Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen [1 ed.] 9783428457229, 9783428057221

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Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen [1 ed.]
 9783428457229, 9783428057221

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Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen

RECHTSTHEORIE Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts

Beiheft 5

Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen

Herausgegeben von

Werner Krawietz und Helmut Schelsky

DUNCKER

&

HUMBLOT

I

BERLIN

Zitiervorschlag: ]an M. Broekman, Darstellung als Theorie,

in: RECHTSTHEORIE Beiheft 5 (1984), S. 15·34.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen I hrsg. von Werner Krawietz u. Helmut Schelslty.- Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Rechtstheorie: Beiheft; 5) ISBN 3-428-05722-8 NE: Krawietz, Werner [Hrsg.]; Rechtstheorie I Beiheft

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, B e rlin 41 Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A . Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Prtnted in Germany

© 1984 Duncker

ISBN 3·428·05722·8

Vorwort Am 11. Oktober 1981 jährte sich der 100. Geburtstag von Hans Kelsen. Aus diesem Anlaß fand in Haus Rothenberge, dem Landheim der Universität Münster, vom 13. bis 14. November 1981 ein Interdisziplinäres und Internationales Kolloquium "Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen" statt. Der Gedanke, ein derartiges Kolloquium durchzuführen, tauchte erstmals auf in einem rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Seminar "Über H. L. A. Harts ,Begriff des Rechts'", das Helmut Schelsky und ich gemeinsam im Wintersemester 1975/76 an der Universität Münster veranstalteten. Es führte uns drei Dinge vor Augen: (i) die Notwendigkeit, die bisherigen Ansätze analytischer Jurisprudenz von John Austin bis Hart eingehend zu untersuchen und in ihrem Theoriedesign mit Kelsens Reiner Rechtslehre zu vergleichen, die das Ideal der analytischen Rechtstheorie bislang wohl am vollkommensten verkörperte; (ii) die Tatsache, daß -- bei allen Gemeinsamkeiten, die zwischen

Kelsen und Hart bestehen und auf die letzterer auch immer wieder hinweist - beide Autoren sich in der rechtswissenschaftliehen Theoriebildung grundlegend unterscheiden darin, daß Kelsen die Soziologie, insbesondere die Rechtssoziologie, im Rahmen seiner Rechtslehre kategorisch aus der Theoriebildung ausschließt, während Hart seine analytische Jurisprudenz von vornherein zugleich als einen "Versuch in deskriptiver Soziologie" konzipiert;

(iii) den tiefgreifenden Wandel und rechtstheoretischen Paradigmenwechsel, der sich in Deutschland im Rechtsdenken schon am Ausgang des 19. Jhdts. vollzog und der schon früh zu einer Überwindung des juristischen Positivismus führte, so daß hier die Reine Rechtslehre Kelsens im wesentlichen gar nicht mehr Fuß zu fassen vermochte. Offensichtlich liegt hierin der Grund für den deutlichen Unterschied zwischen den heutigen Richtungen analytischer Jurisprudenz, die zumindest in der Österreichischen Jurisprudenz noch immer dem Gesetzes- und Rechtspositivismus verhaftet sind, und einer normativ-realistischen Rechtsauffassung, die von der in Westdeutschland heute vorherrschenden Interessen- und Wertungs-

6

Vorwort jurisprudenz ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird. Kein Zweifel, daß auch Helmut Schelskys Institutionentheorie des Rechts und der Gesellschaft insoweit schon einem nachpositivistischen Rechtsrealismus zuzurechnen ist, der von Anfang an die Kluft zwischen den Sollens- und den Seinsaspekten des Rechts zu überbrücken suchte.

Von daher lag es in der Tat nahe, im Hinblick auf den Begriff des Rechts die Auffassungsunterschiede zu rekonstruieren, die den bloß analytischen wie den rechtsrealistischen Richtungen moderner Rechtstheorie zugrunde liegen. Es war die Idee von Helmut Schelsky, die in Münster ansässigen, auf dem Gebiet der Rechtstheorie, Rechtssoziologie und/oder Rechtsphilosophie tätigen Fachkollegen einmal in Rotbenberge in einem Kolloquium zu vereinen, um - auch in vergleichender Absicht! - die normativen Strukturprobleme näher zu beleuchten, die das Recht in den staatlich organisierten Rechtssystemen der modernen Gesellschaft aufwirft. In den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den analytischen und den realistischen Richtungen der modernen Rechtstheorie hat Schelsky - in Frontstellung gegenüber Kelsen und Hart, aber in unmittelbarem Anschluß an Ihering und in der Nachfolge Max Webers- seit jeher die Position eines schon nachpositivistischen Rechtsrealismus eingenommen. Das Kolloquium wurde veranstaltet vom Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie der Universität Münster. Obwohl Helmut Schelsky auch nach seiner vorzeitigen Emeritierung Ende März 1978 weiterhin regen Anteil an der Arbeit des Lehrstuhls nahm, soweit seine Zeit dies erlaubte, konnte er - damals erkrankt - an dem Kelsen-Kolloquium nicht persönlich teilnehmen, doch hat er dessen Vorbereitung, wie andere rechtstheoretische Symposien, mit Rat und Tat unterstützt. Gleichwohl hätte diese Veranstaltung nicht durchgeführt werden können, wenn eine Reihe von Münsteraner Fachkollegen und Mitgliedern der Westfälischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), unter ihnen der Vorsitzende der Sektion, Herr Professor Dr. Norbert Achterberg, nicht wie immer tatkräftig mitgewirkt hätten. Dafür sei ihnen allen an dieser Stelle sehr herzlich gedankt! Der engere Teilnehmerkreis des Rothenberger Kolloquiums setzte sich zusammen: 1. aus einer Reihe von Hochschullehrern und Wissenschaftlichen Assistenten der Fachbereiche Rechtswissenschaft und Philosophie der Universität Münster, 2. aus weiteren Mitgliedern der Westfälischen Sektion der IVR in Münster, zu der auch zahlreiche Rechtspraktiker, insbesondere Richter der hiesigen Gerichte, gehören und 3. aus den studentischen Teilnehmern eines Rechtstheoretischen Seminars "Über Hans

Vorwort

7

Kelsens ,Reine Rechtslehre'", das ich, gemeinsam mit meinem Münstersehen Fachkollegen, Herrn Prof. Dr. Valentin Petev, im Wintersemester 1981/82 durchgeführt habe. Als ausländische Gäste nahmen am Rothenberger Kolloquium auch die Professoren Dres. Jan M. Broekman (Leuven), Stig Jergensen (Arhus) und Raffaele De Giorgi (Neapel) mit eigenen Referaten persönlich teil. Die Abgeschiedenheit des Beisammenseins in dem von der Förderergesellschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität zur Verfügung gestellten Haus Rothenberge, das für derartige interdisziplinäre Vorhaben geradezu geschaffen erscheint, erwies sich einmal mehr als überaus fruchtbringend. Hierfür sei der Förderergesellschaft der Universität, welche den Rahmen und die Voraussetzungen auch für diese Begegnung geschaffen hat, vor allem dem Ehrenvorsitzenden der Vereinigung, Herrn Prof. Dr. Harry Westermann, sowie dem ersten Vorsitzenden, Herrn Dr. Ludwig Trippen, ganz herzlich Dank gesagt. Der besondere Dank der Veranstalter gebührt ferner dem Rektorat sowie dem Kanzler der Universität, Herrn Dr. Triebold, welche die Beteiligung auch auswärtiger Gelehrter an dieser Tagung ermöglichten und das Vorhaben unterstützten. Im übrigen dominierte naturgemäß, wie bei derartigen Werkstattgesprächen im Rahmen der Rothenberger Kolloquien und Wochenendseminare üblich, die lokale Beteiligung an dieser Arbeitstagung. Der vorliegende Band setzt sich aus folgenden Teilen zusammen: I. Probleme der Darstellung und Rekonstruktion der Reinen Rechtslehre II. Begriff und Geltungsgrund des Rechts in der Kelsenschen Rechtstheorie III. System der Rechtsquellen als Stufenbau des Rechts IV. Begründung und Einheit der Rechtsordnung V. Möglichkeiten der Überbrückung von Sollen und Sein. Er vereinigt die Ergebnisse dieses Kolloquiums, die für die Zwecke der Veröffentlichung noch einmal überarbeitet wurden. Es handelt sich durchweg um Originalbeiträge, die eigens für diesen Band unter dem obigen Rahmenthema verfaßt, wenn auch nicht sämtlich während des Kolloquiums als Referate vorgetragen und diskutiert wurden. Letzteres gilt vor allem für die Beiträge von einigen auswärtigen und ausländischen Freunden und Fachkollegen, wie beispielsweise diejenigen der Professoren Dres. Hendrik J. van Eikema Hommes (Amsterdam), Ilmar Tammelo (Salzburg), Jerzy Wr6blewski (l..6dz), Ota Weinherger (Graz) und Roberto Vernengo (Buenos Aires). Verschiedener Umstände

Vorwort

8

halber konnten letztere nicht persönlich an dieser Veranstaltung teilnehmen, doch hatten sie uns schon vor dem Rothenberger Kolloquium ihre Referate übersandt. Besonderes Interesse dürfte die Abhandlung von Frau Dr. Ruth Erne (Milano) erwecken, deren Abdruck in diesem Bande durch die freundliche Vermittlung von Herrn Prof. Dr. Mario G. Losano (Milano) zustande kam. Die Herausgeber sind hierfür Frau Erne und Herrn Kollegen Losano zu besonderem Dank verpflichtet. Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um die Dokumentation eines Schriftwechsels, der in den Jahren 1965/66 aus Anlaß der Übersetzung der 2. Aufl. der Reinen Rechtslehre ins Italienische zwischen Hans Kelsen und seinem Übersetzer Losano geführt wurde. Dieser Schriftwechsel enthält die letzten authentischen Hinweise Kelsens zur Revision der Reinen Rechtslehre, die hier erstmals im originalen deutschen Wortlaut publiziert und damit der deutschsprachigen wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Ursprünglich nicht für diesen Band vorgesehen waren die Beiträge der Professoren Dres. Arevalo Menchaca (Basel) und Hubert Rottleuthner (Berlin), die mir für den Abdruck in dieser Zeitschrift zur Verfügung gestellt worden waren. Wegen des sachlichen Zusammenhangs mit dem Rahmenthema erschien es mir jedoch angezeigt, beide Abhandlungen in diesem Beiheft zu veröffentlichen. Ich danke den Autoren für ihr freundliches Einverständnis. Mit dem Dank an alle, die zu diesem Bande beigetragen haben, verbinde ich ein stilles Gedenken an diejenigen, die der Tod inzwischen aus unserer Mitte gerufen hat. Noch vor der Veröffentlichung dieses Buches verstarben: Ilmar Tammelo am 7. Februar 1982, Helmut Schelsky am 24. Februar 1984 und Hendrik Jan van Eikema Hommes am 3. September 1984. Ihr denkerisches Vermächtnis wird fortwirken und hält sie für uns lebendig! Für ihre Mithilfe beim Druckfertigmachen der Manuskripte sowie bei den Fahnen- und Umbruchkorrekturen danke ich den Mitarbeitern an meinem Lehrstuhl, insbesondere meiner Sekretärin Frau Martina Böddeling und meinen Assistenten Frau Petra Werner sowie den Herren Volker Dieckmann, Referendar Andreas Sehemann und Referendar Edgar Schröder. Münster, im Oktober 1984

Werner Krawietz

Inhaltsverzeichnis I. Probleme der Darstellung und Rekonstruktion der Reinen Rechtslehre Jan M. Broekman:

Darstellung als Theorie

15

Ruth Erne:

Eine letzte authentische Revision der Reinen Rechtslehre . . . . . . . . . .

35

Wolfgang Meyer-Hesemann:

Zur rechtstheoretischen Rekonstruktion der Reinen Rechtslehre . . . .

63

Rosemarie Pohlmann:

Zurechnung und Kausalität. Zum wissenschaftstheoretischen Standort der Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Dieter Wyduckel:

Über die Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht in der Reinen Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Begriff und Geltungsgrund des Rechts in der Kelsenschen Rechtstheorie Victor Arevalo Menchaca:

Die ,Unreinheit' der Reinen Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 H endrik J. van Eikema Hommes:

The Development of Hans Kelsen's Concept of Legal Norm . . . . . . . . 159 Stig

J~rgensen:

Grundnorm und Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Dieter Kühn e: Die Grundnorm als inhaltlicher Geltungsgrund der Rechtsordnung . . 193 Wolfgang Mincke:

Die Grundnorm im Internationalen Privatrecht Jens-Michael Priester:

Die Grundnorm

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

eine Chimäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

I!mar Tammelo:

Von der reinen zu einer reineren Rechtslehre

............... .. .. .. . 245

Inhaltsverzeichnis

10

111. System der Remtsquellen als Stufenbau des Remts Werner Krawietz:

Die Lehre vom Stufenbau des Rechts - eine säkularisierte politische Theologie? ..................... .. ........ .. . .... ......... .. ........ 255 Valentin Petev:

Rechtsquellenlehre und Reine Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Hans Ulrich Scupin:

Die Reine Rechtslehre und der Streit zwischen Rechtspositivismus und moderner Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Andreas Trupp:

Zur Kritik der Stufenbautheorie und der wissenschaftstheoretischen Konzeption der Reinen Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Jerzy Wr6blewski:

Dilemmas of the Normativistic Concept of Legal System . . . . .. .. . . .. 319 IV. Begründung und Einheit der Rechtsordnung Albert Bleckmann:

Monismus mit Primat des Völkerrechts. Zur Kelsenschen Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht . . . . . . . . . . . . 337 Friedrich Kaulbach:

Die Begründung der Rechtsnormen in Reiner Rechtslehre und in einer transzendentalen Philosophie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34!:1 Fritz Pardon:

Reine Rechtslehre und Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 F1·iedrich E. Schnapp:

Hans Kelsen und die Einheit der Rechtsordnung. Bemerkungen zur Relativität juristischer Qualifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Robert Weimar:

Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt. Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Ota Weinberger:

Logik, Wirklichkeit und Positivität in der Reinen Rechtslehre . . . . . . 425 V. Möglichkeiten der Vberbrückung von Sollen und Sein Norbert Achterberg:

Brücken zwischen Sein und Sollen: Autonome Determinante und modal indifferentes Substrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Inhaltsverzeichnis

11

Claus-E. Bärsch:

Lex vinculum societatis. Das Verhältnis von Recht, Macht und Gesellschaft in Kelsens allgemeiner Lehre vom Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Raffaele De Giorgi:

Wer rettet Marx vor Kelsen? Zur Kritik der Reinen Rechtslehre an der marxistischen Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Volker Gerhardt:

Die Macht im Recht. Wirksamkeit und Geltung bei Hans Kelsen . . 485 Hubert Rottleuthner:

Rechtstheoretische Probleme der Soziologie des Rechts. Die Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Eugen Ehrlich (1915/1917) .. .. . ... 521 Roberto J. Vernengo: Das modal indifferente Substrat der Normen in der Allgemeinen Theorie der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Verzeichnis der Mitarbeiter

561

I. Probleme der Darstellung und Rekonstruktion der Reinen Rechtslehre

DARSTELLUNG ALS THEORIE Von Jan M. Broekman, Leuven Die ,Reine Rechtslehre' verbindet die Idee einer Rechtstheorie ganz besonders mit der einer Darstellung. Denn es entsteht aus verschiedenen Bemerkungen von Kelsen der Eindruck, daß Theorie für ihn Darstellung, Erhellung, Verdeutlichung, Enthüllung des gegebenen positiven Rechts ist. Je gelungener die Darstellung ist, desto reiner ist die Rechtstheorie. Ja, die Reine Rechtslehre ist nur als solche zu verstehen, weil sie gelungene Darstellung ist. Die Konsequenz wäre, daß die positivistische Ausrichtung jenes Werkes mit der Darstellungsproblematik aufs engste verbunden ist. Hinzu kommt, daß auch andere Nuancen der Reinen Rechtslehre in diese Richtung weisen. Sie wird in demselben Zusammenhang als eine möglichst exakte Strukturanalyse des positiven Rechts beschrieben. Diese Strukturanalyse wäre als genauere Bezeichnung des Begriffes der Darstellung zu interpretieren und keineswegs im Sinne des analytischen Strukturalismus. Die letztere Denkrichtung faßt nämlich den strukturanalytischen Vorgang als Ergebnis von zwei gegenläufigen Bewegungen auf, nämlich von Komposition und Dekomposition1. Bei Kelsen geht es jedoch ausschließlich um Konstruktionsvorgänge im Rahmen des geltenden positiven Rechts, besonders im Sinne einer Extrapolierung der juristischen Dogmatik. Weiterhin ist ersichtlich, daß aufgrund einer gelungenen Darstellung die objektivistischuniversalistische Haltung der Reinen Rechtslehre hervorgehoben wird mitsamt der ideologiefreien Einstellung dieser Rechtslehre, da diese von allen politischen Werturteilen befreit ist. Denn Darstellung sei nur Darstellung, und keine Standpunkteinnahme. Auch die Grundnorm, so wird mehrfach betont, ist Erkenntnis und keine normsetzende Autorität. Die Grundnorm hat eine erkenntnistheoretische und das impliziert für Kelsen: keine ideologische Funktion. Es ist klar und einsichtig, daß die Darstellungsproblematik nicht an erster Stelle eine rechtstheoretische Problematik ist. Sie ist primär ein tiefes und umfangreiches philosophisches Thema, daß zunächst große metaphysische, sprachtheoretische und ästhetische Fragen berührt. Auf sie kann natürlich in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 1

Jan M. Broekman, Strukturalismus. Moskau - Prag - Paris, Freiburg

i. Br. 1971, S . 20 f., 110 ff.

Jan M. Broekman

16

Es wäre dennoch angebracht, um drei Bemerkungen zu dieser Problematik auszuarbeiten. An erster Stelle soll die Darstellungsproblematik mit Struktur und Anliegen der juristischen Dogmatik zusammengebracht werden. Daraufhin wäre die Frage zu erörtern, welche Bedeutung der sprachlichen Artikulation durch Schrift und Text hinsichtlich der Darstellungsproblematik zukommt. Das geschieht ganz besonders in Bezug auf den Gegensatz zwischen Recht und Gewohnheit. Schließlich wäre auf die möglichen Verschiedenheiten einer Sprachauffassung im Begriff der Darstellung hinzuweisen. Die Konsequenzen für die Rechtsauffassung, für die Sprachauffassung im Recht und besonders für die Rechtsetzung als Eckpfeiler der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis drängen sich bei der Lektüre der Reinen Rechtslehre ganz besonders auf. Sie weisen erneut auf die eingangs gestellte Frage nach dem Status von Theorie im Bereich des Rechtsdenkens hin. I. Rechtstheorie als Darstellung

Die ,Reine Rechtslehre' will ausschließlich Darstellung des jeweiligen positiven Rechts sein, ohne sich mit Fragen nach einer Idealität oder einer Richtigkeit des Rechts zu befassen. "Sie will das Recht darstellen, so wie es ist, nicht so wie es sein soll: sie fragt nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem ,idealen', ,richtigen' Recht. Sie ist in diesem Sinne eine radikale realistische Rechtstheorie ... Sie betrachtet sich als Wissenschaft zu nichts anderem verpflichtet, als das positive Recht seinem Wesen nach zu begreifen und durch eine Analyse seiner Struktur zu verstehen ... Gerade durch diese ihre anti-ideologische Tendenz erweist sich die Reine Rechtslehre als wahre Rechtswissenschaft. Denn Wissenschaft hat als Erkenntnis das immanente Streben, ihren Gegenstand zu enthüllen. ,Ideologie' aber verhüllt die Wirklichkeit, ... hat ihre Wurzel im Wollen, nicht im Erkennen, entspringt gewissen Interessen, richtiger: anderen Interessen als dem Interesse an der Wahrheit" 2 • Es ist rechtstheoretisch und auch philosophisch von Belang, hier die zentrale Bedeutung des Begriffes der Darstellung hervorzuheben. Die Aussage, nach welcher die Reine Rechtslehre eine ideologiefreie und somit reine Darstellung des positiven Rechts leistet, ist nicht zu übersehen. Sie enthält nicht nur den Keim des Rechtspositivismus, sondern eine umfassendere Problematik, die teilweise sogar über die Idee der Reinen Rechtslehre und ihres Positivismus hinausgeht. 2

H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1960, S. 112.

Darstellung als Theorie

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1. Der Jurist, ganz besonders der Rechtspraktiker, betrachtet es als seine Aufgabe, Sachlagen und Tatbestände, Verhältnisse und Fakten, von denen er meint, daß er sie vorgegeben findet, lediglich zu verdeutlichen und zu erhellen. Diese Selbstauffassung charakterisiert die juristische Denkform in ihrer Allgemeinheit, also ungeachtet der besonderen Eigenart einzelner Rechtsdisziplinen. Immer soll der Anspruch wahrgemacht werden, daß Fakten und Sachlagen durch den juristischen Zugriff nicht geändert werden, da sonst die Rechtssicherheit nicht länger gewährleistet wird. Darum soll immer nur erhellt werden, was in einer unklaren Form im Sozialbereich bereits vorliegt. Es soll mit Hilfe der juristischen Artikulation lediglich Wesentliches hervorgehoben und Eigentliches deutlicher formuliert werden. So wird der Stoff des sozialen Lebens für eine juristische Lösung oder Regelung gewissermaßen zubereitet.

Juristische Beweisführung und Wahrheitsfindung sind somit in der Sicht des Praktikers als Artikulation eines Vorhandenen, als Arbeit der Verdeutlichung und der Hervorhebung zu verstehen. Das wird besonders deutlich am Vorgang des Prozeßverfahrens. Es gilt jedoch, wie die Problematik des Legalismus zeigt, allgemein für die juristische Denkform. In dieser Denkform tritt die Wirklichkeit in einer besondere~ Gestalt auf. So sollen Tatbestände und Sachlagen im Recht immer als konfliktuös dargestellt werden. Erst dann bekommt die juristische Erheilung der bereits vorgegebenen sozialen Wirklichkeit ihren Sinn. Denn nur so kann eine erneute Harmonie durch einen juristischen Eingriff zustandegebracht und ein neues Gleichgewicht erreicht werden. Juristische Rationalität wird letzten Endes durch diesen Zweck bestimmt. Die Darstellung der Wirklichkeit drückt sich im Bereich unserer abendländischen Kultur unter anderem und ganz besonders in der Darstellungsform des positiven Rechts aus. Diese Form wird weitgehend durch die herrschende Dogmatik bestimmt. Ganz im Sinne dieser Dogmatik betrachtet die Reine Rechtslehre sich darum als Darstellung, nämlich als Darstellung des geltenden positiven Rechts. Eine Verdoppelung, ja Verdreifachung der ,Darstellung' liegt vor: 1. Das positive Recht ist juristische Darstellung der vorhandenen sozialen Realität, 2. die juristische Dogmatik ist die beherrschende Kraft des positiven Rechts und als solche bereits Darstellung dieses Rechts, und 3. die Reine Rechtslehre ist ihrerseits als Extrapolierung dieser Dogmatik die vollständigste und reinste Darstellung des gesamten geltenden positiven Rechts. Das Hauptgewicht fällt bei alledem auf die Kontinuität jener ineinander verschränkten Darstellungen, da zuerst Diskontinuität vorgefunden werden soll, um juristisches Eingreifen zu legitimieren. Aber diese Kontinuität jener Darstellung der Wirklichkeit durch das 2 RECHTSTHEORIE, Beiheft 5

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Jan M. Broekman

Recht ist zugleich als Kontinuität der Erzählform von Wirklichkeit aufzufassen. Denn wenn die Erzählung stockt, ist die Wirklichkeitsauffassung und die erzählerische Präsenz jener Wirklichkeit sowie der mit ihr verbundenen Ordnung in Gefahr. Diese Kontinuität erscheint also als Belang des juristischen Denkens, Handeins und Sprechens überhaupt. Wegen der verborgenen Wirkung dieses Belangs ist Recht niemals ideologisch neutral. ,Belang' in diesem juristischen Sinn ist identisch mit ,Wert' im kulturphilosophischen Sinne. Das Recht dient diesem Belang und diesem Wert, indem es vorhandener Wirklichkeit zu einer neuen und vorher gänzlich ungeahnten Deutlichkeit verhilft. Das geschieht mit Hilfe der juristischen Dogmatik, die diesen Artikulationsvorgang genau bestimmt. Sie hat eine besondere Technik entwickelt, nämlich die Arbeit der verfeinernden Wiederholung. Als eine solche Technik der verfeinernden Wiederholung wäre wohl die gesamte juristische Dogmatik zu bestimmen. Rechtsetzung, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung transformieren Wirklichkeit in juristischer Weise, aber sie bewirken niemals eine juristische creatio ex nihilo: ihre Wirklichkeit entsteht aus Wiederholung des bereits Bestehenden. Dieser Transformationsvorgang ist sprachlich und ganz besonders textuell ausgeprägt. Dogmatische Aussagen, juristisch relevante Texte, prozessuale Beweisführungen, als Tatsache festgelegte Sprechstrategien und Erzählfragmente sind insgesamt Bruchstücke einer verfeinernden Wiederholung der bereits vorgegebenen wirklichkeitskonstituierenden Erzählform, die man als juristischen Diskurs kennzeichnen kann. Die Rationalität jenes Diskurses ist im Grunde als juristische Relationalität aufzufassen, nämlich als Bestimmung von möglichen Verbindungen und Zusammenfügungen aller dogmatisch vorgegebenen Aussagen und Texte. Falls ein Wirklichkeitsfragment als ,a' zu benennen ist, so heißt solches, daß es juristisch als ,b' zu betrachten wäre. Wenn das so ist, dann sind die rechtlichen Folgen daraus ,x'. Die besagte Realität wird sich demnach weiterhin als ,y' hervortun. Die innere Ordnung von ,a', ,b', ,x' und ,y' ist nun in den Grundwerten unserer Kultur verankert und infolgedessen nicht nur als Rechtsnorm, sondern darüber hinaus als kultureller Wert zu betrachten. Auch hier ist die Kontinuität der Darstellung von Wirklichkeit als ,Belang' wirksam. Denn ,a' kann nur unter der Voraussetzung jener Kontinuität als ,y' aufgefaßt werden, und zwar juristisch im Sinne von ,b'. Die Benennung von ,a' als ,y' wird juristisch als Verdeutlichung und ganz besonders als Darstellung aufgefaßt. Solches kann nur geschehen kraft der besonderen, dogmatisch festgelegten referentiellen Struktur: "im Sinne von ,b' ".

Darstellung als Theorie

19

Darin ist die Voraussetzung wirksam, daß alle ,a' als ,b' aufgefaßt werden kann. Ist das tatsächlich und immer der Fall? Die Bejahung jener Frage wäre dogmatisch zu verstehen, nämlich als grundsätzliche Juridifizierbarkeit aller Realität. Wirklichkeit hat für den Juristen immer die Konnotation jener allezeit zu aktualisierenden Juridifizierbarkeit. Kulturphilosophisch wäre dies als Ideologie zu kennzeichnen. Die juristische Aktivität des allgegenwärtigen Benennens verschleiert dieses ideologische Moment, denn sonst wäre die juristische Aktivität als brüchig und diskontinuierlich vor- oder darzustellen und damit wäre die Rechtssicherheit gefährdet. Darum entwickelt der Jurist eine Sprechstrategie, die wiederholbare Formen auferlegt, Artikulationszwänge als linguistisch freie Variationen der natürlichen Umgangssprache qualifiziert und Kontinuität aller möglichen Aussagen über Wirklichkeit als verdienstvolle Selbstverständlichkeit garantiert. 2. Das Verhältnis des Rechtspraktikers zu den juristisch relevanten Fakten und Gegebenheiten des sozialen Lebens wird also an erster Stelle bestimmt durch seine Aufgabe, zu einer Darstellung zu gelangen. Er soll diese Fakten juristisch darstellen, durch diese Darstellung der Natur der Sache sogar näher kommen, aber er darf weder ändern, wegnehmen noch hinzufügen. Alles soll lediglich klarer werden als vor der juristischen Regelung oder vor dem juristischen Eingriff. Wie bereits gesagt wurde: Strukturen der Realität sollen enthüllt werden, wesentliche Momente der Wirklichkeit sollen klar ins Auge springen, ja, diese Wirklichkeit soll gerade durch die juristische Tätigkeit zu einer adäquaten Artikulation gelangen. Aber das soll niemals mit Hilfe einer Konstruktion neuartiger Wirklichkeiten geschehen, sondern immer durch eine verfeinernde Wiederholung des bereits Vorhandenen. Diese Einschränkung ist zugleich ein dogmatischer Grundsatz, der auch außerhalb des Rechtspositivismus gilt und im Wesentlichen die juristische Denkform als solche beherrscht. Man könnte sagen, daß dieser Grundsatz ein wesentlich legalistischer ist, ohne welchen die Rechtspraxis und die Rechtslehre nicht tätig werden können. Natürlich gibt es eine Fülle von künstlichen Konstruktionen in der Rechtswissenschaft, aber auch diese besitzen nach der Auffassung des Rechtspraktikers keinen Realitätsgehalt. Sie sollen lediglich einem besseren Verständnis, d. h. einem erkenntnistheoretisch adäquateren Zugriff hinsichtlich der gegebenen Wirklichkeit dienen, so sagt Kelsen mehrfach. Als juristische Realitäten sind sie darum lediglich Momente der Dogmatik - außerhalb dieser Dogmatik haben sie keine Existenzberechtigung. Aus diesem Grunde ist es verständlich, daß bei Kelsen die Einstellung des Praktikers und dessen philosophische Haltung auch auf das Theorieverständnis übertragen wird. Was ,Rechtstheorie' ist, wird in der Reinen 2•

20

Jan M. Broekman

Rechtslehre von der Auffassung des Praktikers bestimmt. Eine Ausdifferenzierung der Begriffe ,Philosophie' und ,Theorie' oder aber von ,Theorie' und ,Wissenschaft' findet folglich nicht statt. Darum wird auch der legalistisch inspirierte Wissenschaftsbegriff des Praktikers fraglos übernommen. Die Reine Rechtslehre, so heißt es im oben angeführten Zitat, " ... will das Recht darstellen, so wie es ist ... Wissenschaft hat als Erkenntnis das immanente Streben, ihren Gegenstand zu enthüllen." Die zentrale Bedeutung der Idee einer Darstellung beherrscht also das Verhältnis von Dogmatik und Theorie. Weil Theorie sich im Rechtsdenken auf reine, d. h . abbildende und erhellende Darstellung zu beschränken hat, ist sie eine Funktion der juristischen Dogmatik, ja, eine Extrapolierung dieser Dogmatik. Theorie kann nach diesem Verständnis immer nur erhellen, was dogmatisch schon als juridifizierbare Wirklichkeit bereitgestellt wurde. Das gilt auch für die Methodik: die Nomenklatur des positiven Rechts und die auf sie aufgebaute Rechtstheorie hält diese Aktivität für eine Selbstverständlichkeit, die demnach nicht nur die eigene Wissenschaft, sondern einen Zugriff hinsichtlich der gesamten Wirklichkeit zur Folge hat. Darum steht diese Totalität für den Rechtspraktiker immer schon im Zeichen einer von der juristischen Dogmatik bestimmten Relevanz. Außerhalb dieser Relevanz gibt es für den Juristen weder Fakten noch Problemlösungen. Theorie ist für die Reine Rechtslehre also eine Aktivität, die ausschließlich als Extrapolierung der Dogmatik zu verstehen wäre. Diese wird jedoch mit Hilfe der Darstellung, also eines vieldeutigen und keineswegs ,reinen' Ausdrucks, als Rekonstruktion vorgestellt. Unterstützt wird dieser Vorgang durch eine philosophische Auffassung von Wissenschaft, die Grundzüge des Legalismus und des Positivismus aufs engste miteinander verbindet. Auf diese Art und Weise wird jedoch verschleiert, daß ,reine' Darstellung, genau so wie ,reine' Wahrnehmung, eine Abstraktion ist. Es genügt jedoch nicht, dies festzustellen, denn eben diese Abstraktion hat im Bereich der abendländischen Kultur eine überragende Funktion, auf die der Positivismus und mit ihm eigentlich die gesamte Rechtswissenschaft Bezug nimmt. Jene Abstraktion von der vollen Konkretion des faktischen Lebens ist im Rahmen unserer abendländischen Kultur als eine Grundvoraussetzung, ja, als ein Grundwert zu betrachten. Denn erst durch sie und auf Grund ihres Vollzugs kommt die "Objektivität' der Wissenschaft zustande. Aber dieser Charakterzug unserer Kultur darf nicht in einer a-historischen Weise verstanden werden. Er soll gerade in seiner Historizität und somit als besondere Wertsetzung genommen werden. Und er soll durchschaubar werden im Prozeß einer hermeneutischen Auslegung. In diesem Prozeß geht es nicht um Wahrnehmung-

Darstellung als Theorie

21

wie die traditionelle philosophische Auffassung der Rechtstheorie nahelegt -, sondern um Sprache. So ist, nebenbei und in unserem Zusammenhang nur als Illustration bemerkt, der juristische Wahrheitsbegriff philosophisch betrachtet nicht als Adäquanz der Wahrnehmung, sondern als Moment der humanen Rede zu verstehen. Lehrreich ist, daß die juristische Dogmatik nun versucht, diese Einsicht, die gewiß eine dynamische und relativierende ist, festzulegen. Im Recht wird Sprache zunächst als Schrift und Text, nicht zu allererst als gesprochenes Wort genommen. Vor dieser Auffassung hat, wie Gadamer ausführt, Plato in seinem 7. Brief gewarnt. Man müsse wohl von allen Göttern verlassen sein, so Plato, wenn man glaube, daß in schriftlicher Form das wirklich Wesentliche und Wahre niedergelegt werden kann3• II. Die Relevanz der Artikulation durch Schrift und Text

Im Bereich des Rechts ist die Artikulation durch Sprache in ganz besonderer Weise an Schrift und Text gebunden. Das bringt zweifelsohne ein Moment von Herrschaft und Institutionalisierung mit sich. Sehr oft ist zu beobachten, wie leicht Herrschaftsfragen verschiedenener Provenienz in Rechtsfragen umgeformt werden. Durch ihren impliziten dogmatischen Zugriff üben sie dann erneut Herrschaft aus. Es sieht oberflächlich betrachtet nur so aus, als ob die erste Form der Herrschaft brutaler und offener sei als die zweite, juristische Form der Herrschaft, zumal von ihr gesagt wird, daß sie auf einen Konsens zurückzuführen sei. Dabei wird kaum bemerkt, daß die juristische Form der Herrschaft oft die Züge der Gewalt annimmt, einer Gewalt, die ihrerseits beiträgt zu einem Abbau der Legitimation von Recht überhaupt. Die Sprache, besonders das sprachgebundene Tun des Juristen, spielt eine äußerst wichtige Rolle in diesem Prozeß. Die verdinglichte Rede im Recht und im Gefüge der Rechtshandlungen birgt die Gewalt bereits in sich. Dies wird ersichtlich in dem juristischen Umgang mit Texten, die zu Fetischen wurden, und mit Iegalistischen Textinterpretationen, die geradezu als Beispiel einer Anti-Hermeneutik genommen werden können. Im Recht ist die Rede über Recht und über Handlung dogmatisch zu einer Einheit umgebildet. Das hat einen tiefen Sinn, den man nicht außer acht lassen sollte. Denn damit wird, oft ohne daß es dem Juristen bewußt ist, die Sinnlichkeit der Handlung durch Text- bzw. Gesetzeshandhabung, Textanwendung oder Textinterpretation verdinglicht und vergewaltigt. Wertsetzungen, die in diesen Griff des Verdinga H . G. Gadamer, ,Logos und Ergon im platonischen ,Lysis", in: Kleine Schriften 111, Tübingen 1972, S. 50 ff.; ders., ,Was ist Literatur?', in: Phänomenologische Forschungen XI, 1981, S. 18 f.

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lichten hineingeraten sind, bekommen dann eine zerstörerische Gewalt und die besten Absichten werden zu bösen Taten. Da hilft es nicht mehr, wenn in Rechtstheorie und Rechtssoziologie die Verfremdung im Recht und ganz besonders der verfremdende Effekt der Umgangssprache des Juristen festgestellt wird. Der durchschnittliche Rechtspraktiker hat sowieso die Neigung, das kleinere Übel der Verfremdung sozusagen als Preis für die umfassendere, durch das Recht bewirkte Ordnung hinzunehmen. Er richtet dabei sein Interesse ausschließlich auf die Relevanz der Form und des Inhalts einer sprachlichen Artikulation im Recht, nicht auf diese Artikulation als solche. Aber eben von ihr gilt das Bedenken, ob sie als naturgegeben aufzufassen oder aber als Wertsetzung, Mittel und Instrument von Kultur zu enthüllen sei. Mit der Einsicht in die Tatsache, daß Objektivität der Wissenschaft auf einer verfremdeten Abstraktion der Realität beruht, hängt diese Frage nach dem Stellenwert der Artikulation in und durch Sprache aufs engste zusammen. Sie bedeutet jedoch einen Bruch mit der Idee, nach welcher jede sprachliche Artikulation sich von vornherein im Bereich irgendeiner Form von Objektivität befindet - eine Idee, die in der Reinen Rechtslehre als Selbstverständlichkeit funktioniert. Es muß betont werden, daß diese Fragestellung auch verschieden ist von der besonders in der Erlanger Schule studierten Problematik der Hintergehbarkeit oder Unhintergehbarkeit von Sprache. Es geht hier nicht um Sprache als solche, also um Sprache als abgelöstes und verselbständigtes Phänomen. Im Vordergrund steht vielmehr das Problem der sprachlichen Artikulation im Hinblick auf Handlungs- und Kommunikationsvorgänge, die man als rechtliche Regelungen betrachten könnte. Welche ordnende und juridifizierende Rolle spielen Texte und Schriftstücke in einer bestimmten Gesellschaftsform und auf welche philosophischen Probleme weisen sie uns hin? Diese Frage betrifft ein weites Feld von hauptsächlich rechtstheoretischen und kulturanthropologischen Erwägungen. Denn die soeben gestellte Frage ließe sich auch anders formulieren: Wie wäre es, wenn Text und Schrift als bevorzugte sprachliche Artikulationen bei der rechtlichen Regelung sozialer Verhältnisse keine Rolle spielten? Ist es denkbar, daß sie einer Kulturform überhaupt nicht als notwendig erscheinen und infolgedessen im Bereich des Rechts nicht vorkommen? Das ist kein Gedankenexperiment, denn die Kulturanthropologie beschreibt tatsächlich solche oder ähnliche Verhältnisse und Vorgänge. Die geläufige Antwort ist hier, daß derartige Kulturformen kein Recht kennen. Ein früher Vertreter der Kulturanthropologie, A. R. Radcliffe-Brown, schreibt noch 1952 in seinem Structure and Function in Primitive Society, "some simple societies have no law, although all have customs which are supported by sanctions" (S. 212). Schriftlose Kulturen oder, besser

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gesagt, solche, die ihre sprachlichen Artikulationen nicht an Schrift und Text binden, sind vielleicht in diese Kategorie der ,simple societies' einzuordnen. Aber ist es so einfach, daß man nun Schriftlosigkeit durch Gewohnheit und somit die Abwesenheit juristischer Textualität durch Gewohnheitsrecht kompensieren kann? Wie verhält sich ein durch Texte normiertes Handeln zu einem Handeln durch Gewohnheit und wie verhält sich eine textgebundene juristische Regelung zu einer gewohnheitsrechtlich inspirierten Regelung? Kelsens Beschreibung der Verfassung oder der Gesetzgebung als normsetzender Akte oder des Verhältnisses der normsetzenden Autorität zu den Normen des Gewohnheitsrechts ist hier von Belang. Entscheidend ist dann die Rechtssetzung und die Funktion des gesatzten Rechts. Weitere Differenzierungen sind es lediglich, wenn die Analyse nachweist, daß beispielsweise Gewohnheitsrecht ein weniger zentrales Rechtsverfahren aufweist als Gesetzesrecht Grundsätzlich funktioniert jedoch im Gewohnheitsrecht das Recht wie es in seiner textuellen Gestalt gedacht wird. Der Gegensatz von Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht wird demnach nicht bis in die Fragen der Textualität hinein ausgelotet. Pospfsil weist in seiner Arbeit Anthropology of law, 1971, darauf hin, daß im traditionellen Rechtsdenken, wie übrigens auch in die Kulturanthropologie, ein Kompensationsmechanismus angenommen wird zur Deutung des Verhältnisses von Text bzw. Gesetz und Gewohnheit. Das wird noch deutlicher sichtbar, wenn man sich vor Augen hält, daß dabei ganz offensichtlich eine Iegalistische und ethnozentrische, man ist versucht hinzuzufügen: imperialistische Rechtsauffassung vorherrscht. Diese Einsicht erinnert an die bekannte Diskussion zwischen Kelsen und Ehrlich in den Jahren 1915-1917 4 • Was Recht ist, kann nach Kelsens Auffassung die Rechtssoziologie weder durch Definition noch durch eine idealtypische Bestimmung festlegen, da sie immer schon einen normativen Rechtsbegriff voraussetzen muß. Dasselbe wäre von der Sicht der Reinen Rechtslehre her für die Kulturanthropologie und die mit ihr zusammenhängende transkulturelle Vergleichung von Rechtssystemen zu sagen. Aber solche Erwägungen und Kritiken haben nur einen Sinn, wenn man tatsächlich einen Rechtsbegriff handhaben möchte, der die besonderen Grundstrukturen unseres abendländischen Rechtsdenkens universalisiert. K. N. Llewellyn und E. A. Hoebel haben ihrerseits in The Cheyenne Way, 1941, versucht, einen allgemeineren Weg zu gehen und sich von der genannten Tendenz zur Universalisierung der westlichen Rechtsauffassung zu distanzieren. Interessant ist dabei ·-

H. Kelsen, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Politik, Bd. 39, 1915; E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, 1967; H. Rottleuthner, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Freiburg 1981. 4

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jedoch, daß sie erneut Textualität und Gewohnheit gegeneinander abgrenzen und gewissermaßen als Kompensationsvorgang beschreiben: je weniger Textualität, desto mehr Gewohnheit. Auch bei diesen Autoren ist für die allgemeine Erforschung des Rechtsstoffes einer Kulturform das Kriterium der Gewohnheit und seines sprachlichen, direktverbalen Ausdrucks eingeführt worden, um zu einer Bestimmung von ,Recht' zu gelangen. Sie umschreiben Recht " . .. as a set of verbalized ideals in the repository of the minds of knowledgeable individuals in a nonliterate society ... , as patterns of actual behavior of members of a society ... , as principles abstracted from decisions of legal authorities passed while solving disputes within their groups" (S. 20). Selten werden zu einer Bestimmung von dem, was wir ,Recht' nennen, alle drei Momente zur gleichen Zeit hinsichtlich ein und derselben Lebens- und Kulturform in Erscheinung treten. Trotzdem muß gesagt werden, daß die Kriterien eines formalen, westlichen Rechtsbegriffs in abgeänderter Gestalt weiterhin wirksam bleiben. Besonders das erste Merkmal jenes für transkulturell gehaltenen Rechtsbegriffs verlegt die Sinnlichkeit der sprachlichen Artikulation von der schreibenden Hand in den denkenden Kopf. Das ist an und für sich bereits Anzeichen einer westlich-cartesianischen Anthropologie im Rechtsdenken. Nur aufgrund eines solchen Bildes vom Menschen, nach welchem es sozusagen verselbständigte Zentren von Sinnlichkeit gibt, die ihr soziales Korrelat in gesellschaftlichen Funktionen und Institutionen haben, kann dieser Gegensatz dazu dienen, um die obige Bestimmung des Rechtsbegriffs zu operationalisieren. Der Gegensatz zwischen dem, was die Menschen durch die Schrift und dem, was sie sozusagen in ihren Köpfen verinnerlicht haben, spielt auch auf einer anderen Ebene in der Rechtstheorie eine Rolle. Denn was juristisch durch den Text verinnerlicht wurde, erinnert an den formalen Gesetzesbegriff, während die in Kopf und Geist verinnerlichte Realität des Rechts eher auf einen weniger formalisierten Rechtsbegriff verweist. So ungefähr läuft auch die Diskussion der rhetorisch-topischen Rechtstheorie über den Gegensatz zweier Typen der juristischen Pragmatik, nämlich einer juristischen Praxis im Nahbereich der Rechtsgenossen gegenüber einer durch Distanz gekennzeichneten Praxis der Rechtswissenschaft. Der juristische Nahbereich ist überwiegend gemeinschaftlich (F. Tönnies) und in ihm ist die Formalisierung der sozialen Verhältnisse durch das Recht, durch Schrift und Text, weniger dringend als in dem juristischen Distanzbereich. So wird rechtstheoretisch die Unterscheidung von Recht und Gesetz erneut zur Debatte gestellt. Suggestiv ist dabei, daß das Formale und Distanzierte als bösartig gelten und das Informelle und Überschaubare als gelungene Alternativen. Vergessen wird, daß Recht niemals ohne den Text und das Formalisierte aus-

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kommt. Auch im sozialen Nahbereich ist die referentielle Struktur aller juristischen Aussagen durch den Text, besonders den des Gesetzes festgelegt. Schrift und Text beziehen sich offensichtlich auf einen eigenen sozialen Raum, so daß die Räumlichkeit der Rede sich davon abgrenzen läßt. Das muß besonders für die juristische Dogmatik ins Gedächtnis gerufen werden, da diese Dogmatik tatsächlich als Raum des Textes und nicht als Raum der Rede zu kennzeichnen ist. Die letztere ist eine Räumlichkeit der Nähe und der Unmittelbarkeit und steht so im Gegensatz zu der Distanz des Textes. Das rhetorische Rechtsdenken betont in diesem Zusammenhang die Besonderheit einer juristischen Pragmatik5 , die Grundfragen der jeweiligen rechtlichen Regelung mit diesen Ordnungen selbst zur Diskussion stellt oder wenigstens nicht ausschließlich implizite funktionieren läßt. Eine derartige Praxis führt nicht zu Aussagen, die die Form eines ,Statement' haben - wie das auch in der Reinen Rechtslehre der Fall ist-, sondern zu solchen Aussagen, die die Form einer Frage annehmen. Dabei bleibt von Belang, daß jene rechtlichen Aussagen immer in eine Totalität von Handlungen eingebettet bleiben und weder dogmatisch verdinglicht noch juristisch verfremdet werden, indem sie in ihre Einzelteile zerlegt und dogmatisch zu neuen Handlungseinheiten zusammengestellt werden. Auch hier wirkt die Idee einer juristischen Räumlichkeit, die als Nähe oder gar als Intimität bezeichnet werden könnte. Diese hat insbesondere ihre eigene Sinnlichkeit: der Richter erkennt die Sachlage zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber auch nicht durch Abstraktion juristischer Gelehrsamkeit oder dogmatischer Grundsätze. Seine Erkenntnis ist aus dem Ohr: sein Zuhören ist Zeichen einer durch das Recht vorausgesetzten sinnlichen Totalität. Dieses juristische Phantasma der sinnlichen Totalität findet seinen sozialen Niederschlag in der Idee, autonom über den gesamten Lebenszusammenhang urteilen zu können. Diese juristisch vorausgesetzte und anthropologisch verkürzte Sinnlichkeit weitet den Raum der Intimität aus; sie täuscht über den Wert der Nähe und der Unmittelbarkeit im Recht und schafft ein Moment der Distanz. An diese Erwägungen schließt eine philosophische an, die erneut auf die Rolle der Sprache als Text in der Gesellschaft hinweist. Auch diese philosophische Frage kommt nicht ohne den erwähnten Gegensatz von Textualität und Gewohnheit als normative Richtschnur menschlichen Handeins aus. Denn folgendes sollte man bedenken. Eine sogenannte schriftlose Kulturform ist eine Kulturform, in der Schrift und Text keine dominante Rolle spielen, so daß auch die Darstellungsform ihrer 5

H . Rodingen,

Pragmatik der juristischen Argumentation, Freiburg 1979.

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fundamentalen Werte und Normen eine überwiegend narrative und keine schriftliche sein wird. Das Regelungsmuster sozialer Handlungen verläuft also ohne schriftliche Fixierung der gesprochenen Rede. Das heißt, daß hier eine Rede stattfindet, die eine Form der Referenz nach draußen, nach einer außerhalb dieser Rede sich befindenden textuellen Materialität nicht kennt. Dies ist eine besondere Form der Darstellung von Wirklichkeit in der Realität der menschlichen Rede. Die Ideologie -im Sinne von L. Althusser verstanden- ist in diesem Fall so in der Tiefenstruktur der Rede jener Kulturform verinnerlicht, daß diese Referenz unterbleibt. Hierin liegt der auch in der rhetorischen Rechtstheorie zum Schema gewordene Gegensatz von Textualität und Gewohnheit. Wenn diese besondere referentielle Aktivität bei der Selbstdarstellung und sozialen Kommunikation der Angehörigen einer bestimmten Kulturform unterbleiben kann, dann ermöglicht das ein weites Verständnis von dem, was ein Text ist. Von dieser Sicht aus betrachtet, ist ein Text als Manko an Selbstverständlichkeit der inneren Narrnativität des sozialen Verhaltens zu betrachten. Das kommt der philosophischen These sehr nahe, jede sprachliche Artikulation sei ein Moment der Veräußerlichung und der Verfremdung. Problematisch ist dabei, daß eine derartige These die Differenz einer Innerlichkeit des Selbstverständlichen und einer Äußerlichkeit des eines Ausdrucks Bedürftigen geradezu hypostasiert. Aber es ist auch nicht gut einzusehen, wie man ohne ein derartiges Denkmuster solche Grundsatzfragen des abendländischen Denkens, vor allem bezogen auf die Problematik der Darstellung, behandeln und erhellen kann. So ist die juristisch-legalistische Haltung, die sich ohne Bezugnahme auf den Text überhaupt kein geordnetes soziales Verhalten und auch kein moralisches Verhalten vorstellen kann 8, hier als Antipode zu erwähnen. Aber diese Erwähnung täuscht nicht über die Tatsache hinweg, daß die Definition jenes immer im Recht vorherrschenden Legalismus das Produkt der beschriebenen Dichotomie von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, also von grundsätzlich cartesianischen Ansätzen ist. In diesem Legalismus ist das beschriebene Manko geradezu perfekt am Werk. Es schafft sich sozusagen die anthropologische Räumlichkeit der Distanz als Zeichen der Veräußerlichenden Verfremdung durch die andauernde Referenz nach dem Draußen der Textualität. Sprachliche Artikulation durch den Text ist somit keine anthropologische, humane Selbstverständlichkeit mehr, sondern Ausdruck eines Bruchs mit der Selbstverständlichkeit eines je schon normierten Verhaltens. Als solcher ist ein sprachlicher Ausdruck immer schon ein Ausdruck, hat jeder Sprechakt und hat besonders jeder Text immer schon seine Vorgeschichte. Der bezeichnete Bruch gehört zu jener Vorge6

J.

Shlclar, Legalism, Harvard U. P., Cambridge Mass. 1964.

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schichte des Ausdrucks, die man vielleicht als seine Naturgeschichte bezeichnen könnte: als Bedeutung vor aller Bedeutung. Bevor semantische Funktionen in Erscheinung treten können, hat sich dieser Bruch bereits vollzogen. Die andere Seite dieser Einsicht ist, daß schriftlose Kulturen ganz besonders auf eine totale Internalisierung der Narrnativität angewiesen sind. Fänden sie schriftliche Artikulationen für die Grundstrukturen ihres sozialen und normativen Verhaltens, so würde das zu einem Bruch mit ihrer spezifischen Natürlichkeit führen. Das führt zu einem anderen Moment der Darstellungsproblematik, die offensichtlich wichtige Teile der Rechtstheorie, besonders der Reinen Rechtslehre beherrscht. Das gilt zum einen für die Selbstdarstellung im Bereich des Normativen, die mit der erwähnten Möglichkeit eines Bruches in der jeweiligen Natürlichkeit der Kulturform aufs tiefste zusammenhängt. Zum anderen gilt das ebenso für die Darstellung de1· Rechtsnorm- ein besonders wichtiges Thema der Reinen Rechtslehre 7 • a) Selbstdarstellung im normtiven Bereich zielt immer auf eine (Re-) Präsentation des Selbst eines Subjekts als Zentrum ethisch relevanter Handlungen und als Bezugspunkt der Handlungen von anderen Menschen. Dieser Akt ist als äußerst wichtiges Moment der Selbstentwicklung, der Persönlichkeitsentwicklung und der Identitätsbildung jedes Mitglieds einer Kulturform zu betrachten. Diese Selbstdarstellung liegt zugleich im Interesse des Rechts: an ihr ist das Recht, mitsamt seiner Legitimierung, ausgerichtet und auf ihr wird der juristische Diskurs aufgebaut. Kommt es bei den Individuen einer Kulturform nicht zu irgendeiner Form der Autorepräsentation, dann wäre von Recht im Sinne des abendländischen Denkens keine Rede mehr. Diese Feststellung ist die kulturphilosophische Seite eines Problems, das auch eine rechtsdogmatische Seite hat. Denn von hier aus wird verständlich, weshalb für das abendländische Recht die Entwicklungsgeschichte der Subjektivität als Entwicklungsgeschichte der Rechtssubjektivität zu sehen ist. Dogmatisch ist die Unentbehrlichkeit der Subjektivitätsgestalt im positiven Recht nachzuweisen. Sie hat wichtige und immer implizite Folgen hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Anthropologie 8• Eine Identität in unserer Kultur ist infolgedessen mit einer tiefgreifenden Zusammengehörigkeit von Text und Schrift einerseits und Rechtssubjektivität andererseits belastet. Das Rechtssubjekt, das ich jeweils auch bin, ist in diesem Lichte als der juristische Andere, als das rechtliche alter Ego meiner selbst zu betrachten. Auch dieses Moment meines 7 vid. A. Vonlanthen, Zu Hans Kelsens Anschauung über die Rechtsnorm, Schriften zur Rechtstheorie, H . 6, Berlin 1965. 8 Jan M. Bmekman, Recht und Anthropologie, Kolleg Rechtstheorie I, 3, Freiburg 1979, S. 154 ff.

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Selbst braucht Anerkennung und diese erfolgt nur, wenn ich nicht nur meine bürgerlich-lebensfaktische, sondern auch meine juristische Identität auf mich genommen habe. Der Prozeß der Selbstdarstellung im sozialen Gefüge unserer Kultur zeichnet sich genau durch die Präsenz des Textes in diesem Identifizierungsvorgang aus. Diese Präsenz und die Repräsentation meines Selbsts in der Gesellschaft hängen für unsere Kultur wesentlich zusammen. Der juristische Andere meiner selbst ist nämlich Text durch den bei der physiologischen Geburt erfolgten Eintrag in das Geburtenbuch. Dieser Eintrag ist weit mehr als eine juristische Formalität. Er ist ein lebensfaktisches Ereignis, das die juristische Seite der Selbstdarstellung festlegt. Das geschieht in einem Augenblick, in dem noch kaum von einer lebensfaktischen Entwicklung auf Identität hin die Rede sein kann. Denn diese erfolgt erst später, im Prozeß des Spracherwerbs und der allgemeinen Sozialisierung. Die Überbetonung der formalen Seite von Textualität im Hinblick auf Identität und die lediglich formale Betrachtungsweise der Rechtssubjektivität ist für Kelsen Anlaß dazu, in der Reinen Rechtslehre die Rechtssubjektivität durch Rückgriff auf Narrnativität und Verhalten zu definieren. Von Narrnativität und Verhalten eines Subjekts ist jedoch im Bereich des westlichen Menschen noch keine Rede in dem Augenblick, wo die Präsenz des Textes bereits eine juristische Identität festlegt. Sie, diese Präsenz, ist daher unabänderlich, wie das Beispiel der juristischen Problematik der Transsexualität beweist9. Eine derartige textuelle Präsenz ist Gegenwart des Anderen und der sozialen Narrnativität in mir - sie ist eine Gegenwart, die vom Juristen als Nötigung meines Willens zu einem rechtlichen Handeln, Unterlassen oder Dulden verstanden wird 10• b) Damit ist die andere Seite des Zusammenhangs von Textualität und Darstellung, nämlich jene der Rechtsnormativität, in den Vordergrund gerückt. Auch die Rechtsnorm befindet sich in der Reinen Rechtslehre zwischen dem, was als Textualität und Gewohnheit gegeneinander abgegrenzt wurde. Die Rechtsnorm befindet sich für Kelsen ganz offensichtlich im Spannungsfeld von Befehl und Notwendigkeit, ganz besonders von Äußerlichkeit der Referenz auf den Text hin und der Innerlichkeit, verstanden als Selbstverständlichkeit einer Verhaltensordnung. Letzten Endes wäre es darum eine kritische Arbeit an dem Grundplan der Reinen Rechtslehre, wenn man mit Denkern wie AlthusseT oder Edelman auch in der Rechtsnorm jene Subjektivitätsform wiedererkennt, die Anlaß zu einer Ideologiekritik des bestehenden positiven Rechts unserer Kultur ist11 • Erst damit wäre die Reine Rechtslehre eine Rechts9

Ebd., S. 57-64.

° Kelsen, Reine Rechtslehre

1

(FN 2), S. 178.

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theorie und keine bloße Extrapolation der Dogmatik im Sinne einer besonderen Wiederholung. Kelsens Position in der Reinen Rechtslehre gibt gewiß Anlaß zu einer derartigen Kritik. Das ist aus vielen Bemerkungen abzulesen. Wir wählen im Zusammenhang dieser Erörterung die Darlegung der Rechtssubjektivität und der Rechtspersönlichkeit. "Daß der Mensch Rechtssubjekt, das heißt Subjekt von Rechten und Pflichten ist, bedeutet .. . dasselbe, wie daß ein Mensch Person ist oder Persönlichkeit hat .. . Rechtsperson ist die Einheit eines Komplexes von Rechtspflichten und subjektiven Rechten. Da diese Rechtspflichten und subjektiven Rechte durch Rechtsnormen statuiert - richtiger: diese Rechtsnormen sind, ist das Problem der Person in letzter Linie das Problem der Einheit eines Normenkomplexes". Die sogenannte physische Person ist nach Kelsens Auffassung eine juristische Person. "Es ist nicht eine natürliche Realität, sondern eine juristische, von der Rechtswissenschaft geschaffene Konstruktion, ein Hilfsbegriff in der Darstellung rechtlich relevanter Tatbestände" 12 • Hier ist in unserm Zusammenhang hervorzuheben: a) Die Rechtstheorie der Reinen Rechtslehre beschränkt sich tatsächlich auf die dogmatische Aktivität der Bereicherung einer juristischen Nomenklatur. Die erwähnten Sätze sind repräsentativ für den definitorischen Stil, der im Rechtspositivismus notwendigerweise dominant ist. Diese Nomenklatur ist einmal das Charakteristikum der juristischen Sprache überhaupt und zum anderen das Gerüst der juristischen Darstellung von Tatsachen und Begebenheiten. b) Die Betonung der Einheit von Rechtsnorm und physischer Person zielt in dogmatischer Weise auf die Identität der gesamten lebensfaktischen Person. Nur diese kann durch Rechtsnormen bestimmt werden und nur diese ist zu irgendeiner Form des Verhaltens imstande. Darin liegt der Grund, daß die Rechtsperson nicht in einer physischen Person zu personifizieren ist. Dubios wird in diesem Lichte, daß Kelsen schreibt: "Die sogenannte physische Person ist somit nicht ein Mensch, sondern die personifizierte Einheit der ein und denselben Menschen verpflichtenden und ermächtigenden Rechtsnormen". (S. 178) c) Diese Einheit ist nach Kelsen eine Konstruktion der Rechtswissenschaft. Es fragt sich, ob in diesem Licht nicht die gesamte Nomenklatur dieser Wissenschaft einen Konstruktionscharakter besitzt. Aber diese Konstruktion hat zum Zweck, rechtlich relevante Tatsachen darzuu Broekman, Recht und Anthropologie (FN 8), S. 164. Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 2), S. 178.

12

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stellen. Beschränkt das Recht sich auf eine konstruktivistische Selbstdarstellung? Nein, denn es ist für Kelsen "ausgeschlossen . . ., daß die Pflichten und Rechte der juristischen Person nicht- oder nicht zugleich - Pflichten und Rechte von Menschen, das heißt - im Sinne der traditionellen Theorie- von physischen Personen sind" (S. 180). Person und Rechtsordnung sind tatsächlich als Einheit zu betrachten und daher wäre der Dualismus von subjektivem Recht und objektivem Recht zu problematisieren. Aber das braucht nicht zu geschehen, weil "der Begriff der Person als Personifikation eines Komplexes von Rechtsnormen aufgelöst, die Pflicht und das subjektive Recht ... auf die Rechtsnorm reduziert" werden (S. 195). Im Grunde werden so die ,rechtlich relevanten Tatsachen' für gleichförmig mit lebensfaktischen Tatsachen gehalten - diese Haltung ist genau als die juristische Ideologie par excellence zu bezeichnen und keineswegs bloß als "objektivistisch-universalistische", wie Kelsen sie beschreibt. Darum hält Kelsen die Person als Gestalt von Identität innerhalb einer Kultur für gleichförmig mit ihrer juristischen Identität. Aber es gilt gegenüber diesem Rechtspositivismus, die Differenz beider Identitäten erneut zu problematisieren, ohne einem neuen Dualismus zu verfallen. Damit tritt erneut - wie hier nur programmatisch angedeutet sei - die Relevanz des textuellen Charakters jener juristischen Identität in den Vordergrund. Erst damit ist die Erwägung anzustellen, ob eine Rechtstheorie eine anti-ideologische Tendenz haben kann oder nicht!

111. Recht, Satz und Rechtsetzung Kelsens Thematisierung der Rechtsetzung bildet bekanntlich einen wichtigen Baustein der Reinen Rechtslehre und des Rechtspositivismus im allgemeinen Sinn. Er ist nun bemerkenswert, daß auch diese Thematik mit jener der Darstellung zusammenhängt. Dazu lediglich einige hinweisende und abschließende Bemerkungen. 1. Es wurde bereits festgestellt, daß die juristische Sprache sich durch Konstruktion und Handhabe einer ganz spezifischen und dogmatisch beherrschten Nomenklatur auszeichnet. Sie, diese Sprache, die besonders als Stil der Reinen Rechtslehre auffällt, aber durchaus nicht nur an dieses Buch, sondern vielmehr an die juristische Denkform gebunden ist, erscheint als vorwiegend deskriptiv. Dennoch sind diese Deskriptionen normativ, denn jedes Moment ihrer Semantisierungen ist bereits auf Rechtsfolgen angelegt. Diese Rechtsfolgen bestehen nicht außerhalb der Menge von dogmatisch und juristisch verfügbar gehaltenen Begriffe und Deskriptionsstrategien. Sie sind im Gegenteil ebenfalls Bestandteile

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derselben Menge, desselben juristischen Diskurses. Es ist daher verständlich, daß ein logischer Punkt gesucht wird, von dem aus die rechtserzeugenden Tatbestände gewissermaßen den Raum der juristischen Semantisierungsvorgänge zu beherrschen beginnen. Er ist als Punkt der Rechtsetzung im allgemeinen Sinn zu betrachten. Diese hat im rechtslogischen Sinne von der Grundnorm auszugehen. Konkret kann die Verfassung eines Staates für die Reine Rechtslehre in erkenntnistheoretischem, das heißt im darstellenden Sinn, also zugleich auch im rechtslogischen Sinn als Grundnorm betrachtet werden. In Anbetracht dieser Tatsache weist Kelsen darauf hin, daß diese Verfassung - auf anderem Niveau also: dieser Punkt theoretischer, rechtslogischer Analyse- ein geschriebener Text sein kann oder aber ungeschrieben sein kann und im Wege der Gewohnheit zustandegekommen ist. Im letzteren Fall können Änderungen durch einfache Gesetze oder Gewohnheitsrecht aufgehoben oder abgeändert werden 13 • Aber ganz klar wird aus diesen Darlegungen, daß die rechtsetzende Autorität auch im Sinne einer ungeschriebenen Gewohnheit nach dem Muster der autoritären Textualität geprägt wurde. Dies ist eben der positivistische Standpunkt der Reinen Rechtslehre gegenüber Naturrecht und historischer Schule. "Von dem Standpunkt einer positivistischen Rechtslehre, die weder die Existenz eines imaginären Volksgeistes noch die einer ebenso imaginären ,solidarite sociale' annehmen kann, ist die konstitutive, das ist rechtserzeugende Funktion der Gewohnheit ebensowenig bezweifelbar wie die der Gesetzgebung". Warum? Weil für den Autor der Reinen Rechtslehre die Grundnorm auch im Falle der schriftlosen und textlosen Gewohnheit als rechtslogischer Punkt aller möglichen juristischen Semantisierungsvorgänge erhalten bleibt. In diesem Schema ist der Text als Autorität, ja, als Instanz der Rechtsetzung gedacht und die gesamte juristische Diskursivität als Funktion jenes Textes aufgefaßt worden. 2. Sätze der juristischen Sprache haben, auch wenn sie rein deskriptiv aussehen, einen normierenden Charakter, weil sie zu einem dogmatischen oder wenigstens durch Dogmatik beherrschten Diskurs gehören. Dabei geht es, wie Kelsen mit Recht anhand der gerichtlichen Entscheidung erläutert, niemals um Sätze mit einem deklaratorischen Charakter14. Im Gegenteil: auch die auf den ersten Blick deklaratorischen Sätze besitzen einen konstitutiven Charakter. Aber was wird mit ihnen konstituiert? Die Antwort müßte lauten, daß juristische Sprache - die nach Auffassung der Juristen aus Sätzen besteht, die gemäß bestimmten Vorschriften und Gewohnheiten in einer präzis vorgeformten Weise aneinander gekettet werden - eine juristische Realität konstituiert. 13 14

Dazu und zum folgenden: Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 2), S. 230 f. Ebd., S . 243.

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Die Referenz hinsichtlich der Geltung und Setzung von Recht mitsamt seiner textuellen Autorität ist dabei entscheidend. Sachverhalte werden durch Rechtssätze und Sätze der juristischen Sprache nicht beschrieben, sondern konstituiert. Damit ist erneut die Frage der Darstellung berührt worden. Denn die Darstellung von Fakten im juristischen Diskurs ist keine neutrale, abbildhafte Darstellung, wie aus den diesbezüglichen Bemerkungen von Kelsen abzuleiten wäre. Recht ist, wie bereits erwähnt wurde, ein Belang unserer Kultur. Dieser Belang wird auf der Ebene der Darstellungsproblematik, mit anderen Worten: auf der Ebene des Sprache-Welt-Verhältnisses geschützt, indem der juristische Diskurs als abbildender Diskurs dargestellt wird. Der konstitutive Charakter der juristischen Sprache gilt besonders im Hinblick auf die Fakten, welche zu rechtsrelevanten Fakten transformiert wurden. Diese Transformation ist Bestandteil jener Konstitution von Sprache und Satz. Die referentielle Aktivität, die diese Transformation - ein Semantisierungsvorgang ohnegleichen - trägt, ist natürlich die Referenz der Rechtsetzung, ganz besonders des Gesetzes. So wie das Rechtssubjekt durch seine Beziehung der generellen Rechtsnorm bestimmt wird, so ist die Transformationsaktivität des Juristen durch das Geschäft der Individualisierung bestimmt worden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Rechtskritik an diesem Punkt in eine Ideologiekritik des Rechts umschlägt. 3. Wenn man mit dem Rechtspositivismus akzeptiert, daß Rechtsetzung letzten Endes eine Aussage ist über das, was Recht ist, dann folgt daraus die Frage, ob eine Theorie der juristischen Diskursivität nicht notwendigerweise als Positivismus zu qualifizieren ist. Denn in diesem Lichte wäre eine Theorie des juristischen Diskurses 15 eine Theorie hinsichtlich der Aussagen, die durch Rechtsetzung zustandegekommen und diese Setzung als Referenz in sich verinnerlicht haben. Einfacher und weniger differenziert gesagt: der Positivismus besagt, daß Recht ist, was durch eine dazu befugte Instanz Recht genannt wird. Ist eine Theorie des juristischen Diskurses nicht lediglich eine Theorie dieses Sagens, dieser juristischen Rede?

Die Antwort ist einfach zu formulieren. Hier kommt wiederum alles auf die Interpretation der Darstellung und die mit ihr verbundene Sprachauffassung an. Denn eine derartige Diskurstheorie ist tatsächlich als Positivismus zu betrachten, wenn sie sich gänzlich einer instrumentalistischen Sprachauffassung verschreibt16 und so zu einer Diskurstheorie der (rechtsetzenden) Instanz wird. Aber auch hier ist die erwähnte 15

18

Broekman, Recht und Anthropologie (FN 8), S. 135 ff. Jan M. Broekman, Juristischer Diskurs und Rechtstheorie, in : RECHTS-

THEORIE 11 (1980), S. 32 ff.

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Differenz zwischen Text und Gewohnheit in Erinnerung zu bringen. Der Raum der Veräußerlichung in Text und Autorität erzwingt eine philosophische Interpretation von Sprache, Satz, Text oder Aussage, die notwendigerweise in das sprachtheoretische Sprecher-Hörer-Schema, in die Form der Individualität und der Macht hineingezwängt wurde. Der Raum der Verinnerlichung in Gewohnheit und sozialen Konsens rückt hingegen eine Interpretation von Sprache und Aussage in den Vordergrund, die sonst unterdrückt wird. Das Gesprochenwerden als unentrinnbares Moment von Kultur, der Vorrang des Anderen, das Hinhören als Gegenwert des Sprechens, die Akzentuierung von Wort und Rede wirken als Utopie oder wenigstens als Gegeninstanz bzw. als Gegeninstitution (Habermas). Ist diese im Recht überhaupt möglich oder zugelassen? Das schlägt auf den Diskursbegriff als solchen zurück. Ist dieser Begriff als Theorie oder als Darstellung zu betrachten, wird er auf dem Niveau des Instrumentalismus und der Institution angesetzt oder auf dem Niveau der Gegeninstitution, der Machtlosigkeit, des Anti-Instrumentalismus? Im ersten Fall erscheint er dann als Positivismus, im zweiten nicht. Kelsen macht uns klar, daß es so einfach nicht geht. Seine Position in philosophischer und wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist auch anhand der Darstellungsproblematik klar herauszuarbeiten. Seine Grundthesen sind in die Selbstverständlichkeit einer instrumentalistischen Sprachauffassung verwurzelt. Auch in dieser Hinsicht gilt, was von seiner Theorieauffassung gesagt wurde, nämlich daß sie vorwiegend an die Philosophie des Rechtspraktikers anschließen. Aber gibt es eine klare Gegenposition, gibt es eine Möglichkeit, um in dualistischer Weise eine Alternative zu konstruieren und dem Juristen die Wahl zu überlassen? Dies wäre doch wohl nur dann der Fall, wenn der Zusammenhang von Recht und Sprache, von juristischem Diskurs und Sprachtheorie, ein binärer Sachzusammenhang wäre. Es wurde anderorts schon dargelegt, daß dies nicht der Fall ist17 • Denn die zwei Sprachauffassungen, die in idealtypischer Weise gegeneinander abgegrenzt wurden, sind zur gleichen Zeit als gesellschaftliche Prozesse im sozialen Leben wirksam. Beide sind Konkurrenten füreinander, beide sind in einen Vorgang der Verdrängung und Besitzergreifung eingebunden, beide versuchen die jeweiligen Denkformen zu beherrschen. Dieser Vorgang ist demnach als gesellschaftliche Arbeit zu bezeichnen. Nicht nur die menschliche Rede, sondern vor allem die Sprachtheorie, besser gesagt: die Sprachauffassung, welche die Grundlinien dieser Rede bestimmt, ist gesellschaftliche Arbeit. Es handelt sich zunächst, wie Foucault an verschiedenen Orten erwähnt hat, um Selektionen, um Macht 17

Ebd., S. 43 f.

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und Verdrängung, um das Verhältnis von Oberflächen- und Tiefenstruktur, kurz um Besitzergreifung des Selbstverständlichen. Die Problematik der Darstellung spielt in diesen Vorgängen eine zentrale Rolle. Die Reine Rechtslehre stellt den Darstellungsvorgang neutral vor. Die Prätention der ideologischen Unbefangenheit und die Illusion der reinen Darstellung bestätigen die objektivistisch-universalistische Einstellung einer Sprachauffassung, die jene beschriebenen Kämpfe hinter sich gelassen und ihren Gegner bezwungen hat. Kein Wunder, denn Recht und Macht hängen aufs engste miteinander zusammen. Die reine Darstellung ist also ebenfalls als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses zu betrachten und keineswegs als Folge einer gewissen immanenten Neutralität des Darstellungsvorgangs. Darstellung ist demnach keine neutrale Abbild- oder Widerspiegelungsaktivität. Sie wird jedoch in der im Recht vorherrschenden Sprachauffassung dafür gehalten. Das wird durch die extreme Position der Reinen Rechtslehre klargemacht. Es sei nur angedeutet, daß sich hier die Problematik der juristischen Ideologie am schärfsten profiliert. Denn Neutralität der Darstellung ist Ermöglichung von Recht und Macht, ist Bestandteil der Legitimationsvorgänge einer Kultur, ist eine wissenschaftstheoretische Bestimmung, die gewiß als Ergebnis von Wert- und Interessenvertretung, ja, als Wert einer Kultur zu bezeichnen ist. Interessant ist dabei, daß gerade an dem Punkt, wo die Rechtstheorie und die Rechtswissenschaft in der Reinen Rechtslehre einen Exponenten finden, um die Möglichkeit einer neutralen, strukturanalytischen und reinen Darstellung als Theorie des positiven Rechts zu entfalten, sich gegenläufige Erwägungen aufdrängen. Denn die Illusion der reinen Darstellung mitsamt ihrer Folgen für die Rechtstheorie erscheint in diesem Lichte als eine Wertsetzung unserer Kultur. Darstellung ist als ,reine' Darstellung nur unter der Voraussetzung zu betrachten, daß sie völlige Isomorphie aufweist mit den Grundstrukturen der darstellenden Instanz. Diese Instanz wurde als Textualität und instrumentalistische Sprachauffassung charakterisiert. Diese Instanz wurde als cartesianischer Blick und cartesianische Rede des bürgerlichen Diskurses bezeichnet - eines Diskurses, der den juristischen Diskurs nach seinen eigenen Maßen und Strukturen entwickelt hat18• Grundwerte des bürgerlichen Diskurses sind notwendige Bedingungen von Recht, Rechtssatz und Rechtsetzung. Sonst, so sagt der Rechtspraktiker, ist die Rechtssicherheit in Gefahr. Seine Sicherheit zielt - philosophisch betrachtet- also auf reine Darstellung der vorgegebenen sozialen Realität in der Nomenklatur der juristischen Sprache. Die Frage nach einer solchen Sicherheit kann nur mit einem ideologischen Unterton aufgeworfen werden. 18

Broekman, Recht und Anthropologie (FN 8), S. 56 f.

EINE LETZTE AUTHENTISCHE REVISION DER REINEN RECHTSLEHRE Von Ruth Erne, Milano

Einleitung Die italienische Ausgabe der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre hat eine kleine Geschichte, die über die reine Übersetzungsarbeit hinausgeht. Es lohnt sich, sie hier zu schildern, da im Laufe dieser Geschichte Kelsen eine Reihe von Änderungen zum deutschen Text der letzten, zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre mitteilte, die zwar in den neuen italienischen Text Eingang fanden, aber in ihrem deutschen Wortlaut bisher nirgends verfügbar sind. Bekanntlich handelt es sich bei der italienischen Übersetzung um die letzte bei Lebzeiten Kelsens und im Einvernehmen mit ihm erschienene Auflage der Reinen Rechtslehre. Die hier mitgeteilten Materialien bilden daher die letzte, authentische Revision der deutschen Fassungen der Reinen Rechtslehre. Sie und ihre Geschichte werden hier vorgestellt.

I. Die 2. Auflage der Reinen Rechtslehre und die Logik Der Verlag Giulio Einaudi, Turin, welcher schon 1952 die erste Ausgabe der "Reinen Rechtslehre" (1934) von Hans Kelsen in italienischer Sprache herausgegeben hatte', beschloß im Jahre 1962 auch die 1960 1 Auch bezüglich bibliographischer Probleme dieser Ausgabe hatte sich der Übersetzer an den Verfasser der Reinen Rechtslehre gewendet: "Ich habe mich an Herrn Professor Renato Treves gewandt, um zu erfahren, ob der von Ihnen 1933 im "Archivio Giuridico" veröffentlichte Text mit dem auf Deutsch veröffentlichten Methode und Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre übereinstimmt. Da Herr Professor Treves diese Zweifel nicht klären konnte, können Sie mir helfen?" (Losano an Kelsen, Turin, 5. 10. 1965). Dazu schreibt Kelsen: "In dem Vorwort zu seiner Übersetzung meiner Schrift: Reine Rechtslehre, Wien, 1934 (La dottrina pura del diritto, Giulio Einaudi, 1952), sagt Treves (S. 15), daß seine im "Archivio Giuridico" 1933 erschienene Abhandlung: La dottrina pura del diritto. Metodo e concetti fondamentali, die Übersetzung eines nicht publizierten (inedito) deutschen Textes ist. Mein in den holländischen Annalen der "Critische Philosophie", III, 1933, S. 69 ff., publizierter Aufsatz: Methode und Grundbegriffe der Reinen Rechtslehre, ist offenbar nach der Übersetzung von Treves erschienen und ist nur ein Teil des deutschen Textes der Übersetzung von Treves, nämlich die §§ 1-17." (Kelsen an Losano, Berkeley, 9. 10. 1965).

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erschienene 2. Auflage der "Reinen Rechtslehre" zu veröffentlichen. Über den Unterschied der beiden Werke sagt Hans Kelsen selbst im Vorwort zu seiner zweiten Auflage: "Die zweite Auflage meiner vor mehr als einem Viertel-Jahrhundert erschienenen Reinen Rechtslehre stellt eine völlige Neubearbeitung der in der ersten behandelten Gegenstände und eine erhebliche Erweiterung ihres Gegenstandsbereiches dar. Während ich mich damals begnügte, die besonders charakteristischen Ergebnisse einer reinen Rechtslehre zu formulieren, versuche ich nunmehr, die wesentlichsten Probleme einer allgemeinen Rechtslehre nach den Grundsätzen der Methodenreinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse zu lösen Wld dabei die Stellung der Rechtswissenschaft im System der Wissenschaften noch näher zu präzisieren, als ich dies vordem getan habe. " 2 Im Jahre 1961 beauftragte der Verlag Giulio Einaudi den damaligen Jurastudenten Mario G. Losano mit der Übersetzung der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre ins Italienische. Der inzwischen von dem Vorhaben unterrichtete, in Kalifornien lebende Hans Kelsen wendete sich unverzüglich in einem Schreiben mit folgenden Erklärungen an den Übersetzer seines Werks: "Die Agenzia Letteraria Internazionale in Milano hat mir mitgeteilt, daß der Verlag Einaudi eine italienische Übersetzung der zweiten Auflage meiner Schrift Reine RechtsZehre (1960) beabsichtigt. Ich habe dem Verlag durch die Agenzia Letteraria Internazionale vorgeschlagen, bei dieser Übersetzung einige Verbesserungen des deutschen Textes meines Buches zu berücksichtigen. Wenn der Verlag damit einverstanden ist, werde ich ihm eine Liste dieser Verbesserungen senden. Von der Absicht, ein Exemplar meines Buches zu senden, das die Änderungen in Handschrift auf den betreffenden Seiten des Buches enthält, bin ich abgekommen, da sich gezeigt hat, daß mein obenerwähnter Vorschlag aus praktischen Gründen vorzuziehen ist. In der Liste wird die Stelle, wo die Verbesserung ihren Platz hat, mit der Zahl der Seite und Linie des Textes des Buches genau angegeben sein. Bezüglich der Absicht des Verlages Einaudi, eine Neu-Publikation der Schrift La Dottrina Pura deZ Diritto (1952) zugleich mit einer italienischen Übersetzung der zweiten Auflage meiner Reinen RechtsZehre zu veranstalten, habe ich durch die Agenzia Letteraria Internazionale Bedenken geäußert, da die letzterwähnte Schrift einige Änderungen der Theorie enthält wie sie in der Dottrina Pura del Diritto dargestellt ist. Sollte der Verlag Einaudi die Dottrina Pura del Diritto dennoch neu publizieren, wäre es empfehlenswert, daß der Verlag - etwa in einer Vorrede- feststellt, daß es sich um eine Übersetzung meiner im 2

Hans Ketsen, Vorwort zur Reinen Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. VII.

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Jahre 1934 erschienenen Schrift handelt und daß die in dieser Schrift dargestellte Theorie in der italienischen Übersetzung der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre gewisse Änderungen erfahren hat. Auch wäre vielleicht eine Änderung des Titels in: Sommario della Dottrina Pura del Diritto empfehlenswert. " 3 Einen Monat später folgte ein weiterer Brief von Hans Kelsen an Mario G. Losano mit der versprochenen Liste der in dem Text der Reinen Rechtslehre, 2. Auflage, gemachten Korrekturen. Diese Liste enthält auch schon die Korrekturen für den als Anhang zur Reinen Rechtslehre, 2. Auflage, veröffentlichten Text: Das Problem der Gerechtigkeit. Kelsen betont folgende Punkte in diesem Schreiben: "Dazu bemerke ich, daß ich davon abgesehen habe, die nach der Publikation der Reinen Rechtslehre von mir vertretene Anschauung betr. die Anwendbarkeit gewisser logischer Prinzipien auf Rechtsnormen in die Änderungen aufzunehmen, da dies eine zu große Änderung des Textes mit sich bringen würde. Ich habe mich darauf beschränkt, auf S. 77 eine ,Fußnote des Übersetzers' vorzuschlagen, in der auf einen von mir veröffentlichten Artikel hingewiesen wird, in dem meine von der in der Reinen Rechtslehre vertretenen Anschauung abweichende Auffassung dargestellt ist. " 4 Diese Fußnote betrifft den in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre erschienenen Satz: "Zwei Rechtsnormen widersprechen sich und können daher nicht zugleich als gültig behauptet werden, wenn die beiden sie beschreibenden Rechtssätze sich widersprechen; und eine Rechtsnorm kann aus einer anderen abgeleitet werden, wenn die sie beschreibenden Rechtssätze in einen logischen Syllogismus eingehen können." Dazu schlägt Kelsen folgende Ergänzung vor: Zu dem letzten Wort "können" ein Sternchen* und unter dem Strich die Fußnote: "*Note des Übersetzers: In bezugauf die Anwendbarkeit logischer Prinzipien insbesondere des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch auf Rechtsnormen vgl. aber den Artikel "Derogation", den Kelsen zwei Jahre nach Publikation seiner Schrift Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, in Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe Pound, The BobbsMerrill Co., Indianapolis, New York, 1962, S. 339 ff., publiziert hat." 5 In diesem Zusammenhang verweist Kelsen in seinem Brief auch auf einen zweiten Artikel, der unter dem Titel Law and Logic in einer holländischen Festschrift erscheinen sollte, betont jedoch gleichzeitig: "Da er noch nicht publiziert ist, habe ich auf ihn nicht hingewiesen. Falls er publiziert sein sollte, bevor Ihre italienische Übersetzung in Druck geht, könnte auch auf ihn hingewiesen werden. Ich werde Sie jedenfalls von der Publikation sofort mit Luftpost verständigen. "8 3 Kelsen an Losano, Berkeley, 17. 6. 1965. • Kelsen an Losano, Berkeley, 20. 7. 1965.

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Korrekturenliste vom 20. 7. 1965.

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Jedoch schon kurz darauf war es Hans Kelsen möglich, Mario G. Losano den Text des für die Festschrift für den holländischen Professor Dooyeweerde geplanten Artikels "Law and Logic" zu senden mit der Bemerkung: "Ich bitte Sie aber, auf diesen Artikel noch nicht hinzuweisen, da er noch nicht erschienen ist, und es nicht sicher ist, wann die Festschrift publiziert werden wird. Auch sende ich Ihnen in der Anlage den Text meines Artikels Derogation, in dem ich die Nichtanwendbarkeit des logischen Satzes vom Widerspruch auf Normenkonflikte zu begründen versuche.'47 Kelsen rät Losano, eventuell in einer Einleitung auf seine geänderte Einstellung hinzuweisen: "Wenn Sie es für zweckmäßig halten, können Sie als Übersetzer in einer Vorrede darauf hinweisen, daß sich meine Anschauungen über die Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Rechtsnormen seit der Publikation der Reinen Rechtslehre geändert haben und daß auf den von mir publizierten Artikel, in dem diese Änderung zum Ausdruck kommt, in einer Fußnote des Textes hingewiesen wird. "8 Dieser hier bereits angeführten Fußnote folgte mehrere Monate später noch eine Ergänzung: "In der von mir vorgeschlagenen "Fußnote des Übersetzers" ist das folgende hinzuzufügen: In bezug auf die Anwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung vgl. den Artikel Kelsens: Recht und Logik, in "Forum", XII. Jahr, Wien, Oktober 1965, Heft 142, S. 421-425; November 1965, Heft 143, S. 495-500."' Besonders ausdrücklich bittet Kelsen, " ... , daß in der Vorrede des Übersetzers auch zum Ausdruck kommen soll, daß es sich um eine Übersetzung der im Jahre 1960 erschienenen Reinen Rechtslehre Kelsens handelt, deren Text vom Verfasser im wesentlichen nur in sprachtechnischer Hinsicht revidiert wurde". 10 II. Korrekturen zur 2. Auflage der Reinen Rechtslehre Diese Korrekturen werden hier auf folgende Weise aufgeführt: RR 1960, Angabe der genauen Stelle, welche durch Kelsens Korrektur geändert wird; die Zeile, die zu korrigieren ist, steht zwischen zwei Strichen. Anschließend folgt der Wortlaut von Kelsens Korrektur mit dem Datum seines Briefes. In Kapitel I, Recht und Natur, nimmt Hans Kelsen die folgenden, in der italienischen Ausgabe zu beachtenden Änderungen vor: Kelsen an Losano, Berkeley, 20. 7. 1965. Kelsen an Losano, Berkeley, 30. 7. 1965. 8 Kelsen an Losano, Berkeley, 20. 7. 1965. 8 Kelsen an Losano, Berkeley, 23. 2. 1966. 1° Kelsen an Losano, Berkeley, 21. 7. 1965. 8

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RR 1960, Seite 4, Zeile 5 von unten:

I Derjenige, der gebietet oder ermächtigt, will, derjenige, an den das Gebot I gerichtet ist oder dem die Erlaubnis oder Ermächtigung gegeben wird, soll. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): zwischen die Worte "gebietet" und "oder" das Wort ,"erlaubt". RR 1960, Seite 9, Zeile 28-32:

I Schließlich ist zu bemerken, daß eine Norm nicht nur der Sinn eines Willensaktes, sondern - als Sinngehalt - auch der Inhalt eines Denkaktes sein kann. Eine Norm kann nicht nur gewollt, sie kann auch bloß gedacht sein, ohne gewollt zu sein. Dann ist sie keine gesetzte, keine positive Norm. Das heißt: eine Norm muß nicht gesetzt, sie kann bloß im Denken vorausgesetzt sein. I Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): An Stelle des ganzen Absatzes das Folgende: "Schließlich ist zu bemerken, daß eine Norm nicht nur der Sinn eines real gesetzten Willensaktes sein kann. Das ist der Fall, wenn die Norm nur in unserem Denken vorausgesetzt wird, wie die schon im Vorhergehenden erwähnte Grundnorm. Da zwischen dem Sollen einer Norm und einem Wollen, dessen Sinn es ist, eine Korrelation besteht, muß, wenn in unserem Denken eine Norm vorausgesetzt wird, die nicht der Sinn eines realen Willensaktes ist, ein imaginärer Willensakt mitgedacht werden, dessen Sinn diese bloß gedachte Norm ist. Eine solche bloß gedachte Norm ist daher keine positive, d. h. eben keine durch einen realen Willensakt gesetzte, sondern eine bloß vorausgesetzte Norm." RR 1960, Seite 23, Zeile 29: Vor allem aber ist zu beachten, daß die Akte, durch die Rechtsnormen erzeugt werden, vom Standpunkt juristischer Erkenntnis überhaupt nur insofern in Betracht kommen, als sie durch Rechtsnormen bestimmt sind, und daß die Grundnorm, die der letzte Geltungsgrund I dieser Normen ist, überhaupt nicht durch einen Willensakt gesetzt, sondern I im juristischen Denken vorausgesetzt ist. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): zwischen die Worte "einen" und "Willensakt" das Wort "realen". RR 1960, Seite 26/27, Zusatz: Daraus ergibt sich, daß innerhalb einer solchen normativen Ordnung ein und dasselbe Verhalten in diesem Sinne "geboten" und zugleich "verboten" sein und daß diese Situation ohne logischen Widerspruch beschrieben werden kann.

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Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): zwischen letzte Zeile Seite 26 und erste Zeile Seite 27 einzuschieben: "Dies ist der Fall, wenn ein bestimmtes Verhalten und zugleich das gegenteilige Verhalten zur Bedingung einer Sanktion gemacht ist." RR 1960, Seite 27, Zeile 1-3: I Die beiden Sätze: A soll sein, und A soll nicht sein, schließen sich gegenseitig aus; von den beiden damit beschriebenen Normen kann nur eine gelten. Beide können nicht zu gleicher Zeit befolgt oder angewendet werden. Aber die beiden Sätze: I Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): Die ersten drei Zeilen der Seite 27 sollen lauten: "Die beiden Normen: "A soll sein" und "A soll nicht sein", schließen sich gegenseitig insoferne aus, als beide nicht von demselben Individuum, zu gleicher Zeit befolgt oder angewendet werden können. Nur eine kann gelten. Aber die beiden Normen:"

RR 1960, Seite 27, Zeile 5: Wenn A ist, soll X sein, und: Wenn non-A ist, soll X sein, schließen sich gegenseitig I nicht aus, die beiden damit beschriebenen Normen können zu gleicher Zeit I gelten; unter einer Rechtsordnung kann eine Situation bestehen - und tatsächlich bestehen solche Situationen, wie wir noch sehen werden -, in der ein bestimmtes menschliches Verhalten und zugleich das gegenteilige Verhalten eine Sanktion zur Folge haben. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): die Worte "damit beschriebenen" entfallen.

RR 1960, Seite 28, Zeile 4 von unten: Es ist eine I transzendente, Sanktionen statuierende, und in diesem Sinne religiöse, keine I sanktionslose Moral-Ordnung. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

Beistrich hinter dem Wort "transzendente" entfällt. RR 1960, Seite 48, Zeile 7 von unten: Dann ist I die Ordnung, die das gegenteilige Verhalten der Mitglieder dieser als "Räuberbande" I qualifizierten Gruppe regelt, von der externen Ordnung, das ist von den Befehlen zu unterscheiden, die die Mitglieder oder Organe der Bande unter Androhung von Übeln an Außenstehende richten. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt des Wortes "gegenteilige" das Wort "gegenseitige".

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RR 1960, Seite 49, Zeile 3 von unten: Ihrer internen Ordnung nach war gegenseitige Gewaltanwendung wohl in einem solchen Maße wirksam verboten, daß jenes Minimum an kollektiver Sicherheit gewährleistet war, das die Bedingung einer relativ dauernden I Wirksamkeit der die Gemeinschaft konstituierenden Ordnung ist I.

Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): Zeile 3 von unten entfällt. An Stelle der hier entfallenen Worte treten die Worte: "Existenz einer durch eine normative Ordnung konstituierte Gemeinschaft ist."

RR 1960, Seite 50, Fußnoten: *) Op. cit. XIX, 22.; **) Augustinus, Civitas Dei, IV, 4.

Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): Anmerkung* soll lauten: Augustinus, Civitas Dei, IV, 4.; Anmerkung** soll lauten: Op. cit., XIX, 21. RR 1960, Seite 51, Zeile 4 von unten: I Mit der Grundnorm wird somit die in ihr enthaltene Definition des Rechts I als Zwangsnorm vorausgesetzt. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): die Worte "in ihr enthaltene" entfallen.

RR 1960, Seite 52, Zeile 19 und 20: Der letzterwähnte Einwand trifft nicht zu, denn die Definition des Rechts als Zwangsordnung kann aufrechterhalten werden, auch wenn die einen Zwangsakt statuierende Norm nicht selbst wieder in einer wesentlichen Verbindung mit einer Norm steht, die an die Nichtanordnung oder Nichtvollstreckung des Zwangsaktes I in einem konkreten Falle eine Sanktion knüpft, wenn also die generelle Statuierung des Zwangsaktes rechtlich, das heißt objektiv nicht als geboten, I sondern nur als ermächtigt oder positiv erlaubt zu deuten ist (auch wenn der subjektive Sinn des Aktes, mit dem der Zwangsakt generell statuiert ist, ein Gebieten ist). Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): zwischen die Worte "also" und "die" sind einzuschieben die Worte: "der Akt, dessen subjektiver Sinn"; zwischen die Worte "Zwangsakt" und "rechtlich" ist das Wort "ist" einzuschieben. (Bemerkung des Verfassers: Grammatikalisch richtig müsste das Wort "ist" nicht zwischen die Worte "Zwangsakt" und "rechtlich", sondern nach "rechtlich" eingeschoben werden.)

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RR 1960, Seite 55, Zeile 29:

Sie würden- im Sinne der hier akzeptierten Definition des Rechts ihren I Rechtscharakter und die von ihnen konstruierten Gemeinschaften ihren I Staatscharakter verlieren, es würde, in der Marx'schen Terminologie gesprochen, der Staat - aber mit dem Staat auch das Recht "absterben". Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

statt des Wortes "konstruierten" das Wort "konstituierten". RR 1960, Seite 57, Zeile 23: Es sind die Normen, die zur Erzeugung von generellen Rechtsnormen ermächtigen, die Normen der Verfassung, die die Gesetzgebung regeln oder die Gewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand einsetzen; und die Normen, die das Gerichts- und Verwaltungsverfahren regeln, in dem die durch Gesetz oder Gewohnheit erzeugten generellen Normen von hiezu ermächtigten Gerichts- und Verwaltungsbehörden I in dem von diesen Organen zu erzeugenden individuellen Normen I angewendet werden. Kelsens Km·rektur (20. 7. 1965):

statt des Wortes "dem" das Wort "den". RR 1960, Seite 59, Zeile 16: Das gesamte in den I Rechtsnormen einer Rechtsordnung gegebene Material fügt sich in dieses Schema I des von der Rechtswissenschaft formulierten Rechtssatzes, der von der durch die Rechtsautorität gesetzten Rechtsnorm zu unterscheiden ist. Kelsens Konektur (20. 7. 1965):

zwischen die Worte "gegebene" und "Material" die Worte "rechtlich relevante" einzuschieben. RR 1960, Seite 77, Zeile 12:

Zwei Rechtsnormen widersprechen sich und können daher nicht zugleich als gültig behauptet werden, wenn die beiden sie beschreibenden Rechtssätze sich widersprechen; und eine Rechtsnorm kann aus einer anderen abgeleitet werden, wenn die sie beschreibenden Rechtssätze in einen logischen Syllogismus eingehen können I I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

"Zu dem letzten Wort: "können" ein Sternchen* und unter dem Strich eine Fußnote: • Note des Übersetzers: in bezug auf die Anwendbarkeit logischer Prinzipien insbesondere des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch auf

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Rechtsnormen vgl. aber den Artikel ,Derogation', denKelsenzwei Jahre nach Publikation seiner Schrift Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, in Essays in Jurisprudence in Honour of Roscoe Pound, The Bobbs-Merril Co., Indianapolis, New York, 1962, S. 339 ff., publiziert hat." Da Kelsen an der Anwendbarkeit der logischen Prinzipien im Recht besonders interessiert war, fügte er später noch eine weitere Korrektur zu dieser Stelle von Seite 77 an. Kelsens Korrektur (23. 2. 1966): "In der von mir vorgeschlagenen ,Fußnote des Übersetzers' ist das folgende hinzuzufügen: In bezug auf die Anwendbarkeit der Regel der Schlußfolgerung vgl. den Artikel Kelsens: ,Recht und Logik', in Forum, XII. Jahr, Wien, Oktober 1965, Heft 142, S. 421-425; November 1965, Heft 143, S. 495 bis 500." Am 2., nur 12 Seiten umfassenden Kapitel "Recht und Moral" hat Kelsen keine Änderungen vorgenommen. Folgende zwei Verbesserungen hat er jedoch bei Kapitel 3, "Recht und Wissenschaft", angebracht: RR 1960, Seite 85, Zeile 7: Die individuellen Rechtsnormen, die mit richterlichen Entscheidungen und Verwaltungsbescheiden gesetzt werden, beschreibt die Rechtswissenschaft in analoger Weise wie die Naturwissenschaft ein konkretes Experiment unter Hinweis I auf ein Naturgesetz, das sich in diesem Gesetz manifestiert I. Kelsens Kon·ektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "Gesetz" das Wort "Experiment". RR 1960, Seite 96, Zeile 19: Wenn das Vergeltungsprinzip ein normgemäßes Verhalten mit Lohn, ein normwidriges Verhalten mit Buße oder mit Strafe verknüpft und so eine Norm voraussetzt, die dieses Verhalten gebietet oder verbietet, oder eine Norm ist, die das Verhalten gerade dadurch verbietet, daß sie daran eine Strafe knüpft; und wenn das die unmittelbare Bedingung des Lohns, der Buße oder Strafe bildende Verhalten I selbst wieder unter einer bestimmten Bedingung geboten oder verboten ist: dann I kann- wenn man unter Zurechnung jede Verknüpfung eines menschlichen Verhaltens mit der Bedingung versteht, unter der es in einer Norm geboten oder verboten ist- auch das Verhalten, dem als unmittelbarer Bedingung der Lohn, die Buße oder Strafe zugerechnet wird, unter der es geboten oder verboten ist.

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Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "unter" die Worte "als Folge".

Eine weitere sprachtechnische Berichtigung betrifft den folgenden Abschnitt des Kapitels 4 mit dem Titel "Rechtsstatik": RR 1960, Seite 135, Zeile 16 und 23: Unter dem Einfluß der altrömischen Jurisprudenz pflegt man zwischen dem I Recht an einer Sache (jus in rem) und dem Recht gegenüber einer Person I (jus in personam) zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist irreführend. Auch das Recht an einer Sache ist ein Recht gegenüber Personen. Wenn man, um die Unterscheidung zwischen Sachenrecht und Personenrecht aufrechtzuerhalten, jenes als das Recht eines Individuums definiert, über eine bestimmte Sache in irgendeiner Weise zu verfügen, so übersieht man, daß dieses Recht nur darin besteht, daß die anderen Individuen rechtlich verpflichtet sind, diese Verfügung zu dulden, das I heißt: nicht zu hindern oder sonstwie zu beeinträchtigen; daß also das jus in rem I zumindest auch ein jus in personam ist. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): Zeile 16: statt "jus in rem": "jus ad rem"; Zeile 23: statt "jus in rem": "jus ad rem".

Eine bedeutendere Änderung des Textes nimmt Kelsen im Abschnitt über das Rechtsverhältnis vor: RR 1960, Seite 168, Zeilen 19-20: Solche Rechtsverhältnisse bestehen z. B. zwischen den zur Erzeugung genereller Normen ermächtigten und den zu ihrer Anwendung ermächtigten Individuen, wie etwa zwischen dem Gesetzgebungsorgan und den Gerichten oder Verwaltungsbehörden; I aber auch zwischen diesen und den durch die von jenen erzeugten und angewendeten Rechtsnormen verpflichteten und berechtigten Subjekten; aber I auch zwischen den zur Vollstreckung der Zwangsakte ermächtigten Individuen und den Individuen, gegen die sich die Zwangsakte richten. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): die Worte: "durch die von jenen erzeugten und angewendeten Rechtsnormen verpflichteten und berechtigten Subjekten" sind zu ersetzen durch: "Subjekten, die durch die von dem Gesetzgebungsorgan erzeugten und den Gerichts- oder Verwaltungsbehörden angewendeten Rechtsnormen verpflichtet oder berechtigt werden."

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Zahlreiche Verbesserungen der Reinen Rechtslehre, 2. Auflage, beziehen sich auf das Kapitel 5, in welchem sich Kelsen mit dem Thema der Rechtsdynamik befaßt. RR 1960, Seite 198, letzte Zeile:

I Daher kann es keine unmittelbar einleuchtenden Normen geben. I Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle dieses Satzes tritt der Satz: "Daher kann es keine Norm geben, die nurkraftihres unmittelbar einleuchtenden Inhalts gilt." RR 1960, Seite 198-199, Zeile 1:

I Wenn eine Norm, aus der Geltungsgrund und Geltungsinhalt von

Moralnormen abgeleitet wird, I als unmittelbar einleuchtend behauptet wird, so ist dies darum der Fall, weil man glaubt, daß sie durch den Willen Gottes oder einer anderen übermenschlichen Autorität gesetzt ist, oder weil sie durch Gewohnheit erzeugt wurde und daher - wie alles Gewohnheitsmäßige - für selbstverständlich gehalten wird. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): Zeile 1 entfällt; an deren Stelle treten die Worte: "die ein bestimmtes menschliches Verhalten vorschreibt". RR 1960, Seite 201, Zeile 16:

Versteht man unter der Verfassung einer Rechtsgemeinschaft die Norm oder die Normen, die bestimmen, wie, das heißt von welchen I Organen und in welchen Verfahren - durch bewußte Rechtssatzung, insbesondere I Gesetzgebung, oder Gewohnheit- die generellen Normen der die Gemeinschaft konstituierenden Rechtsordnung zu erzeugen sind, ist die Grundnorm jene Norm, die vorausgesetzt wird, wenn die Gewohnheit, durch die Verfassung zustandegekommen ist, oder wenn der von bestimmten Menschen bewußt gesetzte, verfassunggebende Akt objektiv als ein normerzeugender Tatbestand gedeutet wird; wenn- im letzteren Falle- das Individuum oder die Versammlung von Individuen, die die Verfassung errichtet haben, auf der die Rechtsordnung beruht, als normsetzende Autorität angesehen werden. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): die Worte "durch bewußte Rechtssatzung" entfallen. RR 1960, Seite 201, Fußnote von:

Die Normen einer Rechtsordnung müssen durch einen besonderen Setzungsakt erzeugt werden*). (Zeile 13)- Fußnote: ... Selbstverständlich ist die Grundnorm nicht gleichbedeutend mit der Summe aller positiven Normen einer Rechtsordnung. Sie ist eine von I diesen Normen ver-

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schiedene, ihren Geltungsgrund darstellende, vorausgesetzte, nicht gesetzte I Norm. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): Fußnote, zweite Zeile von unten: zwischen die Worte "nicht" und "gesetzte" die Worte "eine durch einen realen Willensakt" einschieben. RR 1960, Seite 203, Zeile 25 und 30: Zieht man nur die staatliche Rechtsordnung - nicht auch das Völkerrecht - in Betracht und fragt man nach dem Grund der Geltung einer historisch ersten Staatsverfassung, das heißt einer Verfassung, die nicht im Wege einer verfassungsmäßigen Änderung einer vorangegangenen Staatsverfassung zustande gekommen ist, dann kann die Antwort wenn man darauf verzichtet, die Geltung der Staatsverfassung und die Geltung der ihr gemäß erzeugten Normen auf eine Norm zurückzuführen, I die von einer meta-rechtlichen Autorität, wie Gott oder Natur, gesetzt ist- nur I sein, daß die Geltung dieser Verfassung, die Annahme, daß sie eine verbindliche Norm sei, vorausgesetzt werden muß, wenn es möglich sein soll, die ihr gemäß I gesetzten Akte als die Erzeugung oder Anwendung gültiger genereller I Rechtsnormen und die in Anwendung dieser generellen Rechtsnormen gesetzten Akte als die Erzeugung oder Anwendung gültiger individueller Rechtsnormen zu deuten. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): zwischen die Worte "einer" und "meta-rechtlichen" die Worte einschieben: tatsächlich vorhandenen oder als tatsächlich vorhanden geglaubten; zwischen die Worte "Anwendung" und "gültiger" das Wort "objektiv". RR 1960, Seite 205, Zeile 25: In diesem Syllogismus ist der Obersatz eine als objektiv gültig angesehene Norm (richtiger, die Aussage einer solchen Norm), derzufolge man den Befehlen einer bestimmten Person gehorchen, das heißt sich dem subjektiven Sinn dieser Befehlsakte entsprechend verhalten soll; der Untersatz die Aussage der Tatsache, daß diese Person befohlen hat, daß man sich in bestimmter I Weise verhalten soll; und der Schlußsatz die Aussage der Geltung der Norm: daß I man sich in dieser bestimmten Weise verhalten soll. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt der Worte "der Geltung der Norm" die Worte "daß die Norm gilt". RR 1960, Seite 205, Zeilen 29-30: Die Norm, deren Geltung im Obersatz ausgesagt ist, legitimiert so den subjektiven Sinn des Befehlsaktes, dessen Existenz im Untersatz ausgesagt ist, als dessen objektiven Sinn. Zum I Beispiel: Man soll den

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Befehlen Gottes gehorchen. Gott hat befohlen, den Befehlen der Eltern zu gehorchen /. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Sätze "Man soll den Befehlen Gottes gehorchen. Gott hat befohlen, den Befehlen der Eltern zu gehorchen" treten: Die Norm gilt: "Man soll den Befehlen Gottes gehorchen"; der Satz ist wahr: "Gott hat befohlen, den Befehlen der Eltern zu gehorchen." Also ist der subjektive Sinn des Aktes: "Man soll den Befehlen der Eltern gehorchen", auch dessen objektiver Sinn, d. h.: ist eine objektiv geltende Norm. RR 1960, Seite 246, Zeile 26: So wie eine richterliche Entscheidung aus dem Grunde der Unrichtigkeit der Feststellung der Tatsache, daß ein bestimmtes Delikt von einem bestimmten Menschen begangen wurde, kann die Vollstreckung der Sanktion aus dem Grunde des I Nichtvorhandenseins einer gerichtlichen Entscheidung, das heißt wegen I Unzuständigkeit der Organe oder Fehlerhaftigkeit des Verfahrens im Instanzenzuge angefochten werden. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Worte "das heißt" das Wort "oder". (Bemerkung: durch diese Korrektur fällt das Komma nach "Entscheidung" weg.) RR 1960, Seite 249, Zeile 25: Aber da eine Rechtsordnung nicht alle möglichen Interessen, sondern stets nur ganz bestimmte Interessen schützen kann, indem sie ihre Verletzung verbietet, daher die stets vorhandenen Gegeninteressen ungeschützt bleiben müssen, ist der Konflikt zwischen einem erlaubten Verhalten des einen mit einem erlaubten Verhalten eines anderen Individuums unvermeidbar und immer gegeben, wenn die Klage nur darum abzuweisen oder der Angeklagte nur darum freizusprechen ist, weil sein Verhalten nicht verboten und daher das durch sein Verhalten verletzte Interesse von der Rechtsordnung nicht durch eine generelle Norm geschützt ist, die an das I gegenteilige Verhalten eine Sanktion knüpft I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): das Wort "gegenteilige" entfällt und zwischen die Worte "Verhalten" und "eine" sind die Worte "des anderen" einzuschieben. Kelsen kommt später noch einmal auf diese Passage aus dem Abschnitt über die Beziehung zwischen der richterlichen Entscheidung und den generellen Rechtsnormen zurück." Auch diese Verbesserung ist ein typisches Beispiel dafür, wie sorgfältig Kelsen jedes Wort abwägt. 11

Kelsen an Losano, Berkeley, 27. 8. 1965.

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Kelsens Korrektur (27. 8. 1965), Zeile 24: das Wort "das" am Ende der Zeile ist durch das Wort "dieses" zu ersetzen. Somit lautet die endgültige Fassung dieser Stelle: " . .. weil sein Verhalten nicht verboten und daher das durch sein Verhalten verletzte Interesse von der Rechtsordnung nicht durch eine generelle Norm geschützt ist, die an dieses Verhalten des anderen eine Sanktion knüpft." RR 1960, Seite 252, Zeile 19: Dazu kommt, daß das I Urteil, demzufolge das Fehlen einer Rechtsnorm betimmten Inhaltes unbillig I oder ungerecht ist, ein höchst relatives Werturteil darstellt, das ein entgegengesetztes Werturteil keineswegs ausschließt. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "relatives" das Wort "subjektives". RR 1960, Seite 253, Zeilen 12, 16 und 18: Zu dem Gebrauch dieser Fiktion mag der Gesetzgeber durch die Einsicht I veranlaßt werden, daß die Anwendung der von ihm gesetzten generellen Norm I unter gewissen von ihm nicht vorausgesehenen und nicht voraussehbaren Umständen zu einem unbefriedigenden Ergebnis führen kann, und daß es daher empfehlenswert ist, das Gericht zu ermächtigen, in solchen Fällen anstatt die den I Inhalt seiner Entscheidung vorausbestimmenden generellen Normen eine von I dem Gericht selbst zu erzeugende, den von dem Gesetzgeber nicht vorausgesehenen I Umständen angepaßte individuelle Rechtsnorm zu setzen I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Worte "der von ihm gesetzten generellen Norm" treten die Worte: des von ihm erlassenen Gesetzes; zwischen die Worte "Normen" und "eine" das Wort "anzuwendende" einschieben; zwischen die Worte "angepaßte" und "individuelle" die Worte einschieben: "durch das Gesetz nicht bestimmte". RR 1960, Seite 254, Zeile 24: Allein, was man als technische Lücke bezeichnet, ist entweder eine Lücke im ursprünglichen Sinne des Wortes, das heißt eine Differenz zwischen einem positiven Recht und einem Wunschrecht, oder jene I Unbestimmtheit, die sich aus dem Rahmencharakter der Norm ergibt I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

zwischen die Worte "der" und "Norm" das Wort "generellen" einschieben. RR 1960, Seite 281 , Zeile 4 von unten: Es kann nicht geleugnet werden, daß es Fälle gibt, in denen etwas, insbesondere ein Befehl, der mit dem Anspruch auftritt, eine Rechtsnorm,

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das heißt: eine durch einen grundnormgemäßen Akt gesetzte Norm zu sein, von niemandem dafür angesehen zu werden braucht, ohne daß die Rechtsordnung hiezu jedermann I ermächtigt, ohne das überhaupt ein besonderer von der Rechtsordnung I vorgesehener Vernichtungsakt nötig wäre. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt "das", das Wort "daß". Weitere Verbesserungen, welche in der Korrekturenliste vom 20. 7. 1965 enthalten waren, betreffen die Kapitel 6 und 7 der Reinen Rechtslehre, 2. Auflage: "Recht und Staat" und "Staat und Völkerrecht". RR 1960, Seite 323, Zeilen 6-7: Angesichts dieser Tatsachen ist es heute wohl kaum möglich I zu behaupten, daß nach geltendem Völkerrecht ein Staat, der sich nicht vertraglich zum Gegenteil verpflichtet hat, gegen jeden anderen Staat aus jedem ihm beliebigen I Grund zum Kriege schreiten kann, ohne das Völkerrecht zu verletzen, das heißt: die allgemeine Geltung des bellum justurn Prinzipes zu leugnen. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): der Satz: "der sich nicht vertraglich zum Gegenteil verpflichtet hat" entfällt. RR 1960, Seite 327, Zeile 6: Diese Kollektivhaftung ist, da der Unrechtstatbestand überhaupt nicht von den Individuen gesetzt ist, gegen die sich der Zwangsakt der Sanktion richtet, und daher auch die durch den Unrechtstatbestand verursachte Interessenverletzung I von diesen Individuen nicht absichtlich oder fahrlässig hergeführt wird, I Erfolgshaftung. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt des Wortes "hergeführt" das Wort "herbeigeführt". Die Tatsache, daß Kelsen weiterhin Änderungen des Textes der Reinen Rechtslehre, 2. Auflage, an den Übersetzer in Turin schickte, zeigt, daß er seine Lehre immer wieder eingehend überprüfte und wie sehr ihm am Gelingen der neuen italienischen Ausgabe gelegen war. Mitte August 1965 sendete er Losano folgende weitere Ergänzungen: RR 1960, Seite 187, Zeile 11-12: Ist das Körperschaftsorgan zu dem der staatlichen Rechtsordnung nach verbotenem Verhalten von dem Statut ermächtigt oder sogar verpflichtet, das heißt im zweiten Fall, daß das Statut an das gegenteilige Verhalten eine durch die staatliche Rechtsordnung sanktionierte Pflicht der 4 RECHTSTHEORIE, Belheft 5

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Gutmachung des durch dieses Verhalten verursachten Schadens knüpft, dann liegt die schon erwähnte Situation vor, in der ein bestimmtes Verhalten und auch sein Gegenteil zur Bedingung einer Sanktion gemacht ist, nämlich I das erste Verhalten zur Bedingung der gegen das Organ gerichteten und das zweite zur Bedingung der gegen die Körperschaft gerichteten Sanktion**) /. Kelsens Korrektur (17. 8. 1965): die Worte "das erste Verhalten zur Bedingung der gegen das Organ gerichteten und das zweite zur Bedingung der gegen die Körperschaft gerichteten Sanktion" durch die Worte ersetzen: "das Verhalten, mit dem das Organ die ihm von dem Statut auferlegte Pflicht erfüllt, zur Bedingung einer gegen die Körperschaft gerichteten Sanktion, das Verhalten, mit dem das Organ die ihm von dem Statut auferlegte Pflicht verletzt, zur Bedingung einer gegen das Organ gerichteten Sanktion**)." RR 1960, Seite 190, Zeile 22: Ist die Erfüllung der durch die staatliche Rechtsordnung statuierten Pflicht durch das Statut zum Inhalt einer Pflicht des betreffenden Organs gemacht, indem an die Nichterfüllung dieser Organpflicht eine über das Organ zu verhängende I Strafe geknüpft ist, tritt diese strafrechtliche Individualhaftung des Organs zur I Haftung der Körperschaft (in dem eben gekennzeichneten Sinne) hinzu. Kelsens Korrektur (17. 8. 1965): das Wort "Strafe" ist durch das Wort "Sanktion" zu ersetzen; das Wort "strafrechtliche" entfällt. Kurz bevor die italienische Ausgabe in Druck ging, erhielt der Übersetzer noch letzte Ergänzungen und Änderungen, die Kelsen in den Text eingefügt haben wollte. 12 RR 1960, Seite 77, Zeile 12: siehe Seite 42; RR 1960, Seite 351, Zeile 20: Von hier aus gesehen, lassen sich alle derartigen Bestimmungen nur negativ charakterisieren: es sind Bestimmungen, die nicht vom positiven Recht selbst ausgehen. Im Verhältnis I zu diesem ist die Setzung des Rechtsaktes innerhalb des Rahmens der anzuwendenden Rechtsnorm frei, das heißt im freien Ermessen des zur Setzung des Aktes berufenen Organs; Kelsens Korrektur (23. 2. 1966): statt "diesem", "diesen". RR 1960, Seite 352, Zeilen 16 und 17: Durch solch eine authentische Interpretation kann nicht nur in dem Falle Recht geschaffen werden, in dem die Interpretation generellen 12

Kelsen an Losano, Berkeley, 23. 2. 1966.

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Charakter hat, also authentische Interpretation im üblichen Sinne des Wortes vorliegt, sondern auch in dem Falle, in dem durch ein rechtsanwendendes Organ eine individuelle I Rechtsnorm erzeugt wird, sobald der Akt des rechtsanwendenden Organs nicht mehr aufgehoben werden kann, sobald er in Rechtskraft erwachsen ist I. Kelsens Korrektur (23. 2. 1966): an Stelle der Worte "der Akt des rechtsanwendenden Organs" die Worte "die Geltung dieser Normen"; an Stelle des Wortes "er" das Wort "sie". RR 1960, Seite 353, Zeile 7: Die Ausfüllung einer sogenannten Lücke im Recht ist eine rechtserzeugende Funktion, die nur von einem rechtsanwendenden Organ geleistet werden kann*); I und diese Funktion erfolgt nicht im Wege der Interpretation geltenden Rechtes. Kelsens Korrektur (23. 2. 1966): nach dem letzten Wort dieser Zeile sind die Worte hinzuzufügen "durch die Rechtswissenschaft".

111. Korrekturen zum Anhang der Reinen Rechtslehre: Das Problem der Gerechtigkeit In der Annahme, daß die italienische Ausgabe der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre den Anhang Das Problem der Gerechtigkeit enthalten würde, hatte Kelsen auch gleich die Änderungen zu diesem Anhang in seine Korrekturenliste 13 aufgenommen. Der Verlag Einaudi entschloß sich jedoch angesichts des beträchtlichen Umfangs der Reinen Rechtslehre zu einer Sonderausgabe des Anhangs14 • Die Korrekturen werden wie für die Reine Rechtslehre aufgeführt15• Die zahlreichen Verbesserungen des Anhangs Das Problem der Gerechtigkeit zeigen, daß Kelsen den Text nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich noch einmal gründlich überprüft hat. Anhang RR 1960, S . 357, Titel : I I. Die Normen der Gerechtigkeit. I Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt "Normen" das Wort "Prinzipien". Ke!sen an Losano, Berkeley, 20. 7. 1965. über die italienische Ausgabe dieser Werke, siehe den Aufsatz von Raffae!!a Orsini und Donate!!a Soria in: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Wien 1978, S. 151-179. u Siehe oben, S. 38. 13 14

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Anhang RR 1960, S. 357, Zeile 13-14: I Das soziale Verhalten eines Menschen ist ungerecht, wenn es einer Norm widerspricht, die ein bestimmtes Verhalten vorschreibt. I Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt des Wortes "widerspricht" die Worte "nicht entspricht". Anhang RR 1960, S. 360, Zeilen 12, 14, 16: Diese Akte können der Gerechtigkeitsnorm entsprechen I oder widersprechen. Sie entsprechen der Gerechtigkeitsnorm, wenn die I Norm, die sie setzen, den Inhalt hat, den die Gerechtigkeitsnorm zu setzen vorschreibt, I sie widersprechen der Gerechtigkeitsnorm, wenn die Norm, die sie setzen, den I gegenteiligen Inhalt hat. Da Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit in dem Entsprechen I oder Widersprechen des SetzungsAktes besteht, sind es diese die Normen des I positiven Rechts setzenden. Akte, das Verhalten der die Normen des positiven Rechts setzenden Menschen, Seins-Fakten also, die den Gegenstand der Beurteilung durch die Gerechtigkeitsnorm bilden, die, mit dem Maßstab dieser Gerechtigkeitsnorm gemessen, als gerecht oder ungerecht bewertet werden, einen positiven oder negativen Gerechtigkeits-Wert haben. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

statt "widersprechen" die Worte "nicht entsprechen"; statt "widersprechen" die Worte "entsprechen nicht"; statt "Widersprechen" das Wort "Nicht-entsprechen". Anhang RR 1960, S. 360, Zeile 31-32:

I Widerspricht die Setzung der Norm des positiven Rechts der Gerechtigkeitsnorm, fallen Gerechtigkeitswert und Rechtswert I auseinander; dann sagt man, daß die Norm des positiven Rechts ungerecht ist. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): statt "Widerspricht" das Wort "Entspricht"; zwischen die Worte "Rechts" und "der" das Wort "nicht" einschieben. Anhang RR 1960, S. 361, Zeile 8:

Ihre Ungerechtigkeit besteht darin, daß I die sie setzenden Akte einer Gerechtigkeitsnorm widersprechen, das heißt: dieser I Norm gemäß nicht gesetzt werden sollen. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

statt "widersprechen" die Worte "nicht entsprechen". Anhang RR 1960, S. 363, Zeile 14:

Wenn ein Gegenstand die in einem Begriff bestimmten Eigenschaften hat, hat er darum nicht einen positiven, und wenn er sie nicht hat,

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darum nicht einen negativen Wert; so wie das Verhalten eines Individuums, das einer Norm entspricht, das so ist, wie es die Norm bestimmt, das heißt: wie es nach der Norm sein soll, einen positiven Wert, I ein Verhalten, das einer Norm widerspricht, das nicht so ist, wie die Norm I bestimmt, das heißt: wie es nach der Norm sein soll, einen negativen Wert, einen Unwert hat. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

statt "widerspricht" die Worte "nicht entspricht". Anhang RR 1960, S. 363, Zeilen 19, 21, 22, 23: I 6. In der logischen Operation, die vorgenommen wird, wenn die Geltung I einer individuellen Norm aus einer generellen Norm gefolgert wird, tritt allerdings I auch ein Seins-Urteil, die Behauptung einer Tatsache auf. So kann der die Geltung einer individuellen Norm aussagende Satz: Ich soll die Wahrheit sprechen, aus dem die Geltung einer generellen Norm aussagenden Satz: Alle Menschen sollen die Wahrheit sprechen, nur durch Vermittlung der ein Sein, eine Tatsache behauptenden Aussage gefolgert werden: Ich bin ein Mensch I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

das Wort "logischen" entfällt; das Wort "der" entfällt; statt des Wortes "einer" das Wort "der"; die Worte "aussagende Satz" entfallen; an Stelle der Worte "dem die" das Wort "der"; die Worte "aussagende Satz" entfallen. Anhang RR 1960, S. 395, Zeile 3 und 7:

I Da alle Gerechtigkeitsnormen einen generellen Charakter haben und alle I Gerechtigkeitsnormen vorschreiben, daß Menschen unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise behandelt werden sollen, ist der Grundsatz, daß Gleiche gleich behandelt werden sollen, eine logische Konsequenz des generellen Charakters I aller Gerechtigkeitsnormen I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

statt "Gerechtigkeitsnormen" das Wort "Gerechtigkeitsprinzipien". Anhang RR 1960, S. 395, Zeile 9, 11, 12:

So ist z. B. der Grundsatz: Bei gleicher Schuld die gleiche Strafe, bei gleichem Verdienst der gleiche Lohn, die logische Konsequenz I des generellen Charakters der Vergeltungsnorm, die für Schuld Strafe, I für Verdienst Lohn, das heißt: die vorschreibt, daß, wenn ein Mensch ein Unrecht begeht, er bestraft, wenn ein Mensch ein Verdienst hat, er belohnt werden soll. I I Wenn eine dem Vergeltungsprinzip entsprechende Strafrechtsnorm an eine bestimmte Schuld, das ist an einen bestimmten Unrechtstatbestand, eine bestimmte Strafe knüpft, etwa an Diebstahl Gefängnisstrafe, und wenn sie dies in genereller Weise tut,

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das heißt: wenn sie vorschreibt, daß immer, wenn dieser von ihr bestimmte Tatbestand, nämlich Diebstahl, vorliegt, so immer die von ihr bestimmte Strafe, nämlich Gefängnisstrafe, verhängt werden soll, hat ein Richter in jedem Falle immer an den gleichen Tatbestand, nämlich an Diebstahl, die gleiche Strafe, nämlich Gefängnisstrafe, und keine andere Strafe zu knüpfen, weil eben die anzuwendende Strafrechtsnorm nur an diesen und keinen anderen Tatbestand, nämlich Diebstahl, diese und keine andere Strafe, nämlich Gefängnisstrafe, dies aber in genereller Weise, knüpft. Kelsens Korrektur (20. 7.1965): statt der Worte "der Vergeltungsnorm" die Worte "des Vergeltungsprinzipes"; zwischen Zeile 11 und 12 einschieben: "Das Vergeltungsprinzip (oder die Vergeltungsnorm) muß von der positiven Rechtsnorm deutlich auseinandergehalten werden." Anhang RR 1960, S. 395, Zeile 26: Wenn die Norm, die an Diebstahl Gefängnisstrafe knüpft, als einen Gerechtigkeitswert konstituierend, weil als Anwendung des Vergeltungsprinzipes, angesehen wird, und wenn ein Richter in einem Fall von Diebstahl Gefängnisstrafe, in einem anderen aber Todes- oder Geldstrafe verhängt, I so ist sein Urteil rechtswidrig, und das heißt hier: zugleich ungerecht, nicht weil er in zwei gleichen Fällen von Schuld zwei ungleiche Strafen verhängt hat, sondern weil er der einen Gerechtigkeitswert konstituierenden Norm zuwider gehandelt hat, die an Diebstahl Gefängnisstrafe und nicht Todes- oder Geldstrafe knüpft. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): zwischen das Wort "Urteil" und das Wort "rechtswidrig" die Worte einschieben," falls es nicht in Rechtskraft erwächst,". Anhang RR 1960, S. 410, Zeile 1: Denn die so gewonnenen I Normen müssen sich gegenseitig widersprechen und können daher keine I gerechte, weil überhaupt keine normative Ordnung menschlichen Verhaltens darstellen. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Worte "sich gegenseitig widersprechen" die Worte "miteinander in Konflikt stehen". Anhang RR 1960, S. 427, Zeilen 4-5 von unten: Denn dieses I Rechtsgefühl ist bei den verschiedenen Menschen sehr verschieden und widersprechend I. Kelsens Korrektur (20 . 7. 1965): nach dem Worte "verschieden" ein Schlußpunkt; die Worte "und widersprechend" entfallen.

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Anhang RR 1960, S. 428, Zeilen 1-2:

Diese I Rechtsgefühle der Menschen sind ebenso verschieden und einander widersprechend wie die Gerechtigkeitsnormen, die wir im Vorhergehenden analysiert I haben. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

an Stelle der Worte "einander widersprechend" die Worte "miteinander in Konflikt". Anhang RR 1960, S. 428, Zeile 11:

Es kann insbesondere nicht geleugnet werden, daß selbst in derselben Gesellschaft zur selben Zeit die Rechtsgefühle der verschiedenen Klassen, Ständen, Berufen angehörigen Menschen verschieden sind und mit ihren Forderungen in Konflikt geraten können und tatsächlich in Konflikt geraten, weil eben die von diesen Menschen vorausgesetzten Gerechtigkeitsnormen, die sich als die in ihren Gerechtigkeitsgefühlen gelegenen I Ideale präsentieren, sehr verschieden und widersprechend sind I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

an Stelle des Wortes "widersprechend" die Worte "miteinander in Konflikt". Anhang RR 1960, S. 429, Zeile 24: 45. Da das Ziel der Naturrechtslehre Gerechtigkeit, die Normen eines gerechten Rechtes ist, und da es nicht, wie die Vertreter dieser Lehre glauben, nur eine, sondern sehr viele, verschiedene und einander entgegengesetzte Gerechtigkeitsnormen gibt, da ferner die Norm oder Normen der Gerechtigkeit nicht, wie die Naturrechtslehrer annehmen, der Natur immanent und daher nicht in ihr gefunden oder aus ihr deduziert, sondern von den Naturrechtslehrern vorausgesetzt werden, müssen diese, je nach der Gerechtigkeitsnorm, die sie I voraussetzen, zu sehr verschiedenen und einander widersprechenden Ergebnissen I kommen; eine Tatsache, die die Geschichte der Naturrechtslehre bestätigt und die dieser Lehre seit jeher entgegengehalten wurde. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Worte "einander widersprechenden" die Worte "miteinander in Konflikt stehende". Anhang RR 1960, S. 430-431: Wenn die Natur des Menschen nicht unwandelbar ist, wenn aus ihrwenn überhaupt Normen, so doch - keine unwandelbaren Normen gerechten Verhaltens deduziert werden können, kann es nicht ein Naturrecht, das als fester, absoluter Maßstab für die Bewertung der Gestaltung positiven Rechtes dienen kann, sondern muß es verschiedene, I ein-

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ander möglicherweise widersprechende Naturrechte, das heißt aber I Gerechtigkeitsnormen geben, die nur relative Werte konstituieren. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "widersprechende" die Worte "miteinander in Konflikt stehende". (Durch diese Korrektur entfällt selbstverständlich auch das Wort "einander".) Anhang RR 1960, S. 434, Zeile 26: Muß man zugeben, daß es sehr I verschiedene und einander widersprechende Naturrechtslehren gibt, daß also I das hier in Frage kommende Werturteil nur einen höchst relativen Charakter hat, dann kann man nicht leugnen, daß die unter dem Einfluß einer bestimmten Naturrechtslehre erfolgte Umgestaltung eines positiven Rechts, vom Standpunkt der Gerechtigkeitsnorm einer anderen Naturrechtslehre, nicht notwendig eine Besserung, sondern möglicherweise eine Verschlechterung darstellt. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Worte "einander widersprechende" die Worte "miteinander in Konflikt stehende". Anhang RR 1960, S. 439, Zeile 4: Jenes, so lehrt er, kann niemals zur Vernunft und damit zum I Naturrecht in Widerspruch geraten, denn Naturrecht und positives Recht stehen I zueinander in Korrelation. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "Widerspruch" das Wort "Konflikt". Anhang RR 1960, S. 440, Zeile 12: f) Die Frage, ob ein positives Recht als Ganzes oder eine bestimmte Norm I dieses Rechts dem Naturrecht entspricht oder widerspricht, ist eine Frage der I Interpretation des positiven Rechtes. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

an Stelle des Wortes "widerspricht" die Worte "nicht entspricht". Anhang RR 1960, S . 440, Zeile 20: Ist das zweite der I Fall, ist die Entscheidung, daß das positive Recht dem Naturrecht widerspricht, I so gut wie ausgeschlossen oder doch auf ein Minimum reduziert. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

an Stelle der Worte "dem Naturrecht widerspricht" die Worte "zu dem Naturrecht in Konflikt gerät".

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Anhang RR 1960, S. 440, Zeile 25:

Mitunter wird zwar gelehrt, einem I dem Naturrecht widersprechenden Recht müsse der Gehorsam verweigert werden, I aber diese Forderung wird insofern erheblich eingeschränkt, als sie nicht als verbindlich angesehen ist, wenn Gehorsamsverweigerung mit Ärgernis oder Gefahr verbunden ist. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965):

an Stelle der Worte "dem Naturrecht widersprechenden" die Worte "zu dem Naturrecht in Konflikt stehenden". Anhang RR 1960, S. 440, Zeile 31:

Schließlich ist die Doktrin zu erwähnen, I die die Geltung des positiven Rechts gegenüber einem ihm widersprechenden I Naturrecht dadurch zu sichern versucht, daß sie die Funktion des letzteren auf eine bloß "kritisch-normative Idee" reduziert. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle der Worte "ihm widersprechenden" die Worte "zu ihm in Konflikt stehenden". Anhang RR 1960, S. 442, 2. Zeile von unten:

Die Naturrechtslehre fragt nach dem Geltungsgrund des positiven Rechts, das heißt: ob und warum eine positive Rechtsordnung gilt, und beantwortet diese Frage kategorisch, das heißt: unbedingt, entweder mit dem Urteil, daß sie gilt, weil ihr Inhalt dem Inhalt des Naturrechts entspricht und daher gerecht ist, oder daß sie nicht gilt, weil ihr Inhalt dem Inhalt des Naturrechts I widerspricht I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "widerspricht" die Worte "nicht entspricht". Anhang RR 1960, S. 443, Zeile 26, 27128: Daher kann das positive Recht, das heißt eine im Wege der Gesetzgebung oder Gewohnheit erzeugte, im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung I niemals zu ihrer Grundnorm in Widerspruch stehen, während eine solche Ordnung sehr wohl zum Naturrecht, das sich als das gerechte Recht darstellt, in Widerspruch stehen kann I. Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "Widerspruch" das Wort "Konflikt". Anhang RR 1960, S. 443, Zeile 35: Denn gerechtfertigt werden kann das positive Recht, richtiger: seine Setzung, nur durch eine Norm oder normative Ordnung, der diese Setzung nicht nur I entsprechen, sondern auch widersprechen kann I.

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Kelsens Korrektur (20. 7. 1965): an Stelle des Wortes "widersprechen" die Worte "nicht entsprechen". IV. Rechtstheoretische ErläuterungenKelsens im Zusammenhang mit der italienischen Einleitung In seinem Brief vom 5. 10. 1965 unterbreitete Losano Kelsen die theoretischen Probleme, welche sich ihm bei der Niederschrift der Einleitung zur italienischen Ausgabe der Reinen Rechtslehre 1960 stellten: "In den Hauptproblemen findet sich die Behauptung, daß das Recht ,zum großen, vielleicht sogar zum größeren Teile, der Betrachtungsweise anderer Wissenschaften, wie der Soziologie oder der Psychologie unterworfen ist' (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. V). Darf ich darlegen, daß diese Behauptung als überholt anzusehen ist infolge Ihrer Annäherung an die These Cohens, nach der die Erkenntnisrichtung das Erkenntnisobjekt bestimmt? Andrerseits, indem Sie behaupten, daß die Soziologie im Grunde als Gegenstand den Staat als Rechtsphänomen (d. h. den Staat vom juristischen Standpunkt) hat, widersprechen Sie damit nicht der eben bestätigten Theorie von Cohen?" 18 Kelsen nimmt sofort Stellung zu Losanos Fragen und schreibt ihm dazu folgenden Kommentar: "Ich besitze leider nicht die erste Ausgabe meiner Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, und kann mich an das Vorwort nicht mehr erinnern. Leider ist das Buch auch in der hiesigen Universitätsbibliothek nicht erhältlich. Ich werde versuchen, mir eine photographische Kopie dieses Vorworts zu verschaffen. Was den von Ihnen zitierten Satz betrifft, daß das Recht zum größeren Teil der Betrachtungsweise anderer (offenbar anderer als der eigentlichen Rechtswissenschaft) Wissenschaften wie der Soziologie oder Psychologie unterworfen ist, so habe ich zu bemerken, daß dieser Satz mit der Ansicht keineswegs unvereinbar ist, daß "alle Erkenntnis konstitutiven Charakter hat und daher ihren Gegenstand insofern ,erzeugt' . . ." (Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S . 74). Soziologie und Psychologie des Rechts beziehen sich auf die Akte, deren Sinn die Normen sind, die der spezifische Gegenstand der eigentlichen Rechtswissenschaft sind. (Vgl. Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 108, 111.) Die These, daß die Erkenntnis ihren Gegenstand "erzeugt", stammt - wie ich in Reine Rechtslehre, S. 74, ausdrücklich feststelle, von Kant, und ist von dem Kant-Interpreten Cohen von Kant übernommen. Ich erinnere mich nicht mehr, wo ich von Cohen in diesem Zusammenhang gesprochen habe." 17 18 17

Losano an Kelsen, Turin, 5. 10. 1965. Kelsen an Losano, Berkeley, 9. 10. 1965.

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Inzwischen hatte Losano die erste Fassung der Einleitung zur italienischen Ausgabe der Reinen Rechtslehre (1960) beendigt, ins Deutsche übersetzt und Kelsen zur Begutachtung zugesandt. Da der Text der Einleitung in zwei Teilen an Kelsen geschickt wurde, hat dieser auch in zwei verschiedenen Briefen auf die jeweiligen Fragen des Übersetzers geantwortet. Kelsen hat mit seinen Erläuterungen nicht nur Losano geholfen, einige Fragen bezüglich der Einleitung zu lösen, sondern auch wertvolle Hinweise und Erklärungen zu verschiedenen wichtigen Aussagen der Reinen Rechtslehre (1960) selbst gegeben. Die wichtigsten seiner Ausführungen haben wir für die Wiedergabe an dieser Stelle ausgewählt: "Ihre Ausführungen auf S. 2 gehen von der Voraussetzung aus, daß die verschiedenen Sozialwissenschaften sich nicht durch ihre Gegenstände, sondern nur durch die ihnen zukommende Methode unterscheiden. Ich glaube nicht, daß ich diese Ansicht in meinen Hauptproblemen vertreten habe. Daß z. B. die Rechtswissenschaft das Recht, die Ethik die Moral zum Gegenstand hat, und daß Recht und Moral zwei verschiedene Gegenstände sind, habe ich nicht geleugnet. Auch nicht, daß die Soziologie die Akte des tatsächlichen Verhaltens der gesellschaftlich lebenden Menschen, Ethik und Rechtswissenschaft aber Normen als Sinn dieser Akte zum Gegenstand haben. Die Verschiedenheit der Methoden hängt mit der Verschiedenheit der Gegenstände zusammen. Das wird in den Hauptproblemen nicht in extenso dargestellt, aber doch vorausgesetzt. [. .. ] Auf S. 4-6 und S. 10 sagen Sie, daß ich in den Hauptproblemen die Ansicht vertrete, die Rechtsnorm sei ein Sollens-Urteil. Das ist, wörtlich genommen, insoferne richtig als in den Hauptproblemen sich die eine oder andere Stelle findet, in der dies gesagt wird. Aber was ich damit meine, habe ich in der Reinen Rechtslehre, 2. Aufl., S. 83, Fußnote, erklärt: Ich meine den von der Rechtswissenschaft zu formulierenden Rechts-Satz, den ich in den Hauptproblemen zwar sachlich aber noch nicht terminologisch deutlich genug von der durch die Rechtsautorität gesetzten Rechts-Norm unterschieden habe. Ich verweise auf Hauptprobleme, S. 70, Zeile 9-11 und Zeile 25 ff. Was die aufS. 4 und 5 Ihrer Einleitung erwähnte Parallele zwischen Naturgesetz und Rechtsnorm betrifft, so ist der Sinn meiner bezüglichen Ausführungen: So wie das von der die Natur beschreibenden Naturwissenschaft formulierte Naturgesetz, so ist das von der das Recht als Komplex von Rechtsnormen beschreibenden Rechtswissenschaft zu formulierende Rechts-Gesetz als der Rechts-Satz ein hypothetisches Urteil. Worum es sich handelt, ist eine Parallele zwischen Natur als

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Gegenstand der Naturwissenschaft und Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft. Dem was Sie in § 5, Seite 20, gegen meine Behauptung (Hauptprobleme, S. XX) vorbringen: daß auch die Soziologie den Rechtsbegriff des Staates meint, kann ich nicht ganz zustimmen. Die Soziologie bezieht sich auf die Akte, mit denen die Rechtsordnung, und das ist die Staatsordnung, der Staat als Ordnung - erzeugt und befolgt wird, indem sie die Ursachen und Wirkungen dieser Akte festzustellen hat. Ihr Gegenstand ist verschieden von dem der Rechtswissenschaft: den Rechtsnormen. Aber diesen Begriff des Rechts als ein Komplex von Normen muß auch die Soziologie akzeptieren. " 18 Wenige Tage später erhält der Übersetzer in Turin Kelsens Kommentar zum II. und III. Teil seiner Einleitung. Besonders ausführlich nimmt Kelsen Stellung zur Theorie von Austin: "S. 36, Zeile 5 ff. von unten: Der Satz, der mit den Worten beginnt: ,die Auffassung Austins vom Gehorsam dem Gebot gegenüber aus Furcht vor der Sanktion .. .' entspricht nicht meiner Stellungnahme zu Austins Theorie. Ich sage S. 57: Wenn Austin das Recht als ,enforcible' kennzeichnet, so muß man feststellen, daß die spezifische Art und Weise, in der das Recht ,enforces the obedience of the individuals consists in inflicting an evil called sanction in case of disobedience.' Von der ,Furcht vor der Sanktion' sage ich unmittelbar darauf, daß andere Motive ,perhaps more effective than fear of the sanctions ...'seien. S. 36, letzte Zeile und S. 37, Zeile 4-5: Sie sagen hier: ,Norm als hypothetisches Urteil'. Ich sage aber auf S. 51 der zitierten Schrift: ,The rule of law, using the term in a descriptive sense, is like the Iaw of nature a hypothetical judgment .. .'; und S. 58: ,The legal norm (using the term in a descriptive sense)'. Der Zusatz: ,in a descriptive sense' ist wesentlich. Damit drücke ich aus, daß es sich nicht um die von der Rechtsautorität gesetzte Rechts-Norm, sondern um den von der Rechtswissenschaft formulierten, das Recht beschreibenden Rechts-Satz handelt. Die sprachliche Unterscheidung von Rechts-Norm und Rechts-Satz läßt sich im Englischen nicht wörtlich ausdrücken. S. 38, Zeile 4-7: Auf welche Stellen in den Hauptproblemen und der General Theory of Law and State bezieht sich der Satz, der mit den Worten beginnt: ,bringt Kelsen den schon in seinem ersten Werk geäußerten Zweifel wieder vor . . .'? Wenn Sie die Stelle auf S. XVII im Vorwort der General Theory meinen, so ist es nicht ,die Abweisung jedes Willenselementes', sondern die Freiheit von allen politischen Ideologien (,political ideologies'), die in Betracht kommen. Richtig ist, 18

Kelsen an Losano, Berkeley, 17. 11. 1965.

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daß meine Ablehnung der von Austin vertretenen Imperativ- und Willens-Theorie in meinem Aufsatz ,The Pure Theory of Law and Analytical Jurisprudence' zu weit geht; und daß ich diese Einstellung zu der Austinsehen Theorie in meinen späteren Werken nicht aufrechterhalten habe. Ich verweise auf Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 7, Fußnote. Ein Hinweis darauf in Ihrer Einleitung wäre zweckmäßig. S. 42, Zeile 7-9: Der Satz: ,folglich ist nicht die Freiheit die Ursache der Zurechnung' trifft nicht zu. Freiheit wird nicht als ,Ursache' der Zurechnung angesehen, sondern Freiheit als kausale Nicht-Bestimmtheit ist Bedingung der Zurechnung; Zurechnung konstituiert Freiheit als Endpunkt der Zurechnung. Der Satz ist besser formuliert wie folgt: ,folglich kann dem Menschen nicht darum zugerechnet werden, weil er frei im Sinne von kausal nicht-bestimmt ist, sondern er ist frei, weil ihm zugerechnet wird, d. h. weil er Endpunkt der Zurechnung ist.' S. 44, Zeile 5-8: Die Rechtsnorm ist kein Urteil; nur der von der Rechtswissenschaft formulierte Rechts-Satz, mit dem die von der Rechtsautorität gesetzte Norm beschrieben wird, ist ein Urteil. Es gibt nicht nur hypothetische, sondern auch kategorische Normen. Der Satz würde besser formuliert lauten: ,Von nun an ist die Rechtsnorm eine von der Rechtsautorität gesetzte Vorschreibung, deren Sinn ein Sollen ist, während der Rechtssatz ein von der Rechtswissenschaft formuliertes SollUrteil ist, in dem die Rechtsnorm beschrieben, ihre Geltung ausgesagt wird.' S. 45, Zeile 1: Der Satz: ,der Akt selbst muß ausgeschlossen werden' trifft nicht zu. Die Rechtswissenschaft hat auch den Akt zum Gegenstand; aber nur insofern als er als Inhalt einer Norm auftritt. Ich verweise auf Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 7-9 und S. 47. Der Satz soll lauten: ,der Akt kommt nur insoweit in Betracht, als er in einer Norm (einschließlich der Grundnorm) geboten oder ermächtigt wird, also Inhalt einer Norm ist.' [... ] S. 46, Zeile 3 von unten, von den Worten ,daß sein Zweck nicht Frieden ist' bis S. 47, Zeile 7 (einschließlich): Anstelle dieses ganzen Passus soll es nach den Worten: ,sagt die zweite Auflage der Reinen Rechtslehre' lauten: ,Seite 223: . Das positive durch Gewohnheit und Vertrag erzeugte Völkerrecht kann den Frieden garantieren, indem es Gewaltanwendung im Verhältnis zwischen Staaten und sohin die Selbsthilfe verbietet. Aber das ist für den Begriff des Völkerrechts nicht wesentlich. [... ]" Dank dieser Hinweise und Anregungen war es Losano möglich, eine umfangreiche Einleitung der italienischen Ausgabe vorauszuschicken.

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Ruth Erne

Rudolf Metall, dessen Buch sich auf die biographischen Daten konzentriert, weist für den wissenschaftlichen Teil auf diese italienische Einleitung hin. "Hans Kelsens größtes, bleibendes und international anerkanntes Verdienst liegt zweifellos auf dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre, die sich im Lauf der Jahre zu der in sich und logisch geschlossenen Reinen Rechtslehre entwickelt hat. Die Grundlagen hierfür schuf Kelsen bereits in seinem großen Frühwerk, die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911). Wie Kelsen selbst in der Vorrede zu der 1923 erschienenen zweiten Auflage erklärt, war diese rechtstheoretische Erstlingsschrift nur der Ansatz zu seiner seither in anderen Arbeiten fortgesetzten Revision der methodologischen Grundlagen der Rechtslehre. Das Wesentliche blieb unverändert: eine reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechts zu schaffen, wie dies die vorzügliche Einleitung von Mario G. Losano zur italienischen Ausgabe der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre (1966, Turin) nachweist" 18 •

18

Rudolf Aladdr Metall, Hans Kelsen, Leben und Werk, Wien 1969,

s. 103.

ZUR RECHTSTHEORETISCHEN REKONSTRUKTION DER REINEN RECHTSLEHRE Von Wolfgang Meyer-Hesemann, Münster Die Rechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in Österreich, steht gegenwärtig mit dem gesamten Spektrum ihrer unterschiedlichen Erkenntnisinteressen im Zeichen der Hinwendung zu einem sowohl den soziologischen wie den juristischen Positivismus überwindenden nachpositivistischen Rechtsrealismus1 • Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens war und ist in ihrer geschlossenen und wirkungskräftigen Präsentation Herausforderung und Prüfstein für jedes den juristischen Positivismus überwindende Rechtsdenken. Im letzten Jahrzehnt rechtswissenschaftlicher Grundlagendiskussion in der Bundesrepublik war dieser Tatbestand deshalb von besonderer Augenfälligkeit, weil einige der gegenwärtig führenden Vertreter nachpositivistischer Positionen in vieler Hinsicht von Kelsen her und in Auseinandersetzung mit ihm ihren Ausgang genommen haben und auch heute noch der noch in stärkerem Maße von Kelsen geprägten Österreichischen rechtswissenschaftliehen Diskussion verbunden oder auch involviert sind. Bereits 1971 hat Ralf Dreier zum 90. Geburtstag Hans Kelsens die Reine Rechtslehre als "soziologische Theorie des Rechts im normativen Gewande" (um-) zu interpretieren unternommen 2 • Dreier bewirkte damit eine entschiedene Veränderung des Charakters der Reinen Rechts1 Besonderer Hervorhebung bedürfen die Arbeiten von: Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System. Elemente einer Verfassungstheorie II, Berlin 1976; Werner Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis. Eine Untersuchung zum Verhältnis von dogmatischer Rechtswissenschaft und rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung, Wien/New York 1978; der Begriff bei ders., Helmut Schelsky- ein Weg zur Soziologie des Rechts, in: Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Friedrich Kaulbach I Werner Krawietz, Berlin 1978, S. XIII-LXXVIII, LXXVI; Ralf Dreier, Recht- Moral- Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt 1981; Günther WinkLer, Sein und Sollen. Betrachtungen über das Verhältnis von Sein und Sollen im Hinblick auf das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Recht, mit methodologischen Orientierungen für eine kritische und gegenstandsgebundene Theorie vom positiven Recht, RECHTSTHEORIE 10 (1979), S. 257-280; Wolfgang MeyerHesemann, Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Heidelberg/Karlsruhe 1981. 1 Ralf Dreier, Sein und Sollen, Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens, JZ 1972, S. 329-335, wiederabgedruckt in ders. (FN 1), S. 217-240.

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lehre, die ursprünglich "primär gegen die sog. soziologische Betrachtungsweise" gerichtet war 3 •

Werner Krawietz hat in seiner grundlegenden Untersuchung zum Verhältnis von dogmatischer Rechtswissenschaft und rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung- entgegen z. T. eindeutigen "Postulaten" KeZsens - die Auffassung vertreten, die Reine Rechtslehre biete einen Rahmen, innerhalb dessen sich eine rein analytische Rechtstheorie komplementär zu einer dogmatischen Rechtswissenschaft verhalten könne, womit Raum auch für eine rechtstheoretisch reflektierte prak~ tische Rechtswissenschaft gegeben sei4 • Auch hier wird die Daseinsberechtigung der Kelsenschen Lehre dadurch zu retten versucht, daß sie teils in ihrem Geltungsanspruch restriktiv interpretiert, teils sachgerecht durch zeitgemäße Seitenstücke ergänzt wird. Für diese Form der kritisch fortbildenden Aneignung der Reinen Rechtslehre bietet letztlich auch die von Norbert Achterberg auf eine neue Grundlage gestellte allgemeine Rechtsverhältnistheorie ein Anschauungsbeispiel. Anknüpfend an KeZsens Erkenntnis der Bedeutung des Rechtsverhältnisses als Deutungsschema der Rechtsordnung, erweitert Achterberg das rechtswissenschaftliche Blickfeld dadurch, daß er in den Rechtsverhältnissen zugleich immer auch Sozialverhältnisse erkennt. Er integriert so ehedem als metajuristisch ausgeschlossene Betrachtungsweisen in das zeitgemäße Rechtsdenken5 • Alle geschilderten Anknüpfungsbemühungen an KeZsen nehmen aber durchweg von einem Kernstück des Erkenntnisinteresses der Reinen Rechtslehre Abstand: dem Reinheitsgedanken. Sie plädieren vielmehr für einen methodisch disziplinierten und reflektierten MethodenpZuralismus6. Das Reinheitspostulat zieht als Maxime am positiven Recht orientierter Rechtswissenschaft allerdings auch unüberwindbare theorietechnische Probleme nach sich. Diese sollen im folgenden an den Aporien des Entwurfs einer Reinen Rechtslehre durch KeZsen diskutiert werden. 3 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911), 2. Aufl., Tübingen 1923, Vorrede, S. V. 4 Werner Krawietz, Juristische Entscheidung (FN 1), S. 202 dort gegen Karl Larenz. Bei Kelsen siehe bereits ders., Hauptprobleme (FN 3), Vorrede zur 1. Aufl., S. X: "Postulat einer einzigen allgemeinen Rechtslehre .. ., die allen Rechtsgebieten gemeinsam." 5 Norbert Achterberg, Rechtsverhältnisse als Strukturelemente der Rechtsordnung. Prolegomena zu einer Rechtsverhältnistheorie, RECHTSTHEORIE 9 (1978), S. 385-410, wiederabgedruckt in ders., Theorie und Dogmatik des Offentliehen Rechts, Berlin 1981, S. 135-162. 6 Siehe z. B. Norbert Achterberg, Rechtsverhältnisse (FN 5), S. 396; Werner Krawietz, Juristische Entscheidung (FN 1), S. 151, 196; Ralf Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, in: Recht und Staat, Heft 444/445, Tübingen 1975, S. 21 Anm. 50, wiederabgedruckt in ders. (FN 1), S. 17-47.

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Kelsen hat das Reinheitspostulat bereits in seinem ersten Hauptwerk, den "Hauptproblemen der Staatsrechtslehre", an den Anfang seiner Untersuchung gestellt: "Das Ziel, ... das all meine ... Arbeiten bestimmte, ist eine reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechts. Die Reinheit der Lehre oder - was gleichbedeutend ist - die Selbständigkeit des Rechts als Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis" gelte es sicher zu stellen7 • "Ob und inwieweit die Jurisprudenz eine normative Disziplin . . . ist, muß das Kardinalproblem juristischer Methodologie, somit die prinzipiellste Voraussetzung aller Rechtswissenschaft sein" 8 • Der scharfsinnige Kritiker Kelsens, Erich Kaufmann, sah denn auch bereits 1921 den bleibenden Wert der Kelsenschen "Polemiken" darin, daß sie schonungslos "Halbwahrheiten" der zeitgenössischen Literatur bekämpften. Nur korrigiere Kelsen sie seiner Auffassung nach in die falsche Richtung: "Der Unterschied von Kelsen und den anderen besteht nur darin, daß diese bereits in den unteren Regionen ohne erkennbaren Grund bald hier, bald da, bald mehr, bald weniger, systemlos, ins bloß Faktische umkippen, während Kelsen das nur auf der letzten der obersten Stufe tut. Seine Arbeiten haben darin die größere Konsequenz und den geringeren positiven Erkenntniswert" 9 • I. Reinheit durch gnoseologisch-scmantische Dichotomisierung und deontische Objektivierung

Die Rechtswissenschaft - in dem umfassenden Sinn, in dem Kelsen sie in der Reinen Rechtslehre zum Thema nimmt - hat es mit einem Gegenstand zu tun, der einer Behandlung unter einer Vielzahl von Aspekten zugänglich ist. Kelsen beschränkt sich bekanntlich darauf, das Recht als Sollensordnung "rein normativ" zu untersuchen. So sagt er von der Reinen Rechtslehre: "Wenn sie sich als eine ,reine' Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen ... möchte" 10• Eine Operationale Fassung des Reinheitsgebots gewinnt Kelsen dadurch, daß er es negativ auf Ausgrenzung richtet, um bei der Vielzahl der möglichen Zugriffe auf Recht inkongruente Perspektiven umstands7

Hans Ketsen, Hauptprobleme (FN 3), Vorrede zur 2. Aufl., S. V; ähnlich

ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960 (unveränd. Nachdruck 1976), S. 1. s Hans Ketsen, Hauptprobleme (FN 3), Vorrede zur 1. Aufl., S. VII. 9 Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft, Tübingen 1921, S. 79 f. 10 Hans Ketsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 1. 5 RECHTS THEORIE, Beiheft 5

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los namhaft machen zu können. Als theorietechnisch am besten handhabbar erweist sich in dieser Hinsicht eine dichatomisierende Ja/NeinFassung des Ausgrenzungsproblems; nach Maßgabe dieses Schemas gehört dann entweder etwas dazu oder nicht. Als zeitgeschichtlich naheliegendes Modell greift Kelsen für diese Aufgabe den "Dualismus von Sein und Sollen" auf: "Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben" 11 • Diese Dichotomie zugrundelegend, sind die Rechtsnormen, auf die die "Rechtserkenntnis" gerichtet ist, ein Sollen12• Der Rechtswissenschaft verbleibt danach die Aufgabe, "das Recht - gleichsam von außen her - zu erkennen und auf Grund ihrer Erkenntnis zu beschreiben" 13• So wird eine Scheidung der Rechtswissenschaft von den "kausalwissenschaftlichen" Zugriffen auf das Recht möglich: "Indem man das Recht als Norm (oder, genauer, als ein System von Normen, als eine normative Ordnung) bestimmt und Rechtswissenschaft auf die Erkenntnis und Beschreibung von Rechtsnormen und die von diesen konstituierten Beziehungen zwischen den von ihnen bestimmten Tatbeständen beschränkt, grenzt man das Recht gegen die Natur und die Rechtswissenschaft als Normwissenschaft gegen alle anderen Wissenschaften ab, die auf die kausalgesetzliche Erkenntnis tatsächlicher Vorgänge abzielen" 14• Bereits hier wird deutlich, daß die Rede von einer normativen Methode nicht heißt, daß Rechtswissenschaft "normativ" verfährt, sondern sich - ganz im Gegenteil -, kognitiv-deskriptiv und analytisch vorgehend, ausschließlich auf Normen bezieht: "Der das Recht beschreibende, wissenschaftliche Jurist identifiziert sich nicht mit der die Rechtsnorm setzenden Rechtsautorität. Der Rechtssatz bleibt objektive Beschreibung; er wird nicht Vorschreibung" 15• Obgleich die Rechtswissenschaft nach Kelsen also Rechtsnormen und "sohin die durch sie konstituierten Rechtswerte zum Gegenstand hat, sind doch ihre Rechtssätze - so wie die Naturgesetze der Natur - eine wertfreie Beschreibung ihres Gegenstandes" 16• Hier liegt ein weiterer theorietechnisch interessanter Schritt KeZsens. Das "Sollen" ist vom "Sein" unwiderruflich geschieden und wird doch wie ein "Sein" behandelt, nämlich rein deskriptiv; denn anders ist für Kelsen, ganz dem positivistischen Wissenschaftverständnis der Jahrhundertwende verschrieben, Wissenschaft nicht möglich17• Aus diesem 11 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 5; ders., Allgemeine Theorie der Normen, hrsg. von Kurt Ringhafer I Robert Walter, Wien 1979, S. 48. 12 Ebd., S. 4 f. 13 Ebd., S. 74. 14 Ebd., S. 78. 15 Ebd., S. 83. 18 Ebd., S. 84.

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Grunde und wegen verschiedener bildhafter Formulierungen ist der Dualismus von Sein und Sollen immer wieder unzutreffend interpretiert worden18• Konsistent läßt er sich m. E. im Kelsenschen Gesamtwerk nur erkenntnistheoretisch interpretieren. Mit Vorliebe wird er jedoch ontologisch mißverstanden. Auch Kazimierz Opalek hat in seiner ersten Sichtung des Manuskripts der von Kelsen hinterlassenen "Allgemeinen Theorie der Normen" ontologische Erwägungen im Zusammenhang mit dem dort zentralen "modal indifferenten Substrat" angestelW'. Dieses "modal indifferente Substrat" kommt bei Kelsen - bislang mehr oder weniger unbeachtet - bereits in der frühen Schrift "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts" (1928) vor20 und zieht sich in leichten Abwandlungen in der Formulierung durch das gesamte Werk21 • Im "Problem der Souveränität" heißt es : "Obgleich Sein und Sollen zwei voneinander gänzlich verschiedene, aufeinander nicht rückführbare Denkformen sind, können sie doch gleiche Inhalte aufnehmen. Menschliches Handeln ist vorstellbar als Inhalt des Seins . . . oder als gesollt, als Inhalt von Normen und sohin als Gegenstand der Rechtswissenschaft. Nur wegen dieses gemeinsamen - an sich indifferenten und in dieser Abstraktion gar nicht vorstellbaren - ,Substrates' läßt sich ein tatsächliches Geschehen bewerten, speziell rechtlich beurteilen"n. 17 Ralf Dreier, Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie. Aspekte eines Theorievergleichs, in: Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 3, Wien 1978, S. 121-140, 140, wiederabgedruckt in ders. (FN 1), S. 241-269. 18 Die differenziertesten Analysen siehe bei Günther Winkler, Sein und Sollen (FN 1), S. 257-280; ders., Sein und Sollen. Zur Anwendbarkeit der transzendentalen Logik auf das rechtstheoretische Denken, in: Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, hrsg. von Werner Krawietz I Kazimierz Opalek u. a., RECHTSTHEORIE Beiheft 1 (1979), S. 177-193. Siehe auch Wolfgang Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Köln/ Berlin 1968, S. 30. Zum Verhältnis Kelsens zu Kant und zum Neukantianismus Marburger Provenienz siehe nunmehr Eggert Wint!1T, Ethik und Rechtswissenschaft. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens, Berlin 1980, S. 33 ff. 19 Kazimierz Opalek, Überlegungen zu Hans Kelsens ,Allgemeine Theorie der Normen', Wien 1980, S. 24 ff. 20 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, 2. Aufl., Tübingen 1928, S. 99 Anm. l. 21 Dazu siehe z. B. Hans Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der ,Rechtsdogmatik', (ö)ZöR 3 (1922/23), S. 103-235, 211 f.; ders., Reine Rechtslehre (FN 7), S. 6. Zur Charakterisierung des Sollens als "modales Prädikat" siehe Christian Sigwart, Logik, 2 Bde., 3. Aufl., Tübingen 1904, Bd. I, S. 17 ff.

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Das Wort "Inhalt" erwies sich Kelsen augenscheinlich jedoch alsbald als zu mißverständlich. In der zweiten Auflage der "Reinen Rechtslehre" (1960) heißt es dafür: "Dieser Dualismus von Sein und Sollen bedeutet jedoch nicht, daß Sein und Sollen beziehungslos nebeneinander stehen. Man sagt: ein Sein kann einem Sollen entsprechen, daß heißt: etwas kann so sein, wie es sein soll, und man sagt: das Sollen ist auf ein Sein ,gerichtet', etwas soll ,sein'. Der Ausdruck: ein Sein entspricht einem Sollen, ist nicht ganz korrekt; denn es ist nicht das Sein, das dem Sollen entspricht, sondern das ,Etwas', das das eine Mal ,ist', dem ,Etwas', das das andere Mal ,sein soll' und das figürlich als Inhalt des Seins oder als Inhalt des Sollens bezeichnet werden kann .... Das seiende Verhalten und das sollende Verhalten sind nicht identisch; aber das gesollte Verhalten gleicht dem seienden Verhalten bis auf den Umstand (Modus), daß das eine seiend, das andere sollend ist." In der "Allgemeinen Theorie der Normen" (1979) lautet es nochmals geringfügig anders: ",Sein' und ,Sollen' sind zwei voneinander wesensverschiedene Modi, zwei verschiedene Formen, die einen bestimmten Inhalt haben. In den Aussagen, daß etwas ist und daß etwas (sein) soll, muß man zwei verschiedene Bestandteile unterscheiden: Daß etwas ist und was ist: daß etwas (sein) soll und was (sein) soll. Das was ist und was soll, der Inhalt des Seins und der Inhalt des Solleus ist ein modal indifferentes Substrat ... Daß etwas so ist, wie es sein soll, daß ein Sein einem Sollen ,entspricht', bedeutet: der Inhalt eines Seins ist gleich dem Inhalt eines Sollens; das modal indifferente Substrat ist in den beiden Fällen gleich. Was vorliegt sind zwei gleiche modal indifferente Substrate in zwei verschiedenen Modi" 23 • Das figürlich als "Inhalt" eher mißverständlich umschriebene "Substrat" taucht später als "Etwas" oder als "Was" auf und die Verschlungenheit der AusführungenKelsens macht das Mißbehagen spürbar, das er bei der Niederschrift dieser Sätze empfunden haben mag, geben sie doch allzuleicht zu Fehlinterpretationen Anlaß.

Opalek erwägt in seiner Ausdeutung dieser Passagen wie gesagt zunächst eine ontologische Interpretation des Dualismus von Sein und Sollen und gelangt unschwer zu dem Ergebnis, daß danach kein modal indifferentes Substrat möglich sei, da es entweder ontologisch zu einer vom Sein oder vom Sollen verschiedenen Kategorie gehören müßte oder kein Objekt sein, d. h. nicht existieren kann. Alternativ erwägt Opalek eine gnoseologische Deutung des Dualismus. Nur dazu gibt 22 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität (FN 20), S. 99 Anm. 1 (Hervorhebung im Original). 23 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 6; ders., Allgemeine Theorie der Normen (FN 11), S. 46 (Hervorhebung im Original).

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Kelsen nach seinen eigenen Worten m. E. auch Anlaß. Doch auch mit diesem Verständnis hält Opalek das modal indifferente Substrat für nicht vereinbar, da es in Kelsens Lehre "keinen Platz für einen ,indifferenten', neutralen Sinngehalt" gebe 24 • Das trifft so aber nicht zu. Sein und Sollen sind nach Kelsen "Modi", "Erkenntnisformen", "Denkformen", "zwei Formen derselben Erkenntnisfunktion", die die Beziehung des "Substrats" zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Ohne diese - im Kantischen Sinn - Modalitäten ist kein Urteilen, sind keine Aussagen möglich. Das modal indifferente Substrat ist deshalb auch kein "neutraler Sinngehalt", wie Opalek meint, sondern nur "Gehalt", "Substrat", aber nicht "Sinn" 25 • Und "Substrat" meint auch nicht einfach "Realität" oder "Objekt", sondern die notwendige Grundlage der Begreiflichkeit der "Objekte", die selbst immer schon kategorial, d. h. in einem bestimmten Modus gedacht werden26 • Kelsen sagt zu Recht, daß das so verstandene modal indifferente Substrat "in dieser Abstraktion gar nicht vorstellbar" ist. Mit Achterberg ist es deshalb entgegen der Formulierung Kelsens auch nur sinnvoll, vom modal indifferenten Substrat im Singular zu sprechen 27 ; hat es doch wenig Sinn, etwas nicht Vorstellbares zu vervielfachen. Der Dualismus von Sein und Sollen erhält aber erst dadurch seine Eignung als Grundlage zu einer reinen Rechtslehre, daß beide Bereiche hermetisch gegeneinander abgeschottet werden und alsdann auch nicht mehr über Umwege ineinander überführbar oder aufeinander zurückführbar sind; ohne daß damit ein "genetischer Zusammenhang" geleugnet würde. Der normative Bereich muß vom kognitiven vollständig abgekoppelt und allein selbstbezüglich versicherbar werden. Normen (Sollen) dürfen nicht aus Sein ableitbar sein. Dies gelingt durch eine formallogische Reduktion des Dualismus, die die Geltung von Schlüssen vom Sein auf ein Sollen und umgekehrt, eine kognitive Begründung des Sollens, ablehnt28 : "Der Geltungsgrund einer Norm kann nur die GelKazimierz Opalek, Überlegungen (FN 19), S. 27. Mißverständlich Wolfgang Schild, Theorie und Praxis bei Hans Kelsen, RECHTSTHEORIE 10 (1979), S. 199-230, 204 f., der zwar zutreffend sieht, daß das Substrat keinen "Sinn" mehr hat, aus dieser Erkenntnis aber einen "Vorrang des Seins" herleitet. 28 Hendrik J. van Eikema Hommes, Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts. Rechtsgeltung und Rechtswerte, in: Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts, Beiheft n. F. Nr. 6 zum ARSP, hrsg. von Peter Schneider, Wiesbaden 1970, S. 155-181, 158 stellt zurecht klar, daß es keine modal indifferente "Realität" gibt. 27 Norbert Achterberg, Besprechung von Kazimierz Opalek, Überlegungen (FN 19), RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 384-388, 387 f. 28 Siehe die Rechtfertigung aus logischer Sicht bei Ulrich Klug, Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die formallogische Rechtfertigung d er Kritik an dem Pseudoschluß vom Sein auf das Sollen, in: Law, State, and International Legal Order. Essays in Honor of Hans Kelsen, ed. by Salo 2~

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tung einer anderen Norm sein" 29 • Das als Norm und diese wiederum als Sollen begriffene Recht wird so "logifiziert". Reine Rechtslehre erstrebt die "Geometrie der totalen Rechtserscheinung" 30• Da der ursprüngliche "subjektive Sinn" von Sollen nun aber ein präskriptiver ist und affiziert von der Unreinheit des ihn tragenden Wollens, Wissenschaft aber nur kognitiv möglich sein soll, bedarf es einer Abhebung der rechtswissenschaftlich kognitiven und explikativen Ebene, insbesondere eines Sollens bloß deskriptiven Charakters, von der volitiv-expressiven Ebene, ohne daß Sollen in ein Sein umzufälschen. Kelsen gelingt dies mittels einer Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Sinn des Sollens und der damit korrespondierenden zwischen Rechtsnorm und Rechtssatz. Die rechtswissenschaftliehe Deskription der Präskription (der Rechtsnorm) in Form eines Rechtssatzes veranlaßt Kelsen deshalb zu der nur scheinbar paradoxen Rede von einem "Sein des Sollens" 31 • Das spezifische Sein einer Rechtsnorm, das rechtswissenschaftlich kognitiv-deskriptiv auszumachen und analytisch-explikativ zu entfalten ist, ist ihre Geltung, ist ein objektives Sollen. Die rechtswissenschaftliehe Erkenntnis und Beschreibung von Rechtsnormen in Form von Rechtssätzen leistet insofern eine Objektivierung des "subjektiven Sollens" durch einen Rückbezug desselben auf ein übergeordnetes (ermächtigendes) und zunächst seinerseits auch lediglich subjektives, durch einen ebensolchen Rückbezug aber ebenfalls objektiviertes, Sollen usw. Das, was Sollen zum Sollen macht, muß immer schon Sollen sein. Die eingebaute Reflexivität, das Sollen des Sollens, führt so theorietechnisch zu einer Steigerung des Potentials an rechtswissenschaftlicher KornEngel I Rudolf A. Metall, Knoxville 1964, S. 153-169; siehe aber auch Norbert Hoerster, Zum Problem der Ableitung eines Sollens aus einem Sein in der analytischen Moralphilosophie, ARSP 55 (1969), S . 10-39; Jürgen Rödig, über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen, in: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, hrsg. von Hans Albert I Niklas Luhmann u. a., Düsseldorf 1972, S. 163-211, 184 f.; Gerhard Otte, Asymmetrie zwischen Sein und Sollen. Bemerkungen zur Begründung einer deontischen Logik, in: Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Zivil- und Prozeßrecht. Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, hrsg. von Ulrich Klug u . a., Berlin/Heidelberg/New York 1978, S. 162-172. 29 Hans Kel.sen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 196; ders., Allgemeine Theorie der Normen (FN 11), S. 203 ff. 30 Hans Kelsen, Hauptprobleme (FN 3), S. 93; siehe auch Fritz Sander, Rechtswissenschaft und Materialismus, (Osterreichische) Juristische Blätter 47 (1918), S. 333-335, 350-352, 350, der die "jungösterreichische Schule" dadurch charakterisiert, daß sie die "Mathematik der Rechtswissenschaft und ihre Logik" suche und finde. 31 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 9 f., 77, 83.

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plexität besonders im Hinblick auf Veränderungen in der Normenordnung, da sie durch Gleichartigkeit von Voraussetzung und Folge die rechtswissenschaftliche Argumentation entlastet. Über die "Soll-Norm" kann Rechtswissenschaft also nur Aussagen treffen als über ein "SeinSollen", da beschreibende Rechtssätze der Rechtswissenschaft nicht mit den vorschreibenden Rechtsnormen verwechselt werden dürfen. Diese rechtswissenschaftliehen Aussagen über das Sein-Sollen der Soll-Norm, die ihr spezifisches Sein im Sollen hat, sind Geltungsaussagen (SollSätze), hypothetische Urteile (Normhypothesen) oder auch Aussagen über Gesolltes 32• Der erkenntnistheoretischen Differenzierung von Sein und Sollen korrespondiert somit in semantischer Hinsicht nicht eine Unterscheidung zwischen deskriptiven Seins-Sätzen und präskriptiven Soll-Sätzen, sondern eine solche zwischen Seins-Sätzen und Sein-Soll-Sätzen, die beide deskriptiv sind. Diese deskriptiven Aussagen über "Sollen" bezeichnet man herkömmlich als deontische Sätze, die eine besondere Form von wahrheitsfähigen Aussagesätzen sind. Diese gnoseoZogisch differenzierte Semantik führt im Rahmen des Dualismus dazu, daß nunmehr Aussageform gegen Aussageform steht33• Die Rechtssätze der Rechtswissenschaft sind eine besondere Darstellungsform, mit der wahre bzw. unwahre Aussagen über die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit von Normen, die selbst nicht wahr oder unwahr, sondern allein gültig oder ungültig sein können, getroffen werden können.

Ota Weinherger wendet gegen diese Unterscheidung von Rechtsnorm und Rechtssatz ein, sie widerspreche den "Grundsätzen idealer Kommunikation", als "auf beiden Seiten des Kommunikationskanals semantisch verschiedene Sätze (stehen): beim Absender eine Rechtsnorm, beim Empfänger ein Aussagesatz" 34 • Diese Kritik wird KeZsens Ansatz aber nicht gerecht. Nach Kelsens voluntaristischem Normbegriff kann einer "Vorschreibung", als dem subjektiven Sinn eines Willensaktes (dem präskriptiven Sprechakt), nur

Hans Ketsen, Allgemeine Theorie der Normen (FN 11), S. 203 f. Zum Begriff siehe Ota Weinberger, Versuch einer neuen Grundlegung der normenlogischen Folgerungstheorie, in: Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz (FN 18), S. 301-324, 306 ff.; ders., Die Jogisehen Grundlagen der erkenntniskritischen Jurisprudenz, RECHTSTHEORIE 9 (1978), S. 125-142, 128 ff.; siehe auch Kart Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1975, S. 75; Ralf Dreier, Sein und Sollen (FN 2), S. 332; Günther Winkter, Sein und Sollen (FN 18), 32

33

s. 269.

34 Ota Weinberger, Die Bedeutung der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre für die Entwicklung der Normenlogik, in : Die Brünner Rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), hrsg. von Vladimir Kubes I Ota Weinberger, Wien 1980, S. 33-49, 38 f.; ders., Intersubjektive Kommunikation, Normenlogik und Normendynamik, RECHTSTHEORIE 8 (1977), S. 19-40, 28 ff.

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entweder gehorcht werden oder nicht. Rechtswissenschaft ist aber nicht in diesem Sinn Adressat der Vorschreibung. Sie steht außerhalb der vorschreibenden Kommunikationsbeziehung, trifft lediglich Aussagen über Vorschreibungen. Rechtswissenschaftlich kommuniziert wird nach Kelsen also in jedem Fall allein über eine sich auf die jeweilige Vorschreibung beziehende deskriptive Soll-Aussage35• Von der gesamten Konzeption reiner Rechtslehre her, ist diese Differenz zwischen Präskription und deren deskriptiver Aneignung durch die Rechtswissenschaft bewußt eingebaut und bereits in der gnoseologisch differenzierten Semantik angelegt. Diese Differenz macht Geltungsfragen mittels der oben beschriebenen Objektivierung des subjektiven Sinns des vorschreibenden Willensaktes zu deontischen Aussagen für Kelsen überhaupt erst rein und d. h. wissenschaftlich, nämlich nach Maßgabe des Schematismus wahr/unwahr, diskutierbar 36 • Die Abhebung einer metasprachlichen Ebene wissenschaftlicher Kommunikation von dem - natürlich auch immer schon sprachlich vermittelten präskriptiv-verhaltenssteuernden Wirksamsein der (Rechts-) Normen als normativer Struktur von Gesellschaft ist aber auch ganz unabhängig von Kelsens methodologischen Erwägungen notwendig. Erst dem die dichatomisierten Erkenntnisbereiche formallogisch gegeneinander isolierenden Reinheitspostulat sind die fatalen Auswirkungen dieser "Differenz" bei Kelsen zuzuschreiben, daß nämlich für die Rechtswissenschaft neben Sinnexplikation und Strukturanalyse keine andere Aufgabe als die der "Objektivierung" des Sollens in theoretischen Syllogismen mit rein kognitiven Prämissen zufällt- und daß selbst diese Aufgabe defizitär ausfallen muß, weil nur eine hierarchisierende, selbstbezügliche Ableitung innerhalb des gnoseologisch verödeten Sollensbereiches zugelassen wird. Die "Seins-Tatsache", daß die Rechtsnorm "durch einen empirisch feststellbaren Akt erzeugt" ise7 , ist nur die "Bedingung der Geltung", nicht die Geltung, die ein Sollen ist. In 35 Eine der weitreichenden Konsequenzen dieser Konzeption von Rechtswissenschaft ist es, daß nur Aussagen "de lege lata" juristisch sind, denn nur sie sind - angeblich - rein kognitiv möglich; "de lege ferenda"-Aussagen sind notwendig metajuristisch. 38 In der semantischen Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und Rechtssätzen liegt eine deutliche Absage Kelsens an den "Rechtsrealismus" wie Stanley L. Pau~son, Zum Problem der Normenkonflikte, ARSP 66 (1980), S. 487-505, 493 zu Recht feststellt. Unrichtig deshalb Vladimir Kubes, Das neueste Werk Hans Kelsens über die allgemeine Theorie der Normen und die Zukunft der Reinen Rechtslehre, ÖZöR 31 (1980), S. 155-199, 165, dem in der Einschätzung, Kelsen habe mit der "Allgemeinen Theorie der Normen" den Boden der Reinen Rechtslehre verlassen, nicht gefolgt werden kann. Zutreffend insofern Robert Walter, Der letzte Stand von Kelsens Normentheorie. Einige Überlegungen zu Kelsens "Allgemeine Theorie der Normen", in: Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz (FN 18),

s. 295-300. 37

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 76.

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diesem System wird "Recht" erst und nur dadurch vom Räuberbefehl unterscheidbar, daß festgestellt wird, daß der Seins-Tatsache (dem Willensakt), die den subjektiven Sinn des Sollens hat, auch objektiv dieser Sinn zukommt38 ; der Seins-Akt bleibt dem Rechtsbegriff äußerlich, der in der Immanenz des reinen Sollens verharrt. Dies geschieht durch die rechtswissenschaftliche Rückführung der in eine deontische Aussage transformierten Präskription auf eine weitere deontisch reformulierte- ermächtigende- Sollensanordnung usw. 30• Diese formallogische Selbstbezüglichkeit (Reflexivität) des Sollens wird von Kelsen - bereits im Hinblick auf das Problem des "Ausstiegs" aus dem damit angelegten infiniten Regreß- auch als "transzendentallogische Methode" bezeichnet. Eine Besprechung der ersten Auflage seiner "Hauptprobleme" (1911), die auf Parallelen seiner Methode zu Hermann Cohens "Ethik des reinen Willens" hinwies, brachte Kelsen nach eigenen Worten auf diesen Gedanken 40• Fortan erzeugt für Kelsen die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand logisch aus einem "Ursprung", erzeugt sie aus dem "chaotischen Material den Kosmos des einheitlichen Rechtssystems" 41 • Rechtswissenschaft vermag und soll auf dieser Grundlage nur noch eine Deskription und Sinnexplikation von deontisch objektivierten Sollzusammenhängen leisten, da sie - auch als Normwissenschaft - nicht normativ, volitiv und evaluativ, sondern nur kognitiv vorgehend Wissenschaftlichkeit, d. h. die Aufstellung wahrer Aussagen über die Geltung von Normen, beanspruchen kannH. Die postulierte Unüberbrückbarkeit der gnoseologisch und semantisch differenzierten Bereiche leitet durch die darin implizierte Selbstbezüglichkeit (Reflexivität) des Sollens notwendigerweise einen infiniten Regreß ein43 • Hier zeigt sich abermals die erstaunliche Parallelität der Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 7. Eine interessante Kritik vom Standpunkt eines differenzierten skandinavischen Neorealismus übt Alexander Peczenik, The Struktur of a Legal System, RECHTSTHEORIE 6 (1975), S. 1-16, der neben die Kelsensche "interne" Geltung eine "externe" nach realistischen Kriterien stellt, S. 4 f., die die "fiktionale Lösung" Kelsens mit der "wirksamen" Grundnorm, durch einen deskriptiven Ansatz ersetzt, der H. L. A. Harts ,.rule of recognition" fruchtbar macht, s. H. L . A. Hart, Der Begriff des Rechts (1961), Frankfurt 1973, s. 142 ff. 40 Oscar Ewald, Die deutsche Philosophie im Jahre 1911, Kant-Studien 17 (1912), S. 307 f.; s. dazu Hans Kelsen, Hauptprobleme (FN 3), Vorrede zur 2. Aufl., S. XVII. 41 Hans Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht (FN 21), S. 107. 42 Dazu Robe1·t Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt 1978, S. 264 bes. Anm. 6, dessen Untersuchung (in analytischer Verengung) die Möglichkeit rationaler und wahrheitsfähiger Begründungen von Wert- und Verpflichtungsurteilen diskutiert und vertritt. 43 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 197; ders., Allgemeine Theorie der Normen (FN 11), S. 205. 38

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Methode Kelsens zur "Methode der Reinheit" bei Cohen, die, da sie in ihrem regressus in infinitum nicht zu letzten Prinzipien führen kann, die Einheit dieser Prinzipien in der Unendlichkeit postulieren muß: dafür steht das Prinzip des Ursprungs. "So wird die Logik des Ursprungs zur Logik der reinen Erkenntnis" 44 • II. Apriorisierung und Enttautologisierung der Reinen Rechtslehre

Im Jargon der zeitgenössischen funktional-strukturellen Systemtheorie läßt sich die methodische Grundlegung der Reinen Rechtslehre sehr anschaulich als Exempel selbstreferentieller Theoriekonstitution reformulieren. Selbstreferenz ist bis zu einem gewissen Grade für jedes auch Theorie- - System unverzichtbar, da es eine Eigenleistung von Theorie sein muß, ihr Thema zu bestimmen und handhabbar zu machen45 • Das "Faktum der Selbstreferenz" wird bei Kelsen - wie noch zu zeigen sein wird - dadurch in seiner Wirksamkeit verstärkt, daß das Reinheitspostulat den Selbstkontakt der Theorie, der eigentlich dem selektiven und leistungssteigernden Zugriff auf die Rechtswirklichkeit als Umwelt des Systems dienen soll, in sich leerlaufen zu lassen droht. Zunächst bedarf es jedoch nochmals einer Rekapitulation der bisherigen Ergebnisse: Der infinite Regreß der reflexiven Ableitung des Sollens aus dem Sollen tendiert bei Kelsen aus sich selbst heraus zunächst dazu, in der Unendlichkeit das Sollen im "bloßen Sollen" und damit in einem tautologischen Zirkel zu fundieren, der nicht produktiv ist, da es nicht möglich ist, aus ihm auszubrechen: alles Sollen setzt Sollen voraus und kann nur dadurch Sollen sein, daß es diese Voraussetzung auf sich selbst zurückbezieht. Da die Reine Rechtslehre letztendlich aber auf gehaltvolle Aussagen nicht verzichten will, muß der Zirkel vermieden werden. Kelsen löst die in der reflexiven Selbstbezüglichkeit des Sollens angelegte, auch als "Münchhausen-Trilemma" bezeichnete Abschlußparadoxie mittels der Etablierung von Selbstreferenz, um zu einem 44 Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, S. 33 ; siehe im einzelnen Eggert Winter, Ethik und Rechtswissenschaft (FN 18), S. 194. 46 Im einzelnen siehe Nik~as Luhmann, Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn : zur Genese von Wissenschaft, in: Wissenssoziologie, Sonderheft 22/1980 der KZSS, hrsg. von Nico Stehr I Volker Meja, Opladen 1981, S. 102-139; ders., Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt 1980/ 1981, Bd. 1, S. 9-44, bes. S. 28 ff.

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deduktiven, asymmetrischen Verfahren zu gelangen. Er beschreitet also den klassischen Ausweg, um einen logischen Zirkel zu vermeiden: er apriorisiert die Reine Rechtslehre - denn unter diesem Titel erscheint Selbstreferenz opportun.

Kelsens Ursprungsnorm bzw. später hypothetische oder auch vorausgesetzte Grundnorm soll diesen metaphysikfreien Ausstieg aus der Rechtsdynamik leisten und bildet so den "cut-off point" des rechtstheoretischen Denkens Kelsens48 • Aus ihr werden alle Geltungsaussagen über niederrangige Normen im Wege eines "theoretischen Syllogismus" "logisch erzeugt", indem logisch ermittelt wird, ob die Geltung der im Untersatz zitierten individuellen Norm in ihrer rechtssatzmäßigen Formulierung durch die Geltung der im Obersatz zitierten generellen Norm begründet ist. Ursprünglich hieß es bei Kelsen noch mißverständlich: "Positiv, d. h. wörtlich ,gesetzt', ist ... die einzelne Rechtsnorm, sofern sie in dem auf der juristischen Hypothese der Ursprungsnorm einheitlich gegründeten System einer bestimmten Rechtsordnung gesetzt ist"n. Positivität ist nach Kelsen aber strengstens von Geltung zu unterscheiden. Positivität als "bloße Faktizität", als "Gesatztheit", könnte Rechtswissenschaft nur als eine "Art Soziologie" begründen48 • Geltung des Rechts im oben beschriebenen Sinn kann deshalb allein eine Leistung der Rechtswissenschaft sein. Die "Gesatzheit" (Positivität) ist für Kelsen die nur akzidentielle "Empirizität" des Rechts und in Verbindung mit der ebenfalls akzidentiellen "Wirksamkeit" lediglich dem Rechtsbegriff äußerlich bleibende Bedingung der Geltung4 8a. Die Versicherung der Geltung, d. h. des objektiven Sinns des Sollens durch den Rückbezug auf ein höherrangiges Sollen bis zur vorausgesetzten - und deshalb nicht positiven Grundnorm kann nur systemrelativ erfolgen in Form von Rechtssätzen der Rechtswissenschaft: "Außerhalb des objektiven Systems der Rechtssätze gibt es nichts Rechtliches" 49 • 4B Werner Krawietz, Grundnorm, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HistWbPhil.), hersg. von Joachim Ritter, Basel 1974, Bd. 3 Sp. 918922. Kelsen formulierte es so: "Gerade weil die Reine Rechtslehre ... den ... Zirkel zu vermeiden sucht, verweist sie auf die vorausgesetzte Grundnorm, die ... sich nach einer tatsächlich gesetzten .. . wirksamen Verfassung richtet"; ders., Eine "Realistische" und die Reine Rechtslehre, ÖZöR 10 (1959/ 60), s. 1-25, 24. 47 Hans Ke!sen, Das Problem der Souveränität (FN 20), S. 93. ' 8 Ebd., S. 92. 48a Zum Empiriebegriff siehe Hans Ke!sen, Eine "Realistische" und die Reine Rechtslehre (FN 46), S. 5. 49 Hans Ke!sen, Rechtswissenschaft und Recht (FN 21), S. 211; zutreffend auch Wolfgang Schluchter, Entscheidung (FN 18), S. 32: "Die Rechtswissenschaft erkennt also das von der Rechtssetzungsinstanz qualifizierte Material und erzeugt damit das Recht."

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Der stete Bezug dieser rechtswissenschaftliehen Syllogismen auf ein "paralleles Faktum" 50, nämlich die realen Willensakte, deren subjektiver Sinn ein Sollen ist, bricht bei der Grundnorm notwendig ab, gleichviel, ob sie als "Hypothese", "transzendentallogische Voraussetzung", "Verfassung im rechtslogischen Sinne", "oberste Erzeugungsregel", "Ursprungsnorm" oder wie zuletzt als "Fiktion" charakterisiert wird. Ihre normerkenntnistheoretische Funktion als methodologisches Apriori kann sie allein erfüllen, wenn sie den letzten Geltungsgrund des Sollens dadurch in die "Unendlichkeit" verlegt, daß ein "reiner Ursprung" unterstellt wird, der nicht seinerseits durch seinen voluntaristisch gedeuteten Seinsbezug die Geltungsfrage aufwirft. Diese Apriorisierung ermöglicht es schließlich, den regessiven Begründungs- und Ableitungszusammenhang bis zur Grundnorm in ein geschlossenes deduktives System umzukehren, das alle normenlogischen Konsequenzen der Basis-Norm enthält51.

Kelsen entkommt nach alledem der drohenden Zirkularität dadurch, daß er ein Apriori behauptet, das es geben muß, da es Rechtsgeltung gibt und es also etwas geben muß, was sie ermöglicht und nicht selbst gesetztes Sollen ist - sondern vorausgesetzt. Das nunmehr deduktivasymmetrische System der rechtswissenschaftliehen Geltungsaussagen kann fortan so behandelt werden, als ob es sich um einen autonomen Kosmos geltender Normen handele. Das Kelsensche System verbleibt auf diese Weise aber tautologisch strukturiert und deshalb intern unbestimmbar, grundsätzlich mit jeder beliebigen Umwelt kompatibel, da es im Verhältnis zu ihr keine Strukturen legt, sondern nur in sich selbst verharrt. Dem damit drohenden Autismus des rechtswissenschaftlich konstituierten Rechtssatzsystems, mit seinen grundnormrelativen Geltungsaussagen und rechtswesenhaften Strukturanalysen, steht als einziger Ausweg die Preisgabe der gerade erst so mühsam erarbeiteten Autonomie des Rechts offen. Die erkenntnistheoretisch, logisch und semantisch gekappte Verbindung von System und Umwelt, von dem was rechtlich soll und dem was tatsächlich ist, wird von Kelsen postulativ mit dem Resultat etabliert, daß grundsätzlich "jeder beliebige Inhalt Recht sein" kann 52, ist er nur wirksam; d. h., hat sein subjektiver Geltungsanspruch Realisierungschancen, so wird er auch als Recht behandelt. Die Seins50 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität (FN 20), S. VIII. "1 Ota Weinberger, Die normenlogische Basis der Rechtsdynamik, in: Gesetzgebungstheorie (FN 28), S. 173-190, 179 f. sieht es deshalb als gerechtfertigt an, daraus ein "Mitgeltungspostulat" abzuleiten. 52 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 201. Siehe dazu Nildas Luhmann, Selbstreferenz und binäre Schematisierung, in: ders., Gesellschaftsstruktur (FN 45), Bd. 1, S. 301-313, 311.

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bezüglichkeit des Sollens wird auf diese Weise nicht in den Rechtsbegriff aufgenommen, bleibt diesem als forschungspragmatisch formulierte "Bedingung" - äußerlich.

Kelsen konstruiert dieses Postulat inhaltlich analog dem "praktischen Vernunftprinzip" Kants, "der jetzt bestehenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher wolle" 53. Doch gibt er ihm nicht mehr die Dignität eines Vernunftprinzips, sondern nur noch den Status eines forschungstaktisch motivierten Postulats, daß er in Ernst Machs Grundsatz der "Denk- und Erkenntnisökonomie" beispielhaft formuliert sieht und zum gleichbedeutenden Postulat der "Wertökonomie" umbildet, das auf eine "möglichste Reduktion jener Spannung gerichtet ist, die zwischen Sollen und Sein besteht" 54 • Die Grundnorm und das auf ihr ruhende Rechtssatzsystem beziehen sich nach diesem Postulat also immer auf eine "im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung"55. Die Therapie des rechtswissenschaftliehen Autismus, die "Enttautologisierung" der Reinen Rechtslehre, gelingt Kelsen an dieser Stelle aus theorietechnischen Gründen nur um den Preis der Reinheit. Seinem gnoseologisch, logisch und semantisch isolierten System bleiben das eingebaute forschungspragmatische Postulat der "Wertökonomie" als außerrechtliche Norm und die als "conditio sine qua non" zum Formelkompromiß degradierte "Wirksamkeit" im Grunde äußerlich und damit verunreinigende Fremdkörper. Die vermeintliche "normative Autonomie" erweist sich in ihnen fatalerweise als "blanke Apologie" des Faktums58, weil letztlich das Recht pauschal und formelhaft der Macht zugerechnet wird. Ein soziologischer Positivismus fungiert hier als Komplementärtheorie zum Neukantianismus Marburger Provenienz, um sich des Rechts vor anderen Sollensordnungen zu versichern. Wenn Kelsen dadurch auch nicht besonders eindringlich das "Gorgonenhaupt der Macht" entschleiert57, so ist in seiner Begründung der Rechtsgeltung für den kritischen Leser doch auch nicht eine "Verschleierung" der "Transformation von Macht in Recht" 58, sondern eher eine "Entmystifizierung" des Rechts zu sehen59 . 53 Ralf Dreier, Bemerkungen zur Rechtserkenntnistheorie, in : Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz (FN 18), S. 89-105, 93 m. w. N. 54 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität (FN 20), S. 99. 55 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 10, 204, 219 f. 58 Umberto Cerroni, Marx und das moderne Recht, Frankfurt 1974, S. 50 f. 57 Hans Kelsen, Diskussionsbeitrag zum Verhandlungsgegenstand "Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Artikel 109 der Reichsverfassung", in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Heft 3, Berlin und Leipzig 1927, S. 55. 58 Hermann Ktenner, Rechtsleere. Verurteilung der Reinen Rechtslehre, Ost-Berlin 1972, S. 38 f. 59 Ralf Dreier, Sein und Sollen (FN 2), S. 332.

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Doch bleibt noch eine weitergehende- latente- Konsequenz dieser Kelsenschen Konstruktion aufzuweisen. Das "Ökonomiepostulat", als Norm "neuer" Ordnung, impliziert in seiner vordergründig bloß forschungspragmatischen Relevanz zugleich ein ethisch-politisches Postulat, das die gesamte Reine Rechtslehre in einem ganz besonderen Sinn zu einer "Theorie des positiven als des empirischen Rechts" macht80• Kelsen hat diese Tatsache- bezeichnenderweise- in seinem Beitrag zur Festschrift für Alfred Verdross zumindest indirekt eingestanden: "Man hat versucht, ... die positivistische Reine Rechtslehre .. . durch den Hinweis darauf zu widerlegen, daß auch diese Theorie die Geltung des positiven Rechts nur mit einer Norm begründen kann, die keine Norm dieses positiven Rechts ... ist. In dieser Beziehung besteht in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Naturrechtslehre und der Reinen Rechtslehre als einer Theorie des Rechtspositivismus" 81 • Kelsen spricht damit in diesem Zusammenhang direkt zwar nur die Grundnorm an, die, anders als das gesetzte Recht, vorausgesetzt ist, die er jedoch - und das macht er sich nicht deutlich - von vornherein als auf eine "im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung" gerichtet und damit als rechtserkenntnistheoretische Konsequenz auch des ihr vorliegenden ethisch-politischen Postulats der "Wertökonomie" ansieht.

Deshalb hat Dreier m. E. zurecht die Vermutung geäußert, daß bereits wegen der semantischen Implikationen des Sollens in der Grundnorm, die die Wirksamkeit mitrepräsentiert, und, so würde ich hinzufügen, wegen der forschungspragmatischen Notwendigkeit von der reinen Theorie zum realen Recht vorzustoßen, es sich zeigen läßt, daß Kelsen "mit seiner Grundnormtheorie, entgegen seiner erklärten Absicht, eben doch das Problem des moralischen bzw. vernunftrechtlichen Geltungsund Erkenntnisgrundes des positiven Rechts formuliert hat", das m. E. in der Identität von Legalität und Legitimität zu sehen ist: "jedes Recht (ist) moralisch" 82• Kelsens "Normativismus" mußte zwangsläufig dazu führen, daß von den Rechtsnormen letztlich auf eine Norm anderer Stufe herüberRalf Dreier, Sein und Sollen (FN 2), S. 332 (Hervorhebung im Original). Hans Kelsen, Vom Geltungsgrund des Rechts (1960), wiederabgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. von Hans Klecatsky Rene Marcic I Herbert Schambeck, Wien 1968, Bd. 2, S.1417-1427, 1426 f.; siehe auch Ota Weinberger, über schwache Naturrechtslehren, in: Ius Humanitas. Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, hrsg. von Herbert Miehsler I Erhard Mock u. a., Berlin 1980, S. 321-339, 323 f., dem deshalb zu widersprechen ist, daß Kelsens Begründung der Rechtsgeltung in der Luft hängt". " 12 Ralf Dreier, Bemerkungen (FN 53), S. 96; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 67. 10 81

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gesprungen wird, die eine Versöhnung des reinen Sollens mit der Realität des Rechts gewährleistet. Diese pauschale Adaption der Realität des Rechts verhindert aber den Zugang zur Normativität des Rechts mehr, als daß sie ihn eröffnetes. Kelsen vermag der Gefahr, daß die Reine Rechtslehre zu einer "Rechtslehre ohne Recht" wird84 , deshalb auch nur dadurch zu entrinnen, daß er den Purismus seines Ansatzes unterläuft und durch ein "fortwährendes Niedertauchen in und Auftauchen aus der metarechtlichen Materie" vom idealen Sollen zum realen Recht gelangte5 •

111. Fortschreibung oder Preisgabe des Reinheitspostulats? Kelsen hat die Reine Rechterkenntnistheorie

Rechtslehre in erster Linie stets als analytische verstanden88, die im normativen Gewande daherkommt. Die vorstehende Rekonstruktion hat ergeben, daß ihr wegen des ungünstigen Theoriedesigns nicht nur der für jede realistische Rechtstheorie konstitutive Dogmatikbezug fehlt07 , sondern auch ganz entschieden die Kapazität zu methodisch angeleiteter Rechtsrealitätsverarbeitung. Das Diktum Erich Kaufmanns aus dem Jahre 1921, daß die Arbeiten Kelsens zwar die größere Konsequenz, dafür aber den geringeren positiven Erkenntniswert hättene8, hat deshalb nichts an seiner Berechtigung verloren. 83 Friedrich Müller, Juristische Methodik, Berlin 1971, S. 50 f.; ders., Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin 1966, S. 24 f. 84 Zu den Abwandlungen von Leonhard Nelsons "Rechtswissenschaft ohne Recht" (1917) siehe z. B. Karl-Ludwig Kunz, Die analytische Rechtstheorie: Eine "Rechts"-theorie ohne Recht?, Berlin 1977; Werner Krawietz, Juristische Logik, HistWbPhil (FN 46), Basel I Stuttgart 1980, Bd. 5 Sp. 423-434, 425; Ralf Dreier, Bemerkungen (FN 53), S.101 m. w. N. 85 Fritz Sander, Staat und Recht. Prolegomena zu einer Theorie der Rechtserfahrung, Leipzig I Wien 1922, 2. Hlbbd., S. 1128; dies ist auch der Vorwurf von Günther Winkler, Sein und Sollen (FN 18), S. 192. 88 Siehe zum Beispiel Hans Kelsen, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie (Besprechung von Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913), Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839-876, 849; ders., Eine "Realistische" und die Reine Rechtslehre. Bemerkungen zu Alf Ross, On Law and Justice (1958) (FN 46), S. 25; ders., Reine Rechtslehre (FN 7), S. 207 f. Siehe auch Ralf Dreier, Bemerkungen (FN 53), S. 100; Karl Larenz, Methodenlehre (FN 33), S. 76; Günther Winkler, Sein und Sollen (FN 1), S. 271. 87 Ralf Dreier, Bemerkungen (FN 53), S. 101 f.; ders., Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, (FN 6), S. 22. In diesem Postulat liegt aber keine Reduzierung der Rechtstheorie zu einer bloßen Metatheorie praktischer Rechtswissenschaft. 88 Erich Kaufmann, Kritik (FN 9), S. 79 f.

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So hat jüngst Dreier das deutliche "Defizit an Praxisbezug der Reinen Rechtslehre" beklagt68 • Dies liegt vor allem darin begründet, daß durch die Beschränkung der Reinen Rechtslehre auf die sog. rein normative Methode im skizzierten Sinn, die Narrnativität des positiven Rechts verfehlt wird, die ganz wesentlich auch in den von ihm konstituierten oder auch nur angezielten sozialen Lebensbereichen, Institutionen, Organisationen und Verfahren festgemacht ist und durch eine auch volitiv und evaluativ verfahrende praktische Rechtswissenschaft bzw. praktische Rechtsanwendung im Einzelfall immer wieder neu versichert werden muß. Das Postulat der Methodenreinheit inauguriert bei konsequenter Durchführung aus theorietechnischen Gründen einen rechtswissenschaftliehen Autismus, der die Rechtswirklichkeit nicht mehr erreicht. Der voluntaristische Normbegriff Kelsens bedingt im Zusammenspiel mit dem positivistisch verengten Wissenschaftsbegriff eine Verkürzung der Thematik, die die "Norm" zum "Sollen" reduziert und dieses als im Normtext in seiner "normativen Autonomie" niedergeschlagen ansieht, da der subjektive Sinn eines vorschreibenden Willensaktes allein als in einem Text sedimentiert und isoliert vorgestellt werden kann; der "Kontext" wird aus Reinheitsgründen tabuiert. Die rechtssatzmäßigen Normhypothesen der Rechtswissenschaft erscheinen danach als bloß kognitiv determiniert; die daneben verbleibende Sinnexplikation und Strukturanalyse der Rechtsnorm ist streng logisch und rein analytisch vorzunehmen: "Rechtswissenschaftliche Interpretation kann nichts anderes als die möglichen Bedeutungen einer Rechtsnorm herausstellen." Dies geschieht "rein erkenntnismäßig", d. h. kognitiv 70 • Die selbstreferentielle Theoriekonstitution der Reinen Rechtslehre ist Wissenschafts- und wissenssoziologisch unschwer als (Über-) Reaktion auf den im Rechtssystem vollzogenen Übergang zur Vollpositivierung des Rechts zu deuten. Der Rechtswissenschaft fiel im Zuge dieser Entwicklung die Aufgabe zu, die unsicher gewordenen oder schon verlorenen religiösen und politischen Abstützungen des Rechtssystems zu substituieren71 • Kelsen thematisierte dies Problem der Autonomie des 89 Ralf Dreier, Reine Rechtslehre (FN 17), S. 137 f.; siehe auch Friedrich Mütter, Juristische Methodik (FN 63), S. 56; Werner Krawietz, Juristische Entscheidung (FN 1), S. 5 f., 70. 70 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (FN 7), S. 353. Auch hier verifiziert sich

die hermeneutische Grundthese des Rechtspositivismus, die "Bedeutung" sei dem Text immanent. 71 Zum Verhältnis von Autonomie und Selbstreferenz siehe Niklas Luhmann, Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur (FN 45), Bd. 2, S. 45-104, 81, 102 f. Siehe auch Theodor Viehweg, Positivismus und Jurisprudenz, in: Positivismus im 19. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Blühdorn I Joachim Ritter, Frankfurt 1971, S. 105-111, 109.

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Rechtssystems in der logifizierenden Urnforrnulierung der "Reinheit" selbstreferentieller Rechtswissenschaft. Dem Grundsatz nach leistet die selbstreferentielle Struktur eines Rechtssystems auf der einen Seite eine Autonornisierung des Rechts gegenüber Gesellschaft, Politik, Moral usw., indem sie das offene Abschlußproblern der Geltungsbegründung in der Grundnorm aufhebt. Andererseits macht sie zugleich das Recht in einem neuartigen sensibilisierten Maße umweltabhängig nach Maßgabe der eigenen Systernreferenzen. Diese systemgesteuerte Aneignung der Umwelt ermöglicht so ein komplexeres Theoriedesign. Für Kelsen wird sie vor allem deshalb von besonderem Interesse, weil mittels Selbstreferenz "Negatives" in "Positives" transforrnierbar wird, nämlich Macht in Recht bzw. Sein in Sollen72 • Bei Kelsen schlägt der letzte Vorteil jedoch wegen des logifizierenden Rigorismus in sein Gegenteil um. Das Postulat der Denk- bzw. Wertökonomie führt in der Grundnorm zu einer pauschalen Adaption dessen als Recht, was sowieso geschieht'3 • Differenzierungsfähige Anschlußkapazitäten für soziologische, politologische oder ethische Fragestellungen werden dadurch nicht gewonnen, sondern eher abgeblockt. Darüberhinaus gibt die steuerungsunfähige gänzliche Hingabe an das jeweils "Wirksame" die soeben erst gewonnene- aber nun bereits nur noch vorgebliche - Autonomie des Rechtssystems preis. Der Versuch Kelsens, das Autonomieproblern des Rechtssystems und der Rechtswissenschaft durch simple Abschottung gegen "fremde" Einflüsse mittels einer sog. normativen Methode zu lösen, ist nach alledem als gescheitert zu betrachten. Diese Art von Eigenständigkeitsbehauptungen der Jurisprudenz liefert diese auf eine uneingestandene Weise pauschal der Macht aus und befähigt nicht dazu, die sozialen, politischen und moralischen Realitäten methodisch kontrolliert zur Kenntnis zu nehmen. Eine nachpositivistische realistische Rechtstheorie wird durch die Konzeption eines differenzierten Rechtsbegriffs eine interne Steuerung externer Einflußgrößen zu erreichen versuchen, indem sie in ihre Umwelt ausgreift und die Zustände dort so formt, daß sie an das Rechtssystem angeschlossen werden und nach seinen Steuerungsimpulsen funktionieren können74 • Dies erfordert einen nachpositivistischen Nor72 Siehe für eine parallele Erscheinung Niklas Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur (FN 45), Bd. 1, S. 162-234, 216, 232 ff. 73 Siegtried Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925, S. 31. 74 Siehe dazu Nildas Luhmann, Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in : ders., G esellschaftsstruktur (FN 45), Bd. 1, S. 235-300, 254. Siehe bereits die Kelsen-Kritik von Phitipp Heck,

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mativitätsbegriff75, der es erlaubt, orientiert am Entscheidungsprogramm der Gesetze hinter den Text auf die Sachprobleme und Interessenkonflikte zurückzugreifen und die regelmäßig im Gesetz vorgezeichnete Lösung des Gesetzgebers anwendungsorientiert zu übersetzen. Bloße Normtextbehandlung vermag danach die Narrnativität des positiven Rechts nicht mehr zu erschließen. Dieser Ansatz gewährleistet einen rechtsgesteuerten Zugriff auf die Umwelt des Rechtssystems, der ausreichende Anschlußkapazitäten für nachbarwissenschaftliche Forschungsmethoden und -ergebnisse bietet. Dies ermöglicht es weiterhin, auch die juristische Entscheidung und die rechtswissenschaftliche Begriffs- und Systembildung ihrer "kognitiven Dignität" zu entkleiden und in ihrem volitiven und evaluativen Charakter zu begreifen. Um dies zu leisten ist aber ein rechtswissenschaftlicher Methodenpluralismus76 bzw. kritischer Methodensynkretismus71 erforderlich, der den bei der rechtswissenschaftliehen Vorbereitung der Rechtsanwendung und den bei dieser selbst "verbleibenden Spielraum einem Höchstmaß an rationaler Kontrolle zu unterwerfen" ermögliche8 • Eine fortschreibende "Modifikation des Kelsenschen Reinheitspostulats"79 erscheint mir unter diesen Umständen deshalb nicht mehr ausreichend; allein die allerorten sich bereits vollziehende Preisgabe ist angemessen.

Die reine Rechtslehre und die jungösterreichische Schule der Rechtswissenschaft, AcP 22 (1924), S. 173-194. 75 Siehe z. B. die vorbildliche Normtheorie von Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System (FN 1), S. 94 ff. 76 Siehe z. B. Norbert Achterberg, Rechtsverhältnisse (FN 5), S. 396; Rüdiger Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, Stuttgart I Berlin I Mainz 1971, S. 26 ff.; Werner Krawietz, Juristische Entscheidung (FN 1), S. 190 f. 77 Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 55 (1929), S. 321-354, 354. 78 Ralf Dreier, Bemerkungen (FN 53), S. 104. Zur hier gefragten spezifisch "juridischen Rationalität" s. Helmut Schelsky, Juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980, S. 34-76; Werner Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: Methodologie und Erkenntnistheorie der juristischen Argumentation, hrsg. von Aulis Aarnio u.a ., RECHTSTHEORIE Beiheft 2 (1981), S. 299-335 ; Wolfgang Meyer-Hesemann, Juristische Methodenlehre im Schnittpunkt juridischer Rationalität und institutionalisierter Gerechtigkeit, RECHTSTHEORIE 12 (1981), 79

s. 317.

Ralf

Dreier, Bemerkungen (FN 53), S. 99.

ZURECHNUNG UND KAUSALITÄT Zum wissenschaftstheoretischen Standort der Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen Von Rosemarie Pohlmann, Münster Vorbemerkung 1. Kelsens Abwendung vom Methodensynkretismus

Das Anliegen, dem Kelsen seine Reine Rechtslehre gewidmet hat, ist auch für den heutigen Juristen noch von ungebrochener Aktualität: Wie ist das Recht in seiner spezifischen Eigenart adäquat zu begreifen und "die Stellung der Rechtswissenschaft im System der Wissenschaften" präzise zu bestimmen? 1 Die Aktualität dieser Fragestellung besteht nur vordergründig in ihrer wissenschaftstheoretischen Relevanz. Der harte Kern einer methodischen Selbstbestimmung der Rechtswissenschaft betrifft vielmehr das Verhältnis von Recht und Politik: "Nicht um die Stellung der Jurisprudenz innerhalb der Wissenschaft und die sich daraus ergebenden Konsequenzen geht in Wahrheit der Streit - wie es freilich den Anschein hat; sondern um das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Politik, um eine saubere Trennung der einen von der anderen, um den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht, unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst subjektiven Charakter haben." 2 Zwar wird die von Kelsen betonte Notwendigkeit einer Trennung von Recht und Politik von den Vertretern der Jurisprudenz generell bejaht. Die Konsequenz, welche Kelsen aus dieser Trennung von Recht und Politik zieht, nämlich das Reinheitspostulat, ist in der juristischen Zunft aber heftiger Kritik ausgesetzt. Für Kelsen selbst sind beide Theoreme nicht zu trennen. Die Unterscheidung von Recht und Politik als praktisch-politisches Ziel und die methodologische Reinheit der 1 Hans Ketsen, Reine Rechtslehre. Zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 1960. Unveränderter Nachdruck, Wien 1976, S. VII. 2

6*

Kelsen (FN 1), S. IV.

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Rechtswissenschaft als wissenschaftstheoretisches Hauptanliegen sind die beiden zentralen Bezugspunkte der Rechtslehre Kelsens. Dieser konstitutive Bezugsrahmen von Kelsens Rechtsdenken muß im Auge behalten werden, wenn Kelsens Antwort auf die mit diesem Sammelband thematisierte Frage nach dem ,Verhältnis von gesellschaftlicher Basis und Rechtssystem bei Hans Kelsen' aus der Sicht der Gegenwart behandelt werden soll. Da Kelsen selbst die Bestimmung der Eigenart des Rechts, des Verhältnisses von Gesellschaft und Recht auf breit angelegte Voruntersuchungen zur Wissenschaftstheorie gegründet hat, 3 ist es angemessen, diesem Verfahren seiner Untersuchungen zu folgen. Daß eine solche wissenschaftstheoretische Grundlegung der Rechtslehre zudem den Vorteil einer grundsätzlichen Selbstreflexion der Jurisprudenz hat, versteht sich von selbst. 2. Grundlegung der Reinen Rechtslehre auf der Basis der wissenschaftstheoretischen Grundbegriffe von Zurechnung und Kausalität

Kelsens Reine Rechtslehre ist der Wissenschaftstheorie des Neukantianismus verpflichtet. Auf dem Boden des Neukantianismus gewinnt er Einsicht in die Eigenart der Jurisprudenz als Normwissenschaft, ohne die normativen Implikationen der Naturrechtslehre des 18. und 19. Jahrhunderts teilen zu müssen. Und in Anknüpfung an den Neukantianismus erläutert Kelsen das unterschiedliche Verfahren von Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaft, von - wie er sagt Kausal- und Normwissenschaften anhang antithetischer Begriffspaare wie Sein und Sollen, Naturgesetz und Norm, Kausalität und Zurechnung. Im folgenden soll der Entwicklung und den Konsequenzen von Kelsens Reiner Rechtslehre nachgegangen werden anhand des Begriffspaares Zurechnung und Kausalität. Und das nicht nur, weil die Ausführungen über die Relation und die Antithetik von Zurechnung und Kausalität einen zunehmend breiteren Raum in Kelsens Schriften einnehmen. Sondern vor allem deswegen, weil sich anhand einer Rekonstruktion von Kelsens Rechtslehre auf der Basis der wissenschaftstheoretischen Grundbegriffe Zurechnung und Kausalität zeigen läßt, daß Kelsens Rechtslehre eine Reflexion des rechtsdogmatischen Verfahrens ist. Kelsens Rechtslehre ist - gesehen von unserer heutigen Begrifflichkeit her - im Schwerpunkt Methodenlehre des Rechts und 3 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, S. 1-94: Voruntersuchungen.

Zurechnung und Kausalität

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nicht Rechtstheorie im Sinne einer umfassenden Theorie des staatlich organisierten Rechtssystems. Die folgenden Ausführungen beginnen mit Kelsens Bestimmung eines Dualismus' von Zurechnung und Kausalität in den ,Hauptproblemen der Staatsrechtslehre'. Sie zeigen anschließend anhand der Schrift ,Vergeltung und Kausalität', daß Kelsen die Verbindung von Zurechnung und Kausalität, ihre Verweisung aufeinander sehr wohl gesehen hat. Und in einem dritten Schritt soll im Anschluß an Kelsens Überlegungen in der ,Reinen Rechtslehre' nachvollzogen werden, warum Kelsen auf der Antithetik von Zurechnung und Kausalität als Grundlage seiner Rechtslehre beharrt hat. I. Dualismus von Zurechnung und Kausalität 1. Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911/Zl923)

Die wissenschaftstheoretische Grundlegung von Kelsens Rechtslehre findet sich bereits in seiner Habilitationsschrift von 1911 4 • Ein Vergleich der ,Hauptprobleme' mit der ,Reinen Rechtslehre' zeigt, daß Kelsen zwar sein methodologisches Instrumentarium im Laufe seiner Entwicklung verfeinert und in einzelnen Punkten korrigiert, aber seine ursprüngliche Konzeption einer Wissenschaftslogik der Jurisprudenz im wesentlichen beibehält. 1.1 Reine Rechtslehre als Normwissenschaft in Abgrenzung von der Sozialwissenschaft als Kausalwissenschaft Kelsen charakterisiert die Zielsetzung seiner "rechtstheoretischen Erstlingsschrift" dahingehend, daß er mittels methodischer Reflexion die Eigenart und Eigenständigkeit der Jurisprudenz als spezifisch normativer Wissenschaft in Abgrenzung von anderen Wissenschaften darlegen will. In der "Vorrede zur zweiten Auflage" von 1923 formuliert Kelsen programmatisch: "Das Ziel, auf das die "Hauptprobleme" gerichtet sind und das seither auch alle meine anderen Arbeiten bestimmte, ist eine reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechtes. Die Reinheit der Lehre oder- was gleichbedeutend ist - die Selbständigkeit des Rechtes als eines Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis bin ich schon in meiner Erstlingsarbeit bemüht, nach zwei Richtungen hin sicher zu stellen. Einmal gegen die Ansprüche einer sogenannten "soziologischen" Betrachtungsweise, die sich des Rechtes wie eines 4

Ebd.

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Stückes naturgegebener Wirklichkeit nach kausatwissenschaftlicher Methode bemächtigen will. Dann aber gegen die Naturrechtstehre, die - weil sie die ausschließlich und allein im positiven Recht gegebene Beziehungsgrundlage ignoriert - die Rechtstheorie aus dem Bereiche positiver Rechtssätze in den ethisch-politischer Postulate zieht." 5 Die zweifache Frontstellung gegen die Naturrechtslehre und gegen die Sozialwissenschaften bestimmt somit schon die Ausgangsstellung des rechtstheoretischen Denkens von Hans Kelsen. Jedoch gewinnt die Reine Rechtslehre ihr eigenständiges Profil vorrangig in der methodologischen Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften. Zwar betonen die "Hauptprobleme" nachdrücklich die Positivität des modernen Rechts gegenüber metaphysisch-spekulativen Naturrechtstheorien, welche meinen, Recht bzw. einzelne Rechtsinhalte gewinnen zu können aus einer jenseits des institutionalisierten Rechtssystems und damit jenseits des gesellschaftlich vermittelten Rechtserzeugungszusammenhangs - gelegenen Sphäre. 6 Das positive Recht findet seine wissenschaftstheoretische Grundlage jedoch in der methodischen Selbstkonstituierung des Rechts als Recht, um mit Kelsen zu sprechen: in der Reinheit der juristischen Methode. Somit ist das zentrale Erkenntnisinteresse von Kelsens Rechtslehre von Beginn an darauf gerichtet, "die Reinheit der Rechtstheorie gegen psychologisch-soziologische Einbrüche zu sichern" 7 : "Wenn auch die Wendung gegen die Naturrechtslehre in den "Hauptproblemen" unzweideutig zum Ausdruck kommt ... , so ist es doch vornehmlich die erstere gegen die kausalwissenschaftliche Soziologie gerichtete Tendenz, die besonders hervortritt. . . . In den "Hauptproblemen" kommt es zunächst darauf an, die Eigengesetzlichkeit des Rechtes gegenüber der Natur oder einer nach Art der Natur bestimmten sozialen Realität zu gewinnen." 8 Kelsens Auffassung der Jurisprudenz als einer Normwissenschaft in Anlehnung und in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftslogik des Neukantianismus bildet, wie im folgenden noch ausführlicher erläutert wird, das Kernstück seiner Rechtslehre.

1.2 Die formatlogische Struktur des Rechtssatzes: das Zurechnungsprinzip Mit der Neukantianischen Wissenschaftstheorie geht Kelsen aus von der Einsicht, daß die Methode einer Wissenschaft ihren Erkenntnis5 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze. Unveränderter Nachdruck der zweiten um eine Vorrede vermehrten Auflage, Tübingen 1923, S. V. 8 Ebd., S. 510 ff. 7 Ebd., Vorrede zur zweiten Auflage von 1923, S. IX. 8 Ebd., S. V f.

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gegenstand in Form eines Urteils konstituiert. Und Kelsen folgert, daß die Eigenart und Eigenständigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft nur dann begründet dargelegt werden kann, wenn es gelingt, die spezifische Konstruktion des Rechtssatzes nachzuvollziehen. Eine erste Kenntnis der formallogischen Struktur des Rechtssatzes gewinnt Kelsen durch Vergleich mit der Struktur des Kausalgesetzes: Es "tritt die Norm als Urteil des Sollens dem Naturgesetz und der als Norm qualifizierte Rechtssatz dem speziellen Kausalgesetz der Soziologie entgegen.... So wie im Urteil des Naturgesetzes wird auch im Rechtssatz an eine bestimmte Bedingung eine bestimmte Folge geknüpft; nur daß hier an Stelle des Kausalnexus, der dort die Folge an die Bedingung bindet, ein anderes Verknüpfungsprinzip tritt": die Zurechnung. 9 Während die Naturwissenschaften und die empirischen Sozialwissenschaften wie Psychologie und Soziologie das tatsächliche Geschehen und das Handeln der Menschen nach dem Ursache-Wirkung-Schema erklären, beurteilen die Kulturwissenschaften wie Ethik, Ästhetik, Geschichtswissenschaft und Jurisprudenz menschliches Verhalten anhand einer Norm. 10 Der kognitiven Einstellung der Sozialwissenschaften steht gegenüber die normative Einstellung der Jurisprudenz. In kognitiver Orientierung suchen die Sozialwissenschaften menschliches Handeln kausalwissenschaftlich zu erklären, während die Jurisprudenz in normativer Orientierung menschliches Handeln einem Zurechnungsverfahren unterwirft. Dementsprechend bestimmt Kelsen Kausalität und Zurechnung in den "Hauptproblemen" als zwei gegensätzliche Betrachtungsweisen11, zwei unterschiedliche Ordnungsprinzipien des Denkens12, welche den prinzipiell verschiedenen Charakter von Kausalwissenschaften und Normwissenschaften konstituieren. Die Struktur des als Norm qualifizierten Rechtssatzes erschließt sich Kelsen somit in dem Zurechnungsprinzip. Die Klärung der spezifischen Eigenart des juristischen Zurechnungsprinzips als Konstruktionsprinzip des Rechts fordert aber noch eine eingehendere Analyse der formallogischen Struktur des Rechtssatzes. Auf den Weg bringt Kelsen die Frage, wie denn der Jurist ermittelt, was im Einzelfall rechtens ist. Dabei zeigt sich eine zweifache Funktion des Zurechnungsprinzips innerhalb des Rechtssatzes. Ebd., S. VI. Und der als Norm qualifizierte Rechtssatz unterscheidet sich nach Kelsen von den Normen der anderen Kulturwissenschaften dadurch, daß das im Rechtssatz formulierte Sollen aufgrund der Positivität des Rechts objektive Geltung hat, während den moralischen, ästhetischen, grammatikalischen und anderen sozialen Normen nur subjektive Geltung zugesprochen werden kann. Vgl.: ebd., S. 329 ff. II Ebd., s. 49. 12 Ebd., S. 158. 9

10

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Die Zurechnung ist die Verbindung, die zwischen den innerhalb des Rechtssatzes zusammengefaßten Elementen besteht und grammatikalisch durch das Soll hergestellt wird. 13 Diese Elemente, zwischen denen der Rechtssatz eine Verbindung in Fonn der Zurechnung konstituiert, bestimmt Kelsen in den "Hauptproblemen" in einem ersten Schritt als Rechtstatbestand und Rechtsfolge. 14 Hier ist die dem Kausalgesetz analoge Funktion der Verknüpfung von zwei Elementen durch das Zurechnungsprinzip im Blick. Seine spezifische Bedeutung gewinnt das Zurechnungsprinzip für Kelsen aber dadurch, daß die Verbindung von Rechtstatbestand und Rechtsfolge immer in Bezug auf ein Subjekt konzipiert ist: "Zwei Bestandteile sind es nämlich, die im Inhalt jeder Norm zu unterscheiden sind: das Soll-Subjekt, das ist dasjenige, das soll, die Person, der das Soll gilt, an die das Soll gerichtet ist, und das SollObjekt, das ist dasjenige, was gesollt wird .. . . Die aufgrund der Norm vorgenommene Verknüpfung zwischen einem Seinstatbestande und einem Subjekte ist die Zurechnung. Sie ist eine ganz eigenartige, von der kausalen und teleologischen völlig verschiedene und unabhängige Verknüpfung von Elementen. Man kann sie, weil sie aufgrund der Normen erfolgt, als eine normative bezeichnen." 15 Diese zweite Funktion des Zurechnungsprinzips besteht in der Verpflichtung, in der Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Daß die Verknüpfungsfunktion des Zurechnungsprinzips immer auf ein Subjekt zielt, also gerade die Unendlichkeit der Ursache-WirkungRelation unterbricht bzw. abschließt, macht die spezifische Differenz und den qualitativen Unterschied aus zwischen Kausalität und Zurechnung als zwei Urteilsformen. Weil Kelsen sieht, daß in zahlreichen Fällen die rechtliche Zurechnung "längs einer Kausalreihe läuft, ... zwei kausal miteinander verknüpfte Glieder ... durch Zurechnung verbunden werden, z. B. der Tod des Gemordeten mit dem Mörder", warnt er davor, in solchen Fällen "zu glauben, das Zurechnungsprinzip sei hier die Kausalität, der Erfolg werde dem Täter deshalb zugerechnet, weil er vom Täter kausal herbeigeführt worden sei." 16 Daß die Rechtsnorm einen Zurechnungszusammenhang unabhängig vom Kausalprinzip konstituiert, erhärtet Kelsen durch zwei Argumente: Das Kausalprinzip selbst liefert kein Kriterium dafür, warum aus einer unendlichen Reihe von Ursachen für ein Geschehen gerade eine bestimmte Ursachenreihe einem Subjekt als verantwortbare Handlung zugerechnet wird. Und zweitens zeigt sich bei der Zurechnung von Unterlassungstatbeständen, daß überhaupt keine Kausalverbindung zwischen dem nicht handeln13 14 15

16

Ebd., S. 71. Ebd., S. 53. Ebd., S. 71 f. Ebd., S. 73 f.

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den (und darum kausal nicht wirkenden) Normsubjekt und dem Erfolg als Normobjekt besteht. 17 Die Folgerung aus dieser seiner in den ,Hauptproblemen' gewonnenen Erkenntnis, daß die formallogische Struktur des Rechtssatzes durch das Zurechnungsprinzip konstituiert wird, zieht Kelsen in dem ebenfalls 1911 erschienenen Aufsatz ,Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode': "Damit ist die Aufgabe gestellt, die gesamte Rechtsordnung als eine Summe von Zurechnungsregeln zu erkennen. " 18 Damit hat Kelsen sein methodologisches Hauptziel erreicht: Zurechnung und Kausalität sind die beiden konträren Verknüpfungsprinzipien von Vorstellungen, welche es erlauben, die Norm als Zurechnungsregel zu unterscheiden von dem Naturgesetz als Kausalitätszusammenhang, und damit die Jurisprudenz als Normwissenschaft abzugrenzen von der Sozialwissenschaft als Kausalwissenschaft. Kelsens in den ,Hauptproblemen' dargelegte Charakterisierung des Rechts als Zurechnungszusammenhang ist einleuchtend. Diese Plausibilität wird jedoch verunsichert, insofern Kelsen die für die Eigenart der Jurisprudenz bestimmende Unterscheidung von Kausalität und Zurechnung zurückführt auf einen weltanschaulichen "Dualismus von Sein und Sollen". Ein weiteres Problem ist darin zu sehen, daß Kelsens Konzept von der Jurisprudenz als Normwissenschaft gerade auf der Basis der Wissenschaftstheorie des Neukantianismus nicht unumstritten ist, da die Einordnung der Jurisprudenz in das dualistische Wissenschaftssystem des Neukantianismus von den Neukantianern selbst kontrovers diskutiert wird. Ob und inwieweit der Dualismus von Sein und Sollen als weltanschauliche d. h. metalogische Vorentscheidung oder die theoretische Möglichkeit, die Jurisprudenz nicht als Normwissenschaft, sondern als empirische Wissenschaft zu begreifen, Kelsens in den ,Hauptproblemen' entwickelte Auffassung vom Recht als Zurechnungszusammenhang infragestellt, kann in einem ersten Schritt nur im Zusammenhang mit Kelsens Rezeption des Neukantianismus geklärt werden. Erst in zweiter Hinsicht soll Kelsens Rechtslehre dann mit der gegenwärtigen Methodenlehre des Rechts konfrontiert werden. 2. Zur Rezeption des Neukantianismus durch Kelsen

Die Philosophie und Wissenschaftstheorie des Neukantianismus ist innerhalb der Fachdisziplinen von Philosophie und Rechtswissenschaft 17

18

Ebd., S. 74.

Hans Kelsen, über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Me-

thode (1911), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hrsg. v . H. Klecatsky/R. Marcic/H. Schambeck, Wien 1968, S. 33.

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heute nur unzureichend rezipiert." Indiz für diesen Befund ist die Tatsache, daß die Aporien der Kantischen und der Hegeischen Philosophie unmittelbar im Anschluß an die Originalschriften dieser Denker zu lösen versucht werden, ohne auf die Ergebnisse entsprechender Bemühungen während der letzten drei Jahrzehnte des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten drei Jahrzehnte des beginnenden 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Diese mangelnde Berücksichtigung des Neukantianismus durch Philosophie und Jurisprudenz ist deshalb bemerkenswert, weil allgemein die gegenwärtige Wissenschaftstheorie sich weitgehend - wie der Neukantianismus - auf Kant (bei gleichzeitiger Ablehnung der Philosophie Hegels) beruft, und weil speziell das gegenwärtige Selbstverständnis der Rechtswissenschaft als Wertungsjurisprudenz unmittelbar auf den Neukantianismus zurückgeht. Die Absenz des Neukantianismus, dieses, wie Ernst Cassirer bemerkte, "Sündenbocks der neueren Philosophie", wird nur verständlich, wenn man sich klar macht, daß die auf einem Methodendualismus gegründete Wissenschaftslogik des Neukantianismus gleichsam quer steht zu den allgemeinen Theorien des sozialen Handeins und zu der speziellen Theorie der Rechtsanwendung in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Daß Kelsens Rechtslehre diese Querlage mit dem Neukantianismus teilt, gerade weil seine Rechtstheorie in der Wissenschaftstheorie des Neukantianismus wurzelt, soll im folgenden gezeigt werden. In der Vorrede zur zweiten Auflage der ,Hauptprobleme' erläutert Kelsen seinen wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt: "In den "Hauptproblemen" kommt es zunächst darauf an, die Eigengesetzlichkeit des Rechtes gegenüber der Natur oder einer nach Art der Natur bestimmten sozialen Realität zu gewinnen. Darum gehen die "Hauptprobleme" von dem fundamentalen Gegensatze zwischen Sollen und Sein aus, den KANT in dem Bemühen, die Selbständigkeit der praktischen gegenüber der theoretischen Vernunft, des Wertes gegenüber der Wirklichkeit, der Moral gegenüber der Natur zu begründen, gleichsam erst entdeckt hatte. Im Anschluß an die KANT-Interpretation WINDELBANDs und SIMMELs wird mir das Sollen Ausdrucke für die Eigengesetzlichkeit des von der Rechtswissenschaft zu bestimmenden Rechtes zum Unterschied von einem "soziologisch" erfaßbaren sozialen Sein, tritt die Norm als Urteil des Sollens dem Naturgesetz und der als Norm qualifizierte Rechtssatz dem speziellen Kausalgesetz der Sozio19 Manfred Brela.ge, Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, in : ders., Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965, S. 80: "Der Kritizismus der neukantianischen Schulen steht uns heute bereits so fern, daß es schwer fällt, ihm eine grundsätzliche und nicht nur historische Bedeutung zuzuerkennen."

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logie entgegen. " 20 Der Soziologe Georg Simmel und der Philosoph WHhelm Windelband sind die Autoren, auf die Kelsen seine breit angelegten Voruntersuchungen zu den ,Hauptproblemen' vorrangig stützt. Dabei ist interessanterweise zu beobachten, daß Kelsen keineswegs Sirnmeis oder Windelbands Konzeptionen pauschal übernimmt, sondern er macht diejenigen Theoreme beider Denker zur Grundlage seiner Wissenschaftslogik, welche ihm geeignet erscheinen für eine methodische Begründung der Rechtswissenschaft als einer formalen Normwissenschaft. Während Kelsen sich zur Bestimmung der im erkennenden Subjekt gründenden Denkformen Sein und Sollen auf Simmels ,Einleitung in die Moralwissenschaft' beruft, erläutert er den im Objektbereich liegenden Gegensatz von Kausal- und Normwissenschaft in den ,Hauptproblemen' im Anschluß an Windelbands Aufsatz ,Normen und Naturgesetze'.

2.1 Der Dualismus von Sein und Sollen Es ist nicht zuletzt die von Kelsen oft zitierte Verankerung der Reinen Rechtslehre in dem Dualismus von Sein und Sollen, welche vielen Rechtstheoretikern den Zugang zu Kelsen so sehr erschwert hat. Diese Schwierigkeit mit der vom Neukantianismus primär erkenntnistheoretisch entwickelten Unterscheidung von Sein und Sollen als Grundlage einer Wissenschaftslogik der Jurisprudenz ist nicht unbegründet. Somit stellt sich die Frage: Hat Kelsen möglicherweise einen für die heutige Jurisprudenz unakzeptablen Dualismus durch seine Rezeption dieses neukantianischen Axioms übernommen? 21 Folgende dieser Annahme entgegenstehende These soll hier begründet werden: Die Termini Sein und Sollen sind für Kelsen nur der sprachliche Ausdruck der für seine Rechtslehre konstitutiven wissenschaftslogischen Unterscheidung von Kausalität und Zurechnung. Indiziell für diese These ist einmal die Tatsache, daß das Sollen von Kelsen in höchst unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird und damit einen mehr expressiven als systematisch zentralen Stellenwert in seiner Theorie einnimmt. Und das hängt wiederum damit zusammen, daß Kelsen auf die für die philosophische Erkenntnistheorie zentrale Geltungslogik des Neukantianismus, in welcher die Unterscheidung von

° Kelsen,

Hauptprobleme, Vorrede zur zweiten Auflage von 1923, S. VI. In diese Richtung zielen die kritischen Analysen von: Erich Kaufmann, Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie (1921), in: ders., Rechtsidee und Recht. Rechtsphilosophische und ideengeschichtliche Bemühungen aus fünf Jahrzehnten, Gesammelte Schriften, Bd. III, Göttingen 1960, S. 176-245, bes. S. 193-202; Hans-Peter Schneider, Rechtstheorie ohne Recht? Zur Kritik des spekulativen Positivismus in der Jurisprudenz, in: Mensch und Recht. Festschrift für Erik Wolf zum 70. Geburtstag, hrsg. v. A. Hollerbach/W. Maihofer/Th. Würtenberger. Frankfurt 1972, S. 108-136, bes S. 117 f. 2

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Sein und Sollen systematisch entwickelt wurde, gar nicht näher eingeht, weil er diese erkenntnistheoretisch ausgerichtete Geltungslogik für seine Wissenschaftslogik der Jurisprudenz gar nicht braucht. Beide Beobachtungen sollen im folgenden ausführlicher dargelegt werden. Für die Annahme eines nicht mehr logisch hinterfragbaren Dualismus von Sein und Sollen sowie für die formallogische Auffassung dieser beiden Kategorien stützt Kelsen sich in den ,Hauptproblemen' vornehmlich auf Simmels ,Einleitung in die Moralwissenschaft'. 22 Simmel, der mittels einer "Kritik der ethischen Grundbegriffe" (Untertitel seines Werkes) eine deskriptive Moralwissenschaft anstrebt, nähert sich der Bestimmung des Sollens "phänomenologisch": das Sollen ist wie das Hoffen, das Wünschen, das Wollen, das Können und das Sein "ein Gefühl, welches den objektiven Inhalt von Vorstellungen begleitet".23 "Denn das Sein kann nicht bewiesen, sondern nur erlebt und gefühlt werden, und darum läßt es sich nie aus bloßen Begriffen deduzieren, sondern nur aus solchen, in welche irgendwo das Sein schon aufgenommen ist. Das Sollen verhält sich in gleicher Weise. Dass wir etwas sollen, läßt sich, wenn es logisch erwiesen werden soll, immer nur durch Zurückführung auf ein anderes als sicher vorausgesetztes Sollen erweisen; an sich betrachtet ist es eine Urthatsache, über die wir vielleicht psychologisch, aber nicht mehr logisch hinausfragen können." 24 Kennzeichnend für die Behandlung solcher "psychologischen Begriffe" ist nach Simmel, daß die Ergebnisse ihrer Betrachtung "schließlich von der der logischen Deduktion entzogenen Subjektivität abhängen." 25 Dieser "logischen Grundlosigkeit des Sollens" 26 entsprechend gibt es für Simmel "keine Definition des Sollens'127• Das Sollen ist für Simmel eine "ursprüngliche Kategorie" 28 , ein "von jedem Inhalt vollkommen abtrennbar(er) . .. Denkmodus" 2" . Diese Auffassung Simmels von Sein und Sollen als "allgemeinste Denkbestimmungen", als unterschiedliche Kategorien bzw. Formen, die der sachliche Inhalt von Vorstellungen annehmen kann, 30 übernimmt Kelsen in den ,Hauptproblemen' undiskutiert, weil er sie - wie Sim22 Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, 2 Bände, unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1892- 1893, Aalen 1964. 23 Simmel, Moralwissenschaft, Bd. 1, S. 8. 24 Ebd., S . 12. 25 Ebd., S. 11. 26 Ebd., S. 16. 27 Ebd., S. 8. 28 Ebd., S. 13. 29 Ebd., S. 9. so Kelsen, Hauptprobleme, S. 7I 15.

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mel - für undiskutierbar hält: Bei den fundamentalen Gegensätzen von Sein und Sollen, von Inhalt und Form handelt es sich "um prinzipielle, letzten Endes in der Weltanschauung wurzelnde, daher subjektive und undiskutierbare Voraussetzungen" .31 Und in einem Aufsatz aus dem Jahre 1914 formuliert Kelsen verschärft: "Aus der logischen Unvereinbarkeit von Sein und Sollen erwächst das methodologische Postulat einer scharfen Trennung von explikativer und normativer Betrachtungsweise. Daß aber die Begriffe des Seins und Sollens in gegenseitiger logischer Ausschließlichkeit entwickelt werden, das ist kein logisches, das ist das metalogische Prinzip einer dualistischen Weltanschauung. " 32 Für Kelsen bringt das Sollen somit in erster Linie die Narrnativität des Erkenntnisgegenstandes ,Recht' zum Ausdruck im Unterschied zu der Faktizität des Erkenntnisgegenstandes der Sozialwissenschaften. Diese Funktionsbestimmung des Sollens, die Eigenständigkeit der Normwissenschaften zu dokumentieren, ist zweifellos neukantianischer Herkunft. Aber die formallogische Auffassung des Sollens bei Simmel und Kelsen ist nur eine Schwundstufe dessen, was der Neukantianismus ursprünglich mit dem Gegensatz von Sein und Sollen absichern wollte - nämlich die Geltung von Inhalten des Sollens. Das Theorem des Dualismus von Sein und Sollen signalisiert für den Neukantianismus den Abschied von der idealistischen Metaphysik von Kant bis Hege!. Abschied von der Metaphysik Kants und Hegels bedeutet Abschied von der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Beantwortung der Frage ,Was sollen wir tun?' im geschichtlich-gesellschaftlichen Bereich. Der Niedergang des als hypertrophe Metaphysik und als Apologie des reaktionären preußischen Staates verketzerten Hegelianismus ist das einigende Band im Selbstverständnis der für den Zeitraum von 1865-1925 herrschenden neukantianischen Philosophie und Wissenschaftstheorie. Für dieses Zeitalter der Wissenschaften und des Historismus, für diese geschichtliche Situation der verlorenen Revolution von 1848 und des Bündnisses von Staat (als Militär- und Verwaltungsstaat) und Bürgertum (als Statthalter von Wirtschaft und Bildung), für diese "Epoche des Illusionsverlustes" 33 war die in Hegels Philosophie verkörperte Einheit des Wahren und des Guten, von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und gesellschaftlich-politischem Fortschritt unmöglich geworden. 34 Sein und Sollen treten auseinander. Wenn Otto Liebmann Ebd., Vorrede zur ersten Auflage von 1911, S. V. Hans Ke!sen, über Staatsunrecht (1914), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule (FN 18), S. 958 f. 33 Helmut Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt 1974, S. 101. 34 Zur sozialgeschichtlichen Situation und zur Philosophie und Wissenschaftstheorie dieser Epoche: vgl. die ausgezeichnete Darstellung von Herbert Schnäde!bach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt 1983. 31

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den philosophischen Zeitgeist 1865 zusammenfaßt in der wiederholten Forderung "Es muß auf Kant zurückgegangen werden. " 3S, so ist der neukantianische Rückgang auf Kant doch jeweils nur partikular. Die Marburger Schule, zu der u. a. Friedrich Albert Lange, Hermann Cohen, Paul Natorp, Max Salomon und Ernst Cassirer gehören, analysiert im Ausgang von dem Faktum der neuzeitlichen exakten Wissenschaften deren Methode und erhebt die Mathematik zum Vorbild und Symbol aller wahren Wissenschaft. 38 Und die Südwestdeutsche Schule, deren bekanntere Vertreter Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert sowie der Rechtsphilosoph Rudolf Stammler sind, ist primär um die Methodik der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften bemüht. Die in diesem Zusammenhang von den Südwestdeutschen entwickelte Wertphilosophie ist aber gleichzeitig eine Absage an die mit dem Begriff und der Wirklichkeit von Freiheit gegebene Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft bzw. der theoretischen und praktischen Philosophie Kants. Für die Philosophie Kants ist das Sollen noch kein systematisch relevanter Begriff. Die Frage danach, was wir tun sollen, ist für Kant eine Frage nach den Inhalten des Sollens. Und diese Frage wird nach Kant beantwortet durch die praktische Vernunft in ihrer philosophischen Entfaltung als Moral-, Rechts- und Geschichtsphilosophie. Erst für Kants Nachfolger in Königsberg, Johann Friedrich Herbart, treten Sein und Sollen, Wirklichkeit und Werte auseinander. Während Herbart den Dualismus von Sein und Sollen noch ontologisch begreift, deutet Hermann Lotze ihn geltungslogisch um. Lotze trennt das reale Sein der Dinge von der ideellen Geltung der Werte. 37 Die Frage nach der Objektivität der Werte wird für ihn dabei zu einem Problem der Logik ihrer Geltung. Damit, daß Lotze das Problem der Objektivität der Werte formuliert als Frage nach einem eigenen Objektbereich der Werte, wird er zum Stammvater der südwestdeutschen Wertphilosophie und des neukantianischen Dualismus von Sein und Sollen. 38 Das Problem der Objektivität der Werte ist dabei "von vornherein mit dem ontologischen Dilemma von Gegenständen belastet, die als objektiv gelten sollen, ohne zu existieren" .39 Dieses Dilemma sucht Lotze zu M Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, 2. Aufl., Berlin 1912, S. 109, 138, 156, 204, 216.

36 Zur praktisch-politischen Kant-Interpretation der Marburger, welche im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben kann vgl.: Rosemarie Pohlmann, Neuzeitliche Natur und bürgerliche Freiheit. Eine sozialgeschichtlich angeleitete Untersuchung zur Philosophie Immanuel Kants, Diss. Münster 1973, S. 10-29. 37 Hermann Lotze, Logik, Nachdruck der 2. Auflage von 1880, Leipzig 1928,

s. 510-513.

88 Zur ausführlichen Würdigung Lotzes vgl.: Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 (FN 34), S. 206-218.

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lösen mit der These, daß die ,Seinsweise' der Werte ihre Geltung sei. Somit steht für die Wertphilosophie ursprünglich nicht das Sollen, sondern der Begriff der Geltung in dem systematischen Mittelpunkt ihrer Überlegungen, da das Sollen kein Begriff ist, mit dem man die Objektivität der Werte bestimmen kann. 40 Erst die transzendentalphilosophische Umdeutung des Wertidealismus von Lotze eröffnet dann die Möglichkeit, die Unterscheidung von Sein und Sollen bloß formallogisch aufzufassen. Die ursprüngliche Frage nach der objektiven Geltung von bestimmten Inhalten des Sollens aber ist damit ausgeblendet. Da Kelsen aufgrund seines Ausgangs von der Positivität des Rechts und seiner Auffassung von der Relativität aller Werte die Geltungslogik der neukantianischen Wertphilosophie gar nicht braucht, hat der Dualismus von Sein und Sollen für seine Rechtslehre auch keinen zentralen systematischen Stellenwert. Die häufige Berufung Kelsens auf den Gegensatz von Sein und Sollen scheint dem zu widersprechen. Aber der Schein kann bekanntlich trügen. Die häufige Verwendung des Begriffes ,Sollen' hat für Kelsen primär expressiven Charakter im Sinne eines Verweises auf die Narrnativität seines Erkenntnisgegenstandes. Für diese These spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß Kelsen den Begriff des Sollens in vielfach verschiedener Bedeutung gebraucht. 41 Diese verschiedenen Bedeutungen des Sollens stellen eben darum keine systematische Inkonsequenz dar, weil der Gegensatz von Sein und Sollen nur der sprachliche Ausdruck für die Narrnativität des Rechts ist, welche unter den verschiedensten Aspekten und damit in den verschiedensten Bedeutungsschattierungen thematisiert werden kann. Schwerpunktmäßig ist der Gegensatz von Sein und Sollen für Kelsen der sprachliche Ausdruck für die wissenschaftslogische Unterscheidung von Kausalität und Zurechnung: Kelsen sieht das Recht "als eine normative Ordnung, d. h. als ein System von Normen, ... die sprachlich in Sollsätzen, logisch in hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden" .42 Die Funktion des Sollens als Ausdruck für die Eigenständigkeit einer Normwissenschaft, die nach Kant nicht mehr ontologisch, sondern nur noch methodologisch begriffen werden kann, betont Kelsen selbst des öfteren.43 Ebd., S. 199. Zur Geltungslogik vgl.: Manfred Brelage, Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität (FN 19), S. 81-94. 41 Zu den achtzehn Definitionen des Sollens, welche Leiminger in der zweiten Auflage der ,Reinen Rechtslehre' ausmacht, vgl.: Karl Leiminger, Die Problematik der Reinen Rechts-Lehre, Wien - New York 1967, S. 48-66. 42 Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Staat (1922), 2. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1928, Aalen 1981, S. 75. 43 Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur zweiten Auflage von 1923, S. VI; 39

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Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es wird nicht bestritten, daß die Unterscheidung von Sein und Sollen für Kelsen erkenntnistheoretischer Anknüpfungspunkt an die Wissenschaftstheorie des Neukantianismus ist, dem Kelsen selbst Bedeutung zumißt. Das zeigt sich schon darin, daß Kelsen sich nach Kenntnis von Cohens ,Ethik des reinen Willens' für die Unterscheidung nicht mehr auf den im Ansatz phänomenologisch argumentierenden Simmel beruft, sondern sich fortan Cohens transzendentallogischer Solleusbegründung anschließt.u Mehr als diesen erkenntnistheoretischen Anknüpfungspunkt und die erkenntnistheoretische Folgerung, daß aus Indikativsätzen keine Imperativsätze, also aus Sätzen über das Sein keine Sätze über das Sollen abzuleiten sind, 45 gibt die Unterscheidung von Sein und Sollen für Kelsens Rechtslehre systematisch aber nicht her.

2.2 Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft Kelsen entnimmt der philosophischen Erkenntnistheorie und Wissenschaftslogik des Neukantianismus nur die Instrumente, die er benötigt, um die methodische Eigenständigkeit der Jurisprudenz zu klären und abzusichern. Orientiert an seinem primären Ziel, die Methode der Rechtserkenntnis frei zu halten von politischen, moralischen und sozialwissenschaftlichen Elementen, prüft und bearbeitet er die Theoreme des Neukantianismus auf ihre methodologische Leistungsfähigkeit für die eigene Fragestellung hin. Dementsprechend zieht Kelsen aus dem formallogischen Gegensatz von Sein und Sollen, den er in den ,Hauptproblemen' von Simmel aufnimmt, auch andere wissenschaftstheoretische Konsequenzen als dieser. Aus der Unterscheidung von Sein und Sollen folgert Simmel nur die methodologische Pflicht, die empirische Hans Kelsen, Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft

Eine methodenkritische Untersuchung (1916), in : Die Wiener Rechtstheoretische Schule (FN 18), S. 76. 44 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (FN 42), S. 75; Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur zweiten Auflage von 1923, S. XVII. Auf Hermann Cohen wurde Kelsen aufmerksam durch eine Besprechung seiner ,Hauptprobleme' von Oscar Ewalds, Die deutsche Philosophie im Jahre 1911, in: Kant-Studien 17, 1912, S. 307 f. Durch die Lektüre von Cohens ,Ethik des reinen Willens' und durch einen Besuch bei Cohen in Freiburg wurde Kelsen die Parallele seines erkenntnistheoretischen Ansatzes zu Cohens transzendentallogischer Begründung der Philosophie bewußt. Den Hinweis, daß es "auf Cohens Terminologie ... zurückzuführen ... ist, daß Kelsen später den Ausdruck "Reine Rechtslehre" gewählt hat", gibt Rudolf Aladar Metall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, S. 8. 45 Günther Winkler, Sein und Sollen. Betrachtungen über das Verhältnis von Sein und Sollen im Hinblick auf das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Recht, mit methodologischer Orientierung für eine kritische und gegenstandsbezogene Theorie vom positiven Recht, in: RECHTSTHEORIE 10, 1979, s. 269 f.

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Aufgabe von der normativen zu trennen, nicht aber gleichzeitig auch eine strenge Einteilung der Wissenschaften in normative und kausalwissenschaftliche.48 Für Kelsen hingegen folgt aus dem formallogischen Dualismus von Sein und Sollen der wissenschaftstheoretische Gegensatz von Kausal- und Normwissenschaften: "Was speziell den Gegensatz von Sein und Sollen betrifft, so habe ich nur soviel zu bemerken, daß ich an die übliche auf ihm beruhende Unterscheidung zwischen explikativen, d. h. auf die Welt des Seins und deren kausale Erklärung durch Naturgesetze gerichteten, und normativen, d. h. der Welt des Sollens und den Normen zugekehrten Disziplinen, zwischen Kausalund Normwissenschaft anknüpfe, um zu dem methodologischen Charakter der Jurisprudenz zu gelangen. 47 Diesen im Objektbereich liegenden Gegensatz von Kausal- und Normwissenschaften erläutert Kelsen in erster Linie im Anschluß an Wilhelm Windelbands Aufsatz ,Normen und Naturgesetze' sowie auch unter Berufung auf andere Autoren wie Wilhelm Wundt und Hermann v. Helmholtz. 48 Diese für die neukantianische Wissenschaftstheorie "übliche Unterscheidung", wie Kelsen sagt, soll hier jedoch nicht des weiteren anband von Windelbands Ausführungen erläutert werden, 48 da nicht dieser Gegensatz von Kausal- und Normwissenschaften als solcher problematisch ist. Interessant wird die besagte wissenschaftstheoretische Abgrenzung hingegen erst unter dem Aspekt, welchem der beiden Wissenschaftstypen die Jurisprudenz und die Sozialwissenschaften zuzuordnen sind und mit welcher Begründung diese Zuordnung vorgenommen wird. Im Jahre 1916 veröffentlicht Kelsen den Aufsatz ,Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft' 50, in welchem er sich mit 46 Simmel geht es um eine deskriptive Moralwissenschaft, die es vermeidet, "die Untersuchung der moralischen Phänomene mit einer moralischen Werthung ihrer zu vermengen . . .. : gerade daraus aber entsteht einer geschärften und differenzierenden Methodik die um so strengere Verpflichtung, die wissenschaftliche Aufgabe, die nur empirische oder hypothetische Wirklichkeiten parteilos feststellen soll, von der normativen zu scheiden, der die Wirklichkeit praktisch, also immer einseitig, zu gestalten obliegt." Vgl. Simmel, Moralwissenschaft, Bd. 2, S. V. 47 Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur ersten Auflage von 1911, S. VI. 48 Kelsen, Hauptprobleme, S . 5. 48 Windelbands Aufsatz ist ohnehin nicht speziell dem Thema der Abgrenzung von Norm- und Naturwissenschaften gewidmet, sondern beschäftigt sich zentral mit der Frage, wie unter den Bedingungen eines durchgehenden Kausalzusammenhanges in der Natur die menschliche Willensfreiheit zu denken sei: Wilhelm Windelband, Normen und Naturgesetze, in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Dritte, vermehrte Auflage, Tübingen 1907, S. 278-317. 50 Hans Ketsen, Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft (FN 43), S. 37-93.

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der Position Heinrich Rickerts über die Einordnung der verschiedenen Einzelwissenschaften in das dualistische Wissenschaftssystem des Neukantianismus auseinandersetzt. Bevor die Kritik Kelsens wiedergegeben wird, ist kurz die Theorie Rickerts darzustellen. Heinrich Rickert erweitert und systematisiert in seinen bekannten erkenntnistheoretischen Frühwerken ,Der Gegenstand der Erkenntnis' (1892) und ,Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung' (1896-1902) die Gedanken seines Lehrers Wilhelm Windelband auf dem Hintergrund einer werttheoretisch gewendeten Transzendentalphilosophie. Transzendental ist Rickerts Ansatz insofern, als er - wie Kant fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, d. h. nach den Bedingungen möglicher Auffassung von Gegenständen. Die Gegenstände der Wirklichkeit werden nach Rickert vom erkennenden Subjekt material konstituiert unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten: als Natur und als Kultur. Insofern das Erkenntnissubjekt im Erkenntnisakt wertende, d. h. bejahende oder verneinende sowie billigende oder mißbilligende Stellung nimmt, ist alle Erkenntnis in den Natur- und Kulturwissenschaften wertgebundenes Urteil. 51 Die Objektivität dieses wertgebundenen Urteils ist gewährleistet durch seinen Bezug auf ein objektiv geltendes System von Werten. Formal unterscheiden sich die beiden Wissenschaften in der Verfahrensweise bei der Darstellung der empirischen Wirklichkeit: Die Naturwissenschaften bemühen sich, den allgemeinen Zusammenhang der gegebenen Wirklichkeit in Form von Naturgesetzen herauszuarbeiten; sie verfahren generalisierend. Während die Kulturwissenschaften auf die besondere Bedeutung eines Ereignisses, den Sinn einer Handlung abstellen; sie verfahren individualistisch.52 Der Begriff der Kultur ist der Schlüsselbegriff des neuen Wissenschaftssystems von Rickert. Kelsen, der sich vornehmlich mit der mehr populärwissenschaftlich abgefaßten, von dem Philosophen an die "Einzelforscher" gerichteten Schrift Rickerts über ,Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft' auseinandersetzt, sieht die Jurisprudenz - wenn auch mehr in beiläufiger Erwähnung durch Rickert - als Kulturwissenschaft bestimmt.53 Nicht diese Bezeichnung ist für Kelsen der Stein des Anstoßes, sondern vielmehr die für ihn widersprüchliche Tatsache, daß Rickert die Kulturwissenschaft, und damit auch die Jurisprudenz, einmal als empirische Wissenschaft, also als "erklärende Seinswissenschaft" 51 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Enführung in die Transzendentalphilosophie, Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, Tübingen- Leipzig 1904, S. 84 ff. 52 Heinrich Rickert, Über die Aufgaben einer Logik der Geschichte, in: Archiv für systematische Philosophie 8, 1902, S. 102. 53 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage, Tübingen 1910, S. 1.

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auffaßt, während er sie andererseits konstituiert sieht durch den Bezug auf objektive Werte. In dem Bezug auf objektive Werte, auf ein Sollen sieht Kelsen aber den Charakter der Normwissenschaften. Und Kelsen arbeitet methodisch klar heraus, daß die für ihn gegebene Zweideutigkeit von Rickerts Kulturbegriff begründet liegt in dem "vieldeutigen Terminus des >>Wertes