Menschen angewiesen. Er hat die Welt auf diese Weise erschaffen, um die Freiheit des Menschen nicht einzuschränken, er würde nicht unmittelbar in die Welt korrigierend eingreifen. Wenn Gott die Menschen aber in ein Liebesverhältnis einlädt, muss er ihre Freiheit respektieren. Denn Freiheit ist anthropologisch gesehen das Gesetz der Liebe, und ohne Freiheit kann sich auch keine aufrichtige Liebe zu Gott entwickeln. Etwas zugespitzt kann man deswegen sagen, dass Gott den Menschen gerade deshalb Propheten und ihre Botschaften geschickt hat, weil er sie in dieses Liebesverhältnis einladen will. Wenn die Freiheit des Menschen bewahrt und geschützt werden soll, dann wird Gott in der Welt nur auf eine Art und Weise eingreifen, die diese Freiheit nicht zerstört. Daher nimmt Gott die Freiheit des Menschen in Anspruch, um Freiheit zu ermöglichen. Es ist an erster Stelle der Mensch, der Gottes Intention nach Liebe und Barmherzigkeit realisiert und zu einer erfahrbaren Wirklichkeit hier und jetzt umsetzt. Darin liegt die höchste Würdigung des Menschen. Er ist Gottes Partner, in der koranischen Sprache Kalif, um die göttliche Intention Wirklichkeit werden zu lassen. Daher darf man göttliches und menschliches Handeln nicht in ein Konkurrenzverhältnis zueinander setzen. Im Gegenteil gilt: Je mehr sich der Mensch für die Freisetzung von Freiheit einsetzt, desto mehr wird die Intention Gottes realisiert. Der Einsatz des Menschen für die Freisetzung von Freiheit verwirklicht sich in seinem Handeln im Sinne der Liebe und der Barmherzigkeit. Beide müssen deshalb zum Selbstzweck menschlichen Handelns werden. Die Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung und somit als Freiheitsbeziehung aufzufassen, hat nun Konsequenzen für eine neue Bestimmung des Allmacht-Begriffs: Kierkegaard definiert Allmacht wie folgt: „Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan werden kann, höher als alles, wozu einer es machen kann, ist dies: es frei zu machen. Eben dazu, dies tun zu können, gehört Allmacht“. Allmacht ist dieser Konzeption zufolge also mehr als unbegrenztes „Alles-logisch-Mögliche-Tun-Können“. Der katholische Theologe Klaus von Stosch (2018, S. 48) schreibt dazu: „Recht verstandene Allmacht kann keine alles beherrschende und kontrollierende Super-Macht sein, sondern zeichnet sich

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gerade durch die Erschaffung von Wesen aus, die selber mächtig sind und aus dieser gewährten Macht heraus in ein Freiheitsverhältnis zu ihrem Schöpfer eintreten können. Wird die Allmacht aber gedacht als Macht des Hervorbringens des von sich Unabhängigen, die zugleich die Macht hat, dieses Unabhängige für sich zu gewinnen, kann Allmacht nur noch als Liebe bestimmt werden. Denn allein die Liebe vermag Macht freizusetzen und in der Freisetzung für sich zu gewinnen. Gerade eine Liebe, die rückhaltloses Vertrauen verdient, weil sie eben reine Liebe ist.“ Nur in der Liebe kann gedacht werden, dass die Hingabe und Selbstpreisgabe als Macht erfahrbar wird, die eben jede andere Macht positiv überbietet, weil „sie das von sich Unabhängige noch einmal für sich zu gewinnen vermag.“ Liebe ist deswegen, wie der katholische Theologe Jürgen Werbick (2016, S. 407) dies expliziert, „die Macht, über die hinaus eine größere, bessere Macht gar nicht gedacht werden kann.“ Man kann eben nichts Größeres und nichts Mächtigeres denken, als die Fähigkeit, ein Gegenüber zu völliger Eigenständigkeit zu ermächtigen. Dieser Machtbegriff ist ein dialogischer, der das Wirken Gottes in der Welt ausschließlich mit Mitteln der Liebe begründet sieht. Hier bleiben keine Räume mehr offen für absolute Machtansprüche im Sinne völliger Kontrolle der Menschen durch Gott oder durch eine politische Instanz. Sicherlich liegt in diesem Verständnis von Gottes Allmacht auch ein überzeugender Ansatz, um auf die berühmte Theodizee-Frage eine Antwort zu geben. Gerade Agnostiker und Atheisten oder Skeptiker, argumentieren religiösen Menschen gegenüber, egal ob Juden, Christen oder Muslime, dass, wenn es einen allmächtigen Gott gibt, der es gut meint mit uns Menschen, man fragen müsse, wieso er dann das Böse auf der Welt zulässt. Aber bereits diese Frage impliziert eine Vorstellung von Gott bzw. von Gottes Allmacht, dass dieser Gott unsere Freiheit nicht wirklich respektiert, um immer wieder unmittelbar in der Welt korrigierend einzugreifen. Daher fragen wir, warum Gott nicht eingreift, um Böses zu verhindern. Daraus leiten viele Atheisten die Nichtexistenz Gottes ab. Man erwartet also einen Gott, der unmittelbar korrigierend in der Welt eingreift, um zum Beispiel einen Autounfall oder irgendetwas Böses in der Welt zu verhindern. Man stelle sich vor, es wäre wirklich so, dass die monotheistischen Religionen ein solches Gottesbild hätten, mit einem Gott, der immer eingreift. Das würde ja implizieren, dass all diejenigen, die morgen einer Arbeit nachgehen oder etwas zu erledigen haben, ruhig und getrost zu hause sitzen und das Leben genießen können. Niemand müsste am Flughafen stundenlang warten müssen, um verspätet an sein Ziel zu kommen. Denn Gott wird in all diesen und weiteren Fällen korrigierend eingreifen. Wenn jemand einen Vortrag halten soll, könnte man nie wissen,

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ob er nicht doch zu hause vor dem Fernseher geblieben ist und Gott eingegriffen und jemanden anderen geschickt hat, der genauso aussieht wie der Vortragende, damit nichts schiefläuft. Aber wenn das so wäre, dann wäre es Gott allein, der selbst das Szenario schreibt und durchführt. Wir wären dann einfach Marionetten der Geschichte. Unsere Existenz würde dann unserer Nichtexistenz gleichen. So ein Gottesbild opfert die Freiheit des Menschen. Natürlich ist das in der Theologie, gerade in der islamischen, noch ein offenes Thema. Allmacht wird bis heute stark im Sinne des klassischen asch’aritischen Omnipotenzgedankens aufgefasst. Dieses Allmachtsverständnis, das sich auch auf die absolute Kontrolle menschlicher Handlungen durch Gottes Allmacht erstreckt, wird allerdings von zeitgenössischen muslimischen Religionsphilosophen wie Ali Mabrouk oder Zacharia Ibrahim stark zurückgewiesen. Deren Anliegen besteht allerdings keineswegs darin, sich vom allmächtigen Gott zu verabschieden, denn die Rede von der Allmacht Gottes (qudra) ist fest im Islam verankert und der Name al-qādir (der Allmächtige) ist eine Wesenseigenschaft Gottes, mit der Gott im Koran mehrfach beschrieben wird. Das Anliegen dieser Eigenschaft besteht vielmehr darin, dem Menschen seine Freiheit zurückzugeben und die Religion vor der politischen Instrumentalisierung zu schützen. Ali Mabrouk sieht gerade im ašʿaritischen Denken eine Reproduktion von autoritären Strukturen, die sich vor allem während der umayyadischen (661–750) und abbasidischen (750–1250). Dynastien verfestigt haben: „Die Asch‛ariten haben, wenn auch unbewusst, daran gearbeitet, eine autoritäre historische Epoche zu etablieren und zwar durch ihren dogmatischen Entwurf, der dem Absolutheitsdenken unterworfen ist, sei dieser auf Gott oder auf die Politik zurückzuführen“. Mabrouk erinnert hier an die ašʿaritische Antwort auf die Frage: Ist es Gott oder der Mensch, der die Handlungen des Menschen hervorbringt? Für die Ašʿariten war die Antwort eindeutig: nämlich Gott. Der Mensch eignet sich lediglich die von Gott erschaffene Handlung an, aber auch diese Aktivität des Aneignens von Handlungen ist selbst eine Handlung, die Gott erschafft. Mabrouk kommt zu dem Schluss, dass der Mensch hier als Objekt der Geschichte erscheint. Er ist nicht wirklich frei. Sein Verhältnis zu Gott basiere nicht auf Beziehung, sondern auf absoluter Unterwerfung. Hier merkt Mabrouk an: „obwohl die Asch‛ariten die Absicht hatten, die absolute Autorität Gottes zu bewahren, neben der keine wirkliche Existenz der Welt oder des Menschen Beachtung findet, führten ihre dogmatischen Ausführungen, auch wenn vielleicht unbewusst, zur Bestätigung der politischen Absolutheitsansprüche in einer Welt, die keine wirkliche Existenz mehr kennen soll, außer für das Absolute, sei es Gott, oder ein Despot. Deshalb wurde die Asch‛ariyya von ihren Anfängen an von den Machthabern als Staatsdoktrin favorisiert.“

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Mabrouk spricht von nasaq, was wir mit Diskurs wiedergeben können. Der theologische Diskurs rund um die Gottesvorstellung zeichne eine Welt, die leer sei außer von Gott. Dieser theologische Diskurs opfere den Menschen und sein Wirken in der Welt, um Gottes Souveränität zu bewahren. Dieser Vorstellung von einem Gott, dem es um Autorität geht, steht Mabrouk skeptisch gegenüber. Er ruft die Aussage Gottes zur Erinnerung: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden, deshalb habe ich die Menschen erschaffen“. Mabrouk merkt hier an: „Nicht das Ausüben von Autorität über den Anderen stellt also den eigentlichen Kern des Verhältnisses Gottes zur Welt und zum Menschen dar, aber genau dies ist es, was den Asch‛ariten nicht gelungen ist, zu verstehen. Sie haben Gott als absolute Autorität präsentiert in einer Welt, in der der Mensch ohnmächtig ist“. Mabrouk spricht hier von absoluten Strukturen. Diese erzeugen stets absolute Autoritäten, die sich in Gott oder in einem Despoten widerspiegeln können. Für die Ašʿariten gibt es keinen Platz für zwei Willen bzw. für zwei Freiheiten. Denn es gebe nur den einen einzigen absoluten Willen. Die Konsequenzen waren gravierend: denn der Mensch hat kaum Platz mehr in dieser Welt, er ist sogar auf einer ethischen Ebene nicht selbst in der Lage zu erkennen, was gut und was schlecht für ihn ist, er ist auf die göttliche Anweisung angewiesen. Hier haben die Aš‘ariten Vernunft und Offenbarung gegeneinander ausgespielt und sich dann für die Offenbarung stark gemacht und dafür die Vernunft geopfert. Demnach gehe die Entfaltung der Allmacht Gottes einher mit der Ohnmacht des Menschen. Das geht bei den Ašʿariten soweit, dass sie z. B. das Ansteigen der Preise auf dem Markt ausschließlich mit Gottes Eingreifen in der Welt begründen. Am Ende resümiert Mabrouk, dass es unmöglich sei, zwischen dieser Vorstellung einer ontologischen Unterwerfungsstruktur der Gott-Mensch-Beziehung und der sozialen sowie politischen Vorstellung einer autoritär strukturierten Welt, die von autoritären Regimen ferngesteuert wird, zu trennen. Mabrouk beschreibt diese autoritären Strukturen als Produkt eines kollektiven Bewusstseins. „Die asch‛aritischen Strukturen einer Absolutheit ist ein Produkt einer historischen Epoche und einer bestimmten sozialen Situation und stellt keineswegs eine reine theologische Reflexion über den Absoluten dar. Die asch‛aritische Denkstruktur liefert somit die ideologische Unterfütterung eines diktatorischen Staates der nur dann existieren kann, wenn der Mensch verdrängt wird … deshalb blieben die Asch‛ariten stets die bevorzugten Denker der Regierenden.“ Der Koran wäre nach dem monologischen Verständnis ein Monolog Gottes. Denn Gott habe in der Ewigkeit, unabhängig von einem historischen Kontext, gesprochen. Wer heute den Koran nach dem monologischen Modell verstehen will, der muss versuchen, nur das koranische Wort philologisch zu verstehen. Es geht um die Umsetzung des Wortwörtlichen im Koran. Wenn man nach dem

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d­ ialogischen Modell von einem personalen Gottesbild ausgeht, von einem Gott, der auch in der Zeit mit dem Menschen kommuniziert, dann hat man ein Verständnis vom Koran als Dialog oder genauer gesagt: Er stellt eine Plattform der Kommunikation zwischen verschiedensten Akteuren dar. Um den Unterschied zwischen einer abgeschlossenen und einer offenen Kommunikation zu verdeutlichen, möge folgendes Beispiel dienen: Als ich meinem damals achtjährigen Sohn gesagt habe: „Du bekommst eine Tafel Schokolade von mir, wenn du deine Hausaufgabe schön schreibst“ war das für ihn ein Ansporn, seine Aufgabe sorgfältig zu schreiben. Angenommen, er hätte diese Kommunikation verschriftlicht, indem er in sein Tagebuch geschrieben hat: „Der Papa sagt: ‚wenn du eine schöne Arbeit schreibst, bekommst du von mir eine Tafel Schokolade‘“ und angenommen, er hätte mit 24 Jahren seine Doktorarbeit geschrieben und sich gefragt: „Was würde ich von meinem Vater bekommen, wenn ich eine schöne Doktorarbeit schreiben würde?“. Er erinnert sich an sein Tagebuch, kramt es hervor und liest, was ich ihm für eine sorgfältige Arbeit schenken werde: eine Tafel Schokolade. Wie wird er den Satz verstehen? Wenn er ihn monologisch auffasst, also unabhängig von der Lebenswelt des Adressaten (ursprünglich ein Kind mit acht Jahren, das Schokolade liebt), wird er davon ausgehen, dass er von mir auch für seine Doktorarbeit eine Tafel Schokolade bekommen wird. Versteht er den Satz hingegen als Kommunikation, in der auch der Adressat selbst eine konstitutive Rolle spielt, dann wird er sich fragen: „Womit würde mein Vater mich wohl heute motivieren, damit ich eine gute Doktorarbeit schreibe? Er kann mir doch nicht im Ernst für diese Leistung eine Tafel Schokolade geben?!“. Der Kontext hat sich geändert, die Lebenswirklichkeit, die Anforderungen. Ähnliches gilt für unser Verständnis der Offenbarung des Korans. Wenn wir Muslime wollen, dass der Koran einen Platz in unserem Leben hat, müssen wir ihn mitnehmen und die ursprüngliche Kommunikation im Geiste fortschreiben. Wir dürfen die Kommunikation mit Gott nicht abreißen lassen. Doch genau das würden wir tun, wenn wir davon ausgingen, dass er im siebten Jahrhundert zum letzten Mal zu uns gesprochen hat und die Offenbarung damit abgeschlossen sei. Die Offenbarung als abgeschlossen zu verstehen, macht aus dem Koran ein statisches Buch, in dem Gott Instruktionen verkündet hat, die literalistisch aufzufassen sind, also wortwörtlich. Es bleibt kaum Raum für ein historisches Bewusstsein der Verkündigung. Die Offenbarung als offen zu verstehen, bedeutet hingegen, dass sich der jeweilige Rezipient seine Lebenswelt mit in die Exegese einbringt. Nicht der Koran spricht, sondern Rezipient und Koran stehen sich dialogisch gegenüber. Der Rezipient hat die Aufgabe, den Koran fortzudenken. Damit bleibt dieser offen. Die Offenheit des Korans erlaubt, seine spirituelle und ethische Kraft zu

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entfalten, denn es handelt sich nach diesem Verständnis nicht um ein Gesetzesbuch, das klare Handlungsanweisungen verkündet, sondern um ein historisch gewachsene Offenbarung, die noch nicht abgeschlossen ist, sie lädt den Rezipienten ein, sich mit all seinen Anliegen einzubringen und an sich die Frage zu stellen: „Was würde mir der Koran heute im 21. Jahrhundert sagen?“. Denkt man diese Unterscheidung zwischen beiden Verständnissen der Offenbarung konsequent zu Ende, dann ergeben sich zwei Zugänge zum Islam: Entweder man versteht den Islam als vom Himmel gefallene Religion, als wäre sie ein geschlossenes Paket und die Aufgabe der Gläubigen wäre nichts anders als dieses Paket aufzumachen und die Bedienungsanleitung, die dabei liegt, zu befolgen, um alles umzusetzen, oder man versteht ihn als in der Zeit entstandene Religion, die ein Medium der Entfaltung von Spiritualität und Ethik im Leben des Menschen darstellt. Ein Blick in die 1400jährige islamische Ideengeschichte zeigt, dass die uns heute bekannten islamischen Konfessionen (Sunniten, Schiiten, Ibaditen, Ahmadiyya usw.), aber auch die sunnitischen Rechtsschulen zum Beispiel sich viele Jahre nach dem Tod des Propheten Muḥammad gebildet und etabliert haben und nicht vom Himmel gefallen sind. Diese innerislamische Vielfalt hat Thomas Bauer auf eindrucksvolle Weise in seinem Buch über Die Kultur der Ambiguität (2011) dokumentiert. Gerade muslimische Fundamentalisten haben ein ­Verständnis vom Islam als vom Himmel gefallene Religion und verkennen die Dynamik und Prozesshaftigkeit der islamischen Lehre. Heute stellen sich viele Anfragen an den Islam, vor allem zu seinem Verhältnis zum Rechtsstaat, zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zur Gleichberechtigung der Geschlechter usw. Es kann nicht darum gehen, diese Fragen apologetisch und unreflektiert in dem Sinne zu beantworten, dass der Islam mit all unseren modernen Werten ohne Wenn und Aber vereinbar sei, sondern man muss dies differenziert sehen, je nach dem Zugang zum Islam. Würden wir von der Abgeschlossenheit des Islams ausgehen, dann ergibt sich die große Schwierigkeit, den Islam in unsere heutige Zeit einzubinden. Man wäre in diesem Fall gezwungen, rückwärtsgewandt zu denken. Denn den Koran als eine Ansammlung an Instruktionen zu verstehen, zwingt uns, die gesellschaftlichen Strukturen so zu denken, wie sie im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel waren, um den Koran zur Anwendung zu bringen. Man denke zum Beispiel an koranische Aussagen zu den Geschlechterverhältnissen, die zum Teil patriarchalische Züge aufzeigen (z. B. Sure 4, Vers 34). Solche und ähnliche Verse als monologische Belehrung durch Gott zu verstehen, würde heißen, dass Muslime heute im 21. Jahrhundert angehalten wären, sich daran zu halten. Die Offenheit des Islams, die von einer Nicht-Abgeschlossenheit des Islams ausgeht und den

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Koran als in der Zeit stattgefundenen Kommunikation versteht, berücksichtigt hingegen den historischen Kontext solcher Aussagen. Nehmen wir die Erbschaft der Töchter als Beispiel. In der Sure 4 Vers 11 wird angeordnet, dass die Töchter die Hälfte an Erbschaft von dem was ihren Brüdern zukommt erben: „Gott empfiehlt euch hinsichtlich eurer Kinder: Einem männlichen Geschlechts kommt ebenso viel zu wie der Anteil von zwei weiblichen Geschlechts.“ Liest man diesen Satz kontextunabhängig als eine ewige Instruktion Gottes, dann handle es sich hierbei um eine klare für alle Muslime zu allen Zeiten verbindliche gesetzliche Regelung. Diese habe somit eine ahistorische Gültigkeit. Nimmt man den Koran hingegen als eine Plattform einer offenen und keineswegs abgeschlossenen Kommunikation wahr, dann fragt man nach dem historischen Kontext der Verkündigung dieses Verses und somit nach dem sozialen Zusammenhang des Offenbarungskontextes und dem sozialen Kontext des Lesers. Der Koranexeget Ibn Kaṯīr (gest. 1373 n. Chr.), Verfasser eines der am weitesten anerkannten exegetischen Werke im sunnitischen Islam, merkte in seinem Tafsīr al-Qurʾān (Interpretation des Korans) zu diesem Vers an, dass viele Gläubige die Idee des Propheten Muḥammad, auch Frauen an einer Erbschaft zu beteiligen, anfangs vehement ablehnten und sagten: „Frauen und kleine Kinder sollen Erbanteile bekommen, obwohl diese nicht in der Lage sind, in den Krieg zu ziehen und Kriegsbeute zu ergattern?! Verschweigt diese Idee Muḥammeds, vielleicht vergisst Muḥammad, was er gesagt hat, oder wir können ihn überzeugen, diese Regelung wieder fallen zu lassen.“ Ibn Kaṯīr fährt fort: „Sie gingen daraufhin zum Propheten und beschwerten sich (…), denn in vorislamischer Zeit erbten Frauen nichts, nur diejenigen, die an Kriegen teilgenommen hatten, hatten ein Anrecht auf Erbanteile. Diese wurden nach Alter aufgeteilt [ältere Familienangehörige bekamen mehr als jüngere].“ Daraufhin wurde der Vers offenbart. Der Grund dafür, dass Frauen in vorislamischer Zeit vom Erbe ausgeschlossen wurden, liegt in der damaligen Gesellschaftsordnung. Unter den Stämmen herrschten große Spannungen und Konkurrenz um die wirtschaftlichen Ressourcen, sodass sie oft Krieg gegeneinander führten. Die Kriegsbeute war meist die Haupteinnahmequelle der Stämme, weshalb diejenigen, die in der Lage waren, Kriegsbeute zu machen, eine privilegierte Stellung im Stamm innehatten; dieses Privileg spiegelte sich auch in der Erbschaftsverteilung wieder. Frauen waren ein Risikofaktor: Zum einen waren sie im Krieg oft Kriegsbeute und wurden versklavt, sodass die Ehre des Stammes verletzt wurde; zum anderen wurden Frauen auch gezielt aus politischen Gründen mit Männern anderer Stämme verheiratet. Sie sollten nichts erben, damit Anteile des Besitzes des eigenen Stammes nicht in die Hände anderer Stämme gelangten. Mit diesen Stammesstrukturen wollte der Prophet nun brechen und arbeitete

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sukzessive daran. Dabei war ihm eine schrittweise Etablierung einer Gleichstellung von Mann und Frau sehr wichtig, d. h. die Frau sollte gewürdigt werden als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Liest man diesen Vers 4:11 in seinem historischen Kontext, dann erkennt man, dass es für diese Regelung mit der Erbschaft für die damalige Zeit ein erster revolutionärer Schritt war. Aus unserer heutigen Perspektive wäre so eine Regelung ein Rückschritt in der Frage des Geschlechterverhältnisses. Die Offenbarung als offene Kommunikation wahrzunehmen, bedeutet aber nicht bei diesem ersten Schritt, der den Koran im siebten Jahrhundert eingeführt hat, stehenzubleiben. Es ist Aufgabe der heutigen Koranhermeneutik, diesen ersten Schritt fortzuschreiben, und zwar im Sinne unseres heutigen Verständnisses von Gerechtigkeit. Dieses Beispiel sollte verdeutlicht haben, welche Konsequenzen es für die vielen heutigen Fragen an den Islam die jeweilige Auffassung von Offenbarung haben kann. Dies gilt auch für weitere Fragen, wie die nach der Vereinbarkeit des Islams mit den Menschenrechten, mit demokratischen Grundwerten usw. Denn, wie schon erwähnt wurde, gilt der Koran im Islam als die Offenbarung Gottes. Nach muslimischen Glauben wurde der Koran dem Propheten Muḥammad nicht auf einmal, sondern über einen Zeitraum von 23 Jahren hinweg offenbart. Zwölf Jahre davon lebte Muḥammad in Mekka (zwischen 610 und 622 n. Chr.) und zehn in Medina (zwischen 622 und 632 n. Chr.). Er wurde somit in verschiedenen räumlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten offenbart, in denen er die für den jeweiligen Kontext richtige Option anbietet; so kommen unterschiedliche Optionen zusammen. Vernachlässigt man diese historische Prozesshaftigkeit der Entstehung des Korans, läuft man Gefahr, ihn selektiven Lesarten auszuliefern.

Literatur al-Ġazzālī, und Richard Gramlich. 1984. Muḥammad al-Ġazzālīs Lehre von den Stufen zur Gottesliebe: die Bücher 31–36 seines Hauptwerkes. Wiesbaden: F. Steiner. Bauer, Thomas. 2011. Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams. ­Berlin: Verlag der Weltreligionen. Madigan, Daniel. 2003. Gottes Botschaft an die Welt: Christen und Muslime, Jesus und der Koran. Internationale Katholische Zeitschrift Communio 32:100–112. von Stosch, Klaus. 2018. Theodizee. Paderborn: Schöningh. Werbick, Jürgen. 2016. Gott verbindlich: Eine theologische Gotteslehre. Freiburg: Herder.

Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in Geschichte und Gegenwart Erdal Toprakyaran

Der Asra Täglich ging die wunderschöne Sultanstochter auf und nieder Um die Abendzeit am Springbrunn, Wo die weißen Wasser plätschern. Täglich stand der junge Sklave Um die Abendzeit am Springbrunn, Wo die weißen Wasser plätschern; Täglich ward er bleich und bleicher. Eines Abends trat die Fürstin Auf ihn zu mit raschen Worten: Deinen Namen will ich wissen, Deine Heimat, deine Sippschaft! Und der Sklave sprach: Ich heisse Mohamet, ich bin aus Yemmen, Und mein Stamm sind jene Asra, Welche sterben, wenn sie lieben. Heinrich Heine

Der Dichter dieser Zeilen, der in Düsseldorf geborene Heinrich Heine, war ebenso wie Herder, Goethe, Lessing, Nietzsche und viele andere bedeutende deutsche Geistesgrößen fasziniert von der islamischen Kultur. Gleichzeitig war E. Toprakyaran (*)  Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_3

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ihnen allen bewusst, dass die Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen Morgen- und Abendland wie ein „künstlicher Kreidestrich“ ist (Almond 2010; Mommsen 2001). Dennoch wird bis in die heutige Zeit oftmals ein monolithischer Islam konstruiert und als das negative Gegenüber eines ebenso monolithischen Westens dargestellt. Der Westen bzw. das Abendland wird zugleich in euro-zentristischer Weise idealisiert und vom vermeintlich irrationalen dunklen Islam abgegrenzt (Leggewie 1993, S. 8 ff.). Der Islam ist aber, genauso wie das Christentum, nicht monolithisch und auch die Gottesbilder sind es nicht. So werden in der islamischen Tradition 99, zum Teil gegensätzlich klingende Gottesnamen (al-asmāʾ al-ḥusnā) aufgezählt, die sich auch im Koran wiederfinden lassen. Je nach Ausrichtung und Bedürfnis rufen Musliminnen und Muslime Gott mit den unterschiedlichen Namen an. Für die Mystiker etwa, die im Islam als Sufis oder Derwische bezeichnet werden, stehen die Namen „der Eine (al-wāḥid und al-aḥad)“, „die Wahrheit (al-ḥaqq)“, „der Lebendige (al-ḥayy)“, „der Heilige (al-quddūs)“, „der Friede (al-salām)“, „das Licht (al-nūr)“, „der Liebende (al-wadūd)“, „der Barmherzige (al-raḥmān, al-raḥīm, al-ġaffār und al-ġafūr)“, „der Vergebende (al-raʾūf, at-tawwāb und al-‘afuw)“, „der Sanftmütige (al-ḥalīm)“, „der Freund (al-walī)“, „der Geduldige (al-ṣabūr)“, „der Offenbare (al-ẓāhir)“ oder „der Verborgene (al-bāṭin)“ im Mittelpunkt ihrer religiösen Praxis und Theologie. So gilt Gott als der Schöpfung immanent, da Er in den Menschen Seinen Geist eingehaucht hat (Koran 15/29 und 32/9) und ihm dadurch näher ist „als die Halsschlagader (Koran 50/16; ähnlich in 2/186 und 57/4).“1 Zugleich ist Gott, der Offenbare, überall präsent entsprechend dem Vers „Und Gottes ist der Osten und der Westen, und wohin ihr euch daher wendet, dort ist Gottes Angesicht (Koran 2/115).“ Der Muslim soll gemäß dem Gottesbild der Mystiker Gott in sich und in der gesamten Schöpfung erkennen und Ihm demütig und liebevoll dienen. Auch die islamischen Philosophen und Künstler interessieren sich besonders für jene Gottesnamen, mit denen sie sich am deutlichsten identifizieren können. Zu diesen zählen etwa „der Ewige (al-ṣamad und al-bāqī)“, „der Schöpfer (al-ḫāliq)“, „der Verursacher (al-mubdiʾ)“, „der Gestalter (al-muṣawwir)“, „der Erweckende (al-bāʿiṯ)“ oder „der Lebensspendende (al-muḥī)“. Es ist wenig überraschend, dass das Gottesbild der muslimischen Juristen durch andere Gottesnamen geprägt wird. Für Sie ist Gott in erster Linie „die Gerechtigkeit (al-ʿadl)“, „der Richter (al-ḥakam)“, „der Berechnende (al-ḥasīb)“,

1Koranverse werden in Anlehnung an Max Henning (1991) in frei übersetzter Form wiedergegeben.

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„der Weise (al-ḥakīm)“, „der Zeuge (al-šahīd)“, „der Vorverlegende (al-muqaddim)“, „der Aufschiebende (al-muʾaḫḫir)“, „der Eröffnende (al-fattāḥ)“, „der Verhindernde (al-māniʿ)“, „der Strafende (al-muntaqim)“ oder „der Rechtleitende (al-hādī und al-rāšid)“. Könige und Herrscher wiederum pflegen sich mit den Gottesnamen „der Erhabene (al-ʿālī und al-ʿalāʾ)“, „der Allmächtige (al-qādir, al-ʿaẓīm, al-ʿazīz und al-muʿizz), der König (al-malik), der Starke (al-matīn und al-qawī), der Majestätische (ḏū al-ǧalāl), der Ruhmreiche (al-maǧīd), der Vernichtende (al-qahhār), der Erzwingende (al-ǧabbār), der Erhöhende (al-rāfiʿ), der Erniedrigende (al-muḏill), der Regierende (al-wālī), der Reiche (al-ġānī), der Versammelnde (al-ǧāmiʿ), der Tötende (al-mumīt) oder der großzügig Versorgende (al-wahhāb, al-razzāq und al-nāfiʿ) zu beschäftigen. Es sind aber nicht nur die selbsternannten Behüter des Abendlandes, die ein einseitig-monolithisches Bild vom Islam konstruieren, sondern auch deren Geschwister im Geiste, nämlich die islamischen Extremisten. So wird es stets problematisch und sogar bedrohlich, wenn sich ein Muslim oder eine ganze Gruppe allein auf einige wenige göttliche Namen und Eigenschaften konzentrieren und sich auch entsprechend verhalten. Ein Muslim, der sich etwa nur auf die Namen „der Strafende“ oder „der Vernichtende“ konzentriert, wird vermutlich ein sehr rigid-puristisches und gewaltbejahendes Gottesbild haben. Oftmals werden dann auch der Koran insgesamt und die prophetische Praxis nur sehr selektiv wahrgenommen. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die Zahl derjenigen, die ein sehr einseitiges, gewaltbejahendes Gottesbild haben, – beschleunigt durch die Globalisierung – rasant wächst. Gleichzeitig erhalten diese fanatisierten Extremisten sehr viel mediale Aufmerksamkeit, wodurch der Eindruck entsteht, dass der Islam als Ganzes eine gewaltverherrlichende Religion ist. Falls es aber gelingen sollte, den friedliebenden Muslimen mehr Gehör zu verschaffen, wäre es sicherlich möglich, die vielen inspirierenden Gottesbilder, auf die wir in der facettenhaften und stets dynamischen muslimischen Tradition stoßen, fruchtbar zu machen. In der Gegenwart sind hierfür besonders die Theologien der mystisch, philosophisch und künstlerisch geschulten Gelehrten von Interesse, da besonders bei ihnen das Herz und die Vernunft gleichermaßen angesprochen und kultiviert werden. Nur durch ihr Engagement kann es gelingen, dass ein „Mohamet“ wie schon zu Zeiten Heines an erster Stelle als ein Mann der absoluten Liebe wahrgenommen und dargestellt wird; als einer von jenem Stamm, „welche sterben, wenn sie lieben“. Davon sind wir aber momentan im deutschen und auch im globalen Islam-Diskurs weit entfernt. Thema des vorliegenden Artikels ist die Frage, welchen Raum der Islam samt seiner Historie für Erneuerung und Reformen lässt und welche Rolle dabei die Gottesbilder spielen. Es wird anhand von vielen historischen Beispielen gezeigt, dass es sehr wohl verschiedene islamische Diskurse und Traditionen gibt, an die

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wir heute anschließen können. Exemplarisch sollen etwa die islamischen Diskurse der Gottesliebe, der religiösen Pluralität, der Autonomie der Vernunft, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratiekompatibilität und der Säkularität kurz dargestellt und diskutiert werden.

Islam als Religion der Liebe Da im Islam keine Kirche und auch keine geistliche Hierarchie vorgesehen sind, gab es stets unterschiedliche juristische-, theologische-, mystische- und philosophische Schulen, die mal miteinander konkurrierten und sich mal ergänzten. Denn diese verschiedenen identitätsstiftenden Kategorien waren in der Regel nicht durch unüberwindbare Grenzen von einander geschieden, sondern konnten in allen Varianten und Kombinationen auftreten. So darf es nicht überraschen, dass es etwa in der Philosophie und besonders in der Mystik bis in die heutige Zeit die Anschauung gibt, dass der Islam eine Religion der Liebe ist. So schreibt der 1974 verstorbene türkische Religionsphilosoph Hilmi Ziya Ülken (2010) in seiner programmatischen Schrift Aşk Ahlakı (Ethik der Liebe), dass es keine wahrhaftige Ethik geben kann ohne die Liebe. Das Fundament jeglicher Religion und Ethik müsse stets die Liebe sein, da nur sie selbstlos sei. Der türkische Gelehrte rezipiert in dieser Schrift aber hauptsächlich die großen Namen der islamischen Mystik und weniger die Philosophen, da besonders im Sufismus die Liebe zu Gott und zu seiner Schöpfung eine zentrale Rolle spielt. Verschiedene Begriffe für Liebe wie ḥubb, ʿišq und mawadda kommen in den Werken der mittelalterlichen Mystiker und Mystikerinnen wie Rābiʿa al-ʿAdawiyya (gest. 801), Ibn ʿArabī (gest. 1240), Maulānā Rūmī (gest. 1273) und ihrer Nachfolger und Nachfolgerinnen regelmäßig vor. Sie sprechen sogar von der Religion der Liebe (dīn al-ḥubb). So heißt es bei Ibn ʿArabī (1978, S. 67): „Ich folge der Religion der Liebe; welchen Weg die Kamele der Liebe auch einschlagen mögen, dort finde ich meine Religion und meinen Glauben.“ Und der 1772. Doppelvers in Rūmīs Maṯnawī (2012, S. 115) lautet: „Die Religion der Liebe ist anders als alle Religionen; für die Liebenden ist Gott die Religion und das Glaubensbekenntnis“. Auch der indische Mystiker Ḫazrat ʿInāyat Ḫān (gest. 1927) war ein Liebesmystiker. Er beschreibt das Ziel seiner Sufi-Bewegung folgendermaßen (1963, S. 319): Die Verwirklichung und Verbreitung der Erkenntnis der Einheit, der Religion der Liebe und der Weisheit, damit die Vorurteile, die aus den verschiedenen Glaubensanschauungen und Bekenntnissen erwachsen, wie von selbst aufhören, sodaß die Herzen der Menschen von Liebe überströmen und aller Haß, der aus den Unterschieden und Abgrenzungen entstanden ist, ausgerottet wird.

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An anderer Stelle betont er (Ebd., S. 113): Das Gesetz verliert seine Macht, wenn es auf die Liebe trifft: der Strom der Liebe geht darüber hinweg. Als jene Frau, die von allen als Sünderin bezichtigt wurde, vor Christus gebracht wurde, welche Macht stieg da im Herzen des Meisters auf? Nicht das Gesetz, sondern die Liebe, die sich als Gnade und Barmherzigkeit zeigte.

Ein weiterer wichtiger Mystiker, Şefik Can (gest. 2005), wurde nicht müde zu betonen, dass der Weg des Propheten Muhammad in erster Linie kein Weg des Gesetzes (Scharia), sondern der Liebe sei (Can 2006, S. 297 f.). Jedoch geht es diesen Mystikern nicht darum, alle Religionen zu verleugnen oder sogar zu vermischen, oder gar eine neue Weltreligion, nämlich die der Liebe, zu begründen. Es geht ihnen vielmehr darum, zu betonen, dass die Liebe nicht nur das Fundament, sondern auch die Essenz aller Religionen ist.

Islam als pluralistische Religion Es wird oft darüber diskutiert, ob der Islam eher als eine inklusivistische oder als eine pluralistische Religion zu kategorisieren ist. Denn der Islam erkannte im Laufe seiner Geschichte Religionen wie das Christentum, das Judentum, das Zoroastriertum, den Hinduismus, den Buddhismus und sogar manche Naturreligionen als göttlich legitimierte Offenbarungsreligionen an (Toprakyaran 2010). Deshalb wurden die Anhänger dieser Religionen als Schriftbesitzer (ahl al-kitāb) bezeichnet. Auch die biblischen Propheten und Gesandten wie Noah, Abraham, Moses, David oder Jesus wurden anerkannt und müssen ebenso respektiert werden wie Muhammad. In diesem Kontext werden meistens die folgenden Verse zitiert: In der Religion gibt es keinen Zwang … (Koran 2/256). Und wenn dein Herr gewollt hätte (O Muhammad), so würden alle auf der Erde insgesamt gläubig werden. Willst du etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden? (Koran 10/99–100) Und so Gott es wollte, wahrlich, er machte euch zu einer einzigen Gemeinde. Doch will er euch prüfen in dem, was er euch gegeben. Wetteifert darum im Guten. Zu Gott ist eure Heimkehr allzumal. Und er wird euch aufklären, worüber ihr uneins seid (Koran 5/48). (O Muhammad) Wir haben an dich Offenbarungen gesandt, wie wir zuvor Offenbarungen an Noah, und an die ihm folgenden Propheten gesandt haben. Und wir haben

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E. Toprakyaran Offenbarungen gesandt an Abraham, Ismael, Isaak, Jacob und ihren Nachkommen. So auch an Jesus und Hiob und Jonas und Aaron und Salomo; und wir gaben David den Psalter. … und zu Moses sprach Gott unmittelbar (Koran 4/163–164). Siehe, die Gläubigen und die Juden und die Sabäer und die Christen – wer von ihnen an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und das Rechte tut – soll sich nicht fürchten und soll nicht traurig sein (Koran 5/69). Und streitet nicht mit den Schriftbesitzern, es sei denn in der besten Art; außer mit jenen von ihnen, die ungerecht handelten; und sprecht: „Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt wurde und wir glauben an das, was zu euch herabgesandt wurde; und unser Gott und euer Gott ist Einer, und Ihm sind wir ergeben (Koran 29/46).“ Wir erschufen euch … als Nationen und Völker, damit ihr euch untereinander kennenlernt. Der vor Gott am meisten geehrte unter euch ist der Gottesfürchtigste unter euch … (Koran 49/13).

Auch kann zur Untermauerung der These vom pluralistischen Islam argumentiert werden, dass der Prophet Muhammad, als er 622 von Mekka nach Medina floh und dort zum Oberhaupt der gesamten Stadtbevölkerung wurde, einen Vertrag aufsetzen ließ, der den dort ansässigen Juden und vermutlich auch Christen und Polytheisten dieselben Rechte gab, wie den Muslimen. Auch wurden in diesem Vertrag alle Bewohner Medinas als eine einzige Gemeinschaft (umma) bezeichnet. Jedoch macht dieselbe Erzählung auch deutlich, dass der religiöse Pluralismus der frühen Muslime ihre Grenzen, und damit auch inklusivistische und sogar exklusivistische Züge hatte. Denn es gelang nicht, diese multireligiöse Gemeinschaft zu erhalten und nur wenige Jahre später, so die bekannten Erzählungen, arteten die andauernden Rivalitäten zwischen den medinensischen Juden und Muslimen in kriegerische Feindschaft aus. Noch zu Lebzeiten Muhammads sollen manche Juden hingerichtet worden sein; alle anderen mussten Medina verlassen. Auch kam bald die Offenbarung des Koranverses 9/29, wonach jeder Nichtmuslim eine Sondersteuer (ǧizya) entrichten musste, wenn er im Herrschaftsgebiet der Muslime lebte: Bekämpft unter denen, die eine Offenbarungsschrift erhielten, diejenigen, die nicht an Gott und an den Jüngsten Tag glauben, die nicht das verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und die nicht der Religion der Wahrheit angehören, bis sie von ihrem Besitz demütig Tribut entrichten (Koran 9/29).

Auch wenn dieser Vers aus heutiger Perspektive grausam klingt, brachte er in der damaligen Zeit einen menschenrechtlichen Fortschritt, denn erstmals wurde ein religionsgesetzlicher Rahmen dafür geschaffen, dass verschiedene Religionen

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teils nebeneinander und teils sogar miteinander existieren konnten. Zwar mussten Nichtmuslime die Sondersteuer bezahlen, die im Deutschen zumeist als Kopfsteuer bezeichnet wird, doch konnten sie im Gegenzug ihre Religion frei ausleben und hatten sogar eigene zivilrechtliche Instanzen. Vor allem aber bekamen Andersgläubige infragen der Religionsausübung erstmals in der Geschichte Rechtssicherheit. Auch durfte niemand bestraft werden, der die Sondersteuer aus Gründen der Armut nicht bezahlen konnte. Dieser Rechtspraxis ist es geschuldet, dass auf der Iberischen Halbinsel, auf dem Balkan oder auch in Indien, Christen, Juden, Hindus und Buddhisten über Jahrhunderte inmitten islamischer Herrschaftsgebiete relativ friedlich leben und ihre Religion praktizieren konnten. So geht etwa das Millet-System im Osmanischen Reich auf diese frühislamische ǧizya-Praxis zurück. Jedoch sind diese mittelalterlichen Modelle, so fortschrittlich sie damals auch waren, aus heutiger Perspektive defizitär, da sie eine Zwei-Klassen-Gesellschaft schaffen. Deshalb sind Rufe nach einer Wiederbelebung des ǧizya-Modells im besten Fall als naiv zu bezeichnen. Es lässt sich aber dennoch feststellen, dass der Islam ein pluralistisches Potenzial aufweist, das besonders von vielen Mystikern erkannt und geschätzt wurde. Mehrheitlich wurde der Islam aber eher als inklusivistische Religion verstanden. Andere Religionen wurden respektiert und als Gottgegeben betrachtet, wurden aber dem Islam untergeordnet. Nichtmuslime wurden toleriert, sofern sie die Sondersteuer entrichteten.

Der Islam als Vernunftreligion Wichtig in diesem Kontext ist auch, dass der Islam als eine Vernunftreligion gesehen werden kann. Es gibt mehrere hundert Stellen im Koran, die betonen, dass es ohne die Vernunft keinen Glauben geben kann und dass nur vernünftige Menschen die Religion Gottes verstehen können: Diese Offenbarung ist ein Wort an die Menschen, damit sie sich warnen lassen und erkennen, dass es nur einen Gott gibt, und damit sich die Vernünftigen belehren lassen (Koran 14/52). O ihr Leute von Verstand, vielleicht werdet ihr gottesfürchtig (Koran 2/179). So macht euch Gott seine Zeichen klar, auf dass ihr verstehet (Koran 2/242). Siehe, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Wechsel der Nacht und des Tages sind wahrlich Zeichen für die Vernünftigen: Die da Gottes gedenken im Stehen und Sitzen und Liegen; und nachdenken über die Schöpfung (Koran 3/190–191).

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E. Toprakyaran (Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den Menschen verkündet), damit sie sich über Seine Verse Gedanken machen, und damit diejenigen, die Vernunft besitzen, sich mahnen lassen (Koran 38/29).

Laut Koran gibt es sogar Menschen, die auch ohne göttliche Rechtleitung dem Satan widerstehen: Und ohne Gottes Huld gegen euch und seine Barmherzigkeit wäret ihr sicher dem Satan gefolgt; bis auf wenige von euch (Koran 4/84).

Nach Meinung der Philosophen handelt es sich bei diesen Menschen um jene, die durch Einsatz ihrer Vernunft das Rechte vom Unrechten zu unterscheiden lernen; ganz wie der Protagonist des arabischen Romans Ḥayy b. Yaqẓān, der im 12. Jahrhundert von Ibn Ṭufail (gest. 1185; latinisiert Abubacer) geschriebene und 1671 unter dem Titel Philosophus Autodidactus ins Lateinische übersetzt wurde. Es ist bekannt, dass das philosophische Plädoyer für die Autonomie der Vernunft des Ibn Ṭufail jüdische und christliche Denker wie Spinoza (gest. 1677), Leibniz (gest. 1716) oder Rousseau (gest. 1778) stark beeinflusste. Noch zentraler für die europäische Aufklärung und Säkularität war das Werk des Ibn Ṭufail-Schülers Ibn Rušd (1198; latinisiert Averroes), auf den der jüdische und christliche Averroismus zurückgeht, der auch nach dem sogenannten Averroistenstreit an der Sorbonne 1277 weiter blühte und die europäischen Säkularisten beflügelte.

Der Islam als rechtsstaatliche und demokratische Religion Es kann weiterhin argumentiert werden, dass der Islam eine rechtsstaatliche und demokratische Religion ist, da selbst Propheten den Gesetzen untergeordnet sind und das Staatsoberhaupt – zumindest im sunnitischen Islam – durch Wahlen bestimmt werden soll. So soll der Prophet Muhammad vielfach gesagt haben, dass die koranischen und traditionellen Gesetze auch für ihn und seine Familienangehörige gelten. Im Zentrum der frühislamischen Rechtsprechung stand ähnlich wie im Judentum das Vergeltungsgebot: Siehe, Wir haben die Tora hinabgesandt, in der sich eine Rechtleitung und ein Licht befinden, … Und wir haben ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn; und auch für Verwundungen gilt die Wiedervergeltung. Wer aber dies als Almosen erlässt, dem ist es eine Sühne (Koran 5/44–45).

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Gleichzeitig wird aber am Ende des Verses angeboten, dass auf die Vergeltung verzichtet werden soll. Dies erinnert an die Worte von Jesus Christus im Johannes-­ Evangelium (8, 1–11), wonach nur der einen Stein auf die Sünderin werfen soll, der frei von Sünde ist. Jesus verbietet hier nicht die Steinigung, da es dem geltenden jüdischen Recht entspricht, versucht sie aber unmöglich zu machen. In ähnlicher Weise verbietet der Koran die maßvolle Rache bzw. Vergeltung nicht, da es dem geltenden (vermutlich vom Judentum beeinflussten) mekkanischen und medinensischen Recht entspricht, macht aber deutlich, dass es eine fromme Tat ist, darauf zu verzichten. Weitere Hinweise gibt es auch in anderen Versen, die dem Menschen nahelegen, auf die Vergeltung bzw. die Rache zu verzichten: Und wenn ihr euch für eine Ungerechtigkeit rächen wollt, so rächt euch in dem Maße, wie euch Böses zugefügt wurde! Aber wenn ihr euch in Geduld übt (und verzeiht), so ist dies besser für die Geduldigen (Koran 16/126).

Dass der Islam auch demokratisch oder zumindest mit der Demokratie kompatibel ist, kann damit erklärt werden, dass der Prophet Muhammad sich stets mit seinen Gefährten beraten hat und bei seinen Handlungen größten Wert auf die Legitimierung durch die Gemeinschaft legte. Er sah sich nicht als einen absoluten Herrscher oder gar Monarchen an, sondern eher als einen Ersten unter Gleichen (primus inter pares). Selbst in religiösen Fragen galt der Prophet nur dann als absolute Autorität, wenn seine Position durch eine göttliche Botschaft bestätigt wurde. Deshalb gilt nach sunnitischer Mehrheitsmeinung, dass keine bestimmte Staatsordnung vorgegeben wurde. Selbst die Frage, ob das Staatsoberhaupt ein Muslim sein muss bleibt offen. Wichtig ist nach einer Vielzahl von muslimischen Theologen lediglich, dass das Oberhaupt von der Gemeinschaft legitimiert wird, gut und gerecht regiert und sich stets mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft berät. Da sich das islamische Kalifat aber bereits sehr früh in eine Erbmonarchie verwandelt hat, wird der Islam bis heute besonders in der Außenwahrnehmung eher mit der absoluten Monarchie oder gar mit Diktaturen gleichgesetzt. Denn ab dem 5. Kalifen Muʿāwiya (gest. 680) beginnt eine radikale und gewalttätige Instrumentalisierung der Religion. Infolgedessen wird die Erbmonarchie eingeführt, was für den Propheten und seine ersten vier Nachfolger undenkbar gewesen wäre. Die Kalifen führen nun im Gegensatz zu den frühen Muslimen, die ein sehr bescheidenes Leben führten, ein Leben in unermesslichem Luxus und bezeichnen sich als Schatten Gottes auf Erden (ẓill Allâh fī al-arḍ). Als sich ein Enkel Muḥammads, Ḥusain b. ʿĀlī (gest. 680), gegen diese Zustände zur Wehr setzt, werden er und etliche weitere Nachkommen des Propheten im Namen des islamischen

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E. Toprakyaran

Kalifats auf grausame Art hingerichtet. Die Ermordung nahezu aller Nachkommen des Propheten im Namen des Kalifats ist sicherlich das tragischste Ereignis der islamischen Geschichte. Das Kalifat konnte sich nie mehr von dieser folgenreichen Instrumentalisierung befreien bis es dann schließlich durch den Begründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk (gest. 1938), 1924 abgeschafft wurde. In einer Rede Atatürks vom 1. Juli 1927 in der letzten Residenz der mittlerweile Osmanischen Kalifen, dem Dolmabahçe-Palast, heißt es in Anspielung auf den Anspruch, Schatten Gottes zu sein: „Dieser Palast gehört nun nicht mehr den Schatten Gottes, sondern der Wahrheit Gottes, nämlich dem Volk.“.

Der Islam als säkulare Religion Atatürk war ein Kind seiner Zeit und kam wie so viele türkische Militärs aus der jungtürkischen Bewegung, die sich als eine intellektuelle Protestbewegung gegen das Osmanische Sultanat und Kalifat in den letzten Jahrzehnten des Großreichs gebildet hatte. Sie hatten größtenteils ein säkulares Welt- und Religionsverständnis und forderten tief greifende Reformen. In ihren Schriften findet man zahlreiche Stellen, die von der Notwendigkeit einer Erneuerung (taǧdīd), Instandsetzung (islāḥāt), Wiederbelebung (iḥyāʾ) oder auch Erleuchtung im Sinne von Aufklärung (tanwīr/tanawwur) berichten. Unter den Repräsentanten dieser Bewegung befanden sich auch viele Gelehrte wie der höchste Mufti des Reiches, Mūsā Kâẓım Efendi (gest. 1920), oder Bursalı Meḥmed Ṭāhir Bey (gest. 1925), der auch als spiritueller Mentor Atatürks angesehen wird. Entsprechend waren auch jene Personen, die vor und nach der Republiksgründung 1923 im Umfeld Atatürks wirkten, Vertreter eines nicht nur demokratisch-rechtsstaatlichen, sondern auch säkularen Religionsverständnisses (Toprakyaran 2011, S. 2013). Abdülhalim Çelebi (gest. 1925), Rıfat Börekçi (gest. 1941), Fehmi Ülgener (gest. 1943), Remzi Akyürek (gest. 1944), Prof. Mehmet Ali Ayni (gest. 1945), Prof. Şerafettin Yaltkaya (gest. 1947), Kenan Rifai (gest. 1950), Mustafa Saffet Yetkin (gest. 1950), Veled Çelebi (gest. 1953), Hasan Âli Yücel (gest. 1961) sind einige dieser Persönlichkeiten. Auch die sunnitisch-hanafitische Religionsbehörde (Diyanet İşleri Başkanlığı) wurde in diesem säkularen Geist gegründet. Ab 1950 kam es jedoch zu einem Paradigmenwechsel in der türkischen Politik, da sich verschiedene Islamisten (İslamcılar) nach und nach wieder durchsetzen konnten. Es gab aber auch außerhalb des Osmanischen Reiches und der Türkischen Republik Muslime, die ein ähnlich progressives Religionsverständnis hatten. Im Russischen Reich lebten etwa Intellektuelle wie der aserbaidschanische Aufklärer und Schriftsteller Mīrzā Fatḥʿālī Āḫhundzāde (gest. 1878). Er selbst sah sich als

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Erbe einer verborgenen materialistisch-islamischen Tradition. Als seine Vorbilder nannte er den Mystiker Rumi, den Philosophen Averroes und die schiitischen Ismailiten. Noch einflussreicher wurde die Erneuerungsbewegung (Ceditçilik) der muslimischen Tataren auf der Krim und in Tatarstan, deren wichtigster Vertreter der Pädagoge und Politiker Ismail Gasprinski (gest. 1914) war. Ein weiterer bedeutender Vertreter des säkularen Islams war der pakistanische Dichter und Politiker Muḥammad Iqbāl (gest. 1938). In der Gegenwart sind Gelehrte wie der Franco-Algerier Mohammed Arkoun (gest. 2010), der Marokkaner Abdou Filali-Ansary, der Sudanese Abdullahi an-Naim, der Türke İhsan R. Eliaçık die Hauptverstreter des Diskurses vom genuin säkularen Islam. Der frühere Präsident der türkischen Religionsbehörde Ali Bardakoglu verwendet für dasselbe Phänomen bevorzugt den Ausdruck „zivile Religion“. Das Hauptargument für die Säkularität ist die Tatsache, dass es laut dem Koran und der prophetischen Praxis keine hierarchische Kirche und keinen Klerus geben darf. Entsprechend darf es keinen Papst und keine Sündlosigkeit, und auch keine Theokratie geben. Das Kalifat wird rein politisch interpretiert und kann durch ein Parlament und ein gewähltes Oberhaupt ersetzt werden. Auch gibt es im Islam keine Sakramente. Selbst Moscheen, Märtyrer, Imame, Propheten werden nicht als heilig (muqaddas) bezeichnet. Muhammad und alle anderen Propheten sind ganz Mensch, auch wenn sie als besondere Personen gelten. Selbst die Frage, ob das Wort Gottes, nämlich der Koran, heilig genannt werden kann ist umstritten. Deshalb hat es sich etabliert, den Koran nicht als heilig, sondern als nobel, edel, majestätisch (karīm, maǧīd, ʿaẓīm etc.) zu bezeichnen. Als „Heiliges Buch“ (al-kitāb al-muqaddas) wird in der Türkei und in arabischen Ländern nur die Bibel bezeichnet, wohl in Anlehnung an die christliche Tradition. Im Koran hingegen werden lediglich Gott (al-quddūs) und sein Geist (al-rūḥ al-quddūs) als heilig bezeichnet, wobei der Geist Gottes von den meisten Exegeten mit dem Engel Gabriel gleichgesetzt wird. Die einzige Ausnahme bildet das Tuwa-Tal am Berg Sinai, das im Koran ebenfalls als heilig bezeichnet wird. Dass die Stadt Jerusalem nach der Eroberung von den Muslimen als die Heilige (al-Quds) bezeichnet wurde ist außergewöhnlich, da nicht einmal Mekka und Medina zuvor als heilig bezeichnet wurden. Streng theologisch betrachtet sind jedenfalls nur Gott und sein Geist als sakral zu betrachten und die Welt hat nur Anteil am Sakralen, insofern eine Verbindung zu Gott und Geist besteht. Jedoch gibt es in der islamischen Theologie den Begriff des Segens (baraka bzw. faḍl), welcher von Gott herrührt und in einem ständigen Fluss ist. Es gibt gesegnete Menschen, Orte, Zeiten, wobei Gott den Segen jeden Moment „neu verteilt“.

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Aus der Perspektive der säkularen Muslime macht auch die Forderung, dass der Islam eine Trennung zwischen Kirche und Staat brauche, keinen Sinn, da es im Islam keine Kirche gibt. Sinnvollerweise müsste gefordert werden, dass der Islam nicht zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken, wie ab dem Kalifat Muʿāwiyas geschehen, missbraucht werden darf. Keine Person, erst recht kein Politiker oder Machthaber, darf den Islam als sein Monopol betrachten und sich erlauben, andere Menschen im Namen der Religion zu unterdrücken.

Schlussbetrachtungen Im deutschen Islam-Diskurs werden manche Akteure nicht müde, sich selbst als Repräsentanten des echten Islams oder des Mainstreams zu stilisieren. Auch wird von diesen Akteuren stets der Eindruck erweckt, als denke die Mehrheit der Muslime genauso wie sie selbst. Deshalb reden sie gerne auch im Namen „der Community“, „der Basis“ oder gar „des Islams“. Gemeint ist mit echtem Islam aber meistens ein nur vermeintlich traditioneller und hochgradig politisierter Islam. Zugleich lehnen diese Akteure alle Debatten ab, die nach Reformen, nach Erneuerung, nach Ökumene oder auch nach einem Deutschen Islam fragen. In dem vorliegenden Artikel wurde deshalb aufgezeigt, dass es abseits der von den Islamisten propagierten monolithischen Islam-Konstruktionen sehr unterschiedliche Religionsverständnisse und Gottesbilder geben kann. Ein besonderer Fokus wurde auf das Gottesbild jener gelegt, die die Zentralität der Gottesliebe oder die Autonomie der Vernunft betonen. Beiden Gruppen, also den mystisch orientierten Herzensmenschen auf der einen Seite und den philosophisch orientierten Vernunftmenschen auf der anderen Seite, ist gemein, dass sie die willkürlichen Autoritäten, die es in der islamischen Geschichte stets gegeben hat und die es auch heute noch gibt, sehr kritisch betrachteten oder sogar ganz ablehnten. Sie betonen, dass Gott kein ferner Tyrann ist, sondern ein Liebender, der dem Menschen sehr nah ist, wie es an vielen Stellen des Korans ausgesagt wird: Gott liebt die Gutherzigen (Koran 3/134 u. 148). Gott liebt die Geduldigen (Koran 3/146). Gott liebt diejenigen, die Ihm vertrauen (Koran 3/159). Gott liebt die Gerechten (Koran 5/42).

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Auch die Schöpfung ist nicht abgeschlossen und es wird vom Menschen erwartet, dass er sich Gott zuwendet und zugleich die Zeichen Gottes (ayāt Allāh), die nicht auf den Korantext beschränkt sind, erkennt: Ihn (Gott) bittet wer in den Himmeln und auf der Erde ist. Jeden Tag befasst Er sich mit einer Angelegenheit (Koran 55/29). Dein Herr spricht: „Ruft mich an und ich antworte euch (Koran 40/60). Wir werden sie an den Horizonten und in ihnen selbst Unsere Zeichen sehen lassen, bis es ihnen deutlich wird, dass sie (die Offenbarung) die Wahrheit ist. Genügt es denn nicht, dass dein Herr Zeuge über alle Dinge ist? Aber siehe, sie hegen Zweifel über die Begegnung mit ihrem Herrn. Siehe, Er umfasst doch alle Dinge (Koran 41/53 und ähnlich in 51/20).

Nur dann, wenn sich der Mensch seinem Schöpfer zuwendet und sich um Besserung seiner Lage bemüht, wird Gott ihm helfen. Religion lässt also nicht nur Raum für Erneuerung, sondern macht sie zu einer Bedingung: Gott ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist (Koran 13/11).

Deshalb müssen wir all das Negative ändern, was in uns und in unseren Gesellschaften ist. Dies geht nur durch ständige Erneuerung und Reformen; insbesondere solange es Menschen gibt, die die Religion instrumentalisieren. Ein unkritischer Muslim, der sich mit dem zufrieden gibt, was es an althergebrachten Islamverständnissen gibt, ohne all die Warnsignale aus der Gesellschaft und der Natur wahrzunehmen ist demnach kein vorbildlicher Muslim. Denn aktuelle existenzielle Probleme wie der religiöse Fanatismus, der globale Terror, die heftigen Kriege, die große Armut, die vielen Menschenrechtsverletzungen, der immer mächtiger und brutaler auftretende Turbokapitalismus und die verheerende Umweltzerstörung sollten uns Muslime täglich dazu zwingen, uns immer wieder von neuem Gott zuzuwenden und zu fragen, wie wir besser helfen können. Das Bild vom nahen, helfenden, liebenden, barmherzigen und gerechten Gott wird dabei in den Vordergrund geraten und das längst überholte, aber in islamistischen Kreisen immer noch dominierende Bild vom strafenden und zürnenden Gott ersetzen. Doch bis dahin brauchen wir viel Geduld und Durchhaltevermögen; und wenn wir uns nicht vom Pfad der Aufrichtigkeit entfernen, verspricht uns der Koran himmlischen Beistand: Siehe, der Mensch ist wahrlich verloren, außer denen, welche glauben und das Rechte tun und einander zur Wahrheit mahnen und zur Geduld (Koran 103/2–3).

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E. Toprakyaran

Literatur Almond, Ian. 2010. History of Islam in German Thought. From Leibniz to Nietzsche. New York: Routledge. Can, Şefik. 2006. Fundamentals of Rumi´s Thought. A Mevlevi Sufi perspective. Izmir: Tughra Books. Ḫān, Ḥazrat ʿInāyat. 1963. Die Einheit der religiösen Ideale. Weisheit der Sufis. Den Haag: East-West Publications. Henning, Max. 1991. Der Koran. Stuttgart: Reclam. Leggewie, Claus. 1993. Alhambra – Der Islam im Westen. Hamburg: Rowohlt. Mawlānā Ğalāladdīn Rūmī. 2012. Das Maṯnavī. Bd: 2. Norderstedt: Edition Shershir. Mommsen, Katharina. 2001. Goethe und der Islam. Frankfurt a. M.: Insel. Muḥyi´ddîn Ibn Al-`Arabî. 1978. The Tarjumân al-Ashwâq. A collection of mystical odes. London: Theosophical Publishing House. Toprakyaran, Erdal. 2010. The changeability of Islamic principles using the example of pluralism. Religious Pluralism – Islam and Christianity in the 21st Century. Schriftenreihe Studies & Comments der Hanns-Seidel-Stiftung 2:19–24. Toprakyaran, Erdal. 2011. The two faces of the Turkish educator, governor and scholar Mehmet Ali Ayni (1868–1945). International Review of Turkish Studies 3:62–73. Toprakyaran, Erdal. 2013. Islamische Mystik im interreligiösen Dialog: Sind Sufis bessere Gesprächspartner? Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 3 (4): 194–202. Ülken, Hilmi Ziya. 2010. Aşk Ahlakı. Istanbul: Kültür Yayınları.

Die islamische Rezeption der Reformation Assem Hefny

Die islamische Rezeption der Reformation im engeren Sinne beschränkt sich auf den Zeitraum von 1830 bis 1935.1 Die reformatorische bzw. liberale Epoche wird von Albert Hourani in seinem einflussreichen Werk Arabic Thought in the Liberal Age jedoch auf den Zeitraum von 1798 bis 1939 erweitert, der auch als arabische Nahḍa oder Renaissance bezeichnet wird.

Die Rezeption des Begriffs ‚Reformation‘ Die gebräuchliche arabische Bezeichnung für den Begriff ‚Reformation‘ ist iṣlāḥ. Dieses Wort findet sich bereits in der klassischen arabischen Sprache und kommt auch im Koran vor (11:88), wo es ‚Verbesserung‘ bzw. ‚das Gute tun‘ bedeutet. Demnach ist die rein sprachliche Bedeutung von Reformation positiv konnotiert. Die Verbindung von Reformation und Religion kannte die arabische Sprache sowie die arabische Kultur aber erst durch die Begegnung mit der westlich-europäischen Kultur. So bezieht sich der Ausdruck iṣlāḥ dīnī (‚religiöse Reformation‘) zunächst hauptsächlich auf die Reformationsbewegung von Martin Luther im 16. Jahrhundert sowie auf die Spaltung der Kirche und die Entstehung des Protestantismus.

1Vgl. Al-Sayyid

(2015, S. 99).

A. Hefny (*)  Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_4

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A. Hefny

Während der arabischen Nahḍa, der sogenannten arabischen Renaissance im langen 19. Jahrhundert, lassen sich mehrere Hinweise finden, dass der christlich geprägte Begriff ‚religiöse Reformation‘ bei Muslimen eine positive Konnotation hatte. Er wurde, genau wie der Begriff ‚Renaissance‘, aus der westlich-europäischen Kultur aufgenommen und fand als Lehnübersetzung mit dem Wort iṣlāḥ eine weitgehend adäquate Wiedergabe. So beschreibt der ehemalige Großscheich der Azhar und einer der ersten bekannten modernen Professoren der Philosophen mit theologischem Hintergrund Muṣṭafā ʿAbdarraāziq (gest. 1947) die Aktivitäten seines Lehrers Muḥammad ʿAbduh folgendermaßen: Danach befasste sich der Lehrer [d.h. ʿAbduh] mit einer Art der religiösen Reformation, woran er zeit seines reformatorischen Lebens interessiert war (ʿAbdarrāziq 1997, S. 102).

Ferner benutzt der bekannteste und treueste Schüler ʿAbduhs, nämlich Muḥammad Rašīd Riḍā (gest. 1935) trotz seiner salafistischen Orientierung den Ausdruck ‚religiöse Reformation‘ im positiven Sinne, indem er seine Bedeutung für die Großgelehrten und Reformer Ǧamāladdīn al-Afġānī (gest. 1897) und ʿAbduh herausstellt: Die religiöse Reformation, für die beide Großgelehrten plädierten, ist die Rückkehr des Islams zu seinem Zustand zur Zeit des Propheten (Eulogie) und seiner Gefährten (Eulogie) bevor es zu Häresien und Abspaltungen kam (Riḍā 2012, S. 317).

Das Ende der Nahḍa lässt sich u.a. mit den arabisch-islamischen Niederlagen (1948/1967) sowie mit dem Scheitern des Panarabismus in Verbindung bringen. Auf die Nahḍa folgte eine Zeit der Ideologien, in der die Begriffe und Konzepte der Renaissance und Reformation keine Rolle mehr spielten.2 Im Zuge der sogenannten Reislamisierung, der Entstehung des Fundamentalismus und der Ausbreitung des ‚politischen Islams‘, wurde der Begriff ‚Reformation‘ häufig negativ konnotiert, da er mit dem kolonialistischen, verhassten Westen in Verbindung gebracht wurde. Selbst wenn Islamisten mit der Tatsache konfrontiert werden, dass viele Aspekte des Religionsverständnisses einer ‚Reformation‘ oder Reformierung bedürfen, vermeiden sie den westlich-christlich konnotierten Begriff ‚Reformation‘ und machen stattdessen vom arabisch-islamischen Begriff taǧdīd (‚Erneuerung‘) Gebrauch. Bevorzugt wird taǧdīd sowohl aus theologischen als

2Vgl.

al-Ḥaddād (2016, S. 19).

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auch pragmatischen Gründen. Einerseits wurde taǧdīd vom Propheten Muhammad in einem positiven Kontext erwähnt, nämlich in einem Hadith, das besagt, Gott schicke der islamischen Umma (‚Gemeinde‘) jedes Jahrhundert einen Erneuerer der Religion.3 Andererseits eignet sich der Begriff taǧdīd gut zur Manipulation. Anders als der Begriff iṣlāḥ (‚Reformation‘), der (im arabischen Kontext) eine grundlegende Veränderung suggeriert, scheint der Begriff taǧdīd m.E. eine Beibehaltung des Alten zu erlauben, was Traditionalisten bzw. Salafisten zugutekommen würde. So könnten sie die heiligen Texte wortwörtlich auslegen und sich trotzdem als Erneuerer (muǧaddidūn) bezeichnen, wie es etwa beim Wahhabismus der Fall ist.4

Reformatorische Bewegungen Ein näherer Blick auf die moderne, arabisch-islamische Geschichte zeigt, dass viele Ideen, die nicht auf arabisch-islamischem Boden entstanden sind, häufig Schwierigkeiten bei der Rezeption mit sich bringen. Das liegt m.E. in den Versuchen begründet, diese Ideen entweder ohne Änderungen in die eigene arabisch-islamische Kultur zu implantieren oder sie aber gänzlich zu islamisieren bzw. zu arabisieren. Zu diesen Ideen gehört u.a. die Reformation. Der Begriff ‚Reformation‘ wird unterschiedlich, ja sogar widersprüchlich verstanden und gebraucht. So werden beispielsweise traditionelle Bewegungen wie der Wahhabismus im heutigen Saudi-Arabien als reformatorisch bezeichnet. Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb (gest. 1792), nach dem der Wahhabismus benannt ist, verstand die Rückbesinnung auf den Ursprung äußerst selektiv, indem er fast ausschließlich das Gedankengut von Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 855) und Aḥmad b. Taimiyya (gest. 1328) in Form einer Nachahmung (taqlīd) wieder aufgriff. Hier wird die Bedeutung der Reformation auf die ‚Reinigung‘ (taṭhīr) der Religion von scheinbar häretischen Elemente reduziert, selbst wenn diese Elemente rational betrachtet dem Wohl des Menschen dienen. Aus einer solchen Perspektive lassen sich moderne Werte wie die Gleichstellung der Geschlechter oder Freiheit des Denkens und Glaubens als Häresien verstehen, die es zu bekämpfen gilt.

3Vgl.

die diesbezügliche Prophetenüberlieferung bei Abū Dāwūd, Nr. 4291. es in diesem Aufsatz um die Reformierung im islamisch-religiösen Bereich geht, wird der christlich geprägte Begriff Reformation auch in Bezug auf islamische Seite Verwendung finden.

4Da

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Im Gegensatz dazu wird der Begriff ‚Reformation‘ im klassischen Sinne mit Bewegungen in Verbindung gebracht, die traditionell-religiöse Denkstrukturen durch Rationalität zu reformieren versuchen. Hier sind die Denker und Gelehrten der der arabischen Nahḍa zu nennen. So bezog sich beispielsweise der ägyptische Gelehrte Muḥammad ʿAbduh auf den Ursprung, d. h. auf den Koran und die authentischen Überlieferungen der Sunna, die er durch eine eigenständige Urteilsbemühung (iǧtihād) jenseits der Nachahmung (taqlīd) auf eine zeitgemäße Art und Weise zu interpretieren versuchte. Er war nicht von den Ansichten bestimmter Gelehrter abhängig und offen gegenüber der westlich-europäischen Kultur. Auch hier kann von Reinigung (taṭhīr) die Rede sein, jedoch dient diese einem ganz anderen Ziel. Man könnte in diesem Zusammenhang tentativ von einer Rückwärts- und Vorwärts-Reformation sprechen. Die Rückwärts-Reformation strebt eine Art Wiederbelebung des Stammeszugehörigkeitsgefühls (ʿaṣabīya) mithilfe der Religion an, um politische Interessen auf der Arabischen Halbinsel zu verwirklichen. Hier wird von der mobilisierenden und ideologischen Kraft der Religion Gebrauch gemacht. Die Vorwärts-Reformation nimmt die Rationalität als Grundlage der Reformation und bemüht sich, die Religion dem Zeitgeist anzupassen. Aus diesem Grund ist es meiner Ansicht nach unangebracht, die rückwärtsgewandte Wiederbelebung als eine Reformation im Wesentlichen Sinne zu betrachten. Allerdings dürfen die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründe der arabischen Reformer sowie ihre unterschiedlichen Denktraditionen nicht unerwähnt bleiben, die maßgeblich das jeweilige Verständnis der Reformation waren. Zugleich galt den arabischen Reformern das islamische Kulturerbe (turāṯ) als Basis für ihre Reformation, da sie darin eine Legitimation für neue Gedanken sahen. So hat etwa der Ägypter Rifāʿa al-Ṭahṭāwī (gest. 1873) die in der französischen Verfassung und im politischen System verankerte Freiheit als Gerechtigkeit (ʿadl) bezeichnet und definiert, nicht nur, weil ihm für ‚Freiheit‘ kein adäquater Begriff in der arabischen Sprache zur Verfügung stand, sondern auch, um das moderne Konzept der Freiheit innerhalb des islamischen Kulturerbes zu verankern.5 Da das Gedankengut von Muḥammad ʿAbduh Ähnlichkeiten mit dem von Martin Luther hat, gilt er häufig als Paradebeispiel für die positive islamische Rezeption der Reformation, vor allem in der Zeit der arabischen Nahḍa.

5Vgl.

al-Ḥaddād (2016, S. 102).

Die islamische Rezeption der Reformation

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Die Notwendigkeit einer Reformation des Islams Eine Erneuerung des islamischen Religionsverständnisses scheint heutzutage überfällig zu sein. Aufgrund von mehreren aktuellen Ereignissen sehen sich Muslime gezwungen, ihr religiöses Gedankengut zu reformieren. Exemplarisch seien hier die Ereignisse vom 11. September 2001 zu erwähnen, die bewirkt haben, dass der Islam und die Muslime im Westen generell mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden. Ferner führte das Scheitern des sogenannten Arabischen Frühlings sowie das Versagen des politischen Islams, ein harmonisches Zusammenspiel von Islam und Politik zu finden, zur Entstehung radikaler bis terroristischer Organisationen, die mit den Regimen nicht zusammenarbeiten wollten und daher politisch ausgeschlossen worden sind, wie dem sogenannten Islamische Staat (IS). Dies alles wirft die Frage nach einer Reformation des Islams mit neuer Dringlichkeit auf. Der Aufstieg des ‚Islamischen Staates‘ sollte ein Weckruf für alle Muslime auf der Welt sein. Muslime, die den IS als unislamisch bezeichnen und lediglich darauf verweisen, dass er nicht den ‚wahren‘ Islam vertrete, können dadurch nicht verhindern, dass sich andere Muslime mit dem Islamverständnis der Dschihadisten identifizieren.6 Zweifelsohne gibt in Europa viele Muslime, darunter Konservative und Konvertierten, die die humanistische Motivation einer islamischen Aufklärung vehement ablehnen. Für sie ist der Islam nicht reformierbar, denn der Koran gilt ihnen als unveränderbares Gotteswort. Um gegen diese Auffassung anzugehen, bedarf es einer grundlegenden Reformation des religiösen Denkens. Dabei gilt es vor allem, den Muslimen eine kritische, aufklärerische Bildung zukommen zu lassen, die sie gegen die Gefahren des religiösen Extremismus schützt. Mit anderen Worten: Die Reformation des religiösen Denkens muss im Bildungssektor stattfinden und hier schon sehr früh ansetzen, d.h. bereits in der Grundschule, bei religiösen Kinderbüchern, und bis hin zur höchsten Form der theologischen Bildung reichen.

Martin Luther im muslimischen Diskurs Muḥammad ʿAbduh, der Europa Ende des 19. Jahrhunderts kennen lernte, sah als erster Reformer eine gewisse Nähe zwischen Islam und reformatorischen Christentum. Zwischen beiden gebe es, bis auf die Anerkennung des Propheten

6Vgl.

Khatib (23.02.2016).

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Muḥammad, viele Gemeinsamkeiten, die vor allem im Kontrast zu katholischen Glaubensauffassung deutlich würden: Beide haben, laut ʿAbduh, ein positiveres Verhältnis zur Welt aufgrund ihrer Vorstellung von Ehe, Familie, Freude und Arbeit, und in beiden haben die Gläubigen einen direkten Bezug zu Gott, der ohne Mittler oder Klerus auskommt. Reformatorisches Christentum und Islam räumen dem Wort Gottes bzw. der heiligen Schrift eine zentrale Stellung ein, und auch hier gibt es keine Mittlerfunktion, sondern jeder Einzelne besitzt das Recht zu einer eigenständigen Auslegung (iǧtihād), während beide zugleich religiöse Mythen, wie etwa die Eucharistie, kritisieren. Durch diese ‚rationalere‘ Grundhaltung ergeben sich gewisse Ähnlichkeiten zwischen Protestantismus und Islam (Paulus 2007). ʿAbduh sah im reformierten Europa den Geist des Islams. Im Westen habe er einen Islam ohne Muslime gesehen, so sagte er in einem berühmten Bonmot, und in den islamisch geprägten Ländern Muslime ohne Islam. Diese positive Rezeption der Reformation ließ einflussreiche muslimische Gelehrte, wie Muḥammad Abū Zahra (gest. 1974), davon ausgehen, Luther sei vom Islam beeinflusst worden. In einer Abhandlung über das Christentum weist er auf einen islamischen Geist in der Reformation hin. Er geht aber nicht von einem direkten islamischen Einfluss aus, sondern ist vielmehr der Meinung, islamische Auffassungen seien in die europäische Geschichte des Mittelalters eingegangen: Schon in der Zeit der ‚Alten Kirche‘ sei die Kirche auf einen falschen Weg gekommen und zwar aufgrund der Zwei-Naturenlehre Christi, die Abū Zahra als Lehre von der „Gottheit Christi“ bezeichnet. Außerdem geht er von der Dekadenz der katholischen Kirche im Mittelalter aus, die letztendlich zur Reformation geführt habe. Abū Zahra vertritt weiterhin die Auffassung, die Reformation sei dem Geist des Islams so nah, dass eine ‚vollständige‘ christliche Reformation zwangsläufig zum Islam geführt hätte. In dem Maße, wie die Reformation die kirchliche Macht zurückwies und die einzige Autorität in der Bibel und v. a. im Evangelium sah, hätte sie auch die Beschlüsse sämtlicher Konzilen zurückweisen oder sie an der Heiligen Schrift überprüfen müssen. Weil das aber nicht geschehen sei und somit das Dogma von Jesus als Gottes Sohn auch in der evangelischen Kirche noch Bestand habe, bleibe die evangelische Reformation unvollständig. Eine vollständige Reformation aber, die sich auch dieses Mythos‘ entledige, würde zwangsläufig in den Islam münden (Abū Zahra 1961, S. 160 f.).

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ʿAbduh und Luther: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ʿAbduh entwickelte ein Konzept von Reformation, das zu einem gewissen Grad seine Erfahrung mit der europäischen Reformation widerspiegelte. In diesem Zusammenhang lassen sich wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ʿAbduh und Luther herausstellen: • Beide waren sich über ein entscheidendes Prinzip reformatorischer Methodik einig: Jede Reformation beginne mit einer tiefgehenden hermeneutischen Auseinandersetzung mit dem religiösen Text. Für ʿAbduh kann die zeitgemäße Lesart eines religiösen Textes diesen mit der Moderne vereinbaren und ihn andererseits von der politischen Macht befreien, die den religiösen Text oft für ihre Interessen missbraucht. • Luther schlug entschlossen den Weg der Reformation ein und suchte die direkte Konfrontation mit der katholischen Kirche, da sie zu seiner Zeit die religiöse Autorität und Macht besaß. ʿAbduh hingen konnte eine solche Auseinandersetzung nicht führen, da es im Islam kein Papsttum gibt, d. h. keine zentrale Autorität und Macht, gegen das er antreten konnte. Er war vielmehr mit dem traditionellen religiösen Denken und traditionelle Lehrinstitutionen, wie der Azhar-Universität in Kairo, konfrontiert, die einer Reform bedurften und ohne deren Autorität und Macht keine Änderung möglich war. Bei ʿAbduh nahm der lutherische Kampf gegen die Kirche also die Form einer Kritik an der Azhar-Universität und -Schulen an. Um diese Bildung mit ihrem traditionellen Kurrikulum und rückständigen Lehrmethoden zu ändern, war ʿAbduh gezwungen, mit den religiösen Institutionen zusammen zu arbeiten, was einer konsequenten Reformation im Wege stand. • Die historische Situation in Europa leistete Luthers reformatorischen Gedanken große Unterstützung, da die Kräfte der Renaissance und Aufklärung im Vormarsch waren und Luthers Reformation den Weg ebneten. Im Gegensatz dazu begann ʿAbduh sein reformatorisches Projekt in einer Zeit, als die arabische Renaissance dem Ende zuging. Nach ʿAbduh wurde die Reformation nicht weitergeführt, stattdessen entstanden Ideologien, unter deren Konsequenzen die arabische Welt bis heute leidet.7

7Vgl.

Tīzīnī (15.02.2005).

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• ʿAbduh erklärte mehrmals, dass der Islam mit der westlichen reformatorisch geprägten Kultur im Einklang stehe. Nach Muḥammad ʿImāra, dem Herausgeber von ʿAbduhs Gesamtwerk, vertrat ʿAbduh die Ansicht, der Islam wie das Christentum bestünden lediglich aus allgemeinen Richtlinien, die die Menschen für die Herrschaft und Gesellschaft zu Hilfe nehmen müssen. Da der Islam hierfür keine detaillierten Gesetze erlassen habe, sei es die Aufgabe des Menschen, mithilfe ihrer Erfahrung und ihres Verstandes aus den allgemeinen Prinzipien konkretere Bestimmungen und Vorschriften abzuleiten. Darüber hinaus vertritt ʿAbduh die Ansicht, der Islam trenne Religion und Staat: „Der Islam ist gegen die Zusammenfügung sowie die Vereinigung der religiösen Macht mit der politischen Macht. Die Wiedervereinigung beider Mächte ist das, woran die Päpste und deren unterstützenden Anhänger des Katholizismus arbeiten“ (ʿImāra 2006, Bd 2, S. 171). Nach ʿImāra bezieht sich ʿAbduh mit dieser Ansicht auf die Ereignisse im mittelalterlichen Europa. Damals nahmen die Könige die Kirche als Vertreter Gottes zu Hilfe, um die Völker zu beherrschen. Die Gebildeten begehrten daraufhin gegen Kirche und Klerus auf und trennten die Religion vom Staat. So entstand eine westliche säkulare Kultur, die später, v. a. durch die industrielle Revolution, dem Westen einen schnellen Fortschritt in Wissenschaft und Technik ermöglichte. Diese Entwicklung, so ʿImāra, darf man allerdings nicht auf den Islam übertragen. Denn im Islam gebe es keine Kleriker, die Gott auf der Erde vertreten, sondern nur islamische Religions- und Rechtsgelehrte, deren Meinungen anzunehmen bzw. abzulehnen sind, je nach dem, wie weit sie auf koranischen und prophetischen Beweisen basieren. Darüber hinaus habe der Westen wegen der Kirche, die gegen die freie Wissenschaft war, lange Zeit im Dunkeln gelebt, während die Muslime in derselben Zeit die Welt durch zahlreiche wissenschaftliche Entdeckungen, etwa auf dem Gebiet der Medizin und Chemie, bereicherten. Nicht zuletzt bestehe der Islam, so ʿImāra, nicht aus unverbindlichen moralischen Regeln, sondern verfüge über ein systematisches Regelwerk, das über allgemeine Anweisungen und ausführliche Bestimmungen verfüge, die in der Gesellschaft zu beachten seien.8 Obwohl ʿImāra Recht hat, dass der Islam weder Klerus noch Papst kennt, lässt er allerdings unerwähnt, dass ein Kalif als Vertreter Gottes auf Erden galt und somit einem Papst sehr ähnlich war. Die Nachfolgerschaft als Aufgabe des Menschen, der als Vertreter Gottes auf Erden betrachtet wird, hat sich, allem

8Ausführlich

dazu vgl. ʿImāra (2006, Bd. 1, S. 105–119).

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Anschein nach, auf den Machtinhaber, und damit den Kalifen, übertragen.9 Obwohl der erste Kalif Abū Bakr (gest. 634) den Titel ‚Vertreter Gottes‘ (ḫalifat Allāh) abgelehnte und sich nur ‚Nachfolger des Propheten Gottes‘ (ḫalīfat rasūl Allāh) hat nennen lassen, benutzt ihn der dritte Kalif ʿUṯmān b. ʿAffān (gest. 656) in einem Brief an die Pilger, den ʿAbdallāh b. ʿAbbās (gest. 688) auf seinen Auftrag hin überbrachte. Als Reaktion auf die Forderung vieler Muslime, dass ‘Uṯmān u.a. wegen seiner Vetternwirtschaft von seinem Amt zurücktreten müsse, sagte er: In Bezug darauf, dass ich mich von der Herrschaft lossagen soll, so ist mir lieber, gefesselt zu werden als mich von der Arbeit Gottes und dessen Nachfolgerschaft loszusagen (al-Ṭabarī 1992, S. 499).

Ausgehend von seinem Glauben, dass er als Kalif der Vertreter/Nachfolger Gottes sei, war ‘Uṯmān anscheinend der Auffassung, dass ihm gehorcht werden müsse. Folglich lehnte er ab, auf das Kalifat zu verzichten, insbesondere weil er es als Gottes Vorherbestimmung betrachtete, dass er das Kalifat übernommen hatte. Er verglich es mit einem Gewand, das ihm Gott angezogen habe. Hätte er dieses Gewand ausgezogen, d. h. auf das Kalifat verzichtet, wäre dies seiner Ansicht nach eine Ablehnung der Vorherbestimmung Gottes gewesen, was ihm als Unglaube gegolten hätte. Aus dem Grund, dass der Kalif von Muslimen für einen Vertreter/Nachfolger Gottes gehalten wurde, war es logisch, ihn als Gottes Schatten auf Erden zu bezeichnen. Diese Ansicht führte zwangsläufig zu einer quasi heiligen Stellung des Kalifen und des Kalifats.10 In diesem Sinne besteht der Unterschied zwischen Christentum und Islam in Bezug auf den Klerus und dessen religiöse und politische Macht eher in der Theorie und weniger in der Wirklichkeit.11

9Al-Azmeh

weist darauf hin, dass sowohl mit den göttlichen Eigenschaften wie Einheit und Macht die Autorität der Könige (Kalifen) anschaulich gemacht wurde als auch „diese Eigenschaften den königlichen Autoritäten zukamen“ (Al-Azmeh 1996, S. 64). 10Der säkular orientierte ägyptische Farağ Fūda, der wegen seiner scharfen Kritik an den Islamisten im Jahre 1992 ermordet wurde, sieht in der zitierten Aussage ‘Uṯmāns einen Beweis dafür, dass die Theorie der Herrschaft im Namen Gottes ihren Ursprung in der islamischen Geschichte hat. Diese Ansicht hat al-Qaraḍāwī zu widerlegen versucht. (Vgl. al-Qaraḍāwī 2007, S. 65 ff.). 11Dazu ausführlich Hefny (2014, S. 84–89; 147–151; 206 f.).

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Hindernisse der islamischen Reformation Der tunesische Islamwissenschaftler Muḥammad al-Ḥaddād sieht viele Hindernisse aus dem Weg zu einer islamischen Reformation. Einerseits beharren viele Muslime auf der Einzigartigkeit des Islams, sodass er nicht mit anderen Religionen und deren Geschichte verglichen werden kann und daher auch keiner Reformation bedürfe. Andererseits beharren die Scheinmodernisten darauf, dass die Religion an sich keine Rolle in der Moderne spiele, dass sie zu einer reinen Privatsache geworden sei. Dieser Auffassung widerspricht jedoch die Realität der arabisch-islamischen Welt und führt ferner zu einer Ablehnung aller modernistisch orientierten Denker und deren Meinungen. Viele gläubige oder säkulare Christen vertreten eine ähnliche Haltung, da sie nicht akzeptieren, das Christentum mit anderen Religionen gleichzusetzen. Sie glauben im Inneren – selbst wenn sie eigentlich säkular eingestellt sind –, dass das Christentum die erhabenste Religion sei.12 Diese und weitere Gründe führen zum Scheitern einer islamischen Reformation und leisten der Reislamisierung Vorschub.

Das Scheitern der Reformation zugunsten der Reislamisierung Abdel-Hakim Ourghi beschreibt das Scheitern der islamischen Reform zugunsten der sogenannten Reislamisierung zutreffend, wenn er sagt: „Die ‚Vorreformbewegung‘ zur Erneuerung des Islams, die sich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert fast überall in der islamischen Welt zu Wort meldete, war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Reformer, die eine Rückkehr zu den Lehren des ‚­reinen‘ Islams des siebten Jahrhunderts predigten, wie etwa Ǧamāladdīn al-Afġānī (1838–1897), Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) und Muḥammad Rašīd Riḍā (1865–1935), waren nicht in der Lage, die Traumata zu heilen, die durch den Zusammenprall mit der westlichen Moderne verursacht worden waren“ (Ourghi 27.08.2016). Meiner Ansicht nach fehlte dieser Islamreform „der Geist der kritischen Vernunft“ nicht, wie Ourghi meint. Vielmehr fehlte es ihr an institutioneller Unterstützung, die die individuellen Reformbemühungen auf eine breite Basis hätte stellen können. Als Gegenbewegung dazu konnte man ein sogenanntes „Erwachen des Islams“ (ṣaḥwat al-Islām, bekannt als al-ṣaḥwa al-islāmiyya)

12Vgl.

al-Ḥaddād (2016, S. 32 f.).

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bemerken, eine Strömung, die die westliche Kultur und deren Werte vehement ablehnte. Folglich wurden die Erben dieser Reformbewegung, wie etwa der Begründer der Muslimbruderschaft Ḥasan al-Bannāʾ (1906–1949) und der Theoretiker des aktivistischen Islams Sayyid Quṭb (1906–1966), Gründungsväter neofundamentalistischer Bewegungen. (Vgl. ebd.) Es sei hier zu erwähnen, dass das gezielte Ausarbeiten konkreter Reformen, die in eine Reformation münden, nicht staatlich gesteuert werden darf, da sie sonst Gefahr laufen, den Interessen der Herrschaft zu dienen. In diesem Sinne sind Reformforderungen des ägyptischen Präsidenten an die Azhar-Lehrinstitutionen zum Scheitern verurteilt, die sie eine gezielte, rein religiöse Reform verlangen, die aber nicht die staatliche Politik und das Herrschaftssystem infrage stellen darf. Obwohl die unterstützende Rolle der Herrscher für die Reform von entscheidender Bedeutung ist, könnte sie aber kontraproduktiv sein, wenn sie den Reformern nicht die nötige Freiheit lässt. Eine gelungene Reform muss sich sowohl auf das Religiöse als auch das Politische beziehen. Hier meint der Islamwissenschaftler und Journalist Loay Mudhoon zu Recht: „Ohne politische Freiheiten ist eine umfassende religiöse Reform nicht möglich“ (Mudhoon 11.06.2016).

„Pluralität der Lesarten ist der Schlüssel zu Reformen“ Nach Mudhoon sind pluralistische Lesarten der Schlüssel zu Reformen. Hierbei nimmt er den renommierten iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush als Beispiel. Soroush betont in seinen Schriften die Wandelbarkeit religiöser Erkenntnis. Seiner Ansicht nach kann es keine überall und jederzeit gültige „Islamversion“ geben. In den Worten Soroushs: „Ich vergleiche das mit einem Fluss. Der Prophet war nur die Quelle des Flusses. Die gesamte islamische Tradition ist der Fluss. Sie fließt Richtung Ewigkeit. Wir sind ein bestimmter Abschnitt des Flusses; die nächste Generation wird ein anderer Abschnitt sein. Wir sollten niemals annehmen, dass Religion ein stehendes Gewässer ist. Sie ist wie ein fließender Fluss“13 (Mudhoon 23.05.2016). Wissenschaftlich betrachtet ist die Unterscheidung zwischen dem Text und dem, was seine Interpreten daraus machen, nicht unproblematisch. Der Text spricht nicht für sich und setzt sich nicht selbst in die Praxis um, sondern der

13Die

Zitate beziehen sich auf Soroush (2000).

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Mensch tut dies gemäß seinem Textverständnis. Vom vierten Kalifen ʿAlī (gest. 661) ist der berühmte Ausspruch überliefert, der exemplarisch für einen solchen interpretationsbasierten Ansatz steht: „Der Koran ist zwischen zwei Buchdeckeln, er spricht nicht; von den Menschen wird er zum Sprechen gebracht“ (al-Ṭabarī 1979, S. 48 f., 66). Das bedeutet, der Text ist nicht offenbart worden, um isoliert von der Realität zu existieren. Vielmehr tritt er in eine Interaktion mit ihr, wobei dem Menschen die Vermittlerrolle zukommt. Je stärker bei diesem ein tolerantes Bewusstsein heranreift, desto mehr tritt auch die dem Text immanente Toleranz in Erscheinung. Und je weniger er sich der Würde und der Ebenbürtigkeit aller Menschen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit bewusst ist, desto einseitiger und intoleranter wird sein Verständnis des Textes sein (Hefny 03.05.2017). In diesem Zusammenhang scheint die Unterscheidung zwischen dem Unwandelbaren und Wandelbaren in der islamischen Religion unabdingbar zu sein. Hierbei spricht Soroush von Wandelbarkeit religiöser Erkenntnisse und versteht den Islam als eine Serie von Interpretationen. Nach Ansicht vieler muslimischer Religions- und Rechtsgelehrten umfasst das Unwandelbare die moralischen und religiösen Werte, während sich das Wandelbare auf weltliche und wissenschaftliche Angelegenheiten bezieht. Demnach unterliegt das religiöse Denken in Bezug auf die Regelung des menschlichen Lebens sowie der Verhältnis zwischen Religion zu Politik dem menschlichen Verstand, der es im Sinne des Menschenwohls reformieren kann.14

Versöhnung des Islam mit der Moderne Zur Versöhnung des Islam und seiner ethischen Normen mit der Moderne sowie mit den Errungenschaften und Realitäten des modernen Verfassungsstaats scheint die Rolle der europäischen Muslime von großer Bedeutung zu sein. Hier meint Mudhoon zu Recht, dass diese frei von Repression neue Reformideen entwickeln können. „Dabei sollte es weniger darum gehen, bestimmte liberale oder humanistische „Islam-Versionen“ zu privilegieren. Wichtiger wäre es, dafür zu sorgen, dass plurale Islam-Verständnisse und Zugänge an den Zentren für Islamische Theologie an den deutschen Universitäten die Norm sein würden“ (Mudhoon 11.06.2016).

14Ausführlich

zur Problematik des Wandelbaren und Unwandelbaren im Islam vgl. Krämer (1999, S. 53 f.), Krämer (1993, S. 209–227), Hefny (2014, S. 118–121).

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Teil II Islam und Politik

Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung Martin Riexinger

Diktatorische Regime in der islamischen Welt, islamistische Terroranschläge und die Verlautbarungen von islamistischen Predigern und Organisationen werfen für viele Zeitgenossen im Westen die Frage auf, ob „der Islam“ mit Demokratie und Rechtsstaat vereinbar sei. Abhängig von weltanschaulichem Standpunkt und Vorwissen, wird diese Frage dann kategorisch verneint, bejaht oder es wird gar deren Legitimität bestritten. Hier soll die Frage nicht geklärt werden, weil dies so gar nicht möglich ist. Die Debatte über diese Problematik krankt zunächst nämlich daran, dass verschiedene Aspekte nicht auseinandergehalten werden, denn diese pauschale Frage impliziert Probleme auf drei verschiedene Ebenen: • Die normative, also die Frage, was sein soll. • Die historische und religionssoziologische Ebene, die also die Frage nach der Erklärung des gegenwärtigen Zustands. • Die handlungsorientierte Ebene, die dazu beitragen sollen, Lösungen zu erarbeiten, oder – was zunächst einmal wichtiger wäre, den möglichen Rahmen des Handelns auszuleuchten. Mithin die Frage, was sein kann oder realistisch erwartet werden darf. Im Rahmen der akademischen Arbeitsteilung wird verschiedenen Disziplinen die Kompetenz zugesprochen, einzelne dieser Fragen beantworten zu können. An einer Beantwortung der normativen Frage, also einer Begründung von Demokratie und Rechtsstaat werde ich mich hier nicht versuchen. Dass beide – in Kombination – erstrebenswert sind setze ich for the sake of argument voraus. M. Riexinger (*)  Institut for Kultur og Samfund, Aarhus Universitet, Aarhus C, Dänemark © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_5

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Stattdessen werde ich mich auf die als Islam- und Religionswissenschaftler auf die letzten beiden Fragen konzentrieren. Das setzt allerdings zum einen voraus, dass die von den Diskutanten geteilte Idee, Demokratie und Rechtsstaat seien erstrebenswert, keine Universalie ist. Zum anderen kommt man nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass beide Konzepte nicht notwendigerweise verknüpft sind.

„Der“ Islam: Ursache des Demokratiedefizits in der islamischen Welt? Ein Demokratiedefizit in der islamischen Welt lässt sich nicht bestreiten. Mit der kleinen, recht neuen und noch dazu instabilen positiven Ausnahme Tunesiens findet sich unter allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens kein Land, das alle Kriterien einer funktionierenden liberalen Demokratie aufweist (Hamid 2014, S. 190–205). Mit Platzierungen im Mittelfeld folgen einige der arabischen Monarchien, deren Verfassungen mit einem gewählten Parlament aber einer vom Monarchen ernannten Regierungen dem deutschen Kaiserreich ähneln, sowie Algerien, wo die alte Parteiaristokratie weiterregiert, inzwischen aber Oppositionsparteien zugelassen sind. Am unteren Ende der Skala befinden sich die iranische Theokratie, Monarchien ohne gewählte Kontrollorgane wie Saudi-Arabien und Oman, in Syrien bekämpft die letzte verbliebene Einparteiendiktatur auf brutalste Weise die inzwischen von Islamisten dominierte Opposition. Der von den amerikanischen Neokonservativen angekündigte Ausbau des Irak zur Musterdemokratie ist gescheitert, da sich statt Debatten über Sachfragen, ein Kampf der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen um die Vorherrschaft im Staate ergeben hat (Haddad 2011, S. 143–204). Ähnliches ereignete sich im seit den 1990er Jahren relativ pluralistischen Jemen (Clausen 2015a, b), im religiös eher homogenen Libyen kämpfen seit dem Sturz Ghaddafis Stämme um die Macht. Dem Modell Tunesien stehen die viel bevölkerungsreicheren Beispiele Türkei und Ägypten gegenüber. In der Türkei verfügt Recep Tayyip Erdoğan, der mit der Behauptung aufgetreten war, ein konservativ islamisches Gegenstück zur Christdemokratie zu vertreten, zwar über eine breite Unterstützung durch die Bevölkerungsmehrheit. Doch hebelt er seit 2008, und erst recht seit dem Putschversuch vom 27.07.2016, systematisch Freiheitsrechte und Gewaltenteilung aus. In Ägypten führte das demokratische Experiment im Gefolge des „Arabischen Frühlings“ zu einem Wahlsieg der Muslimbrüder unter der Führung von Muḥammad Mursī. Die Verängstigung säkularer Kreise nutzte der General

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ʿAbdalfattāḥ al-Sīsī um gegen Mursī zu putschen und eine Militärdiktatur zu errichten. Ägypten ist seitdem auf dem Weg zum Polizeistaat und inzwischen bereits weit repressiver als unter Mubārak und Sādāt. Die Beispiele Ägypten unter al-Sīsī und Syrien zeigen jedoch, dass das Demokratiedefizit keineswegs, ja nicht einmal primär auf den Islam zurückgeführt werden kann. In noch weit stärkerem Maße ist es eine Folge der säkularen „Entwicklungsdiktaturen“, die in zahlreichen Ländern nach der Unabhängigkeit an die Macht kamen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie versprachen, mit etatistischer Wirtschaftspolitik das Gefälle gegenüber den westlichen Ländern zu überwinden und dabei grandios scheiterten. Diese Regime verbindet aber auch, dass sie zu einem gewissen Grad den Islam aus dem öffentlichen Leben zurückdrängten, und dass eine Form von Nationalismus zur ideologischen Legitimationsquelle des Staates wurde. Einige dieser Regime praktizierten zudem einen ausgeprägten Personenkult. Das erste Beispiel für dieses Modell ist die kemalistische Türkei. Mustafa Kemal, seit 1934 Atatürk, schaffte, gestützt auf die Autorität, die ihm der Sieg über die griechischen, französischen und britischen Besatzer Anatoliens verlieh das Osmanische Sultanat und das Kalifat ab. Die arabische Schrift ersetzte er durch die türkische, die (öffentliche) religiöse Praxis radikal schränkte er ein, selbst der arabische Gebetsruf und religiöse Unterweisung wurden verboten. Politische Opposition war – von zwei kurzen Experimenten – nicht vorgesehen, bewaffneter Widerstand in den Regionen mit kurdischer Bevölkerung wurde brutal niedergeschlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land durch die Abschaffung des Einparteiensystems jedoch zur parlamentarischen Demokratie. Die kemalistische Ideologie wurde nicht ganz aufgegeben, speziell im Bildungswesen dominierte sie weiterhin. Wahlen gewannen, abgesehen von den 1970er Jahren als die Linke erstarkte, die sogenannten Mitte-Rechts-Parteien, die den Forderungen konservativ religiöser Kreise teilweise entgegenkamen, ohne den Laizismus prinzipiell anzugreifen. Von ihnen geführte Regierungen wurden jedoch 1960 und 1971 mit dem Ziel von der Macht verdrängt den unverfälschten Kemalismus wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Ein dritter Militärcoup erfolgte 1980 nachdem die Türkei in einen Bürgerkrieg abgeglitten war. Nach diesem Putsch wurde jedoch nicht der Kemalismus gefördert, sondern gezielt konservative islamische Strömungen, die als Bollwerk gegen die Linke dienen sollten (Kreiser und Neumann 2008, S. 383–487). In den arabischen Ländern wurden solche Entwicklungsdiktaturen errichtet, nachdem die türkische bereits aufgelöst war. In keinem dieser Länder gelang ein Übergang zur Demokratie. Das erste Beispiel ist Ägypten unter Nasser.

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Er hatte mit der Gruppe der „freien Offiziere“ die pro-westliche Monarchie gestürzt, und das – dysfunktionale und als korrupt wahrgenommene – Parlament abgeschafft. Nach einem Jahr verdrängte er seinen gemäßigteren Kollegen Muḥammad al-Nagīb von der Macht. Die mit den freien Offizieren zunächst verbündeten Muslimbrüder wurden brutal verfolgt. Ein Teil von ihnen radikalisierte sich deswegen. Ihr Wortführer war Sayyid Quṭb, der sich in der Gefangenschaft zum Theoretiker des radikalen Islamismus entwickelte. Nasser ließ ihn 1966 hinrichten, für seine ideologischen Gefolgsleute wurde dadurch zu Märtyrer, doch auch die Mehrheit der Muslimbrüder, die seine Radikalisierung nicht nachvollzog, betrachtet dies als Beispiel für die Grausamkeit des Regimes (Kepel 1984; Calvert 2010). Sozialistisch war auch die Wirtschaftspolitik ausgerichtet. Produktionserfolge wurden daher primär auf dem Gebiet des Ausbaus der Staatsklasse erzielt. Allerdings war Nasser nicht wie Atatürk grundsätzlich religionsfeindlich, Gelehrte der Azhar-Universität wie Maḥmūd Šalṭūṭ versuchten den Islam in Einklang mit dem „arabischen Sozialismus“ zu bringen (Ende 1996), die Sufiorden wurden als eine Alternative zur politisierten Islaminterpretation der Muslimbrüder gefördert (de Jong 1999, S. 319–323). In Syrien (1963) und Irak (1968) ergriff per Militärputsch die Baʿṯ-Partei die Macht, eine säkulare pan-arabisch nationalistische Partei. In beiden Ländern führte dies in der Praxis dazu, dass die Herrschaft dieser Partei einer ethnisch religiösen Minderheit zu weit überproportionalen Repräsentation in Regierung und Verwaltung führte. In Irak waren dies die sunnitischen Araber, die bereits unter den Osmanen eine privilegierte Position innehatten, in Syrien die Alawiten, eine über Jahrhunderte von der sunnitischen Mehrheit marginalisierte Bevölkerungsgruppe. In Syrien ging aus internen Auseinandersetzungen in der Baʿṯ-Partei 1970 der Flügel um Hafez al-Asad siegreich hervor, der unter sozialistischen Deckmantel eine Familiendiktatur etablierte. Unter den konservativen sunnitischen Muslimen der syrischen Städte fand daher in den 1970er Jahren die Agitation der Muslimbrüder gegen die das Asad-Regime Anklang. Gewaltakte legitimierten sie mit Verweis auf ein Fatwas des Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya (1263–1328), in der zum Kampf gegen die Alawiten und zu ihrer Hinrichtung als Apostaten aufgerufen wird. Nach einer Serie von Attentaten gegen Offiziere und Polizisten belagerte das Regime ihre Hochburg, die Stadt Ḥamā, machte sie schließlich dem Erdboden gleich und brachte dabei mehrere Zehntausend Menschen um. Als sich Anfang 2011 auch in Syrien regimefeindliche Proteste regten, fiel es dem Regime leicht das „security dilemma“ der Alawiten – und in gewissem Maße auch anderen Minderheiten wie Christen, Ismailiten und Drusen – zu seinen Gunsten a­ uszunutzen, indem es erfolgreich den Eindruck vermittelte, nur die

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Stützung des Regimes könne sie vor Verfolgung, ja Vernichtung durch Islamisten retten (van Dam 2017). Im Irak wiederum nutzen schiitische Organisationen und politische Unternehmer die Möglichkeiten, die ihnen die Einführung des Mehrheitsprinzips nach 2003 bot, um systematische die Stellung der Schiiten in Staat und ­Gesellschaft zu stärken. In Ägypten verschwand der säkulare und sozialistische arabische Nationalismus kläglich. Die vernichtende Niederlage gegen Israel 1967 und der Bankrott des sozialistischen Wirtschaftsmodells hatten den Nasserismus bereits vor Nassers (1970) frühem Tod diskreditiert. Sein Nachfolger Sadat führte marktwirtschaftliche Reformen durch, die den Zusammenbruch des Landes verhinderten aber zugleich keine langfristigen Perspektive eröffneten. Er milderte die Zensur und ließ des Weiteren Oppositionsparteien zu, ohne aber eine reale Option für einen demokratischen Machtwechsel zu eröffnen. Obgleich islamistische Kräfte weit weniger Repression ausgesetzt waren als unter Nasser, gingen bereits in den 1970 jahren von Sayyid Quṭb inspirierte Gruppen zum bewaffneten Kampf gegen das „heidnische“ System über. Ziel waren Angehörige des Staatsapparats, einschließlich der Präsidenten Sadat (ermordet 1981) und Mubarak (mehrere Attentatsversuche), Christen und die für die Wirtschaft des Landes z­entralen ­Touristen (Kepel 1984). Diese Form islamischer Militanz stieß die Mehrheit der Ägypter jedoch ab. Die Muslimbrüder nutzten dagegen die Chancen der politischen Öffnung dazu ihre Verankerung in der Gesellschaft durch religiöse und karitative Tätigkeiten zu stärken. Nach dem Sturz von Sadats Nachfolger Mubarak im Januar 2011 waren sie daher die bestorganisierte politische Kraft im Lande, sie wurden so zur stärksten Kraft im Parlament und ihr Kandidat Mursi gewann eine knappe Mehrheit im Parlament. Wenngleich die Muslimbrüder an der Macht äußerst vorsichtig agierten, fürchtete das säkulare Segment der Bevölkerung, dass die Muslimbrüder eine langfristige Strategie zum Ausbau ihrer Macht und der Islamisierung der Gesellschaft verfolgen. Das ägyptische Militär nutzte diese Befürchtungen, um die säkulare Bevölkerung zu einer „Revolution“ gegen die Regierung der Muslimbrüder zu mobilisieren. Begleitet von großen Demonstrationen wurde die Sīsīs Regierung gestürzt, kurz darauf begann die neue Regierung mit der Unterdrückung der Muslimbrüder. Bei einem Massaker in einem Lager der Muslimbrüder an der Rābiʿa al-ʿaḍawīya-Moschee in Kairo wurden sechs Wochen später dabei mehrere hundert Menschen getötet (Hamid 2014, S. 86–166). Die Entwicklung Ägyptens wurde Grad in Algerien weggenommen. Dort regierte seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1961 die Front de la Libération Nationale (FLN). Deren Wirtschaftspolitik war planwirtschaftlich ausgerichtet, Öl- und Gasrenten ermöglichten es zwei Jahrzehnte, die daraus resultierenden

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Dysfunktionalitäten zu übertünchen. Die Einparteienherrschaft führte zur Entwicklung einer bürokratischen Staatsklasse, die sich kulturell und sprachlich an Frankreich orientierte, zugleich aber die Arabisierung und Islamisierung (etwa im Personenstandsrecht) förderte. In den 1980er Jahren führte die Verbindung von fallenden Rohstoffeinnahmen und starkem Bevölkerungswachstum zu einer Verteilungskrise. Das Gedankengut der Muslimbrüder, das aus dem Nahen Osten stammende Lehrer und Ingenieure mitgebracht hatten, fand in dieser Periode bei der städtischen Unterschicht und dem akademischen Proletariat Anklang. Das Regime sah sich genötigt der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit einer Liberalisierung des Systems entgegenzukommen, und ließ unabhängige Parteien zu. Die ersten freien Kommunalwahlen 1990 gewannen die Islamisten der Islamischen Heilsfront (FIS) souverän, 1991 lagen sie schließlich nach dem ersten Wahlgang der ersten freien Parlamentswahlen vorne. In dieser Situation wurden die Wahlen abgesagt, und die FIS verboten. Da die Islamisten aus ihrem rein instrumentellen Verhältnis zur Demokratie keinen Hehl gemacht hatten, fanden sie außerhalb ihrer eigenen Reihen im In- und Ausland kaum Unterstützer. Viele ihre Anhänger gingen in den Untergrund und begannen einen Guerillakrieg, bei dem sie nicht nur Repräsentanten des Regimes sondern auch Intellektuelle, Künstler und einfache Zivilisten nicht schonten. Im Laufe von fünf Jahren vermochten jedoch die éradicateurs der Armee die Lage unter Kontrolle zu bringen. In Algerien hatten sich die Islamisten dadurch diskreditiert. Islamisten in anderen Ländern reagierten auf die Vorgänge damit, dass sie sich verbal zur Demokratie bekannten. Diese Beispiele zeigen, dass das Demokratiedefizit des Nahen Ostens und Nordafrikas keineswegs primär oder gar allein auf „den Islam“ zurückgeführt werden kann. Der Grund ist vielmehr ein Kulturkampf zwischen zwei illiberalen und antidemokratischen Vorstellungen: Auf der einen Seite steht der islamische Suprematismus, auf der anderen Seite autoritäre, mehr oder minder säkulare „Entwicklungsideologien“. Wie Shadi Hamid (2016, S. 1–38) zeigt, neigen „Liberale“ (oder besser Säkulare) dazu, sich auf die Seite autoritärer militärgestützter Regimes zu schlagen, wenn Islamisten gestützt auf eine Mehrheit der Wahlbevölkerung die Regierungsmacht übernehmen. Die im heutigen Westen von vielen als selbstverständlich betrachtete Verbindung von Liberalismus und Demokratie findet sich daher in der islamischen Welt nicht. Ein Grund, warum säkulare Bevölkerungsschichten im Zweifelsfall dem Autoritarismus den Vorzug geben, wird im nächsten Abschnitt behandelt. Über mehr als Jahrzehnt hinweg wurde die Politik von Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei von Islam- und Politikwissenschaftlern, Publizisten und Politikern

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als ein Ausweg aus diesem Dilemma angepriesen.1 Sein politischer Ansatz schien ein Bruch mit den Resten des autoritären Kemalismus zu versprechen, zugleich aber auch zu zeigen, dass Islamisten ihren Frieden mit Demokratie und Pluralismus machen können. Doch bereits Ende der 2000er waren autoritäre Tendenzen etwa in der Hochschulpolitik unverkennbar. Das Vorgehen gegen die Proteste gegen den Gezi-Park, hinter denen allerdings nur ein Minderheit aus der säkularen Mittelschicht stand, die wiederaufgenommene Repression gegen die Kurden, das undurchsichtige Verhältnis zum „Islamischen Staat“, ließ sich diese Einschätzung nicht mehr plausibel vermitteln, die „Säuberungen“ nach dem Putsch im Juli 2016, die nicht nur Angehörige der vermutlich verantwortlichen Gülen-Bewgungen betrafen war sie völlig diskreditiert (Hamid 2016, S. 148–176). Das heißt aber nicht, dass alle in den gerade genannten Kreisen sich von ihren Illusionen verabschiedet haben. Als neuer aussichtsreicher Kandidat für den gilt Rached al-Ghannouchi, der Führer der tunesischen Ennahda-Partei, nachdem er sich vom Ziel der Errichtung eines islamischen Staates distanziert hatte (Piser 2016). Einiges spricht dafür, dass auch diese Bewertung voreilig ist (Hamid 2016, S. 177–199). Die Klarstellung hinsichtlich der beiden dominierenden Formen des Autoritarismus im Mittleren Osten war notwendig, um einseitige Schuldzuweisungen zu vermeiden. Da die Diskussion hier jedoch mit Blick auf deutsche und europäische Verhältnisse geführt wird, soll hier allein der islamspezifische Aspekt dieser Problematik diskutiert werden. Anhänger autoritär-säkularer Ideologien und Systeme finden sich auch in Deutschland, sie treten aber nicht organisiert und in größerem Umfang mit daraus abgeleiteten politischen Forderungen an das politische System und die breitere Gesellschaft herantreten.

Zwischen Essenzialismus- und Voluntarismusfalle Bei der Frage, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, gilt es zwei Fallen auszuweichen, der Essenzialismus- und der Voluntarismusfalle. Mit Kritik am Essenzialismus rennt man fachintern offene Türen ein: „Den Islam“ als monolithische, von den Zeitläuften unbeeinflussten Einheit gibt es nicht. Der von allen Muslimen als verbindlicher Quellentext betrachtete Koran wurde von jeher unterschiedlich gedeutet. Über weitere Quellentexte besteht

1Ich

selbst tat dies zumindest bis 2008.

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nicht einmal Einigkeit. Unter Sunna oder Hadith, der zweiten Rechtsquelle verstehen Sunniten Überlieferungen, die sie allein auf Muḥammad zurückführen, während Zwölferschiiten auch Aussagen, die sie ihren zwölf Imamen und Muḥammads Tochter Fatima zuschreiben. Unter den Sunniten herrscht Uneinigkeit, wann und in welchem Maße der Analogieschlüsse und der Konsens der Gelehrten bei der Rechtsfindung herangezogen werden. Uneinig sind sich Muslime darüber, ob mystische Inspirationen ein Weg der Gotteserkenntnis oder Täuschungsmanöver Satans sind. Während die Problematik Essenzialismus im Anschluss an Edward Saids Orientalism – dessen Bild der Orientforschung selbst ein Musterbeispiel für Essenzialismus sind – ausführlich debattiert wurde, wird die entgegengesetzte, im Kontext sehr viel relevantere Problematik weitgehend ignoriert: Die ­Voluntarismusfalle. Als Voluntarismusfalle möchte ich hier die Auffassung bezeichnen, man könne die Grundlagentexte einer jeden Schriftreligion beliebig interpretieren und für alle Zwecke instrumentalisieren. Das ist prinzipiell nicht einmal unmöglich, wenn man allein individuelle Auffassungen betrachtet; und für den Beobachter, der von einem westlichen, speziell protestantischen Rahmen ausgeht, mag die sogar plausibel erscheinen, wird in den protestantischen Kirchen doch seit Jahrzehnten allerlei Zeitgeist in die biblischen Texte hineininterpretiert (Graf 2011). Aber schon, wenn man dieses Beispiel genauer betrachtet, zeigt sich, dass es weit weniger überzeugend ist, als es auf den ersten Blick wirken mag. Zunächst aber zum grundsätzlichen Problem. Der prinzipiell möglichen willkürlichen Interpretation von Offenbarungstexten durch Individuen wird, wenn es um die Konstituierung einer Religionsgemeinschaft geht, dadurch eine Grenze gesetzt, dass die Interpretation einer gewissen Zahl von Menschen plausibel erscheinen muss um akzeptiert zu werden. Im Rahmen einer bereits etablierten Religion ist dies umso schwerer, als diese a) verbindende Interpretationen und b) Regeln und Voraussetzungen für legitime Interpretationen etabliert haben. Veränderungen sind möglich, verlaufen in der Regel jedoch eher zäh. Regeln und Voraussetzungen für legitime Interpretationen sind im sunnitischen Islam zunächst einmal die Beherrschung von Grammatik und Lexikografie, sowie die Kenntnis der exegetischen Prophetentraditionen. Man mag einwenden, dass andere islamische Gruppierungen hier weit weniger Skrupel hatten, erlaubten doch diverse schiitische Gruppen die allegorische Interpretation von Koranversen. Auf diese Weise legitimieren sie den Herrschaftsanspruch von Muḥammads Vetter und Schwiegersohn ʿAlī samt seiner Nachkommen oder um Lehren der Gnosis zu legitimieren. Ähnlich verhält es sich in neuerer Zeit mit der Aḥmadiyya, deren Koranexegese dazu dient den Gründer dieser Bewegung als

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Propheten zu betrachten. Durch diese eigenwilligen Interpretationen wurden also in allen diesen Fällen nur Gruppen gestiftet, die wiederum selbst die jeweiligen Interpretationen als unumstößliche Wahrheiten vertreten. Für die große Mehrheit der sunnitischen Muslime sind sie ein Stein des Anstoßes, größere Anziehungskraft entfalteten sie nicht. Dies gilt minder für einige der neueren Versuche, den Islam vor angesichts der Herausforderung durch die Moderne völlig neu zu interpretieren. Auf diese Projekte werde ich noch etwas ausführlicher eingehen, weil sie eine Reihe zusätzlicher Probleme aufwerfen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit es für Religionsgemeinschaften generell sinnvoll ist, die Auslegung ihrer religiösen Quellen kreativ zu handhaben. Betrachtet man Mitgliederzahlen und Gottesdienstbesuch, so hat die mangelnde Rigidität der (ehemals) großen europäischen protestantischen Kirchen ihnen keinen Erfolg gebracht. Gründlich wurde das Selbstvertrauen des amerikanischen liberalen Protestantismus in den USA, die Zukunft der Religion zu repräsentieren, 1972 durch die Studie Why Conservativre Churches are Growing erschüttert. Der Autor Dean Kelley (1972), selbst liberaler Protestant, wies daraufhin, dass die Mitgliederzahl der liberalen „mainstream“ Kirchen seit dem Zweiten Weltkrieg rapide gesunken waren, während gerade Kirchen, die wenige theologische Kompromisse eingingen, teils stabil wuchsen, teils einen erheblichen Zulauf verzeichnen konnten. Offenbar zahlt es sich im Bereich der Religion nicht aus, Kompromisse mit dem Zeitgeist einzugehen, da gerade diese Kompromisse die überhistorische Wahrheit, die nach gängigem Verständnis der Religion zugrunde liegt, kompromittieren.

Der Islam als Rechtsreligion Bei Vergleichen zwischen Islam und Christentum darf darüber hinaus der wesentliche Unterschied nicht außer Acht gelassen werden, dass das Christentum nie ein Rechtssystem begründet hatte. Selbstredend erlangten auch in christlichen Kontexten einzelne religiöse Regelungen Gesetzeskraft, besonders im Familienrecht, das ist in einigen Ländern wie Irland bis heute relevant, und ebenso haben in den Ländern des Nahen Ostens, wo kein säkulares Personenstandsrecht existiert, die Regelungen der christlichen Kirchen zu Gesetzeskraft. Rückgriffe auf den Gesetzeskatalog des Pentateuch gab es gerade nach der Reformation, unter Calvin in Genf und bei den Puritanern in Großbritannien und Neuengland, sie blieben jedoch Episode (Witte und Kingdon 2005). Der Grund hierfür liegt darin, dass sich die Christus-Bewegung in den ersten drei Jahrhunderten fern ab der politischen Herrschaft entwickelte. Als Kaiser

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Konstantin das trinitarische Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich erhob, galt das Römische Recht weiter, unter dem byzantinischen Kaiser Justinian, wurde es kodifiziert. Damit waren Jurisprudenz und Religion verschiedene Sphären, wenn sie sich auch in oft überlappten. Die generelle Trennung von Recht und Religion ermöglichte daher auch, dass auch germanische und slawische Gewohnheitsrechte nach der Christianisierung fortbestanden. Institutionellen Ausdruck fand diese Trennung im mittelalterlichen Bildungswesen darin, dass an den Universitäten für Theologie und Recht verschiedene Fakultäten mit unterschiedlichen Bildungsinhalten eingerichtet wurden. Hierin unterscheiden sich die islamischen Verhältnisse fundamental. Der Muḥammad der der Überlieferung gründete ein Gemeinwesen. Der Koran enthält bereits eine Vielzahl von juristischen Regelungen, etwa zu Fragen der Eheschließung und Scheidung, zum Erb- aber auch zum Strafrecht. Während es in den ersten anderthalb Jahrhunderten der islamischen Herrschaft, unter den Kalifen der Dynastien der Umayyaden und der frühen Abbasiden, durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass eine Art Sakralherrschertum von „Stellvertretern Gottes“ die Rechtsentwicklung steuert, drifteten Rechtsentwicklung und politische Herrschaft mit dem Zerfall des Kalifats auseinander. Das Recht wurde von nun an durch eine neue Klasse entwickelt, die Gelehrten (Arab. ʿulamāʾ, sg. ʿālim). Sie legten die methodischen Grundlagen der Rechtsprechung fest, sammelten und bewerteten die im Umlauf befindlichen Berichte über Muḥammad und bauten sie zu einer Rechtsquelle, der sunna aus, die für die Rechtspraxis weit größere Bedeutung hat als der Koran. Aus dem Kreis der Gelehrten, die sich meist als Rechtsgutachter (muftī) in privaten Angelegenheiten tätig waren, rekrutierten die Herrscher aus ihren Kreisen die Richter (qāḍī) für die staatliche Rechtsprechung. Auf die Ausgestaltung des Rechts hatten sie aber nur insofern Einfluss, als sie in ihrem Herrschaftsgebiet bestimmte Rechtsschulen protegieren konnten (Vikør 2005, S. 20–31, 140–183). Diese Konstellation fand auch im vormodernen islamischen Bildungssystem ihren Ausdruck. War es ursprünglich üblich von Stadt zu Stadt zu reisen, um bei bedeutenden Gelehrten in informellen Kreisen in der Moschee jene Disziplinen zu lernen, für welche diese Gelehrten berühmt waren, wurde seit dem 11. Jh. ausgehend vom Iran und westlichen Iran der Unterricht in Institutionen gebündelt, die madrasa (pl. madāris) heißen. Im Mittelpunkt der Ausbildung standen Rechtstheorie und Rechtspraxis, sowie die für die Rechtsbildung w ­ ichtigen Hilfswissenschaften Grammatik, Lexikografie und Koranexegese. Kalām, die ­ Disziplin, die in der westlichen Islamwissenschaft gemeinhin als Theologie übersetzt wird, hatte nicht den Rang eines eigenen Faches mit eigenem institutionellem Rahmen. Sie war jener Teil der Rechtswissenschaft, der zum Ziel hatte zu

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klären, inwieweit bestimmte religiöse Positionen als rechtgläubig betrachtet werden konnten (Berkey 2007). Die Bedeutung des islamischen Rechts für die öffentliche Ordnung wurde im Laufe des 19. Und 20. Jahrhunderts radikal beschnitten, und zwar unabhängig davon, ob die betreffenden Länder politisch souverän blieben oder unter die Herrschaft europäischer Kolonialmächte gerieten. Islamisches Strafrecht, Handels- und Vertragsrecht wurde durch westliche Rechtsysteme ersetzt, in dem meisten Fällen durch den Code Napoléon, in Indien und einigen anderen britischen Kolonien durch ein auf dem Common Law beruhende Gesetzbücher. In den 1940er Jahren formulierte der ägyptische, in Frankreich ausgebildete Jurist ʿAbdarrazzāq al-Sanhūrī ein säkulares Zivilrecht, das nach der Unabhängigkeit von den meisten arabischen Ländern übernommen wurde. Ausgenommen von dieser Säkularisierungstendenz blieben nur jene Bereiche, die als religiös besonders sensibel gelten: Personenstandsrecht, Erbrecht und religiöse Stiftungen. Allerdings wurden auch diese Rechtsbereiche durch Kodifizierung oder Integration ins Gewohnheitsrecht der Kontrolle durch die säkularen Justizorgane unterworfen. Den islamischen Gelehrten wurden damit ihre traditionelle Kernaufgabe entzogen. Allein ein Land verweigerte sich dieser Tendenz: Saudi-Arabien (Vikør). Wie die diese politisch politisch durchgesetzte Säkularisierung in ihrer Anfangszeit religiös verarbeitet wurde, ist wenig erforscht. Konservative Gelehrte, die sich gewöhnlich streng an den Rechtsschulen orientieren und ansonsten oft auch dem Sufismus nahestehen, wenn nicht gar als führende Sufis in Erscheinung treten, beschäftigen sich intensiv mit Fragen des Rituals und der rituellen Reinheit, jenem Bereich, der in westlichen Rechtssystemen schlicht irrelevant ist. Puritanische Gelehrte unterschieden sich hiervon zunächst kaum, doch begeisterten sie sich ab den 1920er Jahren für den nach islamischen ­Prinzipien geführten saudischen Staat.

Der Islamismus: Den Islam als Rechtsreligion reetablieren Nur wenig später wurde in Indien und Ägypten eine weitere Antwort auf den Bedeutungsverlust des Islams, nicht zuletzt des Rechts, für die gesellschaftlichen Formen formuliert, eine Antwort, die in den folgenden Jahrzehnten vielen Muslimen sehr plausibel erscheinen sollte. Der ägyptische Lehrer Ḥasan al-Bannā (1906–1949) hatte zwar überhaupt keine Ausbildung als Rechtsgelehrter, und der indische Publizist Abū al-Alʿā Maudūdī (1903–1979) war als Gelehrter nicht besonders profiliert. Beide propagierten aber die Idee, dass der Islam ein

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umfassendes System sei, der alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassen, gerade auch die mittlerweile dem säkularen recht unterworfenen Bereiche Strafrecht und Wirtschaft. Legitimiert wird dies nicht zuletzt mit einem moralisierenden, empiriefreien, apologetischen Diskurs, dem zufolge der wahre, konsequent angewandte Islam die Lösung für alle Menschheitsprobleme bereithält und umgekehrt alle Übel auf die Abkehr vom Islam zurückgehen. Individuellen Selbstbestimmung wird geringgeachtet, stattdessen werden die konsequente Durchsetzung von Geschlechtertrennung und -hierarchie sowie der Vorrang der Muslime in der Gesellschaft gefordert (Nasr 1996; Lia 1998; Hartung 2013). Gerade die massiven Eingriffe in die individuelle Lebensführung, zu welcher die Implementierung dieser Ansprüche mit sich zieht, ist verantwortlich dafür, dass so viele säkular orientierte (und nichtmuslimische) Kreise im Nahen Osten so unversöhnlich auf islamistische Wahlsiege reagieren und gegebenenfalls autoritäre Maßnahmen auch gegen gewählte Regierungen unterstützen (Hamid 2016, S. 68–100, 238–268). Maudūdī war von vornhinein „theoretischer“ und radikaler als al-Bannā, als Vorbild für seine politische Organisation wählte er die leninistische Kaderpartei. Er propagierte zudem die Idee, dass die Volkssouveränität ein Götze sei, und dass eine Gesellschaft die durch sie legitimierter Gesetze anwendet, sich im Zustand des Heidentums (ǧāhiliyya) befinde. Diese Vorstellung griff Sayyid Quṭb während der Verfolgung durch Nasser auf, um dessen Regime als heidnisch zu denunzieren. In den folgenden Jahrzehnten wurde dieser Gedanke für radikale islamistische Gruppen, während andere wie die Muslimbrüder oder türkische Islamisten die Überwindung des Systems mit legalen Mitteln und auch politischen Bündnissen propagieren.

Die Entrechtlichung oder das Dilemma des Reformislams Dem Islamismus stehen Reformprojekte gegenüber, welche den Islam an die westlich geprägte Moderne anpassen wollen. Sie haben gemeinsam, dass sie die Bedeutung des rechtlichen Aspekts minimieren wollen. Hierfür bedienen sich islamische Reformdenker im Wesentlichen dreier Ansätze: • Sie verwerfen die sunna • Sie versuchen die koranischen Aussagen in der Lebenswelt Muḥammads zu kontextualisieren und damit zu relativieren. • Sie kehren die hergebrachte Hierarchie der Koranverse um.

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Die beiden ersten Ansätze sind recht einfach zu erklären. Wie bereits erwähnt beruht die Scharia zu einem weit größeren Teil auf dem Hadith. Indem dessen Autorität und Authentizität bestritten wird, reduziert sich die Zahl verbindlicher Normen erheblich. Diese Auffassung lässt sich erstmals Ende des 19. Jahrhunderts in Indien nachweisen. Sayyid Aḥmad Ḫān (1817–1898), ein Beamter in britischen Diensten und Bildungsreformer, strebte danach das mögliche Konfliktpotenzial zwischen Briten und Muslimen zu entschärfen. Speziell in Südasien erfreute sich dieser Ansatz in den folgenden Jahrzehnten einer gewissen Popularität in Kreisen westlich gebildeter Muslime, sein letzter bedeutender Vertreter war in Pakistan Ġulām Aḥmad Parwez (1903–1985), dem zufolge der Islam keine Religion ist, sondern eine dynamische Sozialphilosophie, die eine Brücke zwischen dem Individualismus des kapitalistischen Westens und dem Kollektivismus des kommunistischen Ostens schlägt (Brown 1996). Mit der Kontextualisierung des Islams wird bestrebt, Elemente des islamischen Rechts, die unter heutigen Umständen als anstößig empfunden werden, als zeitgebunden weg zu erklären. Eine elaborierte Version dieses Ansatzes hatte in den 1990er Jahren der ägyptische Literaturwissenschaftler Naṣr Ḥāmid Abū Zaid (1943–2010) vorgelegt (1996). Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass er Wissen über gesellschaftlichen Verhältnisse voraussetzt. Aus muslimischer Sicht liegt nahe diese Informationen Prophetenbiografien und der sunna zu entnehmen. Abgesehen davon, dass diese Überlieferungen aus historiografischer Sicht problematisch sind, lässt sich deswegen der erste mit dem zweiten Reformansatz eigentlich nicht verbinden. Dieser Ansatz ist primär bei Muslimen mit säkularen Tendenzen verbreitet, zuweilen greifen selbst Gelehrte auf dieses Argumentationsmuster zurück. Ein Beispiel ist der gegen den Islamischen Staat gerichtete Brief vorwiegend ägyptischer und amerikanischer Gelehrter und islamischer Aktivisten. Obwohl nicht zu leugnen ist, das dass die Sklaverei zu Lebzeiten Muḥammads nicht abgeschafft und im islamischen Recht während der folgenden Jahrhunderte nicht hinterfragt wurde, behaupten sie, dass alle im diesbezüglichen Regelungen eigentlich das Ziel verfolgen diese Institution zu überwinden. Angesichts ihrer Bedeutung in der damaligen Gesellschaft hätte dies jedoch nicht mit einem Ruck geschehen können.2 Der dritte Ansatz ist verwandt, geht aber weiter, er kehrt eines der Hauptprinzipien der islamischen Jurisprudenz um, nämlich dass die nach islamischer Überlieferung später offenbarten Versen den juristischen Gehalt der früher

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Letter to Al-Baghdadi (2014).

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o­ ffenbarten außer Kraft setzen. Der sudanesische Autor Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā (1909–1986), ein Ingenieur, wandte dagegen ein, dass die eigentliche, überzeitliche Botschaft des Islam in den frühen, in Mekka offenbarten Versen zu finden sei. Was sich in den späteren, in Medina offenbarten Versen oder in der sunna finde, sei dagegen zeitgebunden und heute nicht mehr relevant. Da die mekkanische Verse kaum juristisches Material enthalten, bedeutet dies, dass die Botschaft auf eher allgemeine ethische Prinzipien reduziert wird (Thomas 2010). Durchsetzen konnte sich keiner dieser Ansätze. Ja mehr noch, sie wurden zum Teil verfolgt: Maḥmūd Ṭāhā wurde als Apostat hingerichtet, Naṣr Ḥāmid Abū Zaid als Apostat „zwangsgeschieden“ und ins Exil gezwungen. Juristisch verfolgt wurden diese Ansätze jedoch nicht, da befürchtet wurde, sie könnten Zulauf von der breiten Masse der Bevölkerung gewinnen, Ihre Ausstrahlung begrenzte sich auf kleine intellektuelle Kreise. Offensichtlich ist der Bruch mit überlieferten Prinzipien zu stark. Darüber hinaus sind diese Konzepte für viele Muslime politisch kontaminiert, da sie offenkundig das Ziel haben, den Islam politischen Rahmenbedingungen anzupassen oder gar für säkulare Regime nutzbar zu machen. Des beginnt bereits mit dem britenfreundlichen Sayyid Aḥmad Ḫān gegen den Maudūdī in seinen Schriften häufig polemisiert (Riexinger 2004, S. 549–563). Ġulām Aḥmad Parwez unterstützte das pakistanische Militärregime unter Ayyūb Ḫān und versuchte die Änderung des Familienrechts islamische zu legitimieren. Eben diese Gefahr droht auch reformislamischen Ansätzen im europäischen Kontext: Entsprechen sie zu eindeutig dem, was sich Politiker erhoffen, wird sie dieser Nexus in den Augen vieler Muslime kompromittieren.

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Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam Ammar Ali Hassan

Einleitung In der islamischen Geschichte variieren nicht nur der Grad und das Niveau der Erneuerung von Denker zu Denker und von Jurist zu Jurist, sondern auch in Bezug auf die Vorstellung beider Gruppen, was den Umfang und die Nützlichkeit einer Erneuerung angeht. Dann wieder gibt es Leute, die betonen, dass eine Erneuerung in der muslimischen Gemeinschaft stattfinden soll, nicht im Islam, und solche, die sich auf diejenigen konzentrieren, die den Begriff für sich in Anspruch nehmen und ihn auf rein islamische Symbole verengen. Wieder andere sprechen von einer „Erneuerung des Islam“ und arbeiten sich an deren Vertretern ab, wobei sie einige von denen dazurechnen, die unter Salafisten als Ketzer oder gar Feinde des Islam gelten. Es gibt auch solche, die die Vorstellung von der Erneuerung einen kleinen Schritt nach vorne treiben und jene kritisieren, die eine solche Erneuerung missverstehen, indem sie einfach die islamischen Bücher und Handschriften präsentieren, die die islamischen Juristen und Denker in alter Zeit erstellt haben, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sie für unsere aktuellen Lebensverhältnisse – auf welche Weise auch immer – fruchtbar zu machen. Sie tun gerade so, als ob sie sich damit begnügten, dass die Wiederbelebung der Kultur ein belebendes emotionales Stimulans sei, das uns wie nationalistische Lieder oder Konzertmusik zur Aktion motiviert (Marʿašlī 1983, S. 3). Ein Amīn al-Ḫūlī (2001, S. 43–50) denkt den Begriff einen Schritt weiter, indem er von den Grundlagen der Entwicklung im Islam spricht, wobei er bei der

A. A. Hassan (*)  Kairo, Ägypten © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_6

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mit Muḥammad abgeschlossenen Offenbarung beginnt, die er als Religion und ein praktisches soziales System zugleich betrachtet. Sie bildet die Grundlage für eine Entwicklung, die sie vorbereitet und umsetzt, ohne theoretisch oder praktisch mit irgendeinem Teil der Entwicklung der Welt um sie herum konfrontiert zu werden, die diese Grundlagen definiert, nämlich mit: • der Ausweitung der islamischen Mission (daʿwa), wie sie sich in diachroner und synchroner Hinsicht vollzieht, um nacheinander Völker, Stämme, Generationen, die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und alle Arten von Rassen ins Visier zu nehmen; • der Ökonomie der islamischen Mission im Verborgenen, ihrem Alleinvertretungsanspruch, ihrer Definition des Glaubens an jene, und ihrer Weigerung, detailliert über sie nachzudenken. Dies hat die islamische Doktrin dazu veranlasst, ihr großes Potenzial für das freie Denken aufzuwenden, das sich für alles Neue und Geheimnisvolle im Universum eignet, es mit dem Leben bekanntzumachen und zum Wissen über das Tagesgeschehen hinaus zu befähigen, ohne sich in Details verlieren zu müssen, die als weltfremd gelten; • der Erleichterung des Glaubenslebens, infolgedessen der Islam in den Angelegenheiten des Gottesdienstes auf universelle Dinge und die allgemein umfassenden Grundlagen verkürzt wurde. So sollte die Tür für freie Koranauslegungen in Hinsicht auf das Gebet, die Almosen, das Fasten und die Pilgerfahrt aufgestoßen werden, von denen einige sich den Umständen entsprechend wandeln. Das nämlich ist die Frage, die sich in Geschichte und Inhalt des islamischen Fiqh offenbart; • der Tatsache, dass der Islam in seinen konstitutiven Texten (dem Koran) weder in alle Einzelheiten der Entstehung des Universums, des Lebens, der Menschheit, ihrer Zeitdauer, ihrem Weg und ihrem Schicksal auf der Erde, noch in das Wesen und die Eigenschaften Gottes involviert ist. Deswegen ist der Islam niemals in Konflikt mit den wissenschaftlichen Entdeckungen des Universums geraten, wie dies bei anderen Religionen der Fall war. Dennoch haben die Muslime sich mit diesen Themen beschäftigt und in den isrāʾīliyāt1 nach Antworten auf ihre Fragen gesucht. Gegenwärtig aber müssen wir uns losmachen von diesen fremden Grundannahmen, die in die Äußerungen hineingelegt werden, die man dem Propheten zuschreibt, angefangen von den āḥādÜberlieferungen bis zu einigen Auslegungen des Koran;

1Sammelbegriff für verschiedene Erzählungen in den Korankommentaren, zum Teil historischer, zum Teil erbaulicher Natur. (Anm. d. Ü.).

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• dass der Islam sich nicht mit irgendwelchen Details zur Geschichte der Nationen und der Propheten abgibt, deren Umstände der Koran zur Gänze oder in einigen Details präsentiert, um damit die Gemeindetraditionen im Leben der Propheten zu erklären. Von daher fürchtet der Islam nicht die materielle Erzählung der Geschichte, die die Wissenschaft uns mittels der Archäologie überliefert hat, sondern kann seine eigene Deutung entwickeln, um diese dem fortschreitenden Wissen unterzuordnen; und • dass der Islam die freie Auslegung (iǧtihād)2 zur Grundlage des Lebens gemacht hat, um so den wandelnden und fortschreitenden Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Daher haben die Juristen anerkannt, dass das Leben nicht ohne ein Mass an muǧtahids auskommt und gefordert, dass die Menschen in jedem Zeitalter ihre Anzahl an muǧtahids erhalten sollen. Diese sechs Fundamente haben Ḫūlī veranlasst, furchtlos über die Entwicklung des Glaubens und der religiösen Praktiken der Gläubigen gegenüber Gott (ʿibādāt) sowie der Gläubigen untereinander (muʿāmalāt) zu sprechen, wobei er mit Entwicklung die Natur der Differenzen meint, die während der islamischen Geschichte um diese drei Säulen herum entstanden sind. Denn die Differenz um die Glaubensartikel erstreckt sich bis zum Wesen Gottes, seinen Eigenschaften, der Natur des Koran, ob erschaffen oder nicht, und dem Disput der Sunniten mit der Muʿtazila über die Kausalität und die Erschaffenheit des Koran. Was die Gott-Mensch-Beziehungen betrifft, so sind unter den Anhängern der praktischen Rechtsschulen Meinungsverschiedenheiten nicht unbekannt. Es gibt freie Auslegungen (iǧtihādāt), die nicht haltmachen vor den vier praktischen Säulen des Islam: dem Gebet, dem Almosen, dem Fasten und der Pilgerfahrt, um sie den Bedürfnissen einer unerbittlich sich entwickelnden Realität anzupassen. Die Beziehungen der Gläubigen untereinander sind weniger kompliziert und die Entwicklung der Bandbreite darin deutlich sichtbar (al-Ḫūlī 2001, S. 51–67). Ḫūlī endet mit den Worten: „Die religiöse Erneuerung ist ein Entwicklungsprozess und die religiöse Entwicklung ist das Ende des wahren iǧtihād“ (Ebd., S. 66), aber Entwicklung heißt für ihn nicht, die Wurzel der Religion zu entfernen und eine neue Religion hervorzubringen, sondern er knüpft die Erneuerung an die Rückkehr zur Wurzel, weil alles, was an Kontroverse in die Glaubensartikel eindringt, kein Ende nimmt, wenn wir dies nicht beenden, zum unverfälschten

2Gemeint

ist: Freie Auslegung des Koran abseits der Tradition der Rechtsschulen. (Anm. d. Ü.).

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Glauben zurückkehren und es fortan vermeiden, infragen des Verborgenen zu schwelgen. Diese nämlich sind der Vernunft nicht zugänglich, sodass es keinen Sinn ergibt, sich über sie zu streiten. Was die Mensch-Gott-Beziehungen anbetrifft, so unterliegen deren Regelungen und Einzelheiten einer dauernden Entwicklung und erstrecken sich in der Breite über die Beziehungen der Gläubigen untereinander, was zum Kern des Islam gehört. Aber Ḫūlī dekonstruiert in seiner Vision vieles von den kulturellen Strukturen, die kraft der Starrheit des Fiqh unveränderlich sind, und zweifelt an vielen Überzeugungen, die dank der Schließung des Tores des iǧtihād oder zumindest durch dessen Verengung bis zur Grösse eines Nadelöhrs in den Köpfen der Muslime verharren. ʿAbdalmutaʿāl al-Ṣaʿīdī (1996, S. 7) wiederum versucht in seinem Buch Die Erneuerer im Islam: Vom 1. bis zum 14. Jahrhundert nachzuweisen, dass die Erneuerung nicht auf die moralischen und symbolischen Dinge reduziert werden dürfe, sondern auch die materiellen Fragen beinhalten müsse. Somit wäre es abwegig, in Bezug auf Erneuerer unseren Blick auf reine Gelehrte, Juristen und gesellschaftliche Reformer einzuengen, da wir auch die Aktivisten in den Blick nehmen müssen, die versucht haben, den Islam anzupassen, das Gesetz weiterzuentwickeln und Maßnahmen zu ergreifen, die mit einer stetig sich wandelnden Realität Schritt halten. Von daher betrachtet er die Geschichte der Erneuerung im Islam als „die muslimische Geschichte der Bewältigung von weltlichen Angelegenheiten, bevor es eine Geschichte der Bewältigung von jenseitigen Angelegenheiten ist. Dabei dürfen wir nur von Erneuerer sprechen, wer dieses Ziel tatsächlich anstrebt. Wir zählen niemanden dazu, der sich mit Ruhm in der Wissenschaft begnügt.“ Deshalb rechnet al-Ṣaʿīdī viele Führer, Herrscher, Aktivisten und Revolutionäre zu den Erneuerern, darunter die vier „rechtgeleiteten Kalifen“, al-Ḥusain b. ʿAlī, Ḫālid b. Yazīd, ʿUmar b. ʿAbdalʿazīz, die Abbasidenkalifen al-Maʾmūn, al-Wāthiq und al-Muhtadī, den Osmanensultan Sulaimān I., Schah ʿAbbās und Nādir Schah, Muḥammad ʿAlī Pascha, Aḥmad Ḫān, Midhat Pascha, Mīrzā ʿAlī Muḥammad, Ġulām Aḥmad, Mustafa Atatürk und ʿAbdalʿazīz Āl Saʿūd. Diese kommen bei ihm Seite an Seite mit Juristen, Philosophen, Mystikern und Gelehrten vor, wie al-Imām al-Šafiʿī, Maʿrūf al-Karḫī, Aḥmad b. Ḥanbal, al-Kindī, al-Razī, Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī, al-Fārābī, die „Brüder der Lauterkeit“, Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Avicenna, Ibn Ḥazm, Abū ʿAlāʾ al-Maʿarrī, Averroes, al-Šarīf al-Idrīsī, Abū Faraǧ b. al-Ǧauzī, Naṣīraddīn al-Ṭūsī, Ibn Taimiyya, Ibn Daqīq al-ʿĪd, Muḥīddīn b. ʿArabī, Ibn Ḫaldūn, Ibn al-Qayyim al-Ǧauzīya, Abū Isḥāq al-Šāṭibī, Sirāǧaddīn al-Bulqīnī, Uluġ Beg, al-Qāḏī Zakarīyā al-Anṣārī, Ibn al-Qazīr al-Yamanī, Šamsaddīn al-Ramlī, Imam (Muḥammad b. Pīr ʿAlī) Birgivi, Ibrāhīm al-Kūrānī, al-Muqbilī al-Yamanī, Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, Walīllāh

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al-Dihlawī, al-Šaukānī, Ǧamāladdīn al-Afġānī, Muḥammad ʿAbduh, Muḥammad Rashīd Riḍā und Muḥammad Muṣṭafā al-Marāġī. Das heißt allerdings nicht, dass al-Ṣaʿīdī mit allem einverstanden wäre, was die genannten Personen gesagt und getan haben; ihm ist sogar daran gelegen, Topoi zu benennen, in denen er einige von ihnen kritisiert und ihre Ansichten und Einstellungen widerlegt. Gleichwohl betrachtet er sie alle angesichts dessen, was sie auf den Weg gebracht haben, als Modernisierer, gleich ob die Mehrheit der Gelehrten mit ihrem Tun einverstanden war oder nicht oder ob es der überwiegenden Mehrheit der Menschen recht war oder nicht. Er war wie der sprichwörtliche Stein, der in den stillen See des Fiqh geworfen wurde und diesen davor bewahrte zu kippen. Indem er das Tor des iǧtihād öffnete, forderte er den muslimischen Verstand heraus, der auf diese Weise angeregt wurde und manchmal über den eigenen Schatten springen musste, um Antworten auf die Fragen der Reformer zu erhalten. Al-Ṣaʿīdī betont, dass die Erneuerung ein beständiger Prozess ist, der nur periodisch innehält, und fordert ein Ende der Gründe, die den Fluss des Erneuerungsprozesses, seine Entschlossenheit und Fähigkeit hemmen, mit einer beständig sich verändernden Realität, einschließlich der politischen Tyrannei, der Mutlosigkeit der Herrschenden zu Reformmassnahmen, der geringen Zahl der Reformer, der Neigung der meisten Menschen zu Traditionalisten und Ultrakonservativen und dem Kampf der Feinde des Islam gegen die Erneuerungsbewegung Schritt zu halten, sodass es für Muslime schwierig ist, ihren verlorenen Ruhm zurückzugewinnen (Ebd., S. 435–437). Ǧamāl al-Bannā führt die Erneuerer im Islam wieder in den Bereich des Fiqh, des Denkens und der Philosophie zurück, fügt jedoch andere Namen zu jenen hinzu, die al-Ṣaʿīdī im Auge hatte, z. B. Abū Ḥanīfa al-Nuʿmān, Naǧmaddīn al-Ṭūfī, al-ʿIzz b. ʿAbdassalām, Ḥasan al-Bannā, Muḥammad Iqbāl, ʿAlī Šarīʿatī, ʿAllāl al-Fāsī, Rifāʿa al-Ṭahṭāwī, ʿAbdarraḥmān al-Kawākibī, Abū al-Ḥasan al-Nadwī, Abū al-Aʿlā al-Maudūdī, ʿAbdalḥamīd b. Bādīs, Badīʿ al-Zamān Saʿīd al-Nursī, Sayyid Quṭb, Qāsim Amīn, Muḥammad al-Ġazālī, Muḥammad Asad, Maḥmūd Šaltūb, Raǧāʾ Ǧārūdī, Šakīb Arslān und Malik b. Nabī. Obwohl das, was al-Bannā in dieser Hinsicht geleistet hat, nicht mehr ist als eine sporadische Sammlung und eine Dekonstruktion dessen, was er nicht einzupassen oder dem er Kontext und Struktur zu verleihen vermochte, so weitet er doch die Grenzen des Fiqh oder des islamischen Denkens hin zu einer „Erneuerung des Islam“ aus. Diese Ausweitung verknüpft er allerdings mit einer „Neudefinition des islamischen Wissenssystems“, wie es in den ersten drei Jahrhunderten n. d. H. entworfen worden war, und gerinnt bei ihm zu einer unausweichlichen „religiösen Reform“, ohne die es keine Renaissance gibt und die den Vorrang vor allen anderen Arten von

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Reform genießen soll: der politischen, der ökonomischen, der gesellschaftlichen und der kulturellen, wobei er jedoch das Wort „Reform als“ unzureichend betrachtet, weil es nicht den erwünschten Wandel ausdrückt. In al-Bannās „Aufruf zur islamischen Renaissance“3 steht der Mensch im Mittelpunkt und wird ermuntert, die Weisheit (ḥikma) als Grundlage des Gesetzes dem Koran und der Sunna zur Seite zu stellen. Al-Bannā macht die Vernunft zum Schiedsrichter über alle Dinge, zieht Gemeinwohl im Zweifelsfalle dem Text vor, stellt sicher, dass der Islam Religion und Umma ist, nicht Religion und Staat, und tilgt die Fiqh-Tradition vollständig, um sie durch den direkten Zugang zum Koran zu ersetzen. Dazu konsultiert er die Hadithe auf Grundlage des tradierten Textes und nicht allein der Überlieferungskette, weist die muslimische Pflicht zum Rechtsgutachten zurück, die er als neues Priestertum sieht, und lehnt die Existenz von Organisationen ab, die auf der Religion basieren, indem er sie als Klerus betrachtet, den der Islam nicht kennt. Das Thema Erneuerung beschränkt sich hierbei nicht auf die Produzenten des islamischen Wissens und ihren Diskurs, sondern besteht in der Arbeit vieler arabischer Schriftsteller und Intellektueller, darunter Nationalisten ebenso wie Liberale. Beispielhaft dafür ist Zakī Naǧīb Maḥmūd, der sich dem Thema der „Erneuerung des arabischen Denkens“ widmet, von „Werten der Tradition“ spricht und vom „Rationalen und Irrationalen in unserer geistigen Tradition“, nachdem er jahrelang damit zugebracht hat, sich in westliches Denken und westliche Philosophie zu versenken, die er beide für Zeitverschwendung hielt. Als er dann die Gelegenheit bekam, sich mit der arabisch-islamischen Kultur vertraut zu machen, sah er, dass einiges der besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge bedurfte, um es zu erneuern und unseren Lebensbedingungen anzupassen. Dies machte er sich zur Aufgabe, wobei er mit viel Reflexion und Erkenntnis zu Werke ging.4

3Ǧamāl

al-Bannā hat seine Vision in verschiedenen Büchern dargelegt, vor allem in: Die Erneuerung des Islam und die Wiederbegründung des islamischen Wissenssystems (Arab.), Für einen neuen Fiqh (drei Bde., Arab.), Der Islam ist Religion und Umma, nicht Religion und Staat (Arab.), die alle im Verlag Dār al-Fikr al-Islāmī erschienen sind, der al-Bannā gehört und dessen Werke druckt. 4Zakī Najīb Maḥmūd hat mehrere Bücher zu diesem Thema verfasst, darunter Die Erneuerung des arabischen Denkens (Arab.), Werte der Kultur (Arab.), Das Rationale und das Irrationale in unserer geistigen Kultur (Arab.), Unsere Kultur im Angesicht des Zeitalters (Arab.), Über die Modernisierung der arabischen Kultur (Arab.) und Islamische Vision (Arab.). Diese Bücher wurden mehrfach vom Kairiner Verlag Dār al-Shurūq aufgelegt; einige wurden vom Verlag Mashrūʿ Makatabat al-Usra neu gedruckt.

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Der Terminus „Erneuerung“ jedoch hat sich in seiner aktuellen Ausdeutung zurückentwickelt, bis er sich auf die „Erneuerung des religiösen Diskurses“ verengte (vgl. al-Qāḍī 2008, passim). Diese Rückentwicklung ist freilich nur eine partielle und der Weg niemals denjenigen versperrt gewesen, die die Erneuerung auf ein höheres Niveau heben wollen, wie es Ḫūlī, Ṣaʿīdī und Bannā getan haben. Die offiziellen religiösen Institutionen sind sofort aktiv geworden, nachdem die arabischen Regierungen dieses Thema für sich entdeckt hatten, um nach den Ereignissen des 11. September eine Antwort auf den amerikanischen Druck parat zu haben. So wurden in kurzer Zeit mehrere Bücher veröffentlicht, darunter Die Erneuerung des religiösen Diskurses von Sālim ʿAbdalǧalīl, Die Erneuerung des intellektuell-religiösen und missionarischen Diskurses von Saʿīd Muḥammad ʿAlī und Die Führung des Imam zur Erneuerung des religiösen Diskurses von einer Anzahl von Gelehrten, Scheichs und Forschern. Die erklärten Ziele dieses Trends sind die Neuformierung des muslimischen Bewusstseins und Verständnisses, sowie muslimischer Wahrnehmung und Vision, und zwar im Einklang sowohl mit der Offenbarung als auch mit der Vernunft, damit das verloren gegangene islamische Modell wieder aufersteht – und zwar gemäß den Anforderungen der Gegenwart, den Ansprüchen der Umma, der Inspiration durch die Traditionen der Wandels, der Entwicklung in der islamischen Geschichte, der Anwendung des Fiqh auf die Realität, der Ausweitung des iǧithād, und der Unterweisung der Menschen in der Essenz und Wahrheit der Religion, nachdem sie diese verlassen und ihre Balance verloren haben. So machten sie die religiöse Pflicht zu einem Mittel und dieses Mittel wieder zur Pflicht, betonten den islamischen Mittelweg und reinigten die Kultur (ʿAbdalwahhāb 2008, S. 27). Dennoch war jene Rückkehr in die Vergangenheit aus zwei wesentlichen Gründen nichts rein Negatives: Erstens haben diejenigen, die die Erneuerung forderten, entweder vor den Schlüsselstellungen oder den Grundprinzipien zurückgeschreckt, oder sie waren an der Neuzusammensetzung dessen gescheitert, was sie dekonstruiert hatten, wie auch an der Präsentation einer kohärenten theoretischen Struktur, die ihre Ambitionen belohnt hätte, die sie mit der Erneuerung an den Tag gelegt haben. So machten sie es ihren Kritikern leicht, sie als „Beharrer“ anstatt als „Modernisierer“ zu bezeichnen. Zweitens war die letzte Phase der Erneuerung breit und vielfältig und hatten wissenschaftliche Vereinigungen und Forschergruppen an ihr Anteil, die verschiedenen wissenschaftlichen Schulen, Denkrichtungen und Orientierungen angehörten, sodass sie nicht vor den Grenzen derer halt machten, die an den religiösen Wissenschaften interessiert sind, sondern sich auf Fachvertreter der Soziologie, Politikwissenschaften, Philosophie, Pädagogik, Literatur und Geschichte bezogen, gleich ob sie Muslime

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oder Orientalisten waren. Aber diese Anstrengung unterliegt immer noch dem Reaktionsprozess auf die Aufforderung des Westens an uns, unseren Diskurs zu modernisieren, was ihre Kraft und ihren Einfluss erheblich mindert und Zweifel an ihrem Zweck und an ihrer Wirkung sät.

Von der Erneuerung zur Aufklärung Zeitgenössische Muslime sind, neben der Notwendigkeit einer klaren Begrifflichkeit und Kursbestimmung, in drei Probleme oder Illusionen hinsichtlich der Aufklärung befangen, weswegen die Aufklärung nicht zustande kam oder in manchen Fällen zu einer Frühgeburt wurde. Behauptungen, dass die Aufklärung ein Kind sozialer Einflüsse und eines andersartigen historischen Kontextes, folglich ein uns fremdes und nicht bindendes Gut sei, was seinen Import und Konsum für uns schädlich mache, sollten ignoriert und am besten angezweifelt und zurückgewiesen werden. Die Urheber jener Behauptungen haben viel Unsinn in Umlauf gebracht, der viele veranlasst hat zu glauben, dass Aufklärung dem Glauben abträglich sei. Die Behauptung, dass wir die Krise hinter uns gelassen haben, hat nichts mit Aufklärung zu tun, deren Absicht darin besteht, Fortschritte in der Geschichte zu machen, sondern ist eine Rückkehr zur Vergangenheit, aus deren Erfahrung sie ihre Inspiration zieht. Die Urheber dieser Behauptung klammern sich an das Reden und Verhalten derer, die damals als „einzigartige Generation“ gelebt haben und auf deren Schultern der Islam gegründet wurde, doch ändern diese nichts daran, wie man den Islam versteht, was seine Ziele sind und wie man ihn verbreitet. Wann immer jemand neue Ideen vorbringt, die wir in unsere Lebensrealität umsetzen müssten, nachdem andere sie ausprobiert haben, und die ihnen dazu verholfen haben, ihre Rückständigkeit für den Fortschritt zu verlassen, behaupten die Anhänger jener Strömung, dass alles in uns selbst liege und wir andere um nichts beneiden müssen. Zakī Naǧīb Maḥmūd (2004, S. 178–179) hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: Ich bin mir des Ausmasses der Motivation bewusst, von der viele beseelt sind, unsere geistige Kultur zu verteidigen, wobei sie glauben, dass diese Verteidigung bei ihnen nur insoweit Grundlage und Pfeiler hat, wenn sie die Dokumente der Ahnen ausgraben und ein Wort hier und eines dort, einen Satz aus diesem Buch und einen aus jenem nehmen, um zu beweisen, dass die Werte dieses neuen Zeitalters – ich meine die hehren, edlen Werte – allesamt in unserer Kultur anzutreffen sind und wir das Blendwerk der Modernisten nicht nötig haben. Wenn die Modernisten Freiheit,

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Gleichheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit sagen, halten wir ihnen schwärmerisch entgegen: Träumt weiter, wir haben schon vor euch ein Jahrhundert der Freiheit, Gleichheit, Wissenschaft, Gerechtigkeit und anderer erhabener Werte erlebt, doch versäumen wir es immer sicherzustellen, dass diese Wortgefässe noch ihren ursprünglichen Inhalt tragen und dieser nicht ersetzt wurde, denn durch jenen allein fliesst der Zeitgeist in unseren Körpern; ohne ihn würden wir zurückbleiben und er ist es, der dafür sorgt, dass wir in Wort und Bedeutung, in Form und Inhalt mit den Ahnen leben.

Die Verfechter dieser verdrehten Position, die uns einen fatalen Verlust beschert haben, behaupten, dass sie sich nur an das halten, was feststeht und gar nicht strittig sein könne, weil seine Autorität absolut sei, selbst wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen änderten und die Generationen sich wandelten. Deswegen fragt sich auch Zakī Naǧīb Maḥmūd, ob es hierbei einen Widerspruch zwischen unserer Akzeptanz für jene in Stein gemeißelten Standards einerseits und unserem Reden andererseits gibt, wonach die Wahrheit sich mit dem Standpunkt, den wir einnehmen, wie auch mit dem Problem, das wir behandeln, ändert. Mit Verweis auf ein Beispiel für seine Vorgehensweise, dass auf seinem Weg zur Küste lauter Hindernisse liegen, die er umschiffen müsse, um sein Ziel zu erreichen, entgegnet er: „Ebenso verhält sich die Sache in Hinsicht auf unsere unvergänglichen, festgefügten Werte einerseits, und unsere relativen, sich wandelnden Werte andererseits. Erstere sind der Kompass, letztere die notwendigen Massnahmen für die unerwarteten Probleme“ (Maḥmūd 1989, S. 190–191). Freilich scheint diese Antwort, bei allem, was sie an Rationalismus und Fortschritt beinhaltet, weder hilfreich noch befriedigend, da Extremisten und Radikale die Definition der Konstanten, über die sie sprechen, ausgeweitet und viele Dinge in übertriebener Weise als in die Religion eingedrungen dargestellt haben, die dann nach ihrer Sichtweise über die Religion hinausgehen. Daher müssen wir Anstrengungen machen, jene Konstanten zu definieren und die meisten von ihnen in Relation zu den Kernfragen setzen, die mit dem Glauben verbunden sind, wie Muslime ihn kennen (der Glaube an Gott, seine Engel, Schriften und Propheten sowie das Jüngste Gericht). Was aber die speziellen Fragen der Scharia anbetrifft, so bedürfen sie einer erweiterten Diskussion, um ihre Konstanten und Variablen ausfindig zu machen.5 Dies ist wichtig, um das Labyrinth zu verlassen, in dem wir herumirren und aus dem wir bis heute keinen echten Ausweg gefunden haben.

gibt zwei wichtige Bücher, die zu dieser Debatte beitragen können: ʿAbdalḥalīm Maḥmūd: Islam ist Doktrin und Gesetz (Arab.), Kairo 1998, und Muḥammad ʿAbduh: Die Botschaft des Tauḥīd (Arab.), Kairo 2008.

5Es

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Behauptungen, wonach Dinge, die uns gegeben sind, und sei es innerhalb der Grenzen, die für Stabilität und Festigkeit sorgen, sich auch ändern müssen, wenn die dringende Notwendigkeit dies erfordert, können nicht auf die Tradition mitsamt ihrem Wissen, ihrer Werte und ihrer Tendenzen zurückgreifen, weswegen der Raum, der für Veränderungen zur Verfügung steht, eher zur Überlieferung statt zur Vernunft genutzt wird. Doch besteht kein Zweifel, dass der edle Koran zahlreiche Verse enthält, die sich der Aufklärung nicht nur nicht widersetzen, sondern sie geradezu fordern, sie verbindlich machen und auf ihr bestehen, indem diese Verse nämlich zur Notwendigkeit aufrufen, die Vernunft in die Praxis umzusetzen, über die irdischen Dinge, die Schöpfungen der Natur und den Glauben an die Evolution nachzusinnen, die Freiheit des Denkens, Äußerns und Reflektierens hochzuhalten und jeglicher Mittlerschaft zwischen Mensch und Gott eine Absage zu erteilen – mit anderen Worten: den menschlichen Willen von der Knechtschaft und dem Nützlichkeitsdenken zu befreien. Aufklärung tut not, nicht nur für uns, sondern für die Menschheit insgesamt, einschließlich des Westens, über dessen Aufklärung wir unablässig sprechen. So sagt Tzvetan Todorov unter dem Titel Darum brauchen wir permanent ein aufklärerisches Denken: Die Prinzipien der Aufklärung bleiben mehr denn je aktuell. Beispielsweise liegt es in unserer Macht, auf sie zurückzugreifen, um die Evolutionstheorie zu verteidigen oder die Folter zu verurteilen, die im Namen einer höheren Staatsräson praktiziert wird, wie wir in der Aufklärung auch eine mächtige Waffe haben, um die Kriege der Gegenwart zu verurteilen, die vorgeblich dazu dienen, Freiheit und Demokratie zu verbreiten, und aufgrund der wir die Vielfalt der Kulturen und Politiken respektieren und den ökonomischen Erfolg als Mittel, nicht als Zweck betrachten.6

Die Aufklärung ist wahrhaftig vonnöten, aber nicht in Gestalt dessen, was derzeit als „Erneuerung des religiösen Diskurses“ gehandelt wird7, denn dies bildet die unterste Grenze, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass es die Muslime aus der Krise hinauszuführen imstande ist, in der sie gegenwärtig leben, nachdem einige muslimische Radikale die Religion von einer Quelle der Glückseligkeit zu einer Ursache für Unglück gemacht zu haben. Ohnehin wird eine blosse

6Zurückübersetzt

aus dem Arabischen. (Anm. d. Ü.). sind viele Studien erschienen, die eine Erneuerung des religiösen Diskurses fordern, es dabei aber belassen, u. a.: Aḥmad Maḥmūd Karīma: Zeitgenössischer islamischer Diskurs (Arab.), Kairo 2011; Muḥammad Yūnus: Die Erneuerung des islamischen Diskurses von der Kanzel bis zum Internet (Arab.); Kairo 2013. 7Es

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Erneuerung des religiösen Diskurses nicht mit etwas enden, für das wir brennen und für das wir uns engagieren werden, weil das, was jenem Erneuerungsprozess entgegenstehen wird, bzw. diejenigen, die diesen Widerstand leisten werden, die religiösen Institutionen selbst sind, die den gegenwärtigen Diskurs mit seinem schweren Defizit angestoßen haben. Solche Institutionen werden das verteidigen, was ihnen vertraut ist und was den Interessen und dem Nutzen derer dient, die von ihnen profitieren. Deshalb werden sie den Forderungen nach Erneuerung entweder ausweichen, sie ihres Inhaltes entleeren oder kleinere Anpassungen vornehmen, die nicht dem genügen können, was um des Fortschritts willen gefordert wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich diese Forderungen auf die religiöse Vision oder auf die Wechselwirkungen der Religion mit anderen Gebieten beziehen. Es reicht auch nicht, von der „Erneuerung des Fiqh“ zu sprechen und dies als Ziel dessen zu betrachten, was wir anstreben, denn das wird uns zu einer ganz anderen religiösen Situation führen, wie z. B. ʿUṯmān al-Ḫašt (2015, S. 4–5) ausführt, der am Ende eines Artikels die Fähigkeit zur Erneuerung des islamischen Fiqh wie folgt hinterfragt: „Auf diese Weise landen wir nur erneut bei der Notwendigkeit eines geistigen Wandels als absolute Grundvoraussetzung, zu der wir beständig drängen, um ein neues religiöses Zeitalter zu begründen.“ Diese Begrenzung des Denkens und der Reflexion wird definitiv nicht in ein neues religiöses Zeitalter führen, sondern das alte mit leuchtenden Farben übertünchen, was nur Ignoranten und Ahnungslose als Novität halluzinieren. Hier und jetzt ohne zu zögern geboten ist die religiöse Aufklärung, die nicht nur altruistischen Zwecken dient, sondern auch, weil sie im Interesse der Religion, der Gläubigen und dem Rest der Menschheit liegt. Diese Ziele sind folgende: Das Image des Islam zu retten, das durch die Worte und Taten der Extremisten großen Schaden genommen hat, indem sie sich dieser Religion bedienen, um Tod und Zerstörung zu rechtfertigen. Ihr Ausgangspunkt ist das Verhältnis zu anderen Menschen, seien es Muslime, die nicht Teil ihrer extremistischen Vereinigungen sind, oder Nichtmuslime. Dies ist der offene Konflikt, in dem von allen Tricks Gebrauch zu machen erlaubt ist. Diese Extremisten haben im Laufe der islamischen Geschichte viele schlechte Dinge verbrochen, die den Zustand und das Image des Islam befleckt haben. Einige Versuche, diese Leute anzugehen wie auch der Einsatz traditioneller religiöser Institutionen, die Religion von solch toxischen Elementen zu säubern, sind fehlgeschlagen, weil diese Anstrengung, anstatt den Radikalismus „entschieden kognitiv und ethisch“ zu konfrontieren, nur sporadisch, marginal, oberflächlich und zögerlich erfolgte, da jeder, der sie unternimmt, einiges an geistigem Gepäck mit sich trägt, das auch die Extremisten tragen. Sobald die Aufklärung einsetzt, wird sie den Radikalismus konfrontieren und den Terrorismus einhegen und positiv auf das Image des Islam und der

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Muslime einwirken, das zutiefst Schaden genommen hat durch den orientalistischen, impressionistischen, kolonialistischen und hetzerischen Diskurs, der eben nicht auf die Suche, das Studium und die Erlangung der Wahrheit abzielt. Dieses negative Image war jedoch in vielen Curricula des Westens vorherrschend, während die Verfasser von Enzyklopädien, von Fach- und Lehrbüchern in den Ländern des Westens den edlen Koran, den Islam, den Propheten Muḥammad, die Araber und Muslime auf eine Weise darstellten, die nicht nur weit von wissenschaftlicher Objektivität und Integrität entfernt ist, sondern zuweilen ebenso von menschlichem Gefühl, Geschmack und Kultur.8 Seinen Höhepunkt hat dies mit den beleidigenden Karikaturen des edlen Propheten erreicht, die den Gefühlen der Muslime große Verletzungen zufügten, indem sie sich ihnen gegenüber einer groben, überheblichen, beleidigenden, widerlichen und rassistischen Sprache bedienten. Es gilt, die Muslime zu retten, die nicht nur dank des Diskurses und der Praktiken der Extremisten einen hohen Preis bezahlen, sondern ebenso dank der Anhänger einer starren und salafistischen Vision von Modernisierung, stammen sie nun aus den traditionellen Institutionen oder folgen Missionaren und Predigern. Denn der Eintritt in den Horizont der Moderne verlangt, dass die Voraussetzungen für den Fortschritt verinnerlicht werden. Dazu gehören das wissenschaftliche Denken, die Offenheit gegenüber dem Anderen, der Gebrauch der Vernunft in der Bewältigung des Alltags, der Glaube an Pluralismus und Vielfalt innerhalb der Gesellschaft, die Weigerung, alles religiös einzufärben und eine spezifische religiöse Vorstellung über alles richten zu lassen, was Menschen sagen und tun, wobei die Vernunft ausgeschaltet oder ignoriert, der Bereich des ḥarām ausgeweitet, der des ḥalāl eingeengt und im weitesten Sinne alles, was mit dem „Vergeben“ zusammenhängt, vergessen wird. So waren die Muslime häufig als Ergebnis der Tatsache zurückgeblieben, dass der Scheich-al-Islam im Osmanischen Reich per Rechtsgutachten den Buchdruck verboten hatte und die Scheichs in allen möglichen Ländern vielfach seinem Kurs gefolgt waren, sodass die Mittel und Produkte der Modernisierung auf gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Ebene verboten wurden. Es muss Schluss damit sein, die Anhänger anderer Religionen in den muslimischen Ländern zu beleidigen. Die Rhetorik der Extremisten, Engstirnigen und

8Für weitere Details zu diesem Punkt s. Das Bild der Araber und Muslime in den internationalen Lehrplänen: Amerika, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Deutscbland, Spanien, Russland, Indien, Korea, Brasilien und Israel (Arab.), (Hrsg.) von einer Gruppe von Forschern, Riad 2003.

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Hardliner, die Gott nur dem Wortlaut nach anbeten, besteht darin, den Glauben jener zu verleumden, ihn zu verachten, aus Unwissenheit zu verwerfen und zu versuchen, Andersgläubige dauerhaft die vollen staatsbürgerlichen Rechte vorzuenthalten. Dazu ziehen sie entweder historische Verfahren heran, die keine Gültigkeit mehr beanspruchen können, oder diskriminieren Andersgläubige am Arbeitsplatz, im Bildungswesen oder beim Erhalt von Dienstleistungen etc., oder betrachten sie gar als Freiwild und greifen ohne die geringste Rücksicht oder Zögern ihr Leben, ihren Besitz und ihre Ehre an. Wir müssen den Schaden kitten, der den nichtmuslimischen Gemeinschaften von Extremisten und Terroristen zugefügt worden ist, die im Namen des Islam töten und zerstören, nachdem sie die Welt in zwei Hälften geteilt haben, wie der verstorbene al-Qaida-Führer Osama bin Laden es formuliert hat, als er auf das historisch überlieferte Konzept einer Einteilung der Welt in das „Haus des Krieges“ und das „Haus des Friedens“ zurückgriff, mit dem die imperiale Expansion der Umayyaden, Abbasiden und Osmanen im Namen der Verbreitung und des Schutzes des Islam rechtfertigt worden war. Denn die Terrororganisationen haben viele Länder im Orient wie im Okzident ins Visier genommen und es geschafft, terroristische Anschläge gegen Einrichtungen, Institutionen, Menschen, Staatsbürger und deren Interessen auszuführen. Sie schüchtern Menschen dadurch ein, dass sie sie für Ungläubige erklären, zu mittelalterlichen Fehden aufrufen oder nicht zwischen solchen Ländern unterscheiden, die die Araber, Muslime u. a. angreifen, und solchen, die es nicht tun. Letztere fallen dann allein deshalb der terroristischen Bestrafung anheim, weil sie westliche Länder sind oder die Mehrheit ihrer Bevölkerung sich zum Christentum bekennt.

Fünf Voraussetzungen für die religiöse Aufklärung Wer die Gedankengänge der religiös-politischen Gemeinschaften näher betrachtet, wird sich bestätigt sehen, dass die „religiöse Reform“ zu einer dringenden Angelegenheit geworden ist, damit die Zukunft der Araber und der Muslime eine andere wird. Denn viele Probleme, die dem Weg des Fortschritts entgegenstehen, wie auch der Krisen, die sich immer wieder erheben, seien sie politischer oder intellektueller Natur, haben ihre Ursache darin, dass es stets irgendjemanden gibt, der die Vergangenheit in die Gegenwart zurückruft – und dies nicht, um daraus Nutzen zu ziehen, Lektionen zu lernen oder um nach einem Weg zur Authentizität zu suchen, sondern um das gegenwärtig Bestehende komplett auszulöschen. Es wird so getan, als ob dieses Schmutz und Dreck sei, rückständig und erstarrt, damit das, was in den frühen Jahrhunderten geschehen war, zwangsläufig als

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heilig, unverfälscht, fortschrittlich und maßgeblich erscheinen muss. Diese Auffassung ignoriert die Tatsache, dass die Ahnen schwerwiegende Fehler gemacht haben, wie uns von vertrauenswürdigen Historiografen überliefert wurde. „Religiöse Reform“ heißt in diesem Zusammenhang weder, die Religion zu modifizieren, noch, sie zu ersetzen, wohl aber, sie in Hinblick auf korrupte Muster von „Religiosität“, die aus der Religion eine Ideologie, Folklore, Geschäft, Neurose oder Märchen machen, zu überdenken und zugleich vieles von den „religiösen Disziplinen“ auszusieben, die in Form von Übernahme, Auswahl, Transformation und Wiederbelebung die ältere Literatur der Juristen und der Überlieferer heranziehen und sakralisieren. Was die religiös-politischen und missionarischen Gruppen betrifft, so werden diese ihre Gedanken und Vorstellungen nur dadurch entwickeln, dass sie ernsthaft, unparteiisch und wissenschaftlich die folgenden vier Tatsachen zur Kenntnis nehmen: 1. Es muss scharf unterschieden werden zwischen Offenbarung und Geschichte, wobei erstere auf letzterer aufbaut und letztere eine Erfahrung darstellt, die man berücksichtigen kann, die aber keine Basis für Analogien oder eine Richtschnur für Urteile über Handlungen, Verhaltensweisen oder daran anknüpfende Ansichten abgibt oder irgendeiner Sache oder Vorhaben Heiligkeit verleiht. 2. Es muss scharf unterschieden werden zwischen Text und Diskurs, d. h. zwischen dem Koran als einem einzigen feststehenden, abgeschlossenen Text und den einzelnen zahlreichen Überlieferungen, die Gegenstand von Studium, Erörterung und Rechtsdenken sind, die ihrerseits menschliche Tätigkeiten darstellen, die permanent überprüft und kritisiert werden müssen. 3. Es muss scharf unterschieden werden zwischen allgemeinen, elementaren Prinzipien oder Werten einerseits, die durch den Islam definiert sind, und ihren gesellschaftlichen und historischen Manifestationen andererseits, damit sich eine Tür für die Erneuerung letzterer öffnet, ohne dass die Prinzipien selbst unterdrückt oder verfälscht würden. Dies darf sich nicht auf die etablierten Manifestationen begrenzen, bei denen man nicht stehen bleiben darf, denn auch wenn einige von ihnen in der Vergangenheit ihre Tauglichkeit bewiesen und es geschafft haben mögen, die angestrebten Ziele und Zwecke zu erreichen, so sind sie für unsere Zeit nunmehr ungeeignet. 4. Es muss scharf unterschieden werden zwischen der Historizität der religiösen Symbole, selbst wenn sie von den Prophetengefährten stammen, und der Heiligkeit der Prinzipien, die der Islam gesetzt hat. Denn der einzelne Mensch erwirbt seine Stellung aus der Hingabe an das Prinzip, in dessen Dienst er sein Tun stellt, sodass er, wenn er von jenem abrückt, seine Stellung verliert. Der Islam überzeugt keinen einzelnen Menschen von sich, sondern der einzelne Mensch

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überzeugt alle. Die Männer anerkennen das Recht, aber das Recht anerkennt die Männer nicht. Im Prinzip reden die Anhänger dieser Gruppen auf eine Weise, die deutlich macht, dass sie diese vier Unterscheidungen zwar nicht völlig bestreiten und dass sie darauf aus sind, nach der Quelle oder Wurzel zu forschen und nicht nach dem, was in den Glauben von außen eingedrungen ist. Wenn sie jedoch anfangen, diese Vorstellung in einen Diskurs zu übertragen oder versuchen, sie auf die Lebenswirklichkeit anzuwenden, verfallen sie in gravierende Fehler, indem sie z. B. Göttliches mit Menschlichem vermischen, Text und Diskurs gleichsetzen, oder leugnen, dass der heutige gesellschaftliche Kontext mit seinen Problemen und Herausforderungen ein anderer ist als der, mit denen die Ahnen konfrontiert waren. Es gibt engstirnige und extremistische religiöse Vereinigungen, die dazu übergegangen sind, sich einigen dieser Probleme zu stellen. Dies ist insbesondere in den arabischen Ländern Fall, wo sie in großen Schritten auf die Politik zusteuern und diese Probleme in erschreckender Weise offen zutage treten. Diese Vereinigungen sind, sobald sie ihre Anschauungen offenbaren, die sich in ihren Köpfen über die komplexe Realität festgesetzt haben, und die sich einbilden, sie seien fähig, Schwierigkeiten zu überwinden, Probleme zu lösen und zufriedenstellende und adäquate Antworten auf sich erneuernde Fragen zu liefern, klar und deutlich gescheitert. Einige von ihnen haben immerhin begonnen, den „Interessen“ der Menschen das Gewicht beizumessen, das sie verdienen, und das Tor des iǧtihād so weit zu öffnen, dass es diesen Interessen entgegenkommt. Aber es wird immer welche geben, die den Wandel ablehnen und die jeden, der sich zum Besseren wandelt, als jemanden darstellen, der das religiöse Gesetz übertritt, die Religion verfälscht oder beleidigt, und die dabei Menschen finden werden, die ihnen bewundernd und leidenschaftlich zuhören und unkritisch und blind in ihren Fußstapfen folgen. Damit startet eine neue Staffel der Salafismus-Serie, die noch nachglimmt, wenn sie erloschen, und sich noch ausdehnt, wenn sie in sich zusammengefallen ist. Sie bringt die Herzen all derer zum Schlagen, die daran glauben, dass der Salafismus die „geheime Lösung“ für die Probleme und Krisen der Gegenwart bildet, die sich unentwegt erneuern, verknoten und außer Kontrolle geraten. Genauer gesagt, ist es uns nicht möglich, selbst kleine Schritte in Richtung Aufklärung zu machen, ohne die fünf elementaren Dinge anzuerkennen, die man wie folgt formulieren und umreißen kann: 1. Der Glaube ist eine individuelle Angelegenheit, was bedeutet, dass es keine Mittlerinstanz zwischen dem Gläubigen und seinem Gott gibt und niemand das Recht hat, den Glauben eines Menschen zu verurteilen oder über ihn zu richten,

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wie er auch kein Recht hat, sich in anderer Weise in die Definition seines Glaubens einzumischen als durch Erinnerung oder Mahnung, keinesfalls aber durch Vormundschaft, Kontrolle oder Zwang den Menschen ihren Glauben verkünden darf. Diese Auffassung steht nicht nur im Einklang mit dem Inhalt des koranischen Textes, sondern ist auch mit der natürlichen Vernunft vereinbar. Jegliche Handlung, die dem entgegengesetzt ist, korrumpiert die Wahrheit des Glaubens, macht die Religion zu einer Quelle des Unglücks und verbreitet Heuchelei, um ein Tor für die wenigen zu öffnen, die daraus ihren Lebensunterhalt bestreiten, Prestige gewinnen oder eine Lebensaufgabe gefunden haben, indem sie die Religion schändlich ausnutzen. Gott der Allmächtige sagt, zum Propheten Muḥammad gewandt, wie es der Koran (88:21–22) überliefert: „So ermahne: du bist nur ein Ermahner, du hast keine Macht über sie“, womit Gott das Amt des Propheten als Übermittlung definiert, nicht als Zwang im Glauben. Dennoch traten mit den Jahren Gruppen oder Individuen auf, die den Glauben aufzwingen, d. h. den Beitritt und die Bindung an ihn über das Prinzip namens al-amr bi-l-maʿrūf wa-l-nahy ʿan al-munkar („das Gute gebieten und das Schlechte verbieten“) erzwingen wollten, obwohl das amr (Gebieten) wie auch das nahy (Verbieten) nicht über Mitteilung, Erinnerung und Mission hinausgehen und nicht bedeuten, dass die Menschen zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden. Schließlich ist dieses Prinzip von Menschen gemacht oder sie haben es mit dem Inhalt der Offenbarung vermischt, nämlich durch Exegese, historische Überlieferungen, sowie Regeln und Rituale, die sie festlegen, um dann von den Menschen zu verlangen, dass sie sie befolgen, sonst würden sie aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und samt ihrem Besitz und ihrer Ehre von den Extremisten geächtet werden. Gleichzeitig muss ein „Wandel vom blinden Glauben zum Glauben als Wettbewerb“ (Lakhdar 2014, S. 13) stattfinden, d. h. der Glaube muss auf Verstehen, Bewusstsein und freier Entscheidung beruhen und nicht darauf, dass der Mensch das übernimmt, was vor ihm war und er damit umgeht, als handele es sich um eine ihm überreichte Sache, über die er weder nachzudenken noch zu reflektieren braucht. 2. Die Vernunft ergänzt den Vorgang der Offenbarung: Den traditionellen religiösen Annahmen zufolge ist die Vernunft entweder ein Gegner der Offenbarung, oder sie strebt danach, diese zu unterdrücken und einzuengen, oder sie ist unzureichend zum Verständnis der Offenbarung, d. h. wie ein Blinder, und damit unfähig, ihrem Inhalt zu folgen. Manchmal geschieht dies unter der Parole „Kein iǧtihād bei eindeutigem Text“, besonders wenn dieser Text gemäß der bekannten Klassifizierung als „absolut feststehend und absolut bewiesen“ gilt, und manchmal in der Auffassung, dass die Altvorderen ein grösseres Verständnis von der Religion hatten als die nachfolgenden Generationen.

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Muḥammad Aḥmad Ḫalafallāh (1984, S. 140–145) meint dazu: Für den Menschen ist Gott der Erhabene die Quelle der Wissenschaft und des Wissens, indem er sich den Propheten offenbart und von ihnen verlangt hat, die Offenbarung den Menschen und damit dem menschlichen Verstand zu übermitteln, der das Universum, mit allem und allen, die darin sind, betrachtet, durchdenkt und reflektiert. Wenn wir über die wissenschaftliche Wahrheit im Sinne der religiösen Wahrheit reden, deren Grundlage die Offenbarung ist, so bedeutet dies nicht, dass die andere wissenschaftliche Wahrheit, deren Grundlage die menschliche Vernunft ist, außerhalb des Genannten liegt, das von der Lehre und der Erforschung der koranischen Begriffe handelt.

In den Augen von Ḫalafallāh bleibt die Offenbarung grundlegende Quelle für unser Wissen über Gott, das Universum, die Schöpfung und vieles von dem, was in der Natur um uns herum liegt. Aber dies hält das Wissen nicht davon ab, für den Verstand verfügbar zu sein, um Gegenstand des Nachdenkens zu werden. Zugleich gibt es nichts, was den Verstand daran hindern könnte, über andere Dinge nachzudenken, die weit davon entfernt sind und von den Entwicklungen erzwungen werden, von denen das menschliche Leben geprägt ist. Lafif Lakhdar trägt diese Fragestellung noch einige Schritte weiter, wenn er für die „Reform des Islam“ im Sinne dessen plädiert, was er „Rationalismus“ nennt, und sagt: „Das Ziel der Reform des Islam ist es, den zeitgenössischen Islam dahin zu bringen, dass er den islamischen religiösen Rationalismus annimmt, weil er dadurch zu den anderen Religionen, mono- wie polytheistische, aufschließen wird, die ebenfalls den religiösen Rationalismus angenommen haben, und er so mit dem absoluten unverdorbenen Glauben der Alten zusammenfällt“ (Lakhdar 2014, S. 19). Für Lakhdar meint „religiöser Rationalismus“, die Institutionen, Wissenschaften und Werte der zeitgenössischen Welt, sowie den entschiedenen Glauben an die Menschenrechte zu akzeptieren und die geistige Lähmung zu überwinden, zu der es zwangsläufig kommt, wenn der Blinde dem Altvorderen folgt und dessen Denkweise und Religiosität übernimmt (Ebd., S. 19–20), obwohl die Umstände unserer Zeit von denen ihrer Zeit verschieden sind und viele der Fragen, die sich uns jetzt stellen, von jenen unterscheiden, die sich ihnen gestellt haben. 3. Das moralische Bewusstsein und alles, womit sich die religiösen Visionen befassen, die aus extremer Armut hervorgegangen sind, existiert seit der Frühzeit der arabisch-islamischen Kultur. Was aus dem „Sieg des Fiqh über die Philosophie, der Scharia über die Moral und das unabhängige menschliche Bewusstsein, sowie der Religiosität über die Religion hervorgegangen

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ist, hat nicht zum Durchbruch einer islamischen Ethik beigetragen, die von Selbstdisziplin, Autonomie und Verallgemeinerungsfähigkeit geprägt ist“ (Barhūma 2014, S. 76–77). Das Fehlen des moralischen Aspektes, der eng mit der Spiritualität und Wachheit des Geistes verbunden ist, hat die Gottesdienste (ʿibādāt) in ein Bündel leerer Rituale verwandelt und die zwischenmenschlichen Beziehungen (muʿāmalāt) dem Nützlichkeitsdenken unterworfen, indem man entweder schnelle diesseitige Profite erwirbt, oder danach strebt, spätere Profite im Jenseits zu erlangen, indem man durch nüchtern kalkulierte Taten Pluspunkte sammelt. Vertreter dieses Denkens glauben, dass es in ihrer Macht liegt, davon zu profitieren, wenn sie sich an die Gerechtigkeit Gottes halten, nicht etwa an seine Gnade oder Gunst, wobei sie Fiqh und Koranexegese zur Anwendung bringen, die ihnen in ihrer Auffassung, die zum Äußeren der Texte neigt, entgegenkommen. Natürlich ist eine Anstrengung oder ein Projekt namens Renaissance, Aufklärung oder Reformation in der arabischen Region oder muslimischen Welt im allgemeinen nicht vollständig, wenn es sich nicht hinreichend mit der Idee der Reform religiöser Ideale und Werte befasst und wissenschaftlich ernst zu nehmende Anstrengungen theoretischer und philosophischer Art unternommen hat, die sich mit der Natur der Beziehung von Religion und Ethik befassen (Ebd., S. 7).

Folglich muss, wer eine Reform begehrt, danach streben, eine offene Moral zu etablieren, die auf den Werten der Freiheit, des Rationalismus und der Gleichheit unter den Menschen beruht, um, ungeachtet ihrer Verschiedenheit in vielen Dingen, eine Vision zu artikulieren, die mehr auf den Menschen vertraut und gegenüber den Vorstellungen und Angeboten des starren und geschlossenen Fiqh mitsamt seinen verzweifelten und holprigen Auslegungen in Bezug auf den Menschen standhaft bleibt, die Existenz ethischer Annahmen, die nicht religiöser Natur sind, anerkennt, und der Überlieferung des Volkes in Urteilen, Sprichwörtern, Erzählungen und aller Arten von Philosophie, Kontemplation, Literatur und Kunst etc. seine Reverenz erweist (Ebd., S. 19–50). Im allgemeinen gibt es im religiösen Feld theoretisch mindestens zwei Paradigmen für den Wandel. Das erste geht von den Propheten aus, die als inspirierende Persönlichkeiten an einer Veränderung der öffentlichen Moral arbeiten, was dann zur sozialen Reform führt. Das zweite bilden die sozialen Bewegungen, die sich um Autoritäten oder spirituelle Führer gruppieren, die ihrerseits darauf bedacht sind, eine spirituelle Revolution ins Rollen zu bringen (Acquaviva und Pace 2011, S. 148). Alle beide, Ethik und Geist, mangeln der

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„religiösen Erfahrung“ der Engstirnigen und Extremisten, die mit Trivialitäten und Äußerlichkeiten handeln und in der Religion nach etwas suchen, das ihren verqueren Lebenswandel rechtfertigt und ansonsten weit entfernt ist von einer Befragung der Herzen, einer Konsultation der Sinne oder einem Verständnis für die Absichten der Religionen. Damit dies nicht nur Wunschdenken oder Rechthaberei bleibt, müssen wir Wege definieren, die zur Verwirklichung dieser Glaubensvorstellungen, zur Anwendung der Vernunft und Verpflichtung zur Ethik führen, damit sich all dies von den Buchseiten, Seminarräumen und schmalen Intellektuellenzirkeln auf die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite überträgt. Dies soll durch Unterricht, Curricula und das Bildungswesen geschehen, sowie über Medien und Informationskanäle, Institutionen und Projekte der Zivilgesellschaft. 4. Religion und politische Macht zu verknüpfen macht die Religion zu einer Ideologie oder einen Rahmen, in dem Macht zum Selbstzweck wird, bzw. das Verhalten der Macht um ihrer selbst willen rechtfertigt wird, nachdem man sie erlangt und verinnerlicht hat oder indem man Unterstützer und Anhänger rekrutiert, um ihren Einfluss zu stärken, und versucht, ihre Grundpfeiler zu festigen, indem man verbietet, gegen sie aufzubegehren, oder ihr die Opponenten dadurch vom Leib hält, dass man sie des Unglaubens und der Ignoranz (i. S. d. ǧāhiliyya) bezichtigt und sie verleumdet. Die Erfahrung der Geschichte zeigt uns, dass das Streben nach politischer Macht der vergiftete Dolch war, der ohne Ausnahme alle Religionen durchbohrt hat. Deswegen ist es im Interesse der Religion erforderlich, dass man zwischen dieser und jener unterscheidet und das Interesse der Politiker und all derer, die die Religion als machtlegitimierend präsentieren oder behaupten, zur Macht zu gelangen sei notwendig, um die Religion und ihre Verbreitung sicherzustellen, erst an zweiter Stelle kommt. In Wahrheit wird sonst die Religion manipuliert und ohne Anstand oder Rücksicht um des weltlichen Nutzens wegen ausgenutzt, der oft mit Täuschung, Falschheit, Trickserei, Doppelmoral und Spiegelfechterei einhergeht. Vielleicht bildet die „Herrschaftsliteratur“ einen praktischen, klaren Beweis für die Korruption und Verkommenheit dessen, was die Vermischung der Religion mit der staatlichen Macht in der islamischen Geschichte hervorgerufen hat. Die „Herrschaftsliteratur“ sind jene politischen Schriften, deren ursprüngliches Erscheinen zeitlich mit dem zusammenfällt, was die meisten Menschen als Umschwung des Kalifats zum Königtum bezeichnen, wobei jenes grösstenteils vom persischen politischen Erbe überliefert und übernommen worden war, mit dessen Hilfe die Geschäfte des entstehenden islamischen Staates organisiert wurden. Dabei handelt es sich

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Tatsächlich sind viele Rechtsgelehrte und Produzenten des religiösen Diskurses in der Erstellung von Ansichten und Ideen im Bereich der „Herrschaftsliteratur“ aktiv, die meistens mehr auf die Verlängerung der Überlebensdauer des Herrschers auf seinem Thron abzielt als auf die Herstellung von Gerechtigkeit unter den Untertanen. Am problematischsten in dieser Hinsicht ist, dass die Rechtfertigung dieses Ziels aus einer religiösen Richtung kommt und sich für die Ausbeutung der Wissenschaften des Islams und seiner Texte geöffnet hat, um die Interessen der politischen Macht umzusetzen. Dieser Prozess hat den Muslimen großen Schaden zugefügt, die immer noch den Preis dafür zahlen müssen und vielleicht noch in der Zukunft zahlen werden. Deshalb muss dieses Übel unter der Ägide der Aufklärung, die allein imstande ist, ihm Grenzen zu setzen, ein Ende haben, nachdem die Weisen, Wissenden und alle, die nach einer Verbesserung der Lebensumstände streben, solange darauf gewartet haben. Wenn die politisch-religiösen Gruppen, um ihr politisches Projekt zu rechtfertigen, dagegen einwenden, dass der Prophet selbst Politik gemacht und sich wie ein Staatspräsident verhalten habe, so entkräftet der Rückgriff auf die prophetische Erfahrung in Wissen und Bewusstsein diese Vorstellung. Hierzu sagt ʿAbdalilāh Bilqazīz (2005, S. 200): „Gewiss, in der prophetischen Erfahrung sind das Religiöse und das Politische zusammengefallen, aber dies bedeutet nicht das, was Ḥasan al-Bannāʾ9 geglaubt und verteidigt hat. Im prophetischen Projekt war die Politik nicht von der Religion getrennt, aber zugleich wurde sie von ihr auch nicht dominiert oder bildete einen ihrer Zweige.“

9Ḥasan

al-Bannāʾ (1906–1949): Gründer der Muslimbrüder. (Anm. d. Ü.).

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ʿAlī ʿAbdarrāziq10 (2002, S. 88, 105, 113) ist noch darüber hinausgegangen, als er in seinem Buch, das noch immer heftige Kontroversen hervorruft, die Frage stellte: Wieviel von einem König ist kein Prophet oder Gesandter Gottes? Wieviel Prestige zöge Gott aus den Gesandten, wenn sie Könige wären, wo doch die meisten Gesandten, die wir kannten, einfach nur Gesandte waren? … Muḥammad war nur ein Gesandter für die rein religiöse Mission zur Religion, ohne einer Neigung zum König oder einer Mission für den Staat verdächtig zu sein. Tatsächlich verfügte der Prophet weder über eine Herrschaft noch über eine Regierung und er hat auch kein Königreich in dem Sinne begründet, dass er unter diesem und ähnlichen Begriffen eine Politik verstanden hätte, die nicht die eines Propheten war, wie dies auf seine Brüder zutrifft, die keine Propheten waren. Er war weder ein König noch ein Staatsgründer noch rief er zur Herrschaft auf … Der Koran ist darin eindeutig, dass Muḥammad nur das Recht der Offenbarung über seine Gemeinde hatte.

Die Verknüpfung des Islam mit der politischen Macht führt zur Formierung des „religiösen Staates“ – ein Begriff, der im zeitgenössischen politischen Denken Ängste weckt, insofern als er dem Staat das Monopol über die Deutung des religiösen Textes verleiht, was ihn zum Eigentümer der göttlichen Macht erhebt, die diesem Text inhärent ist. Sie ist nämlich ihrer Natur nach eine absolute Macht und geschützt durch Bestrafungen, die bis zur Todesstrafe reichen … Daher sollte der Staat seine Gewalt aus einer zweifachen Macht beziehen: Der natürlichen Macht des Staates selbst und der himmlischen Macht der verborgenen Autorität (Yāsīn 2009, S. 350).

Wenn wir uns mit der Natur der Rolle des Propheten befassen, müssen wir zwischen „Führerschaft“ und „Präsidentschaft“ unterscheiden, denn erstere ist von gesellschaftlicher Natur, d. h. sie basiert auf den Eigenschaften und Qualitäten der Person, die die Akzeptanz der Gemeinschaft genießt, zu der er gehört und die ihm Verehrung, Respekt und Liebe entgegenbringt, ohne ihr gegenüber offiziell verpflichtet zu sein und ohne, dass sie eine offizielle Macht über sie hätte. Die zweite wiederum verfolgt einen offiziellen Zweck, dessen Wesen an die Existenz eines Amtes gebunden ist, wobei jemand, der dieses ausübt, nicht notwendigerweise Liebe, Respekt oder Verehrung genießt. Er hat nur kraft dessen, was sein Amt ihn an Kompetenzen zur Verfügung stellt, Gewalt über die Menschen. Ich

10ʿAlī

ʿAbdarrāziq (gest. 1966): Ägypt. Jurist und Verfasser des einflussreichen Buches Der Islam und Grundlagen der Herrschaft (1925). (Anm. d. Ü.).

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glaube, dass die Stellung des Propheten die eines „Führers“ der Muslime war, nicht die eines Präsidenten und dass sein politisches Verhalten Ausdruck seiner Führerschaft war und nicht der Präsidentschaft entsprang. Aus all diesem ergibt sich, dass es keine wahre Aufklärung gibt, ohne diese Unterscheidung zu treffen, die nicht die Trennung der Religion von der Politik meint, was ein rein theoretischer Vorschlag wäre, der deshalb schwer umzusetzen ist, weil Politik und Religion gemeinsam fallen und steigen und sich in allen Kulturen, Gesellschaften und in allen geschichtlichen Epochen vielfach gekreuzt haben und in unterschiedlicher Stärke begegnet sind. Was ich meine, ist vielmehr eine vollständige Scheidung der Religion von der politischen Macht, damit die Religion sich nicht in eine Ideologie (politische Überzeugung) verwandelt, irgendein Herrscher behaupten kann, dass sich seine Macht von Gott herleite, er die Religion für seine politische Propaganda ausbeutet oder dem Konflikt zwischen den Wettbewerbern auf dem politischen Feld ein Spielraum eingeräumt wird, innerhalb dessen sie in der politischen Praxis von der Richtig/Falsch-Linie zur Glaube/Unglaube-Linie übergehen könnten. 5. Die Modernisierung der Gesellschaft ist ein weiterer Punkt. Viele glauben, dass in der Dürftigkeit der Anstrengungen von Rationalisten und Aufklärern der Grund dafür liegt, dass es bei den heutigen arabischen Modernisten zu keiner Aufklärung und keiner echten religiösen Reform gekommen ist. Dies ist jedoch nicht das ganze Dilemma, sondern nur ein Aspekt davon und auch nur ein geringer und untergeordneter Aspekt gegenüber der dringenden Notwendigkeit, die Modernisierung in allen ihren Dimensionen überhaupt zu verwirklichen. Hierzu sagt Maḥmūd Amīn al-ʿĀlim, der die Schriften einer Reihe von arabischen Philosophen und Intellektuellen eingehend studiert hat, die sich der Frage widmeten, warum die Aufklärung eines Averroes bei uns versandet ist, während die Europäer sie zu nutzen wussten: Die Rückständigkeit der objektiven, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, die es erlaubt hätten, dass sich in unseren Gesellschaften die Aufklärung manifestiert und der Rationalismus zur Blüte erhebt, wie auch die Abwesenheit der Aufklärung, sind objektiv das Ergebnis einer verscheuchten Modernisierung, gibt es doch ohne Modernisierung auch keine Aufklärung. Deshalb existiert kein Unterschied zwischen der Aufklärung eines Averroes in Europa und seiner Verdunkelung in unserer, der arabischen Welt; umso mehr einen zwischen einer Gesellschaft, die gewachsen, und einer anderen, die zurückgeblieben und noch immer im Rückstand befindlich ist. Darum macht es auch keinen Sinn, Averroes wiederbeleben, sich von ihm inspirieren lassen und ihn als Vorbild nehmen, ja ihn sogar übertreffen zu wollen, ohne ein umfassendes strukturelles Entwicklungsprojekt für die landwirtschaftlich-industrielle Produktion in Gang zu setzen, das

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die grundlegenden Strukturen unserer arabischen Gesellschaften verändert und entwickelt (ʿĀlim 2010, S. 92).

Allerdings gibt es Leute, die dazu aufrufen, nicht länger auf die Entstehung gesellschaftlicher Bedingungen zu warten, damit sich Aufklärung und Demokratie einstellen. So sagt Muḥammad Ǧābir al-Anṣārī (1992): „Wenn das allgemeine soziale Klima das Hindernis für die intellektuelle Befruchtung darstellt, wann war dann die Geschichte gnädig mit den Intellektuellen und Kulturschaffenden?“ Hat Europa nicht seine frühen Gelehrten verbrannt, als sie von der Kugelform der Erde und ähnlichem sprachen? Trotz allem schritt das europäische Denken auf seinem Weg voran, um zu geben und zu erneuern, und hatte zwar nicht auf das Kommen der Demokratie gewartet, diese jedoch letzten Endes hervorgebracht, indem es neue Gedanken, praktische Programme und passende Formeln präsentierte. Dies ist ein Faktum, über das man nachdenken sollte. Das europäische Denken ist der historische Vater der europäischen Demokratie, nicht umgekehrt, dass also die Demokratie das Produkt eines bahnbrechenden, innovativen Denkens ohne Vorläufer wäre. Die arabischen Intellektuellen bestehen allerdings naiverweise darauf, dass der Karren vor das Pferd gespannt wird, und sagen: Gebt uns Demokratie, dann geben wir euch ein entsprechendes Denken, und wenn nicht, dann nicht. „So begreifen sie die Realität ihrer Gesellschaften.“ In Wahrheit liegt kein Widerspruch zwischen diesen beiden Richtungen, denn wer die Aufklärung in allen seinen Spielarten mit der Modernisierung verknüpft, verbleibt auf der authentischen Seite der Realität, und wer die Intellektuellen dazu aufruft, nicht auf die politische Reform zu warten, mit der sie die intellektuelle Reform unternehmen könnten, verbleibt ebenfalls auf der authentischen Seite der Realität, die nicht weniger bedeutend ist als die erste. Denn die Intellektuellen müssen für die Aufklärung kämpfen, was auch immer die Bedingungen ihrer Gesellschaften sein mögen, und wenn diese Bedingungen noch nicht geschaffen sein sollten, dann dürfen sie nicht schweigend, seufzend und untätig herumsitzen, sondern müssen die geeigneten Ideen und Vorstellungen vorlegen, die für eine Anpassung an diese Herausforderungen sorgen. Sie müssen sie den Menschen unterbreiten und wenn diese sie verstehen und an sie glauben, werden sie Druck zugunsten der Aufklärung machen oder sich individuell in ihrem Sinne verhalten. Dann wird sie Realität werden und sei es nur schrittweise, weil die Macht, wenn ihre Stunde gekommen ist, der Aufklärung nicht im Wege stehen wird, wenn es darum geht, auf das, was die Menschen verlangen, eine Antwort zu finden. Anderenfalls würde sie ihre Legitimation verlieren und sich zu einer Macht wandeln, die stürzt und unvermeidlich fällt und, je länger sie sich hält, um so mehr an die Herrschaft klammert.

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Die Reform des Islam Es gibt Leute, die sich über einen Titel von dieser Klarheit wundern und mit vor Staunen aufgerissenen Augen fragen: Braucht der Islam überhaupt eine Reformation? Sollte sich der erstaunt Fragende nun bis zur Ermüdung mit dem Denken, der Suche und der Lektüre der Literatur zum Thema Geschichte, Fiqh, Exegese und Umma sowie vorab derjenigen zur vergleichenden Religionswissenschaft beschäftigt haben, dann wird er feststellen, dass der Islam gekapert worden ist. Was wir von ihm besitzen, ist nicht mehr das, was der Prophet hinterlassen hat, wie auch die Essenz des Islam, die auf zwei zentralen Werten basiert, nämlich dem strikten Monotheismus (tauḥīd) und der Gnade (raḥma), sich zu unterschiedlichen Formen von Ideologien, Legenden, Folklore, Kommerz und Neurosen gewandelt haben. Institutionen und Individuen haben dies durch die Geschichte hindurch ausgenutzt oder instrumentalisiert, bis wir nichts mehr vom Islam zu sehen bekamen. Schwerer Schutt hat sich über ihm aufgetürmt, seine sprudelnden Quellen zum Versiegen gebracht und seine Natur und Essenz zerstört, wie es zuvor schon anderen Religionen widerfahren ist. Deswegen bedarf es der Reformation. Die Salafisten werden einwenden, dass sie doch die eigentlichen Reformatoren seien, verlangten sie doch die Rückkehr zur den Wurzeln. Allerdings entbehrt diese Auffassung einer wissenschaftlichen Methodik, die nach der Wahrheit sucht, nicht bloss nach dem „forensischen Beweis“, der aus dem Text, dessen Exegese, sowie der Geschichte und seinen Ereignissen abgeleitet wird. Was in dem Jahrhundert nach dem Tod des Propheten kodifiziert wurde, kann nicht das sein, was sich damals genau zugetragen hat, da vieles hinzugefügt wurde, was den damaligen Vorstellungen und Anforderungen sowie dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand mit einer großen Bandbreite an Absichten und Interessen entsprach. Auch die Methode, der die Salafisten folgen, um zur Quelle zu gelangen, ist ein menschliches Konstrukt, das sich nicht bruchlos in der Geschichte der Muslime fügt (Ibn Ḥanbal, Ibn Taimiyya, Ibn ʿAbdalwahhāb, einschließlich vieler ihrer Schüler und Anhänger). Würden die Salafisten anerkennen, dass ihre Lehre lediglich iǧtihād und damit eine Facette des Islam darstellt, so wäre die Sache nicht weiter der Rede wert, doch bedauerlicherweise bilden sie sich ein, dass ihre „die wahre Religion“ sei. So wie sie machen es viele Gruppen, Vereinigungen und Organisationen, die sich mehr mit der Religion beschäftigt haben als es ihnen guttut und die sie in ein Instrument verwandelt haben, mit dem sie Ziele und Zwecke verwirklichen, die nicht mit der Rolle vereinbar sind, die die

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Menschen von der Religion zu spielen erwarten. Was sich die Menschen von Gott wünschen, ist spirituelle Erfüllung, ethische Erhabenheit und das Hochhalten von Werten wie Gnade, Freiheit, Gleichheit, Würde, Glück und Mitmenschlichkeit. Viele sagen, dass all dies im Koran vorhanden sei, sei dieser doch der „konstitutive Text“ des Islam, der, solange er uns zur Verfügung steht, uns die Möglichkeit gibt, zur Wurzel derjenigen Religion zurückzukehren, die auf Muḥammad herabgesandt worden war. Die Salafisten vergessen dabei vier Dinge: Erstens, dass der Koran binnen weniger Tagen dem Vergessen anheimgefallen war und zu einem Buch wurde, das mehr um des Segens willen gelesen wird als über seinen Inhalt nachgedacht, möglichst präzise verstanden und mit modernen wissenschaftlichen Methoden sich ihm angenähert wird. Den Platz des Koran eingenommen haben, wenn auch die meisten von uns sich dessen nicht bewusst sind, andere menschengemachte Texte, die ihn interpretieren und seine Bedeutungen und Absichten erläutern sollten, ihn jedoch allmählich überlagert und überdeckt haben, sodass er aus unserem Blickfeld geraten ist. Das zweite ist, dass der Koran häufig unvollständig gelesen wird, wodurch seine wahre und natürliche Präsenz aus unserem Leben entschwindet. Das macht ihn zu einem Objekt der Manipulation durch Extremisten und Ideologen, die ihn dahin gehend ausnutzen, dass er ihren verdrehten Lebensstil rechtfertigt, ihre Interessen bedient, selbst wenn diese dem Wesen der Religion entgegenstehen, und überhaupt ihnen Vorteile verschafft, wie bösartig diese auch immer sein mögen. Obwohl wir in unserem politischen und rechtlichen Dasein beteuern, dass die „Verfassung“ nur als organische Einheit gelesen werden kann, weil jeder ihrer Artikel nur einen Teil von ihr auslegt, wie es auch bei literarischen Texten der Fall ist, wo jeder Teil nur im Rahmen seines Ganzen gelesen wird, so begreifen dies viele von denen nicht, die mit dem Koran herumhantieren, indem sie einzelne Suren nehmen, sie auf spezifische Ereignisse anwenden und behaupten, dies sei der Standpunkt Gottes, der den Koran herabgesandt hat. Drittens hat der Koran im Laufe seiner Zeit mit dem muslimischen Leben interagiert, wobei einige Muslime ihn, angefangen vom Schiedsgericht zwischen ʿAlī und Muʿāwiya11 bis hin zu dem, was extremistische Gruppen in unserer Zeit anrichten, ausgenutzt haben.

11Dabei

ging es um die Frage, wer das Kalifat innehaben sollte: Ein Schiedsgericht hatte den Anspruch von Muʿāwiya, damals Gouverneur von Damaskus, bestätigt und ʿAlī, der 656 von den Medinensern zum Kalifen gewählt worden war, bevor er sich starken Widerstands seitens der Mekkaner ausgesetzt sah, erkannte das Urteil an, was jedoch nicht zur Befriedung führte, sondern radikale Kräfte befeuerte (Anm. d. Ü.).

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Viertens existiert der Koran nicht in einem Vakuum, damit die Menschen ihn als einen Text verstehen, der unabhängig von Zeit und Ort existiert. Daher gibt es Leute, die an den „Begleitumständen seiner Herabsendung“ (asbāb nuzūlihi) festhalten und seine Historizität und schließlich seine relative Bedeutung in der Zeit einfordern. Es gibt aber auch Leute, die unablässig behaupten, dass sie seine Intention verstünden, und genau sie sind es, die dem Koran so häufig schaden, indem sie an seinem Buchstaben und an seiner Rezitation kleben und dann durch die Randbemerkungen vom Text und durch die äußere Form vom Inhalt abgelenkt sind. Aus all diesen Gründen benötigen wir heute eine „religiöse Reform“, die uns dazu führt, einen „neuen religiösen Diskurs“ zu initiieren, anstatt uns damit zu begnügen, allein von der „Erneuerung“ des religiösen Diskurses zu reden, die nur eine frische Tünche auf der alten, abgeblätterten Fassade bedeutet, ohne diese niederzureißen zu wollen. Der Einwand, dass die religiöse Reform allein dem westlichen Christentum, nicht dem Islam spezifisch sei, fordert zum Sarkasmus heraus, sind doch einige islamische Vorstellungen und religiöse Stiftungen schon längst dazu übergegangen, die Rolle eines sich selbst im Wege Stehenden zu spielen, wie sie die Religion in Europa einzunehmen pflegte. Religionsgelehrte in den muslimischen Ländern erklären Tag und Nacht, dass es keine Priesterschaft im Islam gebe, aber sie selbst verwandeln sich durch ihr Auftreten, ihre Vorstellungen und die Verteidigung ihrer eigenen Interessen – unter dem Vorwand, dass diese die der Religion seien – auf eklatante Weise in eine Priesterschaft. So wie Positionen des Fiqh, der Exegese, dem Propheten zugeschriebene Hadithe, sowie Ereignisse und Lebensläufe der Frühzeit des Islam eine umfassende Revision erfordern, so benötigen wir eine Antwort auf die wichtige Frage, ob der Koran ein Text oder ein Diskurs ist. Wie oben erwähnt, lässt sich nur unter fünf Bedingungen über religiöse Reform reden, deren erste die ist, anzuerkennen, dass der Glaube eine individuelle Angelegenheit darstellt, in die sich keiner einzumischen hat, gleich ob er Religionsgelehrter oder Laie ist; und dass wir die Vernunft als etwas berücksichtigen, das dem Lauf der Offenbarung zuträglich ist, nicht ihn bekämpft. Wir sollten uns aber nicht damit begnügen, ersteres und letzteres einfach zusammenzuflicken, wie es die Prediger heutzutage machen, sondern uns den ethischen Aspekten zuwenden und sie als Essenz der Religion sehen, nicht als Rituale, wie wir uns auch um die soziale Reform kümmern sollten, damit die Religion sie befördert, nicht bekämpft. Zudem gilt es, dass wir klar und unzweideutig zwischen der Religion und der politischen Macht unterscheiden, die eine zivile sein muss, deren Führung für die Menschen und deren Gesetzgebung für die Institutionen, die sie wählen, da ist. Der zentrale Wert im Islam ist die „Barmherzigkeit“ (raḥma), nach der wir suchen sollten und wo auch immer wir sie finden,

Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam

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finden wir den wahren Islam, weit weg von der Kasuistik, den Kontroversen und Klassifizierungen, die jene produzieren, die behaupten, sie seien die Lordsiegelbewahrer des Islam jenseits seiner langen Geschichte. Es gibt verschiedene Wissenschaften, die auf zwei Ebenen Einzug in die islamischen Studien, oder „Wissenschaften des Islam“, halten müssen: Die erste ist die Präsenz dieser Wissensgebiete innerhalb der Curricula, die in den religiösen Instituten, Medresen und Fakultäten gelehrt werden. Die zweite ist die Reflexion der Tendenzen, die gegenwärtig in Fiqh, Exegese, Hadithwissenschaft, Kalām und den Doktrinen etc. gelehrt werden. Denn innerhalb dieser Felder widersetzen sich viele Theologen und Exegeten dem Einzug der vergleichenden Religionslehre, Religionssoziologie, Geschichtswissenschaft, Linguistik, Philologie, Anthropologie, Archäologie und Psychologie in die Curricula, die sie studieren und lehren. (Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

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A. A. Hassan

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Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus Aladdin Sarhan

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind im Diskurs muslimischer Intellektueller verstärkt reformistische Bestrebungen zu verzeichnen. Sie zielen darauf ab, dem traditionalistischen und islamistischen Gedankengut entgegenzutreten und ein zeitgemäßes Islamverständnis zu entwickeln. Dabei gilt als Prämisse, dass der Islam in keinem Widerspruch zur modernen Welt stehe, sondern mit Demokratie und Säkularismus sowie mit den als modern definierten Werthaltungen, Verhaltensweisen und Institutionen vereinbar sei. Diesen Bestrebungen diametral entgegengesetzt ist der Salafismus mit seiner Forderung nach religiöser Erneuerung (al-tağdīd al-dīnī) auf Basis der Rückkehr zum „richtigen Islam“ (al-islām al-ṣaḥīḥ), der mit der Widerlegung und sogar Bekämpfung und Beseitigung aller Glaubensanschauungen einhergeht, die sich selbst zwar als „islamisch“ bezeichnen, aber in der Wirklichkeit vom „wahren Islam“ abwichen. Die Erneuerung des Islam sollte aus salafistischer Sicht also nicht dazu führen, dass der Islam etwa mit Moderne, Demokratie oder Menschenrechten im Einklang stehe, sondern dass der Islam von Fremdeinflüssen „gereinigt“ und seine angeblich vom Verschwinden bedrohte Authentizität bewahrt wird. In Abgrenzung zur Mehrheit der Muslime lehnen Salafisten jede Anpassung der Interpretation der religiös-autoritativen Quellen des Islam (Koran und Prophetentradition [sunna]) an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten kategorisch ab. Für sie ist der „authentische Islam“ der einzig rechtmäßige Glaube. Da die Vorväter der muslimischen Gemeinschaft, die rechtschaffenen Altvorderen

A. Sarhan ()  Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_7

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(al-salaf al-ṣāliḥ, kurz: salaf)1 angeblich am ehesten dazu fähig waren, die reine Botschaft des Islam zu verstehen, zu verinnerlichen und ihr Leben danach auszurichten, müssten die Muslime heute die religiöse Praxis, die Lebensführung sowie Staats- und Rechtsordnung an der Tradition der salaf ausrichten. Nur so ließe sich der richtige Islam wiederherstellen bzw. gewährleisten. In den salafistischen Diskursen wird die salaf-Epoche zur „goldenen Ära“ (al-ʿasr al-ḏahabī) des „reinen Islam“ (al-islām al-naqī) verklärt. In dieser Epoche konnten „wahrhafte Muslime“ ein Weltreich begründen. Diese Glorifizierung steht der Abwertung der zeitgenössischen, als „dekadent“ empfundenen Gesellschaften und der Spaltung der Muslime weltweit gegenüber, die auf Fehlentwicklungen in der Religionspraxis zurückzuführen seien. In den nachfolgenden Generationen sei der „wahre Islam“ Entstellungsprozessen ausgesetzt, die bis in die Gegenwart fortwirkten. Dies habe zum tendenziellen Niedergang des Islam und der politischen Ohnmacht der Muslime weltweit geführt. Der Salafismus lässt sich somit beschreiben als eine religiöse Erneuerungsbewegung, die sich durch die Rückbesinnung auf ein imaginiertes Idealbild der „Urmuslime“ konstituiert. In diesem Beitrag wird das Augenmerk auf die wesentlichen Merkmale der salafistischen Theologie gerichtet.

„Bewahrer des wahren Islam“ Die Lektüre der einschlägigen, apologetischen Schriften zeitgenössischer salafistischer Autoren zeigt, dass der Salafismus eine religiös-puritanische Geisteshaltung ist, die in verschiedenen, in ideologischer Hinsicht zum Teil differenten, 1Die islamischen Überlieferungen schreiben den rechtschaffenen Altvorderen einen frommen Lebenswandel sowie eine hohe Einsatzbereitschaft für die Sachen des Glaubens und der Gemeinschaft der Muslime (umma) zu. Deshalb kommt diesen Generationen von Gläubigen eine Vorbildfunktion für die Mehrheit der Muslime auf der Ebene der Ethik und Moral zu. Salafisten gehen genau an diesem Punkt weiter. Sie ikonisieren die salaf-Generationen und sind der Ansicht, dass das geistige Erbe der rechtschaffenen Altvorderen das beinhalte, was einzig als der „richtige Islam“ gelten könne. Sie fordern vehement die akribische Nachahmung der rechtschaffenen Altvorderen in allen Lebensbereichen. Es gelte daher, vermeintlich unstatthafte Neuerungen, die nicht in Koran, Propheten- und Gefährtentradition zu belegen sind, zurückzuweisen und konsequent aus der religiösen Praxis und Lebensführung zu verbannen. Selektiv blenden Salafisten jedoch jene Überlieferungen aus, die von Konflikten, Spaltungen und Uneinigkeiten unter den Muslime während der Lebzeiten der salaf berichten – vor und nach dem Tod des Propheten. Deswegen lässt sich das Idealbild der salaf, an dem sich Anhänger des Salafismus kompromisslos orientieren wollen, in vielerlei Hinsicht als „Utopie“ beschreiben.

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Strömungen des sunnitischen Islam existiert. Im Wesentlichen fasst der von allen salafistischen Strömungen getragene Grundsatz „ittibāʿ al-qurʾān wa-l-sunna bi-fahm salaf al-umma“2 zusammen, was die Botschaft des Salafismus ausmacht. Salafisten sind der Auffassung, dass der Islam zu Lebzeiten des Propheten Muḥammad (570–632) und der salaf in perfekter Art und Weise praktiziert, später jedoch durch Fremdeinflüsse und unstatthafte Neuerungen (bidaʿ, sing. bidʿa) „verunreinigt“ bzw. „verfälscht“ worden sei (Ibn Bāz 2000, S. 10 f.; Ḥassān o. D., S. 7 ff., al-Maqdisī o. D., S. 5 ff.). Das arabische Substantiv „salaf“, das dem Wort „salafiyya“ zugrunde liegt, leitet sich von dem Verb „salafa“ ab, welches „etwas/jemanden vorausgegangen sein“ bedeutet. Das Wort salaf umschreibt im Allgemeinen diejenigen, die zeitlich vor der noch existierenden Generation lebten, also die „Ahnen, Altvorderen, Vorgänger, Vorväter“. Verbunden mit dem Adjektiv „ṣāliḥ“ (fromm, rechtschaffen) bedeutet al-salaf al-ṣāliḥ die „rechtschaffenen Altvorderen“. Traditionell steht der Sammelbegriff al-salaf al-ṣāliḥ für die ersten drei Generationen von Gläubigen, die nach muslimischer Auffassung die Grundlagen des Islam überlieferten und in den ersten drei Jahrhunderten der hiğra3 lebten. Mit „salafī“ (Salafist, pl. salafiyyūn) wird jemand bezeichnet, der in den Bereichen der gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) und der religiös bestimmten Umgangsvorschriften der Menschen untereinander (muʿāmalāt) der Methode (manhağ) der salaf bezüglich der Ableitung (istinbāṭ) der religiösen Rechtsurteile (aḥkām, sing. ḥukm) aus Koran und sunna folgt. Salafisten verstehen sich also als legitime Erben der salaf und Bewahrer des „wahren“ Islam. Daher beanspruchen sie für sich die Deutungshoheit über die islamische Orthodoxie und Orthopraxie. Diese generationsgebundene Bestimmung eines vermeintlich unkorrumpierten und unverfälschten Islamverständnisses, wonach ausschließlich die salaf als Vorbild für die späteren Generationen dienen dürfen, wird in der Regel mit der Aussage des Propheten Muḥammad (Hadith) begründet: „Die beste Generation ist meine Generation, dann jene, die nach ihr kommt, dann jene, die nach ihr kommt.“ (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 806). Diese „hierarchische“ Aufteilung in drei

2„Befolgung

des Koran und der Sunna nach dem Verständnis der Vorfahren der (muslimischen) Gemeinschaft.“ 3hiğra (Auswanderung) bezeichnet die Übersiedlung des Propheten Muḥammad von Mekka nach Medina im Jahr 622. Dieses Jahr markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.

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Generationen weist den ṣaḥāba (Prophetengefährten) die höchste Stellung zu.4 Muslimen, die zumindest dieser Gruppe der salaf folgen, verspricht der Koran die Belohnung mit dem Paradies im Jenseits: Die vorausgeeilten Ersten von den Auswanderern und den Helfern und diejenigen, die ihnen auf beste Weise gefolgt sind – Gott hat Wohlgefallen an ihnen, und sie haben Wohlgefallen an Ihm. Und Er hat für sie Gärten bereitet, durcheilt von Bächen, ewig und auf immer darin zu bleiben; das ist der großartige Gewinn (Sure 9: 100).5

Die zweite Generation der salaf umfasst die tābiʿūn (Gefolgsmänner bzw. Schüler) der ṣaḥāba, also diejenigen Muslime, die den Prophetengefährten begegneten und sich von ihnen in religiösen und profanen Fragen unterweisen ließen. Die Schüler der tābiʿūn werden tābiʿū al-tābiʿīn genannt und sind die dritte und letzte Generation der salaf. Nach salafistischer Auffassung ist es unerlässlich, auf die Koranexegesen der salaf zurückzugreifen und ihre Interpretationsmethode zu übernehmen. So wie es einst die salaf taten, sei die Koraninterpretation auch heute nur als wortwörtliche Auslegung der Suren und Verse zulässig. Dies hat u. a. zur Folge, dass alle im Lauf der islamischen Geschichte anzutreffenden rationalen, philosophischen oder allegorischen Lesarten des Koran als Häresie (zandaqa) gebrandmarkt werden, da sie einen so wahrgenommen menschlichen Angriff auf die Heiligkeit des Textes implizieren (ʿImāra 1994, S. 23). Jegliche Form von spekulativer Theologie (kalām) wird von Salafisten strikt ablehnt. Deswegen befindet sich der Salafismus traditionell in unversöhnlicher Rivalität zu den

Glorifizierung der ṣaḥāba lässt sich nach muslimischer Überlieferung u. a. damit begründen, dass sie den Propheten Muḥammad persönlich kannten und Kronzeuge für seine koranischen Verkündungen waren. Darüber hinaus begleiteten sie den ihn, hörten seine Aussprüche und erlebten seine Handlungen aus unmittelbarer Nähe. Sowohl im Koran als auch in der islamischen Geschichtsschreibung nehmen die ṣaḥāba deshalb eine herausragende Stellung ein, weil sie zum einen als Frühmuslime (sābiqūn) die allerersten Menschen waren, die sich in der mekkanischen Phase (610–622) zum Islam bekannten, als Auswanderer (muhāğirūn) mit Muḥammad um 622 nach Medina übersiedelten oder dort als Unterstützer (anṣār) der aus Mekka ausgewanderten Frühmuslimen auftraten. Zum anderen weil die ṣaḥāba den Islam nach dem Tode des Propheten weitertrugen, indem sie maßgeblich an der Sammlung des Koran und der Überlieferung von Hadithen mitwirkten. Für ausführliche Darstellungen zum Leben und Wirken Muḥammads und seiner Gefährten siehe besonders Bobzin (2000); Endreß (1997); Noth (1987, S. 11–100); Schoeler (1996); Schöller (1998); Watt und Welch (1980). 5Koranverse sind hier durchgehend unter Angabe der Suren- und Versnummern aus der Koranübersetzung von Paret (1993) übernommen. 4Die

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vom ­Hellenismus beeinflussten rational-logischen Denkschulen6, deren Vertreter als „Theologen des Verirrung“ (mutakallimū al-ḍalāl) abgewertet werden (Ḥilmī 1996, 65 ff.). Den islamischen Quellen ist zwar kein konkreter Zeitpunkt für die Entstehung des Begriffs salafiyya zu entnehmen, jedoch kann der Gebrauch des Adjektivs salafī zumindest ab dem 12. Jahrhundert nachgewiesen werden. Der Hadithgelehrte und Historiker Abū Saʿd al-Samʿānī (1112–1166) erwähnt in seinem Buch über die Genealogie (Kitāb al-ansāb) eine Reihe von Menschen, die zu seiner Zeit den Beinamen (nisba) „al-salafī“ trugen und stellt fest, „diese Zuschreibung beruht auf den salaf und der Befolgung ihrer Lehre“ (as-Samʿānī 2005, S. 395). In seinem Kommentar zum Kitāb al-ansāb bestätigt ʿIzzaddīn Ibn al-Aṯīr (1160–1233), „dass eine Gruppe von Menschen durch diese nisba bekannt war“ (Ibn al-Aṯīr 1980, S. 126). Die wohl älteste bekannte Quelle, in der die Orientierung am Leitbild der salaf eindeutig erwähnt und verteidigt wird, ist das mehrbändige Werk Die großen religiösen Rechtsätze (al-Fatawā al-kubrā) des Taqiyyaddīn Ibn Taimiyya: „Jemand, der die Lehre der salaf verkündet, an ihr festhält und sich auf sie bezieht, ist nicht zu kritisieren. Vielmehr ist es obligatorisch, dies von ihm gemäß dem Konsens der Gelehrten einzufordern, denn die Lehre der salaf ist nichts anders als die Wahrheit“ (Ibn Taimiyya 1997, S. 148). All dies führt zu der Annahme, dass es bereits zur Frühzeit des Islam eine religiöse Geisteshaltung gab, die den Islam auf eine authentische Basis zurückführen wollte, die dem Vorbild der salaf entspricht (Lauzière 2010, S. 372).

6Als einflussreiche rational-logische Denkschulen im Islam gelten die Muʿtazila, die Ǧahmiyya und die Ašʿariyya. Die Mu‘tazila ist eine von Hellenismus beeinflusste rationale Denkschule der islamischen Theologie. Sie entstand im 8. Jahrhundert innerhalb der religiösen, spekulativen Wissenschaft des kalām und wurde vor allem von dem abbasidischen Kalifen al-Maʾmūn (786–833) gefördert. Die Muʿtaziliten wollten mithilfe der Vernunft den Koran verstehen, erklären und gegenüber Andersgläubigen verteidigen. Die stark von der Muʿtazila beeinflusste Denkschule der Ǧahmiyya geht auf deren Gründer Ğahm Ibn Ṣafwān (696–746) zurück. Die Ğahmiten vertraten die muʿtazilitsche Ansicht, dass der Koran ein Geschöpf Gottes sei, d. h. von ihm erschaffen und damit nicht zu seinem Wesen gehörend. Hieraus folgerten sie, dass Gottes Namen, die Koran erwähnt werden, nicht wörtlich zu verstehen seien. Die vom Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī (873–935) gegründete theologische Denkschule der Ašʿariyya stellte eine Gegenströmung zur Muʿtazila und Ǧahmiyya dar. Sie versuchte, Traditionalismus und Rationalismus zu verbinden, indem ihre Gelehrten die These von der Unerschaffenheit des Koran vertraten und den Koran anhand rational-logischen Methoden auslegten. Für ausführliche Darstellung der Positionen und Auseinandersetzungen dieser Denkschulen siehe besonders Van Ess (1992, Bd. 3), Nagel (1994).

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Was die Haltung der Salafisten zu schiitischen Muslimen angeht, so werden die Schiiten wegen ihrer Ablehnung einiger ṣaḥāba als „die Ablehnenden“ (al-rāfiḍa) bezeichnet. Darüber hinaus werden sie aufgrund der Verunglimpfung der Prophetengefährten und der Nähe zu Schrein- und Heiligenkult des Unglaubens (kufr) bezichtigt. Mystische Sufi-Orden machen sich nach Ansicht der Salafisten durch die Anrufung von Mittelsmännern und Frauen zur Fürsprache bei Gott der „Beigesellung [Gottes]“ (širk) schuldig. Auch weitverbreitete Praktiken des Volksislam, die keine Grundlage im Koran oder der Prophetentradition haben, wie der Besuch der Gräber von Heiligen, die volkstümlichen Praktiken des Exorzismus, die nicht auf der Rezitation des Koran basierten, oder das Feiern des Geburtstags des Propheten Muḥammad, prangern Salafisten als unislamische Neuerungen an. Für Salafisten markiert das Jahr 610 (Beginn des Prophetentums Muḥammads) den Anfang der gesegneten Periode der salaf. Sie endet mit dem Ableben Aḥmad Ibn Ḥanbals im Jahre 855. Somit fallen die Begründer der vier etablierten sunnitischen Rechtsschulen (maḏāhib, sing. maḏhab)7 in diese idealisierte Epoche und werden als salaf anerkannt. Ihre Lehrmeinungen werden dementsprechend gewürdigt. Dennoch sind die Salafisten die großen Kritiker der Existenz

7Die

maḏāhib sind von muslimischen Gelehrten etablierten Rechtsschulen, die islamische Quellen (Koran und Sunna) mittels diverser Rechts- und Erkenntnismethoden auslegen und daraus juristische Bestimmungen ableiten. Heute bestehen folgende vier sunnitische Rechtsschulen: die ḫanafitische, mālikitische, šāfʿitische und ḥanbalitische Rechtsschule. Die ḥanafitische Rechtsschule geht auf Abū Ḥanīfa al-Nuʿmān Ibn Ṯābit (699–767) zurück und räumt der Methodik der pragmatischen Urteilsbildung relativ großen Raum ein. Die malikitische Rechtsschule geht auf Mālik Ibn Anas (711–795) zurück. In der malikitischen Jurisprudenz (fiqh) werden in starkem Maße Nützlichkeitserwägungen (maṣāliḥ mursala) im Rahmen der Rechtsfindung berücksichtigt. Die šāfiʿitische Rechtsschule wurde von Muḥammad ibn Idrīs al-Šāfiʿī (767–820) begründet. Während die Malikiten eine konservative Linie vertraten und sich streng an die Tradition hielten, bejahten die Ḥanafiten dagegen die Möglichkeit, neue Rechtsnormen zu entwickeln und dabei das eigene Urteil für maßgeblich zu halten, versuchte al-Šāfiʿī, einen Mittelweg zu finden. Er bekannte sich zur Wichtigkeit der Übereinstimmung der Rechtsgelehrten (iğmāʿ) und sprach sich dafür aus, die Möglichkeit der Rechtsfindung durch Analogieschluss (qiyās) bedachter zu handhaben. Die ḥanbalitische Rechtsschule geht auf Aḥmad Ibn Ḥanbal zurück. Er trat prinzipiell für die alleinige Anerkennung von Koran und Überlieferung als Rechtsquellen ein und lehnte jede Form menschlicher Rechtsfindung ab, weil dies zu unerlaubten Neuerungen und Willkür führe. Auch der qiyās fand nur unter Einschränkungen seine Zustimmung. Was die Erfüllung der religiösen Pflichten betrifft, waren für ihn nur diejenigen Praktiken statthaft, die von Koran und Sunna vorgeschrieben werden. Für einen umfassenden Überblick über die islamischen Rechtsschulen siehe besonders Johansen (1999); Motzki (1991).

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v­erschiedener islamischen Rechtsschulen. Sie lehnen das Nachahmen bzw. die blinde Befolgung (taqlīd) dieser Rechtsschulen als bidʿa und Ursache für die Spaltung der muslimische Gemeinschaft (umma) ab. Salafisten betrachten sich selbst als Anhänger einer rechtsschulenübergreifenden Denkschule, die eine nach eigenem Verständnis die „wissenschaftliche“ Methode der Beweisführung aus Koran und Hadith (istidlāl) anwendet und Rechtsurteile der jeweiligen Rechtsschulen nur dann übernimmt, wenn sie im Einklang mit der Koran und Propheten- bzw. Gefährtentradition stehen (Fahmy 2011, S. 12). Anstatt der Meinung eines Rechtsgelehrten bzw. einer Rechtsschule zu einem bestimmten Thema „blind“ zu folgen, solle der Muslim möglichst sich selbst von den Beweisen (dalāʾil, sing. dalīl) und ihrer Anwendung (al-ʿamal bi-l-dalīl) durch einen Rechtsgelehrten überzeugen lassen (ʿAbbāsī 2002, S. 21 ff.). Die Salafisten verstehen sich selbst als eine vor der Bestrafung mit dem Höllenfeuer im Jenseits gerettete Gruppe (al-firqa al-nāğiyya) gemäß dem, was Muḥammad in einem Hadith prophezeite: Bei dem, in dessen Händen meine Seele ruht, meine umma wird sich in 73 Gruppen spalten. Außer einer Gruppe werden alle in die Hölle geworfen. Als der Prophet gefragt wurde, wer nun die gerettete Gruppe sei, so antwortete er: Jene (Gruppe), die sich nach dem richtet, wonach ich und meine Gefährten heutzutage uns richten (Ibn al-Hağğāğ 2006, S. 841).

Die Distanzierung von anderen Glaubensrichtungen des Islam sowie der Anspruch, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, kommen in den salafistischen Selbstbezeichnungen als „siegreiche Gruppe“ (al-ṭāʾifa al-manṣūra) am deutlichsten zum Ausdruck. Dieses Selbstverständnis begründen Salafisten durch die Bezugnahme auf den Hadith „Eine Gruppe aus meiner umma wird immer siegreich bleiben, bis der Befehl Gottes zu ihnen kommt (der Jüngste Tag anbricht) und sie immer noch siegreich sind“ (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 842). Die Salafisten sind der Überzeugung, aufgrund der Orientierung an den salaf den Weg zum Heil gefunden zu haben und die gerettete Gruppe zu sein (Wiktorowicz 2001, S. 120). Bestärkt fühlen sie sich durch Muḥammads Worte in der Abschiedspredigt vom Jahre 632: „Ich habe euch zwei Dinge hinterlassen. Wenn ihr daran festhaltet, werdet ihr nie in die Irre gehen: das Buch Gottes und meine sunna“ (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 511). Die Salafisten verstehen unter „Festhalten“ die Bemühung, das Verständnis der salaf von Koran und Sunna als unveränderbare Grundlage zu übernehmen und jegliche Anpassungen der Islamauslegung an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu bekämpfen. Durch die Verbreitung dieser Interpretation glauben Salafisten, die Menschen zum Heil führen zu können.

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Salafistische Grundüberzeugungen Wie eingangs bereits erwähnt, stellen salafistische Strömungen keinen Monolithen dar, da sie zum Teil gegensätzliche ideologische Positionen vertreten. Jedoch teilen alle Salafisten eine gemeinsame, puritanische Glaubenslehre (ʿaqīda), deren konstituierende Momente in der islamrechtlichen Methode (manhağ) der salaf begründet liegen. Die salafistische Glaubenslehre (al-ʿaqīda al-salafiyya) umfasst grundlegende Dogmen, die den Kern des Glaubens bilden. So beschäftigt sie sich mit entscheidenden Fragen wie der Natur Gottes, der Natur des Koran, der Rolle der menschlichen Vernunft, der Deutung der im Koran und in der Sunna enthaltenen göttlichen Gebote und Verbote sowie der Art und Weise von deren Umsetzung. Zudem bietet sie Ordnungsprinzipien und Referenzrahmen für die Herausbildung religiöser Rechtspositionen zu aktuellen Themen. Die salafistische Glaubenslehre verankert zudem eine Dichotomie, die die Welt in zwei sich feindlich gegenüber stehende Sphären unterteilt: islamkonform und nicht-islamkonform bzw. Glaube (īmān) und Unglaube (kufr). So gibt die salafistische Glaubenslehre ein festes Gerüst vor, welches jede so wahrgenommene Abweichung oder Differenz nicht duldet. Rasterartig wird jedes menschliche Verhalten bewertet und das Individuum dementsprechend einer Kategorie zugeordnet: wahrhafter Gläubiger (muʾmin), Heuchler (munāfiq), Frevler (fāsiq), Polytheist (mušrik) oder Ungläubiger (kāfir) (Wiktorowicz 2006, S. 208 ff.). Im Zentrum der salafistischen Glaubenslehre steht die Aufforderung, den manhağ al-salaf bei der Ableitung (istidlāl) der Rechtsurteile aus den sakralen Texten ausschließlich zu befolgen. Die Verpflichtung hierzu basiert auf dem Grundsatz „die Befolgung sakraler Texte und die Missbilligung der Einführung unstatthafter Neuerungen (al-ittibāʿ wa ḏamm al-ibtidāʿ). So zeichnet sich diese Methodik durch ihre enge Ausrichtung an Koran und Sunna sowie die Ablehnung jeglicher unerlaubter Neuerungen in allen Bereichen des religiösen Lebens aus. Dem Koran als primäre und der Sunna als sekundäre Rechtsquelle folgt in der Rangfolge der Rechtsfindungsmethoden der Konsens bzw. die Urteile der Prophetengefährten (Fahmy 2011, S. 12).

Aufgrund ihrer Loyalität gegenüber der Prophetentradition geben Salafisten sogar solchen als schwach (ḍaʿīf) kategorisierten Hadithen sowie den Hadithen mit unvollständiger Überlieferungskette (isnād) den Vorzug vor dem Analogieschluss. Anhand der Maxime „lā iǧtihād maʿa al-naṣṣ“ (da, wo es einen Offenbarungstext gibt, ist das eigenständige Räsonieren unzulässig) schränken Salafisten die

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Möglichkeiten der Ableitung von religiösen Rechtsurteilen durch iǧtihād ein. Sie vertreten zwar die Meinung, dass ein korrekt überlieferter Text (naṣṣ ṣaḥīḥ) niemals einer nachvollziehbaren Schlussfolgerung der Vernunft (ʿaql ṣarīḥ) widersprechen würde. Da die menschliche Vernunft aber nicht unfehlbar sei, stehe die Rechtsfindung durch die Orientierung am Koran und den überlieferten Traditionen (naql) weit vor der Rechtsfindung durch den menschlichen Intellekt (ʿaql) (Ḥilmī 1996, S. 192 ff.). Begründet wird diese Position u. a. damit, dass die menschliche Vernunft ohne eine Orientierung an den sakralen Texten nie alleine den Weg zur vollkommenen Erkenntnis des Glaubens finden könnte. Dem ʿaql wird daher die Führungsrolle (matbūʿ) auf dem Weg zur menschlichen Gotteserkenntnis aberkannt. Allerdings wird der menschliche Intellekt nicht völlig außer Acht gelassen, vielmehr wird er als Instrument zum Verständnis dieser Texte im jeweiligen Kontext betrachtet. Daher gilt der ʿaql nur als „Befolger“ (tābiʿ) der Überlieferung (Fahmy 2011, S. 11).

tauḥīd als Dreh- und Angelpunkt des Salafismus Die salafistische Glaubenslehre misst dem Bekenntnis zur Einzigkeit bzw. „Einsheit“ Gottes eine zentrale Bedeutung zu. Das hier zugrunde liegende Konzept ist das des tauḥīd. Die Einzigkeit Gottes ist eines der Grundprinzipien des Islam und stellt im allgemeinen Sinne die wichtigste Aussage der islamischen Theologie dar. Das arabische Wort tauḥīd, abgeleitet von dem Verb waḥḥada, bedeutet „Vereinigen/Vereinheitlichen“ bzw. „etwas zu wāḥid (eins) machen“. So entspricht tauḥīd im islamischen Kontext dem Begriff „Monotheismus“ und bedeutet „Glaube an die Einheit und Einzigkeit Gottes“ (Nagel 1994, S. 108). Der Eingottglaube ist die Grundlage aller monotheistischen Religionen. Im Islam ist das Bezeugen „Es gibt keinen Gott außer Gott“ ein Bestandteil des islamischen Glaubensbekenntnisses und eine der fünf Säulen des Islam. Für die meisten Muslime ist das Bekenntnis zur Einheit Gottes und zum Prophetentum Muḥammads ausreichend, um als Muslim anerkannt zu werden. Für Salafisten hingegen impliziert der tauḥīd zusätzlich ein aktives Handeln. Dies bedeutet, dass jegliches Tun, das darauf hinweist, dass etwas oder jemand anderes als Gott angebetet wird, širk und damit ein Zeichen des Unglaubens ist (Peskes 1993, S. 23 ff.). Von dieser Interpretation aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, Muslime aufgrund ihrer vermeintlich gegen tauḥīd gerichteten religiösen Praxis oder weltlichen Überzeugungen zu exkommunizieren. Für Salafisten ist tauḥīd also nicht nur das mündliche Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes, sondern die Verinnerlichung, Verwirklichung und

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Aufrechterhaltung dieses Bekenntnisses in allen menschlichen Handlungen, die direkt oder indirekt mit Gott zu tun haben. Tauḥīd beinhaltet nach salafistischem Verständnis drei Grundlagen (uṣūl), deren Erfüllung erforderlich ist, um als ein wahrer Muslim gelten zu können: Einheit der Göttlichkeit (tauḥīd al-rubūbiyya), Einheit Gottes in seiner Verehrung (tauḥīd al-ulūhiyya) und Einheit der Namen und Attribute Gottes (tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt). Diese Grundlagen des tauḥīd werden zwar von allen islamischen Denkrichtungen beansprucht. Was die salafistische Glaubenslehre jedoch ausmacht, ist die Strenge bzw. Konsequenz in der Forderung, Einhaltung und Umsetzung dieser Grundlagen in allen Bereichen des rituellen und profanen Lebens der Glaubensgemeinschaft […] und des Einzelnen (Fahmy 2011, S. 10).

Während das salafistische Verständnis des tauḥīd al-rubūbiyya sich auch mit dem allgemeinen Verständnis aller Muslime von tauḥīd deckt, kann man bei tauḥīd al-ulūhiyya und tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt von einem spezifisch salafistischen Verständnis dieser beiden Kategorien von tauḥīd sprechen. Die erste Kategorie, tauḥīd al-rubūbiyya, beschreibt Gott als den alleinigen Schöpfer und den einzigen wahren Herrn bzw. Herrscher (rabb) des Universums. Dies impliziert vor allem die Pflicht, daran zu glauben, dass Gott alleine die Schöpfung entstehen ließ und dass zuvor nichts existierte. Zudem wird Gott als einzigartig in seinen Handlungen beschrieben. Er hält die Schöpfung aufrecht und stützt sie, ohne dafür irgendeine Hilfe zu benötigen und ohne dass es eine reale Herausforderung für seine Souveränität darstellt. In der Schöpfung geschieht nichts ohne seine Erlaubnis. So ist Gott die einzige wirklich existierende Macht. Diese Dimension des tauḥīd wird von allen Muslimen akzeptiert und stellt keinen Streitpunkt zwischen den islamischen Glaubensrichtungen dar (Wiktorowicz 2001, S. 114). Durch die zweite Kategorie, tauḥīd al-ulūhiyya – manchmal auch tauḥīd al-ʿibāda (Einheit der Anbetung) genannt, wird verankert, dass Gott der Einzige ist, dem das Anrecht auf Anbetung zusteht. Dies umfasst jede Art von Anbetung durch sichtbare und unsichtbare Taten sowie die Negation des Rechts anderer, angebetet zu werden. Demgemäß müssen alle Formen des Gottesdienstes und das Bitten um Beistand nur unmittelbar an den einen Gott gerichtet werden. Obwohl diese Grundlage des tauḥīd als ein unstrittiges Element des Monotheismus erscheinen mag, birgt sie eine nicht zu unterschätzende interpretative Komplexität, die zu diametralen Positionen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft führt. So denunzieren Salafisten die sufischen Praktiken der Heiligenverehrung als einen klaren Verstoß gegen den tauḥīd al-ulūhiyya. Die Sufis, so

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a­ rgumentieren die Salafisten, stellen in ihrer religiösen Praxis Partner neben Gott, indem sie Geschöpfe um Fürsprache und Vermittlung zwischen Mensch und Gott bitten. Durch religiöse Handlungen, wie die Verehrung von Menschen, Opfergabe an Heilige und der Besuch von deren Gräbern, machen sich Sufis des širk schuldig, da sie Gott Partner in ­seiner Göttlichkeit und Anbetung zuschreiben würden (ʿAbbāsī 2002, S. 15 ff.). Der tauḥīd in seiner dritten Kategorie als tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt erteilt im Wesentlichen eine Absage an den Anthropomorphismus. Da kein Geschöpf die Eigenschaften Gottes teilen kann, sind Gottes Attribute exklusiv, nicht vergleichbar mit menschlichen Eigenschaften und dürfen von den Menschen weder anthropomorphistisch verstanden, noch geändert, umgedeutet oder verneint werden. So müssen die in Koran und Hadith enthaltenen Attribute Gottes in ihrem wörtlichen Sinne verstanden werden. Diese Dimension von tauḥīd stellt eine wichtige Quelle für Meinungsverschiedenheiten unter Muslimen in Bezug auf die ʿaqīda dar und sorgte im Laufe der islamischen Geschichte immer wieder für Differenzen und Spannungen zwischen den rationalistisch und den literalistisch geprägten ­islamischen Denkschulen. Rationalisten wie die Muʿtaziliten vertraten die Meinung, dass die im Koran erwähnten Eigenschaften Gottes als Metaphern zu verstehen seien. Wenn im Koran von Gottes Hand die Rede ist, so bedeutet dies nicht, dass Gott wie die Menschen Hände hat, sondern dass „Hand“ als Metapher für die Macht Gottes steht. Literalisten wie die Salafisten argumentieren diesbezüglich, dass der Koran als Wort Gottes nicht offen für Interpretation ist. Gottes Eigenschaften sind weder Metaphern noch vergleichbar mit denen seiner Schöpfung. Vielmehr sind sie mit menschlichem Verstand nicht erfassbar, da sie jenseits der menschlichen Sinne und Wahrnehmungen (ġaib) angesiedelt sind. Wenn der Koran von der Hand Gottes spricht, so muss das bedeuten, dass Gott Hände hat. Diese sind aber nicht vergleichbar mit den menschlichen Händen. Der Mensch kann zwar mit seinem beschränkten Denkvermögen die Attribute Gottes nicht begreifen. Dennoch sind sie real, da sie im Koran erwähnt werden. Darüber hinaus sind sie unantastbar von jeglicher Form der Verzerrung (taḥrīf), Aussetzung (taʿṭīl), Vergleich mit menschlichen Eigenschaften (tamṯīl) oder Anthropomorphisierung (tašbīh). In theologischen Debatten über diesen Aspekt des tauḥīd, die sich oft eher als einseitige polemische Angriffe beschreiben lassen, werfen Salafisten den Muʿtaziliten aufgrund ihres metaphorischen Interpretationsansatzes Tendenzen zur Aussetzung und Neutralisierung der Attribute Gottes vor (Wiktorowicz 2001, S. 114 f.). Diese drei Grundlagen des tauḥīd werden im Salafismus derart unzertrennlich angesehen, dass jede Vernachlässigung oder jedes Weglassen einer Grundlage zum Verderbnis der ʿaqīda und zur Nichtannahme des Gottesdienstes durch

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Gott führen würde. Die einzige Garantie für die Reinheit der ʿaqīda und der ­Aufrechterhaltung des tauḥīd bietet (…) die strenge Orientierung an dem von den [salaf] überlieferten Verständnis des Glaubens, des Korans und der gelebten Prophetentradition […]. Die Orientierung an bzw. eine Befolgung [ittibāʿ] der salaf (im Gegensatz zur von Salafi[s] ten abgelehnten Nachahmung [taqlīd]8), besonders in der Methodik [manhağ] der Zurückführung von Entscheidungen in religiösen Grundfragen und Rechtsurteilen auf Koran und Prophetentradition [istinbāṭ al-aḥkām], bildet daher die Grundlage für das Selbstverständnis der Salafi[s]ten, aber auch für die Namensgebung dieser Denkschule (Fahmy 2011, S. 11).

Inflationäres Verständnis von širk Sowohl von den Salafisten als auch von den meisten Muslimen wird al-širk bi-l-lāh (kurz „širk“, wörtl. Gott Partner beigesellen) als die schwerste aller Sünden angesehen. Während der Koran die Vergebungen aller Arten von Sünden durch Gott für möglich hält, schließt er den širk explizit von der göttlichen Begnadigung aus: Allāh vergibt nicht, dass man ihm (andere Götter) beigesellt. Was darunter liegt, vergibt er, wem er (es vergeben) will. Wenn einer (dem einen) Allāh (andere Götter) beigesellt, hat er (damit) eine gewaltige Sünde ausgeheckt (4: 48).9

Salafistische und nicht-salafistische Muslime sind sich darüber einig, dass der širk, also Polytheismus/Vielgötterei bzw. der Glaube an die Existenz mehrerer Gottheiten sowie die Verehrung und Anbetung von Personen, Gegenständen oder Natur-

8Für

Salafisten bedeutet ittibāʿ „die Anerkennung und Befolgung von religiös-rechtlichen Standpunkten und Urteilen islamischer Gelehrter nach selbstständiger Verifizierung der Korrektheit der Argumentation und Beweisführung durch den Fragesteller bzw. den Urteilssuchenden. Taqlīd hingegen wird gleichgesetzt mit dem „blinden“ Vertrauen auf die Urteile eines Gelehrten“ (Fahmy 2011, S. 11). 9Betrachtet man den historischen Kontext, in dem Muḥammad diese medinensischen Koranverse verkündete, stellt man fest, dass sie sich vornehmlich gegen den Götzenkult der polytheistischen Bewohner der Arabischen Halbinsel im siebten Jahrhundert richteten. Diese manifestierte sich u. a. in der Anbetung von Skulpturen, Götzenbildern, Steinen, Bäumen Feuer und Sonne. Der Tenor dieser Verse liegt auf der massiven Verurteilung der Götzenkult als Ursache des širk, die Aufforderung von den bisherigen Kulthandlungen abzulassen und alle Verehrung stattdessen dem einzigen Gott zukommen zu lassen.

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erscheinungen, im eindeutigen Widerspruch zur zentralen Botschaft des Islam von der Einsheit und Transzendenz Gottes steht.10 Sie sehen die polytheistische Gottvorstellung als unvereinbar mit dem ersten Teil der šahāda11 an.12 Was die Salafisten jedoch von den meisten Muslimen unterscheidet, ist ihre Konzeption des širk. Während die Mehrheit der Muslime die offensichtliche Beigesellung von Partnern zu Gott – manifestiert in der direkten Anbetung von weiteren Gottheiten – als Vielgötterei begreifen, gehen Salafisten genau an diesem Punkt weiter und behaupten, es gebe Formen der Vielgötterei, die sich nur dann als solche enttarnen lassen, wenn man sie an den Kriterien des tauḥīd misst (Ibn Bāz 2001, S. 9 f.). Salafisten vertreten die Position, dass Aussagen, Denk- oder Verhaltensweisen, denen ein Muslim möglicherweise keine religiöse Relevanz zuordnet, polytheistische Tendenzen implizieren können. Diese würden den Eingottglauben auslöschen und zur unverzeihlichen Sünde des širk führen. Somit erfährt der Begriff širk in der salafistischen Geisteshaltung eine konzeptionelle Erweiterung als Gegenteil von tauḥīd. Da der širk nach salafistischer Auffassung zum Abfall vom Islam führt und einen Akt der Rebellion gegenüber dem einen Gott gleichkommt, wird er durch Gott mit der Auslöschung aller guten Taten, die eine Person zuvor geleistet hat, und der ewigen Verdammnis in der Hölle geahndet (Ibn Bāz 2001, S. 37 ff.). Die Warnung vor dem Abdriften in den širk als Ergebnis der Befolgung von bidaʿ oder von Personen, die die „wahre“ Bedeutung des tauḥīd nicht verstehen, ist eines der zentralen Themen des salafistischen Diskurses. Demzufolge bleibt die šahāda solange ein Lippenbekenntnis bis sie durch die tätige Verehrung des Einen Gottes verwirklicht wird. Die šahāda ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung, um als Muslim zu gelten. Manche Menschen, die sich als Muslime begreifen, manchen sich des širk schuldig, wenn sie direkt oder indirekt bzw. offen oder verdeckt den Universal- und Absolutheitsanspruch Gottes auf Herrschaft und Verehrung verletzen. Indirekte und verdeckte Formen des širk werden durch den Volksglauben verursacht, wie das Tragen von Amuletten zum Schutz vor Neid und

10Von den meisten Muslimen wird die christliche Trinität auf den Tritheismus (Drei-­GottLehre) reduziert und deswegen als širk abgewiesen. 11Das islamische Glaubensbekenntnis „ašhadu an lā ilāha illā Allah, wa-ašhadu anna Muḥammadan rasūlu Allah“ (Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Muḥammad der Gesandte Gottes ist). 12Im Koran wird das exklusive Anrechts des einen Gottes auf Anbetung strikt betont; z. B. „Und ich habe die Dschinn und Menschen nur dazu geschaffen, dass sie mir dienen“ (51: 56). Diejenigen, die „Nebengötter“ als Partner Gottes in der Göttlichkeit oder Herrschaft beigesellen, werden hingegen aufs Schärfste verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, von Gott erschaffenen Gegenständen oder Personen anzubeten und sie somit als Partner an der ­alleinigen Göttlichkeit Allahs teilhaben zu lassen.

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dem bösen Blick oder die Befolgung von astrologischen Vorhersagen und Horoskopen. Für Salafisten implizieren solche von ihnen als abergläubisch gebrandmarkten Verhaltensweisen den Glauben daran, dass es neben Gott etwas anderes gibt, das über den Menschen herrscht, sie beschützt, das Böse von ihnen abwendet und über ihre Gegenwart und Zukunft bestimmt (al-Mīlī 2001, S. 253 ff.). Im salafistischen Diskurs wird die islamische Mystik, insbesondere die sufischen Praktiken der Heiligen- und Gräberverehrung zur Häresie erklärt. Sie werden als polytheistische Praktiken des Erbittens von Beistand, Segen- oder Zufluchtssuche bei anderen als bei dem einen Gott gebrandmarkt. Im Mittelpunkt der salafistischen Polemik gegen sufische Praktiken steht die Verurteilung jener Vorstellung, dass Geschöpfe auf Gott einwirken und die Änderung seiner Vorherbestimmung herbeiführen können. Es wundert daher nicht, dass die weitverbreitete Praxis des Bittens um Fürsprache (tawassul)13 seitens der Salafisten massiv verurteilt und als širk bezeichnet wird. Ebenso verworfen wird das Verrichten des Gebets an Grabstätten von Heiligen und das Pilgern zu Mausoleen, in denen fromme Muslime begraben sind, um Segen (baraka) zu erlangen: Gott näher kommen zu wollen, indem man sich an Tote, Anwesende oder Abwesende wendet und sie um Hilfe bittet, ist širk und widerspricht dem tauḥīd. Diejenigen [, die derartiges machen,] sind nicht mehr als Muslime anzusehen. Ihre Bittrufe zur Gewährung des Nützlichen und Abwendung des Schädlichen sind Akte des Gottesdienstes und Ausdrücke der Demut und Unterwerfung. Gottesdienst, Demut und Unterwerfung müssen direkt an Gott gerichtet werden. Wenn Gebete oder Bittrufe an irgendjemanden oder irgendetwas anderes gerichtet werden, gilt dies als širk al-rubūbiyya (Al-Albānī 2001, S. 42 ff.).

Ferner werten Salafisten die von Menschen geschaffenen Organe der Legislative Judikative, Exekutive als institutionalisierte Formen des širk ab.14 Vom weltlichen

13Tawassul

manifestiert sich in dem sich Wenden an Menschen, von denen man glaubt, dass sie Gott besonders nah stehen, wie ahl al-bait (wörtl. Leute des Hauses, Mitglieder der Familie des Propheten Muḥammads) oder äußerst fromme Personen, awliyāʾ Allah al-ṣāliḥūn (wörtl. rechtschaffene Gottesfreunde), um sie zu Mittlern und Fürsprechern bei Gott zu erklären. 14An dieser Stelle ist anzumerken, dass Salafisten zwischen jenen von Menschen gemachten Gesetzen, deren Anwendung Ungehorsam gegenüber Koran und Sunna nach sich zieht (z. B. Lebenspartnerschaftsgesetz), und jenen, die der Regelung der Angelegenheiten der Menschen untereinander dienen (z. B. Verkehrsgesetz), ohne dabei Gottes Geboten zu widersprechen, unterscheiden.

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Herrscher wird verlangt, dass er nur nach dem salafistischen Verständnis von Koran und Sunna regiert. Anderenfalls wird er als ṭāġūt (wörtl.: etwas/jemand, der Grenzen überschreitet) bezeichnet und die Unterwerfung unter seine Herrschaft bzw. Rechtsordnung als Götzendienst (ʿibādat al-ṭāġūt) abqualifiziert. Sowohl die Aussetzung von göttlichen Bestimmungen als auch deren Veränderung, zeitmäßigen Anpassung oder Ergänzung seien Übertretungen gegen den tauḥīd und werden von Vertretern des Salafismus als Tatbestände des širk al-rubūbiyya betrachtet. Hierzu konstatiert Ibn al-ʿUṯaimīn: Das Anfertigen von Gesetzen und Verfassungen, um mit ihnen anstatt mit Gottes Gesetzen zu regieren, führt zwangsläufig dazu, dass das, was Gott erlaubt, durch die Menschen verboten wird und das, was Gott verbietet, durch die Menschen erlaubt wird. Die Gesetzgebung obliegt daher nur Gott, dem Schöpfer des Universums. Die Befolgung der von Menschen gemachten Gesetzten und Verfassungen ist Beigesellung in der Herrschaft Gottes. Denn sie verleihen dem Regenten Befugnisse, das zu erlauben oder zu verbieten, was er will oder worüber sich die Mehrheit der Menschen einigt (al-ʿUṯaimīn 1993, S. 142).

Für Salafisten gebühren Herrschaft (ḥākimiyya) und Unterwürfigkeit (ʿubūdiyya) nur dem einem Gott, dem absoluten Souverän. Sowohl die menschliche Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung und Vollstreckung der von Menschen gemachten Gesetzten und Urteile werden von salafistischen Gelehrten als Aggression gegen die Gottesherrschaft (ḥākimiyyat Allāh) auf Erden verurteilt. Denn sie bestätigen demnach die Herrschaft der Menschen (ḥākimiyyat al-bašar). Dabei werden konkurrierende Gesetze, die neben den göttlichen wirken und von Koran und Sunna abweichen als „Erlassen von Gesetzen neben (denen von) Gott“ (tašrīʿ min dūn Allāh) aufgefasst. Auch das Unterlassen des Richtens bzw. Regierens mit den Gesetzen Gottes (tark al-ḥukm bi-mā anzala Allāh), indem der weltliche Herrscher sie durch andere Rechtsgrundlagen (al‐ ḥukm bi-ġair mā anzala Allāh) ersetzt, werden als Häresie aufgefasst. Diese Häresie entspringt der Suspendierung von Gottes absoluter Souveränität. So werden die Geschöpfe an der Herrschaft des Schöpfers beteiligt. Dies ist für die salafistische Weltanschauung nicht tragbar. Es besteht unter allen Salafisten Einigkeit darüber, dass das Rechtssystem, das von den Regeln abweicht, die in Koran und Sunna festgelegt worden sind, eine Übertretung gegen das System Gottes [ist]. Dieses [göttliche System] bestimmte der, der alle Dinge erschaffen hat und am besten weiß, wie sie funktionieren. Gepriesen sei Gott, der darüber erhaben ist, einen Gesetzgeber neben Sich zu haben. […] Die Anfertigung, Anwendung oder Anerkennung von Gesetzen, die Gottes Urteilen widersprechen, indem sie beispielsweise Polygamie verbieten oder

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das Steinigen von Ehebrechern und das Abtrennen der Hand für barbarische Taten erklären und unter Strafe stellen, ist širk gegenüber der Herrschaft des Schöpfers von Himmel und Erde (Al-Fauzān o. J., S. 48–49).

Širk kommt zustande, wenn die Verrichtung einer Handlung nicht die ausschließliche Absicht zugrunde liegt, dem einen Gott zu dienen. Denn gemäß dem Wortlaut der Koranverse 6:162–16315 betrachten Salafisten menschliches Handeln als Gottesdienst. Wendet man sich in einem Gottesdienst etwas oder jemand anderem zu als dem einen Gott, so begeht man nach salafistischer Auffassung Götzendienst. Als der „wahre“ Muslim wird hingegen ein gehorsamer Knecht Gottes (ʿabd) propagiert, der sich in allen Lebensbereichen dem Willen seines einzigen Schöpfer vollständig unterwirft. Dieser Schöpfer ist gleichwohl der absolute Herrscher, dessen göttlicher Wille Koran und Sunna – ausschließlich nach der Leseart der salaf – entnommen werden kann. Dies ist die Konsequenz dessen, dass die Altvorderen das Wort Gottes genauso wie der Prophet verstanden und in allen Lebensbereichen in die Tat umsetzten, sodass jegliche Abweichung davon als bidʿa zurückzuwiesen ist.

bidʿa versus Sunna Der islamische Terminus bidʿa (Neuerung) ist ein Synonym für muḥdaṯa und umschreibt im Allgemeinen jede Überzeugung oder Verhaltensweise, die weder eine Erwähnung im Koran findet noch vom Propheten Muḥammad überliefert wurde (Robson 1979, S. 1199 f.). Zeitwandel und veränderte (Lebens-)Umstände bringen selbstverständlich immer wieder zahlreiche Neuerungen mit sich. Neuerungen in der Glaubenspraxis und im Alltag, die mit den Regeln der autoritativen Quellen des Islam unvereinbar sind, das Prinzip des tauḥīd verletzen oder mit Tradition und Konsens der salaf nicht im Einklang stehen, betrachten die Salafisten als unstatthaft. Islamrechtlich unbestimmte, materielle Neuerungen, die dem Propheten nicht bekannt sein konnten (z. B. Flugzeug, Telefon, Internet, Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser und Schulen usw.) seien hingegen erlaubt, wenn sie einen individuellen oder kollektiven Nutzen darstellen. Solche weltliche Neuerungen beschreiben Salafisten als „vom guten Nutzen für das Gemeinwohl“

15„Sag:

Mein Gebet (salāt) und meine Opferung, mein Leben und mein Tod gehören Allāh, dem Herrn der Menschen in aller Welt (al-ʿālamīn). Er hat keinen Teilhaber (an der Herrschaft). Dies (zu bekennen) wurde mir befohlen. Und ich bin der erste von denen, die sich (Allāh) ergeben haben (al-muslimīn).“

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(maṣlaḥa ḥasana) (Al-Qaraḍwī 2007, S. 15 ff.). Sie tun dies, um den umstrittenen Begriff gute Neuerungen (bidʿa ḥasana) zu vermeiden.16 Die Vermeidung dieses Begriffes lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass der Prophet in einem Hadith jede Art von bidaʿ verwirft: # Hütet euch vor den neu eingeführten Dingen, denn wahrlich sind die schlimmsten Dinge die neuen; alles Neue ist eine bidʿa; jede bidʿa ist ein Irrweg, und jeder Irrweg führt ins Höllenfeuer (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 512).

Trotz der Einsicht, dass die eine oder andere Neuerung außerhalb der religiösen Sphäre durchaus einen positiven Charakter besitzen kann, weisen Salafisten dem Begriff bidʿa vorrangig eine spezifisch technische Bedeutung zu, nämlich die von unzulässigen und deswegen in jedem Fall abzulehnenden Gebräuchen und Ideen. Der Begriff wird in diesem negativen Sinne definiert, nämlich als Erscheinung, die der als mustergültig angesehenen Form der prophetischen Glaubensausübung und Lebensführung nicht entspricht. Dadurch rückt die bidʿa in einen deutlichen Kontrast zur Sunna. Dieser Umstand führt in letzter Konsequenz dazu, ahl al-bidaʿ bzw. ahl al-hawā, also denjenigen, die aus Sicht der Salafisten Neuerungen in die Religion einführen, des Bruchs mit der Sunna und der Entstellung des islamischen Glaubens zu bezichtigen (Gronke 2002, S. 137 f.).

16Die

Definition guter/lobenswerter (ḥasana/maḥmūda) und schlechter/missbilligter (saiyʾa/maḏmūma) Neuerungen geht auf Muḥammad ibn Idrīs al-Šāfiʿī (767–820), den Begründer der šafiitischen Rechtsschule zurück. Demnach wird zunächst alles, was zu Lebzeiten des Propheten nicht existent war, als bidʿa bezeichnet. Sollte eine Neuerung von Nutzen für die Gemeinschaft der Muslime sein und nicht im Widerspruch zu Koran, Sunna oder Konsens der Gelehrten stehen, so ist sie eine bidʿa ḥasana bzw. bidʿa maḥmūda. Zudem hob al-Šāfiʿī hervor, dass es bidaʿ wāğiba (obligatorische Neuerungen) gäbe, wie beispielsweise das Studium der Grammatik, das zu einem besseren Verständnis von Koran und Sunna führen kann, die Zuverlässigkeitsüberprüfung von Hadithüberlieferern und die Feststellung von schwachen Hadithen (al-ğarḥ wa-l-taʿdīl), die Kodifizierung von Gesetzen/Eheverträgen und die Widerlegung von ketzerischen Sekten. Weitere Arten guter Neuerungen seien empfehlenswerte Neuerungen (bidaʿ mandūba), wie beispielsweise die Einrichtung von Krankenhäusern und Schulen, und erlaubte Neuerungen (bidaʿ mubāḥa), die nicht in den islamrechtlichen Bereich des Verbotenen (ḥarām) fällen, wie neue Mode, Lebensmitteln, Getränken und Kleidung. Meinungen oder Lehren, deren Anhänger sie in die Religion einführen oder zu Sunna erheben oder den Menschen Schaden zufügen, seien hingegen bidaʿ saiyʾa und werden von aš-Šāfiʿī entweder als verbotene (muḥarrama) Neuerungen gewertet, wie Verrichtung von drei Gebeten am Tag statt fünf, das Fasten nur von 10 Tagen im Ramadan oder (makrūha). Für mehr siehe hierzu Gronke (2002, S. 135 ff.); al-Qaraḍwī (2007, S. 12 ff.).

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So plausibel die salafistische Auffassung ist, die die Sunna des Propheten als das Ideal der religiösen und weltlichen Praxis beschreibt, so problematisch ist zugleich die salafistische Überzeugung, dass die heute als bidaʿ abqualifizierten Praktiken im Bereichen ʿibādāt und muʿāmalāt zu Lebezeiten Muḥammads nicht existierten und von ihm nicht akzeptiert oder gar praktiziert worden seien.17 So findet eine selektive Bezugnahme auf die Sunna statt, die oft zusammenhangslos ist und den historischen Kontext außer Acht lässt. Die salafistische Verwerfung bestimmter religiöser Verhaltensweisen ist eine offenkundige Rückprojektion bloß imaginierter Idealzustände in der Generation des Propheten. Die Verurteilung der im Bereich der ʿibādāt aufgetretenen Neuerungen nimmt eine zentrale Stellung in den fatāwā-Werken zeitgenössischer salafistischer Gelehrte ein. Als rigorose Verfechter einer fiktiven idealen Glaubensausübung, „wie sie sie in der Zeit des Propheten vorzufinden meinen, muss vor dem Hintergrund dieses Ideals das Neue zwangsläufig negativ erscheinen, und so wird es dann auch beschrieben“ (Gronke 2002, S. 134). Durch die vehemente Zurückweisung vermeintlicher Neuerungen im Bereich ʿibādāt und die Berufung auf die von den salaf überlieferte religiöse Praxis erheben die Salafisten den Anspruch, eine „korrekte“ Form der Glaubensausübung zu vertreten. Nicht nur die Praktiken des Sufismus und des Volksislam, sondern auch weitere unzählige, unter Muslimen sehr weit verbreitete Bräuche werden von den salafistischen Gelehrten verworfen. Die Ablehnung wird in den meisten Fällen so begründet, dass nicht bekannt sei, ob der Prophet oder die salaf diese Bräuche kannten oder pflegten. Auf Grundlage dieser Argumentation Verbietet der saudische Gelehrte Muḥammad Ibn Ṣālih al-ʿUṯaimīn (1929–2001) das Feiern des Geburtstags (maulid) des Propheten Muḥammad und das Aussprechen von Bittgebeten (duʿāʾ) unmittelbar nach dem Pflichtgebet. Das gleiche gilt auch für das Händeschütteln mit anderen Gläubigen nach dem Gemeinschaftsgebet. Unter den Muslimen weit verbreitete Praktiken wie beispielsweise, einem Mitbetenden zu wünschen, „möge Gott dein Gebet annehmen“, das Küssen eines Koranexemplars (muṣḥaf), um Segen zu erlangen, das Schwören auf den Koran, um die eigene Aussage zu bekräftigen oder der Abschluss einer Koranrezitation mit der Aussage „Gott, der Allherrliche,

17Im

ihrem hier zitierten Aufsatz „‚Alles Neue ist ein Irrweg‘. Zum mittelalterlichen arabischen Schrifttum über religiöse Missbräuche“ führt Gronke einige Beispiele für Praktiken auf, die zwar von mittelalterlichen salafistischen Gelehrten Autoren als bidaʿ erklärt wurden, aber laut Überlieferung von dem Propheten und den salaf-Generationen gepflegt worden waren, wie beispielsweise das Feiern von Festen und die Diskussion über profane Themen in der Moschee.

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hat die Wahrheit gesprochen“ (ṣadaqa Allāhu al-ʿaẓīm) seien ebenfalls Neuerungen. Zudem bezeichnete er das Feiern von Geburtstagen und nichtmuslimischen Festen sowie Nationalfeiertagen und ebenso diesbezügliche Gratulationen als Dinge, die nach der Zeit der salaf aufgekommen seien und die der Prophet weder praktiziert noch den Muslimen angeordnet habe (al-ʿUṯaimīn 2009, S. 10 ff.). Aufgrund der Überzeugung, dass die Glaubenspraxis, dem Wesen des „wahren“ Islam entsprechend, tief in die Verrichtung des Alltags hineinreicht, sind vermeintliche Neuerungen in Bereich der muʿāmalāt ebenfalls Gegenstand der Fatwas salafistischer Gelehrter. Dass die salafistischen Gelehrten sich über vermeintliche bidaʿ auch in weltlichen Angelegenheiten beklagen, macht deutlich, dass der Salafismus das Ziel verfolgt, alle Lebensbereiche zu regeln. Muḥammad Nāṣiraddīn al-Albānī (1914–1999), einer der einflussreichen salafistischen Gelehrten, warnte in seinen zahlreichen Predigten Muslime davor, die „Ungläubigen“ in Europa und den USA zu imitieren, indem sie Bräuche aus fremden Kulturen übernähmen. Im Zusammenhang mit der Eheschließung bezeichnete er beispielsweise Handlungen wie den Verzicht der Frau auf Brautgabe, den Austausch von Hochzeitsringen, das Feiern von Hochzeitstagen, das Unternehmen einer Hochzeitsreise als üble Neuerungen, die vom „ungläubigen Westen“ übernommen worden seien (Al-Albānī 2007, S. 263 ff.). Somit fungiert bidʿa im salafistischen Kontext als ein regulativer Begriff, mit dem die autoritative Stellung von salafistischen Gelehrten gegenüber der eigenständigen Meinungs- und Urteilsbildung der Gläubigen verteidigt wird. Dadurch erlangen die Gelehrten eine Machtposition und erheben den Anspruch, über das Authentisch-Islamische zu bestimmen. Von ihren Positionen abweichende Meinungen und Praktiken lehnen sie als unislamische Innovationen oder Einflüsse von anderen Religionen und Kulturen ab.

Fazit Der Salafismus glorifiziert die utopische Konzeption eines „wahren Islam“, der vermeintlich in der Zeit der salaf vorherrschend war und gelebt wurde. Aufgrund der Überzeugung, dass die salaf den Koran und die Sunna am besten verstanden hätten, habe der „wahre Islam“ den sakralen Raum dominiert und sowohl das Leben der Gläubigen als auch den Umgang der Menschen untereinander bestimmt. Daher gelte es, den Koran und die Sunna ausschließlich im Verständnis der Vorväter der muslimischen Gemeinschaft zu befolgen. Mit dieser Glorifizierung der salaf sowie dem daraus resultierenden Handlungsbedarf bezüglich der Auslegung und Umsetzung der islamischen Ge- und Verbote geht eine strikte

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Ablehnung einher, die sich gegen Andersgläubige – Muslime wie Nichtmuslime – richtet und jegliche fortschreitende Entwicklung in den Interpretationsmethoden sakraler Texte oder Neuerungen in der islamischen Religionspraxis für unstatthaft erklärt. Obwohl Salafisten Neuerungen vehement ablehnen, nutzen sie technische und wissenschaftliche Errungenschaften, um u. a. ihre Mission durchzusetzen. So sind Salafisten keineswegs, wie oftmals behauptet wird, rückständige und mittelalterliche religiöse Fanatiker, sondern mit moderner Technik durchaus vertraut. Das, was sie ablehnen, sind die mit diesen Errungenschaften verbundenen Werte und Normen. Eine Reformation im Islam hätte u. a. die Aufgabe, die Religion von den Fesseln des Salafismus zu befreien und zentrale theologische Konzepte mit reformierten Inhalten füllen. Die reformorientierten muslimischen Gelehrten sollten aufzeigen, dass die theologischen Konzepte der Salafisten lediglich eine der möglichen Interpretationen des Islam darstellen und nicht bindend sind. Die stetige Rückbesinnung auf die salaf-Generationen suggeriert, dass es unter den salaf stets Konsens vorherrschte. Dies steht jedoch im Widerspruch zu der historisch belegten Vielfalt an theologischen Positionen unter den salaf. Diese Vielfalt entstand trotz der vorgeblich engen Orientierung am Wortlaut des Koran und der akribischen Nachahmung des Propheten Muḥammad. Die frühislamische Geschichte bzw. die Geschichte der salaf zeugt von apodiktischen Positionen in Bezug auf zentrale Fragen der Religion, die zu Schimisen und brutalen Bürgerkriegen führten und bis heute das Leben der Muslime weltweit prägen. Eine reformorientierte islamische Theologie sollte anhand von Beispielen auch aus der Gegenwart davor warnen, dass die starren Positionen des Salafismus zu blutigen Konflikten unter Muslimen führen und die Beziehungen der Muslime zu Andersgläubigen in der modernen Welt erheblich schaden. Wenn die friedliche Koexistenz dem Geist des Islam innewohnt, sollte eine Reformation diese Religion mit den universellen Werten und Menschenrechten versöhnen oder gar islamisch begründen. Den Salafisten die Deutungshoheit über den Islam strittig machen, ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Literatur Abbāsī, ʿĪd. 2002. ad-Daʿwa-l-salafiyya wa-mawqifuhā min al-ḥarakāt al-uḫrā. Alexandria: Dar al-Iman. Al-Albānī, Muḥammad Nāṣiraddīn. 2001. al-Tawassul: Anwāʿihu wa-aḥkāmihu. Jeddah: Maktabat al-Malik Fahd. Al-Albānī, Muḥammad Nāṣiraddīn. 2007. Qāmūs al-bidaʿ (Red. von al-Salmān, Mašhūr Ibn Ḥasan und al-Šukūkānī, ʿAbdallāh Ibn Ismāʿīl). Doha: Dār al-Imām al-Buḫārī.

Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus

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Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation Marwan Abou Taam

Der Islam ist eine politische Realität in Europa. Diese Feststellung verlangt eine neuartige Strategie, die einerseits die Religion als Quelle der Spiritualität bewahrt und anderseits die Muslime im Westen für die zivilisatorischen Errungenschaften der Aufklärung gewinnt (Tibi 2002). Hierbei hilft nur eine Integrationspolitik, die eine verbindliche Werteorientierung bietet – ein schwieriges Unterfangen, wenn man bedenkt, dass das zivilisatorische Bewusstsein in Europa sehr niedrig ist, während die Muslime Teil der Rebellion gegen die westliche Vormundschaft darstellen (Bull und Watson 1985, S. 217–228). Die „Wiederkehr der Götter“ (Graf 2004) trifft Europa in einer Zeit multipler Krisen1. Verbindende Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit und soziale Gerechtigkeit aber auch Säkularität und Rationalität werden zunehmend mit vormodernen Denkstrukturen und Traditionen konfrontiert und gar infrage gestellt. Die Säkularisierung war ein europäisches Phänomen. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung wurde die Trennung von Staat und Religion nicht vollzogen. Nun leben Menschen in Europa, für die die Religion Teil der Inszenierung ihrer Identität ist. Religion fördert ihre Gemeinschaftsbildung, wobei normative Gewissheiten neu vergegenwärtigt werden. Die weltweite Konfrontation des politischen Islam mit dem Westen wirkt sich auf diesen

1So

spitzt sich offensichtliche die Krise der Eurozone zu; der massive Zustrom von Flüchtlingen hat die Defizite der gemeinsamen Asylpolitik offengelegt und nicht zuletzt das Votum der Briten für den Brexit gefährden das gemeinsame europäische Projekt.

M. Abou Taam (*)  Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_8

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Gemeinschaftsbildungsprozess aus. Aus den Mitgliedern einer verunsicherten Islam-Community können von den gut aufgestellten Islamisten leicht Dschihadisten rekrutiert werden. Problematisch ist, dass den meisten sicherheitspolitischen Akteuren die Religiosität der Muslime völlig fremd ist. Der Zusammenhang ­zwischen der Funktion des Religiösen und der Artikulation des Politischen wird nicht in die soziopolitische Analyse einbezogen. Umso mehr ist man überrascht, dass Konflikteskalationen und Gewaltausbrüche nicht rechtzeitig erkannt bzw. verstanden werden. Die Gesellschaftspolitik muss sich prinzipiell auf zwei Szenarien vorbereiten, die ihrerseits unterschiedlicher Instrumente und Strategien bedürfen bedürfen (Tibi 2002a): • einen politisierten Islam mit Herrschaftsansprüchen, • eine säkulare Islamkultur mit sinnstiftender Spiritualität. Die Politik, der Staat und die Gesellschaft müssen durch Dialog auf die zweite Form hinarbeiten, denn ein politischer Islam in Europa gefährdet die Identität Europas und führt in eine europäische Katastrophe. Im Dialog und durch Reformanstrengungen der Muslime selbst müssen für ein friedliches konstruktives Zusammenleben drei zentrale Bereiche durch die islamische Gelehrsamkeit geklärt werden: a) das Gottesbild und die Gott-Mensch-Beziehung b) das Verhältnis der Muslime zu ihrer Nicht-muslimischen-Umgebung c) das Verhältnis von Islam zu säkularen Herrschaft/zum säkularen Recht Alle drei Bereiche bedürfen jedoch intensiver Reformanstrengungen, denn die bestehenden religiösen Positionen sind größtenteils nicht kompatibel mit den existierenden säkularen, an den Werten der Moderne orientierten Gesellschaftsordnungen in Europa. Hierbei ist die islamische Position hinsichtlich des historisch erwachsenen Konzeptes der säkularen Herrschaft mit der Volkssouveränität als Grundlage und Gesellschaftskonsens von zentraler Relevanz. Diese Ordnung ist das Fundament des gesellschaftlichen Friedens und basiert auf die Bereitschaft einzelner Gruppen und Individuen sich jenseits religiöser Begründungen unterzuordnen. Hierbei geht es darum, dass sich die Religion mit der säkularen Ordnung versöhnt oder sie im Optimalfall gar begründet begründet (Vgl. Tibi 2002b, S. 265 ff.).

Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation

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Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Islam zur Herrschaft sieht sich mit der Tatsache Konfrontiert, dass unterschiedliche Ebenen des Argumentes zusammengeführt werden müssen, um eine haltbare Aussage treffen zu können: Die Beziehungsverhältnisse „Islam und Staat“, „Muslime und Staatlichkeit“, „Islam und Säkulare Verfassung“, „Muslime und Säkularismus“ sind verschiedene von vielen Variablen abhängige Komponenten, die in ihrer Beantwortung oftmals Orts-, Zeits- und Gesellschaftsabhängig sind. Weder der Koran noch die Tradition des Propheten äußern sich zur Gestaltung eines Staatswesens. In diesem Sinne argumentierte der al-Azhar Gelehrte und Richter ʿAlī ʿAbdarrāziq im Rahmen einer Auseinandersetzung über die Beziehung von Herrschaft und Islam, dass man in der islamischen Offenbarung keine Aussagen über die Verfasstheit eines Staates finden kann. und führt fort: Das Kalifat hat auch nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun. Gleiches gilt für Gerichtswesen, für Regierungsposten oder Stellen im Staatsdienst. Das alles sind reine politische Angelegenheiten, mit denen die Religion nichts zu tun hat, denn sie hat sie weder gekannt noch abgelehnt, weder vorgeschrieben noch verboten (Ebert und Hefny 2010, S. 93).

Obwohl im koranischen Text Könige und Königreiche diskutiert werden, wird die politische Konstituierung der frühen islamischen Gemeinde nicht festgelegt. Ferner werden in der Prophetentradition zwei Aussagen Muḥammads als authentisch zitiert, die sehr verwirrend wirken, wenn man bedenkt, dass oft in der aktuellen islamischen Debatte die Untrennbarkeit von Religion und Politik betont wird. Muḥammad soll von Gott vor die Wahl gestellt worden sein, König oder Diener werden zu wollen und er habe sich für letzteres entschieden (Ibn Ḥanbal 7160).2 So gab es zu keiner Zeit eine offizielle staatsamtliche Bezeichnung des Propheten. Vielmehr betont Muḥammad „… ihr wisst zu Dingen eurer Welt besser Bescheid“ (Muslim15/116). Erst im Jahr 661 entstand mit den Umayyaden in Damaskus die erste islamische Dynastie als Folge eines Bürgerkrieges und vieler Krisen, die sich mit der Frage der rechtgeleiteten Führung der Gläubigen auseinandersetzten. Nicht Medina oder Mekka sondern Damaskus, eine byzantinische Verwaltungsstadt, war nun die Hauptstadt der ersten islamischen Dynastie.

Hadith wurde in der Sammlung von al-Buḫārī, bei Muslim und bei Aḥmad Ibn Ḥanbal (7160) überliefert.

2Der

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Die Umayyaden gaben sich den Titel „Statthalter Gottes“, während Mohammad Diener und gesandter Gottes war. Unter den Muslimen existierten seither verschiedene religiöse Auffassungen über die Bedeutung des Staates und seiner Wirkungsrationalität. Oft findet man in den Argumente eine staatsphilosophische Verknüpfung, wonach staatliche Ordnung eine Voraussetzung für die Erfüllung religiöser Pflichten sei. Ein Blick in den Koran macht jedoch deutlich, dass sich die Offenbarung nicht zu diesem Thema geäußert hat. An keiner Stelle des Korans wird eine islamkonforme Staatsform beschrieben. Die Frage der staatlichen Organisation, des Rechts und der Herrschaftskontinuität ist zwar erst mit dem Tod des Propheten aktuell geworden, jedoch werden oft Bezüge auf das Wirken Muḥammads in Jathrib genommen. Diese Stadt, die heute Medina (Stadt des Propheten) genannt wird, dient als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Interpretationen des Islam bezüglich seines Verhältnisses zur Staat und Herrschaft. Sowohl Orthodoxe, Modernisierer, als auch Islamisten beziehen sich auf die frühislamische Geschichte, und insbesondere auf die Rolle des Propheten in Jathrib, um daraus Argumente für ihre jeweilige Staatsauffassung abzuleiten (Tibi 1997).

Jathrib und das Wirken Muḥammads Die sozialpolitische Situation auf der arabischen Halbinsel unmittelbar vor dem Offenbarungsbeginn war geprägt von stammesorientierten Gemeinwesen, die ihrerseits in kleineren Klans und Großfamilien unterteilt waren. Im Zentrum jener patriarchalischen Struktur stand die Ehre, die unmittelbar mit der Blutrache verbunden war. Während die Nomaden mit ihren Tieren in der Wüste von Oase zur Oase umherzogen, betrieben die Stadtbewohner Handelskarawanen. Beduinische Wegelagerer kontrollierten die Handelsrouten, sodass das Verhältnis zwischen Nomaden und Städtern entsprechend von Raub- und Rachezügen bestimmt war. Die Zugehörigkeit zu einem Stamm eröffnete Schutz und war Loyalitätsverpflichtung zugleich. Lebensentscheidend waren auch jene Allianzen zwischen den Stämmen, die dazu beigetragen haben, dass trotz fehlender politischer Struktur das soziale Gefüge stabil gehalten wurde. In Mekka, also in der Geburtsstätte des Islams, lebte der Stamm der Quraischiten, die Haschemiten bildeten eine Großfamilie innerhalb dieses Stammes, aus der Mohammad hervorging. Sowohl die marokkanische als auch die jordanische Königsfamilien berufen sich bis heute auf die Abstammung aus der haschemitischen Familie und legitimieren ihre Macht durch das Verwandtschaftsverhältnis zum Propheten Muḥammad.

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Die von Mohammad gepredigte Religion des Islam zog ihre revolutionäre Kraft gerade daraus, das unverfälschte Alte zurückgebracht zu haben. Dabei verfolgt der Islam weder den jüdischen Traum von der Erlösung eines auserwählten Volkes noch der christlichen Versprechung von der individuellen Erlösung durch das Leiden Gottes. Auf eine undramatische Art und Weise wird die Beziehung der Menschen zu Gott nüchtern und in vielen Teilen pragmatisch bestimmt. Gott wird in einer strickt monotheistischen Perspektive als der absolute, transzendente in einem alles übersteigenden Anderssein unmittelbar Wirkende interpretiert. Das Grundanliegen des Islam besteht also in der Transzendenz des einen Gottes, des Schöpfers von Himmel und Erde (Abou Taam und Sarhan 2016). Bald fand der Prophet Anhänger unter den jüngeren Mekkanern vornehmer Familien und den Sklaven. Bei den Stadtvätern Mekkas stieß er auf die Ablehnung. Diese hatten Angst, dass der Stammessohn Muḥammad durch seinen propagierten Monotheismus, die gesonderte Stellung der Pilgerstadt Mekka, als Handelsmetropole und religiöses Zentrum gefährdet. Muḥammads Predigten hinterfragten den Götterkult und die Wallfahrtsfeste, die sich um das Heiligtum in Mekka konzentrierten und den führenden Familien wirtschaftliche Vorteile brachten. Die Quraischiten beschlossen, Muḥammad und seine Anhänger zu boykottieren. Als Muḥammads Onkel Abū Ṭālib im Jahre 619 starb, steigerten die Mekkaner den Druck auf Muḥammad, schließlich beschlossen sie ihn zu töten. Daraufhin erlaubte er seinen Anhängern Mekka zu verlassen, um in Jathrib Schutz zu finden. Schließlich folgte er ihnen im Jahre 622 nach Jathrib auf die Aufforderung einiger Stämme hin, die einen Friedensrichter suchten. Jathrib bekam später den Namen Medina (Die Stadt des Propheten). Diese Migration wird Hidscha genannt und markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung. Heilsgeschichtlich bedeutet diese Auswanderung einen Einschnitt zwischen Islam und Ǧāhiliyya. Es ist die Überwindung des „Nicht-Wissen“ und „Nicht-Wahrnehmen“ der Zeichen des Schöpfers und somit eine Manifestation des Wandels einer sozialen Situation, die durch die Realisierung einer neuen sozialen Verfassung in Medina verfestigt werden sollte. Hierin sehen die islamischen Gelehrten eine Parallele zur biblischen Geschichte Moses, die im Quran mit den Worten wiedergegeben wird: Und wahrlich, wir entsandten schon Moses mit unsern Zeichen (und sprachen zu ihm:) Führe dein Volk aus den Finsternissen zum Licht und erinnere sie an die Tage Allahs’. Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für alle Standhaften und Dankbaren (Sure14,5).

Muḥammad wurde in erster Linie von den Bewohnern Medinas als Schiedsrichter akzeptiert, um ihre Fehden zu schlichten. Diesbezüglich liefert die Charta (ṣaḥīfa) von Medina einen Einblick in die pragmatisch begründete Abmachung

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zwischen Muḥammad und den Bewohnern der Stadt. Es entstand in Medina eine politische Solidargemeinschaft (Umma). Muslime, heidnische und jüdische Clans akzeptierten die richterliche Funktion von Muḥammad. In der ṣaḥīfa findet man die Formulierung: „Immer wenn zwischen den Leuten dieser etwas geschieht oder zwischen ihnen Streit entsteht, woraus Unheil zu befürchten ist, so ist dies Gott und Mohammad, seinem Gesandten, vorzulegen.“ Diese Stellung des Propheten ist eine weitere Zäsur, die den Islam bis heute prägt, denn viele Muslime interpretieren den räumlichen Bruch mit Mekka als Befreiung vom Unglauben. Die neue Rolle des Propheten wird verstanden als die erste islamische Grundordnung, in der der ehemals von seiner Heimatstadt verkannte und abgelehnte Prophet zum Oberhaupt einer Gemeinde aufgestiegen ist (Tibi 2001). Tatsächlich lassen sich auch im Offenbarungstext stellen finden, die diese Veränderung der Rolle Muḥammads belegen. Während die predigten Muḥammads in Mekka vor der Hidschra sich mit der Beziehung der Menschen zur Gott, der Erwartung des Jüngsten Gerichtes, sowie mit Aufforderung zu sozialen Handlungen beschäftigten, zeugen die Aussagen des Propheten in Medina von einer praktisch orientierten Umsetzung der Botschaft innerhalb einer bestimmten Sozialordnung. Auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Phasen der Offenbarung. Maßgeblich für diese Veränderung war die historische Notwendigkeit, die sich aus dem Verhältnis des Propheten zum sozialen Komplex ergeben hat. Für den größten Teil der Muslime sind diese Veränderung und ihre Rahmenbedingungen ein zentraler Bestandteil der Offenbarung, ohne die die Texte des Korans kaum auslegbar sind. Obwohl oft das Wirken des Propheten in Medina herangezogen wird, um eine islamische Herrschaftsordnung zu bestimmen, muss man jedoch konstatieren, dass Muḥammad zu keiner Zeit eine Offizielle Amtsbezeichnung innehatte. Er hat keine Dynastie begründet und schuf keinerlei ­staatlichen Strukturen. Die Autorität Muḥammads lässt sich auf Koranverse zurückführen, wonach die Gläubigen Gott und den Gesandten gehorchen sollten (Sure 4,80; Sure 5,92; Sure 8,1 etc.), denn „[…] Vielleicht lasst ihr euch führen! Aus euch soll eine Gemeinschaft derer entstehen, die zum Guten rufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche untersagen“. In einem anderen Vers wird der Zirkel von Autoritätsträgern erweitert. In Sure 4 im Vers 59 heißt es, „O ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“. Die muslimischen Exegeten waren sich nie einig über die Interpretation des letzten Teils dieses Verses. Wer sind diejenigen, die Befehl unter den Muslimen haben? So sieht al-Ṭabari (839–923) darin die Grundlage einer islamischen Herrschaft gelegt (Schakir 2000, S. 67 ff.). Andere Exegeten gehen jedoch davon aus, dass sich hierbei um die Gefährten des Propheten handelt.

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Herrschaftskonzeptionen – zwischen Philosophie und Theologie Ein Blick in die politische Theorie bei islamischen Philosophen (Anawati 1959) und Rechtsgelehrten macht deutlich, dass sie bei der Formulierung ihrer Theoreme in Bezug auf Herrschaft und Herrschaftslegitimation sehr beeinflusst waren von den politischen und gesellschaftlichen Konstellationen, die ihre jeweilige Zeit geprägt haben. Islamische Philosophen wie al-Fārābīi (Walzer 1998), Averroes (Ibn Rušd 1956), Ibn Sīnā, Ibn Ḫaldūn sowie religiöse Gelehrte wie al-Māwardī, al-Ġazālī und Ibn Taimiyya bieten die Basis der meisten islamisch begründeten Visionen politischer Herrschaft der heutigen Zeit (Lipson 1993; Tibi 1993; Watt 1972). Reformorientierte und sich der Demokratie verpflichtende Debatten beziehen sich oft auf die Frühislamische Geschichte in Kombination mit den Ausführungen der islamischen Philosophie. Währenddessen beziehen sich die Vertreter einer theokratisch bestimmten Herrschaftsform auf die theologischen Ausarbeitungen in Kombination mit einer staatszentrierten Lesart der frühislamischen Geschichte. Mit anderen Worten prägen Diskurse und Debatten, die in der Zeit der Umayyaden- und der Abbasidendynastien vom 7. Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert (Tibi 1997, S. 179–219) geführt worden sind, den aktuellen politischen Diskurs (Tibi 1997, S. 363–384). Ibn Ḫaldūn argumentiert, dass die grundlegenden Ursachen geschichtlicher Entwicklung in den gesellschaftlichen und sozialen Strukturen gesucht werden müssen (Talbi 1986; Sayah 2000). Er folgte dem Grundsatz, dass das Beobachtbare Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt gibt, während das, was mit der Empirie nicht übereinstimmt, verworfen werden muss. Aufbauend auf dieser Grundlage entwickelte er in seiner Muqaddima (Einführung in die Weltgeschichte) (Rosenthal 1989) den Kreislauf vom Aufstieg und Zerfall der Zivilisationen.3 Bezüglich des Staates, so beschreibt er die Integration politischer, sozialer und wirtschaftlicher Faktoren als Grundlagen seiner Funktion. Für ihn sind gute Finanzen und die Gewährung der öffentlichen Sicherheit eine unabdingbare Voraussetzung für eine gute Regierungsführung. Ibn Ḫaldūn verlangt, dass Ḫaldūn schreibt im Bezug auf die im Rahmen seiner Muqaddima beabsichtigten Gründung einer neuen Wissenschaft: „es ist dies gleichsam eine in sich selbständige Wissenschaft, denn sie hat ein Objekt, und das ist die menschliche Kultur und die menschliche Gesellung; sie hat Frage(stellungen), und sie erklärt die Zustände, die mit dem Wesen (dieser Kultur) zusammenhängen, einen nach dem anderen. So ist es mit jeder Wissenschaft, die sich auf eine Autorität oder den Verstand gründet.“ (Schimmel 1951, S. 11).

3Ibn

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die natürlichen Anlagen der Menschen respektiert werden und sie deswegen nicht überfordert werden sollen. Als Theoretiker stellt er fest, dass die Entwicklung von Herrschaft und Staaten höchst unterschiedlich verlaufen kann. Je nachdem wie sich das politische System gegenüber Wirtschaft, Religion sowie gesellschaftlichen Gruppen verhält, kann dieses fortexistieren oder nicht. Er veranschaulicht dies anhand seiner Abhandlung über die Auswirkung hoher Steuern und plädiert dafür, dass diese als Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft niedrig gehalten werden. Ibn Ḫaldūn argumentierte, dass der Staat durch eine Kraft gehalten wird, die er ʿasabiyya (Esprit de Corps) nennt. Demnach hängt der Zusammenhalt einer Gesellschaft vom Wertebewusstsein einer Zivilisation, also von der auf ihrer Weltanschauung aufbauenden Solidarität ab (Tibi 1993, S. 124). Auch für Ibn Ḫaldūn unterstützt in diesem Sinne die Religion den Staatszusammenhalt entscheidend. In seiner Abhandlung stellt er fest, dass der Staat fünf Phasen durchläuft (Schimmel 1951, S. 92 ff.): • gemeinschaftlicher Sieg • Konsolidierung der Macht • Ruhm • Zufriedenheit und Nachahmung • Vergeudung und Verschwendung. Je nachdem wie stark die ʿaṣabiyya ausgebildet ist, verhält es sich mit der Verweichlichung der Menschen, davon hängen die Stärke der Staatsmacht ab und somit ihre Fähigkeit Ordnung durchzusetzen und damit für Sicherheit zu sorgen. Inspiriert von Platons Staat beschäftigte sich auch der islamische Philosoph Averroes (Ibn Rušd) mit gesellschaftlichen Entwicklungen und der Bedeutung des Staates (Ibn Rušd 1982; Ibn Rušd 1995). Auch mit Bezug auf Platon billigt al-Fārābī in seiner Abhandlung al-madīna al- fāḍila (al-Fārābī 1982) dem Herrscher die Abänderung von religiösen Gesetzen zu. Hierbei distanzieren sich beide von der islamischen Vorstellung, wonach die Legitimation der Herrschaft des Sultans auf der Grundlage einer metaphysischen Weltvorstellung geschieht, wie dies beispielsweise al-Ġazālī tut. Die islamischen Rationalisten „glauben nicht, dass das Kalifat authentisch religiös islamisch ist“ (Tibi 1996, S. 83). Tatsächlich kennt die islamische Tradition in der praktischen Herrschaftsausübung das istiḥsān als Methode des Herrschers weltliche Gesetze, die alleine auf seinem Willen beruhen, zu verabschieden, um auf eine gesellschafts- oder machtpolitische Situation reagieren zu können. Derartige Vorschriften „wurden zunächst gewöhnlich in die Scharia aufgenommen,

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durch Vermittlung der Sunna oder auch auf Grund juristischer Überlegungen“ (Kummerer 1989, S. 112). Das politische Erstarken der Rechtsgelehrten und die zunehmende Schwächung der Philosophie seit der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts führten zur Beendigung dieser Praxis, was sicherlich mit der zunehmenden Kodifizierung der Sunna und Hadithe in Zusammenhang stand. Die Bedeutung der islamischen Philosophen ergibt sich aus ihren stetigen Versuchen, einen auf Recht beruhenden Staat zu entwerfen. Dabei bedienten Sie sich nicht ausschließlich genuin islamischen Quellen, vielmehr schufen sie eine Brücke zur griechischen Philosophie. Dies taten sie als gläubige Muslime, die von der Existenz Gottes und der Prophetie Muḥammads überzeugt waren. Der von ihnen entworfene Staat sollte sowohl die von Gott gewollte gerechte Ordnung darstellen, als auch Platz für die geistige Freiheit seiner Bewohner einräumen. Darin sahen sie keinen Widerspruch zur Offenbarung. Für al-Ġazālī (Marmura 2000) ist ein starker Sultan, der seine Herrschaft auf dem quranischen Vers: „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht besitzen“ (Koran 4:59) gründet, sehr zentral. Diese Koranstelle unterstreicht durchaus die Hierarchie von göttlicher Allmacht gegenüber der Macht unter den Menschen. Wenn man bedenkt, dass Islam nicht nur „Hingabe“ an Gott, sondern zugleich bedingungslose „Unterwerfung“ unter Seinen Willen bedeutet, so hat der politische Führer die Aufgabe diesen Willen zu durchsetzen. Entsprechend beruht al-Ġazālīīs Theorie auf der Annahme, dass die ideale Gemeinschaft diejenige ist, die sich dem islamischen Herrscher unterordnet. Er erklärt die Bedeutung des Verses „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht besitzen“ als Gehorsam gegenüber Gott, dem Propheten und den Emiren, d. h. den faktischen Herrschern. Somit hat der Sultan göttlichen Glanz, und ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten. Die erwähnte Koranstelle bildet auch für al-Māwardī die Grundlage zur koranischen Herleitung des Kalifats und wird von den islamischen Gelehrte, insbesondere im Sunnitentum, herangezogen, um die Scharia als endgültige und autoritative Rechtsquelle zu bestimmen. Die Wechselwirkung zwischen Politik und Religion ergibt hierbei aus der Vorstellung, dass nur ein starker Sultan ein Garant für die Durchsetzung der Scharia sein kann. Die Scharia steht im Mittelpunkt, denn: „the obligation of the Shari‘ah is to provide the well-being of all mankind, which lies in safeguarding their faith, their human self (nafs), their intellect (‘aql), their progeny (nasl) and their wealth (mal)“ (Umer 2000, S. 118). Ibn Taimiyya betont, dass irgendein Herrscher immer noch besser als Aufruhr und Chaos sei. Selbst wenn die Herrschaft nicht religiös legitimiert sei, so

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sei diese notwendig zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Machtausübung und die Unterordnung sind somit religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott näher kommt (Hourani 1962, S. 3 ff.). Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Ibn Taimiyya eine säkulare Herrschaft akzeptieren würde, vielmehr gilt für ihn die frühislamische Gemeinde als die ideale islamische Gemeinschaft. Die Muslime müssen sich daran orientieren und ihren Staat entsprechend aufbauen, denn die Verbindung von Religion und Staat ist dem Islam inne. Er begründet dies damit, dass es ohne den Staat nicht möglich sei, die Normen der Religion durchzusetzen. Damit hat der Staat für Ibn Taimiyya die Funktion, der Religion zum Sieg zu verhelfen, denn ohne Religion würden Tyrannei und Willkür die Oberhand gewinnen. Nur innerhalb eines solchen Staates ist es möglich, dass der von Natur aus schwache Mensch dazu angehalten wird, den Gesetzen Gottes zu folgen. Hier stehen erneut die Gesetze Gottes im Mittelpunkt (Laoust 1939). Ibn Taymiyyas Schriften sind zentral für den islamischen Fundamentalismus. Die moderne westliche Staatlichkeit basiert auf der Volkssouveränität, die auch als Basis für die Gewährung von Sicherheit dient, während die islamischen Gelehrten Gott als einziger absoluter Souverän durch seine Offenbarung die Scharia als Grundlage der Staatlichkeit festlegte. Die westliche neuzeitliche Staatsphilosophie begründet den Staat immer weltlich, während die islamische Philosophie den Gottesbezug betont. Aus diesem Unterschied entstehen viele Schwierigkeiten hinsichtlich der Kompatibilität westlicher Ideen mit dem islamischen politischen Denken. Ist der souveräne Staat in der westlichen Ideengeschichte Träger und Garant von Sicherheit, so ist die Erfüllung und Durchsetzung des Gesetzes Gottes die Hauptfunktion des islamischen Staates. Legitimiert sich die Staatsmacht im Westen auf der Grundlage der Volkssouveränität, so ist in der islamischen Zivilisation Gott der einzige Souverän. Sein Wille muss geschehen, dies zu erfüllen ist die Funktion des politischen Herrschers. Der Staat muss nach außen hin die Mission vorantreiben, um das Wort Gottes und die Scharia zur Geltung zu bringen. Damit ist der islamische Staat prinzipiell expansiv angelegt. Der Staat als souveräne politische Ordnungseinheit, die Wohlfahrt und gesellschaftlichen Frieden organisiert, ist zwar der islamischen Philosophie nicht fremd, jedoch wurden seine Hauptverfechter isoliert. Der religiöse Diskurs gewann die Oberhand.

Der islamische Staat – eine aktuelle Debatte Die Grundlage des islamischen Staates basiert auf dem universalistischen Anspruch und der Absolutheit der göttlichen Wahrheit. Das impliziert, dass die ḥākimiyya (Herrschaft) ausschließlich vom einzigen Souverän getragen wird,

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sodass das Prinzip der ḥākimiyyat Allāh (Gottesherrschaft) (Quṭb 1988, S. 94 f.; Maudūdī 1979, S. 4 ff.) eine der wichtigsten Säulen der islamischen Ordnung darstellt. Hierin wird Gott als die einzige legitime rechtsetzende Instanz verstanden, in der er sich durch die Offenbarung und die darin beschriebenen Gesetze für alle Zeiten geäußert hat. Diese Gesetze sind Bestandteil der Scharia. Aus der Offenbarung sollen somit alle Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Der Muslim hat sich diesen unterzuordnen (Quṭb 1965, S. 150). Hier baut der politische Islam eine Brücke zum orthodoxen Islam auf, die sich in Bezug auf die Einheit Gottes äußert, aus der jedoch ein politisches Konzept entwickelt wird, das alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage religiöser Regeln strukturiert und bestimmt. Es handelt sich um eine Basis politischen Denkens, die sich gegen jegliche menschlich-philosophisch anmutende politische Ordnung stellt, die Gott nicht im Zentrum ihrer Gedanken hat. Der Islam ist genauso ein Widersacher des Unglaubens, wie der politische Islam ein Widersacher der auf das Prinzip der Volkssouveränität bauenden Demokratie ist, schrieb Sayyid Quṭb (1965, S. 12 f.). Die Politisierung religiöser Inhalte vereinfacht die Strukturen gesellschaftlicher Interaktionen und reduziert sie auf einen stetigen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein dichotomes Denkmuster entsteht, das uns immer wieder bei der Analyse des Phänomens begegnet. Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Ihr einziger Souverän ist Gott. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden (Maudūdī 1984, S. 5 ff.). Somit definiert der politische Islam ideologisch zwei Entitäten: die Hizbollah/Partei Gottes, die aus den Anhängern der Einheit Gottes besteht und die Ḥizb al-shayṭāan (Partei des Teufels), die aus all denjenigen besteht, die nicht getreu den Gottesgesetzen und Vorgaben leben. Dabei kann es sich um Individuen, Kollektive oder gar politische Systeme handeln.

Staat und Herrschaft im politischen Islam – die sunnitische Spielart Als Maßstab für die Einordnung und Unterscheidung dient abstrakt der Glaube an die Einheit Gottes, was sich in der Realität durch die Umsetzung von vermeintlichen Gottesgesetzen ausdrückt. Sowohl al-Bannā als auch al-Maudūdī betonen die Unmöglichkeit der Koexistenz beider Entitäten in einem politischen System, denn dies würde den göttlichen Auftrag der daʿwa (Mission) nicht nur verhindern, vielmehr erschwere dies den Kampf gegen das Böse (Al-Bannā 1934, S. 269; Khomeini 1982, S. 122 f.). Dieser ist allerdings in Z ­eiten

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sich ausbreitender Ǧāhiliyya4 umso aktueller geworden, insbesondere weil die beanspruchte Führungsrolle spätestens seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem damit verbundenen Niedergang des Kalifats sichtlich verloren gegangen ist (Quṭb 1952, S. 116). Aus den Ausführungen wird deutlich, dass die Weltanschauung des politischen Islam eine dualistische Weltsicht darstellt, die die menschliche Geschichte als einen permanenten Kampf zwischen Gut und Böse interpretiert. Diese Weltanschauung ist jedoch keine Erfindung der Islamisten, vielmehr betonen sie konsequent grundsätzliche Annahmen des orthodoxen Islams. Sie politisieren diese Annahmen und machen sie zu absoluten Leitlinien einer Ideologie. Aus der Perspektive des politischen Islam gilt es mittelfristig, den Nationalstaat im Dschihad zu bekämpfen, um die wahre Trennungslinie zwischen Glauben und Unglauben wiederherzustellen. Die geografische Grenze, die dem Konzept des Nationalstaates innewohnt, wonach die Bevölkerung durch ethnische oder ideologische Bindungen, Sprache, Institutionen und Werte wahrgenommen wird, soll dem Islam fremd sein. Die Idee von der Nation ist nach islamistischer Überzeugung eine zerstörerische und daher abzulehnende Ideologie. Weiter wird angeführt, dass es sich hierbei um ein Werk von Ungläubigen handelt, die durch die Zergliederung der muslimischen Umma in Völker und Stämme, das Ziel verfolgten diese zu beherrschen. Denn, so wird argumentiert, als die Welle des Nationalismus die Türken, Araber, Perser und andere Völker erreicht habe, wurde die islamische Bindungskraft zugunsten jener Ideologie zerstört und die Muslime geschwächt. Demzufolge richtet sich der Kampf gegen den Westen auch und ganz besonders gegen den Nationalstaat. Dabei wird die islamische Geschichte, in der seit dem Tode des Propheten Muḥammad bis in die Gegenwart Kriege innerhalb des Islam, die die Rechtsgelehrten mit fitna5 beschreiben, zu finden sind, ausgeblendet. Dem wird das islamische Konzept der Umma/Gemeinschaft aller Muslime entgegengesetzt, das

4Zeit

der „Unwissenheit“ = Die Zeit vor dem Islam. stellt fest, dass es im Islam vier unterschiedliche Bezeichnungen für kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Der Dschihad, der, wie noch gezeigt wird, nicht, wie fälschlich verbreitet „Heiliger Krieg“, sondern Anstrengung als Hingabe zu Gott bedeutet, schließt jedoch auch die kriegerische Aufgabe zur Verbreitung des Islams ein. Vom Begriff „Dschihad“, den also nur Muslime führen, wird der Begriff ḥarb (Krieg) abgegrenzt. Das arabische Wort wird für die kriegerischen Handlungen, die die Feinde des Islams durchführen, verwendet. Das im Koran aufgeführte Wort qitāl (Kampf) ist die Bezeichnung für den militärischen Teil des „Dschihad“. Für den nicht erlaubten innermuslimischen Konflikt, wird dagegen der der Begriff fitna angewendet. Vgl. (Tibi 1997, S. 59 ff.; Sadiq 199).

5Tibi

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seinerseits auf dem Einheitsprinzip fußt. Es ist eine weltanschauliche Bindung, die in der ʿaqīda/Glaube6 begründet wird, die das Fundament des neuen islamischen Staates bildet. Die Grundlage dieses Staates ist nicht das säkulare Recht, sondern das religiöse Gesetz (Juergensmeyer 1993, S. 40). In der theoretischen Konstruktion gehört jeder, der sich zum „wahren Islam“ bekennt zum islamischen Staat. Alle Muslime sollen eine Solidargemeinschaft darstellen, die sich Gottesrecht unterordnet. Damit entscheidet die religiöse Zugehörigkeit über den rechtlichen Status der Menschen. Die rechtliche Gleichheit aller Bürger im Verhältnis zum Staat und zu anderen Individuen, die den modernen Nationalstaat kennzeichnet, wird hierbei komplett aufgehoben. Dies impliziert die Ablehnung der Idee von der Volkssouveränität, die wichtigste Legitimationsbasis des modernen Nationalstaates. Vertreter des politischen Islam aber auch weite Teile der islamischen Orthodoxie lehnen dieses Prinzip kategorisch ab, mit der Begründung, dass nur Gott der Souverän sein kann. Folglich werden Gesetze aus der Offenbarung abgeleitet und durch die Scharia formuliert. Was den Vertretern des politischen besonders beunruhigt, ist die stetige Orientierung islamischer Gesellschaften an westlichen Lebensarten. So beanstanden sie die Übernahme westlicher Wissenschaften, Wirtschaftsmodelle und gar politischer Strukturen und behaupten, dass dies die Unterentwicklung dieser Gesellschaften festigt (Al-Nadawi 1984, S. 260 f.). Dabei hätten die Muslime die Aufgabe, die Menschheit zu retten und sich nicht in diese aktuell vorherrschenden Systeme zu integrieren. Die vehemente Ablehnung weltlicher „Politiken“ und die Bereitschaft das eigene Leben und die Umwelt nach Gottesgesetzen zu organisieren bei gleichzeitigem Drang der Ausweitung dieser Gesetze in Form von daʿwa (Mission) kennzeichnen den wahren Gläubigen und beschreiben die Hauptfunktion eines islamischen Staates. Wobei jeder, der Übel und Chaos effektiv von der Erde bannen will […] verschwendet seine Zeit nutzlos, solange er sich auf bloßes Predigen beschränkt. Er sollte stattdessen aufstehen und alles tun, um die Regierung, die nach falschen Prinzipien handelt zu Ende zu bringen, sollte die Macht aus den Händen der Übeltäter an sich reißen und eine Regierung erstellen, die auf korrekten Prinzipien aufbaut und das richtige System befolgt (Maudūdī 1978, S. 187 f.).

ʿaqīda gehören die verinnerlichten Inhalte des Glaubens, in diesem Sinne muss ein Muslim überzeugt sein, ohne Zweifel oder Bedenken. Zur Vertiefung vgl. Wahbat az-Zuhaili (1992): al-tafsīr al-munīr fī al-ʿaqīda wa al-sharīʿa wa al-manhaǧ (Kurankommentar, welcher die Aspekte der Glaubensinhalte, des islamischen Rechtes und der Herangehensweise beleuchtet), 32 Bände, Damaskus/Beirut.

6Zur

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Diese „korrekten Prinzipien“ sind die religiösen Normen und Gesetze, die in der Scharia beschrieben werden. Wer nicht danach strebt, ist ein kāfir (Ungläubiger), der sich anmaßt, Gesetze schaffen zu können. Das steht jedoch nur Gott zu. An dieser Stelle hebt sich die Salafiyya insofern von den Gedanken Maudūdīs und Sayyid Quṭb ab, als dass sie es gemäß den oben zitierten Lehren von Ibn Taimiyya für unislamisch halten, gegen die politische Autorität vorzugehen. Die Salafiyya lehnt ebenfalls die Vorstellung ab, dass Menschen sich selbst Gesetze geben können, denn sie seien nicht fähig, die langfristigen Auswirkungen solcher Gesetze zu ermessen. Daher sollten sich Muslime am aṣl7 (Fundament) orientieren, was durch die offenbarte Sharia seinen Ausdruck bekommen hat. Nur dadurch können sie die Ǧāhiliyya von sich abwenden und ihre Unterentwicklung überwinden. Die Mittel hierfür wurden im islamistischen Konzept ebenfalls durch die göttliche Offenbarung bestimmt. So wird der Dschihad als eine vielfältige, fast allumfassende, Möglichkeit interpretiert, die oben beschriebene Ǧāhiliyya zu bekämpfen. Zentraler Gedanke hierbei ist, dass der Dschihad ein Wesensmerkmal des Islam ist und damit eine individuelle Pflicht darstellt. So ist der ǧihād fī sabīl Allāh (Kampf für die Sache Gottes) eine moralisch-religiöse Verpflichtung, der jeder Muslim nachzugehen hat (Ibn Taimiyya 1987, S. 128–135). Prinzipiell stimmt dieser Gedanke mit den Vorstellungen der Orthodoxen überein, denn diese sehen das Ziel des Dschihads in der Festigung des Anspruches Gottes auf Erden und der Ablehnung und Bekämpfung anderer Gottheiten. Bereits die islamische Orthodoxie interpretierte den Dschihad als eine farḍ kifāya (kollektive Verpflichtung), die sich von den farḍ ʿayn (individuellen Verpflichtungen) insofern unterscheidet, als die farḍ kifāya vom Kalifen/Herrscher im Namen der ganzen Gemeinschaft auf sich genommen werden muss. Dadurch wurde frühzeitig der Dschihad zum Mittel der Politik (Robinson 1996, S. 173). Es soll nicht allgemein eine Gleichstellung des Dschihad-Begriffs in der Orthodoxie und in der Salafiyya impliziert werden, jedoch kann man trotz aller Differenzierung und trotz Würdigung der tatsächlichen Vielfältigkeit des Islam in seiner 14. Jahrhunderte langen Geschichte stets radikale Elemente entdecken, die den Dschihad als einen eindeutigen Auftrag Gottes betrachten, für den Glauben in den Kampf zu ziehen. Hierauf bauende Ideologien sind kein gänzlich neues Phänomen. So sind die Ḫāriǧiten im siebten Jahrhundert, die Schriften von Ibn

7Eine

weitere Selbstbezeichnung von Islamisten in der arabischen Sprache ist Uṣūliyūn, was eine Ableitung vom arabischen Wort aṣl ist und „sich am Fundament orientierende“ bedeutet.

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­ aimiyya im dreizehnten Jahrhundert und die Wahhābiten-Bewegung im achtT zehnten Jahrhundert als eindeutige Beispiele zu nennen. Die Salafiyya als eine Sonderform des politischen Islam vertritt den Ansatz, dass Muslime zu den Fundamenten des Islam, d. h. zum unverfälschten Islam, wie ihn Muḥammad gelehrt hatte, zurückkehren müsse, wenn sie wieder erfolgreich sein wollten, wie ihre Vorfahren unter Mohammad und in der Frühzeit des Islam. In Bezug auf die Staatsorganisation impliziert dies, dass wenn der Islam die einzig wahre Religion ist, so muss auch das auf ihm basierende Ordnungssystem das einzig wahre und folglich den anderen möglichen Modellen weitaus überlegene sein. Damit distanzieren sich Vertreter der Salafiyya Konsequent von jeder nicht auf dem Islam basierenden politischen Grundordnung. So werden wichtige Grundlagen der Demokratie als širk (Beigesellung) abgelehnt. Die vornehmste Aufgabe der Herrschaft ist hierbei die Durchsetzung des göttlichen Rechts und die Fortführung der daʿwa. Als moralische Orientierung und religiös verpflichtende Vorgabe dient hierbei das Wirken des Propheten und die Organisation der jungen islamischen Gemeinde in Medina des 7. Jahrhunderts.

Der Staat im schiitischen Islam Man kann auf der Ebene des politischen Islam in Sunnitentum feststellen, dass sich bei den Ideologen vornehmlich um Laien handelt, die nicht der religiösen ʿUlamāʾ-Kaste angehören. Dadurch, dass die Legitimität dieser Führer nicht auf der Grundlage ihrer religiösen Autorität fußt, kommt es bei diesen Gruppen oft zu Spaltungen und Neugründungen von Gruppen, die ideologisch gleich sind, aber sich in ihrer Führungsstruktur erheblich unterscheiden und sich gegenseitig bekämpfen. Dies ist im schiitischen politischen Islam anders. Die Führer und Interpretern der fundamentalistischen Ideologien im Schiitentum sind fast ausschließlich religiöse Würdenträger. Damit verfügen sie über eine Autorität, die gemäß schiitischen Traditionen von oben bis in die Basis wirken. Nach dem Tode des Propheten spaltete sich die junge islamische Gemeinde. Dabei ist die bedeutendste der sektiererisch-religiösen Spaltungen innerhalb der islamischen Umma hinsichtlich Autorität und Legitimität die zwischen der Doktrin des Kalifats im sunnitischen Islam und der des Imamats im schiitischen Islam. Für die Schiiten gilt der Schwiegersohn des Propheten als rechtmäßiger Nachfolger und damit erster Imam der islamischen Gemeinde. Die Reihe der schiitischen Imame endete mit dem zwölften Imam, der 874 n. Chr. in die ġaiba al-kubrā (große Verborgenheit) gegangen sein soll. Mit dem zwölften Imam Muḥammad al-Mahdī verlor die schiitische Gemeinschaft ihren politischen und

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religiösen Führer. Damit existiert nach schiitischer Lehre seit dem 9. Jahrhundert keine legitime Herrschaft mehr (Arjomand 2001, S. 301 ff.). Erst im letzten Jahrhundert entwickelten die Gelehrten in Qom und Nadschaf durch Uminterpretationen eine neue ganzheitliche Lehre von Theologie, Politik und Gesellschaft. Muḥammed Bāqir al-Ṣadr wollte durch den Ausbau der Marǧaʿiyya8 den bereits vorhandenen marǧaʿa al-taqlīd (Quelle der Nachahmung) mit mehr Befugnissen ausstatten. Dagegen spricht Khomeinis Lehre von der welāyat-e faqīh (Stellvertreterschaft des obersten Rechtsgelehrten) den Theologen eine Führungsrolle zu. Dabei wird dem bestqualifizierten Rechtsgelehrten stellvertretend für den Mahdī die direkte Machtausübung gestattet (Fenske 1993, S. 836). Den Klerikern werden Kompetenzen im politischen Bereich zugesprochen, die in der bisherigen Lehre als Prärequisiten des Imams galten. Damit schwächt Khomeini die traditionelle Rolle des unfehlbaren Mahdi, der als schiitischer „Messias“ und Endzeitherrscher einst das gerechte Reich Gottes gründen wird. Der oberste Rechtsgelehrte soll nach der neuen Lehre stellvertretend für den Mahdi die Herrschaft ausüben und seine „gerechte Ordnung […] errichten, welche die Durchführung des göttlichen Rechts ermögliche“ (Rosiny 1996, S. 86). Durch die Delegierung von politischen Aufgaben und die Schaffung einer staatstragenden Theorie reformierte Khomeini die schiitische Lehre zugunsten der Theologen, denn die welāyat-e faqīh bildet innerhalb des Doktrinengebäudes der Schia eine Innovation. Mit ihr hat Khomeini die schiitische Theologie revolutioniert, da er mit der bis dato vom hochrangigen schiitischen Klerus geübten Praxis der Abstinenz in politischen Fragen brach (Buchta 2004, S. 7). Er ebnete den Weg für eine schiitische Theokratie, die die Scharia als Grundlage ihrer Herrschaft haben soll. Durch die neue Interpretation der schiitischen Tradition schuf Khomeini eine politische Brücke zwischen Sunniten und Schiiten. Die Lehre der welāyat-e faqīh bildet die Grundlage für das iranische System seit der islamischen Revolution (Razi 1990, S. 69 ff.), die prinzipiell so angelegt ist, dass ihr Export auf dem Wege der Durchsetzung islamistischer Ideologien impliziert ist. (Tibi 1999, S. 63 ff.) Damit strahlt die iranische Revolution gewollt vom System in Teheran auf andere Regionen mit schiitischen Bevölkerungsmehrheiten aus (Shapira 1988, S. 115–130).

8Die Quelle der Nachahmung bildet, bei den Schiiten die Spitze der theologischen Hierarchie. Es können mehrere Theologen gleichzeitig den Rang der Marja´iya erlangen. Um diesen Rang zu erhalten, muss er eine theologische Abhandlung (risāla ʿamaliyya) veröffentlichen, die in den theologischen Zentren in Qom und Nadschaf diskutiert wird.

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Islamischer Staat und Demokratie In Bezug auf die Demokratie als Ergebnis der Volkssouveränität konstatiert Maudūdī, dass die Demokratie mit dem Islam nichts zu tun hat. „Daher darf die Bezeichnung demokratisch nicht auf ein islamisches System angewendet werden, vielmehr sollte man von der ḥākimiyyat Allāh (Gottesherrschaft) sprechen“ (Maudūdī 1985, S. 33). Im Gedankenkonstrukt von Maudūdī kann man feststellen, dass die Scharia die Grundlage der Herrschaft ist, jedoch dort, wo sowohl die Offenbarung als auch die Tradition keine Reglementierung vorweisen, können auf der Grundlage von iǧmāʿ (Konsens) Gesetze verabschiedet werden. Dieser Sachverhalt wird oft von Beobachtern, als Ansatz von Demokratie bewertet (Esposito und Voll 1996, S. 40 f.). Dies ist allerdings eine falsche Einschätzung, weil es sich hier um einen Konsens unter den Rechtsgelehrten handelt. Auch wenn man das islamische Prinzip der šūrā (Rat) hinzuzieht, kann man keineswegs von demokratischen Grundstrukturen sprechen. Die šūrā ist lediglich eine eher beratende als eine gesetzgebende Institution (Al-Shawi 1992, S. 459) und bedeutet nicht Parlament im westlichen Sinne. Gott alleine hat das Recht zu gebieten und zu verbieten. In der shūrā als einer traditionellen Herrschaftspraxis werden islamische Vorläufer der Demokratie gesehen, die Tibi zu Recht als eine „Projektion der Idee einer modernen Demokratie auf den Islam des 7. Jahrhunderts“ bewertet (Tibi 1992, S. 155). Der sudanesische Rechtswissenschaftler An-Na´im teilt diese Einschätzung und stellt fest, dass die Scharia-Bestimmungen nicht nur in Bezug auf den Schutz von Minderheiten unvereinbar mit gültigem Völkerrecht sind, und sieht lediglich in der grundlegenden Reformierung des islamischen Rechts eine Möglichkeit zur Demokratisierung islamischer Gesellschaften (An-Na´im 1992, S. 177 f.). Maudūdī, einer der wichtigsten Ideologen des Islamismus, betont nicht nur die Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie, er spricht in seinem Werk polemisierend von einer „Theo-Demokratie“, als Alternative zum westlich-säkularen Modell, in der die Gemeinschaft aller Gläubigen zum kollektiven Statthalter Gottes auf Erden wirken soll (Maudūdī 1967 S. 147 f.). Sein Konzept impliziert jedoch den Verzicht des Einzelnen zugunsten einer herrschenden Elite, die ihrerseits den Willen Gottes vollstreckt. Hier sieht man einen eindeutigen Bezug zur Orthodoxie, die im Endeffekt eine Entsubjektivierung der Menschen normativ festschreibt, denn „[D]ie Menschen sind die Diener Gottes, die Herrscher vertreten Gott bei seinen Geschöpfen, und sie sind Ermächtigte über diese selbst“ (Ibn Taimiyya 1987, S. 25). Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine Theokratie, wie sie das Christentum kennt, sondern: …[I]slamic theocracy is something altogether different from the theocracy of which Europe has had bitter experience wherein a priestly class, sharply marked off from

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the rest of the population, exercises unchecked domination and enforces laws of its own making in the name of God (Maudūdī 1967, S. 147).

Der islamische Staat soll unter der absoluten Souveränität Gottes regiert werden (Maudūdī 1967, S. 178). In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen nachgeordneten Status. Das wird damit begründet, dass die staatstragende Ideologie der Islam sei. Dies impliziert, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organisation des Staates involviert werden kann. Hier kommt die oben beschriebene Wahrnehmung der Welt in zwei sich entgegengesetzten Polen erneut zum Ausdruck.

Politische Theorien jenseits des islamistischen Projektes Šādiq Ǧalāl al-ʿAẓm, Mohammed Arkoun, Muḥammad ʿAbid al-Ǧābrī und Naṣr Ḥāmid Abū Zaid stehen in einer Reihe von Denkern, die angetreten sind, um islamisches Denken und Moderne zu versöhnen. Dabei unterscheiden sich Ihre Ansätze. Während sich al-ʿAẓm dezidiert nicht als islamischer Denker versteht und deutlich die Trennung von Religion und Politik fordert, waren Arkoun und Abū Zaid bemüht, die klassischen islamischen Quellen, mit dem Ziel eine Modernisierung innerhalb des Islam herbeizuführen, zeitgemäß auszulegen. Naṣr Ḥāmid Abū Zaid sieht wie eine Reihe anderer muslimischer Intellektueller in der Anknüpfung an die Muʿtazila die Möglichkeit, die koranischen Texte „modern“ zu lesen (Shamsuddin 2012, S. 21 ff.). Bei der Muʿtazila handelt es sich um eine rationalistische Schule des Islam, die im 8. und 9. Jahrhundert einflussreich war. Die Anhänger nutzten Verstand und Vernunft als Grundlage für den Umgang mit der göttlichen Offenbarung und prägten den Islam lange Zeit. Sie lasen die religiösen Texte mit der Brille der griechischen Philosophie unter Anwendung der Scholastik als wissenschaftliche Denkweise und Methode der Beweisführung. Ihre vernunftgebundene Interpretation des Korans in seinem historischen, kulturellen und sprachlichen Kontext bietet heutigen Reformern die Möglichkeit den Koran in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu interpretieren und damit von den Zwängen vergangener Auslegungen zu lösen. Diese versuche islamischer Reformer erschöpfen sich allerdings darin, ehemalige islamischer Debatten wiederzubeleben. Diese Debatten wurden jedoch bereits vor Jahrhunderten zugunsten einer traditionellen, textorientierten Lesart des Koran entschieden. Trotz der wertvollen Vorlagen der islamischen Philosophen sind in den vergangenen Jahrhunderten kaum tiefergehende Werke entstanden, die eine umfassende islamische Gesellschaftslehre beschreiben und sich gegen die Ortho-

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doxie oder gar den Diskurs des politischen Islam durchsetzen konnten. Das findet bei al-ʿAẓm Bestätigung. Al-ʿAẓm geht zwar davon aus, dass die Aufklärung auch im islamisch geprägten Raum ihren Lauf finden wird. Er schöpft daraus Hoffnung, dass „[I]n der muslimischen Welt […] der de-facto-Säkularismus sehr verbreitet; vor allem in der arabischen Welt. Aber man hat nie eine säkulare Ideologie entwickelt, oder säkulare Parteien, mit eindeutig weltlichen Programmen, basierend auf einer Trennung von Staat und Religion“ (Sabra 2004). Ausschlaggebend für die Modernisierung ist jedoch die Definition und Deutungsmacht über Quellen, „weil die Religion auch heute noch die doktrinäre Basis muslimischer Gesellschaften ist […]“ (al-ʿAẓm 2008). Allerdings konnten sich, so al-ʿAẓm, „die modernen Lesarten des Korans und der islamischen Basistexte, die deren Aussagen durch eine symbolische, metaphorische oder historische Interpretation auflösen wollten, bisher nicht durchsetzen“ (al-ʿAẓm 2008). Al-Ǧābrī in seinem Werk „Kritik der arabischen Vernunft“ ein unabhängiges politisches Feld. Seine Forderung nach der „Säkularisierung des Denkens“ impliziert somit die Trennung der Politik von den Bereichen Theologie, Philosophie, Recht und Geschichte. Dabei kritisiert er heftig, dass innerhalb der islamischen Zivilisation durch die dominante Rolle der religiösen Gelehrten und ihrer traditionell engen Verzahnung mit der politischen Macht die Grundlage für eine von der Religion unabhängigen Vernunft zerstört wurde. Das islamische denken bezieht damit alle Bereiche, auch die politischen, auf die Offenbarung und sucht in der Methode des Analogieschlusses einen Ausweg zu finden, wenn die Offenbarung sich nicht konkret zu einem Sachverhalt äußert. Die Tatsache, dass die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie spätestens im 13. Jahrhundert zugunsten letzterer entschieden wurde, führte schließlich dazu, dass seither nicht die Produktion neuer Diskurse die islamische Kultur bestimmt, sondern die Reproduktion alter Gedanken (al-Ǧābrī 2009, S. 45 ff.). Diese radikale Kritik al-Ǧābrīs mündet in seiner klaren Forderung, wonach nur durch die Trennung von Religion und Politik die Manifestation einer lebensfähigen Diskurskultur erfolgt, die die Muslime in die moderne führen könnte. Al-Ǧābrī betont die Heterogenität der arabischen Geschichte als Referenzpunkt, um seine Forderung nach Pluralisierung und Demokratisierung zu untermauern.

Fazit Im Diskurs über Islam und Herrschaft ist es wichtig Begriffe mit Inhalt zu füllen. Wenn vom Staat gesprochen wird, wird oft das westliche Staatsverständnis als Basis zugrunde gelegt. Es ist jedoch so, dass in der islamischen Zivilisation

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der Staat theoretisch eine andere Funktion erfüllt als der westliche Staat. Durch die Expansion der Europäer wurde der moderne Staat auch in die islamische Welt getragen. Die ihm zugrunde liegenden Ideen wurden dort jedoch nicht verinnerlicht. Politische Ideen entspringen einer vorherrschenden Weltanschauung. Der Nationalstaat, der auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiert, ist von diesem Grundsatz her mit dem Islam in seiner orthodoxen Form nicht vereinbar. Nach islamischem Glauben kommt weder dem einzelnen Menschen noch einer politischen Gruppe Souveränität zu. Der einzige Souverän ist Gott. Auch wenn der Koran keine konkrete Staatsform definiert, wurde aus den religiösen Quellen durch die islamischen Gelehrten spätestens mit der Manifestation der Umayyadendynastie eine Herrschaftsform abgeleitet, die bis heute das religiöse Denken prägt und die Grundlage eines islamischen Staatsverständnisses darstellt. Die Autorität des Kalifen gründet auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Kalif leitet die Umma und ist gleichzeitig Stellvertreter des Propheten. Das Verhältnis des Herrscher zu seiner Bevölkerung wird entlang religiöser Kategorien definiert: Er ist Hirte und kann Gehorsam und Unterordnung abverlangen. Dies zu leisten ist wiederum Gottesdienst. Die islamische Orthodoxie kennt das Konzept der Bürgerschaft nicht und bestimmt das Verhältnis des Individuums zum Staat entlang seiner Religionszugehörigkeit. Das von den Islamisten erneut angestrebte Kalifat mit seinem universalen Anspruch leitet sich hiervon ab. Der heutige Islamismus entwirft eine Gegengesellschaft, die sich am Kalifat der Periode der rechtgeleiteten Kalifen orientiert, in der Religion und Politik in vollem Einklang zueinander stehen. In der Auseinandersetzung zwischen Philosophen und aṣḥāb al-ḥadīṯ (Traditionarier) obsiegten letztere. Ihr schärfster Vertreter Ibn Hanbal propagierte vorwurfsvoll im 9. Jahrhundert als Reaktion auf die Philosophie der Muʿtazila, sie würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben. Diese Vernunftfeindlichkeit in Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitestgehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das islamische Denken und die religiöse Praxis. Ibn Ḥanbal lehnte die Kultur der Mehrdeutigkeit ab. Bis heute haben sich innerhalb der islamischen Theologie kaum Stimmen durchgesetzt, die dem erfolgreich entgegentreten können. Die Rückkopplung an die goldene Zeit der islamischen Philosophie scheint auf dem ersten Blick erfolg versprechend zu sein, jedoch sind zeitgenössische Vertreter eher eine kleine Gruppe. Die Mehrheit der muslimischen politischen Elite fordert eher eine engere Orientierung an den Quellen des Islams gemäß orthodoxer Auslegung bei der Gestaltung des politischen. Eine säkulare politische Ordnung im politischen Diskurs islamischer Eliten ist kaum vorhanden.

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Die Islam-Diaspora durchläuft in den meisten westlichen Gesellschaften einen Konsolidierungsprozess. Die Menschen sind dabei, sich in der sie umgebenden Gesellschaft zu positionieren. Diese Prozesse beeinflussen sich gegenseitig und werden von den lokalen, regionalen und globalen Ereignissen massiv gelenkt. Geprägt sind Muslime von einer islamischen Weltanschauung oder zumindest einer den Werten des Islam entsprungenen Erziehung. Heute können wir beobachten, dass sowohl die Mehrheitsgesellschaft als auch die muslimischen Migranten in Krisenzeiten überfordert sind. Zwischen der westlichen und der islamischen Weltanschauung gibt es große Unterschiede, die handfeste Wertekonflikte produzieren. Diese nehmen heute die Form eines weltanschaulichen Zusammenpralls an. Diese kann im Extremfall zur kompletten Entkoppelung der Muslime von der europäischen Mehrheitsgesellschaft führen (Vgl. hierzu Tibi 2018). Das stört natürlich den inneren Frieden, denn Feindbilder und Verschwörungstheorien gewinnen an Bedeutung, während die innergesellschaftliche Solidarität schwindet. Aus der Perspektive der Gesellschaftspolitik stellt sich hier die Frage, wie sich Aufnahmegesellschaft und Muslime in Bezug auf die liberale Demokratie des Grundgesetzes positionieren. Die eleganteste Lösung ist, dass sich langfristig auch innerhalb der Islam-Community das Säkularisierungskonzept durchsetzt. Damit ist verbunden, dass sich ein Selbstbild des Muslims als vernünftiges autonomes Wesen konsolidiert, das sich die Regeln selbst gibt und reflektiert, jenseits absolutistischer klerikaler Zwänge. Die Loslösung von tradierten Weltbildern, die heute die Grundlage der dschihadistischen Weltanschauung darstellen, ist die Grundlage eines europäischen Islams, der sich mit den Werten Europas vereinbaren lässt. Diese Transformation muss innerhalb des Islams stattfinden und europäische Werte enthalten, die islamisch begründet sind (Tibi 2006, S. 210 f.). Die reformerische Interpretation des Islam, die ihn mit Europa verbindet, basiert auf den Werten: • Trennung von Religion und Politik • Demokratie • Menschenrechte • religiöser und kultureller Pluralismus • Zivilgesellschaft.

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Teil III Reformation und die Geschlechterfrage

Das Dilemma der religiösen Modernisierung Amal Grami

Es hat zahlreiche Ansätze gegeben, das zeitgenössische religiöse Denken einer Kritik zu unterziehen, wie es auch Aufrufe gegeben hat, diese auf den dringend notwendigen Wandel der arabischen und islamischen Gesellschaften in politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht hin zu gestalten. (Mohammed Arkoun, Naṣr Ḥāmid Abū Zaid, Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm, Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābrī, Fouad Zakariyya et al.) In den vergangenen Jahren hat dies noch einmal zugenommen. Vor allem, seitdem die Organisation des sogenannten Islamischen Staates aufgetreten ist, hat es Versuche gegeben, die Hindernisse für eine Modernisierung des religiösen Denkens ausfindig zu machen, sowie Wege zu finden, das religiöse Wissen von seinen Fesseln zu befreien.1 Weil eine Anzahl von Forschern, die die islamische Welt an der Schwelle zur Moderne sehen, dem religiösen Diskurs der Gelehrten, Propagandisten und anderen aktiven Gefolgsleuten der religiösen Institutionen weiterhin kritisch gegenüberstehen, glauben wir, dass ein Studium der Gründe dafür, warum die Versuche einer religiösen Reform gescheitert sind, mehr als nur einen Zugang voraussetzt und vielmehr danach ruft, verschiedene Ansätze und Annäherungen zu verfolgen.

sei z. B. verwiesen auf ʿAbdalmaǧīd al-Šarafī, Revolution, Moderne, Islam [Arab.], Tunis 2011 (rez. von Kulṯūm al-Saʿafī); Saʿīd Nāšīd, Die Moderne und der Koran [Arab.], Tunis und Beirut [2.] 2016 (der Verfasser besteht darauf, dass der Koran ein Diskurs aufrichtiger Anbetung ist); Nabīl ʿAbdalfattāḥ, Die Erneuerung des religiösen Denkens [Arab.], o. O. 2016; Aḥmad Zāyid, Die Stimme des Imams: Der religiöse Diskurs vom Kontext zur Wahrnehmung [Arab.], Kairo 2017. 1Hier

A. Grami (*)  University of Manouba, Tunis, Tunesien © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_9

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Dementsprechend wollen wir den Fokus oder Blickwinkel auf die Problematik einer Erneuerung des religiösen Denkens verschieben, weswegen wir die Schriften einiger Theoretiker des Dschihad2 herangezogen haben, um der Frage nach einer Modernisierung des religiösen Denkens auf den Grund zu gehen. Daher haben wir uns darangemacht, den Diskurs der dschihadistischen Gruppierungen in der Öffentlichkeit zu beobachten, um so die Problematik der religiösen Modernisierung in Augenschein zu nehmen: Wie gehen die Vordenker der dschihadistischen Strömungen mit der Frage nach der Modernisierung des religiösen Denkens um? Haben die Vordenker dieser Gruppierungen, angefangen von Al-Qaida bis zum sogenannten Islamischen Staat, die Thematik überhaupt einer Erörterung für wert befunden oder gilt sie ihnen als läppisch oder bedeutungslos?

Zur Methodik Hierbei geht es uns um die Ideologiekritik und insbesondere die der dschihadistischen Ideologien. Unseren Untersuchungsgegenstand bilden eine Anzahl dschihadistischer Schriften, die eine ideologische Vereinnahmung der religiösen Texte reflektieren, indem sie darauf aus sind, Koran, Hadith und Fiqh auf die Doktrin des Dschihad zu reduzieren. Wir setzen voraus, dass diese Schriften in ihrer taktischen Art, ihrer provokativen Sprache und ihrem emotionsgeladenen Stil Gemeinsamkeiten aufweisen, ohne dabei wesentlich von der in der Protestliteratur üblichen Methodik abzuweichen, deren Zielgruppe besonders die Jugendlichen sind. Diese rufen sie dazu auf, am Dschihad teilzunehmen und sich auf das Märtyrertum vorzubereiten.

2Insbesondere haben wir folgende Literatur verwendet: Abū Ǧandal al-Azadī (alias Fāris al-Zahrānī), Die Aufwiegelung der heldenhaften Mujahideen zur Wiederbelebung des Attentats, http://www.rihanapress.com/index.php/ar/bibliotheque/407-2014-07-02-14-48-53.html [Zugegriffen: 07.Aug.2017]. Abū Anas al-Ṭāʾifī, Ein Tor zum Paradies [Arab.], https:// www.alkutubcafe.com/book/CjNrB1.html (datiert 25.03.423 n.H.); al-Ḥāfiẓ b. Ḥaǧar, Das Wiehern der Pferde bei der Erläuterung des Buches vom Dschihad angesichts des bevorstehenden Ziels [Arab.], erläutert von Scheich ʿAbdarraḥīm Murād b. al-Šāfiʿī, veröff. 25. Rajab 1424 n.H. (21.09.2003) https://www.almeshkat.net/book/1400 [Zugegriffen: 12.Aug.2017]; ʿAlī al-Ḫuḍair, Eine Mitteilung an die Modernisten: Aus der Einleitung der Erläuterung des Unglaubens (kufr) derer, die den Amerikanern beistehen: Von Scheich Nāṣir al-Fahd [Arab.], 12.08.2012, https://archive.org/details/1232012-08-12 (Abruf 25.07.2017); Scheich ʿAbdullāh ʿAzzām, Die Hinlenkung der Gläubigen zu den Vorzügen des Dschihad [Arab.], https://archive.org/details/2.ithaf [Zugegriffen: 13.Juli.2017]; Muḥhammad b. Saʿīd al-Qaḥṭānī, „al-walāʾ wa-l-barāʾ “im Islam [Arab.], Riyadh 2014, https://islamhouse.com/ar/books/468544/ (Abruf 17.04.2018).

Das Dilemma der religiösen Modernisierung

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In Kenntnis des Forschungsstandes, soweit es um die Analyse der vorherrschenden Geistesstrukturen unter den Theoretikern dschihadistischer Gruppierungen und ihrer Anhänger geht, behaupten wir, dass vorliegender Aufsatz sich von der Behandlung dieses Themas in Hinsicht auf Methodik und Blickwinkel unterscheidet. Der Mehrwert, den wir erzielen wollen, zeigt sich erstens in der Erstellung eines Samples dschihadistischer Literatur, um die Position der dschihadistischen Ideologie, sei sie offen oder verdeckt, gegenüber der religiösen Modernisierung und der Art ihrer Repräsentation von Moderne zu verorten, wobei wir davon ausgehen, dass dieses Thema zu selten die Aufmerksamkeit der Forscher unterschiedlichster Denkrichtungen gefunden hat; und zweitens in der Verbindung der dschihadistischen Ideologie mit der Männlichkeitsideologie. Indem wir verschiedene Ansätze aus den Men Studies/Masculinity Studies einbeziehen, wollen wir versuchen, eine neue Lesart dessen anzubieten, was die Theoretiker dschihadistischer Gruppierungen in Bezug auf religiöse Modernisierung vertreten.

Die Modernisierung des religiösen Denkens und das Problem des Verstehens Wenn Ideologie theoretisch auf einer anderen Realität gründet (Al-ʿArūyi 1973, S. 181), dann ist es nicht verwunderlich, dass die Reform des religiösen Feldes, die Erneuerung oder Modernisierung des religiösen Diskurses oder die Restrukturierung und Entwicklung der religiösen Institutionen in der dschihadistischen Literatur keinen dauerhaften Gegenstand darstellen, weil solche Publikationen nicht an der Gegenwart interessiert sind. Sie meißeln Konturen einer Zukunft, die allein ihr Interesse an einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit wie auch an dem widerspiegeln, was sie als Erfolgserlebnisse begreifen, als es den Muslimen gelungen war, fremde Heerlager zu erobern und den Thron der „Ungläubigen“ zu zerstören. In dieser Sichtweise steht der Dschihad im Mittelpunkt und wird es zur Obsession seiner Vordenker, sich Verse aus dem Gründungstext herauszupicken, die zum Dschihad und zum Kampf (qitāl)3 drängen, um so eine Kultur des Todes und des Hasses zu propagieren. Schon seit der Zeit der salaf4 gibt es Beispiele dafür. Geschichte wird als eine Abfolge

3Dschihad

(ǧihād) und qitāl werden gemeinhin als Synonyme verstanden. (Anm. d. Ü.). gemeint sind al-salaf al-ṣāliḥ, d.h. die ersten drei Generationen der Anhänger des Propheten Muhammad, die als besonders vorbildlich und tugendhaft gelten. (Anm. d. Ü.).

4salaf = Altvordere,

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von Schlachten dargestellt, in denen die Muslime Heldentaten vollbracht haben, sodass die Wiederherstellung der Texte im Lichte einer dringenden pragmatischen Notwendigkeit erfolgt, um den Zustand der eigenen Schwäche und Fragmentierung zu überwinden. Sich auf die Verse zu berufen, die auf den Kampf hindeuten, ist dabei nur ein Mittel, die Zuflucht zur Gewalt zu legitimieren, um damit den erwünschten Wandel herbeizuführen, der sich in der Errichtung des islamischen Staates manifestiert. Damit wird deutlich, dass jemand, der ein solches politisches Projekt veranschlagt, weder die Zeit noch den Willen oder den Wunsch hat, über Wege der Modernisierung nachzusinnen; vielmehr besteht für ihn das Wichtigste darin, den Koran und die Hadithe sowie einige Aussprüche der Salaf auswendig zu lernen und die selektive und wortwörtliche Lesart der religiösen Texte zu festigen. Dazu sagte Abū Murād al-Šāfiʿī: „Wisse, dass die beste Wissenschaft die des Monotheismus (tauḥīd) ist; darum musst du dir die Schriften der Salaf aneignen und sollst Nutzen aus ihnen ziehen, indem du dich in sie vertiefst“ (Šāfiʿī 2003, S. 3). Der Prozess der Selektion und Vereinnahmung führte zur Abschaffung des fiqh al-iḫtilāf5 und zur Marginalisierung von Vielfalt in der Koranauslegung zugunsten einer Hegemonie der monolithischen Lesart sowie der unkritisch-dogmatischen Deutung. Aus der Sicht derer, die an die Überlieferung und Befolgung wie auch an die Sakralisierung des religiösen Erbes glauben, sowie derer, die Ibn Taimiyya, Ibn al-Qayyim, Ibn Ḥanbal und andere Rechtsgelehrte zu zentralen Persönlichkeiten machen und die Predigten von ʿAbdalʿzīz b. Bāz, Nāṣir al-Dīn al-Albānī, ʿAbdallāh ʿAzzām, Ayman al-Ẓawāhirī, Usāma b. Lādin, ʿUmar ʿAbdalḥakīm, genannt Abū Muṣʿab al-Sūrī, Abū Bakr Nāǧī u. a. auswendig lernen, gibt es keinen Spielraum, um nach den Pfaden einer Modernisierung des religiösen Denkens oder einer Erneuerung des religiösen Diskurses zu suchen. Solange der Koran in der Wahrnehmung der dschihadistischen Führerschaften die „Verfassung der Muslime“ und ein Reservoir von Gesetzesvorschriften darstellt, das Lösungen für sämtliche Aspekte des Lebens bereithält, bleibt nur die Rückkehr zum Gesetz Gottes und die Anwendung seiner Gebote. Somit ist die Suche nach Modernisierungsvorhaben ausgeschlossen, weil es Erlösung nur in der Rückkehr zur Ausführung der göttlichen Gebote geben kann. Solange die „Gelehrten“ zur Anwendung des göttlichen Rechts drängen, gelten Gehorsam und Loyalität nur diesen Errettern. Eine solche Wahrnehmung offenbart eine

5Rechtswissenschaft,

die Differenz zulässt. (Anm. des Ü.).

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rückwärtsgewandte Sicht auf die Zeit, indem sie die Muslime an eine Vergangenheit bindet, die ihre Gegenwart und Zukunft verschlingt und die den Wert auf den Horizont ihres eigenen Denkens legt, womit sie zur Kreativität im Denken unfähig werden, außer wenn es darum geht, sich in Imitation, Nachahmung und Befolgung zu üben, um die Erfüllung der Glaubensgrundlagen sicherzustellen. In den Augen der Dschihadisten ist das Denken an die Religion gebunden, sodass, wenn die Religion unveränderlich ist und nicht entwicklungsfähig, es für den Hadith keinen Spielraum zur Modernisierung des religiösen Denkens geben kann. Somit gibt es keine Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt, die es noch erlauben würde, Dinge zu analysieren, zu untersuchen und zu überprüfen. Da die Dschihadisten nur die Existenz einer einzigen Autorität anerkennen, nämlich die der Salaf, sehen sie keinen Bedarf, sich eine neue Autorität zuzulegen, indem sie neuartige Konzepte hervorbringen und Begriffe bilden, Alternativen und Lösungen anbieten oder unterschiedliche Methodiken bereitstellen. Alles Neugeschaffene ist nur bidʿa6 und jede bidʿa führt in die Irre. Diese Sichtweise spiegelt die Sinnlosigkeit der historischen Dimension wider und damit das Narrativ der Salaf und des Autoritarismus, wonach die formative Epoche und die Entschlossenheit, dem ausgetretenen Pfad zu folgen, keine Abweichung erlauben und nur noch die Möglichkeit übrig lassen, das Ursprüngliche nachzuahmen, ohne den Rahmen dessen zu verlassen, den die Alten definiert haben. Hier wird das Ausmaß klar, mit dem die Vorreiter des dschihadistischen Diskurses auf der intellektuellen Abschottung in allen Fragen der Differenz bestanden, wobei sie ihn einhegten und Differenz nur in den Abteilungen der Rechtswissenschaft zuließen. Diese völlige Gewissheit erlaubt keinerlei Möglichkeit zur Reflexion, Kritik, Revision oder Modifikation. Allerdings ist nach unserer Auffassung die Absicherung der Literatur einer Anzahl von Salaf, die eine begrenzte Sichtweise auf die Welt und einen bestimmten Kontext widerspiegelt, nichts als ein Versuch, die Tatsache zu verschleiern, dass die dschihadistischen Führungspersönlichkeiten unfähig sind, mit den kognitiven Transformationen Schritt zu halten und das zu verinnerlichen, was die Moderne an Wissenschaften, Methoden und Ansätzen etabliert hat, die ihrerseits den menschlichen Blick auf sich selbst, den anderen und das Universum verändert haben. Der Unterschied zwischen den „Dschihadisten“ und denjenigen, die Projekte einer Modernisierung des islamischen Denkens verfolgen, liegt nicht in unterschiedlichen Lösungswegen für das, was die islamischen Gesellschaften an

6bidʿa = unerlaubte

Neuerung. (Anm. des. Ü.).

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Krisen befallen hat, sondern in der Differenz, die zwischen der Bereitschaft zum angewandten Wissen und der zugeschriebenen Autorität des Wissens zutage tritt.7 Während die „Aufklärer“ versuchen, verschiedene Methoden und Paradigmen anzuwenden, über Lösungen für Probleme der lebendigen Realität nachzudenken und die Abhängigkeit von einem schematischen Fiqh aufzubrechen, um auf die Bedürfnisse ihrer Zeitgenossen einzugehen, sind die „Dschihadisten“ entschlossen, die Probleme, die die wechselhafte Realität aufwirft, zu ignorieren, und alte Probleme als Vorbereitung auf den Dschihad zu hervorzuholen, z. B. die Familie um Erlaubnis zu bitten, Geld zu sammeln und Kriegsbeute zu verteilen etc. Dies wird von jedem erwartet, der sich von seinen Altersgenossen abwendet, die Isolation wählt und sein Denkvermögen ausschaltet, das ihm erlaubt hätte, Dinge neu zu bewerten, zu modifizieren und von alten Positionen abzurücken. Das religiöse Denken besteht in der Sicht der Vordenker der dschihadistischen Ideologie darin, die früheren Generationen nachzuahmen, sie zurückzugewinnen und heraufzubeschwören, wie auch das wiederzubeleben, was die Gelehrten der Sultane bewegt hat und was die „Verwestlichten“, die „Pseudointellektuellen“ und die „Modernisten“ an Diskursen verdammen, die ihnen als Aufstachelung zur Gewalt erscheinen, zumal die Vordenker selber sie als Aufwiegelung zur Machtergreifung betrachten. Die Texte des Dschihad stärken die Entschlossenheit, bringen den Glauben der Muslime an sich selbst zurück und ermöglichen ihnen, in die großen Schlachten einzugreifen. So äußert al-Azadī (2017, S. 25) über den Umgang mit den Büchern des Fiqh: „Wir entnehmen ihnen einige Rechtsgrundsätze, den die Gelehrten der Salaf in ihren grossen Rechtsbüchern entwickelt und die die meisten Studenten der Koranwissenschaften heute aufgegeben haben … wie auch die Frage des Ausschlusses von Fragen, über deren Zulässigkeit niemand einen Dissens mit den Salaf der Gemeinde (umma) hat“ (Šāfiʿī 2003, S. 2). Demgegenüber sehen die „Aufklärer“ in dieser dschihadistischen Literatur eine Verherrlichung von Hass und dahin gehend einen Aufruf zur Tötung anderer Menschen, dass der Kampf gegen die Ungläubigen fundamental, die Knechtung von Frauen notwendig und die islamischen Minderheitenregelungen (aḥkām al-ḏimma) in einem Zeitalter, in dem die Ressourcen der Umma geplündert werden und die Ehre der Muslime verletzt wird, Pflicht sei.

7Wer

sich mit der dschihadistischen Literatur befasst, wird die Dominanz bestimmter Bücher bemerken, darunter das Buch des Dschihad [Arab.] von Ibn al-Mubārak (gest. 181 n.H.), Das Vorbild des Eroberers [Arab.] von Abū Zamanain (gest. 399 n.H.), sowie die Fatwas von Ibn Taimiyya.

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Diese dschihdistischen Diskurse mit ihrer geschlossenen Struktur weisen auf eine funktionale Wahrnehmung der Moderne hin. Der Gebrauch von Technologie und modernen Kommunikationsmitteln ist erlaubt, weil diese in den Dienst der Ideologie und der Mächtigkeit der Muslime gestellt werden. Was die Modernisierung im Sinne eines Appells zur Schaffung eines kritischen Verstandes und Begründung eines Systems von Werten wie Gleichheit, Freiheit und Würde etc. auf staatsbürgerlicher Grundlage betrifft, so ist davon keine Rede. Der Gebrauch moderner Methoden (wie Strukturalismus und Dekonstruktionismus) zur Analyse von religiösen Texten und die Dekonstruktion althergebrachter mentaler Strukturen gilt nur als Beweis für das Ausmaß der Verwestlichung und dafür, wie sehr die Intellektuellen dem Dienst am kolonialen Projekt verfallen sind. In dieser Darstellung erscheint die Moderne ihres Kontextes beraubt, durch die sie geschichtlich herausragt, und wird stattdessen zu etwas Isoliertem, da die „Dschihadisten“ sich nur für das interessieren, was die westliche Moderne an materiellen Errungenschaften hervorgebracht hat und was sie selbst in die Lage versetzt, ihre Ziele zu erreichen. Zugleich präsentieren sie ihre Gedanken innerhalb des Horizontes, in dem sich die Moderne bewegt. Wenn die Modernisierung ein Appell an die Benutzung des kritischen Verstandes ist, eine Verpflichtung zur Verhältnismäßigkeit, zur Vielfalt an Meinungen und Ansichten, zur Wertschätzung von Differenz und zur Verankerung kognitiver und gesellschaftlicher Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen, sowie zum Dialog und zur Partnerschaft, dann basiert der dschihadistische Diskurs auf Beharrung, Überlieferung, Wiederholung und Pflicht zur Anleitung. Auf dieser Grundlage wird die Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen nach den Werten des Gehorsams und der Unterwürfigkeit unter alle diejenigen beurteilt, die – gemäß der hierarchischen Abfolge, in der der Kalif der Muslime den ersten Platz einnimmt, gefolgt von den Prinzen, dann von den Führern und den Gelehrten der Umma – als „Erben der Propheten“ gelten. Bemerkenswert an dieser Sichtweise ist, dass sie die althergebrachte gesellschaftliche Struktur konserviert, in der sich die einzelnen Gruppen einer pyramidenförmigen Hierarchie unterwerfen. Wer Einblick in die dschihadistische Literatur nimmt, wird zu dem Schluss kommen, dass die Lektüre der religiösen Texte zum Ziel hat, diese Hierarchie zu begründen und die Werte des Gehorsams, des gegenseitigen Vertrauens und der Unterordnung unter eine zentrale, transzendente, legitime und heilige Autorität zu festigen. Niemand ist in der Lage, die Entscheidungen eines Kalifen der Muslime zu hinterfragen, sich den Anweisungen der Prinzen entgegenzustellen oder die Gedanken der Vordenker zu kritisieren, sodass die Überlegenheit der Führungsschicht garantiert, ihre Autorität gesichert und eine neue Knechtschaft installiert wird.

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Es ist klar, dass auf diese Texte nur deshalb zurückgegriffen wird, um dem politischen Projekt der Theoretiker des Dschihad Legitimation zu verschaffen, nicht aber, um sich in ihre inneren Strukturen zu vertiefen, ihre Bestandteile oder historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte zu verstehen. Vielleicht ist der Grund für diesen Umgang darauf zurückzuführen, dass die meisten Führer eine solide Ausbildung vermissen lassen. Mehrheitlich sind sie keine Absolventen renommierter religiöser Lehranstalten wie beispielsweise der Azhar-Universität in Kairo oder der theologischen Seminare der Schia (hauzas), sondern kommen aus spezifisch technischen Berufen wie der Medizin, dem Maschinenbau u. ä. Zudem haben sie Schwierigkeiten, sich mit dem Zeitalter und dem Denken der Moderne zu arrangieren, das in der allgemeinen Sicht auf die Religion und in der Analyse der Realität die rationalistische Methode zum bestimmenden Faktor macht. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Modernität, die einen zum Verteidiger der Kultur der Emanzipation werden lässt und auf rationales Verstehen setzt, in den Köpfen der meisten Konservativen gar nicht vorhanden ist. Weil diese sich am religiösen Erbe festklammern, haben nur wenige die Herde verlassen, darunter Muḥammad Iqbāl und ʿAlī Šarīʿatī.

Die Modernisierung des religiösen Denkens: Der fremde Newcomer und das neue Kolonialismusprojekt Die Modernisierung hat sich als ein neues Kolonialprojekt herausgestellt, als eine intellektuelle Invasion und eine Form von Unterstützung der Ungläubigen, aber auch als ein Marker der Nicht-Muslime in Wort und Tat. Wer für die Notwendigkeit einer Modernisierung des religiösen Denkens plädiert, wird als verwestlicht, abtrünnig, Agent oder Verräter und überhaupt in jeder erdenklichen Weise charakterisiert, die darauf abzielt, Feinde zu produzieren und dem Anderen seine Qualitäten abzusprechen, bis es gerechtfertigt ist, ihn zu beseitigen. Einzig zu dem Zweck, den Geist der Kreativität zu beseitigen und Denkversuche zu unterbinden, wird Krieg gegen Initiativen zu einer religiösen Reform und eine Modernisierung des religiösen Diskurses sowie der religiösen Erziehung geschürt, weil es im religiösen Denken keinen Spielraum für Reflexion gibt, solange die Texte für alle Zeiten und an allen Orten gültig sind und solange der Maßstab für die Ereignisse, die Ibn Taimiyya (gest. 1328) oder Ibn al-Naḥḥās (gest. 1411) u. a. erlebt haben, auch an die Krisen angelegt wird, die die islamische Umma von heute durchmacht. Die Struktur des dschihadistischen Diskurses basiert daher auf der Angst: Der Angst vor dem Verlust der Identität und der religiösen Eigentümlichkeit, sowie der Angst vor Werten, die in die islamischen Gesellschaften eingesickert sind und

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die die Frauen dazu gebracht haben, Gleichberechtigung zu fordern und sich auf eine Weise zu benehmen, die die männliche Vormundschaft und Vorherrschaft über die Frauen herausfordert usw. Folglich greift dieser Diskurs auf Gewalt zurück, um sein Ziel zu erreichen: auf die Gewalt der Sprache und die Gewalt der (Koran-)Deutung, und verwendet einen militärischen Wortschatz, sodass das dschihadistische Projekt im Gewand eines Widerstandsprojektes auftritt. Denn in den Augen der Dschihadisten ist die Moderne mit dem Kolonialismus verbunden. Legitimation und Glaubwürdigkeit bei den Massen verschafft den islamistischen und dschihadistischen Diskurses alles, was im Gewand des Widerstandskämpfers auftritt. Denn dieser Diskurs verbirgt seine Feindschaft gegenüber allem Neuem einschließlich den modernen Wissenschaften und gibt sich als Widerstandskämpfer gegen die koloniale Intervention, die Hegemonie, die imperiale Invasion und Brutalität aus. In den Augen der dschihadistischen Anführer waren es diese externen Faktoren, die die Muslime daran gehindert haben, ihren Ruhm wiederherzustellen, sodass nur durch die Kraft der dschihadistischen Tat Abhilfe schaffen kann, nicht die Modernisierung. Ein solcher Opferdiskurs widerspricht dem, was die „Aufklärer“ an Erklärungen für die Rückständigkeit der Muslime geliefert haben, sodass in den Augen mancher Intellektueller der Niedergang ein Resultat der Hegemonie westlichen Denkens, des Aberglaubens, der populären Mythen, der Schwäche des Erziehungssystems, des Analphabetentums usw. darstellt. Wenn wir der unerschütterlichen Überzeugung Aufmerksamkeit schenken, mit dem die Vordenker des Dschihadismus dem Islam die Totalität in allen Aspekten des Lebens zuerkennen, dann wird uns klar, warum die Literatur, die die Zentralität des Dschihad betont, so sehr auf die Salaf hin orientiert ist, denn diese bekräftigen die engen Verbindungen zwischen Religion und Staat, um den Kampf gegen die (inneren) Feinde abzuschließen, Niederlagen zu überwinden, und gegen den Imperialismus und die westliche Invasion vorzugehen. Es ist klar, dass das religiös-dschihadistische Denken sich im Kontext von Texten bewegt, die dem politischen Projekt dienen, das sich in der Errichtung des religiösen Staates manifestiert, der dann für die Durchsetzung der Scharia-Bestimmungen verantwortlich ist. Die Vordenker der dschihadistischen Gruppierungen stellen sich vor, dass die Umsetzung all der Verse im Buch Gottes, die zum Kampf drängen, es den Muslimen erlaubt, den Imperialismus und Zionismus zu beseitigen, um dadurch Stabilität herzustellen. In den Augen der Vordenker des Dschihad wird sich das Leben der Muslime erst dann verbessern, wenn sie den Anderen beseitigen, da es keinen Spielraum für Koexistenz und Toleranz zwischen den Konfliktparteien gibt. Entweder man beugt sich dem, was als Wahrheit und Gerechtigkeit wahrgenommen wird und fügt anderen den Tod zu, oder akzeptiert den göttlichen Willen und fällt

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selbst der Vernichtung anheim. So sagt al-Azadī (2017, S. 25) über den Westen: „Warum soll es uns verwehrt sein, sie zu töten, zu bombardieren, anzugreifen und umzubringen, bis wir in etwa die Zahl unserer Opfer erreichen? Lasst sie uns wegen Bush, Blair und Sharon töten, so wie diese die unseren wegen diesem und jenem getötet haben. Denn wir müssen qualitativ gleichziehen, sodass sie getötet werden, wie sie töten, und angegriffen werden, wie sie angreifen.“ Die USA sind nach dieser Sichtweise eine ignorante Macht und ein großer Götze (ṭāġūt), wie Ayman al-Ẓawāhirī8 sagt: „Wir können den Konflikt mit dem äusseren Feind nicht aufschieben. Die Allianz aus Juden und Kreuzrittern wird uns nur solange zurückhalten, wie wir den inneren Feind noch nicht besiegt haben; dann rufen wir den Dschihad gegen ihn aus“.9 Nachdem die USA der Hauptfeind in den Augen all jener geworden waren, die sich als „Ritter unter dem Banner des Propheten“ betrachteten, da wurde auch Europa zu einem erbitterten Feind und einsame Wölfe fühlten sich angespornt, einzusickern, Menschen zu misshandeln, zu terrorisieren und die Welt von den „Franken“ zu heilen. Al-Šāfiʿī sagt: „Alles, was die Ungläubigen ärgert, ängstigt und einschüchtert, ist Teil der Kraft, auf die sich vorzubereiten wir angeordnet haben. Dazu gehören auch die Märtyreroperationen, besonders in einer Zeit, da die Feinde wüten und sie Unterstützung von den Herrschenden erhalten, um in einer neuen Variante des Kolonialismus Krieg gegen den Islam zu führen und die islamischen Länder zu besetzen“ (Šāfiʿī 2003, S. 71). Diese Auffassung spiegelt eine Obsession für die globale Vorherrschaft und eine Entschlossenheit wider, den Islam und die Muslime erneut zum Mittelpunkt der Welt zu machen, wozu alle anderen besiegt und beherrscht werden müssen. Dazu meint al-Qaḥṭānī: „Die Muslime von heute müssen diese Dinge, ihr Vertrauen in sich und ihren Glauben als Gegenstrategie begreifen, sodass sie gegnerische Positionen mit dem beantworten, was der Koran und die Prophetentradition ihnen aufgetragen haben. So sollen ihre Gegner wissen, dass Gott ihnen nichts anvertraut und zu nichts beauftragt und nur der Satan ihnen etwas vorgegaukelt hat, das ohne Substanz ist“ (Al-Qaḥṭānī 2014, S. 55). Solange es, wie die „Dschihadisten“ behaupten, das Ziel des Dschihad ist, Gottes Wort zum höchsten zu machen, den islamischen Staat zu errichten, sobald der abtrünnige Staat des Unglaubens beseitigt worden ist, und den Islam den

8Der

Nachfolger von Osama bin Laden als Anführer von al-Qaida. (Anm. d. Ü.). der Globalen Islamischen Front zum Kampf gegen die Juden und Kreuzritter“ [Arab.], veröff. am 12.08.2017, http://23-february-1998-fatwa.blogspot.com/2013/01/textof-1998-fatwa-in-arabic.html [Zugegriffen: 13.Febr.2018].

9„Erklärung

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Muslimen zurückzugeben, nachdem die Säkularisten ihn gekapert haben und der Westen ihn angegriffen hat, gibt es keine Möglichkeit, ein Denken zu modernisieren, das geschaffen wurde, um mittels des Schwertes und der Einschüchterung ein politisches Projektes voranzutreiben – ein Denken, das zur „Instrumentalisierung des Islam“ geführt hat. Vielleicht ist der Gedanke nicht abwegig, dass der politische Diskurs in der dschihadistischen und sonstigen zeitgenössischen arabischen Literatur latent vorhanden ist, da alle Initiativen zur Modernisierung von einem ideologischen Konzept und dem Willen eines politischen Bewusstseins beherrscht bleiben, das den Anderen ausschließt und ihm den Boden unter den Füssen wegziehen will.

Die Modernisierung des religiösen Denkens im Kontext des konträr-binären Systems Es gibt keine Nuancen, will man die Modernisierungspfade des religiösen Denkens im Rahmen einer dominanten hierarchisch-pyramidenförmigen Struktur und einem gängigen Diskurs erörtern, der von Begriffen lebt, die einem System von Gegensatzpaaren entstammen: ḥalāl/ḥarām, Leben/Tod, gut/schlecht, Paradies/Hölle, Kraft/Schwäche, Islam/andere Religionen, Orient/Okzident etc. Ausgehend von dieser Auffassung, die auf Gegensätzlichkeit und der Ablehnung von Überschneidung, Überlappung und Zusammenhang basiert, werden Relativismus, Pluralismus und Akkulturation, sowie der Aufruf zur Achtung von Diversität und zur Akzeptanz von Andersartigkeit und Vielfalt zu schändlichen Konzepten und Sabotageakten, die auf die Beseitigung der Umma und auf den Kampf gegen den Islam abzielen, der herrschen muss und nicht beherrscht werden darf, da er die beste Religion für die Menschen ist. Das Festhalten an der literalistischen Lesart, die gemäß den Theoretikern des Dschihad als treueste gegenüber dem Text gilt und als Ausdruck seiner wahren Absichten, ist daher die bevorzugte Methode, um die Muslime zur besten Gemeinschaft (Umma) und als solche stark zu machen. Das Denken innerhalb von Gegensätzen erlaubt es nicht, Vielfalt, Pluralität und Andersartigkeit zu akzeptieren, denn entweder bin ich für oder gegen etwas, weswegen Dinge wie der takfīr10 oder die Feindschaft gegenüber dem Andersdenkenden die Essenz des dschihadistischen Diskurses darstellt. In dieser Sichtweise sind Pfade zur Modernisierung des religiösen Diskurses sinnlos,

10takfīr = Unter

Dschihadisten häufige Praxis, andersdenkende Muslime zu Ungläubigen zu erklären. (Anm. d. Ü.).

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denn entweder teilen wir dieselbe Autorität: die Fatwas von Ibn Taimiyya, die Ansichten von Ibn al-Naḥḥās, Autor von Wo man den Durst der Begierden stillt u. a., oder man löst alle Bindungen und die Gewalt wird zum Herrscher in der Arena. Im Kontext eines utopischen, unkritischen und selbstbezogenen Diskurses wird der Verstand ausgesetzt, um im kosmischen Wissen zu schwelgen. Man sieht keine Notwendigkeit, sich für vielfältige Lesarten und unterschiedliche Ansätze zu öffnen, sodass die Beschäftigung mit der Modernisierung des religiösen Denkens widersinnig wird.

Die Modernisierung des religiösen Denkens im Kontext einer Dominanz der maskulinen Ideologie Nicht die Gegensatzpaare gut/böse, heilig/profan, Glaube/Unglaube, Islam/ Ǧāhiliyya (Ignoranz)11, Rechtleitung/Irrtum etc. allein dominieren die dschihadistische Literatur, sondern man findet bei deren Lektüre auch Begriffspaare wie männlich/weiblich, Härte/Nachgiebigkeit, heiß/kalt und alles, was sich in den Beziehungen symbolisiert, die auf Effektivität und Machbarkeit sowie auf der Dominanz des Starken über den Schwachen beruhen. Wenn der Okzident in einer Weise auf den Orient blickt, in der er in diesem ein weibliches Wesen erblickt, dieses vergewaltigt, ehelicht und in ein Behältnis verwandelt, so bildet das, wozu die Anhänger der dschihadistischen Ideologie aufrufen, das Herz dieser Gleichung, nämlich die Wiedererrichtung des dominanten maskulinen Modells, das geeignet ist, die USA und ihre Verbündeten zu feminisieren. In diesem Sinne wird der dschihadistische Diskurs zu einem Projekt der Weltaneignung, mit der eine dominante und autoritäre Männlichkeit begründet werden soll, die die Niederlage, die Abhängigkeit, die Erniedrigung und die Schande abschüttelt. Es ist eine Männlichkeit, die sich gegen das Konzept einer pulverisierten Form von Männlichkeit richtet, das die Vordenker einer Erneuerung des religiösen Diskurses wie auch die Verfechter des interreligiösen Dialogs und der Koexistenz mit ihrer Betonung auf Toleranz und Frieden begründet haben. Der dschihadistische Diskurs hat genau dieses Konzept der Männlichkeit verinnerlicht und basiert auf der Betonung „herkulischer“ Heldenhaftigkeit, die der Tat Bedeutung auf Kosten des vertieften Wissens verleiht und das Schwert über die Feder stellt. Es ist eine Männlichkeit gegen die Moderne, gegen den Westen,

11Jāhiliyya = wörtl.

Ignoranz; Bezeichnung des Zeitalters vor dem Islam. In der Sprache der Dschihadisten wird die Gegenwart als neue Jāhiliyya bezeichnet. (Anm. d. Ü.).

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gegen die Ungläubigen, gegen die amerikanische Vorherrschaft, gegen die Globalisierung und den Imperialismus und überhaupt gegen die Kultur des Lebens. Man kann sagen, dass die Verblendung der Jugend durch die dschihadistische Industrie nicht vom Inhalt des Diskurses rührt, sondern mehr inspiriert ist durch die Aussicht auf den Erwerb von Macht, denn die Muslime haben es nicht zuwege gebracht, dem Westen mit militärischen oder bewaffneten Mitteln, in der Wissensproduktion oder in der Realisierung ökonomischer Prosperität etwas entgegenzusetzen. Dafür haben sie die Möglichkeit, das Image des kriegerischen Islam, des kämpferischen und erobernden Helden und des Zerstörers feindlicher Macht – wie Ḥamza b. ʿAbdalmuṭṭalib12, ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb13, Ṣalāḥaddīn al-Ayyūbī14 u. a. – ins Bewusstsein zurückzubringen. Wir behaupten sogar, dass das, was junge Leute zum dschihadistischen Diskurs verführt, eben dieser Aufruf zur Schaffung von Männlichkeit ist, die den Anderen ohne Gnade niederkämpft – eine Männlichkeit, die sich an dem rächt, was die US-Armee mit den Muslimen im Gefängnis von Abu Ghraib und in Guantanamo gemacht hat; eine Männlichkeit, die das desolate Selbst über den Mythos der Vergangenheit, die Salaf, den Lobpreis des Märtyrertums, sowie die Notwendigkeit, das Individuum für die Sache der Umma zu opfern, zu rehabilitieren ersehnt. Ginge es nach den Vordenkern des Dschihad, ist die Tötung der Ungläubigen und derer, die sie unterstützen, durch den Wunsch gerechtfertigt, mit einem „Paukenschlag in die Geschichte einzutreten“. Tatsächlich verzeichnen die Geschichtsbücher nur die großen Persönlichkeiten, machen nur die Erinnerung an Helden unsterblich und bewahren nur ihre Interessen, ihre Wahrheit, ihre Opfer und ihre Standpunkte (Šāfiʿī 2003, S. 52). Der dschihadistische Diskurs, der diese narzisstische Wunde zu überwinden sucht, sieht in den Plädoyers für Waffenstillstand und Kooperation mit dem Westen seitens derer, die zur Aufklärung im religiösen Denken aufrufen, nur einen schwachen weiblichen Standpunkt, der nach einem Beschützer und Behüter verlangt. Sie sind allesamt Plädoyers für Unterwürfigkeit, Inaktivität, Niederlage und Demütigung und nur darauf angelegt, jene pulverisierte Männlichkeit zu schaffen, die zu einem Gefühl von Scham und Schande führt. Vor diesem Hintergrund sind wir nicht überrascht, wenn die dschihadistischen Vordenker Verleumdungskampagnen führen, „um die Intellektuellen und die ‚Gelehrten des Irrtums‘ blosszustellen, die Obskurantismen der Irreführer offenzulegen, die Aberrationen der

12Onkel

des Propheten, der für seinen Kampfesmut berühmt war (Anm. d. Ü.). muslimischer Kalif, gest. 644, unter dessen Herrschaft sich das islamische Herrschaftsgebiet drastisch vergrösserte. (Anm. d. Ü.). 14Der auch in Europa bekannte Sultan Saladin (1138–1193) ist als Bezwinger der Kreuzritter bis heute eine populäre muslimische Identifikationsfigur. (Anm. d. Ü.). 13Zweiter

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Abweichler, d. h. der Säkularisten und Heuchler, aufzudecken, und die Saboteure, Gerüchtestreuer, Illoyalen und geistig Minderbemittelten unter den Gelehrten der Sultane sowie die Prediger von Koexistenz und Toleranz gegenüber den Ungläubigen zu entlarven“ (Šāfiʿī 2003, S. 20). Zusätzlich zu all dem scheint es in der dschihadistischen Literatur das Gegensatzpaar Schleier/Nacktheit bzw. Aufdeckung/Verborgenheit zu geben, das in vielen Bürgern schlummert und eng mit dem Diskurs der Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden ist. Denn wenn der Diskurs der Säkularisten auf der Kritik bzw. der Praxis besteht, beharrlich den Schleier lüften zu wollen, was u. a. auf besagte Unterstützer der dschihadistischen „Idee“ gemünzt ist, dann wird die Modernisierung des religiösen Denkens mit solcherlei Enthüllung gleichgesetzt. Damit stellt sie aber auch das Material bereit, das den Westen dazu bringt, sich zu amüsieren, Spott zu treiben, sich zu vergnügen, die Muslime zu verurteilen und die Religionen zu verachten. Modernisierungsinitiativen stoßen bei Dschihadisten daher auf heftige Gegenwehr, da sie als Gründer der Schule für Heldenfabrikation, die allein imstande ist, „das Gesicht Amerikas in den Staub zu treten“ und die Würde der Nation wiederherzustellen, weder auf einer Ebene mit denen stehen, die zu Toleranz, Koexistenz, Kräftegleichgewicht und Pragmatismus aufrufen, noch mit solchen, die ihr Vertrauen verraten haben. In der dschihadistischen Literatur ist nur die Rede von den Scheichs, Prinzen, Gelehrten, Kämpfern, Märtyrern und stolzen Helden, wie auch eine Rhetorik des Krieges und der Gewalt vorherrscht: Eine Rhetorik, in der es um Tötung, Gefangennahme, Ergreifung und Rückkehr geht. Es ist der männliche Staat, in dem Frauen keinen Platz in der Öffentlichkeit haben. Politisches Denken ist männliches Denken, das nur die männliche Führung anerkennt, unabhängig davon, ob sie von den Rechten oder von den Linken ausgeht. Auch wimmeln die dschihadistischen Texte von Handlungen, die zum Wortschatz des Militärs gehören, ergehen sich in physischer Gewalt, deren hervorstechendste Manifestationen Totschlag, Mord, Ergreifung, Erstickung und Blutvergießen sind, und sind gespickt mit den Namen von Schwertern, Mitteln zur Unterdrückung des Anderen, Heldengedichten und Panegyriken. Diese Kriegsimagination trägt in erheblichem Masse dazu bei, dass die Konsumenten dieser Rhetorik in ihrer Männlichkeit bestärkt werden. Denn diese jungen Leute, die in Frustration und Verzweiflung leben, finden nur Ruhe, wenn sie sich in die Arme der Scheichs werfen, die den Garten Eden und die paradiesischen Jungfrauen predigen. Wer die Texte der Autoren dschihadistischer Literatur eingehend betrachtet, wird feststellen, dass diese zwischen einer realen und einer Scheinwelt unterscheiden. So glauben sie in ersterer die volle Männlichkeit abgebildet, w ­ ährend letztere die gebrochene Männlichkeit symbolisiert, die Angst hat, in die Schlacht

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zu ziehen. So sagt al-Azadī (2017, S. 10, 11) in einer Beschreibung von ʿAbdullāh ʿAzzām15: Die Feinde dieser Umma sind nicht damit vertraut, eine Welt von dieser Art zu sehen, die Waffen trägt und Ungläubige und Atheisten bekämpft, um noch in diesem Jahrhundert die Religion Gottes auf Erden zu errichten, wie das Anliegen unseres Scheichs und geliebten Imams ʿAzzām es war, der sich für den Dschihad rüstete, indem er mit seiner Feder und seinem Speer zugleich für die Sache Gottes kämpfte. Er war die Stimme der Wahrheit, die den Namen des Dschihad in der Welt verkündete. Gott segne ʿAbdullāh ʿAzzām, der den Ruhm des Islam im 20. Jahrhundert begründet hat.

Der Scheich ruft dazu auf, den Koran auswendig zu lernen, das Schwert zu tragen und sich einer „heißen“ Sprache zu bedienen, während es nicht erlaubt ist, mit „kalter“ Rede an Konferenzen oder Satellitensendungen teilzunehmen. Das Narrativ der großen Männer, frommen Märtyrer und anderer Elemente, die die gesellschaftliche Imagination etabliert haben, trägt dazu bei, eine bestimmte Art von Männlichkeit zu verankern, nämlich die kämpfende Männlichkeit, die darin besteht, Heldentum und Heldenfabrikation zu feiern (Segell 2005, passim; Langman und Morris 2002, passim). Sie ist eine heroische Männlichkeit, die ihre Entsprechung im reitenden Kämpfer findet, der die Hidschra macht und die Grenzen des Islam befestigt. In der dschihadistischen Literatur stoßen wir so auf eine Art von Aussenseiter-Männlichkeit, die den Inaktiven, Schwachen, Trägen, Ängstlichen und Geizigen etc. ebenso anprangert wie denjenigen, der sich dem Dschihad verweigert, im Anti-Terrorismus-Projekt engagiert und seine Feder und seinen Geist dafür einsetzt, die „Dschihadisten“ auszurotten. Im Kontext der Tyrannei der maskulinen Ideologie und ihrer Identifkation mit der dschihadistischen Ideologie findet weder die Meinung von Frauen in religiösen Angelegenheiten noch ihr Anteil an der Schaffung von religiösem Wissen Anerkennung. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass der Literatur von Frauen, die in Bezug auf die Reform des religiösen Diskurses geschaffen worden war, keine Beachtung geschenkt wird und dass nur die Positionen von Prophetengefährtinnen und ihren Nachfolgerinnen, wie auch allein die Expertise der Dschihadistinnen und Märtyrerattentäterinnen u. a., die das „dschihadistische Denken“ gefördert haben, zitiert werden. Tatsache ist, dass wir diese Auffassung z. B. bei einer Anzahl von männlichen wie auch weiblichen Vertretern des „modernen Denkens“ antreffen, die einer Gender-Blindheit das Wort reden und doch nur das zur Kenntnis nehmen, was Männer hervorgebracht haben und was Männer wissen. 15ʿAbdullāh

ʿAzzām (1941–1989): Palästinensischer Islamist, Theologe und Mitbegründer verschiedener Terrororganisationen, darunter al-Qaida und Hamas. (Anm. d. Ü.).

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Abschließende Gedanken In dem Masse, wie die islamischen Gesellschaften die Moderne zunehmend akzeptiert haben, blieben sie jedoch darüber gespalten, was deren Verinnerlichung und Interpretation anbetrifft, denn es ist schwierig, Wirtschaft, Politik, Soziales und Kultur mit strukturellen und mentalen Strukturen zu verbinden. So kam es zu einer Vermischung von Moderne und Modernisierung, die selektiv, instrumentell und missverständlich war. Die Moderne wurde manchmal gepriesen, manchmal kritisiert, und erfuhr Ablehnung und Widerstand dafür, dass sie die traditionellen Autoritäten des Einzelnen geschwächt und seine Wahrnehmung von Zugehörigkeit, Identität und religiösem Status, sowie seine Beziehung zu Politik und kulturellen Werten durcheinandergebracht hat. Der dschihadistische Diskurs tritt ahistorisch auf, indem er sich dem Verkauf von Illusionen und der Manipulation des Bewusstseins verpflichtet hat und so die Realität und die fortschreitende Geschichte kaschiert. In seinem Widerstand gegen die Modernisierungsinitiativen ist der Diskurs radikal. Diese ablehnende Haltung gegenüber der Praxis der Selbstkritik wie auch die Herablassung gegenüber der Einsetzung von Autoritäten geht auf die wesensmäßige Unvereinbarkeit und gegenseitige Abstossung zwischen den Unterstützern des dschihadistischen Diskurses und denen der radikalen Modernisierung zurück. Die Theoretiker des Fiqh nämlich sind der Ansicht, dass ihre Auffassungen der Kritik enthoben sein müssten, weil sie in Kontakt mit einer heiligen Autorität stehen, während die „Modernisten“ glauben, dass sie fähiger als jene seien, die Realität zu analysieren, die verschiedenen Kontexte zu begreifen und folglich den Anderen, der gegen den Strom schwimmt, zu beurteilen. Die Befreiung aus den Fesseln der Vorurteile, Stereotypen und klassischen Lesarten, sowie das Vertrauen auf das, was Orientalisten verfasst haben, führt dazu, dass die Suche nach den Hindernissen der Modernisierung sich nicht auf die Durchforstung der islamistischen und dschihadistischen Literatur beschränken darf, da niemand jenseits aller Kritik steht, wie es auch keine geistige Strömung gibt, die sich der Möglichkeit von Dekonstruktions- und Überprüfungsprozessen entzieht. Anstatt Pfeile der Kritik aufeinander zu richten, den Anderen einen „reaktionären Obskurantisten“ zu zeihen und eine Kultur der gegenseitigen Ausgrenzung zu fördern, müssen wir aus der Binarität des Ich/der Andere heraustreten, um nach unserer gemeinsamen Verantwortung zu suchen, sowie nach den Hindernissen, zu deren Entstehung wir beigetragen haben. Vielleicht besteht das größte Hindernis darin, die Absicht der Ideologie bestätigt, anstatt daran gearbeitet zu haben, die Traditionen des Willens zum Wissen abzusichern, wie Foucault es formuliert hat.

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Die Befreiung von den Fesseln der Autoritäten bezieht sich nicht allein auf die „Dschihadisten“; vielmehr müssen diejenigen, die zu einer Modernisierung des islamischen Denkens aufrufen, sich selbst aus den Fesseln der orientalistischen Ansätze und Methoden befreien. Diese nämlich werden einer andersartigen Realität übergestülpt und hindern den Intellektuellen/die Intellektuelle daran, seine/ihre Lage umfassend zu betrachten. Über diese außerhalb der Standardmuster nachzudenken, die den Anderen hervorgebracht haben, ist er/sie folglich gezwungen. Es ist das Recht der nachfolgenden Generationen, zu analysieren und zu dekonstruieren und ihre eigenen Methoden und Lesarten hervorzubringen. Die Modernisierung des religiösen Denkens in unseren Gesellschaften basiert nicht auf dem praktischen Dialog, sondern auf Parolen, die Illusionen verkaufen: Illusionen von der Demokratie und der Akzeptanz des Andersseins. Doch meist verurteilen und verfolgen sie das Andersartige, anstatt zu versuchen, es zu verstehen. Dieses Verhalten ist nicht den Intellektuellen vorbehalten, sondern eng verbunden mit der Krise der wissenschaftlichen und akademischen Institutionen, die weder eine Revisionskultur noch ein Eingeständnis von Irrtümern etabliert haben. Schon Karīm Muruwwa16 hat die Art und Weise kritisiert, mit der Wissenschaftler islamische Gruppen und Parteien behandeln. Seiner Ansicht nach dürfe man diesen nicht einfach unterstellen, dass die Religion die alleinige Quelle ihres Denkens darstellt. Es sei falsch, das eigene Urteil über diese Parteien, ob negativ oder positiv, einseitig an ihre Beziehung zur Religion zu knüpfen. Jene können sich ebensowenig von ihrer Verstrickung in die Widersprüche der bestehenden Klassen- und politischen Verhältnisse befreien, „wie von den darin herrschenden Spaltungen, die zugleich auf der geistigen und auf der Interessenebene stattfinden“ (Murūwa 1990, S. 36). Es ist nach unserer Überzeugung nicht die Aufgabe der Religion, Kriege zu führen und den Anderen zu vernichten; vielmehr ist die Aufgabe des Islam wie auch der übrigen monotheistischen Religionen eine spirituelle und moralische, die zudem wichtiger sein muss als die gesellschaftlich-politische, da die Essenz der muhammadischen wie allgemein der monotheistischen Offenbarungen die Realisierung des moralischen und spirituellen Fortschritts ist. Deswegen müssen sich die Akteure im religiösen Feld und diejenigen, die an der Modernisierung des religiösen Denkens interessiert sind, auf diese Dimension konzentrieren und diese wesentliche Funktion wiedergewinnen.

16Libanesischer

kommunistischer Intellektueller. (Anm. d. Ü.).

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Es scheint, dass die Krise des religiösen Denkens komplex ist und Verbindungen zur politischen Despotie, zur geistigen Dominanz und zu einem Wertesystem aufweist, das auf Gehorsam und Nachahmung hin geeicht ist. Aus dieser kritischen Situation herauszukommen, ist nach unserer Meinung nicht möglich, solange wir auf der Stellung Gottes gegenüber dem Menschen bestehen, indem wir über Gott als einen Rächer und Gewaltherrscher reden und ignorieren, dass er der Vergebende und Barmherzige ist, und solange wir darauf beharren, den Anderen manchmal im Namen Gottes, manchmal im Namen der Moderne zu bevormunden. Tatsächlich gehört zu den Voraussetzungen, sich eine reformerische modernistische Vision zu eigen zu machen, dass wir uns von den ausgrenzenden Ideologien emanzipieren, den Willen zum Wissen ergreifen, unsere Sicht auf uns selbst, den Anderen und die Welt ändern, und Beziehungen auf Augenhöhe etablieren, die ihrerseits Herrschaft und Dominanz ausschließen, den Anderen willkommen heißen und ihm gastfreundliche Räume eröffnen – das sollte Humanismus sein. (Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Literatur ʿAbdalfattāḥ, Nabīl. 2016. Die Erneuerung des religiösen Denkens [Arab.]. o. O.: al-Markaz al-arabi li-l-buhut wa-l-dirasat. Abū Ǧandal al-Azadī (alias Fāris al-Zahrānī). 2017. [Arab.] Die Aufwiegelung der heldenhaften Mujahideen zur Wiederbelebung des Attentats. http://www.rihanapress.com/ index.php/ar/bibliotheque/407-2014-07-02-14-48-53.html. Zugegriffen: 07. Aug. 2017. Al-ʿArūyi, ʿAbdallāh. 1973. [Arab.] Zeitgenössische arabische Ideologie. Beirut: Dar al-Haqiqa. Al-Ḥāfiẓ Ibn Ḥaǧar. 2003. [Arab.] Das Wiehern der Pferde bei der Erläuterung des Buches vom Dschihad angesichts des bevorstehenden Ziels: Erläutert von Scheich ʿAbdarraḥīm Murād b. al-Šāfiʿī. o. O. Al-Qaḥṭānī, Muḥammad ibn Saʿīd. 2014. Al-walāʾ wa-l-barāʾ fī l-Islām. Riyad: Dar Tayyib ali-l-nasr wa-l-tauzi. https://islamhouse.com/ar/books/468544. Zugegriffen: 18. Apr. 2019. Langman, Lauren, und Doug Morris. 2002. Islamic modernity: Barriers and possibilities. Logos Journal 1 (2):61–77. Murūwa, Karīm. 1990. [Arab.] Dialoge über Nationalismus und Sozialismus, Religion and Revolution. Beirut: Dar al-Farabi. Nāšīd, Saʿīd. 2016. Al-ḥadāṯa wa-l-Qurʾān (Die Moderne und der Koran). Tunis und Beirut [2.]: Dar al-tanwir li-l-tibaa wa-l-nasr. Segell, Glen. 2005. 9/11: Wahabism/Hegemony and Agenic Man/Heroic Masculinity. Strategic Insights IV 3 (March). http://www.ccc.nps.navy.mil/si/2005/Mar/segellMar05.asp. Zugegriffen: 16. Mai 2005. Zāyid, Aḥmad. 2017. Die Stimme des Imams: Der religiöse Diskurs vom Kontext zur Wahrnehmung [Arab.]. Kairo: Dar al-Ayn li-l-nasr.

Keine Reformation ohne Gleichberechtigung – Feminismus vs. Fundamentalismus: Gleichberechtigung vs. Familie? Dana Fennert

Einleitung Frauen waren und sind Teil der christlichen Reformationsbewegung. Sie haben die lutherische Überzeugung der Gleichberechtigung aller Menschen vor Gott entgegen vieler Widerstände in der Öffentlichkeit verbreitet (vgl. Domröse 2014). In einem Brief an den Adel 1520 manifestiert Luther seine Idee von der gleichberechtigten theologischen Deutungshoheit aller Menschen: „Darum sind alle Christenmänner Priester, alle Frauen Priesterinnen, jung oder alt, Herr oder Knecht, Herrin oder Magd, Gelehrter oder Laie. Hier ist kein Unterschied“ (Luther zitiert nach Marquard 2003, S. 55). Die revolutionäre Überzeugung Luthers, dass es keiner theologischen Instanz bedarf, um Gottes Wort zu verstehen, sondern jeder selbst in der Lage sei, dieses zu entschlüsseln und daraus Handlungsmaxime zu schließen, ist auch die Überzeugung von Reformdenkerinnen und Reformdenkern im Islam. „Denken und reflektieren, verstehen können und fragen dürfen“ (Käßmann 2014 zitiert nach Mawick) werden von Käßmann, die vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017 beauftragt worden ist, als Hauptanliegen der Reformation bezeichnet. Liberalen Musliminnen und Muslimen werden einerseits durch rechtspopulistische Agitatoren diese reformatorischen Eigenschaften abgesprochen und a­ ndererseits

D. Fennert (*)  Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_10

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wird ihnen durch muslimische Reformgegner1 die Berechtigung dazu verweigert. Sie selbst empfinden es aber als ihre Pflicht und Aufgabe, selbstständig und vernunftgemäß die normativen Quellen des Islams, den Koran und die Sunna, zu interpretieren (iǧtihād). Für konservative und fundamentalistische Muslime sind hingegen alle Fragen, die durch die Religion geklärt werden müssten, seit der Etablierung der Rechtsschulen2 beantwortet, weshalb sie die Tür des freien, eigenständigen Urteilens3 verschlossen haben. So meinen sie jedenfalls. • Der Islam hat keine Türen • Der Islam grenzt niemanden aus • Der Islam kann sich an gesellschaftliche Wandlungsprozesse anpassen Folgendes Zitat von Iqbāl drückt die uneinheitliche Meinung über den Stillstand von neuen Interpretationsangeboten aus: Das Verschließen des Tores zum Idschtihad ist reine Fiktion, die teilweise von der Herauskristallisierung des Rechtsdenkens im Islam suggeriert wird und teilweise von jener intellektuellen Trägheit, die besonders in Zeiten des Niedergangs große Denker zu Götzen wendet. Wenn auch einige der späteren Gelehrten an dieser Fiktion festgehalten haben, ist doch der moderne Islam nicht an diese freiwillige Kapitulation geistiger Unabhängigkeit gebunden (Iqbāl zitiert nach Rohe 2009, S. 168).

Und dementsprechend beherzt, mutig und progressiv gehen sie gleichermaßen vor, die Reformatorinnen und Reformatoren des Islams, um die von Fundamentalisten imaginär konstruierten Mauern, die den freien Geist umzingeln sollen, einzureißen. Islamisten und Salafisten sind nicht die einzigen, die für sich die alleinige Verfügungshoheit über eine Religion beanspruchen, sondern auch in anderen Glaubensgemeinschaften sind Fundamentalisten beheimatet. Die Reformationsbotschafterin Käßmann stellt dementsprechend dieselbe Einstellung bei jüdi-

1Auf

eine geschlechtergerechte Schreibweise wird an Stellen, an denen diese nicht unbedingt notwendig ist, aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet. Die weibliche Form kennzeichnet immer Begriffe oder Akteursformate, die hauptsächlich Frauen umfassen. 2Dazu zählen die sunnitischen Schulen von Abū Ḥanīfah Nuʿmān ibn Thābit (gest. 767), Mālik ibn Anas al-Aṣbaḥi (gest. 795), Muḥammad ibn Idrīs al-Shāfiʿī (gest. 820), Aḥmad ibn Ḥanbal (gest. 855) oder die schiitische Lehre von Jaʿfar al-Ṣadiq (gest. 765) (vgl. Kamali 2006, S. 65–90). 3bāb al-iǧtihād.

Keine Reformation ohne Gleichberechtigung …

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schen, christlichen, islamischen und hinduistischen Hardlinern im Widerspruch zum selbstständigen Denken, dem reformatorischen Hauptanliegen, fest: „Nicht fragen, schlicht glauben!“ (Käßmann 2014 zitiert nach Mawick) Eng an diese gemeinsame Haltung der religiösen Konservativen ist die Überzeugung geknüpft, dass Frauen sich Männern unterwerfen müssen, da es ihre „natürliche, gottgegebene Bestimmung“ sei. Um diese Geschlechterordnung, die gleichzeitig mit dem Funktionieren der traditionellen Kernfamilie gleichgesetzt wird, gegen feministische Gleichberechtigungsansprüche zu bewahren, mobilisieren sich Fundamentalisten der Religionen seit Mitte der 1990er Jahre, in einem transnationalen interreligiösen Bewegungsformat: der Pro-Familie-Bewegung (Vgl. Fennert 2015). Geschlossen forderten die Frauenrechtlerinnen auf den Konferenzen der United Nations (UN) die Umsetzung der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ein (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination of Women – CEDAW), das bisher wichtigste Instrument zur völkerrechtlichen Vereinbarung von Frauenrechten (Vgl. Wichterich 2007, S. 6). Doch seitdem sich das anfängliche Netzwerk, bestehend aus dem Vatikan, muslimischen und christlich-konservativen Regierungsvertretern sowie NGOs, zu einer transnationalen Bewegung ausbreitete, und fortan internationale Debatten von ihrem Agenda Setting beeinflusst werden, verliert die Frauenbewegung zunehmend an innerem Zusammenhalt und internationalem Verhandlungsboden. Folgende Fragen bleiben in diesem Zusammenhang offen: Wie steht es angesichts dieser weltweiten fundamentalistischen Gegenbewegung zur transnationalen Frauenbewegung um die Gleichberechtigung der Geschlechter? Steht das zumindest in westlichen Kontexten angenommene Gesellschaftsideal wieder auf der Verhandlungsagenda? Inwieweit wurde dieses Geschlechterideal durch die Reformationsbewegung beeinflusst? Welche Chance auf Emanzipation haben Musliminnen durch diesen Umstand – da sie uneingeschränkte Unterstützung weder auf der UN-Ebene noch in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft erwarten können? Und welche Aussichten ergeben sich dabei für die Reformation im Islam? Folgende These wird in diesem Artikel vertreten: Da sich die Pro-Familie-Bewegung, bestehend aus fundamentalistischen Akteuren aller Religionen, mit dem Ziel, die für sie gottgegebene Geschlechterordnung zu bewahren, mobilisiert, kann nur ein Zusammenwirken aller liberalen religiösen und nicht-religiösen Kräfte zu einer Geschlechtergleichberechtigung führen. Um die Fragen zu diskutieren, wird zunächst auf die Gleichberechtigungsbestrebungen in der evangelischen Kirche eingegangen, die Situation von muslimischen Feministinnen aufgezeigt und anschließend die gegenwärtige Problemlage für beide religiösen Kontexte beleuchtet.

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Gleichberechtigung in der lutherisch-evangelischen Kirche Einerseits waren Frauen aktiv an der Mobilisierung der Reformationsbewegung beteiligt und wurden durch das Priestertum aller Getauften als gleichberechtigte Kirchenmitglieder anerkannt, anderseits wurde ihnen durch die lutherische Aufwertung der Ehe zunächst der zentrale Platz in der Familie als Mutter und Ehefrau zugewiesen. In ihrer Predigt im Rahmen der Reihe „Luther bewegt“ fasst Kohlstruck diesen Widerspruch wie folgt zusammen: Mit der Kritik und der Auflösung der Klöster ging nicht nur ein weibliches Lebensmodell eines Lebens ohne Mann verloren, es wurde auch eine neue Norm gesetzt. Eine Frau hatte künftig eine Ehefrau zu sein, denn dem Mann zu dienen und Kinder zu gebären – das sei die Bestimmung der Frau. Bei aller Wertschätzung seiner eigenen Frau gegenüber, bei aller prinzipiell propagierten Gleichheit der Geschlechter, rückte auch Luther nicht von dieser Bestimmung der Frau ab (Kohlstruck 2014).

Frauen, die als Nonnen Bildung in den Klöstern erlangten, blieb jenseits des zölibatären Lebens lediglich der Platz neben einem Ehemann. Luther brachte seine Ansicht über Frauen wie folgt zum Ausdruck: „Das Weib ist geschaffen dem Mann zu einem geselligen Helfer in allen Dingen, besonders, Kinder zu bringen“ (Luther zitiert nach Domröse 2016). Die Ehefrau Luthers, Katharina von Bora4, die als vorbildliches Beispiel galt, wie eine Frau zu leben hatte, war nach ihrem Klosterleben als Hausfrau und Mutter aktiv und unterstützte Luther in allen Angelegenheiten (Luther zitiert nach Domröse 2016). 1523 verfasste die 31-jährige Laientheologin Argula von Grumbach einen Brief an die Gelehrten der Universität Ingolstadt, in dem sie die Professoren aufforderte, mit ihr die Auslegungen der heiligen Schrift zu diskutieren. Damit verfolgte sie das Ziel, die Verbannung des Lutheranhängers Arsacius Seehofer, aufgrund der Verbreitung reformatorischer Ideen, aufzuheben. Darin heißt es: „Ich finde an keinem Ort der Bibel, dass Christus noch seine Apostel oder Propheten jemanden eingekerkert, gebrannt noch gemordet haben oder das Land verboten“ (Von Grumbach zitiert nach Domröse 2014, S. 19). Dabei orientierte sie sich an dem lutherischen Prinzip „sola scriptura“, nach dem die Heilige Schrift als einzige Quelle maßgeblich ist für Glaubensfragen (Vgl. von Grumbach zitiert nach Domröse 2014, S. 19; Kohlstruck 2014). Weitere Briefe folgten

4Ihre

Flucht aus dem Kloster Nimbschen galt für sie als Befreiungsakt (Vgl. Kohlstruck 2014).

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und erlangten als Flugschriften hohe Auflagen. Als weitere Verteidigerin reformatorischer Ideen gilt Katharina Schütz Zell. Ohne Angst vor Konsequenzen forderte sie Gelehrte heraus, indem sie diese korrigierte und die Heilige Schrift über kirchliche Würdenträger stellte. Zudem hielt sie öffentlich im Rahmen von Bestattungen Predigten ab (Domröse 2016a). Mit der Reformation und der einhergehenden Trennung der römisch-katholischen und evangelischen Kirche war nicht zugleich ein gleichgeschlechtlicher Zugang zu den Pfarrämtern gewährleistet, welcher die logische Konsequenz aus dem Postulat des gleichberechtigten Priestertums gewesen wäre. Zwar ist die evangelische Kirche von allen religiösen Gemeinschaften heute die, in der Frauen per Kirchengesetz formell Männern gleichgestellt sind, doch auch hier kämpften Frauen gegen patriarchale Strukturen an. Frauen blieb der Zugang zu Kirchenämtern lange verwehrt: Für den Ausschluss der Frauen vom Pfarramt war maßgeblich, dass einerseits das Pfarramt als Leitungsamt und damit als Herrschaftsposition verstanden wurde, andererseits aus der Bibel die Forderung nach einer prinzipiellen Unterordnung der Frauen unter Männer abgeleitet wurde. Wenn Frauen eine Gemeinde leiten, öffentlich das Wort verkündigen, Sakramente verwalten und die Seelsorge an Männern üben, dann – so die Auffassung der Gegner der Frauenordination – würden sie sich Männern überordnen. Der universalisierenden Tendenz des Protestantismus, die sich im Priestertum aller Gläubigen ausdrückt, wird damit eine partikularistische, auf der Annahme einer unüberbrückbaren Differenz der Geschlechter beruhende ­Argumentation entgegengesetzt (Sammet 2010, S. 83).

Seit den 1960er Jahren öffneten sich die Türen der evangelischen Kirchengemeinden auch für weibliche Pfarrerinnen, wenn auch nur langsam.5 Frauen war es seither erlaubt, als Pfarrerin zu arbeiten, aber mit deutlichen Einschränkungen im Vergleich zu männlichen Amtskollegen. Als Pfarrerin durften sie nur tätig sein, wenn sie nicht verheiratet waren, denn für sie galt das Zölibat (Vgl. Sammet 2010, S. 83). „Eine schwangere Frau auf der Kanzel überstieg die Vorstellungskraft der Kirchenmänner“, betont Millhahn (2013). Die Rollenzuweisung der Frau als Ehefrau und Mutter war auch in der evangelischen Kirche präsent. Durch die Aufhebung der „kirchenrechtlichen Beschränkungen für Frauen“ gilt seither das evangelische Pfarramt als „geschlechtsneutraler Beruf“ (Sammet 2010, S. 83). Die evangelisch-lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe hat

5Durch

das Kirchengesetz vom 1. September 1958 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Lübeck war es Elisabeth Haseloff möglich, als erste Pastorin zu arbeiten (vgl. Nordkirche 2016).

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aber erst im Jahr 1991 Frauen als Pfarrerinnen zugelassen, während die anderen Landeskirchen bereits seit den 1970er Jahren diese Ämter geschlechtsneutral besetzten, galt hier folgende Auffassung: „Die von Jesus eingesetzten Apostel waren ausschließlich Männer, und man muss Rücksicht auf die römisch-katholischen und orthodoxen Brüder nehmen“ (Evangelisch-lutherische Landeskirche ­Schaumburg-Lippe zitiert nach Millhahn 2013). Obwohl heute lediglich 33 % der Pfarrämter durch Frauen besetzt werden, macht Hauschildt (2014) auf die Warnung von Männern vor einer Feminisierung des Pfarrberufs aufmerksam. Mehrere Faktoren werden in der Literatur mit dem Wandel der Männer besetzten Domäne in Verbindung gebracht. Unter anderem werden die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und einhergehenden Umbrüche der Rollenzuweisungen seit den 1960er Jahren erwähnt, welche auch die bis dahin konservative evangelische Kirche zu einem Umdenken gezwungen habe (Vgl. Sammet 2010). Sammet betont in diesem Zusammenhang: „Sie ist, was die Beteiligung und Gleichstellung von Frauen angeht, nicht Vorreiterin, sondern gerät angesichts ihrer Rückständigkeit unter Rechtfertigungsdruck“ (Vgl. ebd.). Dabei spielte weder die feministische Theologie eine entscheidende Rolle, noch sollte gesellschaftlichen und politischen Emanzipationsforderungen Rechnung getragen werden (Vgl. ebd.). Die eingangs gestellte Frage, ob die Reformation eine Gleichberechtigung der Geschlechter nach sich zog, kann schlussfolgernd weder mit einem klaren ja noch nein beantwortet werden. Zwar erkennt Kohlstruck in ihrer Predigt die mit der Reformation einhergehenden neuen Lebensentwürfe von Frauen an, kommt aber zu dem Schluss: „Aufs Ganze gesehen haben die Reformation und ihr neues Frauenbild aber zu einer Festlegung der Frau als Ehefrau und Mutter geführt, einer Festlegung, die für die folgenden Jahrhunderte Bestand haben sollte“ (Kohlstruck 2014). Die Ideen der Reformation konnten dann erst im Zuge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse für Frauen zum Tragen kommen. Wäre dies nicht geschehen, gäbe es 2017 auch keinen Grund zum Feiern, denn die Reformation könnte ohne ihre Profitierung durch Frauen nicht als gelungene Erneuerungsbewegung definiert werden. Auf die Situation von muslimischen Frauenrechtlerinnen wird nun eingegangen.

Gleichberechtigungsforderungen im Islam Zu behaupten der Islam sei nicht reformierbar untermauert zum einen die Argumentation von Salafisten und Islamisten, die Reformen für nicht nötig erachten, da sich lediglich auf die Zeit des Propheten bezogen werden müsse, um alle

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h­ eutigen Probleme zu lösen (vgl. Krämer 2016 Interview mit Meier). Zum anderen werden dadurch rechtspopulistische Meinungen gestärkt, die im Islam eine rückwärtsgewandte und mit demokratischen Werten unvereinbare Religion postulieren. Es bestehen dennoch Herausforderungen, die eine zeitnahe Reformation unwahrscheinlich werden lassen, denn der Gegendruck von muslimischen Reformkritikern ist zu stark und ihre interreligiös-fundamentalistischen Allianzen, mit denen sie den wichtigsten Reformationsantrieb von Feministinnen unterbinden, sind zu mächtig. Seit ihrer Formierung in den 1980er Jahren haben die Akteurinnen des islamischen Feminismus gezeigt, dass die Situation nicht hoffnungslos ist. Diese transnationale Bewegung versucht die regressiven Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse gegen jeden Widerstand aufzubrechen, und setzt damit Reformprozesse in Gang. Wie bei allen sozialen Bewegungen, verlief auch ihre Mobilisierung entlang ihrer Gegner (Vgl. Fennert 2015). Mir-Hosseini, die selbst als zentrale Aktivistin innerhalb der Reformbewegung involviert ist, äußert diesbezüglich: To understand a movement that is still is in formation – is still in making – we might start by considering how its opponents depict it, in other words the resistance which it has to struggle. Because most of the time when we resisting against a movement, an opponent, that opponent defines us. It’s always a reaction (Mir-Hosseini zitiert nach Fennert 2015a).

Das Hauptanliegen der Frauenrechtlerinnen ist es vor allem, die Rechtsbereiche zu erneuern, die in erheblicher Weise das Leben von Frauen bestimmen: die muslimischen Familien- und Personenstandsgesetze. Diese reglementieren Eheschließungen, Scheidungen, Sorgerechtsangelegenheiten von mehr als einer Milliarde Muslimen (Vgl. An-Naʼim 2002, S. 2; Derichs 2010, S. 416). Frauen werden durch diese Gesetze in allen muslimischen Mehrheitsgesellschaften in erheblichem Maße diskriminiert. Während andere Rechtsbereiche im Rahmen der Entkolonialisierungen weitestgehend säkularisiert worden sind, blieben Auslegungen des Korans und der Sunna weiterhin die Bezugsquelle für familienrechtliche Angelegenheiten. Deshalb entflammen die Debatten zwischen den konservativen oder traditionellen und den feministischen Akteuren besonders entlang dieser Thematik. Daraus schlussfolgert El-Azhary Sonbol: „[…] any effort to change personal status laws is an attack on the very basic principles of Islam“ (El-Azhary Sonbol 2009, S. 179). Islamisch konservative oder islamistische Reformgegner argumentieren, dass diese Gesetze nicht verändert werden können, gerade weil sie sich ihrer Meinung nach an der Scharia orientieren, und deshalb sakral seien. Die ­Vertreterinnen

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des transnationalen Netzwerks Musawah, die sich dezidiert um Reformen von Familiengesetzen bemühen, deuten hingegen, dass es sich dabei nicht um Scharia-Gesetze handelt, sondern lediglich um Auslegungen dieser. Das Netzwerk unterscheidet zwischen der Scharia als der Offenbarung Gottes6 und den Fiqh7-Regelungen, also den Versuchen, diese zu entschlüsseln. Die Scharia-Auslegungen, die bis heute für die Formulierung der unterschiedlichen Gesetzestexte herangezogen werden, sind die der klassischen Rechtsgelehrten. Seit dem 4. Jahrhundert A.H. (10. Jh. n. Chr.), dem Beginn der „klassischen Zeit des islamischen Rechts“ (Rohe 2009, S. 76), setzte sich die Meinung durch, dass, basierend auf den anerkannten Rechtsschulen, die bis dahin formulierte Rechtsliteratur alle Rechtsbereiche hinreichend darlegen und deshalb nur noch diese Gültigkeit hat (vgl. Schacht 1982, S. 70 f.). Abweichende Interpretationen werden seither nur von ausgebildeten islamischen Rechtsgelehrten anerkannt, aber nur wenn diese allgemeine Anerkennung finden. Die klassischen Rechtsgelehrten waren bei ihrer Urteilsfindung bzw. Interpretation des Korans und der Sunna bezüglich familienrechtlicher Angelegenheiten aber von den kulturellen und traditionellen Geschlechterordnungen ihrer Zeit mitbeeinflusst, die Mir-Hosseini wie folgt zusammenfasst: „[…] women are created of men and for men; women are inferior to men; women need to be protected; men are guardians and protectors of women; and male and female sexuality differ and the latter is dangerous to the social order“ (Mir-Hosseini 2006, S. 643). Heute noch spiegeln sich diese Wahrnehmungen der Geschlechterordnungen und die Interpretationen der normativen Quellen der klassischen Rechtsgelehrten, die Ehen als Vertrag des Austausches (ʿaqd al-nikāḥ)8 angesehen haben, in den kodifizierten Gesetzestexten wider. Demnach sind Ehen weltliche Verträge, die eine eindeutige Rollenverteilung beinhalten: Der Mann wird als das Oberhaupt und Versorger der Familie betrachtet, die Frau hingegen hat eine Gehorsamkeitspflicht. Die reziproken Rechte und Pflichten werden durch die Begriffe tamkin (Gehorsamkeit) und nafaqa (Unterhalt) verdeutlicht. Durch eine Heirat ist eine

6„…the

totality of God’s law as revealed to the Prophet Muhammad“ (Mir-Hosseini 2003, S. 2). 7Rechtswissenschaft oder Rechtskorpus, der durch die Auslegungen des Korans und der Sunna durch klassische Rechtsgelehrte entwickelt worden ist. 8Während dieser Begriff normalerweise mit „Ehevertrag“ übersetzt wird, bezeichnet Mir-Hosseini ihn als Vertrag des Geschlechtsaktes (contract of coitus) (Mir-Hosseini 2009, S. 28).

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Frau damit der Autorität ihres Mannes untergeordnet (Mir-Hosseini 2009, S. 31). Eine Verstoßung (ṭalāq), also die Auflösung der Ehe ohne richterliche Entscheidung, kann insofern heute noch wirksam werden, wenn die Ehefrau ihrem Ehemann gegenüber ungehorsam ist (nušūz). Mir-Hosseini und Zainah Anwar weisen aber auf die moralische Unzulänglichkeit dieser Praktik hin und berufen sich auf eine Aussage des Propheten, der feststellte, dass bei ihrer Vollziehung „God’s throne shake“ (Mir-Hosseini und Zainah 2012). Geleitet durch die Überzeugung, dass nicht die Scharia frauendiskriminierend ist, sondern lediglich die Interpretationen der Männer, die sich nun in den Familiengesetzen niederschlägt, interpretieren die Netzwerk-Aktivistinnen die normativen Quellen neu. Ähnlich wie Feministinnen im christlichen Kontext, die nicht die Religion per se aufgrund Frauen diskriminierender Bibeltextstellen ablehnen. Musawah zufolge müsse dementsprechend der allem übergeordnete Zweck (maqāṣid)9 des Islams, den es in den Werten „Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit“ sieht, herausgestellt werden (Mir-Hosseini 2006, S. 642). Der Schlüssel zur Abschaffung frauendiskriminierender Gesetze liegt laut den Feministinnen in folgendem Koranvers verborgen: Men are qawwamun [protectors/maintainers] in relation to women, according to what God has favored some over others and according to what they spend from their wealth. Righteous women are qanitat [obedient] guarding the unseen according to what God has guarded. Those [women] whose nushuz [disobedience] you fear, admonish them, and abandon them in bed, and strike them. If they obey you, do not pursue a strategy against them. Indeed, God is Exalted, Great (Koran 4:34 übersetzt von Kecia Ali zitiert nach Mir-Hosseini und Zainah 2012, Hervorhebung im ­Original).

Die Interpretationen klassischer Rechtsgelehrter sind heute immer noch die Grundlage für die Familiengesetze. Die Begriffe qiwāma (Schutz und Versorgung) sowie wilāya (Vormundschaft) werden als Legitimierung männlicher Herrschaft herangezogen und gelten als Ursprung der Diskriminierung von Frauen (Musawah 2014; Mir-Hosseini und Zainah 2012). Qiwāma (Schutz und Versorgung) komme aber kein einziges Mal im Koran vor und wilāya (Vormundschaft) werde nicht im Zusammenhang mit männlicher Herrschaft über Frauen,

9Maqāṣid: Begriff für Ziele und Absichten der Scharia (Kamali 2006, S. 115); Roth übersetzt den Begriff mit Zwecke der Scharia. Kamali bemerkt: „It is naturally meaningful to understand the broad outlines of the objectives of Sharīʿah in the first place before one tries to move on to the specifics“ (Kamali 2006, S. 131).

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sondern mit Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung erwähnt. Frauen werden durch diese Begriffe unter männlichen Schutz gestellt und unterliegen damit der männlichen Herrschaft. Auch die Vielehen würden durch das qiwāmaKonzept gerechtfertigt. Frauen werden von Konservativen generell als schwächer charakterisiert, und durch ihre biologische Fähigkeit, Kinder zu gebären, werden sie dem häuslichen Bereich zugeordnet. Diese Geschlechterordnung ist rechtlich durch die Gesetze verankert und steht laut Musawah weder im Einklang mit den islamischen Prinzipien noch mit den international vereinbarten Menschenrechtsnormen (Musawah 2014, S. 2). Zudem stehen diese Zuordnungen im Widerspruch zu der heutigen Situation von Frauen und Männern, demnach kommen Männer häufig nicht mehr ihrer „eigentlichen“ Funktion als alleinigem Ernährer nach und Frauen müssen ebenso für den Unterhalt der Familien Sorge leisten. „The disconnect between the theoretical construction of the family and today’s reality demands fresh perspectives on marriage and family relations in line with Islamic and human rights principles“ (Musawah 2014, S. 2). Durch den Koran bestätigt, in dem es auch heißt, dass alle Menschen „agents (khalifah) of God“ sind, besitzt laut dem Netzwerk jeder die Fähigkeit, Gottes Willen umzusetzen, ohne theologische Vorbildung (Musawah 2009, S. 19). Daraus leiten die Frauenrechtsaktivistinnen ab, dass es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht eines jeden (Muslim oder Nicht-Muslim) sei, sich an den Gesetzgebungsprozessen zu beteiligen, um Gerechtigkeit und Gleichheit innerhalb der Familien herzustellen, damit das Wesen des Islams zur Geltung kommt. Einhellig heißt es im offiziellen Deutungsrahmen des Netzwerks: „We hold the principles of Islam to be a source of justice, equality, fairness and dignity for all human beings. We declare that equality and justice are necessary and possible in family laws and practices in Muslim countries and communities“ (Musawah 2009, S. 12). Nach diesen Prinzipien müssen auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern im privaten wie im öffentlichen Bereich ausgerichtet sein. Dementsprechend müssten die normativen Quellen des Islams, der Koran und die Aussprüche des Propheten, im sozio-historischen Kontext betrachtet werden. Also muss laut Musawah gefragt werden, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen diese entstanden sind. Das von den Islamisten dargestellte heilige Normenkonstrukt ist gemäß Musawah also nicht die Scharia, sondern lediglich eine Auslegung männlicher Rechtsgelehrter. Demzufolge diskriminiert nicht die Scharia Frauen, sondern die Familiengesetze, die auf den Interpretationen der Männer basieren. Damit sind Familiengesetze nicht heilig und können und müssen reformiert werden, um Geschlechtergleichheit zu implementieren, die eine zeitgemäße Geschlechter-

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ordnung sei. Da die Diskurse um Geschlechterordnungen zunehmend von Islamisten beeinflusst sind, kann nur eine islamische Argumentation zum Ziel führen. Das System müsse also von innen heraus reformiert werden (Mir-Hosseini 2006, S. 644). Indem Musawah für sich selbst beansprucht, religiöse Quellen zu deuten, und auch Muslime sowie Nicht-Muslime auffordert, sich für Gerechtigkeit und Gleichheit einzusetzen, fordert es Konservative heraus, die lediglich islamische Rechts- bzw. Religionsgelehrte als dafür befähigt halten. Musawah kämpft aber nicht nur innerhalb des islamischen Referenzrahmens, sondern integriert auch den säkularen Ansatz in seine Reformbemühungen. Die CEDAW, so das Netzwerk, stimme eher mit den Prinzipien der Scharia überein als die zurzeit implementierten muslimischen Familiengesetze (Musawah 2009, S. 20). Die parallele Argumentation mit islamischen als auch säkularen Prinzipien hat Musawah von der marokkanischen Frauenbewegung adaptiert, deren Kampf in der Reform des Personenstandsrechts 2004 mündete und seither Männer und Frauen zu gleichen Teilen für die Familie in die Verantwortung zieht. Da das Netzwerk wie andere Feministinnen auch für die Umsetzung der CEDAW eintritt, kann es auch innerhalb der transnationalen Frauenrechtsbewegung eingeordnet werden. Auch wenn Aktivistinnen, die ausschließlich mit säkularen Argumenten Frauenrechte einfordern, und religiöse Argumentationen ablehnen, müssen sie zusammen mit muslimischen Feministinnen, die für die CEDAW eintreten, innerhalb einer sozialen Bewegung agierend betrachtet werden. Zudem werden Frauenrechtlerinnen jeglicher Couleur durch die Pro-Familie-Gegenbewegung zu einer Bewegung vereint.

Die Pro-Familie-Bewegung Gegen diese hat sich, ausgehend von der internationalen Ebene, initiiert durch den Vatikan ab 1993 die Pro-Familie-Bewegung formiert: mit dem Ziel, die traditionelle Familie zu bewahren. Die Annahme, dass die patriarchale Geschlechterordnung gottgegeben ist, verbindet die religionsübergreifenden fundamentalistischen Anhänger dieser transnationalen Bewegung. Fanden anfänglich lediglich Koalitionsbildungen im Rahmen von UN-Konferenzen zwischen dem Vatikan, christlichen und muslimischen NGOs oder Regierungsvertretern statt, verdichten sich die Netzwerke heute über die internationale Ebene hinaus. Der World Congress of Families (WCF) ist eines der aktivsten Netzwerke und beeinflusst im Wesentlichen die Mobilisierung dieser Bewegung, indem es regelmäßige Konferenzen in unterschiedlichen Staaten um einen antifeministischen

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Themenschwerpunkt organisiert, an denen Anhänger aller Weltreligionen ­teilnehmen (Vgl. Plummer 2006, S. 161). Die traditionelle Familie als Basiszelle der Gesellschaft sei bedroht und müsse zum Erhalt der Gesellschaft bewahrt werden. Dieser einheitsstiftende Deutungsrahmen wurde durch das in Rockford (Illinois) ansässige Howard Center for Family, Religion & Society konzipiert, welches laut Plumer eine Schlüsselfunktion innerhalb der Bewegung einnimmt (Ebd., S. 161). Der erste Kongress 1997 des WCF10 wurde von diesem christlich-rechten Forschungsinstitut, einberufen. 147 Repräsentanten von Pro-Familie-Institutionen aus 45 Staaten, darunter zahlreiche Gesandte des Vatikans, nahmen an der Auftaktveranstaltung teil. Buss und Herman beschreiben das Netzwerk als „attempt by the CR UN to construct a permanent, global interfaith institution“ (Buss und Herman 2003, S. 80). Eine besondere Bedrohung sahen die Anwesenden in den zahlreichen UN-Beschlüssen, die feministischen Forderungen entsprechen und ihrer Ansicht nach die Institution der Familie zerbrechen würden. Islamisch-konservative und islamistische Akteure sind direkt an der Mobilisierung dieser Bewegung beteiligt. Mit einem offenen Brief an Papst Benedikt XVI im Oktober 2006 legten muslimische Pro-Familie-Anhänger den Grundstein für das interreligiöse Forum A Common Word (vgl. Open Letter to His Holiness Pope Benedict XVI 2006). Die Gülen-Bewegung beteiligt sich fortlaufend an Veranstaltungen, die zur Bewahrung der traditionellen Familie und entsprechend zur interreligiösen Zusammenarbeit aufrufen (Vgl. Fennert 2015, S.  248). Als interreligiös betriebener Think Tank ist in diesem Zusammenhang auch das Building Bridges Seminar zu erwähnen, das seit 2002 Workshops mit muslimischen und christlichen Wissenschaftlern veranstaltet (Vgl. Berkley Center 2015). In einem Beschluss vom 20. Oktober 2010 erklärte die UN-Generalversammlung die erste Februarwoche zur World Interfaith Harmony Week und ruft seither alle Staaten auf, unter dem Motto „Love of the God, and Love of the Neighbour“11 Veranstaltungen zu initiieren, die einen Beitrag zum interreligiösen und interkulturellen Dialog leisten (Vgl. UN 2010). Das A-Common-Word-Netzwerk wird als beispielgebend dafür erwähnt (Vgl. ebd.). Damit wird auch eine Plattform für konservative und islamistische Akteure gegeben, um weiterhin

10Dieser

fand vom 19.–22. März 1997 statt und wurde durch das Howard Center in Kooperation mit zahlreichen Institutionen und NGOs veranstaltet (vgl. www.worldcongress.org). 11Unter diesem Motto trafen sich auch erstmals die Gründer des Forums A Common Word 2008 im Vatikan.

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Abb. 1   Der transnationale feminismus und seine gegenbewegung. (© Dana Fennert/ Philipps-Universität Marburg/epubli; Quelle: Fennert 2015, S. 271)

Netzwerke um den Erhalt der traditionellen Familie knüpfen zu können. Abb. 1 veranschaulicht die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der einzelnen Bewegungsakteure dar, die international, transnational und national die Debatten um Geschlechterordnungen bestimmen.

Fazit Die CEDAW hat das Ziel, Diskriminierung von Frauen auf allen Ebenen abzuschaffen. 1995 wurden auf der vierten UN-Weltfrauenrechtskonferenz in Peking weitere Strategien vereinbart, um dieses Ziel zu erreichen. Allerdings zeigte sich bei den Bilanzkonferenzen (Peking + 5, Peking + 10) in New York deutlich, dass die Gegenbewegung weitere Zugeständnisse für Frauenrechte verhindern wird. Die Bush-Regierung versuchte, auf der Bilanz-Konferenz Peking + 10 in New York 2005 Vereinbarungen der Aktionsplattform neu zu verhandeln und den

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Passus zu integrieren, dass diese für Staaten nicht rechtsverbindlich sei. Unterstützung erhielten die USA durch NGOs aus dem christlich-rechten Spektrum der USA, durch Regierungsvertreter aus Ägypten, Katar, Costa Rica, Nicaragua und Panama sowie dem Vatikan. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die USA, neben den Inselstaaten Tonga und Palau sowie den islamischen Mehrheitsgesellschaften Iran, Somalia sowie Sudan, zu den wenigen Staaten gehören, die die CEDAW bis heute nicht ratifiziert haben12 (Vgl. UN 2014; UN Women Nationales Komitee Deutschland 2014). Der wesentliche Erfolg, den die ProFamilie-Bewegung für sich erreicht hat, ist die Infragestellung von offiziellen UN-Frauenrechtskonferenzen seitens der transnationalen Frauenbewegung. Das Netzwerk Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN) stellt beispielsweise fest: „For the sake of our hard won gains. No official negations of any kind!“ (Zit. nach Chappell 2006, S. 518). Über die Notwendigkeit einer fünften UN-Weltfrauenkonferenz ist sich die Frauenbewegung uneinig, da in Anbetracht ihrer Gegenbewegung damit Neuverhandlungen von bisher hart erkämpften Errungenschaften riskiert würden. Die politischen Gelegenheitsstrukturen schließen sich zunehmend für alle Feministinnen und Feministen, auf der UN-Ebene, aber auch innerhalb nationaler Kontexte. Wie gezeigt worden ist, haben es Musliminnen doppelt schwer. Einerseits können sie innerhalb ihrer eigenen Reihen nicht auf hinreichende Unterstützung hoffen, andererseits erobern auf der UN-Ebene anti-feministische Akteure das Terrain. Aber auch in westlichen Staaten spitzen sich anti-feministische Strömungen zu. Während die etablierten Kirchengemeinden zunehmend Mitglieder verlieren, gewinnen Freikirchen oder evangelikale Strömungen überall an Zulauf (Vgl. Upadeck 2016). In Deutschland beispielsweise sind mittlerweile 1,3 Millionen Menschen unter dem Dachverband „Deutsche Evangelische Allianz“ (DEA) der christlichen Freikirchen und charismatischen Bewegungen organisiert (Ebd.). Ihre Mitglieder werden als „evangelikal“ bezeichnet, was nicht mit „evangelisch“ der Selbstbezeichnung der Amtskirchen zu verwechseln ist (Ebd.). Eher „dogmatische Auslegungen der Bibel“ vereinten unter dem Begriff Evangelikalismus zum Ende des 19. Jahrhunderts Kritiker der Moderne (Upadeck 2016). Grundlage der Fundamentalisten als auch der liberalen Protestanten ist das Neue Testament. Dass sich Konservative aller Couleur um antifeministische Themen verbünden, bringt Thielmann auf den Punkt: „Manche Evangelikale

12Auch

der Staat Niue, der frei mit Neuseeland assoziiert ist und kein UN-Mitglied ist, verweigert die Ratifizierung der CEDAW (UN Women Nationales Komitee Deutschland 2014).

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verbünden sich gern mit Rechtskatholiken und mit Anti-Abtreibungsinitiativen, deren Repräsentanten mit AfD-Funktionären verbunden sind: Für die Ordnung und die guten alten Sitten ist ihnen jede Koalition recht“ (Thielmann 2016). Folgendes Zitat macht deutlich, welche Geschlechterordnung sie für erstrebenswert halten: Als Christen haben wir die Hoffnung und den Auftrag, dass Männer und Frauen durch die Erkenntnis der Liebe Gottes in Christus fähig werden, einander in ihrer ursprünglichen Würde wahrzunehmen. Die Genderideologie bestreitet die Zuordnung des Mannes zur Frau und der Frau zum Mann und ihr gegenseitiges ‚Erkennen‘. Für sie ist Gleichstellung erst erreicht, wenn der Unterschied zwischen den beiden unkenntlich gemacht und überwunden ist. Sollte das stimmen, wäre auch die kleinste Einheit der Gesellschaft, die Ehe, durch andere Lebensformen ersetzbar. Was aber soll der Gesellschaft Bestand und Dauer geben, wenn nicht die auf Liebe und Treue gründende Verbindung, in welcher Kinder möglich, willkommen und geborgen sind? Wo kann die Versöhnung der Geschlechter besser und nachhaltiger gelingen als im fruchtbaren Miteinander von Mann und Frau? (Sipos 2010).

Zum Evangelikalismus wird auch die Pfingstbewegung gezählt, die beispielsweise in Brasilien 40 Mio. AnhängerInnen zählt, und in den USA 64 Mio. (Upadeck 2016). Feministinnen im Islam haben neue Lesarten der überlieferten Quellen angeboten. Doch stoßen sie international und transnational auf ihre Gegner, die Akteure der Pro-Familie-Bewegung. In den muslimischen nationalen Kontexten sind dies vor allem islamisch-konservative und islamistische Anhänger dieser Bewegung. Die Forderung nach Gleichberechtigung wird mit westlicher Indoktrination und der damit verbundenen intrinsischen Absicht, den Islam zu zerstören, gleichgesetzt. Die transnationale Frauenbewegung, die international für die CEDAW eintritt, ist angesichts der Pro-Familie-Bewegung in sich gespalten. Solang sich die fundamentalistischen Vorstellungen der Geschlechterhierarchien weiter in den Gesellschaften ausbreiten, und Religionsanhänger aller Religionen an dem kleinsten gemeinsamen Nenner der männlichen Herrschaft über Frauen festhalten, solang stehen Feministinnen vor einer großen Herausforderung – und damit auch die Reformatorinnen und Reformatoren des Islams. All, das, was von der Reformation im Christentum gelernt werden könnte, wird bereits von den muslimischen Frauenrechtlerinnen umgesetzt: eine sozio-historische Auslegung der religiösen Quellen, der Glaube an die eigenen Fähigkeiten, die Botschaft zu entschlüsseln, sich gegen patriarchale Widerstände zur Wehr setzten. Da aber auch gezeigt worden ist, dass diese Widerstände nicht allein von islamistischen Akteuren ausgehen, sondern diese transnational

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i­nterreligiös vernetzt sind, bleibt nur die Kooperation aller liberalen Akteure. Was muslimische Feministinnen heute deutlich machen, ist, dass es keiner Reformation im Islam bedarf, da sie bereits in Gang gesetzt worden ist. Ob sie langfristig ihre Forderungen durchsetzen können, bleibt allerdings fraglich. Der Blick sollte insofern nicht nur auf konservative Muslime und Musliminnen gerichtet bleiben, sondern sich weiter auf alle Fundamentalisten richten, die eine Gleichberechtigung als konträr zur göttlich vorgesehenen Geschlechterordnung betrachten und versuchen, diese auf allen Ebenen einzuschränken.

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Keine Reformation ohne Gleichberechtigung …

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Teil IV Vergleichende Perspektiven

Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus als Paradigmen der Entwicklung Jörn Rüsen Worum geht es? Ich gehe davon aus, dass der Islam in seinen dominanten Formen der Gegenwart mit der Kultur der westlichen modernen Gesellschaft unverträglich ist. Diese Unverträglichkeit lässt sich an folgenden Gesichtspunkten erläutern: • Säkulare Grundwerte stehen gegen religiös konzipiertes Recht (z. B. bei der Frage der Gleichheit der Geschlechter, der Gewaltenteilung in der Organisation politischer Herrschaft); • kultureller Pluralismus und religiöse Toleranz stehen einem Allgemeingültigkeitsanspruch des muslimischen Glaubens gegenüber; • religiöser Universalismus widerspricht dem säkularen Charakter der modernen Zivilgesellschaft: Entsprechend setzt sich ein theologischer Fundamentalismus der zeitgenössischen aufgeklärten Theologie der meisten christlichen Konfessionen entgegen. Es bedarf also einer religiösen Affirmation des kulturellen Säkularismus der modernen Zivilgesellschaft. Dafür ist das Beispiel der Interpretation der Menschenund Bürgerrechte von Hans Joas (2015) wegweisend. Entgegen der bisher dominierenden historischen Interpretation betont er den Einfluss christlichen Denkens auf die Entstehung und Entwicklung der Grundrechte und ersetzt die klare Trennung zwischen Säkularismus und Religionskritik auf der einen und christlich-religiöser

J. Rüsen (*)  Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_11

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Einstellungen auf der anderen Seite durch ein recht kompliziertes wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Ausgehend von dieser Problemlage stehen die Veränderungschancen des Islam und seiner inneren Historizität infrage. Der Islam hatte eine kulturelle Blütezeit vom 9. bis zum 13. Jahrhundert. Er konnte aber das damals erreichte intellektuelle Niveau nicht halten und verfiel. Im 19. Jahrhundert gab es dann Versuche, ihn an die westliche Entwicklung anzupassen. Diese Versuche haben zu keinem bleibenden Ergebnis geführt. Gegenwärtig gibt es Ansätze in Europa, der Erwartung oder gar dem Gebot der Anpassung des Islam an die kulturellen Normen der westlichen Modernität zu entsprechen. Dafür stehen beispielhaft die kürzlich verstorbenen Kulturwissenschaftler Mohammad Arkoun (2005, 2009) und Nasr Abu Said (2008). Die Forderung einer solchen Anpassung stellt für den Islam und seine Kritiker ein Problem dar: Die oben aufgelisteten Widersprüche und Probleme und die daraus folgenden Zumutungen seiner Veränderung kommen dem Islam zumeist nur von außen zu. Diese Veränderungen sind aber nur dann erfolgreich und langfristig wirksam, wenn sie von innen, aus dem Glaubensleben der Muslime und seiner theologischen Auslegung stammen. Als historisches Beispiel für eine solche innere Verwandlung werden heute die Reformation und der europäische Humanismus angeführt.1 Was lässt sich aus ­diesen Beispielen für die gegenwärtige Situation des Islam ableiten oder lernen?

Historische Exempla als Paradigmen Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass das historische Denken über eine sehr lange Zeit seiner Geschichte sich selbst als Sammlung von Beispielen für die Regelung aktueller Probleme aus der historischen Erfahrung verstanden hatte. Es folgte der Logik einer exemplarischen Sinnbildung, für die der Slogan Ciceros „historia vitae magistra“ steht: die Geschichte lehrt Beispiele dafür, wie menschliches Handeln mit welchen Konsequenzen erfolgt. Aus ihr lassen sich also durchaus Anweisungen für die Praxis der Gegenwart gewinnen.2 Diese Denkweise gibt es immer noch, aber sie ist durch eine spezifisch moderne Ausprägung des historischen Denkens überholt (Koselleck 1979, passim). Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich die Logik des historischen Denkens ver-

1So 2Zu

z. B. bei Ourghi (2016, S. 13). den Typen historischer Sinnbildung siehe Rüsen (2013a, S. 209 ff.).

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ändert: Zukunftserwartungen lassen sich nicht mehr hinreichend aus der Erfahrung der Vergangenheit herleiten und Handlungen relevant begründen. (Dafür steht das bekannte Zitat des großen deutschen Historikers des 19. Jahrhunderts, Leopold von Rankes (1795–1886): „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ (Ranke 1855, S. VIII; 1973, S. 137). Es ist also aus grundsätzlichen geschichtstheoretischen Überlegungen ein Irrweg, historische Entwicklungen der Vergangenheit zum Muster erwünschter Entwicklungen in der Zukunft zu nehmen. Somit ist die schlichte Heranziehung der Reformation als Vorbild nicht überzeugend. Ist damit aber die Geschichte aus dem Spiel des Denkens ausgeschieden, das die Modernitätsverträglichkeit des Islam aus historischen Erfahrungen erörtern möchte? Nein, denn das moderne historische Denken hat ja seine eigene Logik der Beziehung der Vergangenheit auf gegenwärtige Lebensumstände und Problemlagen. Statt Beispielen aus der Vergangenheit, aus denen sich allgemeine Regeln ableiten und auf gegenwärtige Verhältnisse anwenden lassen, geht es ihm um Entwicklungen oder Tendenzen, die in der Vergangenheit angelegt sind, die gegenwärtigen Lebensverhältnisse in ihrer zeitlichen Dimension bestimmen und Zukunftsperspektiven eröffnen. Hinsichtlich der Problemlage im Verhältnis von Islam und Moderne möchte ich drei solcher Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung des Westens von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart herausgreifen: • eine Pluralisierung des religiösen Glaubens, • eine generelle Rationalisierung der kulturellen Orientierung (hier kann die Religion als regressive Eingrenzung und Schwächung der aufklärenden Vernunft oder aber als Fundierung dieser durch die mentale Tiefe des religiösen Glaubens wirken), • eine Individualisierung des Menschen, die zur Autonomie seiner Subjektivität über alle gesellschaftlichen Vorgaben hinausführen kann.

Die Reformation im historischen Selbstverständnis der Moderne Auf den ersten Blick ist die Reformation alles andere als ein Modell für die Modernisierung des Islam. Luther war, wie die historische Forschung überzeugend nachgewiesen hat, ein durch und durch mittelalterlicher Mensch und hätte die Kultur der Moderne aus seinem Glaubensüberzeugungen heraus abgelehnt. Nichts-

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destoweniger sind aber aus den Folgen seines Wirkens und dann insbesondere aus verwandten reformatorischen Bewegungen wie den protestantischen Sekten und dem Calvinismus mächtige Impulse der Modernisierung hervorgegangen. Diesen von Luther und den anderen Reformatoren durchaus nicht beabsichtigten Entwicklungen wäre zu folgen, wenn es darum geht, den Islam in eine historische Perspektive zu rücken, in der eine ähnliche Verwandlung geschehen könnte. Ich möchte eine Tendenz herausgreifen, die mir aus bestimmten Gründen besonders wichtig zu sein scheint: die Subjektivierung und Individualisierung des religiösen Glaubens. Sie betrifft den Kernbestand aller Weltreligionen. Die Weltreligionen haben sich in einem kulturellen Evolutionsschritt herausgebildet, den wir im Anschluss an Karl Jaspers als „Achsenzeit“ bezeichnen (Jaspers 1949, 1963, Teil I/10). Um zu verdeutlichen, worum es geht, möchte ich von einer anthropologisch universellen Grund-Unterscheidung der menschlichen Lebensform zwischen dem Menschen und seiner Kultur, der ihn umgebenden Natur und der übernatürlichen Welt ausgehen. Die achsenzeitliche Wendung zur Weltreligion bedeutet eine schärfere Trennung und komplexere Vermittlung dieser drei Dimensionen. Die menschliche Subjektivität formiert sich als ein eigenes Verhältnis des Menschen zu sich selbst, die göttliche Welt bekommt eine transzendente Dimensionierung, und die Natur gewinnt an Gegenständlichkeit. Das ist natürlich äußerst abstrakt formuliert, aber es ermöglicht eine scharfe Profilierung des Faktors, der für die Reformation hinsichtlich der Formierung menschlicher Subjektivität in der Neuzeit und Moderne wesentlich ist. Die Reformation wirft das menschliche Selbst gleichsam auf sich selbst zurück, indem sie die von der Kirche angebotenen Vermittlungen mit der göttlichen Welt als Verfälschung der Beziehung zu ihr zurückweist. Dadurch gewinnt das Selbst in seiner religiösen Grundeinstellung (Glaube) eine fundamentale Bedeutung. Luther hat das mit seiner Formulierung „sola fide“ zum Ausdruck gebracht. Sie besagt, dass der Mensch allein durch den Glauben und nicht durch irgendwelche kultischen Handlungen seine Erlösung erfährt. In seiner frühen Reformationsschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) unterscheidet er scharf zwischen der Innenbeziehung des religiösen Glaubens zu Gott und der Außenbeziehung des menschlichen Selbst zur Welt. In der Innenbeziehung ist der Mensch „ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“, während er in der Außenbeziehung „ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ ist. Es kommt nun alles auf die innere Beziehung an: „Ich habe kurzweg alles auf den Glauben gestellt, dass, wer ihn hat, alles haben und selig sein soll; wer ihn nicht hat, soll nichts haben.“ (Luther 1964, S. 162, 167). Diese Freiheitsvorstellung hat im Lichte ihrer späteren

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Interpretation seit der Aufklärung im deutschen Kulturprotestantismus Epoche gemacht. Sie ließ sich in den Grenzen des religiösen Glaubens nicht halten, sondern wirkte sich auf die kulturelle Orientierung insgesamt bis zu einer geradezu säkularen Dimensionierung (etwa bei Richard Rothe [1799–1867]) aus. Für diese epochale Wirkung möchte ich drei Belege anführen: einmal die Hegelsche These vom Beginn der Neuzeit mit der Reformation. Hegel (1770– 1831) war als Zeitgenosse der Französischen Revolution mit der Frage konfrontiert, ob es nicht in Deutschland eine zu dieser Revolution analoge Veränderung des menschlichen Weltverhältnisses gegeben habe. Er hat diese Frage nachdrücklich bejaht und darauf hingewiesen, dass die Kultur Deutschlands eine solche Revolution deshalb nicht brauche, weil der von ihr bewirkte Freiheitsschub schon durch die Reformation stattgefunden habe. „Hiermit ist das neue, das letzte Panier aufgetan, um welches sich die Völker sich sammeln, die Fahne des freien Geistes […]. Dies ist die Fahne, unter der wir dienen und die wir tragen. Die Zeit von da bis zu uns hat kein anderes Werk zu tun gehabt und zu tun, als dieses Prinzip in die Welt hinein zu bilden […].“ (Hegel 1970, S. 496). Mein zweiter Zeuge ist Ernst Troeltsch (1865–1923), der große Theologe des Kulturprotestantismus. In seiner 1911 erschienenen Schrift „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ hat er zusammenfassend so geurteilt: „Die moderne Kultur ist […] hervorgegangen aus dem großen Zeitalter der kirchlichen Kultur, die auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung und auf der Organisation dieser Offenbarung in der Erlösung- und Erziehungsanstalt der Kirche beruhte.“ (Troeltsch 1911, S. 9). Er meint damit nicht nur die Reformation, sondern das Christentum insgesamt. Dem Protestantismus weist er dann eine sehr komplexe Rolle bei der Entstehung der Moderne zu. Einerseits ist er ganz vormodern; dann aber hat sich aus seiner Vertiefung und Verschärfung des persönlichen Glaubens als einziger Quelle des religiösen Heils – durchaus gegen die Absichten der Reformatoren – eine Grundeinstellung moderner Weltdeutung und menschlicher Selbstverständigung entwickelt. Dafür steht kein einheitlicher Protestantismus und keine einheitliche Idee der Reformation, sondern in ganz unterschiedlichen Verbindungen und Kontexten seine Ausprägung in verschiedene Gruppierungen und Glaubensausrichtungen. In dieser komplexen Gemengelage reformatorischer Bewegungen kommt es dann in zum Individualismus der menschlichen Subjektivität, zum Pluralismus religiöser Einstellungen, zur Trennung von Kirche und Staat, der „Überzeugungs- und Meinungsfreiheit in allen Dingen der Weltanschauung und der Religion“, zur Auffassung von der „Unantastbarkeit des persönlich-inneren Lebens durch den Staat.“ (Ebd., S. 63) Mit all dem war die Anerkennung einer säkularen Dimension der menschlichen Welt verbunden.

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Religiöse Subjektivität und säkulare Welt stehen sich nicht mehr als Gegensätze gegenüber, sondern die eine versteht die andere als Ort ihrer Bewährung und Verwirklichung. Im Anschluss an Georg Jellinek (1895) (dessen Thesen kürzlich von Joas aufgegriffen und in neuer Form verteidigt wurden) spricht Troeltsch dem Sektentum und dem Spiritualismus, die beide Ableger der Reformation sind, die Vaterschaft an den Menschen- und Bürgerrechten zu (Troeltsch 1911, S. 62). Der Protestantismus wirkte in diesen Tendenzen zur Moderne hin ganz unterschiedlich. Durchschlagend war seine Verbindung mit der Aufklärung, die ihm eine „emphatisch-emanzipatorische Ausrichtung“, insbesondere in der deutschen intellektuellen Elite verlieh. Im 19. Jahrhundert wurde Protestantismus zu einem „Bewegungsbegriff für die Einheit von denkender Religion, fortschreitender Kultur und freiheitlichem Staat.“ (Graf und Sparn 2009, Lemma „Protestantismus“ S. 503). Seine „Verbindung von Weltfrömmigkeit wurde in aktive Bürgerfreiheit und fortschrittliche Modernitätsfreude überführt.“ (Ebd.). Mein dritter Zeuge schließlich ist einer der bedeutendsten protestantischen Theologen nach Ernst Troeltsch, Paul Tillich (1886–1956). Er hat die besondere Beziehung des religiösen Glaubens zur Profanität der Welt betont, die seiner Ansicht nach das geistige Profil des Protestantismus ausmacht. „Der Protestantismus fordert gerade aus seinem Wesen heraus eine profane Wirklichkeit. Er fordert einen konkreten Protest gegen die sakrale Sphäre und gegen den kirchlichen Stolz, einen Protest, der in der Profanität verkörpert ist. Protestantische Profanität ist ein Wesenselement der protestantischen Gestaltung. Der Prüfstein für die gestaltende Kraft des Protestantismus ist immer seine Beziehung zur Profanität. […] Protestantische Gestaltung ist eine Gestaltung, in der die ausdrücklich religiösen Formen bezogen sind auf eine sie infrage stellende Profanität.“ (Tillich 1962, S. 62). Mit diesen Aussagen beschreibt Tillich keine historische Tendenz der Reformation, sondern eine Konstellation von Subjektivität und Welt, die die Reformation hervorgebracht hat und die seines Erachtens den Protestantismus in allen seinen historischen Formen grundsätzlich bestimmt. Für den Islam kann diese Modernisierungsbewegung und ihr Resultat einer spezifischen Affinität zwischen dem Religiösen und dem Profanen durchaus anregend sein. Schließlich ist auch er durch eine religiöse Formierung menschlicher Subjektivität in Bezug auf einen transzendenten Gott bestimmt. Ob sich dieser Bezug freilich vergleichbar radikalisieren und dann in einem zweiten Schritt zur Säkularität der Welt hin öffnen lässt, steht dahin. Es hängt sicher von den Umständen ab – der Unterschied einer Modernisierung im Kontext der Moderne und einer Modernisierung zur Moderne hin ist ja eklatant und gewaltig – aber entscheidend dürfte die religiöse Substanz des Transzendenzbezuges sein: In der historisch umgreifenden Dialektik zwischen Subjektivierung des Selbst und

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Objektivierung der Welt, in der sich die Weltreligionen ausgebildet haben ist ein solche Säkularisierung der Welt durchaus angelegt. Freilich bedarf es dazu einer Befreiung der gläubigen Subjektivität vom Dogmatismus vorgegebener Glaubensdeutungen und Lebensregeln, wie sie der Protestantismus in seiner Entwicklung zum Kulturprotestantismus durchgemacht hat. Ein analoger „Kulturislamismus“ könnte ein starkes Gegengewicht zum islamischen Fundamentalismus abgeben. Dass der Islam ein Potenzial zu solcher „Kulturalisierung“ hat, zeigt ja seine eigene Geschichte.3

Humanismus Das Paradigma des westlichen Humanismus ist im Islam anschlussfähig. Dieser kennt in seiner kulturellen Blütezeit einen Bezug zur klassischen Antike, der sich durchaus mit dem frühneuzeitlichen Humanismus im Westen vergleichen lässt (und zu dessen historischen Voraussetzungen gehört). Auch hier wurden Spielräume intellektueller Diskurse eröffnet, die einen religiösen Dogmatismus nicht zuließen. Aber einen über diesen intellektuellen Aufschwung hinausgehenden modernen Humanismus hat es, wenn überhaupt, nur in Ansätzen gegeben (Reichmuth et al. 2012, passim). Diese Ansätze wurden, inspiriert durch ihren Kontext, in Europa entwickelt. Beispielhaft dafür stehen die Namen Naṣr Ḥāmid Abū Zaid und Mohammad Arkoun (s. o.). Eine breite intellektuelle Entwicklung, die den Menschen ins Zentrum der Erörterungen gestellt hätte und von seiner Würde aus Grundlinien einer kulturellen Orientierung entwickeln könnte, gibt es nicht. Noch nicht? Der moderne westliche Humanismus ist im Unterschied zum frühneuzeitlichen überwiegend säkular geprägt. Er verdankt sich der Religionskritik der Aufklärung und entwickelt eine Vorstellung vom Menschen, die ihn ins Zentrum der Weltdeutung in theoretischer und in praktischer Hinsicht stellt. Maßgebend für ihn sind eine universalistische, zugleich empirisch ausgelegte und normativ angelegte Vorstellung von der Menschheit, eine generelle Historisierung der Weltdeutung und Individualisierung des menschlichen Selbst und eine am Menschheitsideal ausgerichtete Bildungskonzeption. Dieses Menschheitsideal hebt auf Gleichheit und Würde ab. Es inspiriert die Ende des 18. und im 19. Jahrhundert entstehenden und sich institutionalisieren Geisteswissenschaften mit dem hermeneutischen

3Ein

Beispiel dafür ist die „Freiburger Deklaration – Gemeinsame Erklärung der Reformmuslime in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ vom 16.9.2016 (http://freiburger-­ deklaration.info/ – 23.9.2016).

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Prinzip, jeder menschlichen Lebensform einen Wert in sich zuzusprechen. ‚Würde‘ kommt also nicht nur dem einzelnen Menschen als Selbstzweck (Kant) zu, sondern auch den Lebensformen, die er als seine eigenen empfindet. Verbunden mit dem Individualitätsprinzip ist diese Hermeneutik also pluralistisch verfasst (Rüsen 2010, passim; 2012, passim; 2016, passim). Im Islam hat dieser Humanismus noch keine Wurzeln geschlagen, und er hat von ihm auch (noch) keine Ausprägungen erfahren, die als interkulturelle Bereicherung angesehen werden könnte. Die oben genannten Ansätze sind Ausnahmen. Sie stehen aber dafür, dass ein islamisch geprägter und befruchteter Humanismus grundsätzlich möglich ist. Dazu wäre das Verhältnis des religiösen Glaubens zur Säkularität der modernen Lebensformen und ihres kulturellen Pluralismus neu zu bestimmen, – ganz im Sinne der oben am Paradigma der Reformation ausgeführten protestantischen Vermittlung des religiösen Glaubens mit einem säkularen Weltverhältnis. Eine solche Vermittlung von Religiosität und Säkularität in der Auslegung des Menschen als Prinzip menschheitlicher und menschlicher Weltdeutung ist auch im westlichen Humanismus noch nicht durchgängig geleistet (Rüsen 2013b, passim). Umso mehr käme es darauf an, das humanistische Prinzip kultureller Vielfalt und ihrer hermeneutischen Erschließung und Anerkennung in gemeinsamen Anstrengungen zur Geltung zu bringen. Freilich steht dem eine Humanismus-Kritik entgegen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Platz gegriffen und in Friedrich Nietzsche einen radikalen Vertreter gefunden hat. Sie wurde von den sogenannten ‚Meisterdenkern‘ des 20. Jahrhunderts (wie etwa von Heidegger und Foucault) gepflegt. Hinzu kommt, dass der westliche Humanismus im Zeitalter der Globalisierung sich interkulturell neu formieren müsste. Dabei hätte er der Kritik zu begegnen, Ideologie der Unterdrückung nicht-westlicher Völker und Kulturen gewesen zu sein (Sanjay 2011, passim). So dürfte er auch gegenwärtig in den islamisch geprägten Ländern eher als Bedrohung und weniger als Chance eines interkulturellen Brückenschlags angesehen werden.

Ausblick: religiöser Pluralismus als Stabilisierung der Moderne Der Islam wird gegenwärtig mit der Herausforderung konfrontiert, sich im Verhältnis zu anderen religiösen Glaubensrichtungen zu positionieren. Das dafür in der modernen Zivilgesellschaft maßgebende Kriterium ist seit dem Ende des konfessionellen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert die Toleranz. Toleranz ist das Zugeständnis an die säkulare zivile Lebensform der Moderne, religiöse D ­ ifferenzen

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nicht mehr gewalttätig auszutragen, sondern pluralistisch stehen zu lassen. Damit schaltet sich der religiöse Glaube von den säkularen kulturellen Prinzipien der Zivilgesellschaft ab und unterwirft sich ihnen. Mit dieser Neutralität begibt er sich der Chance, selber noch etwas in der Dimension des Säkularen auszurichten wie zum Beispiel die Stärkung der menschlichen Würde durch Zuschreibung eines sakralen Fundaments.4 Das wäre dann möglich, wenn sich die unterschiedlichen Glaubensausrichtungen nicht mehr im Modus toleranter Neutralität, sondern der wechselseitigen Anerkennung zueinander verhielten. Eine solche Anerkennung verlangt eine grundsätzliche Überwindung des exklusiven universellen Wahrheitsanspruchs, der traditionell mit dem Monotheismus verbunden war. Der Monotheismus verbindet seinen Glauben mit universalen Geltungsansprüchen und setzt sich damit zu den gleichen Geltungsansprüchen anderer Religionen in ein konfliktreiches Verhältnis (Assmann 2003, passim). Wenn der religiöse Glaube auf seinen Wahrheitsanspruch nicht relativistisch verzichten will und kann, bedarf es einer neuen Theologie religiöser Pluralität. Ansätze dazu sind zur gleichen Zeit entwickelt worden wie der moderne westliche Humanismus. Maßgebend dafür sind (in heutiger Perspektive) die „Reden über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von Friedrich Schleiermacher (1799). Hier werden die Kontextbedingtheit des religiösen Glaubens und die aus ihr folgende Perspektivierung seiner Beziehung zur numinosen Welt betont. Unterschiedliche Perspektiven widersprechen sich dann nicht, sondern können sich wegen ihres gemeinsamen Bezuges auf das Numinose gegenseitig bereichern und ergänzen. „Die Religion muss also ein Prinzip, sich zu individualisieren, in sich haben, weil sie sonst garnicht dasein und wahrgenommen werden könnte; eine unendliche Menge endlicher und bestimmter Formen, in denen sie sich offenbart, müssen wir also postulieren und aufsuchen“ (Schleiermacher 1913, S. 122 f.) Die unterschiedlichen Religionen können daher nur so verstanden werden, „daß Jede eine von den besonderen Gestalten war, welche die ewige und unendliche Religion unter endlichen und beschränkten Wesen notwendig annehmen mußte“ (Ebd. S. 125). Ich würde dieses Konzept religiöser Relativität im Verhältnis bedingter menschlicher Lebensformen zur unbedingten Transzendenz des Göttlichen zu demjenigen Erbe des Protestantismus und Humanismus rechnen, an dessen Rezeption Islam und Christentum sich gegenwärtig in einem produktiven Verhältnis zueinander ausrichten und die kulturellen Grundlagen der Moderne bereichern könnten.

4Dazu

noch einmal der Hinweis auf die Arbeiten von Hans Joas (2015).

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Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive Mona Ahmad Abuzaid

Einleitung Der Begriff „Humanismus“ hat einen besonderen Zauber, weil er wie ein magischer, funkelnder Lichtschimmer daherkommt, den man sonst nur mit Aladdins Wunderlampe in Verbindung bringt. Viele sind überwältigt von diesem Begriff, der ein individualistisches und rationalistisches Interesse sowie den Drang nach Emanzipation weckt. Das, was heutzutage Humanismus genannt wird, ist zu jeder Zeit und an jedem Ort greifbar, wo Zivilisation und Kultur zu finden sind, wobei seine Natur zwischen Klarheit und Dunkelheit schwankt. Ebenso, wie er in der westlichen Geschichte unter den Griechen und Römern zu finden war und danach von der Renaissance bis heute, kann man ihn auch im muslimischen Orient finden. Zwar waren die Rahmenbedingungen in Ost und West verschieden, bedingt durch die jeweilige Kultur, wie auch geprägt von Zeit und Raum, aber auch im Okzident selbst waren sie verschieden als Ergebnis der Divergenz seiner Völker und der Verschiedenheit ihrer Kulturen und Weltanschauungen. Heutzutage bedarf es – im Okzident wie im Orient – der verstärkten Vernetzung und Begegnung durch den interkulturellen Dialog sowie der gegenseitigen Annäherung auf einer gemeinsamen Grundlage der Völkerverständigung. Dabei sollte die besondere Identität eines jeden von uns bewahrt und nicht die eine Seite gezwungen werden, der anderen zu folgen. Was uns aber verbindet, ist der Mensch als Wert an sich, sowie die Bereitschaft, sein Glück und seine Güte zu verteidigen und ihn gegen die despotische materialistische Flut zu verteidigen, die alle Werte und alle Menschen in pure Zahlen verwandelt, denen kein realer Wert entspricht,

M. A. Abuzaid ()  Helwan University, Kairo, Ägypten © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_12

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den es zu respektieren gelte. Damit wir uns gegenseitig annähern können, müssen wir uns notwendigerweise mit den Voraussetzungen des Humanismus auf beiden Seiten, im Orient wie im Okzident, vertraut machen und herausfinden, was die offensichtlichsten Unterschiede zwischen beiden sind, welche von ihnen überwunden werden können, und worin die Eigenarten der jeweiligen Seite bestehen, die keine Seite aufzugeben in der Lage ist.

Der Begriff „Humanismus“ Das arabische Wort insāniyya ist eine Übersetzung des Begriffes „Humanismus“, der sich vom Wort „human“ (Arabisch: insān) ableitet und die Authentizität des Menschen sowie die Zentralität seiner Existenz in der Welt ausdrücken soll. Der Begriff al-nazʿa al-insāniyya dürfte dem arabischen Wortschatz neu sein und obwohl er in einem Großteil der okzidentalen Literatur mehr als nur eine Bedeutung oder Sinn hat, so läuft es doch auf „the study of the humanities; learning in the liberal arts“ sowie „a system of thought that focuses on humans and their values, capacities, and worth“ hinaus.1 Nach ähnlicher Definition ist Humanismus „the belief that human problems can be solved through science rather than religion.“2 Tatsächlich meint Humanismus all jene Tendenzen und Aktivitäten, durch die der Mensch über die Normalität hinausgelangt. Das Konzept des Humanismus ist daher weder der natürliche noch der übernatürliche Mensch, sondern ein Amalgam, dass sich aus dem natürlichen Menschen und seinen Fähigkeiten zur Sublimierung zusammensetzt (Perry 1961, S. 10). Lalande (1996) definiert diese Haltung als eine ideologische Bewegung, wie sie die Humanisten der Renaissance repräsentieren, die ihrerseits gekennzeichnet ist durch den erhöhten Respekt für das menschliche Denken, dessen Wertschätzung sie dadurch begründet, dass sie die moderne Kultur an die Antike zurückbindet. Dies bedeutet nicht einfach eine Liebe zur Antike, denn das wäre blosse Verherrlichung. Eine solche wird strikt zurückgewiesen, denn Verherrlichung wird der antiken Kultur nicht gerecht, die zu verbreiten man sich vielmehr bemühen muss.3

1The

American Heritage Dictionary of the English Language (Pub. Dell Publishing co. Inc. New York), 1997. 2Longman Dictionary of Contemporary English (Great Britain, Longman), 1990, S. 511. 3Lalande Encylopedia of Philosophy, Manshurat Aawidat, Beirut, vol. 1, 1996, Lemma „Humanism“, S. 566.

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Die konzeptionelle Vielfalt von Humanismus macht deutlich, dass es keinen Konsens über diesen in den einzelnen Wissenschaften gibt, was nicht in Bezug auf die philosophischen Strömungen gilt.

Erscheinung und Entwicklung des okzidentalen Humanismus Der Humanismus geht auf das 14. Jahrhundert zurück – obwohl es schon zuvor ein Aufkeimen gegeben hat –, als der Begriff geprägt wurde. Der Begriff markiert die Verbindung der modernen okzidentalen Kultur mit der antiken und damit den Austritt aus dem Mittelalter. Daher wird die Vergangenheit nur vom Standpunkt einer Erneuerung der Gegenwart her betrachtet, und zwar im Lichte des Denkens, wie es zur Zeit der alten Griechen und Römer vorherrschend war. Jenes machte den Menschen zum Gegenstand des Interesses und des Studiums, womit er an die Spitze der Diskussion und des Denkens aufstieg. Damit wurden die vorherrschenden Strömungen des Mittelalters verdrängt, die Gott den höchsten Rang zugewiesen hatten. Der Humanismus – im Okzident – wurzelt in der griechischen Mythologie, die er wiederzubeleben trachtet. In dieser versucht der Mensch sich selbst von der Tyrannei, der Unterdrückung und den Fesseln zu befreien, die die Götter ihm angelegt haben, was er über das Wissen und Selbstverständnis zu erreichen beabsichtigt, die ihn aus der Macht der Götter entkommen lassen. Zugleich erfolgt seine Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit außerhalb der Obrigkeit. Dieser Humanismus hat vor langer Zeit bei den Griechen begonnen. Er bedeutete eine Haltung, mit der der Mensch danach strebt, über die Natur zu herrschen, um auf diese Weise Zeus zu stürzen – den höchsten Gott, der über das menschliche Schicksal entscheidet – und sich von seiner Macht zu befreien. Hier ist der Anfang für die feindliche Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zu suchen. Damals entstand die Verschmelzung zwischen dem Konzept des Göttlichen und dem des Menschen, während Homer die Götter noch auf der Spitze des Berges Olympia angesiedelt hatte, wo sie ein menschliches Leben mit all den Defiziten führten, die auch der Menschheit zu eigen sind. Auch die Intellektuellen jener Zeit schrieben sich Eigenschaften des Göttlichen zu und bezeichneten sich anfänglich selber als Weise, was eigentlich den Göttern vorbehalten war. Mit dieser Vermischung des Göttlichen mit dem Menschlichen wurde Gott vermenschlicht und der Mensch vergöttlicht. Als der Sophismus als Emanzipation von der Herrschaft der Götter und der Naturgewalten über den Menschen auftauchte, begannen die religiösen Überzeugungen ihren Einfluss auf die gebildete Klasse zu verlieren, während die

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Wissensgebiete expandierten, die ideologischen Strömungen zunahmen und die Überlieferungen der griechischen Gelehrten nicht länger geeignet schienen, Leben und Gesellschaft zu organisieren. Somit wurde es notwendig, ein politisches, moralisches und epistemologisches Denken zu begründen, das mit dem einzelnen Menschen, seinen Problemen und besonderen Bedürfnisse, sowie seinen vielfältigen Ambitionen verbunden ist, das ihn Weisheit und die weltlichen Angelegenheiten lehrt. Ebenso gelangte der bürgerliche Staat (al-dawla al-madaniyya) Griechenlands zu einem Gefühl, dass es notwendig sei, einige Individuen in den Künsten der Staatsführung auszubilden. Damals war die Athenische Demokratie auf der Freiheit der Meinungsäußerung und der Gleichheit der Rechte gegründet. Die Sophisten nahmen diese Sache auf sich, sodass ihre Arbeit sich der Suche nach dem Menschen, seiner Natur und der Qualität seiner Lebensweise sowie seiner Umgangsformen gegenüber anderen zu widmen begann. Ihre Suche galt der Ethik und Politik, während sie Naturphänomene außer Acht ließen, die zuvor die Grundlage der Philosophie gebildet hatten. Schließlich kam der Humanismus auf, dessen Trachten der Kunst und der Kultur gilt, wovon das Wort das Pythagoras: „Der Mensch ist das Mass aller Dinge“ Zeugnis ablegt. Dem Menschen ist es nicht erlaubt, sich allein mit nicht-menschlichen Dingen zu befassen, denn was die Götter betrifft, so weiß er nicht, ob sie existieren oder nicht. Diese Aussage ist „gleich einem kompletten Programm für jeden, der nach der humanen rationalistischen Kultur strebt.“ (Bréhier 1987, S. 108). Daher wurde der Sophismus zu einer Philosophie der Emanzipation; eine Philosophie, die sich auf Wissen und Ethik bezieht; eine Philosophie der beständigen Suche nach neuen Pfeilern der Wahrheit, die das Denken selbst zu einem Ort des philosophischen Interesses macht, m. a. W. sie ist die Philosophie der Aufklärung und der Emanzipation. Die Philosophie der Suche und der Kritik beruht auf der Kritik an den mytho-religiösen Überzeugungen, wie es in der griechischen Epoche geschah, die eine des Interesses am Menschen war. Diese Blickrichtung dauerte bis in die römische Zeit, bevor das Christentum auftauchte, die römischen Zustände wandelte und den Menschen auf einen neuen Kurs brachte, der um Gott und seine civitas kreist, nachdem er in der Epoche zuvor auf den Menschen und seine Bedürfnisse hin ausgerichtet war. So tat sich ein tiefer Graben zwischen beiden Seiten darüber auf, wie sie den Menschen betrachteten. Der Katholizismus übte während des Mittelalters seine Autorität über den Menschen, die Gelehrten und die Wissenschaft aus, legte im Namen Gottes dem Denken Fesseln an und widersetzte sich dem griechischen Humanismus. Womöglich war dieser für das spätere Aufleben des Humanismus verantwortlich. Die Kirche wollte das wissenschaftliche Denken und die philosophische

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Entwicklung innerhalb ihrer Weltanschauung einhegen und weiter ihre Hegemonie über die Konzepte des Seins und des Menschen ausüben. Zu diesem Zwecke bediente sie sich der Inquisitionsgerichte, mit denen sie exemplarisch das Gewissen durchforschte, wie es bei Kopernikus und Galilei der Fall war, aber auch bei Siger de Brabant. Auf diese Weise verhinderte die Kirche das kritische rationalistische Denken und unterband den lateinischen Averroismus (Bréhier 1987, S. 199). Die Kirche hatte auch die Vorstellungen von den Künsten beeinflusst, sodass diese sich in der Kirche auf die Darstellung von Engeln, Propheten und Heiligen konzentrierte. Der Glaube regierte das künstlerische Bewusstsein, was sich in einer großen Anzahl von Künsten niederschlug, darunter Malerei, Architektur und Bildhauerei, die enorme Leistungen vorzuweisen hatten. In dieser Phase konzentrierten sich die Künste auf den außergewöhnlichen Menschen, dessen Bild sich in Darstellungen von Propheten und Heiligen niederschlug, deren Gesichter hinter einem Heiligenschein verblassten. Damals waren das Denken, die Wissenschaften und die Künste darauf angelegt, Inspiration im Christentum zu suchen, um eine Theorie des Seins und des Werdens zu begründen, die auf Gott und Glauben basiert, während der Mensch mit seiner Erfahrung, Individualität und Freiheit in diesem Denksystem keinen Platz hatte. Am Ausgang des Mittelalter kämpften daher zwei Seiten miteinander: Die erste ist die religiöse. Ihr Fundament ist der Gottesglaube, der seine Anhänger zum Königreich der Himmel führt und die Doktrinen der Dreifaltigkeit, Erlösung und Menschwerdung proklamiert. Religion lehrt Askese und Rückzug vom irdischen Leben, sucht nach dem Weg zur Erlösung und orientiert sich an der Harmonie mit supranaturalen Überzeugungen oder folgt dem Vorbild einer Person, die die Kausalitäten und Gesetze der Natur in die Knie gezwungen hat. Dies zeigt sich in den Briefen des Hl. Paulus, der die Weisheit des Christentums gegenüber der griechischen Philosophie und den Glauben an Christus gegenüber der Vernunft – bei den Griechen – festgelegt und die Erlösung durch das Kreuz und die Errettung der Menschheit gepriesen hat, wobei er sowohl die Philosophie als auch die Philosophen kritisierte. Die zweite ist die Philosophie in ihrem Glauben an die Notwendigkeit und ihrer Orientierung an der Vernunft; sie studiert die Phänomene und die Dinge ohne Vorbehalte und ohne höhere absolute Macht. Anzeichen für diesen Kurs wurden seit dem 12. Jahrhundert sichtbar, das Zeuge einer großen intellektuellen Neugier wurde und sich selbst „in mancherlei Hinsicht als Rückkehr zum antiken Humanismus“ verstand (Bréhier 1987, S. 61). In ihrem Menschenbild unterschieden sich beide Seiten immens voneinander, wobei die Lehren von Paulus und anderen Aposteln davon ausgehen, dass der Mensch in seinem innersten Wesen amoralisch und unfähig ist, sich selbst dem

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Bösen zu entsagen, mit dem er als Ergebnis der Ursünde verwoben ist. Auch unterscheidet sich der pessimistische Blick auf den Menschen enorm von der Sichtweise, wie sie von den Griechen überliefert ist, da in der griechischen und römischen Epoche der Mensch die Achse der Suche bildete, bevor er im Mittelalter durch Gott ersetzt wurde. So wie das griechische und römische Denken der Antike versuchte, sich der göttlichen Mächte zu entledigen, versuchte das westliche Denken der Renaissance sich vom Göttlichen, wie der Katholizismus es verstand, zu lösen. Damit trat der Humanismus erneut als eine Haltung hervor, die danach strebte, dass sich die menschliche Seele von den Einflüssen des rigiden Katholizismus befreit. Als die Dissonanz zwischen dem Geist des Mittelalters und dem der Renaissance offenbar wurde, reagierte ersterer auf die göttliche Offenbarung, indem er sich der Askese und dem Spiritualismus zuwandte, der die Furcht vor dem Körper und die Angst vor dessen Neigungen und Passionen beinhaltete. Er respektierte die Freude an der Schönheit und gab sich mit der Unwissenheit der Menschen zufrieden, die auf diese Weise gezwungen waren, mit den Vorschriften der Religion konform zu gehen. Damit wurde die Suche eingeengt auf den Fortschritt des spirituellen Daseins und dem Verlangen nach Erlösung, was auf die Befreiung vom Leben und die Peinigung des Körpers hinauslief und letztlich zur Verdammung der Bildhauerei wie auch der experimentellen Wissenschaften führte. Dieser Geist reduzierte das Wissen auf Theologie und Metaphysik, weil diese den einzigen Weg zur Erlösung bedeuteten. Was das Zeitalter der Renaissance betrifft, so verhielt es sich spiegelbildlich, da ihm das völlige Vertrauen in die Vernunft zu eigen war und es in der Liebe zum Wissen schwelgte. Es hatte ein starkes Interesse an der Wissenschaft und ebensolchen Respekt vor ihren Vertretern, liebte das Schöne, begeisterte sich für die Natur und entflammte sich für das Heiligtum des Lebens. Seit damals wurden körperliche Darstellungen in den Künsten vielfältiger und die Wissenschaft nahm sich der Beobachtung von Naturphänomenen an, wobei sie willkürliche Doktrinen aufgab und mit althergebrachten Traditionen wie auch verbreiteten Annahmen brach (Tawil 1976, S. 160–1). Die Gelehrten und Vorreiter der Renaissance versuchten, die Lehren und die Kultur des Mittelalters zu unterbinden und riefen dazu auf, die antike klassische Kultur wiederzubeleben. So wurden die Menschen allesamt (der Poet, der Künstler, der Autor, der Prediger und der Durchschnittsbürger) zu Humanisten. Das hervorstechende Merkmal im Denken jener ist das starke Festhalten an allem, was mit der griechischen Epoche verbunden war, seitdem die Renaissance um des wahren Wissens willen auf die Antike schaute (Perry 1961, S. 106). Der westliche Humanismus trank aus derselben Quelle wie die alten Griechen. Der humanistische Geist

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verbreitete sich und wurde unter vielen intellektuellen, literarischen und künstlerischen Strömungen populär, bis seine Wesenszüge in jedem Element der westlichen Kultur auftauchten, von denen folgende zu nennen sind: 1. Die Reformation. Zunächst festigte die Vernunft ihre kraftvolle Mittelstellung zwischen den religiösen Ideen, bevor sie eine Schneise in die christliche Tradition zu schlagen vermochte. Dann tauchten zum ersten Mal tauchten religiöse Ideen auf, die klar und deutlich aus dem Mittelalter kamen und die sich in der Reformation manifestierten. Etwas von der humanistischen Strömung und ihrer Zurückweisung des traditionellen Begriffs vom Niedergang der menschlichen Natur und ihrer Schwäche sickerte in die Religion ein, während sie die Moral und das Ideal des Menschen stärkte. Ebenso drang der Geist der neuen Wissenschaft in sie ein, der darauf abzielte, all die Überzeugungen und Traditionen der Vernunft und dem diesseitigen Nutzen unterzuordnen, während es die religiöse Tradition heftig kritisierte (Randall 1958, S. 413–4). 2. Der Angriff auf die aristotelische Wissenschaft. Die Menschen im Westen begannen, sich im Angesicht einer Wissenschaft unwohl zu fühlen, die als Ausgangspunkt von Problemen erschien, die mit dem komplizierten neuen bürgerlichen Leben verbunden waren, gleich ob es die Welt der Menschen oder die der Natur betraf. Pierre Ramus, ein französischer Gelehrter und Anhänger des Humanismus im 16. Jahrhundert, erklärte öffentlich, dass „alles, was Aristoteles lehrte, falsch [ist], während er uns ein lebendiges Bild für den Missbrauch des demonstrativen Beweises gab.“ Francis Bacon kritisierte in seinem Buch De dignitate et augmentis scientiarum, erschienen 1605, die Wissenschaften des Mittelalters dahin gehend, dass die meisten Menschen einer Methodik bedürften, um der neuen Wahrheiten teilhaftig zu werden und es nicht genüge, sie die bekannten Fakten zu lehren und zu beweisen. Descartes hat 1637 die Dinge derart auf den Punkt gebracht, dass die Art der Analogie und die meisten Lehrmethoden mehr zu einer Interpretation dessen taugen, was Menschen bereits wissen, als dazu, neues zu lehren (Randall 1958, S. 323). 3. Die Befreiung des Verstandes. Vor der Renaissance war der Mensch ein Individuum innerhalb einer Gemeinschaft, das mit dessen Mitgliedern weiterzog und in dessen Bewusstsein handelte. In der Renaissance forderte er dann die Autonomie seiner Persönlichkeit zurück und perfektionierte seinen Individualismus, der nach der griechisch-römischen Epoche ausgeschaltet worden war. Die Vorreiter dieses neuen Denkens stimmten darin überein, dass die alten Bücher und die religiöse Herrschaft als Quelle der Wissenschaft über die Natur des Seins zurückzuweisen sei, während die Vernunft in ihrem Versuch, das Unbekannte zu erforschen, verschiedene Formen annahm (Koyré 1937). Sie erhielt nicht

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zuletzt durch die Erfindung der Druckerpresse weiteren Auftrieb und weitere Verbreitung, infolgedessen das Wissen der Menschen zunahm und viele ihrer falschen Annahmen korrigiert wurden. Dies führte zu einer massiven Zunahme an Intellektuellen, sodass es in Europa um 1500 mindestens neun Millionen Bücher gab, die 30.000 Titel in einer Auflage von mehr als tausend Stück umfassten. Die Kultur dehnte sich aus, nachdem sie zuvor in hohem Masse auf die Priesterschaft begrenzt gewesen war. Mit der Möglichkeit der schnellen Verbreitung von Wissen und Überzeugung kam es zu dem, was man das Zeitalter der Aufklärung nennt (Randall 1958 191–192). 4. Freiheit. Der Humanismus war in seiner Anfangsphase ein Ruf nach Freiheit (Perry 1961, S. 57), wobei die Hauptströmung dagegen rebellierte, dass der Freiheit in der Sphäre der Ethik und der Umgangsnormen wie auch in der der Wissenschaften, Philosophie und Künste Fesseln angelegt wurden. Als das Band der Ethik und der Umgangsnormen gelöst wurde, erstarkten die Leidenschaften und griff die Korruption um sich. Diese verschluckte das ganze Zeitalter, bis fast jeder von ihr erfasst war, auch wer sich mit den Gewohnheiten nicht arrangieren mochte. Das größte Debakel dieser Epoche war der Verlust des Glaubens und die Emanzipation von der Ethik, woran auch der Klerus nicht unbeteiligt war. Im Jahre 1701 veröffentlichte Pierre Charron ein Buch unter dem Titel De la sagesse, in dem er behauptet, dass Ethik nicht auf der Religion basiert, und in dem er die Geschichte des Christentums auf eine Weise darstellt, dass vor allem die Übel deutlich werden, die es zu verantworten hat. Charron zufolge steht die Lehre von der Unsterblichkeit der Seelen den Überzeugungen der Menschen am nächsten, sie sei jedoch für die menschliche Vernunft die unglaubwürdigste. Der Humanismus entwickelte sich während der Renaissance, durchlief die moderne Philosophie und tauchte bei René Descartes (1596–1650) auf, der gemeinhin als „Vater der modernen Philosophie“ bezeichnet wird, da in seinem Denken der Mensch eine zentrale, bis dahin nicht gekannte Rolle einnimmt. Descartes schuf eine verbesserte geistige Grundlage für Ideen und Theorien, deren Kern die Auffassung bildet, dass sein Bewusstsein der Ausgangspunkt für alles ist, was den Menschen umgibt. Descartes’ Wort „Ich denke, also bin ich“ ist die Achse, um die alle Dinge kreisen. Der Mensch muss sich selbst auf die bestmögliche Weise kennenlernen, ohne dass Gott eingreift. Es war Blaise Pascal, der Descartes beschuldigte, der Vernunft größeren Wert als Gott beizumessen, und deshalb sagte: „Ich kann Descartes nicht vergeben,

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noch mich mit ihm abfinden, dass seine Philosophie Gott keine wichtige Stellung zubilligt.“ Viele europäische Philosophen folgten jedoch Descartes, angeführt von dem deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), dessen kritische Denkweise den Menschen aufwertete, indem er ihn zur Essenz der Dinge und zu ihrem verborgenen Geheimnis machte. So gab er dem modernen Humanismus eine neue Definition vom Menschen, dessen Wert nun nicht länger von seinen göttlichen Wurzeln abhängig ist, sondern von seinen geistigen Fähigkeiten und seinem Können herrührt, seine Umwelt zu organisieren. Man kann sagen, dass die Geschichte der okzidentalen Kultur die eines Kampfes zwischen diesen beiden gegensätzlichen Strömungen ist: der wissenschaftlichen und der religiösen. In ihrer gegenwärtigen Form haben beide ungeachtet ihres unterschiedlichen Verlaufs ihre Wurzeln im westlichen Humanismus, der im Okzident einzigartig ist. Im zeitgenössischen Denken finden sich unterschiedliche Weltanschauungen – Marxismus, Existenzialismus, Liberalismus –, die sich nicht auf einen gemeinsamen Begriff des Menschen einigen können. Was auch immer die Definition sein mag, so ist sie u. a. abhängig von der religiösen Überzeugung, der wissenschaftlichen Perspektive oder der Philosophie, denn es gibt keine präzise Definition von Humanismus, ob logisch oder mathematisch, weil „die unterschiedlichen Bedeutungen, die mit diesem Ausdruck verbunden sind, nur das Denken unterschiedlicher Zeitalter der Menschheit und verschiedener Personen und sozialer Inhalte widerspiegeln.“ (Perry 1961, S. 9). Es gibt so viele Begriffe wie es Strömungen gibt und jeder Philosoph ist überzeugt davon, dass er die tragende Idee gefunden hat. Doch unterscheiden sich die Interpretationen dramatisch, sodass der eine dem anderen widerspricht, wobei jeder einzelne Denker uns das Bild präsentiert, das er von der menschlichen Natur zeichnet. So hat Nietzsche sich dem Prinzip des Willens zur Macht verschrieben, Freud der enttäuschten Libido, hat Marx den ökonomischen Instinkt betont und jede Theorie presst die Fakten in das Prokrustesbett einer Deutung, die die Fakten entsprechend ihrer Tauglichkeit als Symptom behandelt (Cassirer 1961, S. 61). Wegen dieser Vielfalt hat die moderne Theorie vom Menschen ihr geistiges Zentrum verloren, an dessen Stelle das theoretische Chaos getreten ist. Wie wunderbar war der große Mangel an Meinungen und Theorien zu diesem Thema in früheren Epochen, gab es doch zumindest eine allgemeine Richtung, während heutzutage der persönliche Faktor überwiegt und die persönlichen Neigungen des Autors die entscheidende Rolle spielen. Folglich ist jeder Autor nur auf seine eigene Meinung und seine eigene Methodik bedacht, wenn es um die Anthropologie geht.

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Der östliche Standpunkt gegenüber dem westlichen Humanismus Zunächst sei gefragt, wie es uns als orientalisch Denkende möglich ist, vom okzidentalen Humanismus zu profitieren. Können wir uns, im Okzident wie im Orient, auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen? Verfügen wir über dieselben Voraussetzungen, die zur Herausbildung dieses Phänomens im Okzident geführt haben und haben wir dieselben Motive? Hat der Orient eine besondere humanistische Sicht, die von seiner Kultur zehrt? Oder ist der okzidentale Humanismus das Ziel unserer Wünsche? Ist der Humanismus im Westen nicht gescheitert und bedarf er nicht der Abmilderung, um ihn dem Orient in einer humaneren und akzeptableren Form näherzubringen? Heutzutage ist es für uns Orientalen schwierig, einen präzisen Begriff zu finden, der den westlichen Humanismus bezeichnet, vor allem, da der Begriff je nach Ideologie anders verstanden wird. Einmal wird mit ihm die Arbeiterklasse verherrlicht, ein anderes Mal der Pragmatismus gepriesen und ein drittes Mal die Freiheit glorifiziert. Das ist nicht unsere Meinung, sondern die eines westlichen Intellektuellen, Max Scheler, der sagt: „Zu keiner Zeit des menschlichen Wissens war der Mensch, was er heute in unserer Epoche ist. Wir verfügen über keine klare und solide Vorstellung von Anthropologie; unsere Vorstellung vom Menschen ist zunehmend chaotisch und dunkel geworden, anstatt klarer.“ (Scheler 1928, S. 13).4 Wir werden dies anhand einiger philosophischer Ausdrücke demonstrieren, die in diese Richtung gehen. So sieht Nietzsche den Menschen als höchstes Wesen, von dem er prophezeit, dass es erst in einem paganen Zeitalter zur Existenz gelangen werde. Karl Jaspers wiederum betont, dass der Mensch kein Gott, aber der Schöpfer von Werten ist. Albert Camus ging sogar so weit zu sagen, dass nichts auf dieser Erde von Bedeutung sei und erst der Mensch den Dingen eine Bedeutung abfordere. Wenn Camus die Gegenwart des Menschen bestätigt, dann macht Sartre diese Gegenwart von der Abwesenheit Gottes abhängig. Denn der Mensch existiert nur, wenn er jede absolute Existenz verwirft. Seine Ansicht geht so weit, Gott den Erhabenen durch den menschlichen Gott zu ersetzen, indem er verkündet, dass „die humanistischen Philosophen nicht versucht haben und nicht versuchen, sich selbst von der Knechtschaft Gottes und den Glauben an seine erhabene Existenz zu emanzipieren, sodass alles, was sie getan haben, nur die Ersetzung eines Namens durch einen anderen ist.“ (Davies 1927, S. 124).

4Rückübersetzt

aus dem Arabischen, da mir das dt. Original nicht zugänglich war (Anm. d. Ü.).

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Karl Marx betrachtet den Sozialismus als weiteren Ausdruck des Humanismus und sieht in jenem das höchste Gut, das die Entfremdung des Menschen von sich selbst aufheben werde. Selbst wenn die Theorie des Naturrechtes plausibel wäre, bliebe sie doch eine Täuschung, weil sich hinter ihr Klassenunterschiede und ökonomische Privilegien verbärgen. Dies nimmt Marx zum Ausgangspunkt, um die schädlichen Elemente aufzudecken, die in den Ansprüchen des Liberalismus enthalten sind. Obwohl diese Denker sich gegen eine Vereinnahmung ihrer Gedanken wehrten, so haben sie sie doch selbst kanonisiert. Sie wollten den Menschen an die Stelle Gottes setzen, die Philosophie an die der Religion und die göttliche Mythologie zu einer Anthologie machen, die von einer Gleichung ausgeht, die im Wesentlichen besagt, dass jede Negierung des Göttlichen den Menschen stärkt und alles, was den Menschen stärkt, das Göttliche negiert. Diese Einstellung vermenschlicht das Göttliche allein durch die Vergöttlichung des Menschen, enthebt diesen allein deshalb von seinen religiösen Bindungen, um ihn unter die Tyrannei der Gesellschaft zu stellen, setzt der äußeren Knechtschaft nur Grenzen, um Knechtschaft beständiger zu machen, und zieht die Zügel fester, indem sie die äussere Knechtschaft zu einer inneren macht. Wenn dies auch die okzidentale Position gegenüber dem Göttlichen war, so war es doch nicht die orientalische, denn es gibt einen Unterschied zwischen beiden, der sich in folgenden Eigenschaften und Grundpfeilern niederschlägt: • In der griechischen Vorstellung haben die Götter Prometheus dafür bestraft, dass er das heilige Feuer vom Himmel stahl und zur Erde brachte, damit die Menschheit Nutzen aus ihm ziehen könne. Die Bestrafung der Götter war hart. Was den Islam betrifft, so hat Gott Luzifer dafür verflucht, dass er sich nicht vor dem ersten Menschen, Adam, niedergeworfen hat, doch als Adam seinem Herrn erst nicht gehorchte, dann aber bereute, da vergab Gott ihm seine Schuld. Dies steht im Widerspruch zur griechischen wie auch zur katholischen Auffassung. • Gott hat sein Vertrauen in den Menschen gesetzt, als er ihm das Wissen gab („Und er lehrte Adam aller Dinge Namen …“)5 und die Offenbarung seinen Propheten sandte, damit sie die Menschen dazu aufrufen, die Dunkelheit zu verlassen und ins Licht zu treten. So wurde der Mensch zu Gottes Stellvertreter (ḫalīfat Allāh) auf Erden und von Gott beauftragt, diese zu kultivieren, ist sie doch die Bühne seines Wirkens, auf der er Belohnung und Strafe erhält.

5Koran

2: 31, dt. Übers. hier und im folgenden von Max Henning (Anm. d. Ü.).

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• Der Mensch wird im Islam dafür geehrt, dass er die Brücke zwischen der himmlischen und der irdischen Welt darstellt. Dieser Ehre wird er teilhaftig, weil alle Engel sich vor ihm niederwerfen, während die Natur ihm unterworfen ist, denn „Er ist’s, der für euch alles auf Erden erschuf.“6 • Der Islam betrachtet den Menschen als Schöpfer des göttlichen Willens, Vollstrecker der göttlichen Gerechtigkeit und Bewahrer der universellen Gesetze. Er geht in seiner Wertschätzung aber nicht so weit zu übertreiben und anstelle eines gemäßigten Menschenbildes ein überzogenes zu setzen, das den Menschen vergöttlicht, wie dies einige westliche Intellektuelle getan haben. • Der Himmel hat den Menschen von den übrigen Geschöpfen dadurch unterschieden, dass er ihm die Vernunft gegeben hat – diesem großartigen Geschöpf, dem nach Gott kein anderes im Universum gleichkommt. „Das erste, was Gott schuf, war die Vernunft. Zu ihr sagte Er: „Komm hervor!“ und sie kam hervor. Dann sagte er zu ihr: „Wende dich!“ Und sie wandte sich. Dann sagte Er zu ihr: „Sei mein Stolz und meine Herrlichkeit, denn es gibt nichts, was edler wäre als du. Durch dich nehme ich, durch dich gebe ich, durch dich belohne und durch dich bestrafe ich“.“7 Das Merkmal, mit dem der Himmel den Menschen vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet hat, ist – aus der Sicht des Islam – die Vernunft. Sie ist, was dem Menschen die Eignung zur Verpflichtung (taklīl) und zur Übernahme von Loyalität gibt, sodass er zur Rechenschaft gezogen und belohnt oder bestraft werden kann. • Der Mensch verfügt im Islam über die volle Freiheit des Willens und der Meinung. Im Islam gibt es keine Institutionen, die willkürlich über seine Weltanschauung urteilen, wo es doch eine Verbindung zwischen ihm und dem Himmel gibt. Jeder Mensch steht für sich in Beziehung zum Heiligen, die eine besondere und einzigartige Beziehung ist, die keine persönliche oder institutionelle Einmischung kennt. Daher existierte die religiöse Unterdrückung, die in die humanistische Bewegung in Europa hineinstieß, als die Kirche – neben ihrem spirituellen Einfluss – die Stelle eines weltlichen Herrschers einnahm und die Freidenker bestrafte, indem sie ihre Bücher konfiszierte, den Autor oder Verleger einkerkerte oder beide zur

6Koran

2: 29 (Anm. d. Ü.). cf. Biḥār al-Anwār, Bd. 1, S. 97: 9 (Anm. d. Ü.).

7Hadith,

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Abbitte drängte, wie es in Form der Autodafés bekannt wurde, im Islam nicht. Der Islam hat seine Männer vielmehr ihrer weltlichen Macht beraubt und dann Gottes Propheten zu einem Verkünder und Mahner gemacht anstatt zu einem Herrscher (musayṭir). Die religiöse Macht wurde gebannt und den Koran und die Sunna zu interpretieren wurde das legitime Recht aller Gläubigen. Unfehlbarkeit ist selbst für den Beherrscher der Gläubigen ausgeschlossen, sodass, wenn dieser einen Fehler macht, er verpflichtet ist, ihn zu korrigieren, denn „es gibt keinen Gehorsam für ein Geschöpf, das sich dem Schöpfer widersetzt“, wie es in der Prophetentradition heißt. Diese Unterdrückungszustände, wie sie in der Geschichte vorkamen, gehen zurück auf „politische Gründe und persönliche Motive, während der Islam jede Sünde registriert, die seine Männer sich zuschulden kommen lassen, wobei seine Offenbarung deutlich macht, dass sie die Freiheit des Individuums in der Wahl seiner Religion bekräftigt.“ (Tawil 1976, S. 287, 288). Tatsächlich findet sich im islamischen Mittelalter sowohl die Freiheit zur Religionskritik als auch deren Ablehnung, gab es doch Menschen, die das Göttliche anerkannten, die Prophetie jedoch ablehnten, wie es auch andere gab, die das Göttliche anzuerkennen sich weigerten und dennoch weder vertrieben, noch getötet oder ihrer Freiheit beraubt wurden. Wir erinnern hier nur an Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī,8 Ibn al-Rāwandī,9 Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī10 u. a. (Kraus 1949, passim) Keiner von ihnen wurde bestraft oder aus seiner Heimat vertrieben, keiner wurde zu bestimmten religiösen Überzeugungen gezwungen und keiner wurde seiner Gedanken wegen bekämpft. Sie alle genossen die Freiheit zu glauben, was sie wollten. Der Islam war der Quell der großen geistigen Renaissance, die ihren Anteil an den gemeinsamen mächtigen philosophischen Erfahrungen der Menschheit hatte und zur Entwicklung eines menschlichen Bewusstseins beitrug, bis sie zu einem unauflöslichen Bestandteil des kulturellen Erbes der geistigen und künstlerischen Entwicklung der Menschheit wurde. Der Islam strebte danach, die Religion mit der Welt zu vereinen und die spirituelle mit der weltlichen Macht zu versöhnen. Er blickte auf die erkennbaren wie auch abwesenden Dinge in einer holistischen

8Abū

al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī, 973–1057, berühmter syrischer Dichter, Autor von risālat alġufrān, einer Parodie auf islamische Vorstellungen vom Jenseits sowie gewissen theologischen Auffassungen (Anm. d. Ü.). 9Aḥmad Ibn Yaḥyā al-Rāwandī, 820–910, berühmter Freidenker, wird meist der Heterodoxie oder dem Atheismus zugerechnet. Autor von mehr als 100 Werken (Anm. d.Ü.). 10Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī, ca. 932–1023, Literat und Philosoph, als Häretiker verfolgt. Autor einer Anthologie namens Baṣāʾir al-Qudamāʾ in zehn Bänden (Anm. d. Ü.).

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und umfassenden Weise, während er auf dem Prinzip des Monotheismus (tauḥīd) ein System des Denkens, der Philosophie, der Politik und Kultur errichtete. So schlug sich in seiner Kultur der Humanismus mit all seinen Prinzipien nieder, die zu Freiheit, Vernunft und Kritik aufrufen. Diesen Humanismus hat Herder betont, als er die Beschuldigung zurückwies, die Orientalen wüssten mit der Bedeutung von Humanismus nichts anzufangen, weil dieser Begriff sich nicht in ihrem Wortschatz befinde. In der Tat hat es diesen Humanismus sehr wohl bei den Muslimen gegeben. Darauf hat Pico della Mirandola 1486 hingewiesen, als er den Muslimen attestierte, dem Menschen einen einzigartigen Platz einzuräumen: „Ich las in den Büchern der Araber und konnte in der Welt nichts finden, was dem Menschen mehr Bewunderung gezollt hätte.“11 Denn der Islam als Dogma, Gesetz und Philosophie hegt Wertschätzung für den Menschen. Diesen zu ergründen ist auch nichts, was aus den Bestandteilen seiner Kultur verschwunden wäre, sondern etwas, das stets existent war und in offenkundiger Weise praktiziert worden ist. Mohammed Arkoun betont, dass der klassische Islam schon so etwas wie einen Humanismus gekannt habe, bevor Europa ihn während der Renaissance für sich entdeckt habe. Tatsächlich waren es Leute wie al-Ǧāḥiẓ,12 al-Tauḥīdī13 oder Miskawaih14, die den Humanismus geformt haben, der darin bestand, die griechische Philosophie mit dem islamischen Denken sowie mit dem zu verschmelzen, „was sich gänzlich der Frage des Menschen als Mensch verschrieb.“ (Arkoun 2001, S. 8). Wir erinnern auch daran, dass jeder Bestandteil dieses Humanismus die menschliche Dimension und dessen Offenbarung in der islamischen Kultur betont. Der Humanismus erschien zunächst in der Literatur, als man versuchte, das Leben des Menschen und seine Zuneigungen, Gefühle und Verlangen zu beschreiben. Ein Beispiel dafür ist die Abhandlung Das Halsband der Taube von Ibn Ḥazm (gest. 1064), einem Richter und Rechtsgelehrten, der sich eingehend mit Themen des Alltags befasste. Sein enormes Talent verband sich mit einer Offenherzigkeit gegenüber der Bildung sowie einem religiösem Engagement, was ihm

11Universalis,

Bd. 8, S.  604, Lemma „Humanisten“, Ins Arabische übersetzt von Muḥammad ʿAlī al-ʿAǧīlī: al-Nazʿa al-insāniyya fī ʿaṣr al-Tauḥīdī – al-qarn al-rābiʿ alhiǧrī [Humanismus in der Ära von al-Tauhidi, 4. Jhd. n.d.H.], Damaskus: Ministerium für Kultur 2006, S. 36. 12ʿAmr al-Ǧāḥiẓ, 767–869, Berühmter Autor aus Basra (Anm. d. Ü.). 13Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī, ?-990, bekannter Linguist, Grammatiker und Autor persischer ­Herkunft (Anm. d. Ü.). 14Aḥmad Ibn Miskawayh, ?-1030, Philosoph und Historiker persischer Herkunft (Anm. d. Ü.).

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zu höherer Kultur verhalf. So systematisierte er alle Erscheinungsarten von Liebe (Ibn Ḥazm 1953, Bd. 1, S. 469), wobei er sich allgemein auf seine persönliche Erfahrung und die seiner Bekannten verließ. Sein Buch gilt als sozio-historisches Dokument, das lebendige und authentische Geschichten erzählt (Giffen o. J., Bd. 1, S. 603). Die Geschichten von Tausend und einer Nacht wiederum widmen sich eingehend der Beschreibung der Frau und stellen ihre Schönheit und ihren Zauber dar, wie er auch in anderen Künsten und nicht zuletzt in der Dichtung zum Ausdruck kommt. Fraglos ist dies eine Spielart von Humanismus (insāniyya) und auch wenn darin ein Widerspruch zu dem liegt, was man vom Islam zu kennen glaubt, so haben die Muslime sie zwar von fremden Elementen übernommen und ihren eigenen Vorstellungen hinzugefügt, doch ohne Scham darüber zu empfinden oder von der Religion abzuweichen. Wenden wir uns einem Nebenstrom dieser Kultur zu, nämlich der „Wissenschaft des Glaubens“, die eine Wissenschaft ist, die den Glauben durch Vernunft beweist, dann werden wir ebenfalls Muster finden, die auf ein Interesse am Menschen hindeuten. So finden wir unter den Mu‛taziliten15 eine klare und offensichtliche humanistische Auffassung, wenn in schonungsloser Offenheit und apodiktischer Strenge verkündet wird, dass der Mensch frei und auf eigene Handlungsentscheidungen hin erschaffen sei. Damit wird ein Fundament für Verantwortlichkeit gelegt, die ihrerseits am Anfang von Belohnung und Strafe steht und folglich der göttlichen Gerechtigkeit untersteht, deren Existenz nur durch besagte Verantwortlichkeit zustande kommt. Für die Muʿtaziliten war nichts wertvoller als die Freiheit, durch die das Individuum seinen Stolz begründet und seine Würde bewahrt. Beides sind zentrale Aspekte, die den Menschen über die übrige Schöpfung herausheben. Auf dieselbe Art und Weise war es in den Zirkeln der Rechtsexperten zu einem Interesse am Menschen gekommen. Soweit das Studium des Fiqh16 betroffen ist, sind alle seine Themen solche des praktischen Lebens: des Menschen mit sich selbst, mit seiner Familie, der Gesellschaft und seinem Schöpfer. Auch ist der Fiqh die Beschreibung des Menschen in der Welt (Ḥanafī 1982, S. 309). In der Art, wie die Rechtsgelehrten auf persönliche Begebenheiten schauen und den Menschen zum Mittelpunkt ihrer Betrachtung machen, auf dessen Rechte, 15Die Mu‛taziliten (Muʿtazila) waren eine Gruppe im frühen Islam, die im Disput zwischen ʿAlī und seinen Widersachern eine neutrale Position bezog. Sie weigerten sich, Sünder und Ungläubige als Feinde der muslimischen Gemeinschaft zu bezeichnen. Später wurde der Name Muʿtazila für die sog. rationalistische Schule im Islam verwandt (Anm. d. Ü.). 16Islamisches Recht (Anm. d. Ü.).

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Pflichten und seine Behandlung innerhalb dessen, was angemessen ist, sie großen Wert legen, wird der wahre Wert des Menschen deutlich, ohne dass es diesem erlaubt wäre, die natürlichen Grenzen zu überschreiten oder die angeborenen Beschränkungen zu missachten, durch die sich die Ordnung auf der Erde, in der er den Spitzenplatz einnimmt, von der im Himmel unterscheidet, um die er sich zu wenig kümmert. So lässt er von ersterer nicht ab, liebt sich selbst nicht und rebelliert gegen letztere. Die Scharia macht deutlich, dass die Religion den Menschen erhöht und zur wichtigsten ihrer Absichten und Zwecke gemacht hat. Daher hat die Scharia fünf Zwecke: Die Seele, die Religion, die Vernunft, die Nachkommenschaft und den Besitz. Diese sind die Konstituenten des menschlichen Lebens und vier davon sind direkt mit dem Menschen verbunden. Die Scharia definiert die praktischen Grundsätze für die Bewahrung dieser Zwecke und ihre Entwicklung gemäß den wechselnden Gegebenheiten von Zeit und Ort und soweit sie in Übereinstimmung mit dem Menschen und seinen Interessen sind. Dies hebt seine Bedeutung innerhalb des islamischen Systems als Glaube und Recht hervor. Wenden wir uns der Philosophie zu, so werden wir feststellen, dass die Bewegung der „Brüder der Lauterkeit“17 ein gutes Beispiel für die humanistische Einstellung im geistigen Feld abgibt. Für die „Brüder“ war die Realität ein Produkt der Vernunft und der Tradition zugleich, sowie eine Frucht der Entwicklung in der Natur und in der Geschichte. Sie riefen zur Einheit unter den Menschen als Ideal auf Erden auf, um so die Essenz des Humanismus (insāniyya) zu verwirklichen. Daher verschmolzen sie die Wissenschaften miteinander, um ihren Aufruf zur Universalität des Menschseins und zur Versöhnung voranzutreiben, und eliminierten in gleicher Weise die unterschiedlichen Sichtweisen, Überzeugungen und Religionen, bis sie ihre Ansicht, die sie vielfach verteidigten, bestätigt fanden, dass immer der Wert des Menschen zentral ist. Ihr berühmter Spruch lautete: „In dir, o Mensch, ist das höchste Sein verborgen.“ (Brüder der Lauterkeit o. J., Bd. 2, Nr. 12). Ähnlich sagten sie, dass der Mensch das kleinste Universum, die Welt der größte Mensch sei und beide aus identischen Einzelteilen bestünden, wobei der Mensch das Zentrum des Universums bilde. Um noch ein Beispiel aus der Philosophie für das Interesse am Menschen zu nennen, verweisen wir auf Ibn Ṭufail (gest. 1185) und seinen Roman Ḥayy Ibn Yaqẓān. Der Held dieser Geschichte ist ein Mensch, der auf einer fernen Insel geboren wurde und, ohne jeden Kontakt mit der Gesellschaft und ohne jede

17Die „Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān al-ṣafāʾ wa-ḫillān al-wafāʾ) waren eine philosophische Gruppe im 10. Jahrhundert und Verfasser einer philosophischen Enzyklopädie (Anm. d. Ü.).

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Kenntnis von Religion, durch den Gebrauch seiner geistigen Kräfte und in Etappen, die analog der geistigen Entwicklung der Menschheit verlaufen, aller Wahrheiten der Natur und der Metaphysik teilhaftig wird. Indem der Autor den Wert des Menschen anerkennt und seine Vernunft preist, die allein dazu fähig ist, sämtliche Wahrheiten zu erkennen, lässt er Ḥayy Ibn Yaqẓān zufällig einigen Menschen begegnen, die ihm von diesen Wahrheiten berichten. Da wird ihm klar, dass die Wahrheiten, die ihm zuteil geworden ist, voll und ganz mit jenen übereinstimmen, die er von ihnen zu hören bekommen hat. „Es ist nicht überraschend, dass dieses Buch aufgrund seines philosophisch-humanistischen Inhalts das Interesse nachfolgender Generationen von Intellektuellen geweckt hat.“ (Cachia 1992, S. 469). Die humanistische Haltung lässt sich unter Muslimen in allen Bestandteilen ihrer Kultur finden – in der Literatur, den Künsten, dem Glauben, dem Recht und der Philosophie – und speist sich aus einem Impetus ihrer Religion, die versucht, die spirituellen und materiellen Aspekte im Gleichgewicht zu halten und Himmel und Erde in Harmonie zu vereinen. Eine letzte Frage bleibt: Ist das Muster, das der Okzident präsentiert, das einzige, das dem Begriff Humanismus (insāniyya) gerecht wird? Die Wahrheit ist, dass die Tragödien und Katastrophen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, vor allem die beiden Weltkriege, zu einigen Zweifeln geführt haben, was die Fähigkeit des abendländischen humanistischen Denkens anbetrifft, das zu realisieren, wonach der Mensch strebt. Wie Kingsley Martin 1962 bemerkt hat, haben „die beiden Weltkriege zu einem Zweifel aller Menschen in die Fähigkeit zu Entwicklung und Fortschritt geführt. Der Zweifel hat nicht einfach nur die Pfeiler des Traums zerstört, die perfekte Stadt18 zu erlangen, sondern auch den Wunsch verhindert, eine Gesellschaft von grösserer Glückseligkeit zu verwirklichen.“. Randall Hepburn, ein Professor für Philosophie an der Universität Edinburgh, ruft die Humanisten dazu auf, die religiösen und mystischen Erfahrungen für sich zu nutzen, da, wie er glaubt, Religion imstande sei, die Schwäche der humanistischen Strömungen zu kurieren (Kulbayikani 2009, S. 114). Denis Duclos wiederum beschreibt die Phase, die die Welt gegenwärtig durchläuft, als eine nicht-humanistische, in der die Vernunft über allem steht und alle anderen humanistischen Aspekte negiert, sodass „das spirituelle System die früheren, Körper

18Ar.

al-madīna al-fāḍila. Anspielung auf das gleichnamige, von Platon inspirierte Buch des Philosophen al-Fārābī (gest. 950) (Anm. d. Ü.).

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und Geist verbindenden Vorstellungen aufnimmt und weiterführt und damit zum zentralen Ort des Humanismus geworden ist.“ (Duclos 2003, S. 51. 52). Marcel Gauchet betont, wie wichtig die Beständigkeit der religiösen Form für die Beständigkeit der menschlichen Gesellschaften ist. Diese Form manifestiert sich in drei grundlegenden Aspekten: Tradition, Partizipation und Hierarchie. Diese Aspekte hat Europa zu überwinden versucht, um seinen eigene Humanismus zu verwirklichen und ihn vollkommen zu beherrschen, „wobei er mit einer Art Defizit ausgestattet wurde. Dieser verschaffte den Europäern zwar die vollkommene Autonomie, beraubte aber der kollektiven Macht ihrer Essenz. Er verlieh ihnen eine nie gekannte Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung, doch vernachlässigte er das Gemeinschaftsgefühl. Kein Zusammenleben schien mehr vorstellbar unter den Menschen, außer in Form eines gemeinsamen Marktes.“ (Gouchet 2003, S. 56). Heutzutage durchlebt der Mensch eine Krise in beiden Welten, der abendländischen wie der orientalischen, wobei der Mensch unserer Krise von der Industrie zermalmt, von der elektronischen Buchhaltung eingeengt und von handbetriebenen Kränen und elektrischen Knöpfen domestiziert wird. Unsere Krise liegt im spezialisierten Menschen, der alle holistische Betrachtung des Lebens verloren hat und in einer Ecke des quantitativen Wissens verharrt, in der er zählt und rechnet. Unsere Krise ist eine der Vorherrschaft materieller Werte über das Leben und des Verlustes an Geist. Unsere Krise ist eine des Umsturzes aller Werte, die alles durcheinander von oben nach unten und von unten nach oben kehrt. Unsere Gemeinschaft kennt keine Freundschaft mehr, keine Zugehörigkeit und kein Ziel. Unsere Krise besteht im Zweifel an allem, in der Aufgabe aller Prioritäten und in der Grübelei. Unsere Krise liegt in der Herrschaft des Durchsetzungsvermögens über den Verstand, des Willens über den Geist, der Zersplitterung über die Ganzheit und des Fanatismus über die Toleranz, bis der Rassismus zur Grundlage der Menschheit geworden ist. Heute benötigen wir alle zusammen, in Orient und Okzident, eine gemeinsame Formel, wobei der Okzident für Wissenschaft, der Orient für Religion, ersterer für die Materie und letzterer für den Geist steht. Der Okzident steht für den Fortschritt, der Orient für das Herz, und keiner von beiden kann für sich alleine leben; vielmehr sind beide aufeinander angewiesen und müssen in einem einzigen System zusammenfinden, weil der eine nicht ohne den anderen leben kann. Hierbei können wir auf den Satz von Samuel Dresden zurückgreifen, wonach „Wissenschaft ohne Herz ein Ruin für die Seele ist.“ (Dresden 1972, S. 121). Sozial- und Naturwissenschaftler haben vielfach darauf verwiesen, dass das unkontrollierte und ungezügelte Wachstum der Technologie eine große Bedrohung darstellt, weswegen ich die populäre Ansicht teile, „dass die Wissenschaft ausserstande ist, alle

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menschlichen Probleme zu lösen.“ (Dubos 1987, S. 46). Und um John Dewey zu zitieren: „A civilization that allows science to destroy the existing values with no capacity to create new ones is a self-destructive civilization.“. Heute steht die Wissenschaft im Verdacht, die religiösen und philosophischen Werte zu vernichten, ohne Ersatz zu finden, an dem das Verhalten sich orientiert. Wir werden nicht imstande sein, unsere Verhaltensweisen zu ändern, solange wir keine neue Ethik oder neue Werte geschaffen haben, die im Einklang und in Übereinstimmung mit dem Menschen und der Natur stehen und nicht auf Unterdrückung und Dominanz hin ausgerichtet sind. Vielleicht wird es Orient und Okzident gerecht, wenn wir diesen Aufsatz mit den luziden Worten von Zakiyy Naǧīb Maḥmūd beschließen, einem Intellektuellen, der mit dem Okzident vertraut ist und zum Okzident gehört: „Die okzidentalische Zivilisation ist paralysiert, indem sie auf einem Bein geht, während ihr das andere Bein abhanden gekommen ist. Daher wurde die Zivilisation als Folge eines angeborenen Handicaps mit einem Humpeln beschlagen.“ (Maḥmūd 1986, S. 168, 169). Das kann kein aufrichtiger Mensch in dieser Welt bestreiten. Wir alle haben die Pflicht, uns in einem gemeinsamen und konvergierenden System geteilter Werte zu begegnen, das nicht die eine Seite zugunsten der anderen ausschließt und nicht versucht, über die andere zu herrschen, sondern in dem der eine den anderen ergänzt, um das Wissen und das Licht für jeden einzelnen und die Zufriedenheit und das Wohlbefinden für die Welt zu vermehren, während jede Seite ihre besondere Identität bewahrt und den Pluralismus im Glauben und in der Politik anerkennt. (Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

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Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen nicht, was anderen gelingt? Michael Kreutz

In den muslimischen Ländern sind Demokratien liberal-konstitutionellen Zuschnitts Mangelware Es fehlt ihnen an inklusiven Institutionen und allgemein an Rahmenbedingungen, die zu zivilgesellschaftlicher Aktivität ermutigen. Der Gedanke liegt nahe, dass der Islam hieran nicht ganz unschuldig ist und ein reformierter Islam geeignet wäre, zur Triebkraft gesellschaftlichen Wandels zu werden, doch scheint dieser Gedanke heute weniger populär zu sein als noch vor einhundert Jahren. Das übliche Argument gegen eine Reform des Islam lautet, dass dieser weder ein Priestertum noch eine der Kirche ähnliche Organisationsstruktur aufweise, eine Reformation im islamischen Kontext folglich nicht benötigt werde (z. B. Hamid 2016, S. 25–6). Dagegen lässt sich einwenden, dass sich durchaus strukturelle Parallelen im Islam finden lassen, wenn wir aufhören, immer nur über einen abstrakten Islam zu reden, den es nicht gibt, und uns stattdessen dem sunnitischen Islam zuwenden, dem heute ca. 90 % aller Muslime weltweit angehören. Denn der sunnitische Islam hat sehr wohl Denkweisen, Strukturen und Institutionen hervorgebracht, deren Verträglichkeit mit den Errungenschaften der Moderne (Säkularismus, den Institutionen des liberal-demokratischen Gemeinwesens, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Bejahung ökonomischen Fortschritts) mindestens fraglich ist. Zudem hat die Reformation mehr als nur innerkirchliche Strukturen verändert, sondern weit in die Gesellschaft hinein gewirkt und ist dabei vielfach mit dem Humanismus verschlungen, der das westliche Europa nicht minder geprägt hat.

M. Kreutz (*)  Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_13

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Viele Humanisten waren Befürworter der Reformation und Verbreiter lutherischer Schriften, wie auch der Humanismus seit dem beginnenden 16. Jahrhundert nicht ohne Eindruck auf die Klöster geblieben war. Eine Reform der christlichen Theologie war auch das Programm des Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466/9–1536), der die Bibel im Urtext und im Rückgriff auf die Kirchenväter studierte, deren Schriften er edierte und kommentierte. Zudem machte er sich dafür stark, die Bibel in der Volkssprache seiner Zeit wiederzugeben (Kaufmann 2010, S. 110, 114, 176, 118, 120–1). Aus diesen theologischen Anfängen entwickelte sich eine gesellschaftliche Kraft von erheblicher Tragweite. In der Rückschau wird uns diese Tragweite bewusst und vielleicht lässt sich daraus die Zuversicht schöpfen, dass dies auch im Kontext des Islam gelingen könnte – nicht in der Absicht, westliche Entwicklungen zu kopieren, sondern die eigene Krise zu überwinden.

Humanismus und Reformation Man kann mit Lauster (2015, S. 255) in der Renaissance eine im Kern christliche Epoche sehen, aus der man später ein heidnisches Zeitalter gemacht hat, wie schon der Reformtheologe Johann Salomo Semler (1725–1791) den Humanisten Erasmus von Rotterdam für die Begründung der protestantischen Theologie in Beschlag genommen hat (Cassirer 1973, S. 188). Doch wenn auch die Reformation vom Humanismus der Renaissance zehrte, so hatte letzterer doch keine christliche Wurzel (Nelson 2010, S. 2). Hier sehen wir schon einen ersten Unterschied zur islamischen Kulturgeschichte, von der häufig gesagt wird, dass sie – hierin sich von Europa unterscheidend – die Antike fortgeführt habe, weswegen man eine eigenständige Epoche des Humanismus ebenso vergeblich suche wie eine Notwendigkeit für islamische Reform. Dies ist unzutreffend, denn auch wenn die arabisch-islamische Philosophie im 9. Jahrhundert platonischen Vorstellungen zugänglich wurde, wurde Platon im Original praktisch nicht studiert und übersetzt. Während es im Abendland mit Nikolaus von Kues (1401–1464) und Marsilio Ficino (1433–1499) Vertreter einer geistigen Strömung gab, die von einem vertieften Interesse an dem griechischen Philosophen getrieben war, hat es in der islamischen Welt Vergleichbares nicht gegeben (Arnzen 2011, S. 211). Folglich musste die arabische Welt, in den Worten von Rémi Brague (1993, S. 103), nie „der ganzen Wucht der Konkurrenz eines Gesamtentwurfs des vorislamischen Menschen die Stirn bieten.“ An einer solchen hätte sie eigene kulturelle Prämissen hinterfragen und daran wachsen können.

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Europäische Humanisten orientierten sich aber nicht nur an der platonischen Lehre vom Eros, sondern auch an der stoischen Autarkie des Willens, die in letzter Konsequenz die Offenbarung überflüssig zu machen drohten. Dem sollte sich die Reformation entgegenstellen (Cassirer 1973, S. 184–6): Die Reformatoren Luther (1483–1546) und Calvin (1509–1564) beriefen sich auf Augustinus, für den der freie Wille die göttliche Gnade nicht zu ersetzen vermochte (Ebd.). Dies war der Ausgangspunkt für das reformatorische Ethos einer innerweltlichen Askese, die auf Kosten der Mystik ging und Seelenheil in dieser Welt zu erlangen zuließ (Cohen 2010, S. 175, 255). Max Weber hat darin bekanntlich die religiöse Motivation für die Weltbeherrschung der kapitalistischen Moderne gesehen (Weber 2005a, S. 455, 911 ff.). In ihr kommt ein absoluter Individualismus zum Ausdruck, der vor allem im Alten Testament wurzelt (Schluchter 1998, S. 324–5), wo sich sowohl die Umrisse einer Idee der autonomen Person findet, die mit der Reformation gesellschaftlich zum Durchbruch gelangt, wie auch die Vorstellung von der Willensfreiheit, ohne die es heute kein Wahlrecht gäbe und die der athenischen Demokratie noch unbekannt war (Wokart 2014, S. 126–7). In England war die Freiheit der Person und des Eigentums schon vor der Reformation, nämlich in der Magna Carta von 1215, verbürgt worden (Dreier 2015, S. 330–1), bevor im 17. Jahrhundert protestantische Gruppen wie die Levelers auftraten, die Urteile über den Glauben in letzter Instanz an das Individuum banden und damit der allgemeinen Meinungsfreiheit Vorschub leisteten (Dreier 2015, S. 340–1). Das ganze vollzieht sich im Medium einer politischen Lesart der Bibel – Stichwort: „politischer Hebraismus“ –, die über akademische Kreise hinaus Einfluss gewann (Sutcliffe 2004, S. 45–6; Nelson 2010, S. 139). Auch in Deutschland machte sich diese Entwicklung bemerkbar, wie Heinrich Heine im Rückblick notierte: „Jetzt aber, seit Luther machte man gar keine Distinktion mehr zwischen theologischer und philosophischer Wahrheit, und man disputierte auf dem öffentlichen Markt, und in der deutschen Landessprache ohne Scheu und Furcht. Die Fürsten, welche die Reformation annahmen, haben diese Denkfreiheit legitimiert.“ (Heine 1834, 1995, S. 210). Die Reformation ist in ihrer Wirkung durchaus ambivalent. Die ältere These von Helmuth Plessner (1959, S. 52 und passim), wonach das Luthertum eine Aufklärung in Deutschland eher verhindert als befördert hat, ist nach wie vor plausibel. Luther hatte sich 1524 auch gegen den Überseehandel mit Indien ausgesprochen und dies damit begründet, dass exotische Gewürze und andere Genüsse im Gegensatz zum Ideal der Selbstgenügsamkeit stünden (Häberlein 2016, S. 96–7); er fiel damit in die Zeit vor dem kanonischen Recht zurück, das die kaufmännische Tätigkeit unter gewissen Voraussetzungen als Weg zum Heil gewürdigt hatte (Berman 1991, S. 535). Auch der Fanatismus der Täufer, die im

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Münster des 16. Jahrhunderts für kurze Zeit die politische Herrschaft erlangten, ist Teil der Reformationsgeschichte (F. Meier 2008, S. 94–5). Dennoch war der Fortschritt nicht aufzuhalten. So nahm im 17. Jahrhundert die Bibelkritik ihren Anfang, als Pietro della Valle eine Abschrift des samaritanischen Pentateuch aus Damaskus beschafft hatte, die zahlreiche Textvarianten gegenüber der kodifizierten Version enthielt (Sutcliffe 2004, S. 26). Diese Bibelkritik erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. (Schulte 2002, S. 62, 90) In ihr manifestiert sich eine Aufwertung der Vernunft, der sich nach Hugo Grotius (1583–1645), einem Schüler des Erasmus von Rotterdam, selbst das Gesetz zu beugen habe (Nelson 2010, S. 97–100; Taylor 2012, S. 221–2); Die Lehre seines Landsmannes Jacobius Arminius (1560–1609), nach der es dem Menschen sogar offen steht, sich von Gott ganz abzuwenden, verbreitete sich über England bis nach Nordamerika (Harrison 1990, S. 23; Hochgeschwender 2007, S. 57). In Frankreich war es u. a. Pierre Bayle (1647–1706), der den christlichen Glauben der Vernunft unterwarf und diese an die persönliche Autonomie des einzelnen knüpfte (Sutcliffe 2004, S. 97; Cassirer 1973, S. 223). Heute wissen wir, dass auch die katholische Kirche nicht ganz abseits dieser Entwicklungen stand, sondern sich theologisch schon im 11. und 12. Jahrhundert vom jenseitigen asketischen Ideal gelöst (Berman 1991, S. 533) und mit dem Jansenismus auch eine innerkatholische Reformation hervorgebracht hat (Vgl. Van Kley 1996, S. 6; Zippelius 1997, S. 100–1). Die Forschung vertritt daher nicht mehr den schroffen Gegensatz von lutherischem und katholischem Autoritarismus einerseits und calvinistischem Individualismus und Freiheitsgedanken andererseits, was zur Folge hat, dass auch Menschenrechte nicht länger monokausal, sondern als Produkt aller Konfessionen und religiösen Gruppierungen erklärt werden, wenngleich deren Anteil unterschiedlich groß gewesen sein mag (Schilling 2009, S. 313–4). Mit ihrer Hinwendung zur Vernunft und innerweltlichen Askese hatte die Reformation auch neue Formen der Naturerkenntnis möglich gemacht. Nachdem diese noch im frühen 17. Jahrhundert in den Verdacht des Sakrilegs geraten konnten, änderte sich dies mit dem Westfälischen Frieden von 1648, seitdem die Glaubenskämpfe einer gewissen Milde gegenüber Andersdenkenden gewichen waren, sowie mit der Entdeckung und Eroberung fremder Erdteile (Cohen 2010, S. 139–40), als der Konkurrenzkampf zwischen Spanien, Frankreich, England und den Niederlanden mathematische und astronomische Erkenntnisse politisches Interesse weckte: Um den Längengrad auf dem Meer bestimmen zu können, mussten Galileis Entdeckungen für die Seefahrt nutzbar gemacht werden. Dies gelang Giovanni Domenico Cassini und Christian Huygens, die Erfinder des Pendeluhrwerks, die beide von Ludwig XIV. nach Paris geholt worden waren,

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das fortan neben London zum neuen ökonomischen, politischen und kulturellen Schwerpunkt Europas avancierte (Cohen 2010, S. 141, 172, 254; Tilly 1999, S. 187). All dies bildete den Hintergrund dafür, dass sich im westlichen Europa die rule of law durchsetzen konnte, was zumindest indirekt auf die Reformation zurückgeht, die die Autorität der Kirche geschwächt und eine Säkularisierung geistlicher Güter in die Wege geleitet hatte (Fukuyama 2011, S. 289). Der neue Staat war zwar ein konfessioneller, kein säkularer, aber der Boden für eine weltliche Reform war bereitet (Dreier 2015, S. 315), bevor neue Theorien von Souveränität dem säkularen Staat auch philosophisch Legitimation verschafften (Fukuyama 2011, S. 289). Die Aufklärung, die diesen Gedanken weitertrug, fand ihren Höhepunkt in der Idee der Menschen- und Bürgerrechte, die zum Teil auf die mittelalterliche Kanonistik und dessen Naturrechtskonzeption, zum Teil auf ebenjene reformatorischen Gruppen, die mit der englischen Revolution verbunden waren, zurückgeht, bevor sie mit der amerikanischen bill of rights, insbesondere der von Virginia 1776, politisch zum Durchbruch fand (Jellinek 1919, S. 42–3, 55–6, 58; Berman 1991, S. 272, vgl. ebd. S. 327–8; Rhonheimer 2012, S. 89–90; vgl. Dreier 2015, S. 327–8, 342). Geschichte ist kontingent, sie folgt keinem vorgezeichneten Pfad. Aber sie verläuft auch nicht willkürlich, sondern unter kulturellen Bedingungen, die ihrerseits dem historischen Wandel unterworfen sind. Daher bleiben die Leistungen der Reformation anzuerkennen, denn diese ist Produkt und Triebfeder einer Kultur, die das westliche Europa maßgeblich umgestaltet und das, was wir heute mit dem Begriff der Moderne verbinden, möglich gemacht hat. Die Frage ist daher, welche Unterschiede und Parallelen wir im islamischen Kontext finden und welche Schlussfolgerungen wir daraus für die Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit einer islamischen Reformation ziehen können.

Islam im Vergleich Es ist bekannt, dass es mit den Muʿtaziliten im Islam eine Schule gab, die die Existenz eines freien Willens für notwendig hielt, damit der Mensch sich für Gott und seine Gebote entscheiden könne. Alles andere würde der Gerechtigkeit Gottes widersprechen (Ibn al-Murtaḍā und Diwald-Wilzer 2009, S. VII). Der Hauptstrom der Theologie schlug jedoch einen anderen Weg ein. Frühe Rechtstheoretiker, die erkannten, dass infragen des Koran zuweilen Interpretation gegen Interpretation steht, machten nicht zuletzt dem Rechtstheoretiker Abū Ḥanīfa (ca. 699–767) den Vorwurf der mangelnder Methodik. Sie führten dies auf den

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Gebrauch des raʾy zurück, der persönlichen Ratio oder gesunden Menschenverstand (Oberauer 2004, S. 212). Damit enthielt die Rechtstheorie ein subjektives und schwer zu kalkulierendes Element. Die maßgebliche Wende leitete der Jurist Muḥammad Ibn Idrīs al-Šāfiʿī (767–820) ein, der Begründer der nach ihm benannten šāfiʿītischen Rechtsschule, der den raʾy aus dem Rechtsdenken verbannte (Radtke 2005, S. 64), bis im 10. Jahrhundert die rationale Schule der Muʿtazila fast völlig verdrängt wurde (Nagel 1988, S. 226). Dieser erheblichen Verengung der Rechtstheorie stellte sich zuletzt nur eine Minderheit der Gelehrten entgegen, darunter die philosophische Gruppe der sog. „Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān al-ṣafāʾ) (Brague 2006, S. 109, 112). So hatten sich die sunnitischen Juristen durchgesetzt, die dem Gläubigen nur die Möglichkeit ließen, ewige Glückseligkeit allein durch das Befolgen der göttlichen Gebote zu erlangen. Nach ihrer Vorstellung gibt es keinen Spielraum für eine autonome Natur des Menschen, dessen Vernunft weniger der Erweiterung des Wissens als mehr der Erlösung auf dem Wege der Kommentierung und Interpretation der Offenbarung dient. Daran hat auch der griechische Einfluss auf die arabische Kultur nichts ändern können (Von Grunebaum 1956, S. 91; vgl. ­Rodinson 1986, S. 120). Anteil an der Prägung des Sunnitentums hatten Theologen, die sich auf al-Ašʿarī (gest. 935) beriefen, der sämtliche Erscheinungen der realen Welt nur als Ausdruck göttlichen Willens deutete, über die dann keine weiteren Aussagen mehr möglich sind (bilā kaifa) (Lazarus-Yafeh 1992, S. 216–7) und der die Suprematie der offenbarten Wahrheit gegenüber der Vernunft betonte (Tamer 2013, S. 330). Somit bleibt kein Spielraum für eine Autonomie des Individuums mehr. Zwar finden sich in der islamischen Geistesgeschichte immer wieder Dissidenten, die sich dem sunnitischen Menschenbild verweigerten, darunter Abū al-Barakāt al-Baġdādī, der die menschliche Seele frei von jeglicher göttlichen Fügung (amr) dachte und ihr alle Fähigkeit zur menschlichen Erkenntnis zuerkannte1 (Nagel 1994, S. 194–5). Doch bleiben solche Theorien immer nur Elitenprojekte, denen eine gesellschaftliche Breitenwirkung versagt blieb. Die sunnitische Orthodoxie hatte sich für die Lehre vom kasb entschieden, die zwar den radikalen Prädestinationsglauben (iʿtiqād al-qadar wa-l-ǧabr) zurück-

1Es

entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Abū al-Barakāt al-Baġdādī ausgerechnet Ibn Taimiyya, den Säulenheiligen heutiger Salafisten, mit rationalistischer Argumentation versorgte (Tamer 2013, S. 358–9).

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weist, aber auch die Vorstellung von einem freien Willen ablehnt, um vielmehr einen Mittelweg zu beschreiten2 (Ebert 1991, S. 119–20; vgl. Rodinson 1986, S. 132–4). Ein solcher Mittelweg bedeutet aber auch, dass, wie der neuzeitliche Theologe Ḥusayn al-Ǧisr (1845–1909) es formuliert hat, Freiheit im Islam nur als eine „ausgewogene“ (ḥurriyya muʿtadila) gedacht werden kann, die sich gegen eine negative Freiheit definiert, die vermeintlich „im Irrgarten der Neigungen und Lüste“ endet (Ebert 1991, S. 116). Dies korrespondiert mit der koranischen Sicht auf die Welt als Versuchung für den Gläubigen und dessen Suche nach Gott (Khoury 2001, S. 88; vgl. Koran 87,16–17; 28,60; 8,67 et al.). Zwar hatte im 12. Jahrhundert der Philosoph Averroes (Ibn Rušd) argumentiert, dass Schöpfung und Offenbarung, indem sie der Logik nicht widersprechen, dem menschlichen Verstand zugänglich sein müssen, womit sich Erkenntnisse durch die Naturwissenschaften rechtfertigen ließen (Brett 1981, S. 102–3; Urvoy 1991, S. 50, 53–4, bes. 106–7). Allerdings wurden in Averroes' Heimat, dem muslimischen Spanien der Almohaden, seine Schriften verbrannt, während sie in unter europäischen Scholastikern eine umso höhere Wertschätzung genossen (Strohmaier 2003, S. 25–6). Dies ist durchaus kein Einzelfall. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Orient machten häufig Karriere erst bei den „Franken“ (Europäern): • So landete die Karte, die der türkische Kartograf Piri Reis 1513 erstellt hatte und die auf Informationen von Christoph Kolumbus aufbauten, rasch in den osmanischen Archiven, wo sie erst 1929 von einem westlichen Gelehrten wiederentdeckt wurde (Lewis 1995, S. 69). Ähnlich haben erst die Erkenntnisse des arabischen Mathematikers Ibn al Hayṯam auf dem Gebiet der Linsenfunktion des Auges (Cohen 2010, S. 116)3 die Erfindung der Brille möglich gemacht; diese kennt der persische Dichter Ǧāmī im 15. Jahrhundert jedoch nur als „fränkische Gläser“ (Strohmaier 1996, S. 188). • Von Ibn al-Hayṯam, dessen Wirken Hans Belting (2008, S.  107) als Kulminationspunkt des kulturellen Austausches zwischen Ost und West bezeichnet, zehrte auch der Astronom Johannes Kepler (1571–1630), der das kosmische Modell des Nikolaus Kopernikus weiterentwickelte, indem er die

2Unter

kasb versteht man das Anhäufen von im Jenseits zu erwartende Belohnungen oder Vergeltungen für irdische Taten (vgl. Koran 2:81, 52:21) (vgl. Lazarus-Yafeh 1992, S.  216–7). 3Seine Leistung war nicht experimenteller Natur, sondern bestand darin, optische Theorien der Griechen einer Revision unterzogen zu haben (Brentjes 2016, S. 144–5).

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Planetenbahnen als elliptisch erkannte und damit die Umlaufgeschwindigkeiten der Gestirne zu berechnen vermochte. Dass der Hof Rudolfs II. in Prag, an dem Kepler seine astronomischen Berechnungen machte, wohl nicht zufällig auch Heimstatt einer künstlerischen Avantgarde wurde, für die die optische Verformung ein wichtiges Element darstellte (Blumenberg 2000, S. 281–3; vgl. Selin. 2008, S. 1817), hat aber wiederum keine Parallele in der islamischen Welt. • Während es die Keplerschen Berechnungen möglich gemacht haben, wiederkehrende planetarische Erscheinungen wie den Halleyschen Kometen zu berechnen (Blumenberg, a. a. O., S. 284–7), blieb in den Medressen der islamischen Welt noch bis ins 20. Jahrhundert hinein das ptolemäische Modell gängig, mit dem sich solche Berechnungen nicht anstellen ließen (Hanif 1997, S. 326). Dass er das Erscheinen des besagten Kometen, den er selbst 1910 am Himmel über Täbris erblickt hatte, mit der Naturwissenschaft, wie sie an seiner Medrese gelehrt wurde, nicht erklären konnte, führte den jungen Theologiestudenten Aḥmad Kasrawī (1891–1946) dazu, von einem Anhänger der Schia zu deren schärfsten Kritiker zu werden (Mottahedeh 1988, S. 87–94). Heute sind fast alle seine Bücher in Iran verboten. Apropos Bücher: Der im 15. Jahrhundert aufkommende Buchdruck brachte schon früh Titel in Umlauf, die die Kulturen fremder Weltregionen zum Thema hatten. Damit erweiterte sich der allgemein Bildungshorizont ebenso wie durch die Vorläufer der späteren Tageszeitungen, als die global agierenden europäischen Handelsgesellschaften im 15. und 16. Jahrhundert über ihre europaweiten Postsysteme sog. Avvisi vertrieben, d. h. Nachrichten über politische und wirtschaftliche Ereignisse (Häberlein 2016, S. 168–70). Auch die Reformation wäre ohne Buchdruck kaum erfolgreich gewesen, ihre Popularität hat wiederum dem Buchdruck weiteren Auftrieb verschafft. Buchdruck, Renaissance und Reformation verstärkten sich gegenseitig (Diner 2005, S. 110–1). Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich auch im chinesischen Kontext studieren: In China, wo der Buchdruck bereits für die Zeit vor 751 nachgewiesen ist, wurde er von den Buddhisten gefördert, weil sie in der Verbreitung der gedruckten Schrift einen Weg zum Heil sahen. Das älteste erhaltene gedruckte Buch ist eine buddhistische Sutra (Lehrtext) aus dem Jahre 868, doch letztlich profitierte von dieser Haltung zum Buchdruck das gesamte Bildungs- und Verwaltungswesen (Schmidt-Glinzer 2009, S. 197). Im größeren Rahmen betrachtet widerspiegelt dies eine weltzugewandte Auffassung des Buddhismus, der in seiner Geschichte zwar nicht immer fortschrittlich war, dessen Freiheitsbegriff jedoch eine moderne Wirtschaftsethik möglich gemacht hat und unter britischem

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Einfluss auf Sri Lanka in Form der Sarvōdaya-Philosophie einen „protestantischen Buddhismus“ mitsamt innerweltlicher Askese hervorzubringen imstande war (Obeyesekere 1992, S. 107, 120, 123–30). Anders wieder die Entwicklung in der islamischen Welt: Zwar hatte der Buchdruck dort schon früh Einzug gehalten, als sich im späten 15. Jahrhundert aus Spanien vertriebene Juden in Istanbul niederließen, doch wurde er 1485 durch den osmanischen Sultan Bayezit II. wieder verboten, was, wie Diner (2005, S. 128–33) überzeugend argumentiert, symptomatisch für eine Kultur ist, die die handschriftliche Weitergabe des Koran über Jahrhunderte als spirituell aufgeladene und Sakralität vermittelnde Tätigkeit betrachtete. Als Sultan Aḥmed III. das Verbot 1727 wieder aufhob, wurde der Buchdruck von muslimischer Seite denn auch nur zögerlich aufgenommen, während die christliche und jüdische Minderheit umso regeren Gebrauch von ihm machte. Erst mit autoritären Modernisierern wie Muḥammad ʿAlī in Ägypten Anfang des 19. Jahrhunderts sollte sich dies ändern. Heute wird von muslimischer Seite gerne der wissenschaftliche Beitrag der eigenen Kultur zur modernen Wissenschaft hervorgehoben, wobei man sich meist damit begnügt, die entsprechenden Namen und Errungenschaften aufzulisten („Da gab es X, und da gab es Y, und da gab es Z …“). Tatsächlich hat es im islamischen Raum zwar immer hervorragende Gelehrte gegeben, die sich zu intellektuellen Höchstleistungen aufschwangen, doch haben die Erträge ihrer Forschung keine gesellschaftlichen Wandlungsprozesse eingeleitet, wie dies im westlichen Europa der Fall war. Inklusive Institutionen, die ökonomische Prosperität begründeten, blieben in islamischen Gesellschaften die Ausnahme, wo es, mit Lewis (2010, S. 65) formuliert, Herrschaft, aber keinen Staat; Rechtsprechung, aber kein Gerichtswesen; Gruppen, aber keine Individuen gibt. Am Ende sorgt meist das Militär für Ordnung. Die gegen Max Weber gerichtete These von Acemoglu und Robinson (2012, S. 57, 60–1, 291), wonach es allenfalls einen schwachen Zusammenhang zwischen Religion und ökonomischem Erfolg gebe und die heutigen inklusiven Institutionen des Westens auf den Export der Französischen Revolution durch Napoleon zurückgingen, während der islamischen Welt das Unglück zuteil geworden sei, unter osmanische Herrschaft zu geraten, ist insoweit nicht plausibel, weil Napoleon die Französische Revolution bis nach Ägypten exportiert hat, die Ideen französischer Philosophen im ganzen Nahen Osten in ihrer Breite rezipiert wurden und das Osmanische Reich in seiner Spätphase einen administrativen Reformprozess initiiert hat (Kreutz 2007, passim; Kreutz 2013, S. 70–8, 94–111, 159–90, 267–83). Für die Krise der islamischen Welt müssen daher andere, kulturelle Faktoren ursächlich sein, die – vielleicht nicht

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a­ usschließlich, aber doch ganz wesentlich – mit der Religion im Zusammenhang stehen. Heutzutage wird Religion in einem weitgehend agnostischen Westen freilich kaum noch ernstgenommen. Im Falle der von der sunnitischen Orthodoxie geprägten Gesellschaften ist das Hauptproblem, wie oben erwähnt, die mangelnde Freiheit des Einzelnen, wobei das Kollektiv, die Umma, seine Übermacht mit der koranischen Maxime „das Gute gebieten und das Schlechte verbieten“ (al-amr bi-l-maʿrūf wa-l-nahy ʿan al-munkar; vgl. Koran 3:110, 3:114, 9:71, 9:112) rechtfertigt, die allerdings erst im 11. Jahrhundert von der sunnitischen Gelehrtenschaft zur Grundlage des praktischen muslimischen Gemeindelebens gemacht wurde (Lapidus 1975, S. 369; Nagel 1988, S. 203). Diese Maxime hält den Gläubigen dazu an, das Verhalten seiner Glaubensgeschwister im Sinne der muslimischen Moral zu korrigieren (Lewis 1998, S. 27–31), sodass individuelle Bedürfnisse strukturell unterdrückt werden und nur auf Umwegen befriedigt werden können (Mernissi 1987, S. 151; Zein 2010, S. 281–3). In Form der Marktaufsicht bzw. Religionspolizei (ḥisba) findet die Maxime ihre Ausformung in einer staatlich regulierten Institution. Die Unterdrückung individueller Lebensentwürfe geht wiederum einher mit einem Desinteresse der Politik in muslimischen Ländern, Arbeitsplätze zu schaffen und allgemein die rechtliche und materielle Situation ihrer Bewohner zu verbessern. (Hamid 2014, S. 18). Auch wenn es ab dem 16./17. Jahrhundert in der Literatur des Osmanischen Reiches zu einem verstärkten Ich-Bewusstsein kam und literarische Bildung sich über Gelehrtenkreise hinaus verbreitete (A. Meier 2008, S. 5–6), wurden weder gesellschaftliche Konventionen durchbrochen, noch autoritäre Strukturen gesprengt oder inklusive Institutionen, die technische Innovationen zur Grundlage von Prosperität gemacht hätte, begründet. Dieser Zustand hält bis heute an. Symbolhaft dafür stehen mag die Tatsache, dass das von Fuat Sezgin gegründete Institut für Geschichte (sic!) der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, zu deren Ziel „die dem arabisch-islamischen Kulturkreis zukommende Stellung in der universalen Geschichte der Wissenschaften in Forschung und Lehre bekannt zu machen“ gehört, in Frankfurt beheimatet ist – und nicht etwa in Kairo, Jakarta oder Istanbul. Überhaupt scheint Innovation im islamischen Kontext vor allem ein museales Phänomen zu sein. Der Zustand in der islamischen Welt ist durchaus dem der christlich-orthodoxen Länder vergleichbar, denn auch die christliche Orthodoxie kennt weder eine Veräußerlichung der Askese noch einen Individualismus im Glauben, hat dafür aber eine Neigung zu Bildungsfeindlichkeit und Weltablehnung entwickelt. (Makrides 2008, S. 88, 90–1) Das lässt sich bis in die Spätantike zurückverfolgen. Der byzantinische Suprematismus hatte einen fruchtbaren Austausch mit

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anderen Kulturen und lange Zeit selbst mit den Lateinern verhindert, weil man von ihnen nichts lernen zu können glaubte. Innovationen in Naturwissenschaft und Philosophie fanden keinen Eingang in die byzantinische Wissenskultur, während westliche Gelehrte sich umso mehr für die Wissensbestände byzantinischer Bibliotheken interessierten (Borgolte 2002, S. 290). So hat der orthodox geprägte Osten auch keine Wendung zum Säkularismus genommen und bleibt die politische Führung in diesen Ländern noch heute weitaus stärker der organisierten Religion verpflichtet als dies im Westen der Fall ist (Makrides 2009, S. 212). Die Orthodoxe Kirche Russlands sieht den Staat noch nicht einmal als eigene Entität, sondern als Behüter eines Kollektivs von Kirchenmitgliedern, wie auch das pessimistische Menschenbild der Orthodoxie der Herausbildung liberal-demokratischer Werte nicht unbedingt förderlich ist4 (Traut 2011, S. 59, 65–6, 73–5). Jüngst hat ein Arbeitspapier der Weltbank Belege dafür zusammengetragen, dass in christlich-orthodoxen Ländern bis heute der Kulturpessimismus weiter verbreitet ist als in mehrheitlich katholischen oder protestantischen Gesellschaften und in ökonomischen Dingen hier eher als dort dem Staat vertraut wird (Djankov und Nikolova 2018, passim). Was den Islam betrifft, so machen seine Apologeten es sich zu einfach, wenn sie kulturelle Errungenschaften der westlichen Welt einfach als Frucht ihrer Religion deuten (Nagel 1996, S. 109; Lazarus-Yafeh 1992, S. 218–9). Da dies immer nur rückwirkend funktioniert, wird Innovation letztlich zur blossen Wiederbelebung degradiert und der Fortschritt aus der Geschichte verbannt. Damit lassen sich die Friktionen zwischen dem Islam und der modernen, von Individualismus, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Menschenrechten geprägten Welt, nicht beseitigen. Um dies zu ändern und ein Ethos der Weltaneignung auf Grundlage von Immanenz zur Geltung bringen, wäre eine islamische Reformation erstrebenswert (Weber 2005a, S. 455; Weber 2005b, S. 535; vgl. Kreutz 2016, S. 134–41). Im Koran nämlich ist es Gott, der die Welt in Ordnung gebracht und dem Menschen nur noch den Auftrag gelassen hat, sie nicht in Unordnung zu bringen (vgl. Koran 7:56, 85). Überhaupt weist der Koran – in den Worten von Ira M. Lapidus (1992, S. 165) – vielfach die Neigung auf, „die Welt eher hinzunehmen und zu modifizieren als sie radikal herauszufordern und zu verwandeln.“ Selbst die eines kritischen Ansatzes gegenüber dem Islam unverdächtige ­Angelika

4Die

Behauptung von Hans Joas und Hans Wiegandt, es gebe ein „umfassendes gesamteuropäisches Wertesystem“ ist denn auch auf scharfe Kritik von Makrides (2009, S. 204–7) gestoßen.

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­Neuwirth (2017, S. 101) räumt ein, dass es im Koran „Gottes Intervention“ ist, die „immer wieder menschliche Errungenschaften zunichte gemacht“ und damit die „Autonomie des Menschen in ihre Grenzen verwiesen“ hat. In diesem Zusammenhang hat der katholische Theologe Klaus von Stosch, ein Verfechter des interreligiösen Dialogs, feststellen müssen, dass, während sich in der modernen christlichen Theologie ein Neuansatz entwickelt hat, „der das Freiheitsdenken ausdrücklich zur Basiskategorie theologischen Denkens macht“, eine vergleichbare Bewegung innerhalb der modernen muslimischen Theologie „noch weitgehend ein Desiderat‟ geblieben ist (Von Stosch 2016, S. 125). Es hat in der islamischen Welt immer auch kluge Köpfe gegeben, die sich dieser Problematik bewusst waren, darunter Ismāʿīl Aḥmad Adham (1911–1940), ein ägyptischer Publizist und bekennender Atheist, der die Tendenz in den muslimischen Gesellschaften kritisierte, die Welt vom Göttlichen her zu betrachten, um immer nur wieder bei Gott zu enden, der den Menschen an Regeln und Gesetze gebunden hat. In der orthodox-muslimischen Sicht gründet alle irdische Existenz in der Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit von Regeln und Gesetzen, die als in Zeit und Ort unveränderlich gelten (Adham 1938/2009, S. 139–40). Aus eigener, in einer Vielzahl islamischer Länder gewonnenen Erfahrung hat Annemarie Schimmel (1995, S. 311) die Weltanschauung des frommen Muslims dahin gehend zusammengefasst, dass für diesen sich der Islam überall im Universum zeigt, nämlich als „Ergebung und Unterwerfung unter das offenbarte göttliche Gesetz.“ Damit befördert der Koran eine geistige Haltung, die mehr an Gott und den himmlischen Gesetzen als an der irdischen Welt interessiert ist. Eine Reformationstheologie wäre vielleicht imstande, das Verhältnis des Islam zur Welt neu zu bestimmen, sie steht aber vor der Schwierigkeit, dass schon der Begriff „Theologie“ dem christlichen Kontext entstammt und im Islam allenfalls im kalām eine gewisse Entsprechung hat. Der kalām war jedoch nie Teil des traditionellen islamischen Bildungswesens, weil Theologie, indem sie eine Wissenschaft ist, die Gott zum Gegenstand hat, als unzulässig galt. Alternative Bildungsideale und ihre Institutionen waren bis Ende des 11. Jahrhunderts weitgehend aus der geschichte verschwunden (Borgolte 2002, S. 293). Wenn heute von „islamischer Theologie“ die Rede ist, ist eine Rechtswissenschaft gemeint, die an religiösen Grundprinzipien orientiert ist und darauf abzielt, „die religiösen Vorschriften möglichst linientreu zu verinnerlichen“, wie der schiitische Reformtheologe Reza Hajatpour (2005, S. 128–9) konstatiert. Ohnehin hat eine Reformtheologie nicht viele Anhänger im Islam. Forderungen nach einer Reform werden auch mit dem Argument abgebürstet, dass die Scharia, das islamische Gesetz, doch dermaßen reichhaltig und flexibel sei, dass man so ziemlich alles in ihr finden und mit ihr begründen könne, angefangen von

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den Menschenrechten bis hin zur Kompatibilität des Islam mit der Demokratie. Diese in apologetischer Absicht vorgetragene Argumentation scheitert jedoch an der orthodox-sunnitischen Auffassung, dass die Scharia nur als ganzes zu haben ist und zugleich über allen anderen Religionen stehen soll (Nagel 1988, S. 225; 2004, S. 42), d. h. selbst wenn sich Demokratie und Menschenrechte aus Teilen der Scharia heraus begründen lassen sollten, so blieben die Leibesstrafen (ḥudūd) Teil des Gesamtpaketes. Der sunnitischen Orthodoxie sind die Menschenrechte auch deshalb unbekannt, da aus ihrer Perspektive nur Gott Rechte, der Mensch allein Pflichten hat. (Lewis 2010, S. 71) Die sog. „Cairo Declaration“ vermag die Menschenrechte denn auch nur unzureichend aus der sunnitischen Theologie heraus zu begründen (Allawi 2009, S. 194). Schlüssiger sind Forderungen wie die von Bassam Tibi (2009, S. 183; 2012, S. 185), gleich die ganze Scharia auf Moral zu reduzieren. Ein solch radikaler Vorschlag wird sich aber nur mit Mühe durchsetzen und auf den Widerstand des theologischen Establishments stoßen. Aus diesem Dilemma findet die islamische Welt nicht so leicht heraus, aber wenn politische Reformen im Sinne eines liberal-demokratischen Gemeinwesens in islamischen Mehrheitsgesellschaften Aussicht auf Erfolg haben wollen, dann müssen die zugrunde liegenden Werte auch kulturell verinnerlicht werden (Vgl. Tibi 2009, S. 195). Natürlich kann man die Grundlagen der Moderne auch aus säkularen Zusammenhängen heraus begründen, wie dies die Vordenker der Nahḍa im 19. und 20. Jahrhundert in zum Teil sehr origineller und intelligenter Weise getan haben (Kreutz 2007, passim), doch spricht dies nicht gegen das Projekt einer reformierten Theologie. In der Vergangenheit haben Reformdenker im Wesentlichen drei Ansätze verfolgt: Der erste besteht darin, Willensfreiheit und individuelle Verantwortlichkeit, wie wir sie aus der Muʿtazila kennen, zum Dreh- und Angelpunkt einer erneuerten islamischen Frömmigkeit zu machen. Der zweite setzt auf den Primat der Vernunft und bedient sich dabei der Argumentation des Averroes (Vgl. von Kügelgen 1994, passim). Der dritte versucht, einen innerislamischen Rechtspluralismus und damit mehr Spielraum für menschliche Subjektivität zu erstreiten. Letzterer ist vor allem mit dem Namen Naṣr Ḥāmid Abū Zaid verbunden, der die Krise des Islam auf eine massive Vereinheitlichung und Verengung des islamischen Rechts durch die Lehre des Šāfiʿī (s. o.) zurückführt (Abū Zaid 1992, S. 101–2 und passim). Alle drei Ansätze sind bislang gescheitert und dies nicht aufgrund etwaiger Aporien, sondern weil ihre Vertreter es nicht vermocht haben, sie populär zu machen. Einer islamischen Reformation wird wohl so bald kein Erfolg beschieden sein. In den universitären Islamwissenschaften und angrenzenden Fächern hat ein reformierter Islam ohnehin kaum Anhänger. Dort begnügt man sich mit dem

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gegenseitigen Verstehen (Dialog), wobei man sich als Gesprächspartner gerne konservative Muslime und Islamisten aussucht, und ist ansonsten vollauf damit beschäftigt, das Gemeinsame und Verbindende zwischen den Religionen herauszustellen sowie den Islam in Dauerschleife gegen die Zumutungen aller möglichen „-ismen“ (Orientalismus, Eurozentrismus, Kolonialismus, Neoliberalismus etc.) zu verteidigen. Man schwelgt in der Erinnerung an Andalusien oder redet einem islamischen Suprematismus das Wort.5 Die Frage, warum sich manche Kulturen anders als andere entwickelt haben und welche Rolle die Religion darin spielt, scheint aus dieser Sicht zweitrangig oder gar unerheblich, sodass die Idee eines reformierten Islam als sinnlos empfunden wird.6 Wahrscheinlicher ist, dass der gesellschaftliche Wandel von der Globalisierung, die Menschen verschiedener Kontinente mit neuen Werten und Rollenbildern vertraut macht, angeregt und vor allem von den muslimischen Frauen eingefordert wird. Wenn Malaysias Chefetagen mittlerweile zu 37 % weiblich besetzt sind und dies vor allem dem Ehrgeiz der Frauen selbst zu verdanken ist oder Frauen sogar in den Pilotenberuf der afghanischen Luftwaffe drängen (Kreutz 2017), dann ist auch für die muslimischen Kulturen die Hoffnung auf ein Dasein, in dem sich Freiheit, Wohlstand, Partizipation und Menschenrechte ­miteinander verbinden, noch nicht verloren.

Literatur Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid. 1992. [Arab.] al-Imām al-Šāfiʿī wa-taʾsīs al-īdīyulūǧiyya al-wasaṭiyya. Kairo: Sina li-l-Nasr. Acemoglu, Daron, und James A. Robinson. 2012. Why nations fail: The origins of power, prosperity, and poverty. New York: Crown Business. Adham, Ismāʿīl Aḥmad. 2009. [Arab.] Bayna al-ġarb wa-l-šarq [= Brief Nr. 260 vom 27. Juni 1938]. In Adham, Ismāʿīl Aḥmad, Min maṣādir at-tārīḫ al-islāmī wa-nuṣūṣ uḫrā, 139–145. Damaskus: Dār Bitrā.

5Z.B.

Thomas Bauer (2011) (Vgl. Kreutz 2016, S. 79–102). diesem Sinne stellen die Thesen von Hans Joas den aktuellen Tiefpunkt der Religionssoziologie dar. Zu meiner Kritik an Joas’ Theorie von der „Sakralität der Person“ s. Zwischen Religion und Politik, a. a. O., S. 40–45, 78, 171–2; Zu Joas’ Kritik an Weber in Die Macht des Heiligen (2017) s. meine Besprechung „Religionssoziologie auf Abwegen“ (= Kreutz 2018). Wie allen Vertretern des Postkolonialismus geht es auch Joas nicht um ein Verstehen unterschiedlicher Entwicklungspfade, sondern darum, einen vermeintlichen „Okzidentalozentrismus“ in der Wissenschaft zu überwinden. 6In

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Nachwort Jörgen Erik Klußmann, Michael Kreutz und Aladdin Sarhan

Die Frage, ob der Islam sich auf Dauer mit dem säkularen Staat arrangieren kann, wird sich entscheidend auf das Verhältnis des Westens zur islamischen Welt auswirken. Für den Westen ist der weitgehend säkularisierte Staat eine Errungenschaft, die historisch mit der Schaffung von Rechtsstaatlichkeit und inklusiven Institutionen einhergegangen ist. Der heutige liberal-demokratische Verfassungsstaat verdankt seine Existenz zum Teil der Reformation und mehr noch der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die in der transatlantischen Doppelrevolution ihren Höhepunkt fand. Diese Entwicklung wäre nicht möglich ohne ein Menschenbild, das dem einzelnen zugesteht und zutraut, unabhängig von Staat und Kirche, Rasse und Herkunft frei seine Überzeugungen und Talente zu entfalten. Auch wenn heute in den modernen westlichen Industriestaaten Europas und den USA, sowie Südkoreas und Japans, sowie in zahlreichen Schwellenländern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das vorherrschende Modell sein mögen, so gilt dies nicht für Millionen Menschen auf der Welt nicht, wo autoritäre politische Verhältnisse Hand in Hand mit prekären wirtschaftlichen Verhältnissen der Massen gehen, auch wenn die absolute Armut auf dieser Welt wohl noch nie so gering sein dürfte wie heute. Es wäre aber zu einfach, nur die jeweiligen Machthaber für J. E. Klußmann ()  Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Kreutz  Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Sarhan  Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_14

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diese Situation verantwortlich zu machen. Die Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson (2012) haben gezeigt, wie der Nahe Osten noch heute unter dem institutionellen Erbe des Osmanischen Reiches leidet, einen Zusammenhang mit dem Islam aber weitgehend ausgeschlossen. Letzteres kann man bestreiten. Der Islamwissenschaftler Michael Cook (2014, S. 321) hat darauf hingewiesen, dass Freiheit kein Wert ist, der Eingang in die religiöse Tradition des Islam gefunden hätte, während Egalitarismus umso bedeutsamer ist (sich aber nicht auf Frauen, Sklaven und Ungläubige erstreckt). Dieser wird überformt durch eine koranische „Inszenierung von Gerechtigkeit“ (­Neuwirth 2017, S. 113), die auch zentral ist für das islamische Rechtsdenken. In der S ­ charia, im islamischen Gesetz, „ist die Frage nach der Gerechtigkeit Ausdruck eines pervasiven Prinzips, das in alle Formen und Verfahren der Rechtsgewinnung ausstrahlt.“ (Krawietz 2008, S. 49) Die gerechte Gesellschaft wiederum wird vor allem im Rahmen der Umma gedacht, weswegen in den muslimischen Ländern die Identifikation mit der Religionsgemeinschaft meist stärker ist als mit dem Nationalstaat. Die Türkei, die unter arabisch-muslimischen Intellektuellen lange als Vorbild gesehen wurde, insofern als sie die Behauptung zu widerlegen schien, dass ein mehrheitlich muslimisches Land kaum demokratisch sein kann, hat unter Präsident Erdogan zu mancher Ernüchterung geführt. Zwar dominieren die republikanischen Traditionen auch den neuen türkischen Staat, doch hat der Einfluss der Religion seit der Einführung des Laizismus durch den Staatsgründer Atatürk schon seit langem stetig zugenommen. Weil Gerechtigkeit ein zentraler Begriff der islamischen Geistesgeschichte ist, versteht es der politische Islam immer wieder, über ihn an Popularität zu gewinnen. Letztlich befindet sich die islamische Welt in einer Dauerkrise, auch wenn diese mal stärker, mal schwächer herrscht, wobei der politische Islam Teil des Problems ist, da er den Mangel an individueller Freiheit in den muslimischen Gesellschaften nicht zu überwinden imstande ist und dies auch gar nicht anstrebt. Gerade weil die Erfahrung gezeigt hat, dass die liberal-demokratische Ordnung wie keine andere geeignet ist, Wohlstand und Frieden zu schaffen, stellt sich die Frage, warum die muslimischen Ländern nicht einfach pragmatisch handeln und sich an diesem Modell orientieren. Braucht es dazu eine Reformation im Islam? Gesellschaftliche und religiöse Reformen wurden in der muslimischen Geschichte meist von der Obrigkeit angestoßen und sind von unten, also von der Gesellschaft, zurückgedrängt werden. Wie lange die Reformen, die derzeit Kronprinz Muhammad bin Salman in Saudi-Arabien anstößt, Bestand haben werden, ist daher alles andere als ausgemacht. Weise war auf jeden Fall der Zug, die Rechte der Frauen zu stärken, denn Frauen dürften am ehesten dafür sorgen, dass gesellschaftlicher Wandel nachhaltig bleibt. In einer veränderten Welt, in der

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mehr und mehr Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas aufsteigen, mag auch in der muslimischen Welt bei vielen Menschen der Wunsch geweckt sein, die alten Sozialstrukturen zu überwinden, um einem neuen Blick auf das Geschlechterverhältnis, die Machtverteilung, die Wirtschaft und allgemein auf die Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Dass dies von einem veränderten Verständnis des Islam sinnvoll flankiert werden könnte, ist ein naheliegender Gedanke, wobei es gleichgültig ist, ob wir von einer Reformation, einer Aufklärung oder einem Humanismus im Islam sprechen – es sind Etiketten, die nur zum Ausdruck bringen, dass die islamische Orthodoxie nicht länger in der Lage ist, ihre Sicht in der modernen Welt zu behaupten. Die Beiträge dieses Sammelbandes versuchen daher, die Sinnhaftigkeit einer Reformation im islamischen Kontext zu ermitteln, wobei es nicht darum gehen soll, die europäische Reformation 1:1 zu übernehmen, sondern ein Vorgang der Modernisierung gemeint ist, dessen Zweck die Bejahung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der weitgehenden Entflechtung der politischen Macht von der Religion ist. Bislang ist die ganze Debatte über den Islam stark von den Extremen geprägt: Während die einen eine Reformation im Islam für unmöglich halten, weil der Islam in seinem Menschenbild dafür viel zu autoritär sei, halten die anderen eine Reformation für unnötig, weil alle Probleme, von den die muslimischen Gesellschaften mit dem Islam nichts zu tun haben und ohnehin nur das Ergebnis westlicher Politik sei. Eine ganz andere Frage bleibt, welche Rolle in Zukunft die radikal-islamistischen und besonders dschihadistischen Bewegungen in der Region aber auch im Untergrund Europas spielen werden. Zwar wird es radikale Gruppen wohl immer geben und werden wir nie in einem Shangri-La zu hause sein, das keine Extremismen kennt. Sind die Modernisierungsdefizite, unter denen die muslimischen Gesellschaften leiden, jedoch erst einmal überwunden, dürfte das dem islamischen Extremismus zuträgliche soziale Umfeld austrocknen. Als allererstes bedarf es daher einer offenen Debatte, an der jeder ohne Einschüchterung die Rolle des Islam in der Gesellschaft thematisieren darf. Da die muslimischen Gesellschaften keine oder kaum so etwas wie eine Tradition der Religionskritik kennen, sind die Vorbehalte bislang noch immer besonders groß und müssen Apostaten in muslimischen Ländern mit körperlichen Übergriffen rechnen. Die individuelle Freiheit ist allgemein stark eingeschränkt und viele Aspekte des täglichen Lebens werden vom Kollektiv reguliert. Der Hang zur Selbstverwirklichung, wie er uns im Westen so selbstverständlich ist, wird in muslimischen Gesellschaften häufig unterdrückt oder ist oft einfach nicht vorhanden. Natürlich gibt es Rebellinnen und Rebellen gegen die erdrückenden gesellschaftlichen Konventionen, doch haben sie in den meisten Fällen kein leichtes Leben, weswegen sie oft genug in den Westen emigrieren.

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Im Westen begegnet ihnen dann das Paradoxon, dass Vertreter der reaktionären Kräfte, deretwegen sie ihr Heimatland verlassen haben, hierzulande den Schutz der Meinungsfreiheit genießen. Während die Regierungen einiger muslimischer Länder, darunter Saudi-Arabien, dazu übergegangen sind, den Extremismus einzudämmen, genießen dessen Vertreter im Westen die Vorzüge einer Ordnung, in der die Meinungsfreiheit gilt.1 Aufgeklärte Muslime, die eine kritische Haltung gegenüber ihrer eigenen Religion einnehmen, sehen sich daher Anfeindungen von genau den Kräften ausgesetzt, die überhaupt erst den Islam in Verruf gebracht haben. Daher darf die Debatte über die Sinnhaftigkeit einer Reformation im Islam nicht von der Gewaltfrage allein bestimmt werden, sondern muss die Bedingungen unter die Lupe nehmen, unter denen die Moderne zustande gekommen ist, und danach forschen, inwieweit der Islam ursächlich dafür ist, dass die muslimischen Länder außerstande sind, sie für sich zu reproduzieren. Dazu fehlen ihnen nicht nur Rechtsstaatlichkeit und inklusive Institutionen, sondern auch das Ethos, das diese Strukturen mit Leben füllt. Dass wir heute in einer Welt leben, in der wir ganz selbstverständlich Smartphones und Fernseher aus Korea und Autos aus China kaufen, aber keine Computer aus Ägypten, Elektroautos aus Pakistan, Software aus dem Jemen oder Medizintechnik aus Nigeria ist kein unabänderliches Schicksal dieses Planeten. Die meisten Muslime, die im Westen leben, sind zwar nicht religiös organisiert und auch nicht entsprechend interessiert. Die islamischen Verbände, wie sie beispielsweise in Deutschland entstanden sind, sind jedoch in der Mehrheit konservativ und politisch eher zurückhaltend. Ihre Aufmerksamkeit gilt in erster Linie der Anerkennung als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft mit allen steuerlichen aber letztlich dann wieder auch politischen Vorteilen. Zwar bekennen sich die meisten Verbände zum demokratischen Rechtsstaat, doch wie tief die Verbundenheit mit dem deutschen Staat reicht, bleibt oftmals fraglich. Von dieser Seite darf man also nicht viel erwarten. Ganz anders sieht es dagegen mit den neuen Absolventen einer in Europa ausgebildeten islamischen Theologie und natürlich insgesamt der akademischen Elite junger Muslime aus, die meist hier groß geworden und sozialisiert wurden und in den allermeisten Fällen ebenfalls akademisch vorgebildeten oder zumindest

1Vgl.

„Opinion: UK Cabinet needs to stop making Britain haven for extremists“ by Imam Tauwhidi and Dhafir Shammery, Albawaba vom 24. Juli 2018. https://www.albawaba. com/news/uk-cabinet-needs-stop-making-britain-haven-extremists-1163604 Zugegriffen: 31.08.2018.

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bürgerlichen und relativ wohlhabenden Familien entstammen. Auch wenn eine Reformation im Islam nicht das Allheilmittel für alle Probleme sein wird, von denen die muslimischen Gesellschaften geplagt sind, so wäre schon die Bereitschaft zu einem kritischen Diskurs über die eigene Religion – wofür es Vorbilder gibt – ein Schritt in die Moderne.

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