Rechtsstaatlichkeit Und Gnade (German Edition) 3428042727, 9783428042722

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Rechtsstaatlichkeit Und Gnade (German Edition)
 3428042727, 9783428042722

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DETLEF MERTEN

Rechtsstaatlichkeit und Gnade

Schriftenreihe der Hochschule Speyer

Band 74

Rechtsstaatlichkeit und Gnade

Von

Prof. Dr. Dr. Detlef Merten

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Die nachfolgenden Ausführungen geben den ergänzten und überarbeiteten Text der Rektoratsrede wieder, die der Verfasser am 28. November 1977 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer gehalten hat. Sie beruhen ferner zum Teil auf Gedanken, die der Verfasser im Rahmen der Neustadter Gespräche am 31. Mai 1978 in Neustadt a. d. Weinstraße unter dem Thema "Gnade im Zeitalter des Terrorismus?" vorgetragen hat.

Alle Rechte vorbehalten

© 1978 Duncker & Humblot. Berlln 41

Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn. Berlln 61 Prtnted in Germany ISBN B 428 04272 7

Aber wie mögen Sie sich nur so gegen den Gedanken einer Begnadigung sträuben? Machen Sie sich doch klar, daß dies Wort von Gnade herkommt und daß es in dieser und in jener Welt nichts Höheres gibt als die Gnade und wahrscheinlich auch nichts, das uns so notwendig wäre wie sie. Was würde aus uns allen, und wie sollten wir Menschen miteinander leben können, wenn wir uns gegenüber immer nur die Gerechtigkeit hätten und nicht die Gnade? Werner Bergengruen, Das Feuerzeichen

Inhalt

Einleitung ............................................................

9

I. Rechtsstaat und Amnestie ........................................

11

H. Die Gnade in der Geschichte .....................................

30

IH. Die Abolition

...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

42

IV. Richterspruch und Begnadigung ..................................

48

V. Voraussetzungen und Wirkungen der Begnadigung...............

52

VI. Gesetz und Gnade ..............................................•

59

VII. Rationalität und Gnade ..........................................

67

VIII. Verrechtlichung der Gnade......................................

74

Einleitung Für Regel ist sie "eine der höchsten Anerkennungen der Majestät des Geistes"!, für Kant "unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste"2; der eine sieht sie als Stütze der Gerechtigkeit, der andere als Zeichen der Fragwürdigkeit des RechtsII; Claudian4 umschreibt sie als 1 Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, hrsg. von A. Bäumler (Jena 1927) § 282 S.862; vgl. ferner Montesquieu: "die schönste Eigenschaft seiner Oberherrschaft, die Begnadigung" (Vom Geist der Gesetze, 6. Buch, 5. Kap. [Altenburg 1782] S. 129; Constant: eines der "erhabensten und natürlichsten Vorrechte" der höchsten Staatsgewalt; "ein Recht fast göttlicher Art" (Grundprinzipien der Politik ... , Kap. XIX und 11 in: Benjamin Constant, Werke in 4 Bänden, hrsg. von Blaeschke u. Gall, Bd. IV, Berlin 1972 S.239 und S. 46); Suarez: "das herrliche Vorrecht" des Monarchen in: Vorträge über Recht und Staat (hrsg. von Conrad und Kleinheyer, Köln und Opladen 1960) S.36; Welcker: "etwas Herrliches und höchst Heilsames" (Art. Begnadigung, in: Staatslexikon, hrsg. von Rotteck / Welcker, Bd. 2, 3. Aufl. [Leipzig 1858] S.431). 2

Die Metaphysik der Sitten, metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre,

§ 49 Eil in: Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Weischedel, Bd. IV (Darmstadt 1975) S. 459 f.; vgl. ferner Filangieri, System der Gesetzgebung,

Bd. IV (Anspach 1787), 3. Buch, 2. Teil, 57. Kap. S. 719, wonach die Begnadigung "eine gegen die Gesellschaft begangene Ungerechtigkeit" ist; Carl Julius Weber, Demokritos Bd.7, 4. Aufl. (Stuttgart 1853), Die Titulaturen S. 450: "Gnade ist für jeden Denker eines der ekelhaftesten deutschen Wörter, Mischmasch von Willkür und Gutmüthigkeit, den Begriffen von Recht und Weisheit entgegen ..." 3 Vgl. Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit (Göttingen 1963) Nr.152, S.38f.

" Panegyricus dictus Manlio Theodoro consuli, Vers 166 (Monumenta Germaniae Historica, Serie Auctores antiquissimi, Bd. 10, hrsg. von Th. Birt [Berlin 1892] S. 182). Diese personale Sicht erklärt auch das Sprichwort "Gnade für (vor) Recht ergehen lassen". Hier sind Gnade und Recht als zwei Frauen gedacht, von denen die Gnade ausnahmsweise den Vortritt haben soll. Vgl. Borchardt / Wustmann, Die sprichwörtlichen Redensarten, 5. Auf!. (Leipzig 1895) S.32; ferner Günther, Recht und Sprache (Berlin 1898) S. 142; dens., Deutsche Rechtsaltertümer (Leipzig 1903) S. 107; Cohn, Deutsches Recht im Munde des Volkes in: Drei rechtswissenschaftliche Vorträge (Heidelberg 1888) S.6; Richard Schroeder, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Bd.5 (Weimar 1866) S.40; J. H. Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter (Zürich 1858) S. 201 ff.; Graf / Diet-

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Einleitung

Schwester der Gerechtigkeit, als soror iustitiae, und RadbTuch als "des Wunders holde Schwester"5: die Gnade. Die Verwandtschaft mit dem Irrationalen, die Gründung im Göttlichen als gratia dei oder gratia divina muß einer Epoche der NeoAufklärung' suspekt erscheinen. Ist der Mensch alleiniger Mittelpunkt aller Dinge, so paßt seine absolute Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, die (vermeintliche) Möglichkeit seiner Selbstvervollkommnung durch Vernunft so gar nicht zu der Maxime: nur wenn du von dir selbst nichts erwartest, darfst du auf Gnade hoffen7 • Es ist daher kein Zufall, sondern geistesgeschichtliche Konsequenz, daß die Gegenwart den uralten Dualismus von Recht und Gnade in Frage stellt und die Verrechtlichung und Berechenbarkeit der Gnade, die Rationalität und Transparenz ihrer Ausübung und deren gerichtliche Kontrolle postuliert. Und ist dieses sola gratiaS als zutiefst christliche Botschaft9 nicht in der Tat ein weißer Flecken auf der Karte des weltanschaulichneutralen, rechtsstaatlich verfaßten und auf Volkssouveränität gegründeten modernen Staates? Hat die Gnade sich vielleicht nur als Relikt absolutistischen Gottesgnadentums in die heutigen Verfassungen hinübergerettet, wie sich Gesetz und Recht nun einmal vererben?

herr, Deutsche Rechtssprichwörter (Nördlingen 1864) Nr.602 S. 397,399; Winkler, Deutsches Recht im Spiegel deutscher Sprichwörter (Leipzig 1927, Neu-

druck Leipzig 1977) S. 148. Teilweise wird die Gratia auch als Tochter der Iustitia dargestellt, so z. B. in einer allegorischen Erzählung eines frühen italienischen Glossators. Vgl. hierzu Elsener in: Summum ius summa iniuria (Tübingen 1963) S. 172 f. 6

Aphorismen (Fußn. 3) Nr. 148 S. 38.

e Vgl. auch Thomas Fleiner, Recht und Gerechtigkeit (Zürich 1975) S.9. 7 Pascal, Gedanken (übertragen von Rüttenauer, Birsfelden-Basel) Nr. 615 S.305. S Vgl. Gal.5, 4; siehe auch Paul Tillich, Das religiöse Fundament des moralischen Handeins (Gesammelte Werke Bd.3, Stuttgart 1965), S. 54 f.; Michael Schmaus, Katholische Dogmatik, 3. Bd., 2. Teil, 3.14. Aufl. (München 1951) § 202, S. 251 ff.; Martin Luther, Ein Sermon von dem Ablaß und von der Gnade: "Zum dreizehnten: Es ist ein großer Irrtum, daß jemand meint, er wolle genug tuen für seine Sünden, so doch Gott dieselben allzeit umsonst, aus unschätzlicher Gnad verzeihet, nichts dafür begehret, denn hinfort wohl zu leben." (Ausgewählte Werke, 1. Bd., hrsg. von Borchert und Merz, 3. Aufl., 1. Bd., München 1963, S. 111); vgl. auch A. Peters, Art. Gnade in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. von Ritter (Basel 1974) Sp. 707 ff.

11 Vgl. Tillich a.a.O. (Fußn.8) S.54; Romano Guardini, Freiheit, Gnade, Schicksal (München 1967) S. 132.

1. Rechtsstaat und Amnestie

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I. Rechtsstaat und Amnestie 1. Der Rechtsstaat hat die absolutistische Identifikation von König und Gesetz aufgelöst und das Gesetz zum König10 gemacht. Der princeps ist nicht länger Herr des Gesetzes, sondern dessen Diener und damit erster Diener des Rechtsstaatsl l . Nicht mehr der rex, sondern die lex verkörpert den obersten Staatswillen1%, der Mensch soll nicht mehr dem subjektiven Willen von Menschen, sondern dem objektiven Sinn von Normen unterworfen sein13 und statt des government of men ein government of laws herrschen14 • Das für alle geltende Gesetz als tragendes Fundament verpflichtet die Staatsgewalt und begrenzt sie zugleich. Der generell-abstrakte Charakter des Gesetzes bietet Schutz vor Willkür im Einzelfa1l 15 • 10 Vgl. Pindar, Siegesgesänge und Fragmente (hrsg. von Werner, Norderstedt 1967) Nr. 169. 11 Insbesondere Friedrich der Große betonte, der Herrscher sei lIder erste Diener des Staates" ("premier serviteur de l'~tat"); vgl. Politisches Testament von 1752 (abgedruckt in: Die Werke Friedrichs des Großen, hrsg. von Volz, Bd.7, Berlin 1912, S.154) und "Regierungsformen und Herrscherpflichten", 1777 (abgedruckt a.a.O. S.226); siehe ferner "Der AntimachiavelI", 1. Kap. (abgedruckt a.a.O. S. 6). Hierzu auch Eberhard Schmidt, Staat und Recht in Theorie und Praxis Friedrichs des Großen (Leipzig 1936) S.15; C. Frantz, Über Gegenwart und Zukunft der preußischen Verfassung (Halberstadt 1846, Neudruck Siegburg 1975) S.22; F. Willenbücher, Die strafrechtsphilosophischen Anschauungen Friedrichs des Großen (Breslau 1904) S. 7. Vgl. auch den Wahlspruch König Friedrich Wilhelms H. von Preußen: Servantissimus Aequi. Siehe in diesem Zusammenhang auch Kleist, Prinz von Homburg: "Das Gesetz will ich, die Mutter meiner Krone, aufrecht halten, ..." (5. Akt, 5. Auftritt, Kurfürst von Brandenburg). 12 Hierzu Anschütz, Deutsches Staatsrecht, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft, hrsg. von Holtzendorff und Kohler, Bd. II (Leipzig, Berlin 1904) S.593; vgl. auch Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Hamburg 1934) S. 14; dens. JW 1934, 715 1. Sp. 18 Marcic in: Gedanke und Gestalt des demokratischen Rechtsstaats, hrsg. von Imboden (Wien 1965) S.58; siehe auch Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Berlin, Heidelberg, New York 1925) S.99; Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, 5. Buch (übertragen von Olof Gigon, Zürich 1951, S. 167): "Darum lassen wir auch keinen Menschen regieren, sondern das Prinzip, weil der Mensch für sich handelt und Tyrann wird." 14 Art. 30 der Verfassung von Massachusetts v. 2.3.1780 (abgedruckt in: Altmann, Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, 2. Aufl., Berlin 1913, S. 26). 16 Vgl. Duguit, Traite de droit constitutionnel, 2. Aufl. Bd.2 (Paris 1923) S. 153; dens., Manuel de Droit constitutionnel, 3. Aufl. (Paris 1918) § 30 S.96; earl Schmitt, Verfassungslehre, (4. Aufl. 1965) S.157; vgl. in diesem Zusammenhang auch Wieacker, Vom römischen Recht (Leipzig 1944) S. 43 f.

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I. Rechtsstaat und Amnestie

Da staatliches Handeln für den Bürger berechenbar und vorhersehbar wird, Eingriffe in seine Freiheits- und Eigentumssphäre fortan unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehen, herrscht im Rechtsstaat Freiheit durch und nach Maßgabe der Gesetze16. Wer deren "Heiligkeit"11 beachtet und sich in ihren Freiheitsbahnen bewegt, ist nicht auf das Wohlwollen oder die Gunst der Exekutive angewiesen. Daher auch die stolze Antwort des Marquis Posa auf das Angebot königlicher Gnade: "Ich genieße die Gesetze, ... Sire, ich bin zufrieden18." Der gesetzestreue Bürger beansprucht das Gesetz und erbittet es nicht als Geschenk. So kann der preußische Major von Tellheim im Rechtsstaat des aufgeklärten Absolutismus sagen: "Ich brauche keine Gnade; ich will Gerechtigkeit19." Der Gnade bedarf nur, wer weniger gibt, als die Gesetze verlangen, oder mehr verlangt, als die Gesetze geben. Dieser rechtsstaatliche Anspruch auf das gesetzliche Recht steht hinter dem Spruch "Gnade kann nur Sklaven freuen, aber Männer brauchen Recht", und in diesem Sinne gehört Gnade dann "lediglich für Verbrecher, dem Biedermann aber keine Gnade, sondern Gerechtigkeit"2o. Also Gesetzesverweis für den Biedermann und Gnadenerweis für den Brandstifter? Wird damit nicht das für alle geltende und damit Gleichheit verbürgende21 Gesetz durchbrochen? 18 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Kap. IX (Werke in 5 Bänden, hrsg. von Flitner und Giel, Darmstadt 1969, S.147); Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München 1949) S.200; siehe auch Bettermann, Freiheit unter dem Gesetz, in: Freiheit als Problem der Wissenschaft (Berlin 1962) S. 63 ff. 17 Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Aufl. 1879 (Nachdruck Darmstadt 1966), S.219. 18 Schiller, Don Carlos, 3. Akt, 10. Auftritt; vgl. ferner Friedrich Lehne, Freiheitslied: "Wohl mir, ich bin ein freier Mann. Nur den Gesetzen untertan"; (Gedichte und Lieder deutscher Jakobiner, hrsg. von Hans-Werner Engels, Stuttgart 1971, S. 124). 19 Minna von Barnhelm, 4. Aufzug, 6. Auftritt; ähnlich Bergengruen, Das Feuerzeichen, 17. Kapitel: "Nein, ich will keine Gnade, ich will meine Gerechtigkeit" (Hahn) (Zürich 1949, S. 235). 20 earl Julius Weber, Demokritos, Die Titulaturen (Fußn.2) S.451. 21 Allerdings nur Gleichheit im formellen Sinn. Die abstrakt-generelle Norm erfaßt alle gleichermaßen, auf die der Normtatbestand zutrifft und ist ihnen gegenüber gleichmäßig durchzusetzen. "Ober den Inhalt der Norm vermag das Rechtsstaatsprinzip nichts auszusagen. Hierzu auch Riezler, Das Rechtsgefühl (München, Berlin, Leipzig 1921) S. 96 f. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner Art. 17 der von Mirabeau vorgeschlagenen Erklärung der Menschenrechte: "Bürgerliche Gleichheit ... besteht darin, daß alle Bürger verpflichtet sind, sich dem Gesetz zu unterwerfen und gleiche Rechte auf den

1. Rechtsstaat und Amnestie

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Der rechtsstaatliche Primat des Gesetzes bleibt gewahrt, wenn und soweit die Gnade selbst in Gesetzesform gegossen wird. Das Gnadengesetz kann als Amnestie die Strafe für gewisse Delikte erlassen und/ oder in der Form der (General-)Abolition die Einstellung bestimmter Verfahren anordnen. Insoweit geht es als lex specialis den allgemeinen Bestimmungen des Strafrechts, Strafprozeßrechts und Strafvollzugsrechts vor. Amnestie und (General-)Abolition dürfen sich jedoch weder auf einen Einzelfall beschränken noch gleichheitswidrig differenzieren, insbesondere bestimmte Personengruppen sachwidrig privilegieren2ll, sondern müssen eine unbestimmte, nach objektiven Kriterien abgrenzbare Zahl gleichartiger Fälle erfassen23 und damit "Freund und Feind umschließen"ll4. So steht für die Amnestie die Tat, für die Individualbegnadigung der Täter im Vordergrund25 • 2. Mit der Entwicklung des Rechtsstaats zum parlamentarischen Rechtsstaat, in dem das Parlament an der Gesetzgebung erst partizipierte und sie schließlich bei sich monopolisierte, wurde dem Souverän das Recht zur Amnestie entwunden. Während in Preußen nach dem Aufruhr des Jahres 1848 die Amnestie für alle, "die wegen politischer oder durch die Presse verübter Vergehen und Verbrechen angeklagt oder verurteilth worden sind", noch als königliches Dekret Friedrich Wilhelms IV.26 erging, wurde schon für die preußische Verfassung von 1850 die General-Begnadigung als Prärogative des Parlaments anSchutz des Gesetzes haben" (Mirabeau, Über den Staatsbankerott [München 1921] S.91). Vgl. auch Rienzi, 1. Akt, 2. Szene: "Nur das Gesetz will ich erschaffen, dem Volk wie Edle untertan." 22 Wie es laut Presseberichten in Polen nach den sog. Juni-Unruhen des Jahres 1976 für die Arbeiterschaft erstrebt wurde. Klassenjustiz auf dem Wege in eine klassenlose Gesellschaft! 23 BVerfGE 4, 219 (243); 8, 332 (361); 10, 234 (239, 241 ff.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Mirabeau, a.a.O. (Fußn.21) S.88: "Das Gesetz muß als Ausdrucksmittel des allgemeinen Willens gleichmäßig für alle Angelegenheiten sein ... " (Art. 5). 24 Die Jungfrau von Orleans, 3. Aufzug, 4. Auftritt. !6 Vgl. schon Metternich (aus Metternichs nachgelassenen Papieren, hrsg. von Fürst Richard Metternich-Winneburg, 3. Teil, Wien 1884), Nr. 1974, S. 540 f. 28 Abgedr. in: Reden und Trinksprüche Sr. Majestät Friedrich Wilhelm des Vierten, Königs von Preußen (Leipzig 1855) Nr. 215, S. 286; vgl. hierzu auch ausführlich Adolf Streckfuß, 500 Jahre Berliner Geschichte, 4. Aufl., Bd. II (Berlin 1886) S.1013 f.; siehe ferner Felix Rachfahl, Deutschland, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution (Halle 1901) S. 178 ff., insbes. S.180; Adolf WoZft, Berliner Revolutionschronik I (Berlin 1849) S. 201 ff.; Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. (Berlin 1938) S.405; Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49, Bd. 1 (Berlin 1930) S. 449.

1. Rechtsstaat und Amnestie

erkannt27• Der (Allein-)Herrschaft über die Gesetzgebung entkleidet, wurde der Souverän auf die Individual-Begnadigung verwiesen. Art. 49 Abs.2 WRV statuierte ausdrücklich, daß (Reichs-)Amnestien eines Reichsgesetzes bedurften. Hieran mangelte es, als Vertreter des Reichs, der Stadtverwaltungen, der Gewerkschaften und gewisser politischer Parteien im sog. Bielefelder Abkommen28 "zur Entwirrung der aus dem Kapp-Putsch entstandenen Lage" Straffreiheit denen gewährten, "die in der Abwehr des gegenrevolutionären Anschlages gegen Gesetze verstoßen haben"l9, - Indiz für einen durch die Novemberrevolution30 bis in seine Grundfesten erschütterten und auch durch das Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung noch nicht konsolidierten Rechtsstaa~l oder Beweis für den (außernormativen) Handlungszwang einer im momentanen Machtbesitz befindlichen Exekutive in der Stunde des inneren Notstandes? Die Kriegsgerichte verneinten jedenfalls zu Recht eine Bindung an dieses Abkommen3%, da es keine gesetzliche Amnestie darstellte33• Der von der Reichsregierung erwogene, aber wegen Mangels an Arbeitskräften als undurchführbar aufgegebene Plan, alle Urteile von Amts wegen daraufhin zu überprüfen, ob wegen eines Widerspruchs zum Bielefelder Abkommen ein Gnadenerweis durch den Reichspräsidenten 27 VgI. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 3,2. Aufl. (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970) S. 63. 28 Vom 24.3.1920, abgedr. in: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd.3 (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966) S.227 Nr.217; vgI. hierzu auch Cart Severing, Mein Lebensweg, Bd. I (Köln 1950) S. 262 ff.; dens., 191911920 im Wetter- und Watterwinkel (Bielefeld 1927) S. 170 ff. 29 a.a.O., sub 2. 30 VgI. in diesem Zusammenhang auch E. R. Huber, Rechtsfragen der November-Revolution - Die Anerkennung der revolutionären Staatsgewalt und Staatsordnung in der deutschen Rechtsprechung nach 1918 in: Festschrift für Friedrich Schaffstein (Göttingen 1975) S. 53 ff. 31 Vgl. hierzu auch E. R. Huber (Fußn.30) S.57. 32 VgI. Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Müller I, bearb. von Martin Vogt (Boppard a. Rh. 1971) Dok. Nr.87 S.210 Anm.2 u. 3 und Dok. Nr.98 S.247. Von der Reichsregierung wurde das "Bielefelder Abkommen" als "bindende Zusage" anerkannt (Akten der Reichskanzlei) a.a.O., Dok. Nr.45 S.114. 88 Das Problem der wegen Kompetenzüberschreitung unwirksamen Begnadigung tauchte schon in der Antike auf. Nach Cicero war die bei der Kapitulation des Volkstribuns L. Sarturninus vom Konsul C. Marius gegebene Zusicherung wegen Fehlens eines Senatsbeschlusses nichtig (Cicero, pro C. Rabirio X, 28: "Quae fides, Labiene, qui potuit sine senatus consulto dari?"); vgI. hierzu auch Mommsen, Römisches Strafrecht (Leipzig 1899) S.457, insbes. Fußn.3).

I. Rechtsstaat und Amnestie

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erfolgen sollte34 , wäre ohnehin als General-Begnadigung eine verkappte Amnestie und daher wegen Verstoßes gegen Art. 48 Abs. 1 und Abs. 2 WRV verfassungswidrig gewesen. Dagegen wurde der Form des Art. 49 Abs. 2 WRV Genüge getan, als der Reichspräsident durch Notverordnung am 21. März 193335, drei Tage vor Verabschiedung des " Ermächtigungsgesetzes "38, eine Amnestie für Straftaten erließ, die im Zusammenhang mit der sog. nationalen Erhebung begangen worden waren. Notverordnungen konnten unter den weit gefaßten und interpretierten Voraussetzungen des Art. 48 Abs.2 WRV alles gebieten oder verbieten, wozu ein Reichsgesetz erforderlich oder ausreichend war37. Die Formfrage erlangte später im Prozeß gegen Tillessen, einen der Mörder Erzbergers, Bedeutung. Obwohl von der Amnestie des Reichspräsidenten erfaßt, wurde er 1946 in Freiburg wegen Mordes angeklagt. Während der Generalstaatsanwalt die Amnestie vom 21. März 1933 u. a. wegen ihres Charakters als Notverordnung für "nichtig und rechtsunwirksam" hielt38, sprach ihn das Gericht wegen der Amnestie frei. Die französische Besatzungsmacht, mit diesem Prozeßausgang unzufrieden, entließ den Richter, verhaftete Tillessen erneut und stellte ihn in Konstanz vor Gericht mit qem ausdrücklichen Befehl, die Amnestie des Reichspräsidenten als nicht existent zu behandelnS9 • Dieser Vorfall erhellt schlagartig das magische Dreieck von Gesetzlichkeit, Gerechtigkeit und Macht. Die Amnestie des Reichspräsidenten vom 21. März 1933 zeigt die Dämmerung des parlamentarischen Rechtsstaats an. Mit seinem Untergang endete auch die in einer längeren Entwicklung errungene GnadenGewaltentrennung. Da die Reichsregierung auf Grund des ErmächVgl. Akten der Staatskanzlei (Fußn.32), Dok. Nr.98 S. 248 Anm. 10. Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit v. 21. 3. 1933 (RGBl. I S. 134); vgl. hierzu Ulrich Kuss, Die materielle Problematik der politischen Reichsamnestien 1918/1933 (Breslau 1934) § 9, S. 68 ff. se Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich v. 24.3.1933 (RGBl. I S.141). 17 Anschii.tz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (Nachdruck der 14. Auft. Berlin 1933, Bad Homburg 1960) Art. 48 Anm. 14, S.284. as Vgl. Plädoyer des Generalstaatsanwalts Bader in Freiburg im Prozeß gegen Heinrich Tillessen, gehalten am 27.11.1946, abgedruckt in: Die Wandlung, 1947 S. 69 H. (S. 89). 38 Vgl. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie (Berlin 1962) S. 433 ff.; Jescheck, Erzberger Mörder-Fall in: Wörterbuch des Völkerrechts, hrsg. von Schlochauer, Bd. 1 (2. Auft., Berlin 1960) S.440; ferner auch Curt Riess, Der Mann in der schwarzen Robe (Stuttgart, Hamburg o. J.) S.338. 34

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I. Rechtsstaat und Amnestie

tigungsgesetzes als Gesetzgeber fungierte, ging der Vorbehalt des Gesetzes, der für Amnestien durch das Gesetz zur überleitung der Rechtspflege auf das Reich40 bestätigt wurde, ins Leere. So wurde auch das Straffreiheitsgesetz vom 7. August 193441 von der Reichsregierung beschlossen. Durch die Vereinigung des Amtes des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers42 waren das Recht zur Begnadigung, zur Niederschlagung von Strafverfahren und zur Amnestie schließlich allein in der Hand der Exekutive. Nach 1945 haben Grundgesetz und Länderverfassungen ausdrücklich43 oder stillschweigend44 an die parlamentarisch-rechtsstaatliche Tradition der Amnestiegesetzgebung angeknüpft. 3. Außer in den Fällen nationaler Feiern, Gedenktage und Jubiläen oder freudiger Ereignisse für die Allgemeinheit45 - in Monarchien auch im Herrscherhaus - schließen Amnestien im allgemeinen Ausnahmezustände ab, in denen Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein gelitten haben. Nach dem Ende von Kriegen46 , Umstürzen, Aufständen47 oder 40 Vgl. Art. 2 Abs.2 des Ersten Gesetzes zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich v. 16.2. 1934 (RGBl. I S. 91). 41 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit v. 7.8.1934 (RGBI. I S.769). 42 Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches v. 1. 8.1934 (RGBl. I S.747); vgl. ferner § 8 des Reichsstatthaltergesetzes v. 30.1.1935 (RGBl. I S. 65). 43 Vgl. Art. 52 Abs.2 bad.-württ. Verf.; Art. 121 Abs.3 Brem. Verf.; Art. 44 Abs.2 Hamb. Verf.; Art.27 Abs.2 nds. Verf.; Art.59 Abs.2 NRW-Verf.; Art. 103 Abs.2 rh.-pf. Verf.; Art. 95 Abs.2 saarl. Verf.; Art. 27 Abs.2 sch1.-h. Verf. 44 Vgl. Art. 60 GG; Art. 47 Abs.4 bayer. Verf.; Art. 68 Berl. Verf.; Art. 109 Abs.l hess. Verf.; vgl. auch dessen Abs. 3. 45 Freudige Ereignisse haben schon im Altertum zu allgemeinen Begnadigungen (Amnestien) geführt; vgl. Wolfgang Waldstein, Untersuchungen zum römischen Begnadigungsrecht (Innsbruck 1964) S.154, 184 sub IV; Heinrich SibeT, Römisches Verfassungsrecht in geSchichtlicher Entwicklung (Schauenburg 1952) S.366; Gustav Geib, Geschichte des römischen Kriminalprozesses bis zum Tode Justinians (Leipzig 1842) S.371; Wilhelm Rein, Das Criminalrecht der Römer (Leipzig 1844) S.272; Wilhelm GTewe, Gnade und Recht (Hamburg 1936) S. 54. 48 Vgl. z. B. Art. 7 des Abkommens zwischen dem Deutschen Reiche und der russischen sozialistischen föderativen Sowjetrepublik über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten vom 19. 4. 1920 (RGBl. S.1184), wonach beide Vertragsteile volle Straffreiheit denjenigen Heimgeschafften gewähren, "die durch politische Tätigkeit oder mit der Waffe die Verfassung ihres Heimatstaats bekämpft haben". Siehe ferner Art. 1 des Gesetzes, betreffend die Gewährung von Straffreiheit an Personen aus den Abstimmungsgebieten sowie die Abänderung des deutsch-polnischen Vertra.

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Zeiten der Not, die bekanntlich kein Gebot kennt;48, signalisieren sie Vergessen 49 und Neubeginn und dokumentieren zugleich die Stabilität des Staates. Amnestien wollen eine Befriedung erreichen, hinter der die Verwirklichung des Rechts und die Durchsetzung von Strafdrohungen ausnahmsweise zurücktreten sollen50 • So bezweckte das Straffreiheitsgesetz von 1954 die "Bereinigung der durch Kriegs- oder Nachkriegsereignisse geschaffenen außergewöhnlichen Verhältnisse"61. Neben staatsrechtlichen (sog. bürgerlichen oder Militär-62)Amnestien hatten früher völkerrechtliche Amnestien Straffreiheit in der Erkenntnis gewährleistet, daß in Kriegen Rechtsverstöße regelmäßig von beiden Seiten begangen werden und nach Kriegsende die Exekution allein des Siegerrechts inopportun ist5s. Die Ideologisierung kriegerischer Auseinandersetzungen macht heutzutage eine ritterlicheM oder auch nur ges über die vorläufige Regelung von Beamtenfragen vom 9. 11. 1919 v. 23. 1. 1920 (RGBI. S. 91). Amnestievereinbarungen finden sich auch noch in den mit der Ukraine und Finnland geschlossenen Friedensverträgen. Vgl. Siegfried Loewenstein, Die Reichsamnestie der Friedensverträge und Revolutionsgesetze des Deutschen Reichs (Berlin 1919), insbes. S. 16 ff. 47 Nach der vollständigen Niederwerfung des ungarischen Aufstandes trat insbesondere Zar Nikolaus I. dafür ein, lediglich die Führer der Revolution zu bestrafen, im Interesse einer dauerhaften Befriedung aber für die Masse der Verführten "Gebrauch vom Schönsten aller unserer Herrscherrechte zu machen: von einer recht verstandenen Milde" (Schreiben an Kaiser Franz Joseph 1., Warschau 4/16.8.1849; Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kabinettsarchiv, Geheimakten, Karton 8, Stück Nr.10; den genauen Nachweis der Fundstelle verdanke ich einer liebenswürdigen Auskunft der Direktion des österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchivs). Vgl. im übrigen Rudotf KißHng, Die Revolution im Kaisertum Österreich 184811849, Bd.2 (Wien 1948) S. 291 ff. 48 Zu dem Sprichwort "Noth hat kein Gebot" vgl. J. H. HiUebrand, Rechtssprichwörter (Fußn.4) Nr.268 S. 188 ff.; Graf / Dietherr, Rechtssprichwörter (Fußn. 4) S. 388 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch Goethe, Faust, 2. Teil, 1. Akt, Weitläufiger Saal: "Gesetz ist mächtig, mächtiger ist die Not." 49 Das ist auch die Bedeutung des griechischen Begriffs "amnestia". Vgl. Waldstein (Fußn.45) S. 31 f. 50 Vgl. BVerfGE 10, 234 (241); siehe auch JuHen Freund, Amnestie ein auferlegtes Vergessen, Der Staat Bd. 10 (1971) S. 173 ff. 51 § 1 des Gesetzes über den Erlaß von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren (Straffreiheitsgesetz 1954) v. 17.7.1954 (BGBI. I S. 203); vgI. hierzu auch BVerfGE 10,234. 52 Vgl. Erwin Wenz, Die Amnestien des Reichs und der Länder seit der Reichsgründung und ihre staatsrechtlichen Grundlagen (Diss. Schramberg 1935), S. 3 f. 53 Vgl. Hermann Scharbatke, Die Generalamnestie im Friedensvertrag mit besonderer Berücksichtigung des Westfälischen Friedens (Diss. Würzburg 1974); Wenz (Fußn.52) S. 47 ff. m. weiteren Nachw. 2 Speyer 74

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menschliche Haltung vielfach unmöglich65• Der Sieger zwingt dem Besiegten einseitig Gesetze und Gerechtigkeitsvorstellungen nicht nur rückwirkend auf56, sondern schafft sich auch statt oder neben steinernen Monumenten lebende Mahnmale seines Triumphes. Spandau61, Breda und Gaeta68 sind abstoßende Beispiele eines unstillbaren und unversöhnlichen, deswegen aber inhumanen und unzivilisierten "gnadenlosen" Rache-Dursteg59. Anzahl und Intensität von Amnestien sind Indikatoren für den inneren Zustand eines Staates. Im Deutschen Reich von 1871 waren Amnestien, die fast ausschließlich von den Bundesstaaten erlassen wurden, sehr selten80• 1914 und danach kam es zu Kriegsamnestien61 , denen der 64 Wie sie etwa bei der Gefangennahme Napoleons UI. geübt wurde. Vgl. hierzu den Immediatbericht Bismarcks vom 2. 9. 1870 über das Treffen mit Napoleon UI. nach Sedan (Werke in Auswahl, hrsg. von Scheler, 4. Bd. [Darmstadt 1968] S. 519); ferner auch Graf v. MoUke, Geschichte des deutsch-französischen Krieges von 1870 -71, Schlacht von Sedan (1. September) in: Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, Bd. IU, 2. Auft. [Berlin 1891] S. 97 f. 66 Vgl. für das Verhältnis des Deutschen Reiches zur Sowjetunion Maurach, Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Gefangene in der Sowjetunion (Hamburg 1950) S.22; vgl. in diesem Zusammenhang auch Julien Freund (Der Staat, Bd. 10 [1971] S. 182), wonach "die Anerkennung des Feindes mit seinen Rechten" den Voraussetzungen des Marxismus widerspricht. 66 Vgl. insbesondere für die Sowjetunion Maurach, a.a.O., S. 8 ff., 29, 49. 67 Vgl. in diesem Zusammenhang die Anfrage des Abg. Prof Dr. Abelein (CDU/CSU) hinsichtlich der Bemühungen der Bundesregierung, bei den Vorbereitungen des Besuchs des sowjetischen Staats- und Parteichefs eine befriedigende Klärung des Schicksals von Rudolf HeB zu erreichen (57. Sitzung des 8. Deutschen Bundestages v. 23. 11.1977, Steno Ber. S. 4391 f.); siehe ferner das völkerrechtliche Gutachten V. 6.3.1974 zum Fall Rudolf HeB, erstattet von Blumenwitz in: HeB - Weder Recht noch Menschlichkeit, hrsg. von Wolf Rüdiger Heß (Leoni 1974) S. 129 ff. Eine Klage von Rudolf HeB gegen die Bundesrepublik Deutschland mit dem Antrag, bestimmte Schritte zum Zwecke seiner alsbaldigen Freilassung zu unternehmen, wurde vom VG Köln abgewiesen (Urt. V. 19. 12. 1977 - 1 K 1730/77). Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (Beschl. v. 7.6. 1978 - 1 BvR 70/78). 68 Vgl. Claudio Schwarzenberg, KappIer e le fosse Ardeatine (1977). Zu den summarischen Exekutionen im Kriege vgl. Erich Schwinge, Summarische Exekutionen, in: Festschrift für Erich Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag (München 1977), S. 185 ff. 58 Vgl. Seneca, Von der Gnade: "Grausam möchte ich daher diejenigen nennen, die zwar einen Grund zum Strafen, aber kein Maß darin haben ..." (Werke, 1. Abteilung, übersetzt von J. M. Moser, [Stuttgart 1828] in: Römische Prosaiker in neuen "übersetzungen, 19. Bändchen, S. 539). 00 Vgl. Wenz (Fußn.52) S. 3 f., 11 ff.

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altdeutsche, schon im Sachsenspiegel62 erwähnte Gedanke zugrundelag, durch Leistung von Kriegsdienst Schuld zu sühnen und sich zu bewähren. Die Flut des Umsturzes von 1918 schwemmte Revolutionsamnestien in reicher Zahl ans Land63• Bereits am 12. November 1918 verkündete der sog. Rat der Volksbeauftragten, um "das sozialistische Programm zu verwirklichen", "mit Gesetzeskraft" eine Amnestie "für alle politischen Straftaten" und schlug alle wegen solcher Straftaten anhängigen Verfahren niede~4. Diese Verordnung wurde durch die "Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit und Strafmilderung"85 und die "Verordnung über eine militärische Amnestie"66 erweitert und durch § 1 Satz 2 des von der verfassungs gebenden deutschen Nationalversammlung beschlossenen Übergangsgesetzes67 bestätigt. In der unruhigen und labilen Weimarer Republik wurde die Amnestie gleichsam zu einer Art von Wiederkehr-Gesetzgebung: Kapp-Amnestie68, Rathenau-Amnestie69 , Hindenburg-Amnestie7o, Koch-Amnestie71 , Nachweise bei Wenz (Fußn. 52) S. 6 ff. 1. Buch, Art.38: " ... in sein Recht kan er aber nicht komen/er streite oder diene dann vor deß Keysers schar/da er einen andern König mit streit bestehetlso gewinnet er sein Recht wiederumb/ aber nicht sein gutldas ihm vertheilet war." (Sachsenspiegel, hrsg. von Christoff Zobel, Leipzig 1582.) 88 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Loewenstein (Fußn.46), insbes. S. 18 ff.; K. Meyer, Deutsche Strafrechts-Zeitung 1919, Sp. 16 ff. G4 Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. 11. 1918 (RGBl. S. 1303) sub Nr. 6. Vgl. hierzu E. R. Huber, Rechtsfragen der Novemberrevolution (Fußn.30) S. 53 ff., insbes. S. 67 ff.; Kuss, (Fußn.35), § 2, S. 12 ff.; Wenz, (Fußn.52) S.15 ff.; nicht durchgängig überzeugend RaSt 53, 52. Vgl. auch RaSt 53, 39 (41). 66 Vom 3. 12. 1918 (RGBl. S. 1393). 66 Vom 7.12.1918 (RGBl. S. 1415). 87 Vom 4.3. 1919 (RGBl. S. 285). 68 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit v. 4.8.1920 (RGBl. I S.1487). Vgl. Kuss (Fußn.35) § 3 S. 20 ff.; siehe Wenz (Fußn.52) S. 24 ff.; ferner das Schreiben des Reichsjustizministers Blunck an die Reichsregierung vom 16.4.1920 (Akten der Reichskanzlei, Das Kabinett Müller I, [Fußn.32], Dok. Nr.45 S. 114). 89 Gesetz über Straffreiheit für politische Straftaten v. 21. 7. 1922 (RGBl. I S. 595). Hierzu Kuss (Fußn.35) § 4, S. 33 ff.; vgl. ferner Wenz (Fußn.52) S. 29 ff. und die Kabinettssitzungen in der Zeit vom Mai 1921 bis Juli 1922 sowie die Besprechung mit Parteiführern vom 17.3.1922 in: Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Die Kabinette Wirth I und H, bearb. von Ingrid SchulzeBidlingmaier, Boppard 1973, Band 1 (Mai 1921 - März 1922), Dok. Nr. 128 S. 353, Dok. Nr. 171 S.477, Dok. Nr. 186 S.511, Dok. Nr. 225 S. 618; Band 2 (April- November 1922), Dok. Nr. 303 S. 911 ff., Dolt. Nr. 311 S.937. 61

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Rheinland-Räumungs-Amnestie72 und Schleicher-Amnestien folgten einander. Nach Gründung der Bundesrepublik haben die Straffreiheitsgesetze von 194974 und 195475 der anormalen Kriegs- und Nachkriegssituation Rechnung getragen und Strafen erlassen sowie Straf- und Bußgeldverfahren niedergeschlagen. Häufige Amnestien können die Rechtssicherheit und damit auch den Rechtsstaat erschüttern. Als Maßnahmegesetze76 für einen bestimmten Zeitraum und/oder bestimmte Straftaten verdrängen sie die strafrechtlichen Normen, in denen sich die allgemeinen Wertvorstellungen des Volkes dokumentieren77 • Auf diese Weise leiden Rechtsbewußtsein und Rechtsüberzeugung78, verwirren sich die Auffassungen von "Recht" und "Unrecht"79. Die Rechtssicherheit hängt aber gerade von der Stärke 70 Gesetz über Straffreiheit v. 17.8.1925 (RGBl. I S.313). Hierzu Kuss, (Fußn.35), § 5, S. 38 ff.; Wenz, (Fußn.52) S. 32 ff. Vgl. ferner die Ministerbesprechungen vom Januar bis Mai 1925 (Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Die Kabinette Luther I und II, Band 1 bearb. v. Karl-Heinz Minuth, Boppard 1977, Dok. Nr. 11 S. 33 ff., Dok. Nr. 15 S.54, Dok. Nr. 80 S. 267 f., Dok. Nr.84 S.280). Ferner die Besprechung v. 28.8.1924 (Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Marx I und II, Bd. 2, Juni 1924 - Januar 1925 bearb. von Günter Abramowski, Boppard 1973, Dok. Nr. 289 S. 1005). 71 Gesetz über Straffreiheit v. 14.7.1928 (RGBl. I S. 195). Vgl. in diesem Zusammenhang die Ministerbesprechung vom 1. 7. 1928, Akten der Staatskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Müller II, Band 1 (Juni 1928 - Juli 1929), bearb. von Martin Vogt, Boppard 1970, Dok. Nr.5 S. 11. Siehe auch Wunderlich, DJZ 1928 Sp.l171 ff.; Kuss (Fußn.35) § 6 S. 51 ff.; Wenz (Fußn.52) S. 34 ff. 72 Gesetz zur Anderung des Gesetzes über Straffreiheit vom 14.7.1928 (RGBl. I S.195) v. 14.10.1930 (RGBl. I S. 467); vgl. hierzu auch Schetter, DJZ 1930, Sp. 808; Kuss, (Fußn.35), § 7, S. 56 ff.; Wenz (Fußn.52) S. 37 ff. 78 Gesetz über Straffreiheit vom 20.12.1932 (RGBl. I S.559); vgl. hierzu auch Kuss (Fußn.35) § 8, S. 58 ff.; Wenz (Fußn.52) S. 39 ff. 74 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit v. 31. 12. 1949 (BGBl. s. 37); vgl. hierzu auch Schmidt-Leichner, NJW 1950, 41 ff. 75 s. Fußn. 51. 76 Ähnlich Kuss, (Fußn.35), S.73, wonach Amnestiegesetzgebung sehr häufig "Bedarfsgesetzgebung" ist. Die Besonderheit der Amnestie erkennt auch August Pralle, Die Begnadigung als fehlerhafter Staatsakt (Breslau-Neukirch 1934). Unrichtig ist es jedoch, den Gesetzesbegnadigungsakt als Verwaltungsakt in der Form der Allgemeinverfügung anzusehen (a.a.O., S. 106 f.). 77 Vgl. BVerfGE 39,1 (46). 78 Vgl. hierzu Bismarck, Rede in der Zweiten Kammer v. 22.3.1849 in: Rothfels, Bismarck und der Staat (Darmstadt 1958) S.19; s. ferner Riezler, Rechtsgefühl (Fußn. 21) S. 113. 711 Vgl. hierzu BVerfGE 39,1 (57,59).

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des nationalen Rechtsgefühls abso, und dieses Rechtsgefühl ist nach IheringS! das kostbarste Gut für einen Staat, der nach außen geachtet und im Inneren fest und unerschüttert dastehen will. Im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung sowie der Autorität des Staates waren in den Reichskabinetten der Weimarer Republik insbesondere von den Reichsministern der Justiz, des Innern und vom Reichswehrminister immer wieder Bedenken gegen allzu häufige Amnestien geäußert worden82• Reichsjustizminister Dr. Radbruch83 hatte darauf verwiesen, daß diese Amnestien "zu einer Verlotterung des Strafrechts führten". Gegen eine vom Reichstag beschlossene Amnestie für Fememörder hatte der Reichsrat im Juli 1930 auf Antrag des sozialdemokratisch regierten Preußen gleichsam als "Nein-Sage-Maschine" zunächst8 4 mit Erfolg Einspruch eingelegt. Zur Begründung führte er aus, daß eine Amnestierung zur Begehung weiterer schwerer Straftaten anreizen könne85• 4. Vornehmste Aufgabe des Rechtsstaates ist es, die Rechtsordnung als eine Friedensordnung nach außen und im Innern zu wahren, die Rechte und Freiheiten der Bürger vor rechtswidrigen Übergriffen zu behüten und die gleichmäßige Anwendung der Gesetze sicherzustellen86• 80 Ihering, Der Zweck im Recht, 1. Bd., 4. Aufl. (Leipzig 1904) S.298; vgl. ferner Max Rümelin, Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein (Tübingen 1925) S.69. 8! Der Kampf ums Recht, 4. Aufl. (Wien 1874, Nachdruck Darmstadt 1974) S.69. 82 Vgl. insbesondere die Äußerungen der Reichsminister der Justiz Blunck (Schreiben v. 16.4.1920, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller I [Fußn.32], Dok. Nr.45 S. 114) und Radbruch (Kabinettssitzung v. 10. 1. 1922, Akten der Reichskanzlei, Kabinette Wirth I u. II [Fußn. 69] Bd. 1, Dok. Nr. 186 sub 2, S. 511) und des Reichswehrministers Dr. Geßler (Kabinettssitzung v. 28. 8. 1924, Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Marx I u. II, Bd.2 [Fußn.70], Dok. Nr. 289 sub 2 S. 1005. 83 Kabinettssitzung vom 10. 1. 1922 (Fußn. 82). 84 Wenige Monate später wurde eine mit dem gescheiterten Gesetz wörtlich übereinstimmende Amnestie (Rheinland-Räumungs-Amnestie) vom Reichstag verabschiedet, vgl. hierzu oben S. 20 sowie Wenz (Fußn. 52) S. 39. 86 Siehe Schreiben des Reichsministers der Justiz vom 12.7.1930 (Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode, Drucks. Nr.235O) vgl. auch Wenz (Fußn. 52) S. 39. 86 Vgl. in diesem Zusammenhang die Präambel der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. 4. 1871, wonach ein ewiger Bund "zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes" geschlossen wurde. Ferner Art. 2 schweiz. Bundesverfassung: "Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der

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Der Schutz der "Hoheit des Rechtes" ist bereits Wert und Nutzen an sich87• Dem Staat der Neuzeit, der die Gewalt bei sich monopolisiert hat88, obliegt die Sicherung bedrohter und die Wiederherstellung verletzter Rechte, der Schutz der "Unverbrüchlichkeit der gesetzlichen Ordnung"89, als Staatsaufgabe. Da das Vertrauen in die menschliche Einsichtsfähigkeit80 und die Hoffnung auf eine freiwillige Befolgung der Gesetze allein nicht ausreichen, muß der ~echtsstaat Sanktionen gegen diejenigen vorsehen, die die Gesetze mißachten, übertreten und sich damit außerhalb der Gemeinschaft stellen, a-sozial werden91 • Andernfalls würden die gesetzestreuen Bürger den Respekt vor dem Gesetz verlieren und sich ihm nicht mehr unterordnen92 , würde die Staatsautorität zur "verhöhnten Vogelscheuche" werden93 • Zum Schutze essentieller Rechtsgüter ist der Gesetzgeber nicht nur berechtigt, sondern sogar verfassungsrechtlich verpflichtet, Strafandrohungen zu erlassen94 • Denn die Strafbewehrung der Normverstöße beeinflußt die Verhaltensweise der Normadressaten und wirkt abschreckend", weshalb auch die lebenslange Freiheitsstrafe eine wichUnabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt." Siehe ferner Kleist, Michael Kohlhaas (Gespräch mit Luther): "Verstoßen ... nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja, er ist es, dessenhalb ich mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese Gemeinschaft ftüchte"; (Werke, hrsg. von H. Sembdner, München, S.614). 87 Hierzu GuaTdini (Fußn. 9) S. 45. 88 Hierzu MeTten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol (Tübingen 1975). 89 Stahl, Der christliche Staat und sein Verhältnis zu Deismus und Judenthum (Berlin 1847) S. 62. 90 Vgl. Platon, Der Staatsmann, 291 c bis 303 d; auch Gigon / ZimmeTmann, Platon, Lexikon der Namen und Begriffe, S. 141. 81 Vgl. auch Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 5. Kapitel (hrsg. von Weinstock, Stuttgart 1957) S.66; IheTing, Der Zweck im Recht, Bd.1 (Fußn. 80) S. 443. 92 Vgl. FleineT, (Fußn.6) S.80. 83 ETnst v. Beting, Die Vergeltungsidee und ihre Bedeutung für das Strafrecht (Leipzig 1908, Nachdr. Aalen 1978) S. 37; vgl. auch ShakespeaTe, Maß für Maß, 2. Aufzug,!. Szene: "Das Recht darf nicht Vogelscheuche werden." 94 Vgl. BVeTfGE 39, 1 (65); 27, 18 (29 sub 2 b); ferner Listl, Art. Strafrecht, in: Philosophisches Wörterbuch, 14. Auft. (Freiburg 1976) S.380; MeTten, Aktuelle Probleme des Polizeirechts (Berlin 1977) S. 102 f. 86 Vgl. hierzu BVeTfGE 39,1 (57); 46, 214 (222 f.); auch E 21,378 (384 sub 2 a); siehe ferner den Bericht des Sonderausschusses für Strafrechtsreform, BTDrucks. 7/1981, S.10 1. Sp.

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tige Funktion erfüllt". Der Strafe kommt "sittenbildende Kraft"97 zu, und sie verdeutlicht in Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsauffassung ein "bewußtseinbildendes Unwerturteil"98. Aus diesem Grunde stellt auch die Generalprävention99 einen legitimen Strafzweck dar: "punitur, ne peccetur"l00. Der Rechtsstaat bedarf einer funktions96 So BVerfGE 45, 187 (254); vgl. auch die Antwort des Chefs der Staatskanzlei des Landes Rheinland-Pfalz, Hilf, v. 16.6. 1976 auf die Kleine Anfrage des Abg. Haberer (CDU) - LT-Drucks.8/1209. Zur Problematik der lebenslangen Freiheitsstrafe vgl. Röht, über die lebenslange Freiheitsstrafe (Berlin 1969); Kreuzer, ZRP 1977, 49 ff.; Triffterer, ZRP 1970, 13 ff.; 1976,91 f.; Triffterer I Bietz, ZRP 1974, 141 ff.; Erichsen, NJW 1976, 1721 ff.; Dreher in: Festschrift für Richard Lange (Berlin 1976) S. 323 ff. 97 So Helmut Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1967) § 3 I 2 a S.21. Schon FTiedTich der Große bezeichnete das Strafrecht als das Recht, "das die Sitten betrifft" (über die Grunde, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen, 1749, in: Die Werke Friedrichs des Großen, hrsg. von Volz, Bd.8 [Berlin 1913] S.31). 98 BVerfGE 45, 187 (254, 256 f.); vgl. auch E 27, 18 (29 sub 2 a); Georg Dahm, Deutsches Recht (2. Aufl. 1963) S. 18. Dt Zur Generalprävention grundlegend Anselm Ritter 'Von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, hrsg. von Mittermaier, 14. Aufl. (Gießen 1847, Nachdr. Aalen 1973) §§ 8 ff., insbes. § 13, wonach die gesetzliche Strafdrohung bezweckt, "daß Jeder weiss, auf seine Tath werde unausbleiblich ein Uebel folgen, welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nichtbefriedigten Antrieb zur Tath entspringt"; siehe auch August Köhler, Der Vergeltungsgedanke und seine praktische Bedeutung (Leipzig 1909, Nachdr. Aalen 1978), insbes. S. 137 ff.; Wilhelm 'V. Humboldt, Ideen zu einem Versuch (Fußn. 16) Kap. XIII, S. 179, 185, 195. Zur heutigen Auseinandersetzung vgl. Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil (Tübingen 1970), 3/12, S. 34 f.; 3/16, S. 36 f.; 3/23, S. 41; 4/9, S. 54 f.; 5115, S. 72 ff.; dens., Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl. (Göttingen 1971) S. 24 ff.; 30 ff., 53 ff.; dens. in: Merten, Aktuelle Probleme des Polizeirechts (Berlin 1977) S. 54 f.; Maurach I Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. (Karlsruhe 1977) S. 88 f.; Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 16. Aufl. (München 1975) S. 330 ff.; Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. (Bielefeld 1977) S. 16; Stree in: Schönke I Schröder, StGB, 19. Aufl. (München 1978) Vorbem. zu §§ 38 ff. Rdnr.l ff.; Nowakowski, Freiheit, Schuld, Vergeltung, in: Festschrift für Theodor Rittler (Aalen 1957) S. 55 ff., insbes. S. 86 f.; Ostendorf, ZRP 1976, 281 ff. Zu einseitig Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip (Heidelberg 1961) S.202; Roxin, JuS 1966, S. 377 ff., insbes. S.380 sub A III; Paul Bockelmann, Vom Sinn der Strafe, in: Heidelberger Jahrbücher Bd.5 (Berlin, Göttingen, Heidelberg 1961) S. 25 !f., 33; Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. (Köln, Berlin, Bonn, München 1974) 2. Kap. sub II S. 236 ff. Vgl. neuestens BVerfGE 45, 187 (254 ff.); im übrigen auch BGHSt 20, 264 (267). Zur Generalprävention im öffentlichen Recht vgl. Bettermann, DVBl. 1976, 66 sub V 1; BVerwG, Beschl. V. 6.1.1978, BayVBI.1978, 218; siehe aber auch BVerwG, DVBl. 1975, 790 (in Abweichung von BVerwGE 42, 133 [140] im Hinblick auf EuGH, DVBl. 1975, 777).

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tüchtigen Strafrechtspflege, die nach Maßgabe und im Rahmen der geltenden Strafgesetze Gesetzesbrecher verfolgt, aburteilt und bestraft101 . Denn die abstrakte Geltung der Strafgesetze allein reicht nicht aus, wenn und soweit im Falle ihrer übertretung für den Übeltäter nicht auch konkrete Folgen spürbar werden102. "Angemessene Vergeltungsstrafe ... verhilft dem Staatsbürger immer wieder zum Erlebnis der Gerechtigkeit und der sittlichen Überlegenheit des Staates10:t." Wer für eine Abschaffung des Strafrechts eintrittl° 4 oder an einen "Ersatz des Strafrechts durch Besseres"105 glaubt, weil er in dem Geset100 Dieser Gedanke geht auf Platon, Die Gesetze 934 B zurück (Sämtliche Werke, hrsg. von Erich Loewenthal, 6. Aufi., 3. Bd., Köln und Olten 1969 S. 617). Vgl. in diesem Zusamm.enhang auch Gorgias 525 B (Sämtl. Werke Bd. 1 S.406) und Protagoras 324 B (Sämtl. Werke Bd. 1 S.76). Zu Platons Straftheorie Otto Apert, Platonische Aufsätze (Leipzig und Berlin 1912), S. 196 ff. Auf Platons "Gesetze" bezieht sich auch Seneca, De ira, 1. Buch X 1 - 7: "in utroque non praeterita, sed futura intuebitur" (Philosophische Schriften, hrsg. von Manfred Rosenbach Bd. I, Darmstadt 1976 S. 140 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eberhard Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Auft. (Göttingen 1971) S. 18, 24 ff. Zum Abschreckungsgedanken in der Strafgesetzgebung Friedrichs des Großen vgl. Willenbücher (Fußn. 11) insbes. S. 10 f., 19 ff.; vgl. auch die KabinetsOrdre v. 13.3.1786 (abgedruckt a.a.O. S.20 Fußn. 2): "Denn zu Erhaltung der Sicherheit des Publicums müssen dergleichen Verbrecher, welche Leuthe auf denen Land- und Heerstraßen befallen, nothwendig exemplarisch bestraft werden, um andre abzuschrecken." 101 Vgl. hierzu BVertGE 29, 183 (194); 33, 367 (383); 38, 105 (115 f.); 312 (321); 39, 156 (163); 41, 246 (250); 45, 187 (256); 46, 214 (222 f.). 102 Vgl. hierzu auch Max Rümelin, Rechtssicherheit (Tübingen 1924) S. 41; Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch (Fußn. 16) Kap. XIII, S. 198. 103 Nowakowski (Fußn.99) S. 86 f.; vgl. auch Ernst v. Beling (Fußn.93) S. 36 ff., der auf die Bedeutung der Autorität und des Selbsterhaltungsinteresses des Staates als Gründe für eine strafrechtliche Vergeltung hinweist. 104 So Adolt Arndt, Strafrecht in einer offenen Gesellschaft in: Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages Bd.2 (München 1968) Teil J, J 10 (auch abgedruckt in: Adolt Arndt, Gesammelte juristische Schriften, hrsg. von Böckenförde und Lewald, München 1976, S. 207 ff. [212]). Kennzeichnend für diese Entwicklung sind auch die Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages (Stuttgart 1976) über das Thema: "Empfiehlt es sich, in bestimmten Bereichen der kleinen Eigentums- und Vermögenskriminalität, insbesondere des Ladendiebstahls, die strafrechtlichen Sanktionen durch andere, z. B. zivilrechtliche Sanktionen abzulösen, gegebenenfalls durch welche?" In diesem Zusammenhang weist Deutsch darauf hin, das Aufkommen der Kaufhäuser, Supermärkte und Selbstbedienungsläden habe "die äußeren Barrieren zwischen Ware und Erwerber verschwinden lassen", und die moderne Verkaufspsychologie habe "auch die seelischen Sperren zwischen Verkaufsware und potentiellem Käufer durch mannigfache Kaufanreize durchbrochen". (Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages Bd.1, München 1976, E 16 sub II 1.) Gunter Arzt meint, "die Grenze zwischen Diebstahl und sozialadäqua-

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zesbrecher nur den - von der Gesellschaft oder dem "System"? Verführten oder den Hilfsbedürftigen siehtlO6 , offenbart nicht nur weltferne Naivität, sondern trägt zur Aushöhlung der Rechtsordnung, zur Zerstörung eines gesunden Rechtsgefühls und zur Verführung der Schwachen bei. Schon PZaton l07 betonte, daß Unrecht tun und straflos bleiben "das allergrößte und erste der übel" ist. Daher darf Kriminalpolitik nicht nur als ultima ratio der Sozialpolitik betrieben und die Sozialschädlichkeit des Täters nicht als einzige Legitimation staatlichen Strafens angesehen werden. Der Staat erschüttert das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechts, wenn er Strafrechtsnormen nicht auf Dauer korrigiert oder reformiert, sondern nur zeitweilig suspendiert. Die Kontinuität des Gesetzes als einer auf Dauer berechneten Bindung duldet grundsätzlich keine zeitweilige Lockerung oder Ent-Bindung. Es bedarf der Gewißheit: leges nostra secura suntlO8• Auf die Bedeutung der Gewohnheit für die Geltung der Gesetze hat AristoteZeslO9 hingewiesen. Amnestien können bei Normadressaten den unheilvollen Eindruck hervorrufen, als entfalle das staatliche Unwerturteil nicht nur zeitweise, sondern auf Dauer, als sei mit der rechtlichen Sanktionslosigkeit ter Eigenmächtigkeit des Kunden" werde unsicher und statt des general-

präventiven Effektes der Strafdrohung, der "illusionär" sei, könne dem Zivilrecht ein ausreichender Präventiveffekt zukommen oder beigelegt werden (Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages Bd. 2, München 1976, N 48 und N 52). 105 So Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 11. Auf!. (Stuttgart 1964) S.148; vgl. dens., Rechtsphilosophie, 5. Auf!. (Stuttgart 1956) § 22, S. 265 ff., insbes. S. 269. Gerade der Hinweis Radbruchs auf das Strafgesetzbuch der Sowjetunion und die spätere Reform des dortigen Strafensystems zeigen die Irrealität seiner Vorstellungen. Zur Wiedereinführung des Abschreckungszwecks im Strafsystem der UdSSR siehe Reinhard Maurach, Kriegsverbrecherprozesse (Fußn.55) S.50 m. w. Nachw.; zur Kritik an Radbruch vgl. auch Arthur Kaufmann in: Festschrift für Richard Lange (Berlin, New York 1976) S.27. 106 Kritisch hierzu Bockelmann (Fußn. 99) S. 33, der diese Bewegung als "anachronistisch" charakterisiert; vgl. dens., Schuld und Sühne (Göttingen 1957) S.16. 107 Gorgias 479 D (Sämtliche Werke, hrsg. von Loewenthal, Köln und Dlten 1969, Bd. 1 S. 348). 108 In Anlehnung an eine Formel von Plinius über die Rechtlichkeit Traians: "Testamenta nostra secura sunt"; vgl. hierzu Joseph Georg Wolf, Politik und Gerechtigkeit bei Traian (Berlin, New York 1978) S.15. 109 Aufzeichnungen zur Staatstheorie (sog. Politik), übersetzt von Walter Siegfried (Köln 1967), 2. Buch 69 a 12 - 28, S.88; siehe ferner Riezler (Fußn. 21) S.113 f.

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auch eine moralische Billigung verbunden110• Der amnestierte Gesetzesbrecher, der durch den Normverstoß möglicherweise persönliche Vorteile erlangt hat, mag hoffen, auch in Zukunft legal durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen, und in diesem Vertrauen gegen ihm mißliebige Normen verstoßen. Ja, er mag sogar durch erneute Auflehnung und Gewaltanwendung eine wirkliche oder vermeintliche Schwäche der Regierung ausnutzen und durch wiederholte Amnestien die Ohnmacht des Staates demonstrieren wollen 111 • Der gesetzestreue Bürger, der dem Gesetzesbefehl gehorcht und hierfür - z. B. in Kriegs- oder Krisenzeiten - persönliche Opfer erbracht hat11l!, ist in seinem Vertrauen auf die Gerechtigkeit enttäuscht113 und fühlt sich geprellt114• Das gilt insbesondere für Steueramnestien115, die Gesetzesloyalität affrontieren, Defraudation pramneren und Steuerunehrlichkeit provozieren116 • Schließlich muß der Diensteifer der Exekutive und Judikative nachlassen, wenn sie bemerken, daß die von ihnen gestellten und bestraften Gesetzesbrecher - durch Amnestien gleichsam in den Stand der Unschuld zurückversetzt - erneut gegen sie antreten 117• 110 Vgl. hierzu Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit (München 1971) S. 104; ferner BVerfGE 39, 1 (58). 111 Vgl. hierzu auch Bismarck, Rede in der Zweiten Kammer vom 22.3. 1849 (in: Rothfels [Fußn.78] S.19). 112 Weshalb auch die Amnestie des amerikanischen Präsidenten Carter vom 21. 1. 1977 für die Wehrdienstflüchtigen des Vietnam-Krieges wegen der Auswirkungen auf die allgemeine Moral und die "geistige Landesverteidigung" so problematisch war (vgl. Proclarnation Nr. 4483, Granting pardon for violations of the Selective Service Act [4.8.1964 bis 28.3.1973], Federal Register 42 F.R. 4391). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Amnestierung für Fahnenflucht oder Feigheit durch § 3 der Verordnung über eine militärische Amnestie des Rats der Volksbeauftragten v. 7.12.1918 (RGBl. S.1415). 113 Vgl. in diesem Zusammenhang Ernst Curtius, Blüte und Verfall Griechenlands (Wien, Leipzig, Olten 1936) S. 269 zu der Amnestie in Athen im Jahre 403 v. Chr. 114 Vgl. Fleiner (Fußn.6) S. 76 ff. 115 Hierzu Schweiz. Bundesgericht AS Bd.68, 46 (50 f.); FeHx Brupbacher, Die rechtsstaatliche Problematik der Steueramnestie (Diss. Zürich 1968); Fleiner, (Fußn.6) S. 74 f.; zu Steueramnestien in der Weimarer Republik vgl. Wenz (Fußn.52) S. 45 ff. m. w. Nachw.; Steueramnestien gab es schon in der Antike, s. Waldstein (Fußn.45) S.95. 118 Vgl. die ablehnenden Stellungnahmen einiger Schweizer Kantone zu Steueramnestien, zitiert bei Brupbacher a.a.O. S. 150 f. 117 Vgl. hierzu auch Bismarck (Fußn. 78) S. 20: "Der Soldat faßt es nicht, daß er einen und denselben Aufrührer mehrmals gefangen nehmen soll und voraussehen muß, daß derselbe sich ihm immer wieder von neuem gegenüberstellen wird."

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5. Problematisch ist deshalb das Straffreiheitsgesetz von 1970 118, das sich auf die zwischen 1965 und 1969 durch Demonstrationen oder im Zusammenhang hiermit begangenen Straftaten bezog und selbst kriminelle Delikte 119 bis zu einer verhängten Freiheitsstrafe von neun Monaten erfaßte 120 . Im Gegensatz zu der klassischen Amnestie ging diesem Straffreiheitsgesetz kein innerer oder äußerer Notstand voraus, und kann der bloße Regierungswechsel in einer parlamentarischen Demokratie nicht als politischer Umbruch angesehen werden, auch wenn ein "Machtwechsel"121 und der Aufbruch in eine neue Ära angekündigt wurden. Gleichsam als politische Morgengabe hat dieses Amnestiegesetz das Verlangen nach heftigeren Beweisen der Zuneigung nur geschürt. Es hat den Anfängen nicht gewehrt, sondern sie im Gegenteil vermehrt. Zu Recht bemerkt Robert von Mohzt 22 : "Eine Amnestie sich abtrotzen zu lassen von einer noch unbesiegten und feindselig gesinnten Partei ist der Gipfel der Schwäche und ein klares Bekenntnis der Unfähigkeit zur Vertheidigung des Rechtes."

Amnestie und Liberalisierung des Strafrechts haben Gewalt und Terror nicht besänftigt, sondern vielleicht sogar herausgefordert. Die Zunahme der Gewaltkriminalität123 und die Eskalation von Terrorismus und Anarchismus gerade in der jüngsten Zeit beweisen, daß der Rechtsstaat in der Vergangenheit eine unverzeihliche Schwäche gezeigt, auf Herausforderungen nicht prompt reagiert und den Kampf ums Recht zu spät und heute noch nicht entschlossen genug aufgenommen hat. Wenn der Krebsschaden der GewaItanwendung nicht rechtzeitig und 118

Gesetz über Straffreiheit v. 20.5.1970 (BGBL I

s. 509); vgl.

hierzu auch

Pinger (ZRP 1970, 75), der zu Recht betont, daß "eine Veränderung der parteipolitischen Konstellation als ein normaler Vorgang im demokratischen

Staat" keinesfalls Veranlassung für eine Amnestie geben könne. 119 Im Widerspruch hierzu steht die Erklärung des damaligen Bundeskanzlers Brandt (SPD) vom 19. 12. 1969, wonach sich eine solche Amnestie "auf kriminelle Exzesse" nicht werde erstrecken können (Bulletin v. 23.12.1969, Nr. 156 S. 1325). 120 Vgl. § 2 Abs. 2 und 3 des Gesetzes. 1111 In einem Interview mit der "Stuttgarter Zeitung" v. 8.3.1969 äußerte der damalige Bundesminister der Justiz Heinemann (SPD) nach seiner Wahl zum BundespräSidenten (!): "Es hat sich jetzt ein Stück Machtwechsel vollzogen." 122 Politik, Bd. I (Tübingen 1862) S. 89. 128 So erhöhte sich die Zahl der bekanntgewordenen Straftaten, bei denen Gewalt in irgendeiner Form gegen Personen angewandt wurde (sog. Gewaltkriminalität) in der Zeit von 1965 bis 1970 von 115679 auf 150076. Vgl. hierzu Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland (Stuttgart, Mainz) 1967, S. 121; 1972, S. 103.

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nicht gründlich genug operiert wird, müssen sich Gewaltmetastasen bilden. Ihre Ausbildung zu verhindern, ist auch der Strafgesetzgeber aufgerufen, der treffend als "der Arzt des Staates " 124 bezeichnet wird. Der Ruf nach neuen oder schärferen Gesetzen und eine hektische Gesetzgebung reichen zum Schutz des Rechtsstaats allein sicher nicht aus. Andererseits genügt auch die blasse Formel nicht, bestehende Gesetze müßten nur voll angewendet werden125• Denn wenn sich Lücken in der Rechtsordnung zeigen, können diese nicht dadurch geschlossen werden, daß man sie voll anwendet. Heutzutage wiederholt sich bei jedem neuen Opfer, das der Terrorismus fordert, dasselbe beschämende Ritual: Es werden eine wirksamere Bekämpfung des Terrorismus und eine überprüfung der gesetzlichen Vorschriften gefordert und zugesagt1 26 • Aber bereits nach kurzer Zeit bringt man nicht mehr die politische Kraft auf, derartige Gesetze zu erlassen 127• Die Ohnmacht versucht man durch eine Beschwörung des wieder in Mode gekommenen Rechtsstaatsprinzips128 zu kaschieren, nachdem man dieses noch wenige Jahre zuvor zu diffamieren versucht hatte129• In Wirklichkeit verlangen weder die Rechtsstaatlichkeit noch 124 v. Globig / Huster, Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung (Zürich 1783) S.10. 125 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Denkschrüt König Friedrich Wilhelms IV. vom 15. 9. 1848 (abgedruckt in: Haenchen, Revolutionsbriefe 1848, S. 175 ff. [176]: "es (sc das neue Ministerium) erklärt seinen Entschluß, dem Zustande der Unwirksamkeit der bestehenden Gesetze, der Ordnungs- und Zuchtlosigkeit, der uns entehrt und zugrunderichtet, ein Ende machen zu wollen, sowohl durch Handhabung der bestehenden Gesetze als durch Vorlage neuer Gesetze." 126 Vgl. auch die Regierungserklärung v. 16.12.1976 (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Steno Berichte 8/5 S. 45 B) des Bundeskanzlers Schmidt (SPD) sub Nr. 67: "Die Rechtsordnung muß dort weiterentwickelt werden, wo sie den Wertvorstellungen des Grundgesetzes, insbesondere ... dem Rechtsstaatsprinzip noch nicht in vollem Umfang entspricht ... Die Rechtsordnung muß neuen Herausforderungen mit zeitgemäßen Lösungen begegnen." 127 Zur Kritik vgl. auch die Ausführungen des Abg. Dr. Eyrich (CDUICSU) in der 72. Sitzung des 8. Deutschen Bundestages v. 16.2. 1978 Steno Ber. 5649 ff. 128 Vgl. schon v. Beting (Fußn.93), S.100, der sich zu Recht dagegen wendet, daß strafrechtliche Präventionsmaßnahmen gegen die "Idee des ,Rechtsstaats'" verstoßen sollen. Zu Unrecht nimmt auch Maurach das Rechtsstaatsprinzip für Bedenken gegen einen Sicherungseffekt sowie gegen die Überbetonung des Abschreckungs- und Erziehungszwecks der Strafe auf Kosten ihrer schuldadäquaten Vergeltungsaufgabe in Anspruch (Vom Wesen und Zweck der Strafe in: Schuld und Sühne, hrsg. von Freudenfeld, München 1960, S.30).

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die eigentlich angesprochenen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes ein "Hissen der weißen Flagge"l30. Vielmehr lassen die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte durchaus eine angemessene Reaktion auf neuartige und bedrohliche Angriffe gegen die Staatlichkeit zu 131 • Der Rechtsstaat ist zwar auch für den Verbrecher, aber nicht nur und nicht in erster Linie für ihn da l32, dem Schutz der Allgemeinheit und der Sorge für die Verbrechensopfer gebührt Vorrang, was in letzter Zeit nicht immer hinreichend berücksichtigt wurde l33• Die Amnestiegesetzgebung ist nicht nur eine Frage politischer Zweckmäßigkeit, sondern kann trotz eines weiten Spielraums des Gesetzgebers an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen. Ist der Gesetzgeber zum Schutze bedeutender Verfassungsgüter zu strafrechtlicher Ahndung verfassungsrechtlich gehalten, so kann er diese Pflichten mit Amnestien nicht beliebig unterlaufen. Das Bundesverfassungsgericht, das vom Parlament schon die Rolle des "Hüters der Grundrechte" übernommen hat, ist - auch im Interesse und nach Maßgabe der Grundrechte ebenfalls Hüter der rechtsstaatlichen Rechtssicherheit und muß insoweit dem Gesetzgeber notfalls die Schranken für eine Amnestiegesetzgebung ziehen. Denn die Amnestie, die in der Gnade wurzelt, kann nicht nur ein Zeichen für Vergebung und Versöhnung, sondern auch für staatliche 129 So hatte der Abg. H. Wehner (SPD) den Rechtsstaat als "ideologisch verknorpelten und deformierten Begriff" bezeichnet, aus dem man "herauskommen" müsse (Die neue Gesellschaft, 1974 S.95 1. Sp.); kritisch hierzu Ipsen, DöV 1974, 297 zu Fußn.56; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol (Fußn.88) S.13 Anm.38; vg1. ferner die Ausführungen des Abg. Prof. Dr. Carstens (CDU) in der 76. Sitzung des Deutschen Bundestags v. 24.1.1974 (Sten. Ber.7. WP, S. 4783 [D] f.). 130 Ernst Forsthoff, Staat der Industriegesellschaft (München 1971) S. 163. 131 Zutreffend Günther Schultz, MDR 1978, 373, wonach sich das Maß der Freiheiten "innerhalb des rechtsstaatlich Vertretbaren danach (bestimmt), was jeweils notwendig ist"; vg1. auch den Bundesminister der Justiz Dr. H.-J. Vogel (SPD), NJW 1978, 1218 sub II 2. 132 Vg1. in diesem Zusammenhang die zutreffende Kritik von Schultz, a.a.O., an den "Antiterrorgesetzen". 133 Symptomatisch hierfür sind Bestimmungen über die soziale Sicherheit. Nach § 1227 Abs.3 RVO in Verbindung mit §§ 43 ff., 176 f. StrafvollzugsG ist eine Rentenversicherungspflicht (und damit eine Leistungsberechtigung) für Strafgefangene vorgesehen, während z. B. der unverschuldet in Not geratene Selbständige auf die Sozialhilfe verwiesen wird. Die Eingliederung der Strafgefangenen in die Sozialversicherung ist nicht nur systemwidrig, sondern auch geeignet, die Sozialhilfe zu diskriminieren, wenn man ihren Empfang nicht einmal Strafgefangenen zumutet. Vg1. auch Merten, Art. Sozialhilfe in: Evang. Staatslexikon, 2. Aufl. (Stuttgart, Berlin 1975, Sp. 2367 sub VI). Zur Sozialversicherung Strafgefangener vgl. Mülter-Dietz, Strafvollzugsrecht (Berlin, New York 1977) S. 163 ff.

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Schwäche, für "schmeichlerische Nachgiebigkeit gegenüber jeder veränderlichen Zeitströmung und Tagesmode"134 sein. Aus Furcht vor staatlicher Ohnmacht läßt Bergengruen seinen Großtyrannen sagen: "denn ich bin ja jene Obrigkeit, welcher das Schwert gegeben wurde und welche selber sündigt, wenn sie eine Schuld ungestraft läßt und damit in den Gemütern der Menschen eine Sicherheit zum Sündigen und Gewalttun emporruft135."

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1. Generalbegnadigung und Individualbegnadigung haben eine gemeinsame WurzeP36. Soweit nicht unterschiedliche Kompetenzen137 bestanden, wurde zwischen ihnen nicht immer exakt differenziert. Begnadigungen in irgendeiner Form sind allen Rechtsordnungen der Antike bekannt gewesen138. Berühmt ist die Amnestie in Athen nach dem Sieg über die dreißig Tyrannen im Jahre 403 v. ehr. l39 • Auch im römischen Recht finden sich von der republikanischen bis zur justinianischen Zeit Begnadigungen140 als Verzicht auf die staatliche potestas poenae sowie 134 Werner Bergengruen, Das Feuerzeichen, 4. Kap. (Zürich 1949 s. 59); vgl. in diesem Zusammenhang auch Hans-Jilrgen Wipfelder, Die Rechts- und Staatsauffassung im Werke Werner Bergengruens (Bonn 1969), 4. Kap., Gerechtigkeit und Gnade, S. 68 ff. 1S5 Der Groß tyrann und das Gericht (München) S. 155. 136 So war im römischen Recht von "venia" sowohl im Zusammenhang mit Massenbegnadigungen als auch bei Einzelbegnadigungen die Rede. Vgl. hierzu Waldstein (Fußn.45) S.73, 203 ff. 137 Vgl. Johannes MerkeI, Abhandlungen aus dem Gebiete des römischen Rechts, Heft 1, Über die Begnadigungscompetenz im römischen Strafprozesse (Halle 1881), insbes. S. 29 ff.; Gustav Geib, Geschichte des römischen Kriminalprozesses bis zum Tode Justinians (Leipzig 1842), S. 371 ft.; Siber (Fußn.45) S. 366 ff.; Waldstein (Fußn.45) S. 22 f., 56 f., 69, 77. Zur Frage, ob für die Begnadigung ein Volksbeschluß erforderlich war oder auch ein Senatsbeschluß oder gar die Zusicherung des Konsuls ausreichte, vgl. Mommsen (Fußn. 33) S.457. 138 Ebenso Waldstein (Fußn.45) S. 21; vgl. ferner Grewe, (Fußn.45) S. 41 ff., 50ft. 1311 Vgl. hierzu Hermann Bengtson, Griechische Geschichte (München 1965) S.232; Georgius Lilbbert, De Amnestia anno CCCCIH a.Chr.n. ab Atheniensibus decreta (Disli. Kiel 1881).

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die Niederschlagung anhängiger Strafverfahren. Seit Trajan wurde es zu einer häufigen Gewohnheit der Kaiser, bei Regierungsantritt zu amnestieren und dabei Verbannte zurückzurufen und Konfiskationen aufzuheben 141 • Ihren Ursprung hat die Gnade im Sakralen, gespendet von Herrschern, die sich entweder selbst als Gottheit reklamieren oder als deren Stellvertreter handeln142 • So kommt es zu Begnadigungen anläßlich religiöser Feste, wie des Lektisternienfestes143 in Rom und des jüdischen Passahfestes 14 !, - eine Sitte, die sich möglicherweise seit den christlichen Kaisern in Form der Osterbegnadigung145 fortgesetzt hat146 • Die Bewunderung für die c1ementia Caesaris147, die als Herrschertugend bis ins Mittelalter fortwirkte 148, führte zur Errichtung von Tempeln und zur religiösen Verehrung149 • 140 Die Terminologie ist uneinheitlich. Im Zusammenhang mit Begnadigung werden die Begriffe amnestia, abolitio, beneficium, fides, gratia, indulgentia, impunitas, remissio, restitutio, venia, gebraucht. Vgl. hierzu im einzelnen Waldstein (Fußn.45) passim, insbes. S. 16 f.; 25 ff., 152 ff., 158 ff. Vgl. ferner Mommsen (Fußn.33) S.458; Merkel (Fußn.137) S. 4 ff.; Grewe, (Fußn. 45) S. 61 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Hans Koch, Culpa-paenitentiavenia (und ihre griechischen Entsprechungen) (Diss. Erlangen 1957). 141 Vgl. Wilhelm Rein, Das Criminalrecht der Römer (Leipzig 1844) S. 270 ff.; zu derartigen Vorgängen in der republikanischen Periode a.a.O. S.266ff.; Merkel (Fußn.137) S. 42 f.; Geib (Fußn.45) S.371; Grewe (Fußn.45) S.62; zur Deportationsstrafe von HOltzendorff, Die Deportationsstrafe im römischen Altertum (Leipzig 1859, Nachdr. Aalen 1975) S.53. 142 Vgl. Waldstein (Fußn.45) S.21; Zur theokratischen Staatstheorie vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre (Nachdr. der 1. Aufl. 1925 Bad Homburg, Berlin, Zürich 1966), S. 331 f. 143 Vgl. Johannes Merkel, Die Begnadigung am Passahfeste, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde des Urchristentums, Jg.6 (1905) S. 304 f., 313; dens. (Fußn.137) S.9; Waldstein (Fußn.45) S. 23 ff.; Josef Blinzler, Der Prozeß Jesu, 2. Auft. (Regensburg 1955) S. 149. 144 Vgl. Merkel (Fußn.143) S. 293 ff. (allerdings neigt gerade das mosaische Gesetz im allgemeinen einer Begnadigung von Verbrechern nicht zu, vgl. hierzu Merkel a.a.O. S.295 u. S. 302 f. sub VI); dens. (Fußn. 137) S. 57; Rein (Fußn. 45) S. 272; Waldstein (Fußn.45) S.23, 41 ff., 216 f.; Mayer-Maly, Das Auftreten der Menge im Prozeß Jesu und in den ältesten Christenprozessen, in: Osterr. Archiv für Kirchenrecht Bd.6 (1955) S. 231 ff.; Blinzler (Fußn.143) S.148 ff., insbes. S. 157 ff. 145 Vgl. Mommsen (Fußn.33) S.455; Merkel, (Fußn.136) S. 313 ff.; Waldstein (Fußn.45) S.188 ff. sub VJI; S. 216 ff. sub IV; Grewe (Fußn.45) S.60. 148 Was Waldstein (Fußn.45) S. 25 bestreitet. 147 Grundlegend hierzu HeHfried Dahlmann, Clementia Caesaris, abgedruckt in: Römertum, ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1921 - 1961, hrsg. von Hans Oppermann (Darmstadt 1976) S. 188 ff.; vgl. auch Grewe (Fußn. 45) S. 65. 148 Hierzu Dahlmann a.a.O. S. 202; Grewe a.a.O. S.41, 91.

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II. Die Gnade in der Geschichte

Die christliche Gnade ist der "Einbruch des Göttlichen in die Welt"ll5O. Die göttliche Gnade findet ihre diesseitige Entsprechung in der weltlichen Gnade151 , die die christlichen Herrscher nicht zuletzt deshalb üben, um selbst durch die göttliche Gnade erlöst zu werden162. Daher ist die Formel "von Gottes Gnaden"153 auch nicht Ausdruck byzantinischer Hybris und lästerlicher Anmaßungl64 , sondern Zeichen religiöser Devotion und findet über die bischöfliche und päpstliche Titulaturl56 Eingang in die der weltlichen Herrscher l56 . 149 Vgl. in diesem Zusammenhang Statius, Thebais, Buch 12, Verse 481 - 484: "Urbe fuit media nulli concessa potentum/Ara Deum: mitis posuit Clementia sedem,lEt miseri fecere sacram. sine supplice nunquam/Illanovo: nulla damnavit vota repulsa." Claudian, De consulatu Stilichonis, XXII, Verse 6 - 11: "Principio magni custos Clementia mundi,lQuae Jovis incoluit zonam, quae temperat aethram/Frigoris et flammae mediam; quae maxima natu/Caelicolum. Nam prima chaos Clementia solvit/Congeriem miserata rudern vultuque sereno/Discussis tenebris in lucem saecula fudit." 150 So Grewe (Fußn. 45) S. 4l. 151 Vgl. Hans Dombois, Das Recht der Gnade, Ökumenisches Kirchenrecht I (Witten 1969) S. 197; vgl. auch Seneca, Von der Gnade (Fußn.59) S.495: "Keinem jedoch unter allen ziemt die Gnade mehr, als einem Fürsten oder König"; siehe ferner a.a.O. S. 513. Unter Berufung auf diesen Benedict Carpzov, Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (Frankfurt/Main 1758), quaest. CL Nr.11, S.495: "Excogitare nemo quicquam poterit, quod magis decorum regenti sit, quam clementia"; vgl. ferner a.a.O. Nr.9. 152 Vgl. Waldstein (Fußn.45) S. 217; ferner Eberhard Jüngel, Der Wahrheit zum Recht verhelfen, 2. Aufl. (Stuttgart 1977) S. 51: "Denn wer sich selber Gottes Gnade gönnt, der wird sie auch keinem anderen Menschen verwehren." Auf die Abhängigkeit des Souveräns von Gott haben auch die absolutistischen Herrscher hingewiesen. Vgl. die Politischen Testamente des Großen Kurfürsten, Kurfürst Friedrichs IH. und Friedrich Wilhelms 1. (abgedruckt in: Küntzel / Hass, Die Politischen Testamente der Hohenzollern, 2. Aufl., Bd.l [Leipzig, Berlin 1919], insbes. S.42, 79, 95. Siehe in diesem Zusammenhang auch Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 4. Aufzug, 1. Szene: "Und ird'sche Macht kommt göttlicher am nächsten, wenn Gnade bei dem Recht steht."; ferner Der Freischütz, 3. Akt, Finale: "Der über Sternen ist voll Gnade; Drum ehrt es Fürsten, zu verzeihn! 153 Vgl. 1. Kor. 3, 10 und 15, 10. 154 Vgl. Dombois (Fußn.151) S.164; siehe in diesem Zusammenhang auch die Antwort König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen an Ernst Moritz Arndt (auf dessen Formulierung "Zu Gott und zu dem König darf man frei sprechen, bitten und beten") " ... daß auch Sie wie ich selbst meinen und wissen, daß man zu Gott allein betet, den König aber nur bitten darf" (abgedruckt bei Haenchen [Fußn. 125] S. 391). 155 Vgl. Karl Schmitz, Ursprung und Geschichte der Devotionsformeln (stuttgart 1913) passim, insbes. S. 42 ff., 140 ff.; Willy Staerk, Dei Gratia - Zur Geschichte des Gottesgnadentums, in Festschrift für Walther Judeich. (Weimar 1929) S. 160 ff.; G. Heinzel, Art. Gottesgnadentum, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. Bd. 4 (Freiburg 1960) Sp.1114 sub 3.

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2. Gnade meint Güte, Wohlwollen157, Huld1158, Barmherzigkeit, die aus Milde gewährte, ungeschuldete Gabe11>9. In diesem Sinne ist der Begriff zu verstehen, wenn von Gnadengehaltl80 , Gnadenjahr161 oder Gnadenfrist gesprochen wird, wobei diese Institutionen später zum Teil verrechtlichen. Im Laufe der Zeit gerät die Entscheidung aus Gnade sodann in Gegensatz zu der Rechtsentscheidung; die Rechtsprechung spaltet sich in ein Richten nach Recht und ein Richten nach Gnade l62 • 156 Vgl. die Nachweise in: Deutsches Rechtswörterbuch, Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, H.7 (Weimar 1944) Art. Gnade sub I 2 Sp. 963 f.; vgl. ferner K. Bosl, Art. Gottesgnadentum in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd.4 (Freiburg 1960) Sp.1111 ff.; Konrad Beyerle, Von der Gnade im deutschen Recht (Göttingen 1910) S.8; Karl Schmitz (Fußn. 155) S. 170 ff.; Willy Staerk (Fußn. 155) S. 160, 164 ff. 157 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die in den Quellen verwandte Zwillingsformel fridu und genade (pax et caritas), die Friede als Zeichen und Frucht des Wohlwollens und der Liebe meinte. Hierzu Janssen, Art. Friede in: Geschichtliche Grundbegriffe (hrsg. von Brunner I Conze I Koselleck), Bd.2 (Stuttgart 1975); sub II 1 S.547; H. Krause, Art. Gnade in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von Erler und Kaufmann (BerIin 1971) Bd. I Sp.1716; ferner auch den Satz "Der Kaiser hat Macht, Friede und Gnade zu tun", Winkler (Fußn.4) S.148. 158 Vgl. hierzu Otto Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl. (Wien 1965, Nachdr. Darmstadt 1973) S.258; Wilhelm Ebel, Der Bürgereid (Weimar 1958) S. 165 ff.; Grewe (Fußn.45) S. 86 f.; Beyerle (Fußn.156) S.5; Deutsches Rechtswörterbuch (Fußn. 156) Art. Gnade; ferner auch Pohle I Gummersbach, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 2, 10. Aufl., (Paderborn 1956) S. 491; Diekamp I Jüssen, Katholische Dogmatik, Bd.2, 10. Aufl. (Westfalen 1952) § 1 S.420. 159 Thomas von Aquin, Summa Theologica I II quaest. CX, Art. I. 160 Vgl. z. B. die im Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten vom 31. 3. 1873 (RGBl. S.61) geregelten "Gnaden-Benifizien" für Hinterbliebene. Hierzu v. Rönne, Das Staats-Recht des Deutschen Reiches, 1. Bd. 1876 (Nachdr. Frankfurt 1975) § 61 III S. 387 f.; zum Gnadenvierteljahr im Sozialversicherungsrecht vgl. §§ 1268 Abs.5 RVO, 45 Abs.5 AVG, 69 Abs.5 RKG. Der Ursprung in der Gnade ist hier darin erkennbar, daß die Witwe in an sich systemwidriger Weise für eine übergangszeit die höhere Versichertenrente des Verstorbenen statt der niedrigeren Witwenrente erhält. 161 Zum Gnadenjahr vgl. Mittermaier, Die Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts, 2. Bd., 7. Aufl. (Regensburg 1847) S. 444, S. 548 zu Fußn. 9 m. w. Nachw.; Zoepji, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Bd. (Braunschweig 1872, Nachdr. FrankfurtiMain 1975) S.265; in diesen Zusammenhang gehört auch das Rechtssprichwort "Ein Priester lebt ein Jahr nach seinem Tode"; hierzu J. H. Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter (Fußn. 4) Nr. 369 S. 246. 162 Vgl. Beyerle (Fußn. 156) S. 10, 15; Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 2. Aufl. (Göttingen 1951) S.65; Wilhelm Ebel, Der Bürgereid (Weimar 1958) S. 165 ff.; Grewe (Fußn.45) S.88; Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn.105) § 24 S.277; Hans Hattenhauer, Die Begnadigung im Spiegel der Legende, in: ZStrW Bd. 78 (Berlin 1966) S. 184 ff.,

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Gnadensupplikationen l6lt wollen eine Entscheidung aus Gnade und nicht dem Recht gemäß erwirken. Rechtsprechungsgewalt und Gnadengewalt fallen auseinander 164 , wobei auch die in der fränkischen Periode beim König monopolisierte Gnadenkompetenz l65 allmählich zersplittert und sich bis hin zu den Territorialgewalten, den Städten und den Verbänden der Grundherrschaft aufspaltet166 • Daneben bestand von jeher das Institut der Privatbegnadigung167 , insbesondere wenn der Straftäter tätige Reue zeigte und sich mit dem Geschädigten verglich l68 • Schon im Altertum189 war die abolitio privata l70 bekannt. Auch die mittelalterliche Fehde stand mit Einschränkungen zur Disposition des Fehdeberechtigtenl71 , und bestimmte Fehdemittel konnten durch Huldigung in Form von Naturalleistungen abgewehrt werden17ll• Mit dem Erstarken der öffentlichen Strafgewalt seit der Karolingischen Zeit und insbesondere seit der Landfriedens198; Helmut Neuhaus, Reichstag und SupplikationsausschuB (Berlin 1977) S. 118. Jürgen Regge, Kabinettsjustiz in Brandenburg-PreuBen (Berlin 1977) S. 78 ff. Zu den Rechtsquellen vgl. H. Krause, Handwörterbuch (FuBn. 157) Sp.I716; siehe ferner Deutsches Rechtswörterbuch (Fußn.156) Art. Gnade sub VI 4 Sp. 971 f. 183 Zu Gnadensupplikationen vgl. Neuhaus (FuBn.162) S. 114 ff.; Regge (FuBn. 162) S. 58 ff. 184 Im Römischen Recht konnte der Richter eine Begnadigung vor und nach dem gefällten Urteil aussprechen. Hierzu Merkel (FuBn. 137) S. 29 ff. 185 Vgl. Krause, Handwörterbuch (FuBn.157) Sp.I715; Grewe (Fußn.45) S.86. 188 Vgl. Beyerle (FuBn.156) S. 9 sub 111; Friedrich Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik (Tübingen 1960) S. 7 f.; Pufendorf, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 5. Kapitel § 13 (Stuttgart 1976, S.80) hinsichtlich des Begnadigungsrechts der Stände. 167 Für die fränkische Zeit vgl. Beyerle (Fußn. 156) S.7. 168 §§ 1,2 Teil H, 11. Kap. des Codex Juris Bavarici Criminalis v. 7.10.1751 sahen die Aufhebung des peinlichen Prozesses durch gütliches Abkommen (Composition) u. a. durch Vergleich mit dem beleidigten Teile vor, wobei allerdings "die Straff, welche man dem Publico schuldig ist", der Obrigkeit verblieb. 168 So betrafen in Rom die Begnadigungen in der republikanischen und in der klassischen Zeit fast ausnahmslos politische Verbrechen,weil der Staat nur auf die Verfolgung jener Verbrechen verzichten konnte, die sich gegen das Gemeinwesen richteten und von Staats wegen zu verfolgen waren. Vgl. hierzu Waldstein (FuBn.45) S.22, 24, 208 f. 170 Vgl. Geib (Fußn.45) S. 374 ff.; Mommsen (FuBn.33) S.454; Grewe (Fußn. 45) S.60; Waldstein (FuBn.45) S.154, 204 ff., 213 f. Zum Vergleich mit dem Geschädigten bei der abolitio privata vgl. Waldstein a.a.O. S.213. 171 Vgl. Brunner (Fußn.158) S.22 sub I; Beyerle (FuBn. 156) S.4. 172 Vgl. Brunner a.a.O. S. 86 f.; Beyerle a.a.O. S. 13.

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bewegung173 tritt an die Stelle der Selbsthilfe und Selbstschlichtung die staatliche Fremdschlichtung, und wird die Gnade entprivatisiert, wobei in einem übergangsstadium der staatliche Gnadenerweis häufig entweder nur relativ war und nicht gegenüber den privaten Klägern wirkte174 oder von deren Zustimmung abhängig war115• Selbst heutzutage ist mitunter, wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch, die Verzeihung der Opfer oder ihrer Hinterbliebenen für den Gnadenerweis erheblichl76• Gnadenentscheidungen konnten ursprünglich alle Angelegenheiten umfassen177• Erst später verengt sich der Gnadenerweis auf das Strafrecht, das Peinliche Recht, weil dieses anders als das Zivilrecht in besonderem Maße eines Korrektivs bedarf und die öffentliche Gewalt eine Nachgiebigkeit in privatrechtlichen Angelegenheiten nicht erzwingen kann und will. Da sich der Staat nur seiner eigenen Rechte begeben kann, darf der Gnadenerweis fremde Rechte nicht berühren, nicht zu Lasten Dritter gehen. Gnade wird somit zu einem totalen oder partiellen Verzicht allein auf den staatlichen Strafanspruch. So erstreckte sich nach § 9 II 13 des Preußischen ALR das Begnadigungsrecht auf die Befugnis, "Verbrechen zu verzeihen; Untersuchungen niederzuschlagen; Verbrecher ganz oder zum Theil zu begnadigen; Zuchthaus-, Festungsoder andere härtere Leibesstrafen in gelindere zu verwandeln". "Die aus der That selbst wohl erworbenen Privatrechte eines Dritten" sollten jedoch durch die Begnadigung "niemals gekränkt werden", und es sollte 173 VgI. BeyeTle (Fußn.156) S. 14; bis zu dieser Zeit wurden selbst Todesurteile noch vom privaten Kläger vollstreckt, vgI. BeyeTle a.a.O.; ferner FTiedTieh Geerds (Fußn. 166) S. 7 f. m. w. Nachw. 174 Zum Verhältnis von königlichem Begnadigungsrecht und Familienrache im nordischen Recht vgI. auch KohleT, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz (Würzburg 1883) S.175 ff. 175 VgI. noch §§ 1, 2 Teil H, 11. Kap. des Codex Juris Bavariei Criminalis v. 7.10.1751, wonach bei Aufhebung des peinlichen Prozesses durch gütliches Abkommen mit der Obrigkeit die "Einstimmung des beleidigten Theils" vorliegen sollte; siehe ferner H. Krause, Handwörterbuch (Fußn.157) Sp.1717; L. v. BaT, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. IH; Die Befreiung von Schuld und Strafe durch das Gesetz (Berlin 1909) § 198 S. 476 f.; auch KohleT (Fußn. 174) S.115 ff. 176 So wurde im Falle Kappier (vgI. oben Fußn. 58) das Gnadengesuch nicht zuletzt deshalb abgelehnt, weil es an einer Verzeihung der Hinterbliebenen der Hingerichteten fehlte. Rechtlich ist diese allerdings nicht vorgeschrieben. VgI. Art. 87 Abs. 11 der italienischen Verfassung (abgedruckt in: MayeT-Tasch, Die Verfassungen Europas, 2. Aufi., München 1975, S.329) sowie Art. 595 der italienischen Strafprozeßordnung. 177 VgI. Neuhaus (Fußn.162) S.115.



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diesem freistehen, seine Rechte im Zivilprozeß zu verfolgen (§§ 10, 11 II 13 ALR). Der Staat der Neuzeit beseitigt die Zergliegerung des Gnadenrechts 178 und konzentriert es als Majestätsrechtl79 in der Hand des Landesherrn. Ohne dessen ausdrückliche Delegation dürfen Strafen im Gnadenwege nicht nachgelassen werdenl80 • Umgekehrt kann der Souverän als oberster Gesetzgeber181 und oberster Gerichtsherrl82 die von ihm aufgestellten Regeln durchbrechen oder von ihnen dispensieren18:1. Die von seinen Richtern in seinem Namen gefällten Urteile darf er kassieren, korrigie178 Vgl. Beyerle (Fußn.156) S.19; H. Krause, Handwörterbuch (Fußn.157) Sp.1718. 170 Vgl. Carpzov (Fußn.151) quaest. CL Nr.14, S. 496; Hälschner, Geschichte des Brandenburgisch-Preußischen Strafrechtes (Bonn 1855) S.185; Quaritsch, Staat und Souveränität (Frankfurt a. M. 1970) S.256; Regge (Fußn.162) S.67, 78, 85 f.; siehe auch Grewe (Fußn.45) S.74; Krause, Handwörterbuch (Fußn. 157) Sp.1718; L. v. Bar (Fußn.175) § 192 S.463. 180 Vgl. Codex Juris Bavarici Criminalis v. 7.10.1751, § 3 Teil II 11. Kap.: "Soll sich dahero derselben keine Richter, und zwar bey Verlurst des BlutBanns oder anderer schwerer Bestraffung eigenmächtig unterziehen, auch eben so wenig die dictirte Straff (es seye gleich ordinaria oder extraordinaria) ex capita gratiae nachlassen, oder verändern, sondern wo Motiva ad aggratiandum vorhanden seynd, sich höchster Orthen anfragen." Siehe ferner eine Kabinettsordre Friedrichs des Großen v. 25. 1. 1750; hierzu E. Schmidt, Die Kriminalpolitik Preußens unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., Diss. (Berlin 1914) S. 6; § 9 II 13 PrALR; Art. 42 §§ 17 ff. der Constitutio Criminalis Theresiana (Wien 1769) S. 125 f.; vgl. auch Regge (Fußn.162) S.113, 124, 131, 140; Werner Schmid, Ober Strafmilderungsgründe im Gemeinen Deutschen Strafrecht, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns zum 70. Geburtstag S.108. 181 Vgl. Quaritsch (Fußn. 179) S. 255 ff.; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche der preußischen Könige des 18. Jahrhunderts (Leipzig 1943) S.4f. 182 Vgl. § 18 II 17 PrALR; siehe auch das Politische Testament des Großen Kurfürsten v. 29.5.1667: "vor allen dingen huttet Euch, das Ihr in Justits Sachen keinen bescheidt ertheilet, es sey dan des kegentheill zuforderst mitt seiner verantworttung vernommen" (abgedruckt bei Kilntzell Hass [Fußn. 152] S.48); ferner A. Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, Bd.2 (Berlin 1888) S. 186; Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte (Berlin 1903) S. 251 f.; E. Schmidt, Strafrechtspflege (Fußn. 162) S.170 ff.; deTs., Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn.181) S. 4 f.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte Bd.3 (Fußn.27) S.62; W.Ogris, De sententiis ex plenitudine potestatis, in: Festschrift für Hermann Krause (Köln, Wien 1975) S. 174 f. 183 Vgl. §§ 6, 7 II 13 PrALR; siehe auch Carpzov (Fußn.151) quaest. CL Nr. 15 f. S.496; Stölzel (Fußn.182) S.187, 214 f.; Hälschner (Fußn.179) S.185; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn.181) S.27; ders. Kriminalpolitik (Fußn.180) S. 6; Ogris (Fußn.182) S. 173 f.; Regge (Fußn. 162) S. 15.

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ren und reformieren184 oder nur mit seinem vorherigen Einverständnis exekutieren lassen, wie beispielsweise nach Preußischem Allgemeinem Landrecht die Todesstrafe oder eine mehr als zehnjährige Gefängnisstrafe der ausdrücklichen Bestätigung des Staatsoberhauptes bedurfte1811• Die Machtvollkommenheit des Souveräns gestattet es, verhängte Strafen nicht nur zu mildern, sondern auch zu schärfen, wie dies Friedrich Wilhelm I. von Preußen in dem vielleicht bekanntesten Falle des Prozesses gegen den Leutnant von Katte 188 tat. Er verfügte die Todesstrafe, nachdem das Kriegsgericht auf lebenslange Festungshaft erkannt hatte und trotz der Mahnung des Königs zu größerer Strenge bei seinem Spruch geblieben war187• Ihn hatte der Vorsitzende Achaz 'Von der Schulenburg mit folgenden Worten begründet: "Nachdem derselbe nochmals reiflich und wohl überleget, ob die abgesprochene Sentenz bestänVgl. Ogris (Fußn.182) S.177 f. Vgl. § 8 II 13 PrALR; ferner das preußische Edikt v. 2.3.1717 (hierzu Bornhak [Fußn.182] S.189 f.); die preußische Verordnung v. 28.9.1772 (hierzu Stölzel, Rechtsverwaltung [Fußn.182] S.263; ders. Fünfzehn Vorträge aus der Brandenburg-Preußischen Rechts- und Staatsgeschichte [Berlin 1889] S. 172; E. Sehmidt, Kriminalpolitik [Fußn. 180] S. 2). Das Bestätigungsrecht wurde erst durch die Preußische Verfassung von 1850 beseitigt (vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. 3 [Fußn.27] S. 62 f.). Zum Bestätigungsrecht vgl. H. Hälsehner (Fußn.179) S.141 Anm.6, S. 185 ff.; E. Schmidt, Staat und Recht (Fußn.ll) S.30, 36 f., 43; dens., Rechtsspruche und Machtspruche (Fußn.181) S.12 ff.; Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 470 ff.; Willenbücher (Fußn.ll) S. 57 ff.; Ogris, Art. Kabinettsjustiz, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. II (Berlin 1974) Sp.515; Regge (Fußn. 162) S. 13 ff., 26 f., 65 ff., 75 ff., 86 ff., 108 f., 124, 131, 139 ff., 147 f. Infolge des Bestätigungsrechts wurden viele Todesurteile nicht vollstreckt, vgl. Hälschner a.a.O. S. 253, Regge a.a.O. S. 158, 160. So wurden in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von 129 Todesurteilen aus der Rheinprovinz nur 11 bestätigt (Regge S.160). Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Obersten Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte die Bestätigung der von Militärgerichten verhängten Todesurteile vorbehalten (vgl. Art. VII der Verordnung Nr.2 der Militärregierung-Deutschland, abgedruckt in: Das Recht der Besatzungsmacht, hrsg. von Brandl [Oldenburg 1947] S. 35 ff.). 188 Hierzu earl Hinriehs, Der Kronprinzenprozeß Friedrich und Katte (Hamburg 1936); Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 139; ders., Vorträge (Fußn.185) S. 160 f.; E. Sehmidt, Rechtsspruche und Machtspruche (Fußn.181) S. 13 ff.; Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, 3. Aufi. (Berlin 1915) S. 312 f.; siehe auch Theodor Fontane, Küstrin - Die Katte-Tragödie; WustKattes Gruft, in: Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Werke in fünf Bänden, hrsg. von Bachmann und Bramböck, Bd.5, München 1974, S. 186 ff. und 202 ff.). 187 Kabinettsordre v. 1. 11. 1730 (Hausarchiv Rep. 47 A), abgedruckt bei Hinriehs a.a.O. S. 135 ff. Hierzu auch Gaxotte, Friedrich der Große, 4. Aufi. (Frankfurt, Berlin, Wien 1974) S. 84 f. 184 185

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dig verbleiben könnte, so finde er sich im Gewißen überzeuget, was er nach seinem besten Wissen und Gewißen und nach dem teuer geleisteten Richtereide votiret, daß er dabei verbleiben müsse und solches zu ändern ohne Verletzung seines Gewißens nicht geschehen könne, noch in seinem Vermögen stehel88." Richtermut und Richtertugend vor Königsthronen - Eigenschaften, die das hohe Ansehen preußischer Richter begründet haben. Der aufkommende Rechtsstaat, der den Souverän an das Gesetz bindet, muß sich gegen königliche Machtspruchel89 wenden und die Anerkennung der richterlichen Rechts- oder "Wahr"-sprüche fordern, weil für ihn die Ablösung des dezisionistischen Befehls durch die Deduktion aus dem Gesetz charakteristisch ist. Dabei ist unter "Machtspruch" ursprünglich nur der landesherrliche Eingriff in wohlerworbene private Rechte, später die Endentscheidung in zivilrechtlichen Angelegenheiten zu verstehen l90 , während er als Kampfbegriff des bürgerlichen Rechtsstaats jeden Eingriff in die Rechtspflege und jede Antastung der richterlichen Unabhängigkeit durch einen Akt der Kabinettsjustiz meint, der eo ipso als willkürlich und ungerecht angesehen wird 191 • Sowohl Friedrich Wilhelm 1. als auch - jedenfalls zu Beginn seiner Regierungszeit - Friedrich der Große haben von ihrem Recht, in Zivilrechtsstreitigkeiten Machtspruche zu erlassen, Gebrauch gemachtl92 • Wohl unter dem Einfluß der Gewaltentrennungslehre Montesquieus l93 188 Protokoll des Kriegsgerichts, Actum Cöpenick:, 31. 10. 1730 (Hausarchiv Rep. 47 A), zitiert nach Hinrichs a.a.O. S. 134. 189 Auch als "sententiae ex plenitudine potestatis latae" bezeichnet. Vgl. in diesem Zusammenhang Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn. 182) S. 15,284; dens., Vorträge (Fußn.185) S.155 f., 157 ff.; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn. 181) S. 4 ff., 21; Bornhak (Fußn. 182) S. 252, 276, 286 f.; Ogris (Fußn.182) S.175; dens., Art. Kabinettsjustiz (Fußn.185) Sp. 515 ff.; Regge (Fußn. 162) S. 60. Siehe auch das Rechtssprichwort "Recht ist gesetzt, damit es kein Machtwort breche" (Graf / Dietherr [Fußn. 4] Nr. 54, S. 3). 190 Vgl. Suarez (Fußn.1) S. 428 f.; Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 15 f.; dens., Vorträge (Fußn.185) S.157 ff.; Hälschner (Fußn.179) S.184; Regge (Fußn. 162) S. 18 f., 60. 191 Vgl. Carl Welcker, der auf die "Verwerflichkeit" der Kabinettsjustiz und den "allgemeinen Abscheu" gegen sie verwies. (Staatslexikon, Bd.2 [Altona 1846], Art. Kabinettsjustiz S.777). Kritisch hiergegen E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn.181) S.6 sub I 2; Ogris, De sententiis (Fußn. 182) S. 171, 184. 192 Vgl. Stölzel, Vorträge (Fußn.185) S. 159 f., 162 ff.; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn. 181) S. 7 f.

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gelobte der große König dann Enthaltsamkeit in iudicando, weil in den Gerichtshöfen Gesetze sprechen und Herrscher schweigen solltenl94 ; er unterwarf sich selbst den Landesgesetzenl95 • Später handelte er allerdings seiner eigenen Maxime, die sich nur auf die Zivilrechtspflegel96 bezog, in dem berühmten Prozeß des Müllers Arnold197 zuwider. Hier erließ er einen Machtspruch in dem Bemühen, "Unterprivilegierte" zu schützen und soziales Königtum zu verwirklichen. Zwar war das Eingreifen des Königs zugunsten des Müllers Arnold nicht unzulässig, weil ein Verbot von Machtsprüchen und die Unabhängigkeit der Gerichte zu jener Zeit noch nicht anerkannt waren198• In der Sache fehlte Friedrich der Große jedoch nicht nur bei der Beurteilung des Zivilprozesses, sondern tat auch den beteiligten Kammergerichtsräten Un193 Vgl. Stötzel, Vorträge (Fußn.185) S.164 f.; dens., Rechtsverwaltung (Fußn.182) S.215; Bornhak (Fußn.182) S. 252 f.; E. Schmidt, Staat und Recht (Fußn.ll) S.43 Anm. 130; dens., Rechtsspruche und Machtspruche (Fußn.181) S.8. 194 Politisches Testament v. 1752, Rechtspflege (Werke [Fußn.11] Bd.7, S.118); hierzu auch E. Schmidt, Staat und Recht (Fußn.11) S. 42 ff.; ders., Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn.181) S.10 f.; ders., Kriminalpolitik (Fußn. 180) S. 1; Hintze (Fußn. 186) S. 351 f. Vgl. auch die Verordnung Friedrichs des Großen v. 28.9.1772: "Wir oder Unser Etatsministerium geben keine Entscheidungen, so die Kraft einer richterlichen Sentenz haben"; hierzu Stölzel, Vorträge (Fußn.185) S.172; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtspruche (Fußn. 181) S. 11. 195 Vgl. Stölzel, Vorträge (Fußn.185) S.I64 f.; dens., Rechtsverwaltung (Fußn.182) S.215; Kleinheyer / Schröder, Art. Cocceji, in: Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten (Karlsruhe, Heidelberg 1976) S.61. 198 Hälschner (Fußn.179) S.184f.; Stölzel, Vorträge (Fußn.185) S.172; Bornhak (Fußn.182) S.252; E. Schmidt, Rechtsspruche und Machtspruche (Fußn. 181) S. 11 ff.; ders., Kriminalpolitik (Fußn.180) S. 1; Regge (Fußn.162) S.60. 197 Hierzu Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 272 ff.; ders., Vorträge (Fußn. 185) S. 170 ff.; Bornhak (Fußn. 182) S. 251 ff.; E. Schmidt, Staat und Recht (Fußn.11) S. 44 ff.; ders., Rechtsspruche und Machtsprüche (Fußn.181) S. 16 ff., 29 ff.; Stammler, Deutsches Rechtsleben im alten Reich (Berlin 1928) S. 413 ff.; Karl Dickel, Beiträge zum preußischen Recht, 1. Heft: Friedrich der Große und die Prozesse des Müllers Arnold (Marburg 1891); G. Ritter, Friedrich der Große - ein historisches Profil (Heidelberg 1954) S. 191 f.; auch Rolf Hocevar, Hegel und der Preußische Staat (München 1973) S. 32 ff. Selbst wenn man den königlichen Spruch formal nicht als "Machtspruch", sondern als ein zulässiges Strafurteil qualifiziert, kommt er materiell einem Machtspruch in einem anhängigen Zivilprozeß gleich, weil der Müller Arnold zugleich in den Besitz seiner rechtmäßig veräußerten Mühle wieder eingesetzt wurde (vgl. Stölzel, Rechtsverwaltung [Fußn.182] S. 276 f.; dens., Vorträge [Fußn. 185] S. 178 ff.; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtspruche [Fußn. 181] S. 17 f.). 198 Vgl. Bornhak (Fußn. 182) S. 256 f.; E. Schmidt, Rechtsspruche und Machtspruche (Fußn. 181) S. 28 f.

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II. Die Gnade in der Geschichte

recht, die er verhaften ließ und zu einem Jahr Festungshaft verurteilte, obwohl der Kriminalsenat des Kammergerichts sie zuvor trotz der Intervention des Königs für schuldlos erklärt hatte t91l . Nach neun Monaten begnadigt, wurde ihnen Genugtuung erst unter Friedrich Wilhelm 11. zuteil, der demonstrativ drei Monate nach dem Tode Friedrichs des Großen den Prozeß wiederaufnahm und in der Kabinettsordre ausführte, die früheren Verfügungen seien Folgen eines Irrtums gewesen, zu dem Friedrich der Große durch seinen "ruhmwürdigen Justizeifer" verleitet worden sei200 • Gerade unter dem Eindruck dieser "Justizkatastrophe"20t nahmen die Bestrebungen zu, ein Verbot landesherrlicher Machtsprüche durchzusetzen. Suarez betonte in seinen Kronprinzenvorträgen, die er dem späteren König Friedrich Wilhelm IH. von Preußen hielt, der Regent dürfe mangels der nötigen Kenntnisse und der erforderlichen Zeit nicht selbst Richter sein wollen, sondern müsse die gerichtlichen Erkenntnisse auch im Hinblick auf die Sicherheit des Eigentums aufrecht erhalten und sich willkürlicher Aufhebungen oder Abänderungen enthalten202. In dem Entwurf des Allgemeinen Landrechts war ausdrücklich ein Verbot der Machtsprüche enthalten, das jedoch in das Gesetzbuch nicht aufgenommen wurde20:r. Die Kabinettsjustiz hörte auch unter Friedrich Wilhelm 11. nicht auf, der in mehreren Fällen Machtsprüche erließ204. 1.11 Vgl. Johann E. Neumann, Aus der Festungszeit Preußischer Kammergerichts- und Regierungsräte auf Spandau 1780 (Berlin 1910); hierzu auch Friedrich Holtze jun., Neues zum Müller Arnoldschen Prozesse, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (hrsg. von Otto Hintze) 17. Bd., 2. Hälfte (Leipzig 1904) S. 246 ff.; F. Graner, Aus den hinterlassenen Papieren des im Müller Arnold'schen Prozeß zur Festungsstrafe verurteilten neumärkischen Regierungsrats Bandei, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Bd. 38 (1926) S. 77 ff., insbes. S. 83 ff. Siehe im übrigen Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S.276, 278 f.; Bornhak (Fußn.182) S. 255 f.; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn.181) S. 37; Stammler (Fußn. 197) S. 419 ff. sub 5. 200 Kabinettsordre v. 14.11.1786 (abgedruckt in: Neumann, Aus der Festungszeit [Fußn. 199] S. 226 ff.); hierzu auch Bornhak (Fußn. 182) S. 256; vgl. in diesem Zusammenhang auch Neumann, a.a.O. S. 52: "Der Printz Ferdinand hat bey Gelegenheit der Arnoldtschen Geschichte sich verlauten laBen, er ärgere sich, daß sein Bruder das Ende seiner Regierung durch einen so großen Exceß verunstalte, und hat sich öfters bey den Cammer Director Stubenrauch nach unsern Befinden auf Calandshoff erkundiget." 201 E. Schmidt, Staat und Recht (Fußn. 11) S.44; ders., Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn. 181) S. 16. 202 (Fußn.1) S.484 sub 5 und 6, S.485; hierzu auch Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 318; Bornhak (Fußn.182) S.269; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn. 181) S. 6 f.

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Die von Friedrich dem Großen postulierte und proklamierte Abstinenz in gerichtlichen Verfahren hatte nicht für die Strafrechtspflege gegolten, so daß er205 wie seine Nachfolger206 von der Befugnis der Strafschärfung in einzelnen Fällen Gebrauch machten. Suarez hatte hiervor gewarnt, weil der Regent nicht härter strafen dürfe als das Gesetz und die Erkenntnisse der Kriminalgerichte die Vennutung der Gesetzmäßigkeit in sich trügen207, so daß der Herrscher auch "bei dem besten Willen und dem reinsten Gerechtigkeitseifer" Gefahr laufe, Ungerechtigkeiten zu begehen208. Dennoch wurde auch in das Allgemeine Landrecht ein Verbot der Strafschärfung nicht aufgenommen-. Noch in einer Order vom 2.1.1801 wurde betont, daß die Befugnis, Strafen zu schärfen, zu mildern oder zu verwandeln, Vorbehalt der Krone sei210, und der Erlaß vom 6.9.1815 211 , der die vollkommene Selbständigkeit der Gerichte bei ihren "Entscheidungen durch Urtel und Recht" erstmals für die gesamte preußische Monarchie verkündete, bezog sich nicht auf Kriminalsachen212 . Nicht zuletzt als Folge der spektakulären Fälle von Kabinettsjustiz im ausgehenden 18. Jahrhundert setzte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein der staatsrechtliche Grundsatz durch, daß der Landesherr den Gesetzen verbunden ist und deshalb Machtsprüche oder Verschärfungen strafgerichtlicher Erkenntnisse unzulässig sind/?13. Von 203 Vgl. Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S.319; Bornhak (Fußn.182) S.269, 276; E. Schmidt, Staat und Recht (Fußn.11) S. 47; dens., Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn. 181) S. 39 f.; Hoi!evar (Fußn. 197) S. 35 f. 204 Vgl. Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 326 ff., 334 f.; Bornhak (Fußn. 182) S. 268. 205 Siehe Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S.311; WiUenbücher (Fußn. 11) S. 59 ff. 208 Vgl. Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 312 f., 318 f., 326 ff. 207 Suarez (Fußn. 1) S. 36 sub 3. 208 Suarez (Fußn.l) S. 428 f.; vgl. auch Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn. 182) S. 318; E. Schmidt, Rechtssprüche und Machtsprüche (Fußn.181) S.19 f. 209 Vgl. Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn. 182) S. 319 f. 210 Hierzu Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn. 182) S. 359. 211 Preuß.GS S.198. 21l! Hierzu Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn. 182) S. 433 ff. 211 Ein ausdrückliches Verbot der Strafschärfung enthielten § 15 Abs.3 der Verfassungsurkunde des Großherzogthums Baden v. 22.8. 1818 (abgedr. in Stoerk, Handbuch der deutschen Verfassungen, [Leipzig 1884] S.214); § 208 der Neuen Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig v. 12.10. 1832 (Stoerk a.a.O. S. 357); § 45 des Gesetzes, die Verfassung des Fürstenthums Reuß ä. L. betreffend, v. 28. 3. 1867 (Stoerk a.a.O. S. 521). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn. 182) S.329.

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111. Die Abolition

der obersten Gerichtsherrlichkeit des Souveräns im absoluten Staat bleibt im Konstitutionalismus lediglich das Begnadigungsrecht, in einzelnen Fällen auch das Abolitionsrecht erhalten21 4, weil der Rechtsstaat zunächst nur Durchbrechungen des Gesetzes durch die Exekutive zum Nachteil des Bürgers verhindern will. Das Begnadigungsrecht des Staatsoberhaupts kann nicht schöner umschrieben werden, als es Suarez 215 in seinen Kronprinzenvorträgen tat: "Dagegen haben die Gesetze dem Monarchen das herrliche Vorrecht der Begnadigung reserviert, vermöge dessen er befugt ist, eine nach den Gesetzen erkannte härtere Strafe in eine gelindere zu verwandeln, die Dauer der Strafzeit zu mindern oder auch die Strafe ganz zu erlassen. In diesem Vorrecht ist er durch keine Gesetze eingeschränkt. Inzwischen werden Grundsätze der Klugheit und der Gedanke, daß die Straflosigkeit der Verbrechen die Macht der Gesetze schwäche und die Unsicherheit im Staate vermehre, den weisen und sein Volk liebenden Monarchen immer bewegen, von diesem Vorrecht nicht zu oft und nicht aus bloßer persönlicher Zuneigung oder Gunst Gebrauch zu machen."

III. Die Abolition 1. "Die Gnade fließet aus vom Throne, das Recht ist ein gemeines Gut216 ." Dieser Ausspruch charakterisiert den Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts, in dem das Gesetz Allgemeingut wird, "alle Mitglieder des Staates ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts"217 ver-

Vgl. Ogris, Art. Kabinettsjustiz (Fußn.185) Sp. 517; Willenbücher (Fußn. S. 61; Dahlmann, Die Politik (Leipzig 1847) S.98 Nr. 122. Aufschlußreich ist insbesondere die Entwicklung in den preußischen Rheinprovinzen, in denen im Gegensatz zu den altpreußischen Gebieten Geschworenengerichte bestanden. Hier wurde das für Altpreußen unbestrittene Bestätigungsrecht des Staatsoberhaupts als Kabinettsjustiz angesehen und dem König lediglich das Begnadigungsrecht, nicht aber die Befugnis, den "Wahrspruch" der Geschworenen zu verwerfen, zugestanden; vgl. Stölzel, Rechtsverwaltung (Fußn.182) S. 472 ff. 215 a.a.O. (Fußn. 1) S. 36 sub 4. 218 Ludwig Uhland, Vaterländische Gedichte, Nr.13: Nachruf in: Gedichte und Dramen in zwei Bänden, Bd. 1 (Stuttgart 1892) S. 76. 217 So § 22 Einl. PrALR. 214

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bindet und von jedermann beansprucht werden kann, während die Gnade ein dem Staatsoberhaupt nach dem Verbot der Kabinetts- oder Administrationsjustiz verbleibendes, nicht geschuldetes Privileg darstellt. Der Umfang dieses Privilegs schrumpft allerdings mit dem Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus zusammen. Noch nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht218 und dem Codex juris Bavarici Criminalis219 konnte das Oberhaupt des Staates die strafrechtliche Untersuchung im Einzelfall niederschlagen und damit den Täter auch vor der Verurteilung begnadigen. Bereits die bayerische Konstitution von 1808 220 sah jedoch vor, daß der König in Kriminalsachen zwar Gnade erteilen und die Strafe erlassen oder mildern, aber "in keinem Fall irgend eine anhängige Streitsache oder angefangene Untersuchung hemmen" dürfe. Nach der Verfassung anderer Staaten stand dem Souverän die Abolition221 nur bis zur Untersuchung oder Bestrafung der Tat zu. m , teilweise war die Niederschlagung von Gutachten des zuständigen Gerichts abhängig2~. § 81 der Reichsverfassung von 1849 forderte für das Verbot der Einleitung oder Fortsetzung von § 9 11 13. v. 7.10.1751, § 3 Teil II, 11. Kap.: "Die Begnadigung wiederfähret dem Uebelthäter entweder vor oder nach gesprochenen peinlichen Urtheil. Beydes hängt lediglich von der Landesfürstlichen Macht und Ober-Herrlichkeit ab." 220 v. 1. 5. 1808 (RegBl. 985), Tit. V § 4; vgl. auch Tit. VIII § 4 der Verfassungsurkunde v. 6.6.1818 (GBl. S.102), hierzu auch Joseph HeimbeTgeT, Das landesherrliche Abolitionsrecht (Leipzig 1901) S.65; ferner § 69 Abs.6 der Verf. v. 14. 8. 1919 (GVBl. S.531). 221 Zum Begriff und zur Rechtsnatur der Abolition vgl. HeimbeTgeT (Fußn.220) S. 4 ff.; E. Schmidt, Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. II (Tübingen 1932) S.570; BGHSt 4, 287 (289); RGSt 53, 39 (41); 55, 231; 59, 54 (56). Zur abolitio im Römischen Recht vgl. Mommsen (Fußn.33) S. 452 ff.; Waldstein (Fußn.45) S. 45 ff., 137, 153 ff., 158 ff., 203 ff., 212 f. Die Niederschlagung eines schwebenden Verfahrens bedurfte eines Gesetzes und kam in der republikanischen Zeit nicht vor, so Rein (Fußn.45) S.264, Mommsen, a.a.O. S. 455. Später gab es allgemeine Niederschlagungen durch Senats beschluß oder kaiserlichen Erlaß (Mommsen S. 455, 457). 222 Vgl. § 140 des Staatsgrundgesetzes für die Herzogthümer Coburg und Gotha v. 3.5.1852, StoeTk, Handbuch (Fußn.213) S. 458; Art. 49 Abs.1 und 3 der preußischen Verfassung von 1850 (hierzu auch Fußn.224). 223 Nach § 208 der Neuen Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig vom 12. 10. 1832 (StoeTk, Handbuch [Fußn. 213] S. 357) konnte der Landesfürst eine angefangene Untersuchung nur niederschlagen, nachdem das Oberappellationsgericht sich gutachtlich darüber geäußert hatte; nach § 47lit. i der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 7.11.1875 (StoeTk a.a.O. S. 600) gehörte zum Wirkungskreise des Senats Begnadigung, Milderung und Abolition in Strafsachen nach vorgängigem Gutachten des dafür zuständigen Gerichts; vgl. auch HeimbeTgeT (Fußn.220) S.50, 57 ff. 218 219

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111. Die Abolition

Untersuchungen die Zustimmung des Reichstags. Artikel 49 Abs. 3 der preußischen Verfassungsurkunde setzte für die Niederschlagung einer bereits eingeleiteten Untersuchung eine Ermächtigung in einem besonderen Gesetz voraus!l!4.

Für die Weimarer Reichsverfassung war anerkannt, daß sich das Begnadigungsrecht des Reichspräsidenten nicht auf die Abolition einzelner oder bestimmter anhängiger Strafsachen bezo~. Die Regelungen in den Länderverfassungen waren unterschiedlich: In Bayern war die Abolition anhängiger Verfahren traditionellerweise (auch dem Landtag!) verboten228 , einige Länder verlangten für sie eine gesetzliche Grundlage227, Schaumburg-Lippe sogar ein qualifiziertes Gesetz!1!8, während sich andere Länder mit der Zustimmung des Landtags begnügten229 . Die übertragung des Abolitionsrechts auf den Reichspräsidenten!30 im Dritten Reich ist Indiz für die Abkehr vom traditionellen Rechts224 Zum Charakter dieses Gesetzes vgl. Laband, Das Budgetrecht (1871, Nachdruck Berlin, New York 1971) S.9. VOT der Einleitung eines Strafverfahrens stand dem König noch das Niederschlagungsrecht zu. Insoweit rechnete die Abolition zur Begnadigung, vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd.!II (Fußn. 27) S. 63; Heimberger, (Fußn.220), S. 57 ff. 226 Vgl. Anschiitz, WRV (Fußn. 37) Art.49 Anm.4, S.304; Kern, Der gesetzliche Richter (Berlin 1927) S. 208 f.; Robert v. Hippel, Deutsches Strafrecht Bd.!I (Berlin 1930) § 41 IV 1 a S.575; für das Verfassungsrecht des Deutschen Reichs von 1871 schon Binding, Grundriß des Deutschen Strafrechts, Allg. Teil, 8. Aufl. (Leipzig 1913) S.316; L. v. Bar (Fußn.175) S.470, 497. Reichsminister Preuß in der 26. Sitzung des Verfassungsausschusses: "... daß nach dem feststehenden Sprachgebrauch sich das Begnadigungsrecht nur auf rechtskräftige Bestrafungen bezieht" (Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, S.289). 228 Vgl. § 69 Abs.6 der bayerischen Verfassung v. 14.8.1919 (GVBl. S.531); vgl. in diesem Zusammenhang aber auch Art. 3 ff. des (verfassungsändernden) Gesetzes über Straffreiheit v. 21. 12. 1925 (GVBl. S.273); hierzu auch Kern (Fußn. 225) S. 211. 227 Art. 36 Abs.4 der Verfassung des Freistaates Braunschweig v. 6.1.1922 (GVS S.55); Art.54 Abs.3 der Preußischen Verfassung v. 30.11.1920 (GS S.543). 228 § 34 der Verfassungsurkunde v. 24.2.1922 (Landesverordnungen S.27). 229 Vgl. § 47 Abs.1 Nr.5 der Thüringischen Verf. v. 11.3.1921 (GS S.57). 230 Art. 2 Abs. 1 des Ersten Gesetzes zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich v. 16.2.1934 (RGBl. I S.91); hierzu auch Eduard Kern, Die Überleitung der Justiz auf das Reich (Freiburg 1934) S. 29 f.; siehe ferner den Erlaß des Reichspräsidenten über die Ausübung des Niederschlagungsrechts vom 21. 3. 1934 (RGBl. I S.211) und § 1 Abs.2 Nr.2 der Gnadenordnung v. 6. 2. 1935.

III. Die Abolition

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staat231 ; das preußische "Gesetz zur Wiederherstellung des uneingeschränkten Begnadigungsrechts des Staatshaupts"2ft offenbart neoabsolutistischen Charakter 233 • 2. Das Verfassungsrecht der Bundesrepublik geht auch hinsichtlich der Abolition auf den Rechtszustand der Weimarer Republik zurück. Soweit die Länderverfassungen Regelungen enthalten, lassen sie die Niederschlagung von Strafverfahren ebenso wie Amnestien nur durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes ZUl!34. Teilweise wird die Niederschlagung einer einzelnen gerichtlich anhängigen Strafsache ausdrücklich für unzulässig erklärt235 • Das Grundgesetz enthält wie die Weimarer Reichsverfassung keine besondere Regelung. Insbesondere die geschichtliche Entwicklung zeigt jedoch, daß die Abolition von der Begnadigung im engeren Sinne zu trennen ist, so daß die Niederschlagung eines Strafverfahrens nicht von der Begnadigungskompetenz des Bundespräsidenten nach Artikel 60 Abs. 2 GG umfaßt wirdll3'6. Daraus folgt für das deutsche Staatsrecht, daß die Gnadenbehörde nicht zu Individual-Abolitionen befugt ist. Der Gesetzgeber seinerseits kann eine Individual-Abolition ebenso wenig wie eine Individual-Amnestie erlassenlm • Er kann nur allgemeine Straferlasse (Amnestien als GeneralBegnadigungen) und die Niederschlagung bestimmter Arten von Strafverfahren als General-Abolitionen beschließen, also generell Strafen erlassen und Verfahren niederschlagen, wobei General-Abolitionen meistens entweder im Zusammenhang mit Amnestien238 oder mit StrafSiehe hierzu auch oben S. 15 f. v. 22.7.1933 (GS S.270). 288 Aufschlußreich erscheint in diesem Zusammenhang, daß nach Art. 121 Nr.11 der Verfassung (Grundgesetz) der UdSSR v. 7.10.1977 (in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Presse der Sowjetunion, Heft 42 [1977] S. 3 ff.) sowohl die Amnestie als auch das Begnadigungsrecht dem Präsidium des Obersten Sowjets zustehen. 234 Vgl. Art.52 Abs.2 bad.-württ. Verf. (hinsichtlich allgemeiner Niederschlagungen); 121 Abs.3 brem. Verf.; Art.44 Abs.2 hamb. Verf.; Art.109 Abs.3 hess. Verf. (Erfordernis der "Zustimmung"); Art.27 Abs.2 nieders. Verf.; Art. 59 NRW-Verf. 235 Art. 121 Abs.3 S.2 brem. Verf.; Art. 109 Abs.3 S.2 hess. Verf. 238 Vgl. Maunz I DiiTig I HeTzog I Scholz, GG, Art.60 Rdnr.9; v. Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Auft. Bd. II (Berlin, Frankfurt 1964) Art. 60 Anm. IV 1 a S.1180; Giese I Schunck, Grundgesetz, Art. 60 Anm.5; unrichtig H. MayeT (Fußn. 97) S. 402 f. 237 Vgl. BVeTfGE 8, 332 (361); 10, 234 (244 sub BI 5); anders noch KeTn (Fußn.225) S. 209 für das Verfassungsrecht der Weimarer Republik. 218 Vgl. Z. B. § 3 des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit v. 31.12.1949 (BGBI. S. 37); § 2 Abs.2 des Gesetzes über den Erlaß von Strafen 281

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IIr. Die Abolition

rechtsreformgesetzen239 erlassen werden. Der individuelle Gnadenerweis beschränkt sich damit auf den Erlaß oder die Milderung einer gerichtlich verhängten Strafe und erstreckt sich nicht auf eine Verzeihung vor oder während eines anhängigen Verfahrens. Damit unterscheidet sich das deutsche Verfassungsrecht von dem anderer Staaten, die teilweise entweder explicite 240 oder incidenter241 dem Staatsoberhaupt das (Individual-)Abolitionsrecht einräumen. So konnte in den Vereinigten Staaten von Amerika Präsident Ford seinen Amtsvorgänger Nixon noch vor einer Anklageerhebung hinsichtlich aller etwaigen Vergehen gegen den Staat in der Zeit von 1969 bis 1974 begnadigen 242.

3. Das Verbot der (Individual-)Abolition gründet nicht in dem Verfassungssatz, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf243 • Denn dieses Prozeßgrundrecht, das die Kabinettsjustiz verbietet und die Richterjustiz garantiert244 , will - wie seine Entund Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren v. 17.7.1954 (BGBl. I S.203). 239 Vgl. §§ 1, 3 Abs.1 des Gesetzes über Straffreiheit v. 9.7.1968 (BGBl. I S.773). 240 Art. 65 Abs. 2 lit. c österr. B.-VG., wonach der Bundespräsident die Befugnis der "Niederschlagung des strafgerichtlichen Verfahrens bei den von Amts wegen zu verfolgenden strafbaren Handlungen" hat; vgl. aber auch Art. 142 Abs.5 B.-VG. Hierzu Nowakowski, Das österreichische Strafrecht in seinen Grundzügen (Graz, Wien, Köln 1955) S. 105 f.; Theodor Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, Bd. I, 2. Aufi. (Wien 1954) S. 368 ff.; Pfeifer, JBl. 1952, 256 ff.; Ent, OJZ 1956, 356 ff., 396 ff.; Zitta, ÖJZ 1964, 229 ff., 253 ff.; Knaipp, JBl. 1965, 615 ff.; Klecatsky, JBl. 1967, 445 ff. 241 Vgl. Art. II Section 2 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika v. 17.9.1787 (abgedruckt bei Franz, Staatsverfassungen, 2. Aufi. [Darmstadt 1964] S.10 ff.). Ob Art. 85 Nr.7 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft v. 29.5.1874, wonach Nationalrat und Ständerat die Befugnis zur "Amnestie und Begnadigung" haben, auch das Recht der Abolition umfaßt, ist umstritten. Bejahend Willy Brunner, Die Begnadigung nach eidgenössischem Recht und dem Entwurfe eines schweizerischen Strafgesetzbuches, Diss. (Zürich 1923) S.112; ablehnend Conracl Stockar, Das schweizerische Begnadigungsrecht (Zürich 1901) S. 89; Burckharclt, Kommentar der schweiz. Bundesverfassung, 3. Aufi., (Bern 1931) S. 684. 242 Proclamation 4311 v. 8.9. 1974, United States Statutes at Large 1974, Vol. 88 Part. II S.2502. 248 So schon für das Verfassungsrecht des Deutschen Reichs Heimberger (Fußn. 220) S. 21; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. III, 5. Auf!. (Tübingen 1913), S. 511 f.; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. III (Fußn. 27) S.63 Anm.29; a. A. Maurach, Deutsches Strafrecht, A1lg. Teil, 4. Aufi. (Karlsruhe 1971) § 75 I B 1 S. 948; Karl Engisch, Recht und Gnade, in: Schuld und Sühne, hrsg. von Freudenfeld (München 1960) S.109.

IH. Die Abolition

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stehungsgeschichte und seine systematische Stellung zeigen - nur verhindern, daß eine Streitsache statt zu dem an sich zuständigen zu einem gewillkürten Richter oder vor die Exekutive gelangt. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters sichert die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit und damit die Rechtsstaatlichkeit auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit245, schreibt aber nicht vor, daß jeder Rechtsbrecher vor Gericht gestellt werden muß246 und niemand seiner Strafe, einem Strafverfahren und damit seinem Strafrichter entzogen werden darf, wie eine vordergründige Betrachtung allein des Verfassungswortlauts nahelegen könnte. Die Verfassungsnorm statuiert keinen Anklagezwang, kein strafprozessuales Legalitätsprinzip 247, weshalb Amnestien und (General-)Abolitionen auf Grund eines Gesetzes sowie Einstellungen von Verfahren aus Opportunitätsgründen248 nicht dem ArtikellOl Abs.l Satz 2 GG widersprechen 249 . Vielmehr entziehen sie ihm gleichsam die Geschäftsgrundlage, weil für den gesetzlichen Richter nichts mehr zu beurteilen oder zu verurteilen bleibt. In gleicher Weise steht das Gewaltentrennungsprinzip der Abolition nicht entgegen250 , weil dieses - von der Verfassung ohnehin vielfach durchbrochen - anderenfalls auch die Staatsanwaltschaft hindern müßte, ohne Zustimmung eines Gerichts251 von der Strafverfolgung aus Opportunitä tsgründen abzusehen. 244 Vgl. BVerfGE 4, 412 (416); Maunz / Dürig / Herzog / Schotz, GG, Art. 101 Rdnr. 1. Indiz hierfür ist auch, daß viele Verfassungen des 19. Jahrhunderts einerseits die Kabinettsjustiz verboten und die Unabhängigkeit der Gerichte garantierten, andererseits gleichzeitig das Abolitionsrecht anerkannten; vgl. hierzu Heimberger (Fußn.220) S. 17 ff. 245 Vgl. BVerfGE 4, 412 (416); 40, 356 (361). 246 Ebenso Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.101 Rdnr.21; Kern, (Fußn.225) S. 213 f.; Bettermann, Die Grundrechte Bd. III/2 (Berlin 1959), S.558 sub IV 1 c (2); Joachim Henkel, Der gesetzliche Richter (Diss. Göttingen 1968) S. 128. 247 Bettermann, (Fußn.246) S. 558 f.; J. Henkel (Fußn.246) S.127; unrichtig Oehler, Der gesetzliche Richter und die Zuständigkeit in Strafsachen, ZgesStrW Bd. 64 (1952) S. 302. 248 Hierzu Heinitz, Zweifelsfragen des Opportunitätsprinzips in: RittlerFestschrift (Aalen 1957) S. 327 ff. 248 Vgl. hierzu Maunz / DüTig / Herzog, GG, Art. 101 Rdnr. 21; Kern, Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. II (Tübingen 1932), S. 493 f.; dens., (Fußn. 225) S.209, 214; Bettermann (Fußn.246) S.559; J. Henkel (Fußn.246) S. 128 f.; aber auch Karl Engisch, Recht und Gnade (Fußn. 243) S. 108 f. 250 So aber Schmidt-Bleibtreu / Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl. (Bonn 1977) Art. 60 Rdnr. 2. 251 Siehe §§ 153 Abs.1 S. 2; 153 a Abs.1 S.6 i. V. m. 153 Abs.1 S. 2; 153 c - d; 154 Abs. 1; 154 a Abs. 1; 154 b Abs. 1 - 3; 154 c StPO.

IV. Richterspruch und Begnadigung

Die Achtung vor dem für alle verbindlichen und alle verbindenden Gesetz ist es, die es der Gnadeninstanz verbietet, vor Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens oder während seines Laufs die Mühlen der Gerechtigkeit anzuhalten262• Wegen des Rechtsstaatsprinzips soll die Frage nach Recht oder Unrecht, nach Schuld oder Unschuld nicht im Zwielicht bleiben und nicht über alles vorzeitig der Mantel der Gnade gebreitet werden. Mommsen253 sieht zu Recht in der Befreiung von der Strafverfolgung einen Bruch der Rechtsordnung in weit höherem Grade als in der nach gefälltem Strafurteil gewährten Strafbefreiung. Auch das Gesetz hat - wie Bergengruen!fl4 formuliert - seine Würde und Ehre, die es hüten muß und nicht antasten lassen darf. Durch die Begnadigung mag der Verbrecher zwar seiner gerechten Strafe, er kann aber niemals seinem rechtmäßigen Strafurteil entgehen und den Gnadenerweis als Unschuldsbeweis reklamieren. Insoweit gehen Gesetz und Recht vor Gnade.

IV. Richterspruch und Begnadigung 1. Die Begnadigung setzt ein abgeschlossenes Strafverfahren voraus,

kann erst nach Rechtskraft des Strafurteils erfolgen255, weil die Gnadenbehörde der Justiz nicht in den Arm fallen darf. Durch den Gnadenspruch wird der Richterspruch als solcher weder tangiert noch korrigiert256• Das durch das Gericht gefällte Unwerturteil und der Makel 262 Vgl. Robert 'V. Hippel (Fußn.225) § 41 VII 3 S.583; Maurach, Strafrecht (Fußn.243) S. 948; Knaipp, JBl. 1965, 618; siehe in diesem Zusammenhang auch Kern, Der Aufgabenkreis des Richters (Tübingen 1939) S. 12 f. 253 (Fußn. 33) S. 456. 264 Das Feuerzeichen (Fußn. 19) 4. und 17. Kap. S. 60, 241. 266 h. M., siehe im einzelnen: BVerfGE 25, 352 (358); Maunz, in Maunz! Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 60 Anm.9; 'V. Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. Bd. II (Berlin, Frankfurt 1964) Art. 60 Anm. IV 1 a S. 1180; Ule, Art. Gnadenakte in: Evang. Staatslexikon, 2. Aufl. (Berlin 1975) Sp. 905 f.; Löwe! Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 22. Aufl. Bd.3 (Berlin 1974) Anm. V 1 b vor §§ 12 - 21 GVG S.2624; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl. (Berlin 1972) S.680; Maurach, Strafrecht (Fußn.243) S.949; vgl. schon Jhering, Der Zweck im Recht (Fußn. 80) S. 333.

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bleiben bestehen!l51. Die Begnadigung ist keine restitutio in integrum258 , der Rechtsbrecher wird durch sie nicht reingewaschen, der Schuldige nicht entschuldigt259. "Der Begnadigte ist nach wie vor ein Verbrecher; die Gnade spricht nicht aus, daß er kein Verbrechen begangen habe2 80 ." Da die Begnadigung Gesetz und Richterspruch respektiert und nicht desavouiert, kann der Ruf nach Gnade vielfach auch die Zustimmung des loyalen Staatsbürgers finden. Der Gnadenappell ist ebensowenig eine Auflehnung gegen Gesetz und Urteil281 , wie der Gnadenerweis eine Rüge für den Gesetzgeber oder Richter darstellt. So wird die notwendige Kontinuität der Rechtsordnung gesichert, ohne daß das 258 VgI. OLG Hamburg MDR 1977, 772; OLG Saarbrücken NJW 1973, 2037 r. Sp., sub 2; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts (München 1976) S.54 sub 5.2.1.1 und S. 115 sub 20.5.3. Zutreffend auch Laband, Staatsrecht (Fußn. 243) S.506 sub I 2: Die Begnadigung "steht der Schuld- und Rechtsfrage völlig unabhängig gegenüber". Ihm folgend Heimberger (Fußn.220) S.8. 257 VgI. Grewe (Fußn.45) S.90, wonach Grundgedanke der echten Begnadigung der bloße Straferlaß ist, "ohne daß das Verbrechen als solches mit seinen sonstigen Nebenwirkungen aufgehoben würde"; ähnlich schon Hugo Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. I (Bonn 1881) S. 729 in und zu Anm.2. 258 Zum Unterschied von Gnadenakt und restitutio in integrum vgI. auch BGHZ 10, 75 (77, 80); E. Schmidt, Handbuch (Fußn.221) S.569; ferner § 16 BundeszentralregisterG i. d. F. v. 22.7.1976 (BGBI. I S.2005) und BGHSt 4, 287 (290); vgI. aber auch Löwe / Rosenberg (Fußn.255) Anm. IV b) bb) vor §§ 12 bis 21, S. 2619; für die österreichische Rechtsordnung vgl. Ent, ÖJZ 1956, 364; zum römischen Recht siehe Waldstein (Fußn.45) S.132 ff. und Grewe (Fußn.45) S.62. In der republikanischen Zeit konnte das Volk - jedoch kein anderes Staatsorgan - durch ein besonderes Gesetz "in integrum restitutio" die Verbannung eines mit der Strafe des Exils belegten Verbrechers aufheben; vgI. Rein, (Fußn.45) S.265 m. w. Nachw.; für die Verhältnisse in der Kaiserzeit siehe Rein, a.a.O. S. 270 ff. 258 VgI. auch Nicolai Hartmann: "Wer den Schuldigen entschuldigt, vergeht sich zuinnerst an ihm." (Ethik, 4. Aufl.., Berlin 1962, S. 353). Ähnlich auch Hegel, wonach der Verbrecher durch die Strafe "als Vernünftiges geehrt" wird (Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, hrsg. von Baeumler, Jena 1927, § 100 S. 597); siehe hierzu auch Binding, Handbuch des Strafrechts Bd. I (Leipzig 1885) § 166 IV 2 S. 862; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip (Fußn. 99) S. 201 ff.; Eberhard Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe (Fußn. 100) S. 49 ff.; Ferner Guardini, Freiheit (Fußn. 9) S. 237 f. und 251 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch Ernst Jünger, Eumeswil, S. 301: "Will einer durchaus um seinen Kopf spielen, so soll man ihm das Spiel nicht verderben, sondern ihn ernst nehmen. Das gilt auch für den Hungerstreik." 280 Hegel (Fußn.259) § 282, Zusatz, S.863; vgI. auch E. Schmidt, Handbuch (Fußn. 221) S. 570. 281 Daher wurde auch für den Prinzen von Homburg der Weg zur Begnadigung erst frei, nachdem er Gesetz und Richterspruch bejaht hatte. VgI. in diesem Zusammenhang Alfred Hoppe, Die Staatsauffassung Heinrich v. Kleists (Bonn 1938) S. 37 t.; Geismann, Der Staat Bd. 17 (1978) S. 230 ff . • Speyer".

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IV. Richterspruch und Begnadigung

Gesetz als ungerecht oder der Richterspruch als Fehlurteil gescholten werden müßten. 2. Die Achtung vor dem Richterspruch verbietet es der Gnadeninstanz, "etwaige Irrtümer der Urteilsfindung nachträglich zu beheben und Fehlurteile im Ergebnis auszugleichen"262. Richterliche Fehlentscheidungen müssen im Wiederaufnahmeverfahren korrigiert und repariert werden261r• Sollten die strafprozessualen Möglichkeiten hierfür nicht ausreichen, so wäre das Wiederaufnahmerecht zu reformieren2il4 • Die rechtsprechende Gewalt ist nach Artikel 92 GG den Richtern und nur den Richtern anvertraut. Die Gnadenkompetenz darf dieses Rechtsprechungsmonopol nicht antasten und die Richterjustiz nicht durch eine Kabinettsjustiz ergänzen; "corriger la justice" ist nicht ihre Aufgabe.

Wenn auch die gnadenweise "Nachbesserung" eines wirklichen oder vermeintlichen Fehlurteils dessen Rechtskraft unmittelbar nicht berührt, so muß diese doch auch mittelbar geschützt und vor einer Aushöhlung bewahrt werden265 • Aus ähnlichen Gründen266 verbietet das Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 BGB, daß eine rechtskräftig abgewiesene bzw. verurteilte Partei die angebliche Unrichtigkeit des Urteils in einem Amtshaftungsprozeß geltend machen kann. Erst recht kann der Gnadenweg nicht für eine Kontrolle richterlicher Urteile offenstehen267 , weil die Gnadenbehörde anders als der Amtshaftungs262 Unrichtig BVerfGE 25, 352 (360); Laband, Staatsrecht (Fußn.243) S.507; Jescheck, Lehrbuch (Fußn.255) § 85 I 2 S. 678; Maurach, Strafrecht (Fußn.243) § 75 I A S.947; Rittler (Fußn.240) § 55, S.369; KarZ Peters, Strafprozeß, 2. Aufi. (Karlsruhe 1966) S.610; siehe dagegen Bettermann AöR Bd.96 (1971) S.540; Ent ÖJZ 1956, 358; KZecatsky, JBl. 1967, 450; ähnlich schon L. v. Bar (Fußn.175) § 194 S.467; Hugo HäZschner, Strafrecht (Fußn.257) S.726. 263 Vgl. in diesem Zusammenhang § 8 Abs.2 S.1 u. 2 der Gnadenordnung

für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26.11.1975 (GVBl.1976 S.17): "Der Weg der Gnade ist nicht dazu bestimmt, einen Rechtsbehelf zu ersetzen oder die Vollstreckung zu hemmen. Wendet sich der Verurteilte gegen den Schuldspruch oder die Angemessenheit der Entscheidung, so ist ihm anheim zu geben, den zulässigen Rechtsbehelf einzulegen." 264 Vgl. Bettermann, AöR Bd.96 (1971) S.540; Hugo HäZschner, Strafrecht (Fußn. 257) S. 726. 266 Vgl. M. RümeZin, Rechtssicherheit (Fußn. 102) S. 21, wonach die Wahrung der Autorität der Richtersprüche auch im staatlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Rechtssouveränität liegt. 266 Hierzu MeTten, Zum Spruchrichterprivileg des § 839 Abs.2 BGB in: Multitudo legum - ius unum, Festschrift für Wilhelm Wengier, Bd. II (Berlin 1973) S. 519 ff., insbes. S. 524 ff.

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richter schon aus Gründen der Gewaltentrennung die beim Richter monopolisierte Entscheidung der Sach- und Rechtsfragen nicht nachprüfen kann und nachprüfen darf. Das gilt auch und gerade für das in diesem Zusammenhang oft zitierte Indizienurteil268 • Bei Zweifeln ist der Angeklagte wegen des Grundsatzes "in dubio pro reo" ohnehin freizusprechen. Reichen die Indizien jedoch nach Auffassung des Gerichts für eine Verurteilung aus, so kann diese Entscheidung von der Gnadenbehörde, die anders als früher keine Bestätigungs- und keine Kontrollkompetenz mehr hat, nicht überprüft werden. Die Begnadigung darf sich daher nicht auf Umstände stützen, die der Richter bei seinem Urteilsspruch berücksichtigen konnte. Die Gnadenkompetenz berechtigt nicht zur Urteilsschelte und ein "comtempt of court" wäre ein Mißbrauch dieses Instituts. Anders verhält es sich, wenn die Gnade gerade eine gesetzliche Härte beseitigen will, die der Richter wegen seiner strengen Gesetzesbindung nicht vermeiden konnte. Dann soll mit dem Gnadenerweis aber auch nicht ein angebliches Fehlurteil, sondern ein gesetzmäßiges, im Einzelfall jedoch ungerechtes Urteil korrigiert werden. Dasselbe gilt für die Fälle einer späteren Gesetzesnovellierung oder der Änderung der Rechtsauffassung höchster Gerichte269 • Auch hier stützen sich allfällige Gnadengesuche auf Umstände, die nach der Rechtskraft des Urteils eingetreten sind.

267 Wie auch Steuern wegen sachlicher Unbilligkeit gemäß § 131 AO (a. F.) nicht mit der Begründung erlassen werden dürfen, ein die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung betreffendes rechtskräftiges Urteil sei falsch. So zutref· fend BFH BB 1977, 1292. Im Zivilprozeß kann sich niemand gegen die Zwangsvollstreckung mit der Begründung wenden, das zu vollstreckende Urteil sei unrichtig. Mit der Vollstreckungsgegenklage können nur Einwendungen geltend gemacht werden, die nach der mündlichen Verhandlung entstanden sind und früher nicht erhoben werden konnten. 268 VgI. Binding, Handbuch (Fußn.259) S.864; unrichtig Stammler, Der Richter (Donauwörth, Berlin 1924) S.87. 289 Hierzu KG NJW 1977, 1163.

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V. Voraussetzungen und Wirkungen der Begnadigung

V. Voraussetzungen und Wirkungen der Begnadigung 1. a) Die Begnadigung setzt eine freie Willensentschließung der zuständigen Gnadenbehörde voraus. Hieran mangelt es bei einer durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt oder einem empfindlichen Übel erzwungenen Freilassung von Strafgefangenen. Im Falle der vis absoluta270 fehlt es an einem staatlichen Akt überhaupt, liegt ein Nichtakt voz411, weil in Wirklichkeit nicht die Behörde, sondern der Gewaltausübende handelt272 • Wird durch vis compulsiva 270, z. B. durch Bedrohung von Geiseln, psychisch auf den Willen der Organwalter eingewirkt, so muß der von diesen erlassene Akt zwar dem Staat zugerechnet werden, ist jedoch als nichtig anzusehenm ,274. Das folgt für den Gnadenakt 270 Hierzu statt aller Eser in: Schönke / Schröder, StGB (Fußn.99) Vorbem. 6 ff., insbes. 9 a ff. vor §§ 234 ff. 271 Ebenso E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. (Bd. II, Tübingen 1954) S.738; UZe, Recht-8taat-Wirtschaft, Bd. III (Düsseldorf 1951) S.287 sub II 4; Hoke, DOV 1962, 281 1. Sp.; Pralle, (Fußn.76) S.89; Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. (München 1974) § 51 II b, jedoch zu weitgehend für die Fälle der durch unwiderstehliche Nötigung erzwungenen Handlungen. Hier liegt gerade kein Nichtakt vor. Unrichtig daher auch Hoke, a.a.O. 272 W. Jellinek, Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen (Tübingen 1908) S.114; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd.l, 10. Aufl., (München 1973) § 12 S.242; Kormann, System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte (Berlin 1910) S. 298. 278 Zutreffend Forsthoff, Lehrbuch (Fußn.272) § 12 S.242; E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht (Fußn.271) S.738; W. Jellinek, Der fehlerhafte Staatsakt (Fußn.272) S. 115 f.; ders., Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (Berlin 1931) S. 278 f.; Obermayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozeßrechts, 2. Auf!. (Stuttgart, München, Hannover 1975) S.122; AIscher, NJW 1972, 803 VI; a. A. Kormann (Fußn.272) S. 298 f.; Ule (Fußn.271) S.287 sub II 4; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz (München 1976) § 44 Anm. 6 f., S. 461; ungenau Ernst v. Hippel, Untersuchungen zum Problem des fehlerhaften Staatsakts, 2. Auf!. (Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960) S. 131 f.; PraUe (Fußn. 76 S. 89) differenziert zu Unrecht danach, ob der psychische Druck so stark ist, daß das Gnadenorgan nicht mehr "Herr seiner Sinne" ist; in anderen Fällen soll der Gnadenakt nur widerruflich sein. Aus § 48 Abs. 2 S.3 Nr.l VwVfG läßt sich kein Argument gegen die Nichtigkeit herleiten. Die Bestimmung beschränkt sich zum einen nicht auf den Fall der vis compulsiva, sondern erfaßt jegliche Art der Drohung; zum anderen können auch nichtige Verwaltungsakte zurückgenommen werden (vgl. Bettermann in: HamburgDeutschland - Europa, Festschrift f. Ipsen [Tübingen 1977) S. 273 ff. sub. All 3; Kopp, a.a.O. § 44 Anm. 9 S. 467; Obermayer [Fußn.273] S.128). 274 Derselben Auffassung war offensichtlich der Bundesminister der Justiz im Falle Lorenz, wenn er darauf verwies, die Entlassung der Häftlinge habe sich "ausschließlich im tatsächlichen Bereich" bewegt (Bulletin v. 6.3.1975,

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allerdings nicht aus der vom Bundesverfassungsgerichtm gegebenen Begründung, die Begnadigung sei nur als Ergebnis einer Prüfung denkbar, ob besondere Umstände die Verurteilten des Gnadenerweises würdig erscheinen lassen. Unbeschadet der allzu restriktiven Fassung der Gnadengründe mißt das Gericht zu Unrecht dem Gnadenverfahren die entscheidende Bedeutung zu. Nicht das fehlende Verfahren, sondern der gegen den Amtsträger ausgeübte Zwang macht den staatlichen Akt nichtig. Daher wäre auch die erpreßte Freilassung eines Strafgefangenen, der intern bereits für begnadigungswürdig befunden wurde und dessen Entlassung unmittelbar bevorstand, keine wirksame Begnadigung276, weil sie erzwungen wurde. Denn der Rechtsstaat darf sich nicht durch Privatgewalt277 zu einem Handeln bestimmen lassen und grundsätzlichrn! die durch Gewalt oder Drohung erzwungenen Staatsakte nicht als wirksam anerkennen!79. Daher ist dem Bundesverfassungsgericht2lJO uneingeschränkt zuzustimmen, daß die rechtsstaatliche Verfassung alle Staatsgewalt zwingend verpflichtet, freigepreßte Häftlinge wieder zu ergreifen und das Strafverfahren oder die Strafvollstreckung gegen sie fortzusetzen. Die allgemeine Formel, jeder könne sich zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit auf die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts berufen281 , ist für den Staat dahin zu spezialisieren und zu präzisieren, daß dieser selbst, soweit das Gesetz nichts anderes zuläßt, zur Nr.30, S. 300); vgl. in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des Areopag Athen v. 1. 10. 1976 in Sachen Pohle, EuGRZ 1977, 18 ff. (20). 276 E 46, 214 (223). 278 Wie umgekehrt der bloße Irrtum über die Person den Begnadigungsakt ebensowenig wie einen anderen staatlichen Akt unwirksam macht, weil der Irrtum an sich keinen selbständigen Fehlertatbestand darstellt. Statt aller FOTsthoff, Lehrbuch (Fußn. 272) § 12 S. 240. 277 Vgl. MeTten, Rechtsstaat (Fußn.88) S. 41 ff. 178 Es sei denn, daß besondere Gründe für die (vorläufige) Wirksamkeit des erzwungenen Aktes sprechen. So ist gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 1 BBG die durch Zwang herbeigeführte Ernennung eines Beamten zurückzunehmen und nicht gemäß § 11 nichtig. Vgl. ferner § 96 Abs.2 RAO; anders jetzt § 130 Abs.2 Nr. 2 AO 1977, der den Zwang nicht mehr als Beispielsfall eines durch unlautere Mittel erwirkten Verwaltungsakts aufzählt. 271 Insoweit unterscheidet sich auch das öffentliche Recht vom Privatrecht, so daß aus § 122 BGB keine Schlüsse gezogen werden können (anders aber Kormann [Fußn. 272] S. 298 f.). Zur Behandlung der vis absoluta und vis compulsiva im gemeinen Recht DeTnbuTg, Pandekten, 1. Bd., 2. Au1l. (Berlin 1888) § 103 S. 236 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang ferner Siegfried Schlossmann, Zur Lehre vom Zwange (Leipzig 1874). 180 E 46, 214 (224). 281 Statt aller Wolff I Bachof, VerwR I (Fußn.271) § 51 !II d 2, S.432.

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Reklamation der Nichtigkeit eines staatlichen Aktes gehalten ist, denn die Verwirklichung des Rechts ist als Ausfluß des Legalitätsprinzips den "Organen der Staatsgewalt als Pflicht auferlegt"282. Verfassungsrechtlich schlecht beraten war daher der damalige Bundesminister des Innern, Maihoter, als er nach dem Austausch von fünf Anarchisten im Falle Lorenz laut Presseberichten2Sa erklärte, die Bundesrepublik werde keine Auslieferungsanträge stellen. Da die Zwangslage28 ' mit der Befreiung der Geisel weggefallen war, mußten die Gesetze von nun an ihren Lauf nehmen285• b) Der abendländische Rechtsstaat darf grundsätzlich nicht in morgenländischer Weise mit staatlicher Strafe Handel treiben286 , mit Verbrechern paktieren oder sich gar an gesetzwidrige Vereinbarungen halten. Nur in Extremsituationen und nur für deren Dauer darf er von seiner eigenen Rechtsordnung abweichen. Im übrigen hat er jedoch die Gesetze mit allen Mitteln - notfalls auch mit physischer Gewalt gegen Gesetzesbrecher durchzusetzen. Der Rechtsstaat kann nicht gründlicher verkannt und die rechtsstaatliche Dämmerung nicht deutlicher angezeigt werden, als wenn man die Anwendung staatlicher 282

v. Jhering, Der Kampf ums Recht (Fußn. 81) S.47.

Die Welt v. 22./23. 3. 1975. Die Frage, ob sich auch der Staat auf den rechtfertigenden Notstand (jetzt § 34 StGB) berufen kann, ist umstritten. Bejahend: Dreher, Kommentar zum StGB, 37. Auf!. § 34 Rdnr. 22 m. w. N.; BGH NJW 1977, 2172 f.; J. Schwabe, JZ 1974, 634, 636, 639; ders., NJW 1977, 1902 H.; Krey / Meyer, ZRP 1973, 1 f.; Volker Krey, ZRP 1975, 97; Lange, NJW 1978, 784 ff.; Schmidhäuser, in: Merten, Aktuelle Probleme (Fußn. 94), S. 53 ff.; Bundesminister der Justiz, Bulletin vom 6.3.1975 Nr.30 S.300. Verneinend: Klinkhardt, VerwArch 55 (1964), 264 ff., 297 ff.; 56 (1965) 60 ff.; Blei, JZ 1955, 625 (630); Gorski, DRiZ 1975, 242 f.; K. Amelung / H. Schall, JuS 1975, 565 (570); Amelung, NJW 1977,833; ders., NJW 1978, 623 f.; Sydow, JuS 1978,222 (224 f.); Kirchhof, NJW 1978, 969 (973 1.0.); Evers, Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, Berlin 1960 S. llO. Vgl. ferner BVerfGE 46, 1 (12 f.). 285 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Stellungnahme des Bundesministers der Justiz im Falle Lorenz. Dieser verweist darauf, daß der Strafanspruch selbst fortbestehe, "da weder eine Begnadigung noch sonst ein den Vollzug des Strafanspruches rechtlich hemmender oder beseitigender Akt ausgesprochen worden ist". (Bulletin v. 6.3.1975, Nr.30 S.300.) 288 V~l. in diesem Zusammenhan~ Schmidhäuser, Freikaufverfahren mit Strafcharakter im Strafprozeß? JZ 1973, 529 ff., insbesondere S.534 und 536; ferner Ernst-Walter Hanack, Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform - Bemerkungen zu § 153 a des Entwurfs für ein Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 30. 4.1972 - in: Festschrift für Wilhelm Gallas (Berlin, New York 1973) S. 339 ff.; Karl Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit (Frankfurt a. M. 1977). 283 284

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Gewalt gegen Verbrecher als Niederlage des Staates ansieht, wie dies die Regierung der Niederlande nach einer Geiselbefreiung erklärt hat, oder wenn man die durch Geiselnahme erzwungene Freilassung von Verbrechern in einen Sieg des Rechtsstaats ummünzen will. Offenbar empfindet man bereits nicht mehr, in welchem Maße der Rechtsstaat gedemütigt und erniedrigt wird, wenn er sich auf ein Feilschen um die Durchsetzung des Rechts einläßt. c) Aus diesem Grunde bestehen nicht nur kriminalpolitische, sondern erhebliche rechtsstaatliche Bedenken gegen die Einführung der Straffreiheit für den "Kronzeugen"~. Gerade im Rechtsstaat darf der Zweck nicht alle Mittel heiligen. Etwaige Vorteile bei der Verbrechensbekämpfung wiegen die Nachteile der Durchbrechung des Legalitätsprinzips und die Erschütterung der allgemeinen Rechtsüberzeugung nicht auf. Der den Rechtsstaat diffamierende Satz, daß man die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt288, erhielte neue Nahrung. Es scheint eine nationale Schwäche der Deutschen zu sein, ausländische Rechtseinrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Systemgerechtigkeit zu übernehmen, selbst wenn sie aus primitiveren Rechtsordnungen2811 stammen. Die Hilfe bei der Aufklärung von Verbrechen kann das Gericht im Regelfall bei der Strafzumessung ohnehin mildernd berücksichtigen. Stehen dem zwingende Mindeststrafen entgegen, so ist Raum für eine Herabsetzung oder einen Erlaß der Strafe im Gnadenwege!90. Auf diese Ver287 Hierzu Heike Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen? (Köln, Berlin, Bonn, München 1974); Hermann Jahrreiss, Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen in: Festschrift für Richard Lange (Berlin 1976) S. 765 ff.; Baumann, JuS 1975, S. 342 ff.; Jürgen Meyer, ZRP 1976, 25 ff.; Wolf Middendorff, Der Kronzeuge, ZgesStrW Bd. 85 (1973) S. 1102 ff.; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes, DRiZ 1975, 161 f.; siehe ferner Art. 1 Nr.1 (§ 129 a Abs. 5 Nr. 3) des Gesetzentwurfs der Fraktionen der SPD und FDP zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung vom 4.6.1975 (BT-Drucks. 7/3729), insbes. die Begründung a.a.O. S.7; Art. 1 des Gesetzesentwurfs des Bundesrates zur Erleichterung der Strafverfolgung krimineller Vereinigungen v. 5.6.1975 BT-Drucks. 7/3734), insbes. die Begründung a.a.O. S. 4 f.; Art. 1 Nr.1 (§ 129 a Abs. 5 Nr. 3) des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung v. 30.8.1975 (BT-Drucks. 7/4005), insbes. die Begründung a.a.O. S. 9 f. 288 Zu dem Sprichwort "Kleine Diebe hängt man, große läßt man laufen" vgl. Graf / Dietherr (Fußn.4) Nr.209, S.314, 317. 289 Vgl. Max Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß (Stuttgart 1960) S. 31; ihm in der Sache zustimmend Heike Jung (Fußn.287) S. 78 f. 290 Hierauf verweist auch Baumann, JuS 1975, 344 sub V; ablehnend FUangieri (Fußn. 2) S. 724 ff.

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V. Voraussetzungen und Wirkungen der Begnadigung

günstigung sollte der schuldig gewordene Kronzeuge jedoch niemals einen gesetzlichen Anspruch haben. Begnadigungen sind auch früher Straftätern zugesichert worden, um mit Hilfe ihrer Aussagen die Komplizen zu überführen291 • Als in Preußen seit 1826 eine Bande Diebstähle in großem Ausmaß begingat und ein verhaftetes Bandenmitglied. LöwenthaI, gegen das Versprechen der Begnadigung nähere Aufschlüsse anbot, wurde durch eine KabinettsOrdre vom 31. Januar 1831 in Aussicht gestellt, daß "dem LöwenthaI die Strafe aller derjenigen Diebstähle, welche er bisher verübte oder an deren Verübung er theilgenommen habe, erlassen werden sollte, wenn er, durch ein vollständiges Bekenntniß seiner Verbrechen, seine Mitschuldigen dergestalt bezeichne, daß wenigstens auf eine außerordentliche Strafe gegen dieselben erkannt werden könne ... "298. 2. Als einseitiger staatlicher Verzicht auf den rechtskräftig festgestellten Strafanspruch des Staates bedarf die Gnade nicht der Zustimmung des Gnadenempfängers~, falls nicht spezialgesetzlich etwas anderes vorgesehen istt95• Weder begründet das Strafrecht einen Anspruch 291 In Frankreich hatte man nach Abschaffung der Begnadigung in der französischen Revolution wenigstens versucht, eine Begnadigung für solche Verurteilten vorzusehen, die ihre Mittäter preisgaben. Vgl. hierzu Jacques Monteit, La Grace en Droit fran~ais moderne (Paris 1959) § 1 Nr. 19 S. 22. Das Institut des Kronzeugen war im übrigen schon dem römischen Strafprozeß bekannt. Der Konsul konnte in Gestalt der Zusage von fides publica Mitschuldige, die man zu Aussagen bewegen wollte, für straflos erklären (vgl. hierzu Johannes Merkel, Abhandlungen [Fußn. 137] S. 29 f.). m Hierzu A. F. Thiele, Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigenthümlichkeiten und ihre Sprache, Bd. 1, 2. Aufl. (Berlin 1842) S. 22 ff. IU Abgedruckt bei Thiele a.a.O. S. 30. 284 h. M.: Vgl. Anschütz, WRV (Fußn.37) Art. 49 Anm.1 S. 300; Meyer I Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. (München, Leipzig 1919) S.749; Binding, Handbuch (Fußn.259) § 166 IV 3 S.863; L. v. Bar (Fußn.175) § 198 S. 477 f.; Hälschner, Strafrecht (Fußn.257) S.730; Welcker (Fußn.1) S.431; E. Schmidt, Handbuch (Fußn.221) S.565; PraUe (Fußn.76) S. 70 ff.; siehe schon Mittermaier in: Feuerbach, Lehrbuch (Fußn.99) § 63 Note VII des Herausgebers S. 123 m. weiteren Nachw. Zu den theologischen Problemen des Verhältnisses von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit vgl. Schmaus (Fußn.8) S.254, 258, 267 f.; Pohle I Gummersbach (Fußn.158) S. 511 ff.; Ludwig Ott, Grundriß der katholischen Dogmatik (Freiburg 1952) S. 285 ff. sowie S. 261 f.; Guardini (Fußn.9) S. 83 lf., 243, 255; Tillich (Fußn.8) S. 53; Dombois (Fußn.151) S.174, 178; K. Reinhardt, Art. Gnadenstreit in: Historisches Wörterbuch (Fußn.8) Sp. 713 f. 295 Vgl. Art. 142 Abs.5 österr. B.-VG.; Siehe in diesem Zusammenhang schon § 3 Teil II 11. Kap. des Codex Juris Bavarici Criminalis v. 7.10.1751: " ... Wie aber niemanden gegen seinen Willen eine Gnad aufgedrungen wird;

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des Normverletzers auf Bestrafung, noch dient die Begnadigung allein oder überwiegend dem Interesse des Straftäters. Sie kann ebensogut im öffentlichen Interesse liegen, beispielsweise um rechtzeitig entgegen dem Anliegen des Verurteilten das Entstehen einer Märtyrer-Legende zu verhindern. Wenn auch aufgezwungene Gnade für den Buß- und SühnewiIligen unerträglicher sein mag als die Ver-Büßung der Strafe, so reicht doch ein sittliches!96 oder auch politisches Interesse an der Urteilsvollstreckung nicht aus, und an einer rechtlichen Beschwer fehlt es sowohl bei der General- als auch bei der Individualbegnadigung. Dagegen kann der Angeklagte im Falle der Abolition ein Interesse an der Feststellung seiner Unschuld durch ein unabhängiges Gericht haben, was ihm durch die Niederschlagung verwehrt wird287• Allerdings ist bei der General-Abolition - anders als bei der verfassungsrechtlich unzulässigen Individual-Abolition - die Gefahr eines Mißbrauchs des Instituts, z. B. um die Durchführung eines Strafverfahrens gegen einen politischen Gegner unmöglich zu machen und ihn mit einem Makel zu belassen, gering. Ebenso wie der Staat Strafrechtsnormen ändern oder aufheben kann, muß ihm auch gestattet sein, wegen bestimmter Delikte die Strafverfolgung einzustellen und laufende Verfahren ohne Einwilligung des Betroffenen niederzuschlagen298• 3. Die Individual-Begnadigung hebt weder die allgemeine (Strafrechts-)Norm noch das richterliche Urteil auf299; beide werden durch so stehet in des Uebelthäters freyer Willkühr, ob er solche annehmen, oder der Justiz seinen Lauf lassen wolle, ausgenommen die Leibs- und LebensStraffen, weil über sein Leib und Leben niemand uneingeschränktes Eigenthum und Herrschaft besitzet." 288 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kleist, Prinz Friedrich von Homburg, 5. Akt, 7. Auftritt: "Ich will das heilige Gesetz des Kriegs, das ich verletzt, im Angesicht des Heers, durch einen freien Tod verherrlichen"; Hermann Burte, Katte (Leipzig 1926), 5. Aufzug, 3. Auftritt, S. 122: "Keine Gnade! Es soll sein, wie es ist. ce 297 Siehe Laband, Staatsrecht (Fußn. 243) § 93 S. 505; Heimberger (Fußn.220) S. 5; vgl. in diesem Zusammenhang § 6 Abs.1 des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit v. 31. 12. 1949 (BGBl. I S. 37), § 17 Abs. 1 des Straffreiheitsgesetzes 1954 v. 17.7.1954 (BGBl. I S.203) und § 9 Abs.1 des Straffreiheitsgesetzes 1968 v. 9.7.1968 (BGBl. I S.773), wonach Beschuldigte, die ihre Unschuld geltend machen wollten, die Fortsetzung eines auf Grund dieser Gesetze eingestellten Verfahrens beantragen konnten; ferner § 11 Abs.1 des Straffreiheitsgesetzes 1970 v. 20.5.1970 (BGBl. I S.509), wonach auf Antrag des Beschuldigten ein eingestelltes Verfahren fortgesetzt wurde, wenn der Beschuldigte ein überwiegendes Interesse am Freispruch hatte. 288 Vgl. RGSt 69, 124 (126).

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den Gnadenakt nicht angetastet. Dieser befreit lediglich von den Wirkungen des Gesetzes und des auf ihm beruhenden Richterspruchs300 , weil der Staat auf seinen Strafanspruch verzichtetoo 1 und das rechtskräftige Urteil nicht vollstreckt. Das Strafurteil wird durch die Begnadigung ebenso wenig berührt, wie ein Zivilurteil beeinträchtigt wird, wenn der Gläubiger die ihm rechtskräftig zugesprochene Forderung nachträglich dem Schuldner erläßt. Wird die im Urteil verhängte Strafe gnadenweise gemildert oder aufgehoben, so kann die richterliche Sanktion nicht oder nicht in vollem Umfang durchgesetzt werden. Daher bezieht sich der Gnadenerweis lediglich auf die Vollstreckung des Strafurteils, ist bloßes Vollstreckungshindernis3Q2. Das Strafurteil wird dadurch weder "korrigiert" noch "fortgebildet"-, wie auch das auf eine Vollstreckungs gegenklage hin ergehende Erkenntnis das zugrunde liegende Urteil nicht modifiziert. Im Ergebnis stellt der Gnadenakt als Dispens304 eine Durchbrechung des für alle geltenden Gesetzes dar.

299 Vgl. Laband, Staatsrecht (Fußn.243) S.506; Heimberger (Fußn.220) S. 7 f.; Bettermann, Grundrechte (Fußn.246) S. 542; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. III (Fußn. 27) S. 63 Anm. 28, der sich gegen eine entsprechende Formulierung bei Grewe (Fußn.45) S.136 wendet; Kart Peters (Fußn.262) S. 611; Hätschner, Strafrecht (Fußn.257) S. 729; Pralle (Fußn.76) S.5. 300 Vgl. Binding, Handbuch (Fußn. 259) § 166 IV 1, S. 862; Heimberger (Fußn. 220) S. 7 f.; Maunz / Dürig / Herzog / Schotz, GG, Art. 60 Rdnr.9; Löwe / Rosenberg (Fußn.255) Anm. IV 4 vor §§ 12 bis 21, S.2617; WiUy Brunner (Fußn. 241) S. 30 f.; Hätschner a.a.O., Pralle a.a.O. 301 Vgl. BGHSt 3, 134 (136); 4, 287 (289); RGSt 53, 39 (41); 59, 54 (56); 69, 124 (126); Binding, Handbuch (Fußn. 259) § 166 IV 3, S. 863 f.; dens., Grundriß (Fußn.225) § 119 II S. 312; Heimberger (Fußn.220) S. 5 ff. Gegen die Verzichtstheorie hat insbesondere Laband (Staatsrecht [Fußn. 243] S. 507 ff.) Bedenken geäußert, die jedoch eher formaler Natur sind und in der Sache selbst keinen Unterschied begründen. Überzeugend hierzu E. Schmidt, Handbuch (Fußn. 221) S. 567 f. 302 So Maurach, Strafrecht (Fußn. 243) S. 949; Jescheck, Lehrbuch (Fußn. 255) S.679; Robert v. Hippet (Fußn.225) § 41 VI 1 S.580; Pralle (Fußn.76) S. 97 f.; Karl Peters (Fußn. 262) S. 611. 303 So aber Metall, Der heutige Sinn der Gnade, in: 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, hrsg. von Metall (Wien 1974) S.254, 252; vgl. auch Stammler, Der Richter (Fußn. 268) S. 85, wonach die Gnade den Richterspruch "nach ihrer Art berichtigen" will; zutreffend dagegen Kart Engisch (Fußn.243) S.117. 304 Vgl. Grewe (Fußn. 45) S. 120 ff.; hierzu auch Dombois (Fußn. 268) S. 171 f.; a. A. Willy Brunner (Fußn.241) S. 35 ff.

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VI. Gesetz und Gnade 1. Das generell-abstrakte, auf den Normal- oder Durchschnittsfall zugeschnittene und notwendigerweise rigorose Gesetz kann trotz Strebens nach Gerechtigkeit nicht immer jedem das Seine, suum cuique, geben. Schon Platon hat erkannt, daß das Gesetz nicht imstande ist, "das für alle Zuträglichste und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen"soo. Zur Wahrung der Rechtssicherhei1;306 kann, ja muß das Gesetz im Einzelfall beinahe zwangsläufig einmal Ungerechtigkeiten bewirkens07. Auch diese Erkenntnis steht hinter dem Satz "summum ius, summa iniuria"308, und je intensiver und je subtiler Normen reglementieren und den HandlungsspieIraum der gesetzesanwendenden Staatsgewalten reduzieren, desto häufiger müssen Spannungen zwischen Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit auftreten. Durch Gesetzesänderungen sind sie nicht zu lösen, denn das individuell ungerechte Gesetz kann generell gerecht, richtig309 sein, und ein für jeden Einzelfall adäquates Gesetz310 ist eine Utopie.

Muß somit der Gesetzgeber die Polarität von Normengerechtigkeit und Einzelfallgerechtigkeit hinnehmen, so kann sie auch der an das Gesetz gebundene Richter vielfach nicht beseitigen. Denn die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzipssll verbietet der Judikative, auf dem Kothurne des Super- oder SubsidiärGesetzgebers einherzustolzieren oder als "Sozialingenieur"sI2 die Rolle 305 Der Staatsmann, 293 b; ähnlich auch Aristoteles, Die nikomachische Ethik, 5. Buch, 1137 a 33 (übertragen von Olof Gigon, Zürich, 1967) S. 176 f. 308 Vgl. Max Rümelin, Rechtssicherheit (Fußn. 102) S. 57 ff. 307 Vgl. Bergengruen: "Es gehört auch das zur Gerechtigkeit, daß immer einige sein müssen, die Unrecht leiden." (Das Feuerzeichen [Fußn. 19] S. 240); vgl. hierzu auch Wipfelder (Fußn. 134) S. 84. 308 Hierzu Johannes Stroux, Summum ius summa iniuria (Leipzig o. J.); ferner Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte (Halle 1926, Nachdr. Bad Homburg 1964) S.58; Georg Eisser, Zur Deutung von "Summum ius summa iniuria" im römischen Recht in: Summum ius summa iniuria (Tübingen 1963) S. 1 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch J. H. Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter (Fußn. 4) S. 4 f. 309 Vgl. Stammler, Der Richter (Fußn. 268) S.86. 310 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Constant, Grundprinzipien (Fußn. 1) S. 238. Die Einsicht geht Filangieri (Fußn.2) S. 719 ab. Nach seiner Auffassung ist das Gesetz entweder verderbt oder gut; im ersten Fall sei es abzuschaffen, im zweiten sei die Begnadigung abzuschlagen, weil sie ein "Attentat gegen das Gesetz" darstelle. 311 Hierzu Merten DVBI. 1975, 677.

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des deus ex machina zu usurpieren. Gerade auch im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit darf der Richter wirkliche oder vermeintliche Gerechtigkeit nicht gegen das Gesetz ausspielen, wenn sich der Rechtsstaat nicht zum Justizstaat wandeln soll1m,. Wegen der Starre und Strenge des Gesetzes suchte man zu allen Zeiten nach Korrektiven, um im Einzelfall eine gerechte Entscheidung zu ermöglichen3u . So kannte schon das Altertum das Richten nach Billigkeit315, und dem ius stand die aequitas316 gegenüber, wobei seit Justinian zwischen dem ius strictum und dem ius aequum unterschieden wurde!17. Auch im Mittelalter bestand die Möglichkeit, nicht nur nach Recht, sondern auch nach Billigkeit zu entscheiden, wobei sich freilich die Grenze zur Gnade nicht eindeutig ziehen läßt31 8 • Der Rechtsstaat kann die Billigkeit319 als Alternative zum Gesetz nicht zulassen, weil dieses nicht zur Disposition der Rechtsanwender 312 Gegen den Richter als "Sozialingenieur" auch RYffeZ, ZschweizRecht N.F. Bd. 91 (1972) S. 461. 313 Vgl. Merten, Rechtsstaat (Fußn. 88) S. 23 ff.; dens., DVBl. 1975, 678 ff. 314 Vgl. hierzu Beyerle (Fußn.156) S.3; zum Unterschied von Norm-Gerechtigkeit und Einzelfall-Gerechtigkeit vgl. Fritz Werner, Das Problem des Richterstaates (Berlin 1960) S.14; siehe in diesem Zusammenhang ferner Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn.l05) S. 353 f.; Arthur Kaufmann, JuS 1978, 365 1. Sp. 315 Vgl. H. Meyer-Laurin, Gesetz und Billigkeit im attischen Prozeß (Weimar 1965); KarZ August Albrecht, Römische Aequitas (Dresden, Leipzig 1834, Nachdruck Leipzig 1969), zur Abgrenzung von aequitas und Billigkeit insbes. S. 18 ff.; Grewe (Fußn. 45) S. 19, 57. 318 Zum Verhältnis von Recht und Billigkeit vgl. auch Aristoteles, Die nikomachische Ethik, 5. Buch, 1137 a 33 (Fußn.305) S. 175 ff.; zur aristotelischen Billigkeit vgl. Triantaphytzopoulos, Rechtsphilosophie und positives Recht in Griechenland in: Symposion 1971, Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte, hrsg. von H. J. Wolff (Köln, Wien 1975) S. 24 ff., insbes. S. 47 f. 317 Vgl. hierzu Max Kaser, Römisches Privatrecht, 10. Auft. (München 1977) § 3 I, S.22 und § 33 IV 3 S. 139; Pringsheim, ius aequum und ius strictum in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt. Bd. 42 (1921) S. 643 ff., nachgedr. in: Pringsheim, Gesammelte Abhandlungen Bd. I (Heidelberg 1961) S. 131 ff. 318 Auch im römischen Recht ist nicht immer eindeutig feststellbar, ob eine Begnadigung (venia) schon aus der Anwendung der aequitas, oder auch bei objektiv gegebener Strafwürdigkeit erfolgt. Vgl. hierzu Waldstein (Fußn.45) S. 65 f.; Dahlmann, (Fußn.147) S. 190; zur Möglichkeit des römischen Gerichts, vor dem Prozeß oder während desselben Gnade walten zu lassen, vgl. Merkel, Abhandlungen (Fußn. 137) S. 29 ff. 319 Vgl. hierzu Platon, Die Gesetze, 757 E: "Denn Billigkeit und Nachgeben heißt von dem Vollständigen und genau Richtigen im Widerspruch mit dem

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stehen darf. Die Normenstrenge kann nur durch einen in die Norm integrierten Billigkeitsspielraum gelockert werden320 , der der Exekutive oder der Judikative eine Entscheidung nach billigem Ennessen eröffnet;M1. 2. Als "Sicherheitsventil "322 für Ausnahmefällel'23, als Selbstkorrektur der Gerechtigkei~ ist lediglich die Begnadigung in die Verfassung der demokratischen Rechtsstaaten übernommen worden. Da die Gnade selbst im Verfassungsrang steht und das Rechtsstaatsprinzip als solches nicht in Frage stellt, könnten nur Rechtsstaats-Puristen sie als verfassungswidrige Verfassungsnonn ansehen. Bei einer Gesamtschau lösen sich jedoch Dissonanzen im Wege hannonischer Interpretation=, und die Gnade muß nicht auf dem Altar des Rechtsstaats geopfert werden: Der rigorose Herrschaftsanspruch des Rechtsstaats wird für die Gnade wirklichen Recht ein Stück herunterreißen" (Sämtliche Werke, hrsg. von Loewenthal, Bd.3, 6. Aufi.1966, S.388); vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Berlin 1821) § 223: "Die Billigkeit enthält einen dem formellen Recht aus moralischen oder anderen Rücksichten geschehenden Abbruch ... "; hierzu Gerhard Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt (Berlin 1936) S. 163; Kant, Die Metaphysik der Sitten, Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre I (Werke [Fußn. 2] Bd. IV S. 341 f.). Zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Gelindigkeit vgl. Rudolf Stammler (Fußn.308) S.174 ff. Zur Billigkeit im Recht, insbesondere im Arbeitsrecht vgl. G. Frhr. v. Hoyningen-Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht (München 1978); zur Billigkeit im kanonischen Recht Elsener, Gesetz, Billigkeit und Gnade im kanonischen Recht (Fußn.4). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rechtssprichwörter: "Billigkeit muß das Recht meistern"; "Billigkeit ist größer als das Recht"; "Strenges Recht ist nicht freundlich"; "Strenges Recht verlangt viel Milde"; hierzu Graf / Dietherr (Fußn. 4) S. 4 ff. 320 Hierzu Karl Engisch (Fußn.110) S. 183; Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter (Darmstadt 1976) S.19; Joachim Gernhuber, Die integrierte Billigkeit in: Tradition und Fortschritt im Recht (Tübingen 1977) S.193 ff.; Josef Esser, Wandlungen von Billigkeit und Billigkeitsrechtsprechung im modernen Privatrecht in: summum ius summa iniuria (Tübingen 1963) S. 22 ff. m Vgl. z. B. §§ 315 Abs.1, 317 Abs.1, 319 Abs.1 S.l, 660 Abs.1, 745 Abs.2, 829, 920 Abs. 2, 971 Abs. 1 S. 3, 1246 Abs. 1, 1361 Abs. 3, 1381, 1587 c Nr. I, 1611 Abs. 1, 1615 i Abs. 1, 2048 S.2, 2156 S. 1 BGB. Vgl. ferner §§ 163 Abs. 1 S. 1, 227 Abs. 1 AO 1977 (§ 131 Abs. 1 RAO a. F.);· siehe in diesem Zusammenhang auch BVerwGE 39, 355. lIl!! Ihering, Zweck (Fußn. 80) S. 333. 321 Vgl. Kern (Fußn.320) S. 19 f.; Dulckeit (Fußn.319) S.163 f.; Engisch (Fußn. 110) S. 183. S24 Ihering, Zweck (Fußn. 80) S. 333. In Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufi. (Heidelberg, Karlsruhe 1977) § 2 111 2 c S. 28 m. weit. Nachw.

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zurückgenommen 326 und läßt insoweit bewußt Raum327 für staatliche Akte, die nicht durch das Gesetz determiniert sind. In diesem Umfang weicht das Gesetz der GnadeM8, und Gnade geht vor Recht, sie ist besser als das Recht, wie es schon in einem deutsch-rechtlichen, bis in das 13. Jahrhundert nachweisbaren Satz heißt329. Der Rechtsstaat, der mit der Formel "princeps legibus solutus" gebrochen hat, erkennt den Satz "clementia legibus soluta" an. Obwohl der Gnadenerweis, der allerdings zunächst die Gesetzesanwendung voraussetzt, durch die Milderung oder den Erlaß strafrechtlicher Sanktionen das für alle geltende Gesetz in einzelnen Fällen durchbricht336 , akzeptiert der Rechtsstaat diese Ausnahmeerscheinung. Er bedarf ihrer sogar, um die Staatsgewalten im übrigen um so strikter auf die Legalität verpflichten zu können. Als praeter- oder supralegales Institut kann die Gnade die "heilsame Strenge des positiven Rechts"S31 ohne Schaden für dessen Positivität im Einzelfall durch Nachsicht mildern und so einen möglichen Gegensatz von Gesetz und Gerechtigkeit beseitigenOO2, "richtiges Recht" herstellenllll3 . Gnade und Gesetz ergänzen einander&4.

Vgl. in diesem Zusammenhang Elsener (Fußn.4) S. 175. Vgl. auch BVerfGE 37,271 (280). 328 Vgl. schon das Rechtssprichwort "Gesetz weicht der Gnade"; hierzll Schroeder (Fußn. 4) S. 40. 329 Vgl. Hillebrand (Fußn.4) S. 201 ff.; Graf / Dietherr (Fußn.4) Nr. 602 f., S.397, 399 f.; Schroeder (Fußn.4) S.41; ferner die Nachweise in Fußn.4. Siehe im übrigen Schiller, Wilhelm Tell, 3. Aufzug: "Herr Landvogt, wir erkennen eure Hoheit; doch lasset Gnad' vor Recht ergehen." 330 Mit dieser Begründung hatte in Frankreich der Verfassungsentwurf von 1793 (constitution girondine) die Begnadigung abgelehnt: "Le droit de faire gräce ne serait que droit de violer la loi; il ne peut exister dans un gouvernement libre ou la loi doit etre egale pour tous." (tit. X, sect.III, art. 2.) Vgl. Jaques Monteil, La Grace en Droit fran!;ais moderne (Paris 1959) § 1 Nr. 19 S. 21 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ihering, Zweck (Fußn.80) S. 332 f. 331 Forsthoff, Lehrbuch (Fußn.272) S. 164; vgl. dens., Zur Problematik der Rechtserneuerung in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, hrsg. von Maihofer (Darmstadt 1972) S. 81. 332 Vgl. auch Stammler, Der Richter (Fußn.268) S.87. 333 Vgl. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte (Fußn.308) S.99, 107 ff.; dens., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Auft. (Berlin, Leipzig 1928) S.319; dens., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Bd.l (Berlin 1925) S.226; dens., Rechtsphilosophische Grundfragen (Bern 1928) S.82. 334 Vgl. in diesem Zusammenhang Augustinus, De spiritu et littera 19, 34: "lex ergo data est, ut gratia quaereratur, gratia data est, ut lex inpleretur (Aurelius Augustinus, Geist und Buchstabe [Paderborn 1968]). Hierzu auch Gottlieb Söhngen, Grundfragen einer Rechtstheologie (München 1962) S. 71. 326 327

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"Mitleid ist die Tugend des Gesetzes, nur Tyrannei braucht es zur Grausamkeit"33'5: Gesetzlichkeit ohne Gnade wäre die erbarmungslose Ordnung338, Gnade ohne Gesetzlichkeit das unberechenbare Chaosss7,3s8. Die Gnade ist nicht das Ende des Rechts - im Gegenteil: das Ende der Gnade wäre auch das Ende des Rechts, denn nichts ist schlimmer als gnadenloses Recht. 3. Das Gesetz ist objektiv, schematisch und logisch; die Gnade subjektiv, unschematisch und unlogisch. Anders als das prosaische Gesetz verkörpert die poetische Gnade die "lieblichen Gefühle"339, die in besonderen Situationen erst die "schönste Ordnung" herstellen. Das Gesetz ist mosaisch, die Gnade christlichew . Das unversöhnliche Gesetz richtetS41 , die versöhnliche Gnade rettetS42 • Deshalb wurde sie bezeichnenSS6 Shakespeare, Timon von Athen, 3. Aufzug, 5. Szene; hierzu auch KohLer (Fußn.174) S.109f. SS6 Vgl. in diesem Zusammenhang Guardini (Fußn.9) S.128: "Alles hätte den Charakter einer durchgehenden Zwangsläufigkeit und könnte, wenn auch auf komplizierten Wegen, vorausgesehen und berechnet werden. Es wäre eine gnadenlose Welt": ferner Hans Huber, Das Menschenbild des Rechts in: ZschweizRecht N.F. Bd. 80 (1961) S. 6 f. 337 Ähnlich schon Thomas von Aquin, Evangelia S. Matthaei et S. Joannis, Commentaria Tom. I, Evangelium secundum Matthaeum, 3. Ausg. (Turin 1919), cap. V, S. 75: "quia justitia sine misericordia crudelitas est; misericordia sine justitia mater est dissolutionis"; vgl. in diesem Zusammenhang auch Elsener (Fußn. 4) S. 189. SS8 Hierzu auch Seneca, Von der Gnade (Fußn.59) S.494: "Dennoch muß man das Verzeihen in's Allgemeine ausdehnen. Denn wo der Unterschied zwischen Guten und Schlechten aufgehoben ist, tritt Unordnung ein, und alle Laster walten frei." SSD Vgl. Heinrich v. Kteist, Prinz Friedrich von Homburg, 4. Aufzug, 1. Auftritt, Nathalie: "Vielmehr, was du, im Lager auferzogen, Unordnung nennst, die Tat, den Spruch der Richter, in diesem Fall, willkürlich zu zerreißen, erscheint mir als die schönste Ordnung erst. Das Kriegsgericht, das weiß ich wohl, soll herrschen, jedoch die lieblichen Gefühle auch." Hierzu auch Geismann, Der Staat Bd. 17 (1978) S. 216 f. 340 Vgl. Joh.1, 17; ferner Augustinus, De spiritu (Fußn.334) 15, 27; Merket, Begnadigung (Fußn.143) S. 295; Grewe (Fußn.45) S. 69 f.; Söhngen (Fußn.334) S. 99 f.; in diesem Zusammenhang auch Burte, Katte (Fußn.296) 4. Aufzug, 4. Auftritt: "Moses brachte das Gesetz, Christus bringt die Gnade: Gnade, Vater!" S41 Vgl. TiUich (Fußn.8) S.55: "Denn das Gesetz gebietet, kann aber nicht vergeben, es richtet, kann aber nicht annehmen." S42 Vgl. Cicero: "clementiae tuae iudicio conservati sumus" (Reden, Pro M. Marcello, cap. 12); siehe in diesem Zusammenhang auch Goethe, Faust (1. Teil, Kerker) und hierzu Irmgard Ackermann, Vergebung und Gnade im klassisischen deutschen Drama (München 1968) S. 235.

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derweise in der französischen Revolution von der jakobinischen Aufklärung durch Terror und Schafott nicht geduldef.343 und fand erst später wieder Eingang in die Verfassung344• Das rechtsstaatliche Gesetz muß berechenbar, seine Anwendung vorhersehbar, die Gnade muß unwägbar, unverläßlich und unkalkulierbar sein, soll sie nicht das Schwert des Gesetzes von vornherein stumpf machen. Ein Recht auf Gnade wäre ein Widerspruch in sich, denn Gnade wird ihrer Natur nach nicht geschuldet345 • Für die göttliche Gnade macht dies der Römer-Brief34 6 deutlich: "Ist es aber aus Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke, sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist es aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nicht, sonst wäre Verdienst nicht Verdienst." Gesetz und Gnade verkörpern unterschiedliche Dimensionen, wie dies auch in allegorischen Darstellungen und Sprichwörtern und in alten 843 Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Monteil, La Grace (Fußn. 291) § 1 Nr. 17 ff. S. 19 H. 34' Art. 67 der Verfassung v. 4.6.1814 (Charte constitutionelle): "Le roi a le droit de faire grace, et celui de commuer les peines." (abgedruckt bei Duverger, Constitutions et documents politiques, 7. ed., Paris 1974). Hierzu Constant, Grundprinzipien (Fußn.1) S.239, wonach die Verfassung recht daran getan habe, "eine einfachere Idee von neuem aufzugreüen und der höchsten Staatsgewalt eines ihrer erhabensten und natürlichsten Vorrechte zurückzugeben". Allerdings war schon bei Schaffung des lebenslänglichen Konsulats das Begnadigungsrecht des ersten Konsuls durch den Senatus-Consultus vom 16. thermidor des Jahres X wieder eingeführt worden. Die Ausübung war an die vorherige Anhörung des Groß richters, zweier Minister, zweier Senatoren, zweier Staatsräte und zweier Richter des Kassationsgerichts geknüpft. Vgl. Monteil (Fußn. 291) § 1 Nr. 19 S. 22. U5 Vgl. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte (Fußn.308) S. 107 f.; dens., Rechtsphilosophische Abhandlungen (Fußn.333) S.226; dens., Rechtsphilosophische Grundfragen (Fußn. 333) S. 82. Hieraus erklären sich auch die Rechtssprichwörter "Wer auf Gnade dient, wird mit Barmherzigkeit gelohnt" und "wer auf Gnade dient, muß der Gnade warten"; vgl. hierzu Graf / Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter (Fußn.4) Nr.201 u. 203, S. 178, 180; J. H. HiUebrand, Deutsche Rechtssprichwörter (Fußn.4) Nr.141 S. 107 f. m. w. Nachw.; Deutsches Rechtswörterbuch (Fußn. 156) Art. Gnade sub IV 2, Sp. 967 f. Zur theologischen Problematik vgl. Pohle / Gummersbach (Fußn. 158) S. 491, 576; Diekamp /Jüssen (Fußn.158) § 1 S.421; Schmaus (Fußn.8) §§ 179, 202, S. 3, 6 f., 225 ff., 259 f.; Ott (Fußn. 294) § 2 S. 254; Guardini (Fußn. 9) S. 117, 123, 148; TiUich (Fußn.8) S.53; Dombois (Fußn.151) S.175, 178, 191, 197. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner Bergengruens Novelle "Die Feuerprobe" sowie Wipfelder (Fußn.134) S. 92 f. 840 Kap. 11, 6; vgl. hierzu auch Karl Barth, Kurze Erklärung des Römerbriefs, 3. Aufl. (Gütersloh 1976) S.135 ff.; Heising, Reflexionen zum Römerbrief (Düsseldorf 1970) S. 100 f., 110 ff.; vgl. ferner Römer 3, 24; 2. Timotheus 1,9.

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- möglicherweise atavistischen - Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt: der Richter soll einäugig sein, ein Auge zudrücken oder auf einem einäugigen Pferd sitzen347, wobei offensichtlich bei den Augen das eine das Gesetz und das andere die Gnade darstellen soll. In ähnlicher Weise ist schon in der Antike die rechte Hand die Hand des Waffengebrauchs, mit dem auch dem Recht zur Geltung verholfen werden soll, während mit der linken den Verwundeten der Gnadenstoß versetzt wird348• 4. Zwar ist es Aufgabe der Gnade, die Schärfe des Gesetzes im Einzelfall zu mildern, denn "zu weit getrieben, verfehlt die Strenge ihres weisen Zwecks, und allzu straff gespannt, zerbricht der Bogen"349; ein Gnadenerweis wird im allgemeinen nicht zur Gefahr für den Bestand des Staates werden350 . Andererseits darf die Gnade nicht zu unangemessener Nachgiebigkeit führen, staatliche Schwäche demonstrieren und Permissivität signalisieren351 : clementia sit iuris dispensatrix, non dissi347 Vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. I, 4. Aufl. (1899, Nachdr. Darmstadt 1955) S.355, 358, 364, 533, 535; Graf / Dietherr (Fußn.4), S.399; Borchardt / Wustmann (FuBn.4) S. 32 f.; Beyerle (Fußn.156) S.10. Die Einäugigkeit ist schwer zu deuten. Schon Grimm wollte über sie keine Vermutung wagen (a.a.O. S.364). Einmal kann die Einäugigkeit eine genaue Wahrnehmung hindern und somit zu einem milden Urteil führen. In diesem Sinne dürfte das Rechtssprichwort "ein Auge zudrücken" zu verstehen sein, wobei entgegen Beyerle (a.a.O. S.10) der Richter nicht das Auge der Barmherzigkeit, sondern das des Gesetzes zudrückt. Zum anderen könnte die Einäugigkeit des Richters bedeuten, daß er streng nach Gesetz zu richten hat und die Gnadenkompetenz dem Landesherrn zusteht. Gegen diese Interpretation spricht allerdings, daß die Trennung von Richten nach Gesetz und Richten nach Gnade erst in späterer Zeit erfolgt ist und die Weistümer älter sein dürften. Schließlich kann die Einäugigkeit auch eine tiefere Einsicht andeuten, wie sie im Falle des Verlustes von Sinnesorganen zu entstehen pflegt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Robert Dunington, Richard Wagners Ring des Nibelungen und seine Symbole (Stuttgart 1976) S. 89. Zur Einäugigkeit Wotans vgl. Hermann Schneider, Die Götter der Germanen (Tübingen 1938) S. 183, 189; von der Leyen, Die Götter der Germanen (München 1938) S. 188, 205, 263; Richard Wagner, Rheingold, 2. Aufzug 1. Szene; Walküre, 1. Aufzug 3. Szene. Die Allegorie findet sich noch in Schillers Wendung vom "Auge des Gesetzes" (Das Lied von der Glocke). 348 Vgl. Vilmar Fritsch, Links und Rechts in Wissenschaft und Leben (Stuttgart 1964) S. 33,108,121; Bülck in: Recht im Dienst des Friedens, Menzel-Festschrift (Berlin 1975) S.233 Fußn. 109. 349 Schiller, Wilhelm Tell, 3. Aufzug, 3. Szene. 350 Vgl. in diesem Zusammenhang Kleist, Prinz Friedrich von Homburg, 4. Aufzug, 1. Auftritt: "Oh Herr, was sorgst du noch? Dies Vaterland! Das wird um dieser Regung deiner Gnade nicht gleich, zerschellt in Trümmern, untergehen. "

5 Speyer 7.

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patrix. Schon Seneca warnte davor, "unter dem Schein der Strenge in Grausamkeit" und "unter dem Scheine der Gnade in Weichherzigkeit" zu verfallen 352 • Der Gral der Gnade muß im Schrein des Rechtsstaates sorgfältig gehütet werden. Wenn Rechtssicherheit und Rechtsüberzeugung nicht Schaden nehmen sollen, muß die Gnade sparsam gespendet und darf nicht wahl- und ziellos über Gerechte und Ungerechte gestreut werden. Ein Lot Gesetzlichkeit verträgt nicht mehr als ein Gramm Gnade, und allzu "billige Gnade"853 kann mehr Unheil stiften als ein schlechtes Gesetz, weil sie das "pecca fortiter"854 geradezu heraufbeschwört. Daher auch die Warnung: "Wenn Gnade Mörder schont, verübt sie Mord 355 ." Nicht nur im theologischen Bereich besteht die Gefahr, "daß das Paradox der Gnade als Deckmantel für Gesetzlosigkeit gebraucht werden kann"356. Cicero sah es geradezu als charakteristisch für den ordnungslosen Zustand grundverdorbener Bürgerschaften ("perditae civitates") an, "ut damnati in integrum restituantur, vincti solvantur, exules reducantur, res iudicatae rescindantur"857. 351 Vgl. Montesquieu (Fußn.1) 6. Buch, 21. Kap. (S. 157): "Wenn die Anwendung der Gnade mit Gefahren verknüpft ist, so sind diese Gefahren sehr sichtbar; man unterscheidet die Gnade leicht von jener Schwäche, die dem Fürsten Verachtung und sogar das Unvermögen zu strafen, zuzieht." Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 45, 187 (252). 352 Von der Gnade (Fußn.59) S.540. Von Kaiser Friedrich Ir. wird berichtet, daß er bei der Einnahme der Stadt Foggia weder die Vergehen unbestraft lassen noch die Verzeihung verweigern wollte, "ne videretur in justitia rigidus, nec in mansuetudine dessolutus" (Nicolai de Jamsilla, Historia de rebus gestis Friderici H. Imperatoris [Neapoli 1770] S. 16). 353 Zur theologischen Auseinandersetzung um die "billige Gnade" vgl. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge (München 1937) passim insbes. Kap. 1: Die teuere Gnade, S. 1 ff.; Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd.IV/2 (Zürich 1955) S.413, 571 u. Bd.IV/4 (Zürich 1967) S.202, S.230. 354 Hierzu Bonnhoeffer a.a.O. S. 9 ff. 365 Shakespeare, Romeo und Julia, 3. Aufzug, 1. Szene a.E.; vgl. dens., Maß für Maß, 2. Aufzug, 1. Szene a.E.: "Verzeihung ist nur Mutter neuer Schuld". (hierzu auch Kohler [Fußn.174] S.110); dens., Timon von Athen, 3. Aufzug, 5. Szene: "Die Sünde wird durch Gnade frecher nur". Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Sprichwort: "Gelindigkeit der Strafe gibt oft Ursache zur Tath", hierzu Graf / Dietherr (Fußn. 4) Nr. 220, S. 314,318. 356 Tillich (Fußn.8) S.55; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Sprichwörter "Wer auf Gnade sündigt, wird mit Zorn gelohnt" und "Wer auf Gnade sündigt, wird mit Ungnade abgedankt", Graf / Dietherr (Fußn.4) S.398 Nr. 621 f. sowie S. 402; Winkler (Fußn.4) S.148. 357 Zweite Rede gegen Verres, Buch V, Kap. VI; vgl. auch Merkel, Abhandlungen (Fußn.137) S. 27 ff.; Kohler (Fußn.174) S.113 zu Anm.4.

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VII. Rationalität und Gnade 1. Während die Norm für den Normadressaten rational ist, empfindet er die Gnade als irrational, oftmals als Wunder35 8• Hier scheinen verfassungsrechtliche Konflikte zu drohen, zumindest wenn man der These des Bundesverfassungsgerichts359 beitreten will, wonach "das irrationale Element ... in einer modernen demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben" darf.

Die Verbannung der Irrationalität auch aus einer modernen und selbst aus einer modernen demokratischen Gesellschaft wäre allerdings ein kühnes Postulat. Nun ist der Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts zunächst dahin zu korrigieren, daß die Verfassung weder eine moderne, noch eine demokratische Gesellschaft, sondern allein einen demokratischen Staat fordert. Aber selbst für das demokratische Prinzip als formellen Verfassungsgrundsatz ist die Rationalität keineswegs essentiell oder auch nur charakteristisch. Von Verfassungs wegen müssen die Entscheidungen des Volkes in Wahlen und Abstimmungen nicht rational, sondern können ebenso gut emotional erfolgen, und in der Verfassungsrealität wird die gefühlsmäßige Willensbildung nicht nur in Kauf genommen, sondern bewußt gefördert. Wie sehr der Verfassungsgeber der Rationalität plebiszitärer Voten mißtraut, zeigt im übrigen die Ausklammerung von Finanzfragen, Abgabengesetzen und des Staatshaushalts aus Volksabstimmungen, Volksbegehren und Volksentscheiden360 • Und war schließlich die Entscheidung der Menge für Barab358 Vgl. Hattenhauer: "Das Wunder ist der Weg, auf dem die Begnadigung in das weltliche Recht einzieht" (Fußn. 162 S. 196). Der Zusammenhang von Wunder und Gnade wird deutlich, wenn sich die Begnadigung an ein vorangegangenes, als übernatürlich gedeutetes Ereignis anschließt, z. B. wenn die Vollstreckung der Todesstrafe durch Reißen des Stricks, Brechen der Galgenleiter, des Galgenarms beim ersten Mal scheitert. Hierzu Hattenhauer a.a.O. S. 184 ff., 193 ff. Hierher gehört auch das Rechtssprichwort "Man hängt (henket) keinen zweimal"; hierzu Graf / Dietherr (Fußn.4) Nr.224 S.315, 319; Hillebrand (Fußn.4) Nr.284 S. 198 f.; Stroux (Fußn.308) S. 14; Beyerle (Fußn.156) S. 16 f. Vgl. auch Radbruch, Aphorismen (Fußn.3) Nr.149, 151 S.38; Karl Engisch, Recht und Gnade (Fußn.243) S.116, 118; vgl. ferner Richard Wagner, Tannhäuser, 3. Aufzug, 3. Auftritt ("Heil, heil der Gnade Wunder heil); hierzu auch Günther Schulz, Das Recht in den Bühnendichtungen Richard Wagners (Köln 1963) S. 29, 35 f. 359 BVerfGE 25, 352 (360). 380 Vgl. Art. 60 Abs.6 bad.-württ. Verf.; Art. 73 bayer. Verf.; Art. 124 Abs. 1 S.3 hess. Verf.; Art. 68 Abs.1 S.4 NRW-Verf.; Art. 109 Abs.3 S.2 rheinl.-pf. Verf.; Art. 102 S.2 saarl. Verf.

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bas auf die Frage des Pontius Pilatus361 oder der vor Begeisterung heisere tausendstimmige Schrei im Sportpalast nach dem totalen Krieg rational? Gerade dieser "Barabbas-Effekt" sollte auch in einer Renaissance der Aufklärung davor schrecken, die Rationalität der - vielfach tabuisierten, weil als Heilslehre begriffenen - Demokratie überzubewerten. Nicht für die Demokratie, schon gar nicht für die "demokratische" Gesellschaft, sondern allein für den Rechtsstaat wäre die Irrationalität der Gnade ein Problem. 2. Aber ist die Gnade überhaupt irrational? Wenn sie auch, wie es im Sprichwort heißt, nicht nach dem "Warum" fragtoo%, so folgt daraus nicht, daß es kein "Darum" gibt. Die Begnadigung ist keine Laune und kein Zufall. Nicht "tel est notre plaisir"363, sondern "tel est la raison" ist der Grundsatz, dem sie folgt. Allerdings müssen die Gnadengründe nicht ausschließlich in der Person des Verurteilen liegen. Fehlsam ist daher die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, die Begnadigung sei "nur als Ergebnis der Prüfung denkbar, ob besondere Umstände den Verurteilten des Gnadenerweises würdig erscheinen lassen"364, und die vom Gericht umschriebene funktion der Begnadigung, "Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen"365, ist einerseits zu weit und andererseits zu eng. Gerade weil die Urteilsreformation nicht des Amtes der Gnadenbehörde ist366, kann sich die Begnadigung auch auf Umstände stützen, die außerhalb der Person des Verurteilten liegen, läßt der Gnadenerweis überlegungen zu, die dem gesetzmäßigen Richterspruch versagt sind, ohne daß Unbilligkeiten auf Grund nachträglich veränderter Umstände vorliegen müssen. Insbesondere setzt der Gnadenakt keine Begnadigungswürdigkeit voraus. Zu 361 Hierzu Mayer-Maly, Das Auftreten der Menge im ProzeJ3 Jesu und in den ältesten Christenprozessen (Fußn. 144); Merkel, Begnadigung (Fußn.143); Blinzter, Der Prozeß Jesu (Fußn.143) S. 150 ff.; Waldstein (Fußn.45) S.75. 862 "Die Gnade hat kein Warum, sie ist Ebbe und Fluth"; hierzu Graf / Diethe1'r (Fußn.4) S.402. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kleist, Amphitryon, 2. Akt, 5. Szene: "Ob du der Gnade wert, ob nicht, kömmt nicht zu prüfen dir zu." 383 Ebenso Stammler, Der Richter (Fußn.268) S.87; ders., Die Lehre von dem richtigen Rechte (Fußn. 308) S. 98. 884 E 46, 214 (223); ähnlich Metall (Fußn.303) S.248; Ent ÖJZ 1956, 362 sub D2. 885 E 25, 352 (360). 366 Siehe oben S. 48 ff.

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allen Zeiten hat man neben Würdigen auch Unwürdige begnadigt und letztere durchaus in Kenntnis ihrer Unwürdigkeit, falls das Staatswohl es angezeigt sein ließ. Wenn eine innen- oder außenpolitische Befriedung erstrebt wirds67, ist die Begnadigung weder auf eine besondere Würdigkeit des Verurteilten noch auf nachträglich veränderte Verhältnisse, sondern auf das nüchterne Kalkül der Staatsräson368 zurückzuführen. So werden oftmals zum Tode Verurteilte allein deshalb begnadigt, um keine Märtyrer369 zu schaffen. Denn "die Toten kehren wieder, nicht nur als Gespenst, sondern sie präsentieren auch ihre Rechnung in der politischen Realität"31O. Um dieses Effektes willen richten sich nach Abschaffung der Todesstrafe Terroristen selbst - mit kaum zu überbietender Perfidie noch in der Selbstzerstörung -, weil sie wissen, daß jede Bewegung ihre Märtyrer braucht. Und wenn in Griechenland die zum Tode verurteilten Führer des kommunistischen Bürgerkrieges von 1944, später Gegner der Militärregierung und schließlich die führenden Obristen selbst begnadigt wurden, ist man sogar - allerdings mit anderer Sinngebung - versucht, an da~ persische Sprichwort zu denken: Denn Gnade wird Dir, wenn Du Gnade übst. Die Gnadeninstanz bedarf eines weiten Handlungsspielraums. Während der Justitia die Augen verbunden sind, damit sie ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht auf die Reaktion der Öffentlichkeit richtetm, ist die Clementia freier gestellt. Sie muß anders als der 367 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Begründung für die Begnadigung des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Nixon durch seinen Amtsnachfolger (vgl. Fußn. 242): "In the meantime, the tranquility to which this nation has been restored by the events of recent weeks could be irreparably lost by prospects of bringing to trial a former President of the United States." 868 Hierzu Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 3. Aufl. (Werke hrsg. von Herzfeld, Hinrichs und Hofer, Bd. 1), München 1963. 389 Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch Bismarck, Rede in der Zweiten Kammer vom 22.3.1849 (in: Rothfels [Fußn.78] S.20): "... und die weinerliche Sentimentalität unseres Jahrhunderts, welche in jedem fanatischen Rebellen, in jedem gedungenen Barrikadenkämpfer einen Märtyrer findet, wird mehr Blutvergießen herbeiführen, als eine strenge und entschlossene Gerechtigkeit, wenn sie von Anfang an geübt worden wäre, hätte tun können." 370 Ernst Jünger, Eumeswil (Stuttgart 1977) S.306. 371 Vgl. Thomas FLeiner (Fußn.6) S.48. Siehe in diesem Zusammenhang auch das Politische Testament des Großen Kurfürsten vom 19. Mai 1667 (= 29. Mai 1667): "Die liebe Justicie lasset Euch in allen Eweren Landen hochlichen befolen sein, undt sehet dahin, damitt so woll den Armen als Reichen ohne ansehung der Persohn, Recht verschaffet werde", abgedruckt in: Küntzell Hass (Fußn.152) S.48.

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Spruchrichter die politische Opportunität mitberücksichtigen können. Aus diesem Grunde mag ein Gnadenerweis unterbleiben, weil das Volk beispielsweise nach einem Terroranschlag, einer Flugzeugentführung oder dem Mord an einem Taxifahrer wegen der Parallelität der Fälle hierfür kein Verständnis aufbrächte, auch wenn der Verurteilte der Begnadigung durchaus würdig wäre. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Gnade stets mit der öffentlichen Meinung - oder was sich dafür hält - übereinstimmen muß. Popularität darf auch in einer Demokratie nicht Maßstab aller Dinge sein, gerade weil diese Staatsform in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt ist, daß Entscheidungen unter der Pression der Öffentlichkeit oder sogar der Straße getroffen werden. So hatte denn auch 1932 die von der NSDAP mit der Drohung eines Volksaufstandes erreichte Begnadigung der auf Grund der Terror-Notverordnung372 zum Tode verurteilten Mörder von Potempa373 eine negative Signalwirkung374 und deutete den Untergang der Weimarer Republik an. 3. Als originäres Instrument der Staatsräson mußte die Gnade das Mißfallen des Rationalismus erregen und dem Aufklärer Kant schlüpfrig erscheinen. Wer eine atheistische menschliche Autonomie erstrebt, wer allein dem natürlichen Verstand und Willen vertraut, für wen als existent nur gilt, was von der menschlichen Vernunft erfaßt und kontrolliert werden kann, wer von der inneren Vernünftigkeit der Gesetze überzeugt ist, muß auch die profane Gnade wegen ihrer Verwandtschaft mit dem Sakralen375 ablehnen, in ihr ein rückständiges überbleibsel absolutistischen Gottesgnadentums376 und herrschaftlicher Willkür, 372 Verordnung des Reichspräsidenten gegen politischen Terror v. 9. 8. 1932 (RGBl. I S. 403). 878 Vgl. hierzu Paul Ktuke, Der Fall Potempa, Dokumentation und das Urteil des Sondergerichts bei dem LG Beuthen v. 22.8.1932 in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte J g. 5 (1957) S. 279 ff. und 286 ff. 374 Hierzu Graf Schwerin v. Krosigk, Staatsbankrott (Frankfurt, Zürich, Göttingen 1974) S. 139. 375 Vgl. oben S. 31 f.; ferner Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1950) S.113 f.; Schtink, Kerygma und Dogma, 2. Jg. (1956) S.263, 287. Im theologischen Bereich wird auch von der "königlichen Freiheit" göttlicher Gnade gesprochen (Paut Atthaus, Die Herrlichkeit Gottes [Gütersloh 1954) S. 63). 378 Hierzu Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, 2. Aufl (Münster, Köln 1954); Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates (Köln, Berlin 1967) S.118 ff.; K. Bost, Art. Gottesgnadentum in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. Bd.4 (Freiburg 1960) Sp.1111 ff.; siehe ferner Feuerbach, Schriften zur Ethik und nachgelassene Aphorismen (Sämt-

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einen "Rest der Kabinettsjustiz"377 sowie einen Beweis für die Unvollkommenheit vor-rationaler Gesetzgebung sehen378• Daraus erklärt sich, daß in der Aufklärungszeit trotz der "Entzauberung der Monarchie von Gottes Gnaden "37l! die Abschaffung der Gnade gefordert wurdellSO und daß Neo-Aufklärer sie "transparenter" machen wollen. Das frühere Mißtrauen gegen die Begnadigung als Souveränitätsrecht ist in einer Zeit unbegründet geworden, in der diese verfassungsrechtlich verankerte Befugnis demokratisch legitimierten Staatsorganen zugewiesen ist. Die Gnade geht wie alle Staatsgewalt vom Volke aus, weshalb nach der preußischen Verfassung von 1920 das Staatsministerium die Begnadigung "namens des Volkes" aussprach381 • Die demokratische Legitimation der Gnade3S2 kann heutzutage allenfalls Vulgärliche Werke, hrsg. von Bolin und Jodl, 2. Auft., Stuttgart 1960, Bd. X S. 312 f.);

Löwenhaupt, Der Staat Bd. 14 (1975) S.526; earl Schmitt, Verfassungslehre (Fußn. 15) § 22 I 1, S. 282. 377 Kern, Gesetzlicher Richter (Fußn.225) S.21O; ihm folgend J. Henkel (Fußn.246) S.129; siehe jedoch auch Bettermann, Grundrechte (Fußn.246)

S.542. 378 Vgl. in diesem Zusammenhang Dombois (Fußn.151) S. 183 f.; Schtink, Kerygma und Dogma, 2. Jg. (1956) S. 256 f.; Schmaus (Fußn.8) S.I1, 265; Guardini (Fußn.9) S.133; siehe ferner auch Honore de Balzac, Die Marana, in: Honorine - Erzählungen (Zürich 1977) S. 184: ",Aber, Papa, hast Du uns nicht ein andermal erklärt, daß der König begnadigen kann?' fragte Francesco. ,Der König kann ihm bestenfalls das Leben schenken', fiel Juan aufgebracht ein." (Für diesen Hinweis danke ich Herrn Kollegen Bütck, Speyer.) 378 So Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. I, 4. Auft. (Freiburg 1948) S.51; Fritz Hartung, Hist. Z. Bd.180 (1955) S.40; Otto Brunner, Gottesgnadentum (Fußn. 376) S. 130. Die Preußische Nationalversammlung hatte 1848 beschlossen, in den Eingangsworten der Verfassung die Worte "von Gottes Gnaden" im königlichen Titel zu streichen (Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung, 2. Bd. [Berlin 1848] 73. Sitzung v. 12. 10. 1848, S. 675 ff.). Siehe auch die bei Haenchen (Fußn. 125) zu Nr. 114, 120, 123, 125, 131, 218 und bei E. R. Huber (Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Auft. [1978]) zu Nr.169 - 178 abgedruckte Korrespondenz König Friedrich Wilhelms IV. In einem Schreiben v. 7.3.1849 an Großherzog Ludwig !II. von Hessen-Darmstadt hatte er ausgeführt: "Die Krone, welche eine Fraktion der Frankfurter Versammlung ... mir zugedenkt, ist eine Wurstprezel von Meister Bäcker und Metzger, aber nicht von Gottes Gnaden" (abgedruckt bei Haenchen S.375). 380 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ideen (Fußn. 16) Kap. XIII S. 195; ferner auch Fußn.2. 381 Art. 54 Abs.l der Verfassung des Freistaates Preußen v. 30.11.1920 (GS S. 543); vgl. auch die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen v. 18.5.1920 (GBl. S. 183), § 60 Abs. 3 ("für den Staat").

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Demokraten suspekt sein. Daher ist es unverständlich, wenn Kern an der Begnadigung bemängelt, daß sie "durch das Ministerium, geheim, ohne Zuziehung des Volkes"m13 erfolgt. Denn nichts eignet sich weniger als Gegenstand von Volksabstimmungen, Volksbegehren und Volksentscheiden als Gnadenfragen, die leidenschaftliche Zügellosigkeit und demagogische Hetze heraufbeschwören können. Da die Gnade auch politische Erwägungen einbeziehen muß384 und schon aus diesem Grunde keiner "gnädigen Gesinnung"385 bedarf, sich aber nicht alle Erwägungen des Staatswohls auf der Agora ausbreiten lassen, ist die Forderung nach stärkerer Transparenz der Begnadigung, nach Aufhebung ihrer "Verschwiegenheit" und Veröffentlichung der maßgebenden Gründ~ ebenso utopisch wie das klassische Begehren aller Weltverbesserer, "BoudoirPhilosophen und Salon-Parlamentarier" (Metternich387) nach Abschaffung der Geheimdiplomatie. Die Gnade, die sich nicht in starre Normen und Regeln einzwängen läßt, kann willkürlich erscheinen, ohne es zu sein. Sie ist willkürlich allenfalls in der alten, eines tadelnden Nebensinns entbehrenden Bedeutung des Wortes388, weil die Entscheidung mangels Ableitbarkeit aus generellen Bestimmungen389 aus dem "Willen gekürt" werden muß. 381 Vgl. hierzu auch Monteit (Fußn.291) § 1 Nr.18. Im germanischen Recht oblag die Begnadigung dem Landsding, vgl. Beyerle (Fußn. 156) S. 4 sub l. 383 Gesetzlicher Richter (Fußn. 225) S. 210. 884 Vgl. Robert v. Hippet (Fußn.225) S.583; Heimberger (Fußn.220) S.9; Kohler (Fußn.174) S.107; Grewe (Fußn.45) S.54, 141; Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn. 105) S. 341; Karl Engisch, Recht und Gnade (Fußn. 243) S.112; Hälschner (Fußn.257) S.727; ablehnend Kern, Gesetzlicher Richter (Fußn.225) S. 210; Pinger ZRP 1970, 75; Ent, ÖJZ 1956,358; Knaipp, JBl. 1965, 618. 885 So Dombois (Fußn.151) S.172; vgl. auch Engisch (Fußn.110) S.183; zu Recht ablehnend PraUe (Fußn.76) S.72. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bergengruen, Das Feuerzeichen (Fußn.19) S.173: "Ich denke, die Begnadigung richtet sich nach den Tatbeständen des Falles? Jetzt erfahre ich durch Sie, daß sie von Gunst und Meinung abhängig ist" (Hahn). 388 So Kern, Gesetzlicher Richter (Fußn.225) S.212; ähnlich für die Abolition nach österreichischem Verfassungsrecht Knaipp, JBl. 1965, 618. 387 VaUotton, Metternich (München 1976) S.316. 388 Vgl. Withelm Ebel, Die Willkür (Göttingen 1953) S. 7; Willkür bedeutet im mittelalterlichen Recht auch die Satzung städtischer Gemeinschaften, die auf der Selbstbindung der Beteiligten (Selbstverwillkürung) beruht. Hierzu Rolf Grawert, Art. Gesetz in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd.2 (Stuttgart 1975) S. 871; eingehend Withelm Ebel, a.a.O. S. 46 ff.; ders., Der Bürgereid (Weimar 1958) passim insbes. S. 4 f., 85 ff.; ders., Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. (Göttingen 1958) S. 20 ff., S. 53 ff.; Regge (Fußn. 162) S.37. Siehe auch Günther, Rechtsaltertümer (Fußn.4) S.106.

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Eine Beurteilung nach "Gut-Dünken" ist aber gerade nicht irrational oder zwecklos 390 • Gnade hält sich anders als verantwortungslose Weichherzigkeit und Nachgiebigkeit an Vernunft391 • Das gilt auch für die als Musterbeispiel einer willkürlichen Gnadenübung392 angesehene Begnadigung anläßlich freudiger Ereignisse im Gemeinschaftsleben, wobei an die Stelle des Geburtstags des Monarchen, der Thronbesteigung oder eines Thronjubiläums393 in kommunistischen Staaten der Jahrestag der Revolution und im Dritten Reich der Tag der nationalen Arbeit (1. Mai) tratll'94 • Grund für die Gnadenerweise muß hierbei nicht nur die Demonstration innerer Stärke und Geschlossenheit sein396, sondern derartige Anlässe eignen sich auch deshalb für staatliche Milde, weil ein etwaiger außenpolitischer oder innenpolitischer Druck nicht erkennbar wird, zumal die Öffentlichkeit durch Feiern oftmals hinlänglich abgelenkt wird. Und selbst das scheinbar offenkundig willkürliche, weil jeder Sachgesetzlichkeit entbehrende Recht des Scharfrichters auf den zehnten Hinzurichtenden oder das der Gnadenbitte einer Jungfrau, die den Verurteilten heiraten wollte396, entbehrt nicht einer tieferen ratio, weil 888 Vgl. in diesem Zusammenhang Constant, Über politische Reaktion, Kap. IX: über die Willkür (Werke [Fußn.11, Bd. III, S.187 f.) "Da die Willkür aber das Fehlen von allem Festgelegten bedeutet, ist alles Willkür, was nicht den Prinzipien entspricht." 890 So aber Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn.l05) S. 343; ihm wirft Dombois (Fußn.151) S.184 zu Recht "rechtsphilosophischen Supranaturalismus" vor. 891 Vgl. auch Seneca (Fußn.59) S.540. 312 Vgl. Robert v. Mohl (Fußn.122) S. 88, der den "logischen Zusammenhang mit der Rechtspflege" vermißt; Willy Brunner (Fußn.241) S. 34 f.; Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn. 105) S. 341, der jede "zweckrationale Handhabung der Gnade" verneint; Pinger, ZRP 1970, 75; siehe aber auch Robert v. Hippel (Fußn.225) S.583; L. v. Bar (Fußn.175) S.466; Schätzter (Fußn.256) S.66; H. Mayer (Fußn. 97) S. 401; Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte (Fußn.308) S.106; Kart Peters (Fußn.262) S.610; Kart Engisch, Recht und Gnade (Fußn. 243) S. 112. 383 So wurden anläßlich des 25jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. in Preußen ca. 24 000 Zivilpersonen ganz oder teilweise begnadigt. Hierzu Robert v. Hippet (Fußn.225) S.574 in und zu Anm.3. Vgl. ferner den Allerhöchsten Gnadenerlaß Kaiser Wilhelms H. vom 24. 8. 1906 (Pr.JMBl. S. 277), der in Preußen aus Anlaß der Taufe seines Enkels die wegen Majestätsbeleidigung verurteilten Personen begnadigte. SD4 Straferlaß in Sachsen v. 28.4.1933 (GBI. S. 55); hierzu auch Wenz (Fußn. 52) S.61. 396 Vgl. Dombois (Fußn.151) S.173; Robert v. Hippel (Fußn.225) S.583. 888 Vgl. Jakob Grimm (Fußn.347) S.525; Kohler (Fußn.174) S.109 Anm.2; Beyerte (Fußn.156) S.16 f.; H. Krause, Handwörterbuch (Fußn.157) Sp.1717.

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das angeblich finstere Mittelalter auf diese Weise dem Verurteilten bis zum letzten Augenblick eine Hoffnung ließ31l7.

VIII. Verrechtlichung der Gnade 1. Da die Begnadigung grundsätzlich auf einer sinnvollen ErwägungS98, auf einer "justa causa aggratiandi "399 beruht, und Gnade ihrem Wesen nach nicht irrational ist, verliert die Forderung nach ihrer VerrechtHchung von vornherein an Stoßkraft. Gewiß ist die Mißbrauchsgefahr nicht zu bannen, und Mißstände, insbesondere im französischen Absolutismus, waren es auch, die den Ruf nach Abschaffung der Gnade laut werden Heßen400 • Zar Nikolaus I. trieb 1849 im Falle Dostojewski ein grausam-frivoles Spiel mit der Gnade, und RitZer bediente sich der Begnadigungskompetenz, um SA-Leute, die wegen roher und grausamer Mißhandlungen trotz Pressionen seitens der NSDAP 1935 gerichtlich verurteilt worden waren, straffrei ausgehen zu lassen401 • Kein Rechtsinstitut sollte jedoch allein im Zerrspiegel des Mißbrauchs betrachtet werden402 • Zu Recht hatte Abbe Maury in der Diskussion der französischen verfassunggebenden Versammlung von 1791 über die Abschaffung der Gnade dem Mißbrauchsargument mit dem Hinweis widersprochen, alles werde mißbraucht, man werde selbst National897 Hierzu auch Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn. 105) S. 342. 898 Vgl. Engisch (Fußn.243) S. 118; Ent, ÖJZ 1956, 362. 399 Wobei äußere und innere Gründe der Begnadigung unterschieden werden, vgl. Grotius, De jure belli ac pacis, L. II, cap. 20, XXIV ff.; ferner Grewe (Fußn.45) S.82; Engisch (Fußn.243) S. 114 f. Ein Begnadigungsgrund war z. B. die Unwissenheit (ignorantia), vgl. Grotius a.a.O. XXVI. So erklärt sich auch das Rechtssprichwort "Wozu der Mann mit Unwissen kommt, dazu gehört Gnade". Hierzu Graf / Dietherr (Fußn.4) S.398 Nr.618, S.401. 400 Vgl. Filangieri (Fußn.2) S. 716; Monteil (Fußn.291) § 1 Nr. 17 ff. S.19 ff.; Kohler (Fußn. 174) S.110; L."V. Bar (Fußn. 175) S. 464 ff. Vgl. auch Shakespeare, Maß für Maß, 2. Aufzug, 4. Szene: "Die Schand' im Loskauf und ein frei Verzeihn/Sind nicht Geschwister: des Gesetzes Gnade/War nie verwandt mit schmählichem Erkauf." 401 Hierzu Ekkehard ReUter, Franz Gürtner, Politische Biographie eines deutschen Juristen (Berlin 1976) S. 172 ff. 402 Ähnlich Stammler, Der Richter (Fußn.268) S.86; Welcker (Fußn.1) S.427; BVerwGE 39, 355 (369).

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versammlungen mißbrauchen, das sei aber kein Grund, sie abzuschaffen 403 . Die Forderung nach Verrechtlichung der Gnade muß in einer Zeit laut werden, in der jeder Herr von eigenen Gnaden sein will und niemand sich der Gnade würdig erweisen, sondern sie - womöglich unter Hinweis auf seine Menschenwürde - im Zuge eines weitverbreiteten Anspruchsdenkens als ein ihm zustehendes Recht reklamieren möchte. Wie eine exzessive Sozialstaatlichkeit das Schicksal zum "einklagbaren Rechtsverlust"404 gemacht hat, so soll eine falsch verstandene Rechtsstaatlichkeit ZUr Gnade als einklagbarem Rechtsvorteil führen. Aber die Verrechtlichung, besser: Vergesetzlichung405 der ohnehin als Rechtsund Verfassungsinstitut ausgewiesenen und damit nicht aus der Legalität ausgeklammerten Gnade406 ist kein Verfassungspostulat. Insbesondere folgt aus der Rechtsschutzgewährung des Art. 19 Abs. 4 GG, die in dieser Form für den Rechtsstaat nicht unabdingbar und unerläßlich ist407, kein Verrechtlichungsgebot für das Staat-Bürger-Verhältnis408. Die Rechtsschutzgarantie ist akzessorisch und ermöglicht eine gerichtliche Kontrolle nur insoweit, als Normen existieren, deren Beachtung und Befolgung nachgeprüft werden kann. Ein Zwang zur Vergesetzlichung könnte sich nur aus anderen Verfassungsgrundsätzen ergeben. Er besteht für die Gnade jedoch nicht, weil die Verfassung, wie bereits dargetan409, dieses Institut als außergewöhnliches Korrektiv auch ohne nähere Determinierung akzeptiert hat. Die singulären und exzeptionellen Umstände41O , die im Interesse der Individualgerechtigkeit oder des Gemeinwohls ein Abgehen vom "eisernen Walten des Gesetzes"411 ermöglichen, lassen sich nicht apriorisch erfassen412 und in ihrer Vielfalt nicht in ein starres Normenschema pressen413 . Könnte für die Gnade ein Normengerüst gezimmert werden, 403 Zitiert nach MonteH (Fußn. 291) § 1 Nr. 18 S. 20. Fritz Werner (Fußn.314) S.23. 405 Vgl. in diesem Zusammenhang Dombois (Fußn.151) S.177, 197 f. 406 So aber Pernthaler, VVDStRL H. 25, S. 199. 407 Arg. Art. 10 Abs.2 S.2 GG. Vgl. BVerfGE 30, 1; Bettermann, AöR Bd. 96, S. 565 f.; Merten (Fußn. 88) S. 17 f. Anm. 59. 408 Insoweit vermag ich Dieter Lorenz (Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie [München 1973] § 5 S. 14 ff.) nicht zuzustimmen. 409 Siehe oben S. 61 f. 410 Vgl. L. v. Bar (Fußn.175) S.468; Guardini (Fußn.9) S. 115 f. 411 Rienzi, 3. Akt, 1. Szene. 412 Ähnlich Binding, Handbuch (Fußn. 259) S. 864; Willy Brunner, (Fußn.241) S. 33; zu diesem Gedankengang auch BVerfGE 46, 160 (165). 404

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so läge darin das Eingeständnis einer ungenügenden Einrüstung des Rechts, was konsequenterweise zu einem Neubau des Gesetzesgefüges, nicht aber zu einem Nebeneinander von Gesetzes- und Gnadennormen führen müßte. Radbruch 414 ist zuzustimmen, daß die Kompetenz der Gnade aufhört, sobald Begnadigungsrichtlinien die Form gesetzgebungsreifer Normen angenommen haben415 . Denn die Gnade bezieht ihre Legitimität allein aus den nicht beheb baren Mängeln des generellabstrakten Gesetzes und aus der von vornherein nicht zu lösenden Spannung von Normgerechtigkeit und Individualgerechtigkeit. Die Begnadigung ist dezisionistisch416 , nicht deduktiv. Schon Seneca417 hat betont, Gnade habe freien Willen und urteile nicht nach Rechtsformeln. Es ist daher bedenklich, wenn die Gnadeninstanz freiwillig durch interne Regelungen Voraussetzungen aufstellt, bei deren Vorliegen sie zukünftig begnadigen will418 • Wenn derartigen Gnadenordnungen auch die Außenwirkung fehlt und der Bürger aus ihnen unmittelbar keine Rechte ableiten kann, so engt die Gnadeninstanz doch ihre freie Beurteilung ein, bindet sich selbst und geht den ersten Schritt auf dem Wege zu einer Vergesetzlichung. Stellt die Gnadeninstanz einen "Fahrplan" für die Gnade auf, so ist eine Regelmäßigkeit, Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Meßbarkeit unausweichlich, gleichgültig, ob der Fahrplan dem Publikum bekanntgegeben wird oder nicht. Der Ruf nach Gleichbehandlung, nach fehlerfreier Ausübung des Ermessens, nach Anfechtbarkeit der Entscheidungen einer auf Grund von Gnadenordnungen tätig werdenden Gnadenbürokratie ist dann unaufhaltsam und verständlich. Er wird durch Tendenzen in Literatur und Rechtsprechung verstärkt, die unter fälschlich er Berufung auf eine "gewandelte Verfassungsstruktur"419 und unter überdehnung des Gleich418 Ähnlich W. Brauer, Art. Begnadigung in: Deutsches Staats-Wörterbuch, hrsg. von Bluntschli / Brater, Bd. I (Stuttgart, Leipzig 1857) S.765; vgl. auch Schlink, Kerygma und Dogma, 2. Jg. (1956) S.286; zur theologischen Problematik vgl. dens. a.a.O. S. 262. 414 Rechtsphilosophie (Fußn. 105) S. 277. 415 Vgl. hierzu auch die Äußerungen der Sachverständigen Triffterer und Müller-Dietz in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht, E 45, 187 (244). 416 Vgl. hierzu auch earl Schmitt, Über die drei Arten (Fußn. 12) S. 26 f. 417 (Fußn.59) S.544. 418 Ebenso L. v. Bar (Fußn.175) S.468; befürwortend dagegen Ent, ÖJZ 1956, 361, 402. 419 So Jesch, Gesetz und Verwaltung (Tübingen 1961) S.232; zu Recht ablehnend Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz (Bad Homburg 1968) S.513 Anm. 144.

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heitssatzes mit Hilfe der sog. Selbstbindung der Verwaltung die klassische und rechtsstaatlich-demokratisch erforderliche Unterscheidung von Verwaltungs- und Gesetzesvorschriften, von Innen- und Außenrecht einebnen und die Verwaltungsvorschriften den Gesetzesnormen annähern420. Durch die Verrechtlichung der Gnade wird nicht nur das RegelAusnahmeverhältnis von Gesetz und Gnade verwischt und die heilsame Strenge des Gesetzes durch eine strenge, weil strikt normierte Heilung durch Gnade unterlaufen. Es droht auch die Gefahr, daß das Gesetz nur noch Fassade für "hoffnungsvolle Toren" bleibt, während für den gesetzesverachtenden Prometheus die Gnade zu einem "sicheren Rechnungsfaktor in seiner strafrechtlichen Kalkulation"421 wird. 2. Verfassungswidrig handelt die Gnadenbehörde, wenn sie mit Hilfe von Gnadenordnungen Strafgesetze unterläuft. Denn die Begnadigungskompetenz schließt nicht die Befugnis ein, Entscheidungen des Gesetzgebers zu korrigieren422 , Gesetzesmängel zu beheben oder tatsächlich oder vermeintlich Unzeitgemäßes zeitgemäß zu machen, weil die Individualbegnadigung nur in concreto 423 und nicht in abstracto helfen kann. Die Individualbegnadigung muß täterbezogen und darf nicht normbezogen sein; Gnadenbehörden haben die Hände von der Rechtspolitik zu lassen424, weil die Realisierung der Normgerechtigkeit bei der Legislative monopolisiert ist. 420 Vgl. BVerfGE 8, 155 (168), wonach eine Verletzung von Verwaltungsvorschriften "in der Regel die gleiche Auswirkung wie eine festgestellte Verletzung von Rechtsnormen" haben soll; ferner E 40, 237 (255); BVerwGE 44, 72 (74); BayVGH, BayVBl. 1977, 700; Ipsen, VVDStRL H.25, S. 294 ff. Zur Publizierungspflicht OVG BerUn, DöV 1976, 53; zu dem daraus folgenden Vertrauensschutz OVG Münster BB 1976, 1534. Kritisch zu Recht Weyreuther, DVBl. 1976, 853 ff., insbes. S.855 r. Sp.; Ossenbühl (Fußn.419) S.522; insbes. S.526, 535 ff.; Bettermann in: Rechtsschutz im Sozialrecht (Köln 1955) S. 52 ff., insbes. S.61; Hans H. Klein, Forsthoff-Festschrift (München 1967) S.178; ferner Schenke DöV 1977, 27 ff. 421 So Meyer, Deutsche Strafrechts-Zeitung 1919, Sp. 16; ähnlich schon v. Mohl (Fußn.122) S.88. Ebermeyer (DJZ 1927, Sp.485) berichtet, daß ein Angeklagter dem Reichsgericht höhnisch im Schlußwort zugerufen habe: "Verurteilen Sie mich, wie und zu welcher Strafe Sie wollen; meine Partei sorgt ja doch für eine demnächstige Amnestie." Siehe in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 46, 160 (165). Zur theologischen Problematik Karl Barth (Fußn.353) Bd.IV/4 S.230. 422 Zutreffend L. v. Bar (Fußn.175) S.469 Anm.247; Bettermann AöR Bd. 96 (1971) S. 539 f.; Karl Peters (Fußn. 262) S. 611; a. A. Schätzler NJW 1975, 1251 Anm.14; seine Kritik an Bettermann ist nicht berechtigt. 428 Zutreffend Hälschner (Fußn.257) S.725; Bettermann a.a.O.

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Zwar sind in der Geschichte in Anbetracht eines harten und undifferenzierten Strafrechts von Begnadigungsgrundsätzen vielfach Anstöße zu einer Verfeinerung des Strafrechts einschließlich des Strafvollstreckungsrechts ausgegangen426 , und mußten Gnadenerweise früher Entschuldigungsgründe, mildernde Umstände etc. ersetzen426 • Im parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat obliegt jedoch ausschließlich den Gesetzgebungsorganen die Novellierung und Reformierung der Gesetze427 • Allein der Gesetzgeber kann daher beispielsweise generell die Strafaussetzung zur Bewährung auch bei Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen vorsehen428 oder die lebenslange durch eine zeitige Freiheitsstrafe ersetzen 429 , wobei allerdings die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts 480 zu berücksichtigen ist, daß die lebenslange Freiheitsstrafe eine wichtige Funktion erfüllt, den heute im Volke lebenden Wertvorstellungen entspricht und ein bewußtseinsbildendes Unwerturteil verdeutlicht. 424 Ähnlich Bettermann a.a.O. S.540; abwegig Kaiser / Kerner / Schöch, Strafvollzug, 2. Aufl. (Heidelberg, Karlsruhe 1978), S. 136. 425 Vgl. Mittermaier in Feuerbach (Fußn.99) § 5 d S. 17; Radbruch, Rechtsphilosophie (Fußn.l05) S.277; E. Schmidt, Strafrechtspflege (Fußn.162) S. 64 ff.; dens., Handbuch (Fußn.221) S. 570 f.; Metall (Fußn.303) S. 251; Regge (Fußn. 162) S. 79 ff.; Löwe / Rosenberg (Fußn.225) vor §§ 12 bis 21, Anm. IV, 3 S.2617. 426 Vgl. Kern, Gesetzlicher Richter (Fußn.225) S.210; Engisch, Recht und Gnade (Fußn.243) S. 110 f.; Heimberger (Fußn.220) S. 72 f.; Binding, Grundriß (Fußn. 225) S. 318 ff. unter Abdruck insbesondere der preußischen und bayerischen Erlasse. Für Frankreich vgl. Monteil (Fußn. 291) § 1 Nr. 18 S. 20 f. 427 Zutreffend schon Hälschner (Fußn.257) S.725 Anm. 1; unrichtig Lüder, Das Souveränitäts-Recht der Begnadigung (Leipzig 1860) S. 147 ff.; W. Brauer, Art. Begnadigung (Fußn.413) S.766; Kahler (Fußn.174) S.107; siehe ferner die Nachweise in Fußn.422. 428 So für Österreich § 46 Abs.4 StGB v. 23. 1. 1974 (BGBl. Nr.60), wobei allerdings - anders als in Deutschland - die Generalprävention richtigerweise grundsätzlich als Hinderungsgrund vorgesehen ist (vgl. § 46 Abs. 1 und 4 österr. StGB). Siehe auch Jescheck, Lange-Festschrift (Berlin, New York 1976) S. 365 ff., insbes. S. 377; Dreher, Richterliche Aussetzung des Strafrestes auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe?, Lange-Festschrift S. 323 ff.; Triffterer / Dietz, Strafaussetzung für "Lebenslängliche"? ZRP 1974, 141 ff. Zur Beurlaubung von "Lebenslänglichen" vgl. auch die Antwort des rheinlandpfälzischen Ministers der Justiz, Theisen, auf eine Kleine Anfrage (LTDrucks. 8/1982); ferner OLG Karlsruhe JR 1978, 213 ff.; Karl Peters JR 1978, 177 ff. 429 Unrichtig daher Jescheck (Fußn.255) § 85 S.678, wonach das Gnadenrecht dazu dienen soll, die lebenslange Freiheitsstrafe in ihrer Dauer in erträglichen, mit dem Prinzip der Humanität zu vereinbarenden Grenzen zu halten. 4S0 E 45, 187 (256 f.); hierzu auch Schmidhäuser JR 1978, 265 ff.

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Trotz der ihr attestierten "Fortschrittlililikeit"431 handelt die Gnadengewalt mißbräuchlich, wenn sie zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe Verurteilte generell nach Ablauf von zwanzig Jahren - außer im Falle einer negativen Prognose - begnadigt432 oder wenn sie in Berlin und Hamburg eine vorzeitige Entlassung vor dem Weihnachtsfest als Regel und nicht wegen Besonderheiten des Einzelfalls anordnet, - noch dazu unter Verstoß gegen die insoweit abschließenden Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes433 . Auch der in § 30 ader hessischen Gnadenordnung434 vorgesehene "Sozialurlaub" zum Abbau der "mit jedem Freiheitsentzug verbundenen sozialen Isolierung" überschreitet die Gnadenkompetenz, die zwar Strafaufschub und Strafunterbrechung umfaßt435 , aber nur außergewöhnliche individuelle Härten mildern und sich nicht grundsätzliche Entscheidungen des Strafvollzugs anmaßen darf. Diese sind nicht von der Exekutive, sondern von der Legislative und hier wiederum wegen der verfassungs rechtlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten vom Bundesgesetzgeber und nicht vom Landesgesetzgeber zu treffen 436. Durch Gnadenordnungen wird die Begnadigung denaturiert437 , und es droht die Gefahr, daß durch eine Vielzahl gleichartiger Entscheidungen die Gesetze gleichsam "auf kaltem Wege" geändert werden438. Die Verrechtlichung der Gnade in Gnadenordnungen ist nur Indiz für die moderne Richtungslosigkeit und führt in eine verfassungsrechtliche Sackgasse. Denn wenn rechtsstaatliche Berechenbarkeit geboten oder gewünscht ist, muß im demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaat der Weg des förmlichen Gesetzes beschritten werden439 • Andererseits erfordert der Rechtsstaat nicht die totale Verrechtlichung aller Lebensgebiete440. Fritz Werner hat warnend hervorgehoben, daß die VerTriffterer, ZRP 1970, 16. 432 So das Land Berlin nach dem Bericht des Ministerialdirigenten Dr. Krüger (BMJ) in der 128. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform v. 12. 12. 1968 (BT, 5. WP. Steno Dienst S. 2593 f.). 433 Vgl. § 16 Abs. 2 und 3 des Strafvollzugsgesetzes V. 16.3. 1976 (BGBl.I S.581). 434 Vom 3.12.1974 (GVBl. I S.587); abgedruckt auch bei Schätzler, Handbuch (Fußn. 256) S. 212 ff. 435 Statt aller E. Schmidt, Handbuch (Fußn. 221) Fußn. 568 sub V 1. 436 Art. 74 Nr.l GG; hierzu statt aller BVerfGE 2, 213 (220 ff.). 437 Vgl. Barbey, Gedächtnisschrift für Friedrich Klein (München 1977) S.47. 438 So Maurach, Strafrecht (Fußn. 243) § 75 I C, S. 949; siehe im übrigen die Nachweise in Fußn.444. 439 Vgl. BVerfGE 45, 187 (245 f.). 431

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rechtlichung unserer Existenz zu einer Verengung unserer Menschlichkeit führt 441 • Würde man die Gnade verrechtlichen und bürokratisieren, so müßte der Rechtsstaat notwendigerweise gnadenloser werden: fiat deductio, pereat clementia. 3. Bei dem ermüdenden Streit über die Justitiabilität von Gnadenentscheidungen442 wird die erforderliche Differenzierung vielfach außer acht gelassen. Gnadenfragen können Gegenstand verfassungsgerichtlicher Streitigkeiten sein, beispielsweise wenn die Legislative in Form des Amnestiegesetzes eine Individualbegnadigung beschließt443 oder wenn die Exekutive durch massenhafte Individualbegnadigungen eine verkappte Amnestie oder Strafrechtsreform herbeiführt444 • Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kann man zwar nicht unter Hinweis auf einen in der Tradition des Souveränitätsakts stehenden gerichtsfreien Hoheitsakt leerlaufen lassen446 • Klagen gegen ab440 Auch das Bundesverfassungsgericht hat bei der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe nur die Vergesetzlichung des Strafaussetzungsverfahrens, nicht aber die Verrechtlichung der daneben bestehenden Gnade gefordert; vgl. E 45, 187 (245, 249, 250). 441 (Fußn.314) S.22; vgl. auch Söhngen (Fußn.334) S. 130 f. 442 Literatur und Rechtsprechung zur Frage der Justitiabilität von ablehnenden Gnadenentscheidungen im Rahmen des Art. 19 Abs. 4 GG sind beinahe unüberschaubar. Verneinend: BVerfGE 25, 352; 45, 187 (243); BVerwG NJW 1962, 1410; BayVerfGH BayVBl. 1977, 14; DVBl. 1966, 757; OLG Celle MDR 1964, 697; OLG Hamburg NJW 1975, 1985; OVG HambuTg JZ 1961, 165; OLG München NJW 1977, 115; Ule Art. Gnadenakte in: Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. (Stuttgart, Berlin 1975) Sp. 906; ders., Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl. (München 1975) § 32 VII 3 S.153; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I (München 1977) § 20 IV 5 S. 666 ff.; Schätzler NJW 1975, 1249 (1252, 1255); Jescheck (Fußn.255) S.679; Löwe / Rosenberg (Fußn.255) vor §§ 12 bis 21, Anm. VII 5 S. 2621; Peter Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns (Berlin 1974) S.129; Seuffert in: Festschrift für Gebhard Müller, S. 491 ff., 502; Oettl DVBl. 1974, 927 ff. Bejahend: Bettermann AöR Bd.96 (1971) S. 537 ff.; Dürig JZ 1961, 166; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit (Frankfurt 1972) S. 75 ff. (80 ff.); Wolf! / Bachof (Fußn.271) § 46 III d, S.379; DieteT Lorenz (Fußn.408) S.161 f.; Trautmann MDR 1971, 173 ff. 443 Vgl. BVerfGE 10, 234 (239, 241); siehe auch oben S.13. Welcker berichtet von dem Fall eines zum Tode verurteilten schwedischen Hauptmanns, der die (erforderliche) Annahme der Begnadigung verweigerte, worauf der Monarch ein tarnendes Amnestiegesetz erließ (Art. Begnadigung in: Staatslexikon, hrsg. von Rotteck / Welcker Bd.2, 3. Aufl. [Leipzig 1858]). 444 Vgl. Maurach, Strafrecht (Fußn.243) § 75 I C, S.949; Kart Peters (Fußn.262) S.611; Felix Brupbacher (Fußn.115) S.73; Ent, ÖJZ 1956, 362 subD4. 446 Zum französischen Staatsrecht vgl. Helmut Rumpf, Regierungsakte im Rechtsstaat (Bonn 1955) § 7, S. 60 f.

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lehnende Gnadenbescheide sind aber unzulässig, weil eine Rechtsverletzung des Klägers ausgeschlossen istm . Da die Gnade ihrem Sinn nach das auf den Täter anzuwendende Recht in außergewöhnlichen, rechtlich nicht normierten Fällen korrigieren soll, kann dieser weder einen unmittelbaren noch über den Gleichheitssatz abzuleitenden mittelbaren Anspruch auf Begnadigung haben. Denn die Außernormativität kann nicht mit Mitteln der Normativität gemessen werden. Wenn dem Täter durch das Strafurteil Recht geschehen ist, kann er durch die Bestätigung des Richterspruchs, die zugleich in jeder Ablehnung eines Gnadenerweises liegt, nicht in seinen Rechten verletzt sein. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.1 GG statuiert Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit447, nicht aber Gnadengleichheit. Wie niemand Gleichheit im Unrecht, so kann auch niemand Gleichheit in der Gnade begehren, - nicht weil Unrecht und Gnade einander ähneln, sondern weil in beiden Fällen dem Rechtsuchenden Recht geschah, er des Gesetzes teilhaftig wurde und mehr ihm nicht zusteht. Die Gnadenentscheidung kann nicht anhand von Rechtsregeln überprüft werden, weil derartige Maßstäbe dem Wesen der Gnade widersprechen, von der Shakespeare sagt, sie wisse von keinem Zwang448 und die Gustav Radbruch sicher nicht modern, im Grunde aber zutreffend dahin charakterisiert: die Gnade gleiche nicht der kanalisierten Wohlfahrtspflege, sondern dem bewußt irrationalen449 Almosen45o •

Bettermann ist gewiß zuzustimmen, daß es in einem Rechtsstaat kein unbegrenztes Ermessen geben darf und jedes Ermessen mißbrauchbar ist451 • Aus der Ermessensbegrenztheit staatlichen HandeIns folgt jedoch nicht zwingend dessen Anfechtbarkeit452 • Gegen richterliche Ermessensfehler hilft Art. 19 Abs. 4 GG - jedenfalls nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtsm - ohnehin nicht weiter, weil diese Bestimmung 446 Vgl. hierzu statt aller Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufi. (München 1977) § 42 Anm. 12, S. 143. 447 Statt aller Wolff / Bachof (Fußn.271) § 33 VI bund c, S.237. 448 Kaufmann von Venedig, 4. Aufzug, 1. Szene, Z. 190 ff. 449 Zur Irrationalität der Gnade vgl. oben S. 67 ff. 450 (Fußn.3) Nr. 150, S. 38; vgl. auch Nr. 145, S.37. 451 AöR Bd. 96 (1971) S. 539. 452 Auch die von Bettermann a.a.O. S. 539 angeführten Beispiele für unzulässige Gnadenmotivationen können nicht zu einer Anfechtbarkeit nach Art. 19 Abs.4 GG, sondern allein zu verfassungsrechtlichen Streitigkeiten führen. m E 15, 275 (280 f.).

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Schutz durch den Richter, nicht jedoch gegen den Richter gewährleisten soll454. Aber auch bei der Exekutive, insbesondere der Gubernative hat nicht jeder Ermessensmißbrauch eine Anfechtungsbefugnis des individuell Beschwerten wegen des Rechts auf fehlerfreien Ermessensgebrauch zur Folge. Wählt der Bundeskanzler nach Art. 64 Abs. 1 GG einen Bundesminister allein wegen dessen politischer Anschauungen aus, so kann ein übergangener und deswegen beschwerter ministrabler Bewerber die Entscheidung (im Verfassungsrechtsweg) nicht anfechten. Kompetenzvorschriften als verfassungsrechtliche Spezialregelungen können die Bindung der Exekutive an den Gleichheitssatz modifizieren oder ausschließen und damit die gerichtliche Kontrolle restringieren. Wie das politische Ermessen des Bundeskanzlers seiner Natur nach Art. 3 GG, insbesondere dessen Abs. 3, vorgeht, so schaltet die Gnadenkompetenz ihrem Sinn nach die Gleichbehandlung aus. Daraus resultiert freilich kein Recht zu willkürlichen Gnadenentscheidungen. Denn unbeschadet des Art. 3 GG stellt das Willkürverbot als Erscheinungsform des Rechtsmißbrauchs für jegliches staatliche Handeln eine ungeschriebene Schranke465 dar, die allerdings nur objektiv-rechtlichen Charakter hat und keine subjektiven Rechte begründet. Der Ausschluß der Justitiabilität von Gnadenentscheidungen bedeutet keine Schwächung des Rechtsstaats. Denn Rechtsstaat und Richterstaat sind nicht identisch, und die Richter sind weder die einzigen Garanten des Rechtsstaats, noch ist der Weg zu den Gerichten die Einbahnstraße der Rechtsschutzgewährung466 , weshalb auch die immer wieder geforderte Errichtung eines Gnaden- oder Billigkeitsgerichtshofs457 kein Allheilmittel wäre und die Hypertrophie des Richter- und Rechtswegstaates nur verstärkte. Als Rechtsschutzmöglichkeiten de constitutione lata verbleiben die Selbstkontrolle der Exekutive458, insbesondere im Falle der Delegation von Gnadenbefugnissen, die parlamentarische Verantwortung459 , staatsgerichtliche460 , ja selbst strafgerichtliche An464 Daher lehnt auch der östeTT. VeTwaltungsgeTichtshof (Slg. Nr.3083) die überprüfung der gerichtlichen Zurückweisung eines Gnadengesuchs ab. 465 BetteTmann, Grenzen der Grundrechte (Berlin 1968) S.11. 456 Vgl. BetteTmann, AöR Bd. 96 (1971) S.565. 467 Vgl. Hegel, Grundlinien (Fußn.319) § 223; JheTing, Zweck im Recht (Fußn.80) S. 334 ff.; Klecatsky, JBl. 1967, 451. 468 Hierauf weist BetteTmann a.a.O. hin. 469 Das Begnadigungsrecht des Regierungschefs bzw. Gesamtministeriums in den Ländern und die Gegenzeichnung des Bundesministers im Falle einer Begnadigung des Bundespräsidenten unterliegen der politischen Verant-

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klagen461 • Art. 19 Abs.4 GG gebietet nicht, die Gnade mit teutonischer Gründlichkeit zu verrechtlichen. Man kann, wie Bettermann in anderem Zusammenhang formuliert hat, "den Rechtsstaat auch zu Tode reiten"462.

wortung gegenüber dem Parlament. Zutreffend Laband, Staatsrecht (Fußn. 243) § 93 III S. 512; L. v. Bar (Fußn. 175) S. 475 ff.; Robert v. Hippet (Fußn.225) S. 580 Anm. 1. Die Frage war früher bestritten, vgl. hierzu Eppstein / Bornhak, Bismarcks Staatsrecht, 2. Auf!. (Berlin 1923) S.71 ff. 460 z. B. nach Art. 61 GG. 461 Vgl. hierzu die instruktiven Darlegungen in RGSt 58, 263 (265 f.) 462 VSSR Bd. 5 (1977) S. 89. 6·