Rechenschaft vom Evangelium: Exegetische Studien Zum Römerbrief [Reprint 2012 ed.] 3110193582, 9783110193589

Die in diesem Band zusammengefassten Studien betreffen alle miteinander die Exegese des Römerbriefes. Einige dieser Stud

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Rechenschaft vom Evangelium: Exegetische Studien Zum Römerbrief [Reprint 2012 ed.]
 3110193582, 9783110193589

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Eduard Lohse Rechenschaft vom Evangelium

Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche

Herausgegeben von James D. G. Dunn · Carl R. Holladay Hermann Lichtenberger · Jens Schröter Gregory E. Sterling · Michael Wolter

Band 150

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York

Eduard L o h s e

Rechenschaft vom Evangelium Exegetische Studien zum Römerbrief

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 0171-6441 ISBN 978-3-11-019358-9 Library

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A C I P c a t a l o g u e r e c o r d f o r t h i s b o o k is a v a i l a b l e f r o m t h e L i b r a r y o f C o n g r e s s . Bibliografische

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Alikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Die in diesem Band versammelten Studien betreffen alle miteinander die Exegese des Römerbriefes. Einige dieser Studien sind bei der Vorbereitung des Kommentars „Der Brief an die Römer", KEK 4, Göttingen 2003 entstanden und bieten an ihrem Teil genauere Begründungen zu der im Kommentar vorgetragenen Auslegung. Die meisten Arbeiten sind jedoch aus der über den Kommentar hinausgehenden Bemühung erwachsen, der Art und Weise nachzuspüren, in der der Apostel sich selbst und den Christen in Rom Rechenschaft über seine Verkündigung des Evangeliums gibt. Da diese Studien an ganz verschiedenen Orten erschienen sind - bzw. noch nicht veröffentlicht wurden -, sind sie hier zusammengefasst worden, um ergänzend dem Kommentar an die Seite gestellt zu werden. Um inhaltliche Überschneidungen tunlichst zu vermeiden, sind einige Beiträge aus den letzten Jahren nicht in diese Sammlung aufgenommen worden. Deren Titel und Fundorte sind jedoch in der Bibliographie verzeichnet, die sich am Ende dieses Bandes findet. Den Herausgebern der Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft sei vielmals Dank gesagt, dass sie diesen Band in die Reihe Beihefte zur ZNW aufgenommen und - zusammen mit Frau Maria Bohlen - dessen Veröffentlichung hilfreich gefördert haben. Im Verlag hat Herr Carsten Burfeind - gemeinsam mit Herrn Alwin Müller-Arnke - mit umsichtiger Tatkraft für die Herstellung des Bandes Sorge getragen. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Göttingen, 15. Februar 2007

Eduard Lohse

Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis 1. Das Evangelium für Juden und Griechen. Erwägungen zur Theologie des Römerbriefes 2. Doxologien im Römerbrief des Apostels Paulus 3. Gottes Gnadenwahl und das Geschick Israels 4. Doppelte Prädestination bei Paulus? 5. Theologische Ethik im Römerbrief des Apostels Paulus 6. Herrenworte im Römerbrief 7. Apostolische Ermahnung in Rom 16,17-20 8. Der Römerbrief des Apostels Paulus und die Anfänge der römischen Christenheit 9. Martin Luther und der Römerbrief des Apostels Paulus - Biblische Entdeckungen 10. „Heilsgeschichte" im Römerbrief Zur Interpretation des Römerbriefs durch Erik Peterson 11. Joachim Jeremias als Ausleger des Römerbriefes 12. Heinrich Schliers Kommentare zu den Paulinischen Briefen 13. Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefes 14. Die Theologie des Apostels Paulus - aufs neue betrachtet. Zu einigen jüngst vorgelegten gelehrten Abhandlungen Quellenverzeichnis Bibelstellenverzeichnis Autorenregister Sachregister Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006

V VII 1 20 29 43 54 80 88 97

110 131 147 158 175 194 213 214 216 218 219

1.

Das Evangelium für Juden und Griechen. Erwägungen zur Theologie des Römerbriefes* Das umfangreiche Schreiben, das der Apostel Paulus an die Christen in Rom gerichtet hat, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von allen vergleichbaren Schriftstücken der frühen Christenheit. Blieben Privatbriefe, wie man sie in der Antike einander zusandte, in der Regel auf kurze Mitteilungen beschränkt, die den Umfang des einzigen Papyrusblattes nicht zu überschreiten pflegten, so weichen alle paulinischen Gemeindebriefe ohne Ausnahme von diesem vorgegebenen Muster in beträchtlichem Maß ab. Obwohl sie sich unverkennbar als Briefe darstellen, die jeweils in konkrete Situationen hineinsprechen, kommen sie ihrem Inhalt nach - zumindest in weiten Teilen - Traktaten nahe, die in philosophischen Erörterungen der Antike hier und da auch in die Form eines kunstvoll gestalteten Briefes gefaßt wurden. In den Schreiben des Apostels bleibt jedoch durchgehend der genuin briefliche Charakter bestimmend. Der Römerbrief - so weit wir wissen, das letzte der uns überkommenen Schreiben des Apostels - hebt sich nun seinerseits aus der Reihe der übrigen Apostelbriefe nicht nur durch seinen außergewöhnlichen Umfang heraus, sondern ist auch im Unterschied zu allen früheren Briefen des Paulus nicht an eine ihm bekannte bzw. von ihm gegründete Gemeinde gerichtet, sondern nach Rom, das der Apostel bis dahin noch nicht hat besuchen können. Welches waren die Gründe, die Paulus dazu bewogen haben, mit den Christen in der Hauptstadt des Reiches Verbindung zu suchen? Wieweit war er über den Zustand und die besonderen Gegebenheiten informiert, die ihr Zusammenleben betrafen? Und worauf kam es ihm bei der Abfassung seines ausführlichen Schreibens vor allem anderen an? Diese Fragen wurden in der neutestamentlichen Wissenschaft seit langem gestellt und sind immer wieder gründlich bedacht worden. Sie verlangen gleichwohl erneut konzentrierte Aufmerksamkeit, um von den vielen Exegeten, die wertvolle Beiträge zur Interpretation des Rö*

Vorlesung vor der Theologischen Fakultät Erlangen am 30. November 2000.

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merbriefes geleistet haben, zu lernen, ihre Antworten prüfend zu bedenken und - an unserem Teil - den Gang der Forschung so weit als möglich ein Stück weiter voranzubringen. Der Exeget, der auch und vor allem sich selbst gegenüber kritisch zu bleiben hat, mag sich dabei an jenen Schriftgelehrten erinnert fühlen, der als ein Schüler des Himmelreichs einem Hausvater gleicht, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt (Mt 13,52). Das eine wie das andere herauszustellen, zueinander ins Verhältnis zu setzen und dann die gebotenen Schlüsse zu ziehen, macht den unvergleichlichen Rang der exegetischen Bemühung um das rechte Verständnis der paulinischen Theologie, und d.h. insbesondere des Römerbriefes, aus. Denn zu Recht ist kürzlich wieder betont worden, daß die Einheit der Theologie des Apostels sich erst dann zutreffend begreifen läßt, wenn vom Römerbrief aus die Gedankenlinien verfolgt werden, die über die anderen Gemeindebriefe zum IThessalonicherbrief als dem frühesten Schreiben des Apostels zurückführen.1 Neuere Einsichten, am Text zu gewinnende Erkenntnisse sowie aus der gegenwärtigen Situation in Theologie und Kirche erwachsende Fragestellungen können dazu beitragen, um der Botschaft des Apostels aufs neue so genau als möglich nachzuspüren. Die Rechenschaft, die der Apostel von seiner Verkündigung vorträgt, ist zwar an die Christen in Rom gerichtet, doch legt sie zugleich dar, was überall und zu jeder Zeit als frohe Botschaft auszurichten ist. Das Evangelium wird aller Welt zugesprochen, damit es im Glauben angenommen und im Gehorsam gegenüber dem Kyrios gelebt werde. Was aus dieser programmatischen Bestimmung für das Verständnis der im Römerbrief entfalteten Theologie zu folgern ist, sei beispielhaft ohne jeden Anspruch auf ohnehin schwerlich erreichbare Vollständigkeit - in fünf Gedankenschritten erörtert: zuerst (1) der Frage nach den Adressaten des Briefes, sodann (2) der nach der den Brief bestimmenden Thematik, weiter (3) der Erörterung von Struktur und rhetorischer Gestaltung des Briefes, schließlich (4) dem Problem des Geschicks Israels im Licht des Evangeliums und endlich (5) dem einer Begründung christlicher Ethik im Wandel der Glaubenden.

I. Die Empfänger des Briefes werden im Eingang des Schreibens nicht wie sonst zumeist üblich - als Gemeinde, d.h. das versammelte Volk 1

Vgl. die programmatischen Ausführungen von J. D. G. Dunn, Prolegomena to a Theology of Paul, NTS 40 (1994) 407-432 und deren gründliche Darlegung in: ders., The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Edinburgh 1998.

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Gottes angeredet. Sondern sie werden als „Geliebte Gottes" und „Berufene Heilige" angesprochen (1,7). Aus der Wahl dieser Anrede wird gewiß nicht zu folgern sein, daß Paulus den Christen in Rom hätte absprechen wollen, Gemeinde Jesu Christi in uneingeschränkter Gültigkeit zu sein - etwa, weil sie erst durch das von ihm ausgerichtete Evangelium zur rechten Gemeinde gemacht werden müßten.2 Wird doch auch in der Adresse des Philipperbriefes der Begriff εκκλησία nicht verwendet und werden dort in ähnlichen Worten „alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind", genannt (1,1). Als solche aber sind sie Volk Gottes, Gemeinde ihres Herrn, zu dem sie sich glaubend bekennen und nach dessen Weisungen sie ihr Leben zu führen bestrebt sind. Fehlt der Begriff έκκλησία im Eingang des Briefes, so findet er sich doch gleich mehrfach in der ausführlichen Grußliste im 16. Kap. Da der Apostel sich an Christen wendet, die er noch nicht hat besuchen können, muß er daran interessiert sein, sich zur Anknüpfung der von ihm erwünschten Verbindung aller positiven Möglichkeiten zu bedienen, die er seinerseits nutzen kann. Die lange Liste von Grüßen, die im letzten Kapitel des Briefes aufgeführt wird, soll offensichtlich diesem Zweck dienen. Denn an die Empfehlung der Phoebe aus Kenchreä, dem Vorhafen Korinths, schließt sich eine stattliche Kette von Namen an, deren Trägern der Apostel Grüße ausrichten lassen möchte. Sie reicht von Priska und Aquila, die einst aus Rom in den Osten des Reiches gekommen waren, über Epainetos, den ersten Christen aus der Provinz Asia, bis zu Philologos und Julia, Nereus und seiner Schwester sowie Olympas und allen Heiligen bei ihnen (16,3-15). Diese Grußliste enthält nun - wie seit langem beobachtet wurde einige Namen, die es nahelegen könnten, ihre Adressaten eher in Ephesus als in Rom zu suchen. Das gilt sowohl von Epainetos, dem ersten Christen in Kleinasien, wie auch von Priska und Aquila, die einige Zeit lang zur Gemeinde in Ephesus gehört haben (Act 18,26). Daher wurde und wird die Frage gestellt, ob die zu grüßenden Personen nicht in Ephesus statt in Rom zu finden seien. Nicht wenige Exegeten haben so geurteilt und die Vermutung geäußert, das 16. Kap. sei ursprünglich gar nicht nach Rom gerichtet gewesen, sondern enthalte eine Liste von Grüßen, die die Überbringerin der Kap. 1-15 auf ihrer Reise, in Ephesus Station machend, dort hätte abgeben sollen. Paulus - so wird dann

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So G. Klein, Der Abfassungszweck des Römerbriefes, in: ders., Rekonstruktion und Interpretation. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament (BEvTh 50), München 1969,129-144, hier 134.

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in einer weithin beachteten Hypothese ausgeführt3 - habe die Kapitel 1-15 in Korinth diktiert und dabei seinem Text den Charakter eines Manifestes gegeben, das nicht allein an eine einzige Ortsgemeinde, sondern an einen weiteren Leserkreis gerichtet sein sollte. Dazu habe er eine für Ephesus bestimmte Liste von Grüßen abgefaßt, die für die ihm gut bekannte dortige Gemeinde als Begleitbrief zu den Kapiteln 1-15 bestimmt war und erst sekundär zum 16. Kapitel des Römerbriefes geworden sei. Hält man sich an die bewährte Regel, in einer Hypothese dürfe es nicht mehr als nur eine Unwahrscheinlichkeit geben, so läßt sich die eben skizzierte Erklärung sicherlich nicht aufrechterhalten. Denn weder ist aus der kritischen Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung ein Argument für die Annahme zu gewinnen, das 16. Kap. könnte ursprünglich nicht zum Bestand des Römerbriefes gehört haben4. Noch wird man in Zweifel zu ziehen haben, daß der Apostel tatsächlich eine ganze Reihe von Christen gekannt haben kann, denen er bei früheren Gelegenheiten an anderen Stätten begegnet ist und die sich nun in Rom aufhalten.5 Ein ansehnlicher Teil der angeführten Namen läßt sich als in Rom selbst - vor allem, jedoch nicht ausschließlich unter Sklaven und Freigelassenen - gebräuchlich nachweisen.6 Daher sprechen alle zu bedenkenden Gesichtspunkte dafür, daß die Grußliste - wie heute mit wachsender Zustimmung anerkannt wird - als integraler Bestandteil des Römerbriefes zu beurteilen ist.7 Kann und darf also Kap. 16 in dieser Weise beurteilt werden, dann lassen sich seinen Ausführungen nicht unwichtige Hinweise im Blick auf die Adressaten des Briefes entnehmen. In V. 5 wird der Begriff έκκλησία auf die Hausgemeinde von Priska und Aquila angewendet und bezeichnet dann in V. 16 alle Gemeinden Christi sowie in V. 23 die Hausgemeinde eines Christen namens Gaius. Offensichtlich war dem Apostel durch Kontakte, die er zu einzelnen Christen in Rom besaß, bekannt, daß man an verschiedenen Stellen der Stadt in kleinen Hausgemeinden zusammenkam, die untereinander Verbindung zu halten suchten. Soweit der Apostel Kenntnis über die Gegebenheiten in der 3

4 5 6 7

Vgl. T. W. Manson, St. Paul's Letter to the Romans - and others (1948), in: ders., Studies in the Gospels and Epistles, Manchester 1962, 225-241 = Κ. P. Donfried (Hg.), The Romans Debate, Peabody, Mass. U 9 9 1 , 3 - 1 5 . Zur Sache vgl. Κ. Aland, Der Schluß und die ursprüngliche Gestalt des Römerbriefes, in: ders., Neutestamentliche Entwürfe (ThB 63), München 1979, 284-301. Vgl. H. Lietzmann, An die Römer, Tübingen 4 1933, 129: Alle in Kap. 16 genannten Personen hätten mühelos auf einem einzigen Schiff Platz finden können. Vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II, 18), Tübingen 2 1989. Vgl. die einschlägigen Beiträge in der von Donfried herausgegebenen Sammlung, s.o. Anm. 3.

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römischen Christenheit besaß, wird diese im Eingangs- und dem Schlussteil des Briefes andeutungsweise deutlich. Im Corpus des Briefes selbst aber finden sich - wie noch des näheren darzutun ist - keine Hinweise auf die Situation in Rom. Das Thema und seine Durchführung im Brief tragen durchaus grundsätzlichen Charakter und gelten ebenso wie den Christen in Rom so auch der Christenheit in aller Welt. Das eben skizzierte Bild von mehreren Hausgemeinden, die es nebeneinander in Rom seit frühester Zeit gegeben haben wird, entspricht durchaus den Voraussetzungen, wie sie in der Judenschaft gegeben waren, die in der Stadt seit Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ständig durch Zuzug von außen gewachsen war.8 In den - meist kleinen - Synagogen, die an verschiedenen Stellen der Stadt entstanden, konnten sich Juden als collegia zusammenfinden, die nach römischem Recht unter dem Schutz des Staates standen. Die Zahl der Synagogengemeinden läßt sich auf Grund von Inschriften in jüdischen Katakomben für das 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. auf bis zu 13 schätzen und wird zur Zeit des Paulus kaum geringer gewesen sein. Die Anfänge der Christenheit müssen in engem Zusammenhang mit diesen jüdischen Voraussetzungen gesehen werden. Dabei ist insbesondere zu beachten, daß die große Mehrzahl zeitgenössischer jüdischer Inschriften in griechischer Sprache abgefaßt war. Die Synagogen in Rom waren in hohem Maß hellenisiert, lasen die Septuaginta als ihre Heilige Schrift und bedienten sich im Gottesdienst wie im Alltag der griechischen Sprache. Das Umfeld, in dem die im Römerbrief angesprochenen Adressaten lebten, lag daher im weiten Bereich des hellenistischen Judentums. Der Apostel bedient sich in seiner Anrede an die Christen in Rom mit aller Selbstverständlichkeit der griechischen Sprache und kann davon ausgehen, daß die von ihm verwendete Begrifflichkeit von seinen Lesern aufgrund ihrer Herkunft aus dem Bereich der Diaspora-Synagoge mühelos verstanden werden konnte. Zwar wird man schwerlich scharfe Trennungslinien zwischen dem palästinischen Judentum einerseits und der hellenistischen Diaspora andererseits ziehen können; doch wird man nicht ernsthaft in Zweifel ziehen dürfen, daß der religionsgeschichtliche Hintergrund, der für die Ausführungen des Apostels von bestimmender Bedeutung war, weder in der Religionsstruktur des palästinischen Judentums 9 - d.h. auch nicht der Apokalyptik sowie in den Texten von Qumran, so bedeutungsschwer deren Schrifttum auch 8 9

Vgl. K. P. Donfried/P. Richardson (Hg.), Judaism and Christianity in First Century Rome, Grand Rapids/Cambridge 1998. So E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 1977; dt.: Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), Göttingen 1985.

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ist -, noch im Gemenge des spätantiken Synkretismus - von Mysterienreligionen bis zur Gnosis - zu suchen, sondern im hellenistischen Judentum zu finden ist. Bleiben auch unsere Kenntnisse lückenhaft, in welchem Maße - regional durchaus unterschiedlich - die DiasporaSynagogen durch die Hellenisierung ihres Glaubens und Lebens tiefer greifende Veränderungen erfahren haben, so stellen doch nicht zuletzt die paulinischen Briefe und die ihnen alsbald folgende frühchristliche Literatur wichtige Dokumente dar, aus denen manche Rückschlüsse auf das hellenistische Judentum der Spätantike hergeleitet werden können. Diese Feststellung gilt unbeschadet der weiteren Entwicklung, die dazu führte, daß es in Rom zur Zeit der Abfassung des Römerbriefes offensichtlich bereits eine heidenchristliche Mehrheit gab. Kamen doch auch diese Glieder der frühchristlichen Gemeinden zu einem nicht geringen Teil aus dem weiteren Umfeld der hellenistischen Synagogen.

II. Hat der Apostel in den einleitenden und den abschließenden Ausführungen seines Briefes die Leser mit kraftvollen Worten als Gottes Geliebte und berufene Heilige und damit als Glieder der weltumspannenden Christenheit angesprochen10, so ist mit der überlegt gewählten Anrede die Bestimmung der den Brief leitenden Thematik auf das engste verknüpft. Der genaueren Klärung des dem ganzen Brief vorangestellten Themas soll daher nunmehr der zweite Gedankenschritt unserer Überlegungen gelten. Anders als in allen anderen Briefen stellt Paulus seinem Namen nicht den eines oder mehrerer Mitarbeiter bzw. Mitabsender an die Seite. Denn in seinem nach Rom gerichteten Brief tritt er ganz allein für den Inhalt der Botschaft ein, die er darin entfaltet. Weder hat er Fragen aufzugreifen, die man an ihn gerichtet hätte, noch auf besondere Probleme einzugehen, die sich im Zusammenleben der Christen in Rom ergeben hätten. Er läßt sich nicht Stichworte anderer vorgeben, sondern bestimmt seinerseits von Anfang an, was zu sagen und zu bedenken ist: Rechenschaft abzulegen vom einen Evangelium, wie es allerorten von seinen Boten bezeugt, in den Gemeinden glaubend bekannt und in gehorsamem Lebenswandel bezeugt wird. 10

Der universale Horizont wird durch auffallend häufige Verwendung des Wortes πας im Römerbrief mit besonderem Nachdruck aufgezeigt; vgl. H. S. Hwang, Die Verwendung des Wortes πάς in den paulinischen Briefen, Diss. Theol. Erlangen 1985.

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Darum stellt der Apostel gleich in den ersten Worten seines Briefes heraus, daß er als Knecht Christi Jesu dazu bestellt ist - ja, wie der Prophet von Mutterleib an ausgesondert sei - , daß er das Evangelium Gottes verkündige.11 Indem Paulus die Aufmerksamkeit seiner Leser sogleich auf das Evangelium lenkt, versichert er sie dessen, daß sie mit ihm durch das Bekenntnis zur einen frohen Botschaft bereits auf das engste verbunden sind. Den Inhalt der ihm aufgetragenen Botschaft gibt er durch das Zitat einer Bekenntniswendung an, die auf judenchristlichen Ursprung zurückgeht, aber heidenchristlich aufgenommen und erweitert worden ist: Das Evangelium ist zuvor verheißen durch Gottes Propheten in heiligen Schriften - also fest auf das Zeugnis der Schrift gegründet - und handelt „von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch; der eingesetzt ist zum Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist der Heiligkeit seit der Auferstehung von den Toten - Jesus Christus unserem Herrn" (1,2-4). Die urchristliche Verkündigung konnte den ganz auf das Christusgeschehen bezogenen Inhalt des Evangeliums auch mit anderen Worten wiedergeben und dabei das Ereignis von Kreuz und Auferstehung in das Zentrum der Aussage rücken: „daß Christus gestorben ist für unsere Sünden nach den Schriften; und daß er begraben worden ist; und daß er auferweckt worden ist am dritten Tag nach den Schriften; und daß er erschienen ist dem Kephas, danach den Zwölfen" (IKor 15,3-5). Ob Kreuz und Auferstehung Christi oder aber sein irdisches Dasein und seine himmlische Erhöhung aufgeführt werden - es geht um die eine frohe Botschaft von Christus, neben der es keine andere gibt und geben kann (Gal 1,6-9). Aus dieser Einzigkeit des Evangeliums folgt jedoch nicht, daß es nur in einem einzigen, unveränderlich gefaßten Wortlaut bezeugt werden müßte, der stets gleichförmig zu wiederholen wäre. Im Gegenteil: Die eine gute Nachricht wird in unterschiedlichen Formulierungen ausgesagt, wie sie schon die vorpaulinische Christenheit ausgebildet hat, um Christus als den von Gott Erwählten, den Kyrios und Gottessohn zu proklamieren. Paulus weiß sich dazu berufen, ihn unter den Völkern zu verkündigen (Gal 1,16), und stellt sich damit in die Gemeinschaft aller Boten, die ihn als den Herrn bezeugen. Paulus ist mithin „nicht der Schöpfer, sondern der Fortsetzer einer urchristlichen Theologie" gewesen12, die das Evangelium in der Fülle der in ihm enthaltenen Botschaft ausrichtet. 11

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Zur Bedeutung des Begriffes „Evangelium" im Römerbrief vgl. E. Lohse, Εύαγγέλιον θεοΰ. Paul's Interpretation of the Gospel in His Epistle to the Romans, Bib. 76 (1995) 127-140 = ders., Das Neue Testament als Urkunde des Evangeliums (FRLANT 192), Göttingen 2000, 89-103. Vgl. E. Lohmeyer, Briefliche Grußüberschriften, in: ders., Probleme paulinischer Theologie, Darmstadt 1954, 7-29, hier 29.

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In jedem seiner bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten abgefassten Briefe bezieht sich der Apostel auf dieses eine Evangelium und verkündigt die rettende Kraft, die es den Glaubenden schenkt. In keinem seiner Briefe - auch nicht im kurzen Schreiben an Philemon - fehlt der Begriff εύαγγέλιον, sondern durchgehend gibt er den cantus firmus der Paulus aufgetragenen Botschaft an. So sagt er im Rückblick auf sein Wirken, durch das er die Gemeinde in Thessalonich gegründet hat, seine Predigt des Evangeliums sei zu den jungen Christen „nicht allein im Wort, sondern auch in der Kraft und im heiligen Geist und in großer Gewißheit gekommen" (IThess 1,5). Und im Galaterbrief wird aus der Wahrheit des Evangeliums, die der Apostel zu verteidigen hat (2,5.14), gefolgert, daß all diejenigen, die einer Predigt des Gesetzes als Weg zum Heil zu folgen geneigt sind, vom Evangelium abfallen und seine Wahrheit in ihr Gegenteil verkehren (1,6). Wird im IKorintherbrief die Evangeliumspredigt als Verkündigung des Kreuzes Christi vollzogen, so erinnert Paulus die Gemeinde in Philippi daran, daß sie von der Gründung an „Gemeinschaft am Evangelium" empfangen und bewährt hat (1,5). Und in der grundsätzlichen Rechenschaft, die der Apostel im Römerbrief von seiner Verkündigung der Christusbotschaft ablegt, hebt er hervor, daß in diesem Evangelium Gottes Kraft wirksam ist „zur Rettung für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst und auch den Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte aber wird aus Glauben leben" (l,16f.). In diesen Sätzen gibt der Apostel nicht nur an, von welcher Thematik in seinem Brief an die Christen in Rom die Rede sein soll, sondern hebt er mit aller Deutlichkeit hervor, wo die Mitte seines theologischen Denkens überhaupt begründet liegt. Da nicht in allen Briefen des Apostels von Gottes Gerechtigkeit und der Rechtfertigung aus Glauben die Rede ist, ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob der Lehre von der Rechtfertigung im Rahmen der paulinischen Theologie nur begrenzte Bedeutung zukomme, indem sie als Kampfeslehre gegen judaistische Gesetzeslehre entwickelt wurde und nur in der Abwehr gesetzlicher Überfremdung den ihr zukommenden Platz einnehme. Es wurde zu bedenken gegeben, daß die Theologie des Apostels im Lauf der Jahre eine Entwicklung durchlaufen haben könnte, so daß es noch nicht am Anfang, sondern erst in einem späteren Stadium zur Ausbildung der Rechtfertigungslehre gekommen sei.13

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So vor allem G. Strecker, Befreiung und Rechtfertigung. Zur Stellung der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus, in: ders., Eschatologie und Geschichte. Aufsätze, Göttingen 1976, 229-259.

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Gegen derartige Erklärungen, die der Rechtfertigungslehre nur eine eingeschränkte Bedeutung für die Theologie des Apostels beimessen, spricht der eindeutige Befund, wie er sich am ausgeprägtesten im Römerbrief, aber darüber hinaus in allen Briefen des Apostels zeigt. Denn die Gedankenfolge, die er im Eingang des Römerbriefes aufzeigt, weist mit aller Klarheit auf, daß das gemeinchristliche Evangelium in der Theologie der Rechtfertigung seine angemessene, ja allein angemessene Auslegung findet. Paulus kann den Begriff Evangelium auf vielfältige Weise auslegen und sich dabei durchaus unterschiedlicher Terminologie bedienen. Doch ob diese Interpretation mithilfe der Kreuzestheologie oder der Rechtfertigungslehre vorgenommen wird, stets handelt es sich um ein- und denselben Inhalt der frohen Botschaft. Dieser aber wurde dem Apostel bei seiner Berufung aufgetan und ist daher nicht erst aufgrund späterer Entwicklung seiner Gedanken, sondern von Anfang an von bestimmender Bedeutung: „daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit aus Gott, die dem Glauben zugerechnet wird" (Phil 3,9). Der einleitend so betont herausgestellte Auftrag zur Bezeugung des Evangeliums gibt daher das Leitmotiv an, das den ganzen Römerbrief durchzieht und in den verschiedenen Abschnitten immer wieder aufgenommen und aufs neue intoniert wird (1,1.9.16; 2,16; 10,16; 11,28; 15,16.19 [16,25]). Die frohe Kunde, die Gottes befreiende und in Pflicht nehmende Gerechtigkeit laut werden läßt, gilt aller Welt - den Juden zuerst und auch den Griechen. Denn es ist der eine Gott, Schöpfer und Herr aller Welt, der sich aller annimmt (3,29f.; 11,32). Diese aller Welt zugesprochene Botschaft gründet in den in der Schrift verbürgten Zusagen Gottes, wie der Apostel nicht müde wird zu betonen, indem er weitaus häufiger als in allen anderen Briefen im Römerbrief immer wieder auf das Alte Testament Bezug nimmt und dessen Verheißungen bedenkt. War es dem zeitgenössischen Judentum nicht gelungen - auch nicht in der teilweise weltoffenen Diaspora - , eine zureichende Antwort auf die Frage finden zu können, wie die Völker am Israel zugesagten Heil würden teilhaben können, so ist durch die Botschaft des Evangeliums das Tor zur Welt aufgestoßen, so daß Gottes Verheißungen allen Menschen ausgerichtet werden können, damit sie diese in vertrauendem Glauben aufnehmen. Juden und Heiden sind und bleiben die Adressaten des einen Evangeliums, das sie miteinander anspricht und in Christus zu neuer Gemeinschaft zusammenführt. Antike Religionen und synkretistische Kulte, so unterschiedlich sie auch sein und sich gegeneinander verhalten mochten, zogen stets Grenzen zwischen denen, die dazugehören

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und in die Mysterien eingeweiht sind, und denen, die ausgeschlossen sind und draußen zu bleiben haben. Obwohl das hellenistische Judentum sich große Mühe gab, sich seiner Umwelt verständlich zu machen, vermochte es doch die Schranken, die es von den Völkern trennten, nicht aufzuheben. Im Verhältnis zu griechischen Nachbarn kam es immer wieder zu Reibereien und teilweise erheblichen Spannungen, die in der großen Stadt Alexandria zu nicht enden wollenden Streitigkeiten zwischen jüdischer und griechischer Bevölkerung führten. Die frohe Botschaft von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Christus hebt alle Trennungen auf, die Menschen voneinander scheiden. Gewiß - das zieht der Apostel nicht in Zweifel - wird es weiterhin verschiedene Völker, Juden und Griechen, geben. Wo aber das Evangelium angenommen wird, da finden sich Juden und Heiden zusammen als Glieder des einen Volkes Gottes, das aus allen Völkern zusammengerufen ist.

III. Wie hat der Apostel nun die im Eingang genannte Thematik seiner Rechenschaft vom Evangelium in den einzelnen Teilen seines Schreibens durchgeführt? Wie ist die Struktur des Briefes gestaltet, und welcher rhetorischen Mittel hat Paulus sich bedient? Diese Fragen, die in vielen neueren Untersuchungen - insbesondere zur paulinischen Rhetorik - erörtert wurden, seien nun in einem dritten Teil unserer Ausführungen bedacht. In seinem Brief an die Christen in Rom bezieht sich der Apostel immer wieder auf vorgegebene urchristliche Bekenntnisformulierungen, in denen ausgesagt ist, was zentraler Inhalt von Verkündigung und Glaube ist - angefangen von der gleich zu Beginn zitierten Formulierung, die den christologischen Inhalt des Bekenntnisses angibt (l,3f.; vgl. weiter 3,25f.; 4,25; 6,3f.; 8,3.32.34; 10,9). Da sich, wie an einem durchlaufenden Faden aufgereiht, immer wieder überlieferte formelhafte Aussagen über den Inhalt urchristlichen Bekenntnisses finden, kann man mit guten Gründen den Römerbrief in weiten Teilen geradezu als einen Kommentar zu überkommenen Glaubensformeln charakterisieren.14 Zeigt sich doch, daß Themen und Stoffe, die Paulus im Römerbrief abhandelt, nicht erst im Blick auf die Abfassung des Schreibens aufgegriffen und formuliert worden sind. Vielmehr sind sie 14

Vgl. H. Conzelmann, Paulus und die Weisheit, in: ders., Theologie als Schriftauslegung (BEvTh 65), München 1974,177-190, hier 178.

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offensichtlich von Paulus seit langem durchdacht, in der Unterweisung der Gemeinden erläutert und im Dialog mit seinen Mitarbeitern immer wieder begründet und vertieft worden. Die thematische Aussage von der befreienden Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, die den langen Gedankengängen als propositio generalis vorangestellt ist15, wird in deren Verlauf wiederholt aufgenommen, in ihrer grundsätzlichen Bedeutung unterstrichen und auf die verschiedenen Bereiche paulinischer Lehrunterweisung bezogen. Daß sich der Apostel dabei in seinen Ausführungen bestimmter rhetorischer Stilmittel bedient, wie sie vornehmlich in mündlichen Lehrvorträgen der hellenistischen Popularphilosophie gebräuchlich waren, ist seit langem gesehen und für die Exegese in Anschlag gebracht worden.16 In rasch wechselnder Folge zwischen Fragen und kurzen Antworten wußte der Apostel die Aufmerksamkeit seiner Hörer und Leser wach zu halten. Das Problem jedoch, welche Bedeutung rhetorischer Gestaltung für das Verständnis der paulinischen Briefe im allgemeinen und des Römerbriefes im besonderen zukommt, ist in der neueren Diskussion mit großer Intensität in einer Fülle kaum noch zu überschauender Publikationen verhandelt worden.17 Im gesellschaftlichen Leben der hellenistisch-römischen Antike kam der Rhetorik hohe Bedeutung zu. Als gebildet konnte nur derjenige gelten, der gelernt hatte, seinem Wissen und seiner Kenntnis überzeugenden Ausdruck zu verleihen. Nach verbreiteter Ansicht, wie sie in rhetorischer Unterweisung tradiert wurde, hatte eine wohl überlegte Rede in der Regel aus den Teilen exordium, narratio, confirmatio und peroratio zu bestehen. Diese Gliederung stellte jedoch kein starres Schema dar, das keine Abwandlung oder Veränderung hätte vertragen können. Vor allem aber hatte ein geschulter Redner darauf bedacht zu sein, daß beim mündlichen Vortrag, der vorher gut einstudiert werden sollte, die Zuhörer nicht etwa sich daran stören könnten, daß zu schematisch eingehaltene Ordnungsprinzipien der geneigten Aufnahme der Argumentation hinderlich im Wege stehen könnten. Der Apostel Paulus ist schwerlich jemals mit einer hellenistischen Rhetorschule in Berührung gekommen. Da er aber von Jugend auf im 15 16 17

Vgl. J.-N. Aletti, Comment Dieu est-il juste? Clefs pour interpreter l'epitre aux Romains, Paris 1991, 249f. Vgl. R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (FRLANT 13), Göttingen 1910 = 1984. Die neuere Debatte ist ausgelöst worden durch die überaus anregenden Ausführungen von H. D. Betz, The Literary Composition and Function of Paul's Letter to the Galatians, NTS 21 (1974/75) 353-379 = ders., Paulinische Studien, Tübingen 1994, 6 3 97. Umfangreiche Literaturangaben finden sich bei C. J. Classen, Rhetorical Criticism of the New Testament (WUNT I, 128), Tübingen 2000. Besonders hervorgehoben sei: ders., Paulus und die antike Rhetorik, Z N W 82 (1991) 1-33.

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Studium der Schrift und der von den Vätern überkommenen Überlieferungen unterwiesen worden war, hatte er aus den Lehrvorträgen der Synagoge und den Debatten, die in ihrem Schulbetrieb geführt wurden18, lernen können, wie man einen Gedankengang schlüssig vorzutragen hat. Hatte doch die hellenistische Synagoge mit der griechischen Sprache auch manche Formen ihrer geschickten Handhabung übernommen. Versucht man, die Kriterien rhetorisch bestimmten Aufbaus auf die Gedankenführung des Römerbriefs anzuwenden, so könnte dessen Aufriß etwa dahin beschrieben werden, daß sich am ehesten ein Vergleich mit sog. epideiktischer, auf Uberzeugung zielender Rede anbietet und ein einleitendes exordium (1,1-15) zur propositio generalis (l,16f.) führt und dann die breite Folge der argumentatio entfaltet wird (1,18-15,13), die am Ende durch eine peroratio abgeschlossen wird (15,14-16,23). 19 Doch fragt sich, welchen Gewinn die Anwendung eines so grobmaschigen und weitgespannten Schemas für das Verständnis der Struktur des Römerbriefes wirklich austrägt. In der spätantiken Rhetorik konnte einerseits die Gestaltung einer Rede mancherlei Abwandlungen und Variationen im einzelnen erfahren.20 Andererseits aber hat sich Paulus in keinem seiner Briefe in Abhängigkeit von einem vorgegebenen rhetorischen Schema begeben. Vielmehr bedient er sich in großer Freiheit und nach wechselnder Wahl unterschiedlicher Ausdrucks- und Stilmittel, die ihm jeweils am geeignetsten erscheinen, seine Gedanken zu entfalten. Schließlich will eine einfache, jedoch folgenreiche Feststellung nicht außer acht gelassen werden. Der Apostel entwirft keine Redekonzepte, sondern schreibt Briefe. Die Form, in die er seine Ausführungen und Mitteilungen faßt, ist die des Briefes, der jeweils an bestimmte Adressaten gerichtet ist und sie in der Situation, in der sie sich befinden, ansprechen will. Daher wäre es nicht angemessen, ein vorgegebenes Schema - wie das des Aufbaus einer Rede - an die Gedankenfolge eines paulinischen Briefes anzulegen. Sondern es ist umgekehrt zu verfahren: daß in sorgfältiger Analyse der einzelnen Zusammenhänge geprüft wird, welche Stilmittel verwendet wurden und in wieweit rhetorische Gestaltung der Gedankenführung zu erkennen ist. Die Exegese 18 19 20

Vgl. hierzu H.-J. Klauck, Hellenistische Rhetorik im Diaspora-Judentum. Das Exordium des vierten Makkabäerbuches (4 Makk 1,1-12), NTS 35 (1989) 4 5 1 ^ 6 5 . Vgl. hierzu insbesondere W. Wuellner, Paul's Rhetoric of Argumentation in Romans, CBQ 38 (1976) 330-351 = Donfried (Hg.), Debate (s. Anm. 3), 128-146. Vgl. Classen, Paulus (s. Anm. 17), 28: „Wo ein exordium, eine conßrmatio und eine peroratio vorkommen, muß nicht auch eine narratio zu finden sein; und selbst wenn sich eine narratio nachweisen läßt, bleibt immer noch zu überprüfen, ob sie im Einzelfall die übliche Funktion einer narratio erfüllt."

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hat daher vom einzelnen literarischen Werk auszugehen, „von dessen Gestaltung, Autor, Zeit und Adressaten u.s.w., weiter dem Aufbau, der Argumentation, den sprachlichen Ausdrucksmitteln" und diese dann in ihrer jeweiligen „Funktion zu bestimmen und wenn möglich einander zuzuordnen, um auf diese Weise die Intention des Ganzen zu ermitteln".21

IV. Ein vierter Abschnitt unserer Überlegungen möchte der Auslegung der Kapitel 9-11 dienen und deren Bedeutung für das Verständnis des ganzen Römerbriefes aufzeigen. In der älteren Exegese ist dieser wichtige Abschnitt zu Unrecht weithin vernachlässigt worden und eher auf das dogmatische Problem von Gottes Prädestination und ewiger Erwählung hin befragt worden, als die Frage nach dem Geschick Israels in den Blick zu nehmen. In der neueren Exegese ist jedoch mit großer Intensität untersucht worden, wie die Botschaft dieser Kapitel im Zusammenhang des ganzen Römerbriefes zu verstehen ist. Ältere Thesen, nach denen diese drei Kapitel als ein in sich gerundeter Traktat über Gottes Gnadenwahl oder als ein Exkurs anzusehen seien, der erst sekundär in das Schreiben nach Rom eingefügt worden wäre, werden zu Recht nicht mehr vertreten. Vielmehr ist nicht mehr strittig, daß die drei Kapitel integraler Bestandteil des Ganzen sind. Gilt das Evangelium aller Welt, Juden und Griechen, dann muß es zutiefst beunruhigen, wenn unter Israel so wenig Zustimmung zu dieser Botschaft zu finden ist. Was ist im Licht des Evangeliums zum Problem des Geschicks Israels zu sagen? Könnte etwa ihre Untreue Gottes Treue zunichte machen? Diesen Einwand weist der Apostel mit Entschiedenheit zurück und greift zur Begründung - wie insbesondere die außergewöhnliche Häufung alttestamentlicher Schriftzitate erkennen läßt - offensichtlich auf Gedankengänge zurück, die er des öfteren in seinen Lehrvorträgen erörtert haben wird. Mit größter Sorgfalt ist der Apostel darauf bedacht, aus den Schriften zu erläutern, warum das Geschick Israels nur im Licht des göttlichen Erbarmens recht verstanden werden kann. Der Treue des erwählenden Gottes (9,6-29) wird Israels Verantwortung gegenübergestellt (9,30-10,21), um dann die bleibende Verheißung Gottes für sein Volk hervorzuheben (11). Indem Paulus betont, niemals gehe es „aus Verdienst der Werke" zu, sondern immer nur „durch Gnade des Berufenden" (9,12), rückt er 21

Vgl. Classen, ebd. 27.

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die Frage nach dem Geschick Israels in den Horizont der Theologie der Rechtfertigung, wie sie im Zeichen der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes verstanden werden muß. Eine eigentümliche Umkehrung hat sich vollzogen: Nicht das zuerst gerufene Volk, sondern Heiden, die von Gott nicht wußten und deshalb auch „nicht nach der Gerechtigkeit trachteten, haben die Gerechtigkeit erlangt" (9,30). Die Zeit des Gesetzes als Weg zum Heil aber ist beendet, weil mit Christus die Wende der Zeiten gekommen ist (10,4). Paulus bleibt fest davon überzeugt, daß Israels Geschichte noch nicht an ihr Ende gelangt ist, weil Gottes Verheißungen nicht zurückgenommen werden. Gott aber hat einen eigenartigen Umweg eingeschlagen, indem er Israels Fall als Mittel dazu benutzt, daß das Evangelium zu den Heiden gelangt und sie zum Heil geführt werden (11,11-16). Sind Heiden gläubig geworden, so soll Israel dadurch eifersüchtig gemacht werden, damit es auch gerettet werde. An die Heidenchristen jedoch richtet Paulus eine ausdrückliche Ermahnung, nicht hochmütig zu werden (11,17-24). Sie sollen sich vielmehr dessen bewusst sein, daß sie in den edlen Ölbaum eingepfropft wurden anstelle der Zweige, die ihres Unglaubens wegen ausgebrochen wurden. Gott aber kann ohne Zweifel die herausgenomenen Zweige wieder in ihren eigenen Ölbaum einsetzen und somit das Geschick Israels wenden. Bei der Interpretation dieses Gleichnisbildes ist auf besondere Genauigkeit zu achten, um nicht einem Fehlurteil hinsichtlich des Verhältnisses von Juden und Christen zu erliegen. Was Paulus vom Ölbaum und seinen Zweigen sagt, widerspricht aller gärtnerischen Praxis. Denn Zweige werden nicht eingesetzt, um veredelt zu werden; sondern das Aufpfropfen von ausgewählten Zweigen dient dazu, einen Baum zu veredeln. Das von Paulus entworfene Bild ist ganz von der intendierten Sachaussage bestimmt: der Eingliederung von Heiden in das von Gott erwählte Volk. Die Frage, die es zu entscheiden gilt, lautet daher: Wie wird Anteil gewonnen am Segen der Väter? Denn auf sie und nicht allgemein auf das Judentum - bezieht sich das Bild von der Wurzel und den Zweigen. Paulus beantwortet die gestellte Frage dahin, daß nicht durch Werke des Gesetzes, sondern allein im glaubenden Vertrauen auf Gottes gnädige Barmherzigkeit Rettung und Heil empfangen werden. Wird diese Antwort des Glaubens versagt, so geht die Verbindung zu den Verheißungen, die den Vätern gegeben wurden, verloren. Umgekehrt aber sind die Glaubenden Söhne Abrahams, denen der ihm zugesprochene Segen gilt. Paulus vertritt mit dieser Auslegung seines Gleichnisbildes mitnichten die Meinung, als sei die Christenheit sekundär in das Judentum eingepflanzt worden und könne nur über dieses an der Gültigkeit des

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Bundes teilgewinnen. Vielmehr sind die Glaubenden - Heiden wie Juden - Erben der Verheißungen und wird ihnen als Zweigen die nährende Kraft der Wurzel des Olbaums zuteil. Gottes Geschichte mit Israel aber bleibt offen für die Zukunft. Das aus den Völkern zusammengerufene Volk Gottes darf daher unter keinen Umständen hochmütig über Israel urteilen. Gottes Verheißungen an Israel werden vielmehr durch die Berufung der Heidenkirche der noch ausstehenden künftigen Erfüllung einen wesentlichen Schritt entgegengebracht. In einem prophetischen Wort, das sich auf das Zeugnis der Schrift gründet, faßt der Apostel die Botschaft über das Geschick Israels zusammen: 1. Verstockung ist Israel teilweise widerfahren; 2. Die Fülle der Heiden wird eingehen; sowie 3. Und so wird ganz Israel gerettet werden. Das Geschick Israels und das der Völker ist auf eigenartige Weise miteinander verschränkt. Zunächst muß Israel zurückstehen, bis das von Gott bestimmte Vollmaß der Völker (in das Reich Gottes) eingegangen ist (11,25). Höhepunkt und Abschluß zugleich stellt dann der Jubelruf dar, ganz Israel werde gerettet werden (11,26a). Über die Frage, wie es zu dieser Rettung kommen werde, gibt Paulus sich keinen Spekulationen hin, sondern blickt auch hier auf die endzeitliche Erfüllung aus der Perspektive, die von der Auslegung des Evangeliums durch die Botschaft von der Rechtfertigung bestimmt ist. Die Interpretation dieser Aussage wird in manchen neueren Beiträgen auf einen Irrweg geführt, wenn man sie dahin verstehen wollte, daß es für Israel einen anderen Zugang zum Heil geben könnte als für die Völker, der sogar möglicherweise nach wie vor vom Gehorsam gegen die Thora bestimmt sein könnte.22 Heil und Rettung bleiben für Paulus untrennbar an die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes gebunden, die im Evangelium zugesprochen und im Glauben angenommen wird. Der Retter, der am Ende der Tage erscheinen wird, wird daher für Paulus kein anderer als der gekreuzigte und auferstandene Christus sein. Ein Sonderweg, der Israel an Christus vorbei - auf wel22

Zum Problem eines sog. Sonderweges für Israel sei besonders hingewiesen auf: E. Gräßer, Zwei Heilswege?, in: ders v Der Alte Bund im Neuen (WUNT I, 35), Tübingen 1985, 212-230 sowie W. Keller, Die These vom „Sonderweg" in der neueren Diskussion (SBB 40), Stuttgart 1999.

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che Weise auch immer - zum Heil gelangen ließe, wäre für den Apostel ein unvorstellbarer Gedanke. Würde er doch dazu führen, den vom Evangelium her bestimmten Charakter des Volkes Gottes als Kirche aus Juden und Heiden aufzuheben und die Kirche ausschließlich zur Heidenchristenheit werden zu lassen. Wo aber die Kirche sich auf solche Weise von Israel lösen wollte, würde sie ihrer Bestimmung zutiefst untreu werden. Sie hat sich vielmehr dessen bewußt zu bleiben, daß die in Christus offenbarte Barmherzigkeit Gottes aller Welt gilt, den Juden zuerst und dann den Griechen.

V. Zum Schluß unserer Überlegungen zur Theologie des Römerbriefes sei noch der paränetische Abschnitt in den Kapiteln 12-15 betrachtet, um auf einige unterschiedliche Ansätze der Interpretation kurz einzugehen. Die lange Folge der Ermahnungen leitet der Apostel durch ein gewichtiges Vorwort ein, das er dem Ganzen voranstellt. Darin fordert Paulus seine Leser auf, ihre Leiber - und das heißt: sich selbst in all ihrem Handeln und Tun - darzubringen als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, als ihren vernünftigen Gottesdienst (12,1). Kultische Begriffe, die die Unterscheidung von heilig und profan aufzeigen, haben für Paulus ihre trennende Bedeutung verloren. Nicht vom Tempel und geweihten Ort ist die Rede, sondern von der ganzen Fülle und Weite menschlichen Lebens, in dem es den Einsatz leiblichen Handelns zu leisten gilt.23 Durch diese nüchterne Sicht der Welt, wie sie das Evangelium eröffnet, wird die Fähigkeit zu kritischem Wägen und Prüfen geweckt und geschärft. Dabei wird kein ins einzelne gehendes Programm entworfen, nach dem die Welt und die Ordnung der menschlichen Gemeinschaft gestaltet werden sollte. In den ethischen Ausführungen des Paulus wird vielmehr ganz unbedenklich an vielen Stellen auf alttestamentlich-jüdische oder hellenistisch-stoische Sätze und Traditionen zurückgegriffen, um zu übernehmen, was sich im Licht des Evangeliums als brauchbar erweist (12,2). In der exegetischen Diskussion ist nach wie vor strittig, ob einzelne der paränetischen Ermahnungen auf eine bestimmte Situation in der römischen Christenheit Bezug nehmen, so daß sich daraus gewisse 23

Zur Sache vgl. bes. E. Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964,198-204.

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Rückschlüsse auf deren Befindlichkeit ergeben könnten. Dabei wird vielfach von der methodischen Voraussetzung ausgegangen, weil alle anderen authentischen paulinischen Briefe auf bestimmte Gegebenheiten in den Gemeinden bezogen seien, müsse dieses auch für den Römerbrief angenommen werden.24 Von allen anderen Schreiben des Apostels ist jedoch der Römerbrief dadurch grundsätzlich unterschieden, daß er sich an Adressaten wendet, die Paulus in ihrer überwiegenden Mehrzahl noch nicht hat kennen lernen können. Sie aber können schwerlich Veranlassung gehabt haben, strittige Fragen dem Apostel zur Entscheidung vorzulegen. Vielfältigen Bemühungen, aus den paränetischen Ausführungen des Römerbriefes näheren Aufschluß über den Zustand der römischen Christenheit zu gewinnen, ist schon vor längerer Zeit das klare Bedenken entgegengehalten worden, es sei vergeudete Zeit, wenn man immer wieder versuchen wollte, aus einzelnen Abschnitten die eine oder andere Auskunft über die Situation der römischen Kirche herausfiltern zu wollen.25 Nicht Anfragen, die man etwa an Paulus gerichtet hätte, haben ihn dazu veranlaßt, an die Christen in Rom zu schreiben. Sondern der Apostel hat die Initiative ergriffen, um im Blick auf seine künftigen Pläne mit den Christen in Rom Verbindung herzustellen, indem er grundsätzliche Rechenschaft über sein apostolisches Wirken ablegt.26 Seit langem ist erkannt und anerkannt, daß die Ermahnung über das rechte Verhalten der Christen gegenüber staatlichen Behörden (13,1-7) nicht etwa auf eine bestimmte, in Rom gegebene Lage zurückzuführen ist, sondern traditionelle katechetische Unterweisung aufnimmt, deren Inhalte weitgehend auf sittliche Belehrungen der hellenistischen Synagoge zurückgehen. Und die knappe Zusammenfassung, wie sie im Liebesgebot als der bestimmenden Weisung für die Lebensführung der Christen ausgesprochen wird (13,8-10), bezieht sich nicht auf eine spezielle Situation, sondern gilt nach gemeinchristlicher Uberzeugung schlechthin für den Wandel der Glaubenden, wie er im Licht des Evangeliums zu begreifen und zu gestalten ist. Der einzige Abschnitt, der innerhalb der Paränese, aber auch des ganzen Römerbriefes Anlaß zu der Frage bieten könnte, ob Paulus konkrete Fragen aufgreift, die sich innerhalb der römischen Christen24 25 26

Vgl. Κ. P. Donfried, False Presuppositions in the Study of Romans, in: ders. (Hg.), Debate (s. Anm. 3), 102-125, hier 103. Vgl. C. H. Dodd, The Epistle of Paul to the Romans, London 1932 = "1965,24. Zur weiterhin von vielen Exegesen vertretenen These, der Römerbrief müsse im einzelnen im Blick auf seine konkreten Abfassungsverhältnisse interpretiert werden vgl. A. J. M. Wedderburn, The Reasons for Romans, Edinburgh 1988 und die Kritik durch W. Schmithals, ThLZ 114 (1989) 674-676.

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heit etwa im gegenseitigen Verhältnis der kleinen Hausgemeinden zuund untereinander gestellt haben könnten, betrifft die Beziehungen zwischen den sog. Starken und den sog. Schwachen (14,1-15,13). Während diese sich an gesetzliche Vorschriften gebunden wissen, die den Genuß bestimmter Speisen und Getränke verbieten sowie die Einhaltung ausgesonderter Tage vorschreiben, wissen die anderen sich von solchen Bindungen frei. Beide Seiten hält der Apostel dazu an, gegeneinander Rücksicht zu üben und einander anzunehmen, wie Christus alle angenommen hat (15,7). In verschiedenen Anläufen haben Exegeten immer wieder den Versuch unternommen, die beiden Gruppen der Starken und der Schwachen genauer zu bestimmen und auf diese Weise Aufschluß über die Verhältnisse unter den Christen in Rom zu erhalten. 27 Zwar ist nicht auszuschließen, daß es gewisse Unterschiede zwischen den einzelnen Hausgemeinden gegeben haben mag. Doch hierüber erfahren wir schlechterdings nichts, so daß es sich nicht empfiehlt, bloße Vermutungen für Fakten nehmen zu wollen. Vergleicht man jedoch unseren Abschnitt mit den Ausführungen über die Frage des sog. Götzenopferfleisches in IKor 8-10, so läßt sich eine nicht unerhebliche Reihe von vergleichbaren Aussagen aufweisen, denen jedoch nicht wenige gewichtige Unterschiede gegenüberstehen. Denn zwar geht es hier wie dort u m das Verhältnis der Starken zu den Schwachen, doch im Römerbrief wird das Problem des Götzenopferfleisches weder erwähnt noch auch nur angedeutet. Man gewinnt daher den Eindruck, daß der Apostel aufgrund von Erfahrungen, wie er sie in seiner Wirksamkeit an verschiedenen Stellen - insbesondere in Korinth, von wo aus er den Römerbrief schreibt gemacht hat, ein Problem anspricht, das sich grundsätzlich überall im Zusammenleben von Christen unterschiedlicher Herkunft - vornehmlich Juden und Griechen - stellen mußte. Denn nachdem die beiden Positionen der Starken und der Schwachen nur mit wenigen Strichen angedeutet worden sind, lenkt Paulus zu Beginn des 15. Kap. den Gedankengang auf die ihn stets bewegende Frage, wie Heiden- und Judenchristen in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi zusammenzuleben haben. Den Heidenchristen wird zu bedenken gegeben, daß Christus ein Diener der Beschneidung geworden ist (15,8). Und die Judenchristen werden darauf hingewiesen, daß Gottes Barmherzigkeit unter den Völkern, d.h. den Heiden, gelobt wird (15,9). Darum kommt es darauf an, einander gelten zu lassen, nicht auf völlige Vereinheitli27

Vgl. hierzu den am weitesten gehenden Versuch von P. S. Minear, The Obedience of Faith. The Purposes of Paul in the Epistle to the Romans (SBT 11,19), London 1971, der mit nicht weniger als fünf miteinander rivalisierenden Gruppen rechnen möchte.

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chung unterschiedlich ausgeprägter Lebensweise zu dringen, sondern Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, einmütig mit einem Munde zu loben (15,6). Seine weit ausholenden Ausführungen, die hier exemplarisch an Hand einiger ausgewählter Beispiele betrachtet wurden, führt der Apostel mit Bedacht am Ende jedes längeren Abschnitts stets zu Bekenntnis und Lobpreis der in Christus erwiesenen Barmherzigkeit Gottes, die das Evangelium bezeugt (4,25; 8,31-39; 11,33-36; 15,13). Die dem Brief vorangestellte Aussage von der im Evangelium offenbarten Gerechtigkeit Gottes als dem zentralen Inhalt der dem Apostel aufgetragenen Verkündigung wird in den aufeinander folgenden Gedankengängen auf die verschiedenen Themenkreise angewendet. Die umfassende Gültigkeit der Rechtfertigungslehre als einzig sachgerechter Auslegung des Evangeliums wird damit deutlich herausgestellt. Botschaft und Lehre, wie der Apostel sie in der Rechenschaft ausführt, die er im Römerbrief ausführt, enthalten zwar keine vollständige Ausführung aller zu bedenkenden Inhalte christlichen Glaubens. Wohl aber legen sie dar, was ein Christ zu wissen not hat, um seines Glaubens gewiß sein und die feste Zuversicht der ihm gewährten Rettung bewahren zu können. Mit dem Römerbrief hat der Apostel damit der ganzen Christenheit ein verpflichtendes Vermächtnis hinterlassen.28

28

Von einer letzten „Willenserklärung des Apostels" spricht G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Glaube und Geschichte. II. Gesammelte Aufsätze IV (BEvTh 53), München 1971, 120-139. Da Paulus bei der Abfassung des Römerbriefes jedoch noch weit ausgreifende Pläne vor sich sieht, wird man kaum von einem Testament zu sprechen haben, zumal der Römerbrief auch seiner formalen Gestalt nach keineswegs die Züge eines Testaments trägt.

2.

Doxologien im Römerbrief des Apostels Paulus Unter den Briefen des Apostels Paulus zeichnet sich der Römerbrief dadurch besonders aus, dass er mit einer streng durchgehaltenen Thematik und überlegter Argumentation gestaltet ist.1 In den Schreiben, die an Gemeinden gerichtet sind, die Paulus selbst gegründet hat, geht der Apostel vielfach auf Fragen ein, die man an ihn gerichtet hat, oder greift er die eine oder andere - gute oder auch Besorgnis erregende Nachricht auf, die ihn erreicht hat. Durch diese Vorgaben sind die Gedankenführung und der Aufbau des jeweiligen Briefes weithin bestimmt. Im Römerbrief haben jedoch weder Anfragen, mit denen man sich an den Apostel gewandt hätte, noch ergangene Mitteilungen Anlass zu anstehender Klärung gegeben. Vielmehr schreibt Paulus an die Christen in Rom, um ihre Zustimmung und Unterstützung für sein weiteres missionarisches Wirken zu gewinnen. Ihnen legt er dar, wie er die allen Christen aufgegebene Botschaft des Evangeliums versteht und des näheren auslegt. Thematik und Durchführung des Briefes sind durch diese Veranlassung bedingt und haben zur Folge, dass die vom Apostel entworfene Rechenschaft vom Evangelium nach einer deutlich erkennbaren Systematik ausgeführt wird. Dabei möchte Paulus mit den Adressaten seines Schreibens in einhelligen Lobpreis des barmherzigen Gottes einstimmen. Worte und Sätze des Gotteslobes finden sich daher in auffälliger Vielzahl und inhaltlicher Betonung. 1. Als gebildeter Theologe folgt Paulus selbstverständlich dem Brauch, wie er im Judentum allgemein üblich war und ist: mit offenen Augen darauf zu achten, wo und wie Zeichen der reichlich erwiesenen Wohltaten Gottes zu erkennen sind. Bei jedem dieser Anlässe hat der fromme Beter ein Wort des Gotteslobes zu sprechen. In der Regel beginnt diese Benediktion mit dem Partizip Passiv barukh: „Gepriesen sei der

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Vgl. M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, bes. S. 27-42 sowie 115-258.

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Herr, König der Welt und Erlöser Israels" o.a.2 An diese Einführung wird dann oft eine inhaltliche Aussage angeschlossen, die auf Gottes große Taten von der Schöpfung bis zur Erlösung hinweist. Die Benediktion redet von Gott nicht in der Form der Anrede, sondern stets in der 3. Person Sing., um Gottes Hoheit rühmend zu preisen. 3 Im hellenistischen Judentum wurde dieser Brauch weitergeführt und das einleitende barukh durch das Verbaladjektiv εΰλογητός wiedergegeben, das bis dahin in der Koine nicht gebräuchlich war. Im hellenistischen Judentum wurde es nun sowohl in der griechischen Ubersetzung des Alten Testaments wie auch in frei formulierten Wendungen des Gotteslobs - neben ευλογημένος - verwendet. 4 Zwar kann gelegentlich auch von Menschen gesagt werden, dass sie unter dem Segen Gottes stehen und daher preiswürdig sind (vgl. Gen 12,2; 26,29; 43,28 u.ö.) 5 , doch wird vornehmlich das Wort εΰλογητός auf Gott bezogen, um sein Heil schaffendes Handeln zu preisen und zu loben. Im urchristlichen Schrifttum wird das Gotteslob aus jüdischer Gottesdienst- und Gebetspraxis übernommen, wobei nun das Verbaladjektiv εύλογητός niemals von Menschen, sondern ausschließlich von Gott gesagt wird, dem alle Ehre und alles Lob gebühren. 6 2. Folgt der Apostel Paulus schon darin jüdisch-hellenistischen Vorbildern, dass er seine Briefe - mit Ausnahme des Galaterbriefes - mit Worten dankenden Gotteslobes eröffnet (vgl. Rom 1,8), so nimmt er wiederholt Worte, mit denen Gott die ihm allein gebührende Ehre bezeigt wird, in den fortlaufenden Gang seiner Argumentation auf, um seine Ausführungen kraftvoll zu verstärken. Im ersten Kapitel des Römerbriefes führt Paulus aus, dass und wie Gottes Zorngericht die lasterhaft lebende heidnische Welt trifft und straft. Allerorten hat man die Wahrheit Gottes in Lüge verkehrt und kultischen Dienst dem Geschöpf anstelle des Schöpfers erwiesen. Diese schändliche Verkehrung aber mutet den Apostel so verabscheuungswürdig an, dass er innehält und - jüdischer Gebetshaltung entspre-

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3

4 5 6

Vgl. P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 1924, 310: „Der Heilige, gepriesen sei er - die häufigste Gottesbezeichnung. Sie findet sich fast auf jedem Blatt der rabbinischen Literatur." Vgl. I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt M. 3 1931 = Hildesheim 4 1962, 4f. sowie R. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (StUNT 5), Göttingen 1967, 24-43. Vgl. H. W. Beyer, ThWNT II, 761f.: Deichgräber, a.a.O., 30-32, ferner: G. Dalman, Die Worte Jesu I, Leipzig 1930,163f. Vgl. weiter H. W. Beyer, ThWB II, 762. Vgl. ebd., sowie E. Käsemann, Art. Liturgische Formeln im NT, RGG3 II (1958) 993f.

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chend7 - eine Benediktion (bzw. Eulogie) spricht, mit der dem Schöpfer die ihm - und ihm allein - zustehende Ehre in alle Ewigkeit zuerkannt wird: „Er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen" (Rom 1,25; vgl. auch 2Kor 11,31). So wird die dem Schöpfer gebührende Ehre wiederhergestellt.8 Unter jüdischen Gelehrten war unstrittig, dass allein dem einen Gott alle ihm gebührende Ehre zu erweisen ist; doch wurde in manchen Debatten erörtert, bei welchen Gelegenheiten, wann und wo eine Benediktion zu sprechen sei. Diese Diskussionen haben dann im Mischnatraktat Berakhoth ihren Niederschlag gefunden. Werden Mischna, Tosephta und Talmud mit diesem Traktat eröffnet, so wird damit der hohe Rang zum Ausdruck gebracht, der dieser Thematik zukommt. Im sechsten Kapitel von Mischna Berakhoth wird nacheinander abgehandelt, welchen Segensspruch man über Früchte und Erntegaben zu sagen hat: „Gepriesen sei, der die Frucht des Baumes schuf" - „der das Brot aus dem Land hervorbringt" u.s.w. (Ber. VI,lf.). 9 Gebete, die an den Gott Israels und König der Welten gerichtet werden, sind vor allem anderen Ausdruck des Gotteslobes. Den einzelnen Bitten, die die Beter vor Gott tragen, gehen - wie das täglich zu sprechende Achtzehngebet beispielhaft zeigt - Benediktionen voran; und lobende Danksagung bildet stets den Abschluss vielgestaltiger Anrufung Gottes, die die betende Gemeinde sich durch „Amen" - so sei es - zu eigen macht.10 Der eine Gott sei gelobt in alle Ewigkeit - so sagt der Apostel und fügt sogleich das zustimmende „Amen" an, mit dem er sich den Christen in Rom - und in aller Welt - in dankendem Lobpreis verbunden weiß (Rom 1,25). Mit dem abschließenden „Amen" wird angezeigt, daß „Paulus eine gottesdienstliche Eulogie verwendet, die von Seiten der Gemeinde mit einer Akklamation bestätigt wird". 11 3. Zu Beginn des neunten Kapitels zählt der Apostel die reiche Fülle der Gaben auf, die der Gott Israels seinem Volk hat zuteil werden lassen (Rom 9,1-5). Sie verbürgen, dass Gott unmöglich sein Wort fallen lässt, sondern an seiner ergangenen Erwählung unbeschadet alles Ungehorsams der Seinen in Treue festhält. Die Reihe seiner Gnadenerweise erreicht ihren abschließenden Höhepunkt mit der Aussage, aus ihrer Mitte stamme der Christus nach dem Fleisch (V. 5b). Das Erbe der Vä7 8 9 10 11

Vgl. Billerbeck, Kommentar (s. Anm. 2), III 1926, 64: „Das bekannteste Beispiel ist die ungemein häufige Gottesbezeichnung: ,Der Heilige, gepriesen sei er.'" Vgl. H. Schlier, Der Römerbrief (HThK 6), Freiburg 1977 31987, 61. Vgl. Die Mischna ins Deutsche übertragen mit einer Einleitung und Anmerkungen von D. Correns, Wiesbaden 2005, 9f. Vgl. Billerbeck, Kommentar (s. Anm. 2), 1 1 9 2 2 , 2 4 2 - 2 4 4 . Vgl. Schlier, Rom (s. Anm. 8), 61.

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ter und die Erscheinung des Christus stehen dafür, dass auf Gottes Zusagen Verlass ist. Darum „sei der über allem waltende Gott in Ewigkeit gepriesen. Amen" (ebd.). Das seit alters verhandelte Problem, ob dieser Lobpreis dem eben genannten Messias gilt oder aber Gott, der über allem waltet, ist seit der Zeit der alten Kirche immer wieder erörtert worden und hat bis heute keine einhellige Beantwortung gefunden.12 Da antike Handschriften in „Scriptio continua" ohne Interpunktionszeichen blieben, stellt sich die Frage, ob die Eulogie mit einem Komma anzuschließen und dann auf Christus zu beziehen oder aber ein trennendes Kolon zu setzen ist. Dann würde in einem selbständigen Satz eine Aussage über Gott gemacht. Für die eine wie für die andere Möglichkeit sind viele Exegeten mit jeweils beachtlichen Gründen eingetreten - ein Zeichen dafür, wie schwer es ist, eine allgemein überzeugende Entscheidung zu treffen. Zwar kann Paulus mit dem urchristlichen Hymnus sagen, der präexistente Christus sei „Gott gleich" gewesen (Phil 2,6), aber niemals spricht er von ihm als Gott, sondern stets als Gottes Sohn. Daher wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit den Lobspruch nicht auf Christus, sondern - wie auch Rom 1,25 - auf Gott zu beziehen haben.13 Als Israelis als der sich der Christ Paulus weiterhin versteht, wahrt er mit strenger Sorgfalt Gottes Einzigkeit und gibt zu Beginn seiner langen Ausführungen über das Geschick Israels ihm allein die Ehre.14 Fehlt in der kurzen Wendung die Kopula, so ist doch nach Rom 1,25 sicher ein έστίν zu ergänzen.15 Denn Gott ist seine Ehre nicht erst zuzuwünschen, sondern dem über allem waltenden Gott ist bereits alle Herrlichkeit eigen, die die bekennende Gemeinde - wie auch hier durch abschließendes „Amen" ausgesagt wird - mit voller Zustimmung im von ihr angestimmten Lobgesang preist.

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14 15

Vgl. Literaturangaben bei E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 265.269f.; dort auch Erörterung weiterer Einzelheiten. So in neuerer Zeit mit gewichtigen Gründen u.a.: O. Kuss, Zu Römer 9,5, in: Rechtfertigung. FS Ernst Käsemann, Göttingen/Tübingen 1976, S. 291-303 und B.M. Metzger, The Punctuation of Rom. 9:5, in: Christ and Spirit in the New Testament. FS Charles Francis Digby Moule, Cambridge 1973, 93-112 = ders., New Testament Studies (NTTS 10), Leiden 1980, 57-74; sowie ders., A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 2 1994, 459-462. Vgl. W. Schräge, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (BThSt 48), Neukirchen-Vluyn 2002. In Doxologien überwiegen bei weitem indikativische Ergänzungen der Kopula. Doch kommen auch optativische und Imperativische Wiedergaben vor. Vgl. Deichgräber, Gotteshmynus (s. Anm. 3), 32.

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4. Gott allein die Ehre - mit diesem Gotteslob beendet der Apostel den langen Gedankengang der Kapitel 9-11. Die Worte des Lobpreises, die Paulus mit Rückgriff auf Aussagen des Alten Testaments formuliert, sind nicht in die knappe Form der Benediktion gefasst, sondern in hymnische Aussagen, die jeweils dreifach gegliedert sind. Dabei folgt der Apostel „dem Stil beschreibenden Lobpreises. Jeder Satz macht Aussagen über Gottes Größe."16 Diese Sätze des Gotteslobes lassen erkennen, daß der Übergang von der kurz gefassten Eulogie zur ausführlicheren hymnischen Doxologie fließend ist.17 Hier wie dort wird das. Lob Gottes angestimmt als „die einzig legitime Form wie der Mensch vor und von Gott reden kann".18 Zuerst wird ein Ruf der Bewunderung laut, in dem mit drei Begriffen - Reichtum, Weisheit und Erkenntnis - Gottes wunderbarer Ratschluss hervorgehoben wird (V. 33). Dann folgen drei rhetorische Fragen, die sich alttestamentlicher Wendungen bedienen und auf die unausgesprochene Antwort zielen: Niemand hat Gott als Ratgeber dienen können (V. 34f.). Wer hat den Sinn des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Antwort: Nirgendwo in der weiten Welt, die Gott geschaffen hat und wunderbar erhält, lässt sich jemand finden, der ihm mit Rat oder Tat hätte behilflich sein müssen oder können. Darum mündet der Hymnus in eine bekennende Aussage, die stoische Wendungen aufgreift und Gott lobt mit den Worten, dass „von ihm und durch ihn und zu ihm alle Dinge seien".19 Diese dreigliedrige Allmachtsformel erweist Gott alle Ehre (δόξα) in alle Ewigkeiten. Mit abschließendem „Amen" machen sich Apostel und Gemeinde die Doxologie zueigen (vgl. Gal 1,5). Angesichts der unerforschlichen Gerichte Gottes und der unaufspürbaren Wege seines Handelns gilt dem allein barmherzigen Gott der voller Vertrauen und Zuversicht ausgerufene Lobpreis, der in die den ganzen Kosmos umgreifende Akklamation mündet (vgl. Phil 2,11). Die Doxologie, die Gottes Ehre rühmt, ist daher in aller Regel nicht in der Form Gott anredenden Gebetes gehalten, sondern in der 3. Person formuliert, um ihn im himmlischen Bekenntnis zu preisen.20 16 17 18 19 20

Vgl. Deichgräber, ebd., 61 mit dem wichtigen Hinweis: „Schon diese Tatsache spricht dafür, dass wir den Wurzelboden des Hymnus im hellenistischen Judentum zu suchen haben." Vgl. Käsemann, Liturgische Formeln (s. Anm. 6), 994. Vgl. Deichgräber, Gotteshymnus (s. Anm. 3), 213. Religionsgeschichtliche Belege in: Neuer Wettstein II (hg. von G. Strecker und U. Schnelle), Berlin/New York 1996, 175f. Die stoischen Wendungen werden Paulus über die hellenistische Synagoge zugekommen sein. Vgl. E. Schlink, Ökumenische Dogmatik, Göttingen 1983, 727.

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5. Die weit ausgreifenden Ausführungen über die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes gelangen mit dem Ende des 8. Kapitels zum Abschluss. Erneut stimmt der Apostel den Lobpreis des einen Gottes an, der in Christus seine Liebe zu uns erwiesen hat.21 Die einleitende rhetorische Frage (V. 31a) führt sogleich zur Angabe des Themas: Wenn Gott für uns ist, wer kann dann wider uns sein? (V. 31b) Dann schließen sich mehrere Fragen an, deren erste die Gewissheit bekräftigten soll, dass Gott uns in Christus alles schenken will (V. 32). Den beiden nächsten Fragen wird jeweils eine kurze Aussage gegenübergestellt (V. 33a:b; V. 34a:b). In Aufnahme bekenntnisartig gefasster Wendungen22 wird auf den rechtfertigenden Gott (V. 33b) und Christus, der für uns eintritt (V. 34b), hingewiesen, um etwa auftauchende kritische Einwände zurückzuweisen. Die letzte Frage (V. 35a) leitet zu einem Katalog von bedrohlichen Erfahrungen (V. 35) über sowie zu einem erläuternden Schriftzitat (V. 36: Ps 44,23). Am Ende wechselt der Apostel zur Rede in der 1. Person Plural, um die feste Gewissheit getroster Zuversicht zu bekräftigen: Nichts, schlechterdings gar nichts kann uns scheiden „von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn". Ist durch das hynmische Gotteslob zum Ende des 8. Kapitels ein deutlicher Abschluss in der Abfolge der paulinischen Gedankenführung markiert, so liegt am Ende des 4. Kapitels ein kleinerer Einschnitt vor. Paulus hat die Glaubensgerechtigkeit Abrahams als Schriftzeugnis für die Botschaft von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes beschrieben und bringt seine Auslegung von Gen 15,6 zu Ende, indem er einen Satz geprägten Bekenntnisses aufgreift: Christus wurde um unserer Übertretungen willen dahingegeben23 und auferweckt um unserer Rechtfertigung willen (Rom 4,25). Mit diesem Rückgriff auf gemeinchristliche Überzeugung wird der Glaube Abrahams zu dem der Christen in Beziehung gesetzt: Hier wie dort geht es um die feste Zuversicht, dass Gott sein Wort wahr macht, indem er aus dem Tod zu neuem Leben erweckt. Damit ist ein gewisser Abschluss der Ausführungen erreicht, die in einem ersten Durchgang von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes handeln, und ein Übergang zum folgenden Abschnitt gewonnen, der darzulegen hat, was es heißt, dass der Gerechte aus Glauben leben wird (Rom 1,17: Rom 5-8).

21 22 23

Literaturhinweise bei Lohse, Rom (s. Anm. 12), 254. Vgl. Deichgräber, Gotteshymnus (s. Anm. 3), 112. Vgl. Rom 8,32: Gott hat ihn dahingegeben - gleichfalls im Zusammenhang der abschließenden hymnischen Doxologie.

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6. Am Ende der eingehenden Ermahnung, die im 14. Kapitel vornehmlich an die „Starken" gerichtet wurde, spricht Paulus in einem Gebetswunsch die Hoffnung aus, alle Christen möchten eines Sinnes sein im gemeinsam gesprochenen Gotteslob (Rom 15,5f.). Gott wird die ihm gebührende Ehre erwiesen (s. δοξάζειν in V. 6), indem er als Vater unseres Herrn Jesus Christus gepriesen wird. Mit diesen Worten nimmt Paulus offensichtlich eine liturgisch geprägte Wendung der frühen Christenheit auf, die sich in ähnlicher Fassung auch sonst findet (vgl. lClem 34,7). Sind alle miteinander bereit, in diesen Lobgesang einzustimmen, dann werden sie fähig sein, bestehende Meinungsunterschiede in der Liebe Christi zu tragen und in Geduld auszuhalten. Sind die ethischen Ermahnungen damit durch Worte liturgischen Klangs zum Ende gebracht, so setzt der Apostel noch einmal neu an, um der Paränese durch die Aufforderung, in die vollklingende Doxologie (s. δοξάζειν V. 9) einzustimmen, eine nachdrückliche Verstärkung zu geben. Dabei geht es in den Versen Rom 15,7-13 nicht mehr um die „Schwachen" und die „Starken", sondern um das Verhältnis von Juden und Heiden, die miteinander einmütig Gott zu preisen haben. Damit wird die Perspektive geweitet, um die den Apostel stets bewegende Frage zu bedenken, wie Heiden- und Judenchristen als Glieder des Leibes Christi zusammenzuleben und einmütig das Gotteslob zu bezeugen haben, zu dem sie in Christus verbunden sind. Gilt die frohe Botschaft des Evangeliums „dem Juden zuerst und auch den Griechen" (Rom 1,16), so spielt der Apostel mit der vorangestellten Aussage, Christus sei ein Diener der Beschneidung gewesen (Rom 15,8), auf die Bestimmung „dem Juden zuerst" an und fügt dann eine Reihe von Schriftzitaten hinzu, in denen jeweils die an die Völkerwelt gerichtete Aufforderung betont wird, Gott einmütig zu loben. Das umfassende Zeugnis von Gesetz, Psalmen und Propheten hebt hervor, dass die Heiden dieses den Kosmos erfüllende Preislied zur Ehre Gottes zu singen haben. Am Ende rundet ein vollklingender Gebetswunsch die apostolischen Ermahnungen ab und lässt dabei etliche Motive der vorangegangenen Abschnitte anklingen. Die zentralen Begriffe „Hoffnung", „Freude", „Friede", „Glauben" und „Kraft des heiligen Geistes", die in den lehrhaften Ausführungen des Römerbriefes des öfteren verwendet wurden, werden noch einmal in gedrängter Fülle miteinander verbunden. Zum Abschluss des Briefes lenkt Paulus noch einmal die Aufmerksamkeit der Leser auf die ihnen zugesprochene Botschaft, indem sich sein Blick der Zukunft zuwendet und die Hoffnung der Glaubenden mit besonderer Betonung versehen wird: Der Gott der Hoffnung möge seine reichen Gaben in vollem Umfang schenken. Der liturgische

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Stil, der synagogales Erbe mit urchristlichem Bekenntnis verbindet, reiht die Begriffe in eng zusammengedrängter Häufung aneinander und zeigt zugleich an, dass die künftige Herrlichkeit im Glauben bereits gegenwärtig anhebt. Wie den „Schwachen" und den „Starken" die an den Gott der Geduld und des Trostes gerichtete Fürbitte gilt, so bittet der Apostel nun den Gott der Hoffnung, dass er alle miteinander - die zur Beschneidung gehörenden Glieder des Gottesvolkes mitsamt der großen Schar derer, die aus den Heidenvölkern kommen - „mit aller Freude und allem Frieden erfüllen möge, auf dass sie reich würden in der Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes". 7. Mit der nachdrücklichen Aufforderung, miteinander Gott die Ehre zu geben, hat Paulus die lange Reihe seiner Ausführungen zu einem Abschluss hymnischen Klanges gebracht. Theologie der Rechtfertigung wird mithin dann als stimmig begriffen, wenn Leser und Hörer mit dem Apostel in die alle verbindende Doxologie einstimmen. Durch die doxologische Struktur seiner apostolischen Lehre macht Paulus deutlich, dass alle Rede von Gott darauf gerichtet sein soll, „zur Doxologie hinzuführen und ... ihr zu dienen".24 Wer immer als Leser und Hörer das Lob Gottes bezeugt, weiß, „dass er Gott nichts gibt, was Gott nicht von Ewigkeit her hätte und wäre".25 In den Lobsprüchen und Doxologien, denen der Apostel im Römerbrief so starkes Gewicht verleiht, greift er in großem Umfang auf Worte der Schrift, geprägte Wendungen und Aussagen des gemeinchristlichen Bekenntnisses zurück, um mit allen Christen in einhelligem Jubel Gott, den Vater des Herrn Jesus Christus, zu ehren. Nachdem Paulus den Christen in Rom dargelegt und entfaltet hat, wie er die Botschaft des Evangeliums in seiner Verkündigung versteht und auslegt, fügt er noch eine lange Kette von persönlichen Mitteilungen und Grüßen an, um dadurch vertrauensvolle Beziehungen zu den Christen in Rom zu begründen (Rom 15,14-16,20). Bei ihnen wirbt Paulus um Vertrauen und sucht die Bereitschaft zu wecken, sein künftiges missionarisches Wirken zu begleiten und zu unterstützen. Den umfangreichen Anhang, den er an die Darlegung theologischer Lehre anfügt, schließt Paulus in 16,20b mit dem Wunsch ab: „Die Gnade unseres Herrn Jesus sei mit euch." Nur ein kurzes Postscriptum folgt dann noch in den Versen Rom 16,21-23. Eine ausführliche Doxologie hatte der Apostel bereits am Ende seiner lehrhaften Ausführungen ausgesprochen. Gleichwohl muss es verständlich erscheinen, dass schon bald nach Abfassung und Absendung des Römerbriefs der 24 25

Vgl. Schlink, Ökumenische Dogmatik (s. Anm. 20), 65. Ebd., S. 65.

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Wunsch laut wurde, dem gesamten Schreiben ein vollklingendes Schlusswort zu geben. Dadurch wollte man die doxologische Struktur des Römerbriefs verstärken und zu einem abschließenden Crescendo führen. Die feierliche Doxologie (s. δόξα V. 27), die in 16,25-27 den Römerbrief beendet, ist seit alters - von Origenes an - handschriftlich recht gut bezeugt. Sie besteht aus einem einzigen Satz, der dem Römerbrief einen seiner gewichtigen Bedeutung entsprechenden Ausklang verleihen soll. Nach Sprache und Stil stehen diese Verse den Deuteropaulinen nahe, vor allem dem Epheser- und Kolosserbrief. Nach Form und Inhalt sowie der auseinandergehenden handschriftlichen Bezeugung sind sie als ein sekundär abgefasster, aus deuteropaulinischer Tradition hervorgegangener Text zu beurteilen.26 Der Lobpreis setzt ein mit einer im Dativ stehenden Partizipialwendung, an die ein Infinitiv anschließt, dem wiederum zwei parallele Bestimmungen zugeordnet sind. Sie enthalten das leitende Stichwort „Geheimnis", dessen verborgene Wahrheit nun kundgetan und in der Proklamation des Evangeliums verkündigt wird.27 In V. 27 nimmt die inhaltlich schwer befrachtete Doxologie die am Anfang stehende Dativwendung wieder auf und weist alle Ehre allein Gott zu. „Die Doxologie bleibt nicht bei dem Lobpreis der göttlichen Taten stehen, sondern rühmt den ewigen Herrn, der sie vollbracht hat." 28 Die allein Gott zukommende Herrlichkeit wird am Ende in einem kurzen Relativsatz ausgerufen und mit einem abschließenden „Amen" beantwortet.29 Damit erhält die gedankliche Kette der Doxologien, die im Römerbrief aneinandergereiht werden, einen kraftvollen Abschluss. Die apostolische Unterweisung lädt Hörer und Leser des Briefes in Rom, darüber hinaus aber in der ganzen Christenheit, ein, den vollklingenden Lobpreis des einen Gottes, der uns in Christus seine Liebe zugewandt hat, aufzunehmen und ihm allein die Ehre zu geben.30

26 27

28 29 30

Einzelnachweis bei Lohse, Rom (s. Anm. 12), 416-420. Zum sog. Revelationsschema vgl. Ν. A. Dahl, Formgeschichtliche Beobachtungen zur Christusverkündigung in der Gemeindepredigt, in: Neutestamentliche Studien für Rudolf Bultmann (BZNW 21), Berlin 1954 *1957, 3-9, hier 4f. Vgl. Schlink, Ökumenische Dogmatik (s. Anm. 20), 726. Vgl. oben zu Rom 1,25. Den hohen Rang, der in aller Theologie der Doxologie zukommt, unterstreicht Schlink, Ökumenische Dogmatik (s. Anm. 20), 65: „Ist das doxologische Moment im Bekenntnis eine der wichtigsten Wurzeln des Dogmas, so ist das in besonderer Weise bei den dogmatischen Reden von Gott selbst zu beachten. Es kommt von der Doxologie her: Ohne Wiedergewinnung der Grundform der Doxologie ist keine gemeinsame Gotteslehre in der Christenheit möglich."

3.

Gottes Gnadenwahl und das Geschick Israels In der älteren Exegese ist den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs weit weniger Aufmerksamkeit zugewandt worden als den grundlegenden Ausführungen der Kapitel 1-8. Vielfach wurde die in ihnen entfaltete Gedankenführung vornehmlich unter der Frage nach göttlicher Prädestination und menschlicher Verantwortung gelesen und ausgelegt. So ist auch im großen Kommentar von O. Kuss der letzte ausführliche Exkurs, den er seiner fortlaufenden Erklärung beigegeben hat, zu einer kleinen Monographie angewachsen, die der Problematik der Prädestination gilt.1 Dabei wird eine umfassende Materialsammlung vorgelegt, die nicht nur dem Exegeten, sondern gewiß auch dem systematischen Theologen hochwillkommen sein wird, bringt sie doch eine Fülle wörtlicher Zitate aus der Theologiegeschichte bis hinein in die jüngste Vergangenheit. Der Frage nach dem Geschick Israels wird jedoch keine sonderliche Beachtung gewidmet. Andere Kommentatoren haben zu erwägen gegeben, ob nicht die Kapitel 9-11 in der sie leitenden Thematik von den vorangegangenen Darlegungen so weit unterschieden seien, dass sie möglicherweise nicht zum ursprünglichen Bestand des Briefes gehört haben könnten, den der Apostel an die Christen in Rom gerichtet hat. Sie könnten vielmehr - so gibt der englische Gelehrte C. H. Dodd zu bedenken 2 eine Art Traktat darstellen, der unabhängig vom übrigen Römerbrief vom Apostel verfasst worden sei. Die umfangreichen Bezugnahmen auf alttestamentliche Schriftworte könnten dafür sprechen, einen eigenständigen Ursprung zur Niederschrift dieser drei Kapitel anzunehmen, so dass sie erst sekundär Bestandteil des ganzen Römerbriefs geworden sein könnten. Erst in neuerer Zeit ist der Gedankengang dieser drei Kapitel mit der gebotenen Sorgfalt studiert worden, die nicht nur der Argumentation des Apostels mit gespannter Aufmerksamkeit folgt, sondern sie 1 2

Vgl. zusammenfassend in diesem Sinne O. Kuss, Der Römerbrief III, Regensburg 1978, 828-955. Vgl. C. H. Dodd, The Epistle of Paul to the Romans (MNTC), London 1932 41965, 162.

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auch als integralen Bestandteil des Römerbriefs erweisen konnte. Möglicherweise bedurfte es des tiefen Erschreckens, mit dem die Christenheit auf die unsagbaren Verbrechen zu blicken hat, die im Holocaust an Millionen jüdischer Menschen begangen wurden, um die Augen dafür zu öffnen, dass Paulus die Thematik der göttlichen Gnadenwahl fest mit der besorgten Frage nach dem Geschick Israels verknüpft hat. Diese drei Kapitel verdienen daher nicht geringere Würdigung als die ihnen vorangegangenen Abschnitte. Mit der Betrachtung ihres Gedankengangs ist die theologische Besinnung auf die aktuelle Bedeutung unausweichlich verbunden. Daher ist mit einer Skizze der paulinischen Ausführungen eine knappe Charakterisierung ihrer auf die Gegenwart bezogenen Wirkung zu verknüpfen.

I. Die Frage nach dem Geschick Israels hat den Apostel Paulus auf seinen Wegen ständig begleitet und ihm keine Ruhe gelassen. Das Evangelium spricht alle Welt an - die Juden zuerst und auch die Griechen - und nötigt darum seine Hörer, Israel nicht aus dem Blick zu verlieren. Gründet sich doch die frohe Botschaft auf die in den heiligen Schriften verbürgten Verheißungen und kommt Christus seiner leiblichen Herkunft nach aus Israel. Als Apostel Christi Jesu weiß sich Paulus seinen „Brüdern nach dem Fleisch" verbunden. Er bescheinigt ihnen ausdrücklich, dass sie Eifer für Gott haben - leider jedoch ohne rechte Einsicht, da sie ihre eigene Gerechtigkeit unter dem Gesetz zu gewinnen suchen (Rom 10,2f.). In seiner Liebe zu seinem Volk musste es den Apostel tief schmerzen, dass das Evangelium so wenig Glauben unter den Israeliten fand, wo man doch angesichts der göttlichen Gnadenerweise das Gegenteil hätte erwarten sollen (Rom 9,l-5). 3 Denn ihnen gehören „die Kindschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschlüsse, das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen. Ihnen gehören die Väter, und nach dem Fleisch ist Christus aus ihnen gekommen" (V. 4f.). Doch das alles vermag den Schaden nicht aufzuwiegen, wenn sie sich im Unglauben verschließen. Paulus aber wäre bereit, von Christus getrennt zu sein um der Brüder willen - d.h. sein eigenes Heil hinzugeben - , wenn dadurch ihnen der Weg zu Christus aufgetan werden könnte (V. 3).

3

In den Kapiteln Rom 9 - 1 1 spricht Paulus durchweg von Israel als dem erwählten Volk. Nur 9,24 und 10,12 behält er die geläufige Gegenüberstellung von „Juden und Griechen" bzw. von „Juden und den Völkern" bei.

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Vom bedrängenden Problem, wie es um Israel als Volk der Erwählung Gottes bestellt ist, kann der Apostel daher nur in tiefer eigener Betroffenheit sprechen, weiß er sich doch selbst als Israelit, vom Geschlecht Abrahams und aus dem Stamm Benjamin (Rom 11,1). In der Komposition des Römerbriefs wird die Frage nach dem Geschick Israels zunächst im dritten Kapitel kurz aufgeworfen, um das Thema zu intonieren, das später ausführlich bedacht werden soll. „Was für einen Vorzug" - so fragt der Apostel - „haben denn die Juden, oder was nützt die Beschneidung?" (Rom 3,1) Es mag die Leser ein wenig überrascht haben, dass auf diese Frage die knappe Antwort gegeben wird: „Viel in jeder Hinsicht" (V. 2). Die Geschichte Israels kann der Christenheit unter keinen Umständen gleichgültig sein. Denn - so fährt Paulus fort - ihnen sind die Worte Gottes anvertraut. Wenn jedoch „einige" - so wird in vornehmer Zurückhaltung formuliert - nicht treu waren und sich im Unglauben gegen Gottes Anrede verschlossen haben, was kann daran schon liegen? „Sollte ihre Untreue Gottes Treue aufheben?" (V. 3). Diese Frage lässt sich nur entschieden verneinen: „Das sei ferne!" (V. 4). Was Gott zugesagt hat, bleibt gültig, mögen Menschen auch ungehorsam sein und sein Wort überhören. Gilt diese Uberzeugung schlechthin, so muß sie sich um so mehr im Blick auf Israel bewähren. Wie diese Gewissheit jedoch zu begründen ist, wird dann nach der kurzen Ankündigung im dritten Kapitel des Römerbriefes in den Kapiteln 9-11 des näheren ausgeführt. Diese drei Kapitel bilden einen geschlossenen Zusammenhang, indem in mehreren Ansätzen darüber nachgedacht wird, warum die Juden zu großen Teilen das Evangelium abgewiesen haben und wie im Licht des Evangeliums der Weg Israels zu begreifen ist. Die Überlegungen, die der Apostel entfaltet, sind so konzentriert und intensiv auf Worte der Schrift bezogen, die in ihrer aktuellen Bedeutung ausgelegt werden, dass sie sicherlich nicht erst in dem Augenblick, als der Römerbrief diktiert und niedergeschrieben wurde, erwogen und formuliert worden sind.4 Vielmehr wendet sich der Apostel hier einem Thema zu, das er immer wieder in seiner apostolischen Wirksamkeit zu überlegen, mit seinen Mitarbeitern zu erörtern und für sich selbst einer Klärung zuzuführen hatte. Die vorangeschickte, persönlich gehaltene Einleitung (9,1-5) und der am Ende wie ein Jubelruf erklingende Lobpreis Gottes (11,33- 36) rahmen den langen Gedankengang ein, der 4

Zum Schriftgebrauch des Apostels in den Kapiteln Rom 9-11 vgl. bes. H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Rom 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984, und D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986.

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schließlich zu einer von fester Zuversicht getragenen Antwort geführt wird. Wie mit einem hellen Trompetenstoß stellt Paulus an den Anfang des Satzes, es sei unmöglich, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei (9,6). Was er gesprochen hat, nimmt er nicht zurück; und was er zugesagt hat, das hält er. Anders freilich steht es auf seifen der Menschen, auch beim Gottesvolk. So wenig sich irgend jemand dessen rühmen kann und darf, Israelii zu sein, so wissen auch die Glaubenden, dass ihr Glaube niemals ihr Verdienst ausmacht, sondern immer nur als Gottes gnädiges Geschenk begriffen werden kann. Damit wird jedoch die Verantwortung des Menschen nicht aufgehoben; denn Gottes Erwählung ist von einem zwingenden Determinismus, der blind walten würde, deutlich zu unterscheiden. Diese - wie es den Anschein hat - widersprüchlichen Gedanken sucht der Apostel zu ordnen, indem er verschiedene Beispiele aus der Schrift heranzieht und sich mit dem Buch Exodus darauf beruft, es bleibe Gottes Weise: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich" (V. 15; Ex 33,19). Mag der Mensch hiergegen Einspruch erheben wollen, so wird ein Kritiker, der Gott Vorhaltungen machen wollte, an die ihm gesetzten Grenzen erinnert. Es ist der Reichtum göttlichen Erbarmens, dass er sich sein Volk berufen hat - „nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden" (V. 24). Dieser Erweis göttlicher Barmherzigkeit aber ist wiederum nur auf Grund des der Schrift zu entnehmenden Zeugnisses zu begreifen, indem es im Wort des Propheten heißt: „Ich will mein Volk nennen, das nicht mein Volk heißt" - und umgekehrt über Israel ausgerufen ist: „Wenn die Zahl der Israeliten wäre wie der Sand am Meer, so wird doch nur ein Rest gerettet werden" (V. 25-27: Hos 2,25; Jes 10,22). Für Paulus steht fest, dass nicht Geburt und Herkunft die Zugehörigkeit zum erwählten Gottesvolk begründen, sondern dass allein diejenigen als wahre Israeliten gelten, die Gottes Wort gehört und sich ihm im Glauben geöffnet haben. Mit dieser Unterscheidung wird der Begriff Israel aufgespalten: „Nicht alle, die aus Israel stammen, sind wahrhaft Israel" (9,6b). Damit wird die Unterscheidung zwischen leiblicher Herkunft auf der einen und wahrer Zugehörigkeit auf der anderen Seite vorgenommen (vgl. auch 2,28f.). In vergleichbarer Weise war die Frage, wer wirklich zu Recht den Ehrennamen Israel tragen darf, bereits in frommen Gemeinschaften der damaligen Zeit gestellt und einschränkend beantwortet worden. So zählt die Gemeinde von Qumran diejenigen, „die abgewichen sind vom Wege" (4Q flor. 1,14-19), nicht zu den Söhnen des Lichts, sondern betrachtet sie als Söhne der

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Finsternis, die ihre Zugehörigkeit zum wahren Volk Gottes verwirkt haben (vgl. CD IV,2-12). Der Apostel urteilt somit: Zum rechten Gottesvolk sind nur diejenigen zu zählen, die Gottes erwählendes und verheißendes Wort angenommen haben. Gottes Treue besteht jedoch unwandelbar fort. Denn „die Erwählung bleibt, auch wenn der Bund nicht durchgehalten wird".5 Wird doch auch da, wo Feindschaft gegen Christus vorliegt, Israel weiterhin das geliebte Volk genannt (11,28).6 Allein durch Gottes Ruf und dessen vertrauensvolle Annahme wird wahre Abrahamskindschaft begründet (9,8-13). Doch obwohl Sarahs Söhne dieselben Eltern hatten, kehrte Gottes Entscheid die natürliche Ordnung um, so dass nicht Esau, der Erstgeborene, sondern Jakob, der jüngere Bruder dazu berufen wurde, der Erbe zu sein. Zum Schriftbezug auf die Thora fügt Paulus dann ein Zitat aus den Propheten hinzu, das in unüberbietbarer Schärfe sagt: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehaßt" (Mal 1,2).

II. In den Kapiteln 10-11 des Römerbriefes rückt Paulus die Frage nach dem Geschick Israels jeweils unter eine neue Perspektive: In Kap. 10 wird auf Israels Ungehorsam und seine dadurch bedingte Schuld hingewiesen. Faßt man diese ins Auge, so kann unmöglich Gottes Gericht als ungerecht bezeichnet werden. Gott aber hat Israels Weigerung, das Evangelium anzunehmen, benutzt, um einen Umweg zu beschreiten, der dazu dienen soll, Heiden und Juden das Heil zuzuwenden. Zielte die geläufige eschatologische Erwartung darauf, dass am Ende der Zeit Israel auf dem Zion sein werde und die Völker aus allen Teilen der Erde herzukommen, so stellt Paulus fest, dass entgegen herrschender Erwartung zuerst viele Heiden gewonnen werden, so dass Israel erst nach ihnen das Heil empfangen kann. Im 11. Kapitel werden dann die Themen wieder aufgenommen, die im 9. Kapitel angeschlagen worden waren. Nun werden beide Gedankengänge zum Abschluß gebracht, indem im ersten wie im letzten Abschnitt des Kapitels die Schrift auf das gründlichste befragt wird. Darum kann der Apostel gewiß bleiben, dass die Zukunft Israels zum noch 5 6

Vgl. E. Dinkier, Prädestination bei Paulus, in: ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 241-269, hier 267. Vgl. hierzu A. Lindemann, Israel im Neuen Testament, WuD 25 (1999) 167-192, bes. 174-188.

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ausstehenden Ende hin offen ist und Gott aufgrund der Zusagen, die er seinem Volk gegeben hat, seine Verheißung verwirklichen wird. Mitnichten darf aus der harten Gegenüberstellung von Jakob und Esau, Lieben und Hassen (9,13) geschlossen werden, dass ein endgültiges Gerichtsurteil ergangen sei, in dem sich eine vorzeitliche doppelte Prädestination erfülle. Denn wie in Rom 11 ausgeführt wird, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Gott durch die Proklamation des Evangeliums Juden und Griechen den Weg zum Heil eröffnen will. Dafür bürgt der heilige Rest, der in Gestalt der gläubig gewordenen Israeliten Gottes rettende Berufung angenommen hat (11,7f.). Gott kann daher sein Volk nicht endgültig verworfen haben, bezeugt doch Paulus durch seine eigene Person, dass er von Gott nicht verstoßen, sondern im Gegenteil als gläubiger Israelit zum Apostel der Völker berufen wurde (11,lf·)· Sind wider Erwarten Heiden gläubig geworden, so soll - nach dem Urteil des Apostels - Israel dadurch eifersüchtig gemacht werden, damit es gerettet werde. An die Heidenchristen aber richtet Paulus eine ausdrückliche Ermahnung, nicht hochmütig zu werden oder sich über die (noch) ungläubigen Juden zu erheben. Denn Gott hält an seinem Wort fest und „lässt der Welt sein Heil über Israel zukommen, das Erwählung und Gericht zuerst erfährt und in beidem der Treue Gottes gewiß sein kann".7 Was der Apostel über Gottes Gnadenwahl ausgeführt hat, ist von Anfang bis Ende von seiner Auslegung des Evangeliums durch die Rechtfertigungslehre bestimmt. Darum gebührt allemal der göttlichen Barmherzigkeit der Vorrang vor Verstockung und Verurteilung. Paulus kann daher am Ende die zuversichtliche Erwartung aussprechen, ganz Israel werde gerettet werden (11,26). Gottes Gnadengaben und seine Berufung werden nicht widerrufen (11,29). Das letzte Wort wird daher nicht etwa einer vorherbestimmten Verurteilung zukommen, sondern dem unergründlichen Erbarmen Gottes. Hat doch Gott alle, Heiden und Juden, unter den Ungehorsam beschlossen, um sich aller zu erbarmen (11,32). Gott hätte alles Recht, seine Freiheit zum Schaden ausschlagen zu lassen, könnte sich doch reichlich Anlaß bieten, über das Treiben der Menschen ein richterliches Urteil zu fällen. Doch „von endgültig gefallenen Entscheidungen Gottes über das Schicksal der Menschheit ist ... in diesen Kapiteln des Römerbriefs nicht die Rede, wohl aber davon,

7

Vgl. W. Schmithals, Der Römerbrief, Gütersloh 1988, 401.

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dass Gott solche Entscheidungen fällen kann und daß der Mensch als Gottes Geschöpf ihm das Recht dazu nicht bestreiten darf".8 In der zuversichtlichen Aussage „Ganz Israel soll gerettet werden" (11,26) weist der passive Ausdruck auf Gottes Handeln hin, das auf Rettung zielt, wie sie durch das Evangelium eröffnet worden ist. Ganz Israel soll Anteil bekommen an der zukünftigen Welt - so lehren die jüdischen Schriftgelehrten (Mischna Sanh. 10,1). Dabei ist an die Gesamtheit Israels gedacht, von der nur wenige Fälle ausgenommen werden: Leute, die sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht oder Sünden begangen haben, die nicht vergeben werden können. Ähnlich wie in diesem Satz jüdischer Lehre ist auch bei Paulus der Ausdruck „Ganz Israel" verstanden. Von Gottes erlösendem Handeln wird das ganze Volk mit seinen vielen Gliedern betroffen sein. Bietet das Eingehen der Heiden in ihrer vollen Zahl (11,25) gleichsam das auslösende Geschehen dafür, dass nun auch Israel der Zugang zur Rettung eröffnet werden soll, so bleibt der Apostel doch äußerst sparsam mit seinen Aussagen. Weder zeichnet er einen Plan, nach dem die endzeitlichen Ereignisse im einzelnen ablaufen werden, noch sagt er des näheren, wie diese Rettung Israels vor sich gehen soll. Einzig das Wort der Schrift bleibt für ihn maßgebend und wird in einem Zitat geltend gemacht, das aus zwei verschiedenen Versen des Jesajabuches zusammengefügt ist: „Der Retter wird von Zion kommen, abwenden wird er alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde" (V. 26f.: Jes 59,20; 27,9). Für Paulus ist von entscheidender Bedeutung, dass Christus der endzeitliche Retter ist und das von ihm geschenkte Heil in der Vergebung der Sünden besteht, die Israel gewährt werden soll. Was aber bedeutet diese Aussage im Blick auf das Ziel, zu dem die Geschichte Israels finden soll? Noch einmal hebt der Apostel am Ende hervor, wie auf eigenartige Weise das Geschick Israels und das der Völker miteinander verflochten sind. Sind die Israeliten im Blick auf das Evangelium geradezu als Feinde zu bezeichnen, so geschieht das doch um der Völker willen, zu denen nach der Abweisung durch Israel das Evangelium gelangt ist. Hinsichtlich der Erwählung aber bleibt gültig, daß die Israeliten um der Väter willen Geliebte sind (V. 28). Gott hat sein Wort, das er zu den Vätern gesprochen hat, nicht zurückgenommen: „seine Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen" (V. 29)9. Das letzte Wort, mit dem 8 9

Vgl. W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 1969, 207. Das Alte Testament kennt freilich auch den Gedanken, dass Gott im Entscheid gereuen kann. Vgl. J. Jeremias, Von der Reue Gottes (BThSt 31), Neukirchen-Vluyn

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Paulus seine Ausführungen über Gottes Gnadenwahl und das Geschick Israels beendet, spricht daher vom Erbarmen Gottes.

III. Erst mit einiger Verzögerung wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekannt, was hinter dem Deckmantel bemühter Verheimlichung Millionen Juden angetan worden war. Tiefes Erschrecken löste zuerst weithin verstummende Sprachlosigkeit aus, die sich nur allmählich zu lösen begann. So konnte in einer Stellungnahme von der ersten Weltkirchenkonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen, die 1948 in Amsterdam stattfand, die besondere Bedeutung herausgestellt werden, die dem jüdischen Volk für den christlichen Glauben zukommt: „Im Heilsplan Gottes hat Israel eine einzigartige Stellung. Es war Israel, mit dem Gott durch die Berufung Abrahams Seinen Bund Schloß ... Für viele ist das Weiterbestehen eines jüdischen Volkes, das Jesus Christus nicht anerkennt, ein Geheimnis, das seine einzig zureichende Erklärung in dem Vorsatz der unveränderlichen Treue und Barmherzigkeit Gottes findet (Römer 11,25-29)."10 Einige Zeit später erklärte die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 1950 in Berlin-Weißensee: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist."11 In der einen wie der anderen Erklärung wird unverkennbar auf die Ausführungen des Apostels Paulus in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes Bezug genommen. Vornehmlich dem unermüdlichen und umsichtigen Einsatz des Kardinals Augustin Bea ist zu verdanken, dass das Zweite Vatikanische Konzil sich eingehend mit dem Problem auseinandergesetzt hat, wie die christliche Kirche sich Israel gegenüber zu verhalten hat. Das in knappen Sätzen zusammengefasste Ergebnis dieser Beratungen ist in der Erklärung „Nostra Aetate" vorgelegt worden, die am 28. Okt. 1965 beschlossen und am gleichen Tag feierlich verkündet wurde. Auch hier haben die Ausführungen des Apostels die Feder geführt, wenn es heißt: „Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, dass ,ihnen die An-

10 11

1975,32002. Doch hiervon ist nicht berührt, dass man sich auf das von Gott gegebene Wort allezeit verlassen kann. Zitiert nach: Christen und Juden - eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1975,40. Vgl. Christen und Juden II - zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum; Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991,18.

Gottes G n a d e n w a h l u n d d a s Geschick Israels

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nähme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt' (Rom 9,4-5), der Sohn der Jungfrau Maria. Auch hält sie sich gegenwärtig, dass aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten jener ersten Jünger, die das Evangelium Christi der Welt verkündet haben."12 Aus dieser Erkenntnis wird dann gefolgert: „Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist."13 In dieses Bemühen ist eingeschlossen die bleibende Verpflichtung, die der Kirche aufgegeben ist: „Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben ... So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden."14 Mit wachsender Intensität wurde in den evangelischen Kirchen Landeskirche für Landeskirche - bedacht, wie das Verhältnis zwischen Kirche und Israel neu zu begreifen sei. Dabei gab stets eine aufmerksame Auslegung der Kapitel Rom 9-11 leitende Orientierung, um im Gehorsam gegen das Evangelium nicht nur auf vergangene, von großer Schuld beladene Geschichte zurückzublicken, sondern auch Wegweisung für die Zukunft zu finden. Auf Bitten mehrerer Landeskirchen übernahm die Evangelische Kirche in Deutschland die Aufgabe, die Erträge dieser Studien und Erklärungen zusammenzufassen und darzulegen, wie sich das Verhältnis zum Judentum neu zu orientieren habe. In einer Studie „Christen und Juden", die der Rat der EKD 1975 vorlegte, wird zunächst auf die gemeinsamen Wurzeln hingewiesen, die Juden und Christen verbinden, sodann das Auseinandergehen ihrer Wege beschrieben und schließlich ausgeführt, wie Juden und Christen heute einander begegnen sollten. Hinsichtlich der gemeinsamen Wurzeln wird ausgeführt: „Die christliche Gemeinde hat ihre Wurzeln im 12 13 14

Zitiert nach der autorisierten Übersetzung von K. Rahner/H. Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium (Herder-Bücherei 270-273), Freiburg 1966, 358. Ebd., 358. Ebd., 359.

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Judentum. Jesus lebte und lehrte innerhalb des jüdischen Volkes. Er selbst wie auch seine Jünger und die Apostel waren Juden; sie hatten teil am Glauben und an der Geschichte ihres Volkes. Innerhalb ihrer jüdischen Umwelt verkündigten sie das Neue ihrer Botschaft: dass in der Person Jesu der erwartete Messias gekommen und mit seiner Auferstehung die Endzeit angebrochen sei." 15 Die Besinnung auf die gemeinsamen Wurzeln führt zu der Feststellung, dass Juden und Christen sich zu dem einen Gott, dem Schöpfer und Erlöser bekennen und dass sie beide ihren Glauben auf die gemeinsame „Schrift" (das „Alte Testament") gründen, auf die auch das „Neue Testament" der Christen bezogen ist.16 „Juden und Christen sprechen ihren Glauben im Gottesdienst aus, in dem sich vielfältige Gemeinsamkeiten finden." Und: „Juden und Christen sind in ihrem Glauben und Handeln bestimmt durch die Wechselbeziehungen zwischen Gerechtigkeit und Liebe." Daher gilt: „Juden und Christen leben auch nach der Trennung aus der gemeinsamen Geschichte Gottes mit seinem Volk, deren Vollendung sie erwarten." 17 Wird das Verhältnis bedacht, in dem Christen heute Juden begegnen, so wird zuerst das tiefe Erschrecken über das Geschehene hervorgehoben, mit dem viele Christen begannen „neu über die Grundlagen ihres Glaubens nachzudenken". Dabei entdeckten sie „auch wieder dessen Verwurzelung in der alttestamentlich-jüdischen Tradition". 18 Diese Besinnung aber macht auch bewusst, in welcher Weise heute Christen und Juden vor ihnen gemeinsam gestellten Aufgaben stehen: Sie „sind in der gegenwärtigen Weltsituation herausgefordert, ihre Verantwortung zur Gestaltung der Welt wahrzunehmen, die ihnen aus ihrem gemeinsamen Glauben an den einen Gott erwächst".19 Zugleich aber ist zu beachten: „Bei der Begegnung von Juden und Christen geht es darum, die Unterschiede im Bekenntnis zu dem einen Gott für das wechselseitige Zeugnis fruchtbar zu machen ... Das Bezeugen des eigenen Glaubens ist für beide unaufgebbar: Gottes Auftrag macht aus dem Glaubenden den Zeugen, der seine Identität als Christ oder Jude in Wort und Tat zu verwirklichen hat." 20 Diesen Ausführungen der Studie „Christen und Juden" ist deutlich anzumerken, dass sie mit großer Behutsamkeit bedacht und formuliert worden sind. In einer zweiten Studie, die die Evangelische Kirche in Deutschland 1991 vorlegen konnte, sind die Linien deutlicher ausgezo15 16 17 18 19 20

„Juden und Christen" (s.Anm. 10), 9. Ebd., 9.11. Ebd., 15f. Ebd, 25. Ebd., 31. Ebd., 33.

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gen und ist die bindende Verpflichtung, unter der Christen in ihrer Begegnung mit Juden stehen, stärker betont worden.21 Dabei ist erneut - nun aber mit besonderer Betonung - auf die Ausführungen Bezug genommen, die der Apostel Paulus im Römerbrief gemacht hat. Zwei Stellen werden besonders herausgehoben, weil sie den spezifischen Zusammenhang zwischen Christen und Israel formulieren: „... am Anfang seines groß angelegten Traktats über Israel in Rom 9-11 und in der Zusammenfassung seiner konkreten Ermahnungen an die heidenund judenchristlichen Gruppen der römischen Gemeinde in Rom 15."22 Im Blick auf diese beiden zentralen Aussagen des Apostels wird dann des näheren ausgeführt: „In Rom 9,4f. benennt Paulus in der Aufzählung der heilsgeschichtlichen Auszeichnungen der Israeliten an letzter und entscheidender Stelle die Tatsache: ,aus ihnen stammt der Christus/Messias'. Man hat das oft - nicht zuletzt durch das angehängte ,dem Fleisch nach' veranlaßt - so verstanden, als ob Paulus damit bloß die ,natürliche' Herkunft Jesu beschreiben wolle. Daß er aber eine darüber hinausgehende, heilsgeschichtlich qualifizierte Beziehung zwischen dem Christus und Israel feststellen wollte, zeigt sich in Rom 15. Dort fasst er seine Ermahnungen an die römische Gemeinde zusammen, bündelt zugleich die Thematik seines Briefes insgesamt: das Evangelium von Jesus dem Christus als Erweis der Gerechtigkeit Gottes für Juden und Heiden, für Juden zuerst, dann für Heiden. Demnach ist für Paulus die Beziehung zwischen Christus und Israel nicht auf die leibliche Herkunft aus Israel beschränkt, sondern sie ist spezifisch heilsgeschichtlich ausgerichtet. "23 Zusammenfassend heißt es dann: „Was Paulus hier entwirft, ist das Modell einer engen Verkoppelung zwischen Christus/Messias, Volk Gottes und Völkern. Grundlegend für dieses Modell ist, dass in dem Dienst des Christus/Messias an Israel die Treue Gottes zu seinem Bundesvolk sich erfüllt und die Gnade Gottes gegenüber den Völkern sich eröffnet. Der den Vätern für das Volk Gottes verheißene Christus/Messias schließt die Völker in das Heil Gottes ein, um sie so zusammen mit dem Volk Gottes zum universalen Gotteslob zu führen." 24 Im Blick auf die Orientierung, die theologische Besinnung aus den Ausführungen des Apostels Paulus gewinnt, heißt es dann: „Die Kapitel Rom 9-11 leisten für das Verstehen des schwierigen Verhältnisses von Christen und Juden deshalb so viel, weil sie beides enthalten: die enge Verklammerung und die Unterscheidung. Klar ist, dass Paulus 21 22 23 24

„Christen und Juden II" (s. Anm. 11). Ebd., 34. Ebd., 34. Ebd., 35.

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auch wenn er die Christen als Erben der Verheißung Abrahams bezeichnen kann (Gal 3,29; 4,7), eine ,Enterbung' der Juden ausschließt (Rom 11,lf.). Dies würde nicht nur ein fragwürdiges Gottesverständnis voraussetzen - wie kann Gott sich selber untreu sein? - , sondern auch die Bedeutung der Herkunft Jesu aus dem Judentum leugnen. Deutlich ist, dass für Paulus das Entscheidende das neue Verständnis des Gottesverhältnisses in Christus ist. Darum werden die Heidenchristen nicht einfach in das Judentum und seine Verheißungen mit hineingenommen. Zum christlichen Glauben gehört konstitutiv die Überzeugung, dass mit dem Auftreten, dem Kreuz und der Auferstehung Jesu die Endzeit in einer so nicht erwarteten Weise gegenwärtig geworden ist. Deshalb ist es nicht das vorhandene, sondern das endzeitlich erneuerte Gottesvolk, in das die Heiden Aufnahme finden.25 „Für Paulus ist es die ,Gerechtigkeit Gottes', seine unverbrüchliche Treue, die Gottes Geschichtshandeln auch gegen alles menschliche Versagen und alle Untreue bestimmt. Wenn Gott selber Israel als seinem Volk die Treue hält, so haben Christen nicht das Recht, das in Frage zu stellen."26 Werden Juden und Christen durch gemeinsame Besinnung auf die sie verbindenden Wurzeln und durch von beiden angestellte Überlegungen zu den in die Zukunft weisenden Aufgaben sich zunehmend dessen bewusst, wie viel sie verbindet, so bleibt es doch ein Gebot der Wahrhaftigkeit: „Dass Juden und Christen unterschiedlich zu Jesus stehen, müssen wir aushalten. Gott selbst wird am Ende der Zeiten die Antwort geben auf die offene Frage, wie sich das Israel verheißene Heil und das Heil in Christus nach dem Glauben der Kirche zueinander verhalten (vgl. Rom 11,25 ff.)." 27

IV. Sind die verschiedenen kirchlichen Erklärungen in erster Linie an Christen gerichtet, um sie zu Besinnung über ihr Verhältnis zu Israel zu führen, so sind doch auch innerhalb des Judentums diese Bemühungen aufmerksam beachtet und mit einer gewichtigen Antwort bedacht worden, die im September 2000 rund 170 Rabbiner und jüdische Gelehrte aus den USA, aus Kanada, Großbritanien und Israel unter der Überschrift „Dabru Emet = Redet Wahrheit" vorgelegt haben.28 Darin 25 26 27 28

Ebd., 49. Ebd., 54. Ebd., 59. Zitiert nach der deutschen Ubersetzung in: „Freiburger Rundbrief", Neue Folge 8, Freiburg 2001,114-117.

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wird erklärt, es sei an der Zeit, auf jüdischer Seite wahrzunehmen, welcher Wandel der Gesinnung sich in neuerer Zeit in den christlichen Kirchen vollzogen hat. „Diese Stellungnahmen" - so heißt es - „haben erklärt, dass christliche Lehre und Predigt reformiert werden können und müssen, um den unverändert gültigen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuerkennen und den Beitrag des Judentums zur Weltkultur und zum christlichen Glauben selbst zu würdigen."29 Wie in manchen christlichen Äußerungen wird nun auch hier hervorgehoben, dass Juden und Christen den gleichen Gott anbeten und sich beide auf die Autorität ein und desselben Buches stützen: die Bibel, die die Juden „Tanach" und die Christen das „Alte Testament" nennen.30 Daraus wird gefolgert, dass Juden und Christen „die moralischen Prinzipien der Tora" anerkennen. Denn „im Zentrum der moralischen Prinzipien der Tora steht die unveräußerliche Heiligkeit und Würde eines jeden Menschen".31 Nun sei es geboten anzuerkennen, dass ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen die jüdische Praxis nicht schwächen werde. Denn - so sagen die Autoren - „wir betrachten das Christentum als einen Glauben, der innerhalb des Judentums entstand und nach wie vor wesentliche Kontakte zu ihm hat".32 Die in dieser Herkunft gründenden Gemeinsamkeiten verlangen daher: „Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen." Richtet sich doch die Hoffnung der Juden wie der Christen auf die Zukunft, die Gottes Zukunft sein wird. Daher wird an den Schluß dieser wichtigen Erklärung ein Wort der Schrift gesetzt: „Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg; sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs! Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen" (Jes 2,2-3).33 Hat die Besinnung auf die Kapitel Rom 9-11 wesentliche Impulse zur Förderung des Dialogs zwischen Juden und Christen geben können, so wird sie auch weiterhin von wesentlicher Bedeutung für die grundsätzliche Orientierung sein. Denn eine Christenheit, die die Frage nach dem Geschick Israels nicht mit allem Ernst bedenken wollte, würde - das hat ihr der Apostel eingeprägt, so dass es nicht in Vergessen29 30 31 32 33

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

114. 115. 116. 117. 117.

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heit geraten darf - ihrer Bestimmung untreu werden. Geht es doch nicht zuletzt um ihren eigenen Ursprung und die Verheißungen, die den Vätern des Glaubens gegeben wurden. Wenn auch in Gottes Ratschluss verborgen bleibt, wie er die Wege Israels und die der Völker ans Ziel bringen wird, so kann doch die christliche Gemeinde am Ende nur mit einem demütigen Hymnus seinen Willen und sein Handeln anbetend preisen: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen" (Rom 11,36).

4.

Doppelte Prädestination bei Paulus? Warum stößt die Verkündigung der frohen Botschaft so oft auf taube Ohren? Wie soll man begreifen, daß das Evangelium vielfach nicht im Glauben angenommen, sondern in entschiedenem Unglauben abgewiesen wird? Diese Frage hat die frühe Christenheit immer wieder beschäftigt. War man doch der festen Überzeugung, in Christus Heil und Rettung zu erfahren, und war man darum mit starkem Einsatz darauf bedacht, daß diese befreiende Erfahrung möglichst vielen Menschen in aller Welt zuteil werden möge. Angesichts dieser bedrängenden Fragen blickte man in die heiligen Schriften und suchte aus ihnen Antwort zu erhalten. Allen voran stand dabei das Buch des Propheten Jesaja, in dem der Auftrag, der dem Propheten erteilt wird, mit der eigentümlichen Ankündigung verbunden wird, die Hörer seiner Predigt würden zwar vernehmen, was zu ihnen gesagt wird, es aber gleichwohl nicht verstehen. Die Aufgabe des Propheten läuft daher auf eine eigentümliche Vergeblichkeit seines Tuns hinaus: „Verstocke das Herz dieses Volks und laß ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen" (Jes 6,9f.). Zwar hatte man in der synagogalen Überlieferung versucht, in der erläuternden Wiedergabe dieses harten Wortes, wie sie sich in den Targumim niedergeschlagen hat, die bittere Schärfe dieses Satzes ein wenig abzuschwächen1. Doch die frühe Christenheit hat diesen Worten auch einen Trost entnommen, weil es ihrem Herrn und Meister nicht anders erging als dem Propheten (Mk 4,12 par.; vgl. auch Apg 28,26f.; Joh 12,40). Sollte es Gottes verborgene Absicht sein, die Herzen zu verstocken, so daß sie unfähig wurden zu begreifen, was ihnen als frohe Kunde zugesprochen werden sollte2? Nur in vorsichtiger Andeutung suchte man eine Auskunft über Gottes Ratschluß zu erlangen, und machte daher nur in behutsamer Zurückhaltung vom Rückgriff auf dieses Prophetenwort Gebrauch. 1 2

Vgl. J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 9 1977, 11-14. Vgl. J. Gnilka, Die Verstockung Israels in der Theologie der Synoptiker, München 1961.

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Der Apostel Paulus mußte die Erfahrung machen, daß seine Verkündigung zwar von vielen Heiden angenommen, von den Juden jedoch weithin abgewiesen wurde. Wie war es möglich, daß das von Gott erwählte Volk, dem „zuerst" das Evangelium zugesprochen werden sollte, sich weitgehend verschloß und geradezu verhärtete, so daß die ihnen geltende Predigt nur so wenig zu bewirken vermochte? Diese Frage, vor die der Apostel sich immer wieder gestellt sah, wurde von ihm gründlich durchdacht. In seinem an die Christen in Rom gerichteten Schreiben, das stärker als alle anderen seiner Briefe grundsätzlichen Charakter theologischer Überlegung trägt, sucht er Antworten zu finden, die dazu helfen sollen, das Geschick Israels im Licht des Evangeliums zu begreifen. Dabei wird die Suche nach glaubwürdigen Antworten in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs in verschiedenen Anläufen angegangen, um die Problematik gleichsam von allen Seiten zu betrachten, bis am Ende wie in einem jubelnden Trompetensignal der Ruf angestimmt werden kann: „Ganz Israel wird gerettet werden" (11,26). In seine Betrachtungen bindet der Apostel immer wieder Worte der Schrift ein, da nicht aus frei schweifender Phantasie3, sondern allein aus dem verbürgten Wort Gottes verläßliche Auskunft erwartet werden darf. In einer ungewöhnlichen Häufung finden sich daher in diesen drei Kapiteln Zitate aus der Schrift4, wobei auch für Paulus das Jesajabuch einen besonders hohen Rang einnimmt5. Um begreifen zu können, was sich im Geschick Israels vollzogen hat und vollzieht, setzt der Apostel bei der zentralen Frage aller Theologie ein und versichert seinen Lesern wie auch sich selbst: „Es ist nicht möglich, daß das Wort Gottes hingefallen ist" (9,6a). Was Gott gesprochen hat, das gilt - mag auch der Augenschein dagegen sprechen. Ist man dessen gewiß, daß Gott unter allen Umständen Treue hält, dann läßt sich auch darüber reden, warum es so völlig anders auf der Seite derer aussieht, denen Gott sein Wort zugesprochen hat. Hier muß differenziert werden: In schroffem Gegensatz zur Treue Gottes steht das Verhalten derer, denen seine Zuwendung gilt. Der vorangestellten These fügt Paulus darum eine schwergewichtige Erläuterung hinzu: nicht alle, die aus Israel stammen, seien wahrhaft Israel (9,6b). Damit wird eine Unterscheidung zwischen leiblicher Herkunft auf der einen 3 4 5

So R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 484: „das heilsgeschichtliche μυστήριον Rm U,25ff." entspringe „der spekulierenden Phantasie". Vgl. insbesondere H. Hübner, Gottes Ich und Israel (FRLANT 136), Göttingen 1984. Im einzelnen ausgeführt von F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998.

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und wahrer Zugehörigkeit auf der anderen Seite vorgenommen (vgl. auch 2,28f.). In vergleichbarer Weise war die Frage, wer wirklich zu Recht den Ehrennamen Israel tragen darf, bereits in frommen Gemeinschaften der damaligen Zeit gestellt und einschränkend beantwortet worden. So zählt die Gemeinde von Qumran diejenigen, „die abgewichen sind vom Wege" (4Q flor 1,14-19), nicht zu den Söhnen des Lichts, sondern betrachtet sie als Söhne der Finsternis, die ihre Zugehörigkeit zum wahren Volk Gottes verwirkt haben (vgl. CD [=Damaskusschrift] IV,2-12). Für Paulus steht fest, daß nicht Geburt und Herkunft die Zugehörigkeit zum erwählten Gottesvolk begründen, sondern daß allein diejenigen als wahre Israeliten gelten, die Gottes Wort gehört und sich ihm im Glauben geöffnet haben. Mit dieser Unterscheidung wird der Begriff Israel aufgespalten: Zum rechten Israel sind nur diejenigen zu zählen, die Gottes erwählendes und verheißendes Wort angenommen haben - also: die Judenchristen. Gottes Treue besteht jedoch unwandelbar fort. Denn „die Erwählung bleibt, auch wenn der Bund nicht durchgehalten wird" 6 . Wird doch auch da, wo Feindschaft gegen Christus vorliegt, Israel weiterhin das geliebte Volk genannt (11,28)7. Allein durch Gottes Ruf und dessen vertrauensvolle Annahme wird wahre Abrahamskindschaft begründet (9,8-13). Doch obwohl Sarahs Söhne dieselben Eltern hatten, kehrte Gottes Entscheid die natürliche Ordnung um, so daß nicht Esau, der Erstgeborene, sondern Jakob, der jüngere Bruder, dazu berufen wurde, der Erbe zu sein. Zum Schriftbezug auf die Thora fügt Paulus dann ein Zitat aus den Propheten an, das in unüberbietbarer Schärfe sagt: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehaßt" (Mal 1,2). In dieser harten Gegenüberstellung hat Paulus den Namen Jakob an den Anfang gesetzt, so daß „die antithetische Aussage des Schriftwortes noch schärfer zur Geltung kommt"8. Der Apostel greift das Prophetenwort auf, ohne auf den Kontext im Buch Maleachi Rücksicht zu nehmen. Sind dort Jakob und Esau in kollektivem Sinn als Völkerschaften verstanden, so begreift Paulus den einen wie den anderen als Individuen, die Gott beruft oder aber übergeht. Die Zurücksetzung des Erstgeborenen wird durch „Ich habe gehaßt" angezeigt. Die Schroffheit 6 7 8

Vgl. E. Dinkier, Prädestination bei Paulus, in: ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 241-269, hier 267. Vgl. hierzu A. Lindemann, Israel im Neuen Testament, WuD 25 (1999) 167-192, bes. S. 174-188. Vgl. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986, 107.

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dieser Gegenüberstellung kann ein wenig gemildert werden, wenn man sich verdeutlicht, daß im Hebräischen das Begriffspaar Lieben/Hassen in der Bedeutung verwendet werden kann, daß der eine mehr geliebt wird als der andere9. Doch für Paulus trägt das Wort „Hassen" starken Ton, um die absolute Freiheit der göttlichen Gnadenwahl hervorzuheben10. Würde leibliche Abstammung oder natürliche Ordnung in irgendeiner Weise auf den Zuspruch der Verheißung Einfluß haben, dann wäre Gott in seinem Handeln nicht mehr frei und könnte weder von seinem erwählenden Ratschluß die Rede sein, noch von seinem souveränen Ruf11. In der Religionsgeschichte ist zu allen Zeiten die rätselhafte Frage bedacht worden, warum die Gottheit die einen erwählt, die anderen aber verwirft. Angesichts eines dunklen und undurchdringlichen Schicksals sah sich Menschenweisheit alsbald an ihr Ende gelangt. Diese Einsicht wurde sowohl unter den Griechen gewonnen, die von einem Schicksal sprachen, das durch menschliche Erkenntnis nicht zu begreifen ist, wie auch in jüdischen Gemeinschaften, die nach dem Sinn allen Treibens zu forschen bemüht waren. Insofern ließen sich zum Vergleich mit den paulinischen Texten Aussagen der Gemeinde von Qumran heranziehen12, die auf Gottes Ratschluß zurückzuführen suchten, daß alles Geschehen nach seinem Plan abläuft und daher auch den Menschen bestimmt ist, wohin sie gehören - zu den Söhnen des Lichts oder denen der Finsternis13. Doch Paulus ist weder von Voraussetzungen der griechischen Antike noch von Vorstellungen der Gemeinde von Qumran geleitet, sondern sucht die Frage nach dem Geschick Israels im Licht des Schriftzeugnisses zu begreifen. Vom Zeugnis, das Gesetz und Propheten bieten, ist sein Denken bestimmt, so daß er in den Kapiteln Rom 9-11 auf dieses immer wieder zurückgreift. Der König Ägyptens wurde verstockt, weil Gott an ihm seine Macht erweisen wollte, damit sein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde (Rom 9,17). An Schärfe der Gegenüberstellung kommt diesen Sätzen keine andere Aussage in den paulinischen Briefen gleich. 9

10 11 12

13

Zu Mal 1,2 vgl. K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II (ATD 25), Göttingen "1959, 190. Vgl. weiter Gen 29,30f.: Jakob liebte Rahel mehr als Lea; ferner Lk. 14,26 „Hassen" gegenüber Mt 10,37 „mehr Lieben". Vgl. Eiliger, ebd.: „Die Ausdrucksweise ... will auf die völlige Souveränität des göttlichen Wollens u n d Handelns hinaus." Vgl. E. Peterson, Ausgewählte Schriften. VI. Der Brief an die Römer. Aus dem Nachlaß hg. v. B. Nichtweiß unter Mitarbeit von F. Hahn, Würzburg 1997,281. Vgl. ζ. B. 1QS III 15f.: „Vom Gott der Erkenntnis kommt alles Sein und Geschehen. Ehe sie sind, hat er ihren ganzen Plan festgesetzt. Und wenn sie da sind zu ihrer Bestimmung, so erfüllen sie nach seinem Plan ihr Werk, u n d keine Änderung gibt es." Zu dieser Gegenüberstellung vgl. insbesondere Dinkier, Prädestination (s. Anm. 6), 262-266.

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Hat es doch in der Tat den Anschein: „Eine praedestinatio gemina wird an den Beispielen der Söhne Abrahams, der Zwillinge Rebekkas, und an Pharao aufgezeigt" 14 .

II. Hat Paulus sagen wollen, es gebe eine doppelte Vorherbestimmung, nach der Gott die einen in seiner Barmherzigkeit erwählt, die anderen aber von vornherein zur Verdammnis verurteilt? In den theologischen Auseinandersetzungen, wie sie einerseits in der Zeit der alten Kirche zwischen Augustin und Pelagius, auf der anderen Seite im Streit Luthers mit Erasmus über das Problem der Willensfreiheit ausgetragen wurden, hat diese Problematik jeweils eine besondere Zuspitzung erfahren, so daß dann Calvin in seiner scharfsinnigen Auslegung des Römerbriefs sagen konnte: „Wie die Auserwählten nur durch Gottes Gnade dem Verderben entrissen werden, so bleiben die, die nicht erwählt sind, notwendig verblendet. Ihr Untergang, ihre Verdammnis kommt letztlich daher, daß sie von Gott sich selbst überlassen sind ... Nicht diejenigen werden verstockt, die es wegen ihrer Bosheit verdient haben, sondern die Gott vor Grundlegung der Welt verworfen hat." Calvin fügt jedoch sogleich eine wichtige Einschränkung hinzu: „Im übrigen ist der Grund der ewigen Verwerfung so verborgen, daß uns nichts anderes übrigbleibt, als mit stummer Verwunderung vor Gottes unbegreiflichem Ratschluß stillzustehen" 15 . In seiner Auslegung von Rom 9 betont Calvin: Der Herr ist in seiner erwählenden Gnade frei und nicht daran gebunden, daß er sie allen Menschen gleicherweise mitteilen müsse. Vielmehr übergeht Gott, welchen er will, und nimmt zu Gnaden auf, welchen er will16. Um die Bedeutung der harten Worte über Hassen und Verwerfen Gottes richtig einzuschätzen, müssen sie aus ihrem Kontext heraus betrachtet werden, in dem sie im Gedankengang des Römerbriefs stehen. Wie die Ausführungen des Apostels deutlich erkennen lassen, ist es nicht seine Absicht, einen Traktat über Gottes ewige Vorherbestimmung zu schreiben. Sondern das Thema, um dessen Klärung er sich müht, betrifft das Geschick Israels, wie es im Licht des Evangeliums zu verstehen ist. Dabei führt Paulus im ersten Gedankengang, den er in 9,6-29 entfaltet, aus, daß Gottes - uns rätselhaft erscheinendes - Han14 15 16

Vgl. Dinkier, ebd., 254. Zitate aus: J. Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift. Römerbrief und Korintherbriefe. Übers, u. bearb. von G. Graffmann u.a. Neukirchen-Vluyn 1960, 224f. Ebd., 188.

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dein an seinem Volk allein von seiner freien Gnadenwahl bestimmt ist, niemals jedoch von menschlichen Werken und Leistungen abhängig sein kann. Der Blick in die heiligen Schriften lehrt nach Überzeugung des Apostels, daß Gott damals bei der Berufung seines Volkes ebenso gehandelt hat wie jetzt bei der Kundgabe seiner um Christi willen freisprechenden Gerechtigkeit. Was einst bei der Erwählung der Väter geschah, vollzieht sich entsprechend nun in der Heilstat in Christus. Das Zeugnis, das die Schrift von Gottes Handeln gibt, ist somit Erweis für „die Gleichheit des damaligen und jetzigen rechtfertigenden Handelns Gottes". Paulus greift auf einzelne Beispiele zurück, in denen die Schrift von dieser „Selbigkeit des Handelns Gottes" spricht, ohne „daß er dieses durch die Geschichte des Volkes Israel hindurch auf die Gegenwart zulaufen läßt"17. Die Aussagen der Schrift, die der Apostel heranzieht, sollen aufzeigen, „daß der Bezug zur Gegenwart" ausschließlich in der an diesen Worten der Schrift „erkennbaren Selbigkeit des Handelns Gottes" beruht 18 . Zielt die im Evangelium proklamierte und bezeugte Gerechtigkeit Gottes, die er in Christus kundgetan hat, darauf, daß jeder, der diese Botschaft in vertrauendem Glauben annimmt, gerettet wird (Rom l,16f.), so gilt dieser Zuspruch heute wie einst. Denn der Vater Jesu Christi, zu dem die Glaubenden „Abba" rufen (Rom 8,15), ist derselbe wie der Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs. Und hat er sich einst zu erkennen gegeben als der, der die Toten lebendig macht und dem Nichtseienden ruft, daß es sei, so hat er dieses sein Handeln in der Auferweckung Jesu Christi von den Toten ein für allemal bekräftigt (Rom 4,17). Die Schriftzitate, die der Apostel in Rom 9 aus den Büchern Genesis und Exodus anführt, sollen begründen, warum es so war und so bleibt, daß nicht menschlicher Ratschluß, sondern allein Gottes freie Entscheidung darüber zu befinden hat, wem er seine Barmherzigkeit zuwendet19. Auf dieser positiven Aussage liegt der Ton. Weder wird über das Geschick Esaus noch über das des Pharao auch nur ein einziges zusätzliches Wort verloren. Auf ihr Beispiel wird allein darum verwiesen, um vor diesem dunklen Hintergrund die Herrlichkeit der göttlichen Gnade 17 18 19

Vgl. Koch, Schrift (s. Anm. 8), 304. Koch, ebd., 305. Außer den Kommentaren ist zum Thema der göttlichen Gnadenwahl im Römerbrief besonders zu vergleichen: F. Montagnini, Elezione e libertä. Grazia e predestinatione a proposito di Rom, 9,6-29, in: L. de Lorenzi (Hg.), Die Israelfrage nach Rom 9-11, Rom 1977, 57-97; O. Kuss, Der Römerbrief III, Regensburg 1978, 828-935: ausführlicher Exkurs „Zur Problematik der Prädestination'"; G. Röhser, Prädestination und Verstockung. Untersuchungen zur frühjüdischen, paulinischen und johanneischen Theologie (TANZ 14), Tübingen/Basel 1994; T. Eskola, Theodicy and Predestination in Pauline Soteriology (WUNT II, 100), Tübingen 1998.

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aufleuchten zu lassen. Paulus kommt es darauf an, seinen Lesern klar zu machen, daß es bei Gottes freier Gnadenwahl niemals nach Werken der Menschen, sondern immer nur nach Gottes Ruf zugeht. In einem parenthetisch eingeschobenen Satz hebt er darum hervor, daß auf Seiten der Menschen keinerlei Werk vorlag, durch das Gottes Urteil hätte bestimmt sein können, so daß allein Gottes erwählender Ratschluß bestehen bleibt (V. ll-12a). Das Verbum „bleiben" steht im Präsens, um zweifelsfrei festzustellen, daß gegenwärtig wie einst Gott sich in keiner Weise von Verdiensten abhängig macht, die etwa von Menschen vorgewiesen werden könnten. Der Apostel ist somit am Thema der Prädestination nur insoweit interessiert, als es ausdrückt, „daß Gott frei ist von der natürlichen Ordnung. Gott ist frei gegenüber der natürlichen Abstammung der Abrahams- und Isaakskinder; er ist auch frei gegenüber ihren Werken. Niemand kann Gott zwingen, weder aus der natürlichen noch aus der moralischen Ordnung" 20 . Paulus ist sich darüber im klaren, daß es Einwände gibt, die gegen seine Ausführungen erhoben werden könnten. Darum geht er in rhetorisch gestalteter Argumentation auf mögliche Bedenken ein und läßt einen fiktiven Gesprächspartner sagen: ob denn Gott, wenn er frei ist in seiner Gnadenwahl, nicht ungerecht handle (V. 14). Doch dieser Gedanke wird sogleich verworfen und erneut betont, daß von Gottes Erbarmen - nicht von einer allgemeinen Vorherbestimmung - die Rede ist (V. 15). Mit Hinweis auf Ex 33,19 wird das vorgebrachte Gegenargument entschieden zurückgewiesen: Gottes Erwählung steht schlechthin unter dem Vorzeichen seines Erbarmens (V. 15.18). Die Konsequenz, die hieraus zu ziehen ist, lautet: Es kommt weder auf unser Wollen noch auf unser Laufen an, sondern allein auf Gottes Barmherzigkeit. Dabei werden nicht etwa Wollen und Laufen allgemein unter ein negatives Vorzeichen gesetzt. Vielmehr wird der Ton darauf gelegt, daß alles Wollen und Laufen nichtig ist, wenn man von ihm erwarten wollte, auf diese Weise das Heil erlangen zu können. Gott ist und bleibt souverän in der Freiheit seiner Erwählung. Erneut wird ein Bedenken angemeldet: Wenn es so steht, kann Gott dann überhaupt noch Vorwürfe gegen den Menschen erheben und ihn vor sein Gericht ziehen? (V. 19) Mit aller Entschiedenheit wird auch dieser Einwand abgetan, indem der Fragesteller in seine Schranken gewiesen wird: Wie kommst du dazu, dir anzumaßen, mit Gott in einen kritischen Disput treten zu wollen? Hat nicht ein Töpfer die volle Verfügungsgewalt über die Tonmenge, die er bearbeitet? Und kann er nicht entscheiden, zu welchem Zweck er Gefäße formt? Legt er doch 20

Vgl. Peterson, Rom (s. Anm. 11), 281.

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nicht erst nach der Herstellung fest, wozu die Gefäße dienen sollen, sondern trifft zu Beginn seiner Arbeit seine Entscheidung nach freiem Ermessen. Gegenüber Gottes Ratschluß ist daher allein betroffenes Verstummen die angemessene Haltung. Auch Zorneserweis und Verstockung, wie Gott sie verhängt, „stehen im Dienst der Offenbarung seines freien Erbarmens" 21 . Hat er doch uns - Juden und Heiden - aus den Völkern berufen, um sein heiliges Volk zu sein. Indem Paulus von „uns" spricht, gibt er der Aussage einen bekenntnismäßigen Charakter und kehrt damit wieder zur Frage nach dem Geschick Israels zurück, die als Leitmotiv den ganzen Gedankengang bestimmt. Der Apostel will mithin keineswegs den Versuch unternehmen, die Rätsel der Weltgeschichte zu entschlüsseln; sondern mithilfe der angezogenen Schriftstellen soll der Gedanke der „absoluten Freiheit Gottes zum Ausdruck gebracht werden, die nicht durch menschlichen Anspruch gebunden ist" - also der Gedanke „der Freiheit der Gnade, die jedes Verdienst des Menschen ausschließt"22.

III. Richtet der Leser seine Aufmerksamkeit allein auf die Ausführungen in Rom 9, so könnte das Mißverständnis entstehen, daß Ungehorsam Israels und Versagen der Menschen allein auf Gottes verborgenen Ratschluß zurückzuführen sind, so daß - wie bereits als Einwand zu bedenken gegeben wurde - Gott ungerecht erscheinen und kein gerechtes Urteil fällen würde. Mag es zunächst so aussehen, als lägen Unheil und Heil dabei als zwei einander entgegengesetzte Möglichkeiten göttlicher Bestimmung nahezu im Gleichgewicht zueinander, so wird dieser Eindruck vom Apostel deutlich korrigiert. In den Kapiteln 10-11 des Römerbriefes rückt er die Frage nach dem Geschick Israels jeweils unter eine neue Perspektive. In Kap. 10 wird auf Israels Ungehorsam und seine dadurch bedingte Schuld hingewiesen. Faßt man diese ins Auge, so kann unmöglich Gottes Gericht als ungerecht bezeichnet werden. Gott aber hat Israels Weigerung, das Evangelium anzunehmen, benutzt, um einen Umweg zu beschreiten, der dazu dienen soll, Heiden und Juden das Heil zuzuwenden. Zielte die geläufige eschatologische Erwartung darauf, daß am Ende der Zeit Israel auf dem Zion sein werde und die Völker aus allen Teilen der Erde herzukommen, so stellt 21 22

Vgl. G. Bornkamm, Paulinische Anakoluthe im Römerbrief, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien (BEvTh 16), München 1952 5 1966, 76-92, hier 91. Vgl. R. Bultmann, Gnade und Freiheit, in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952,149-162, hier 158.

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Paulus fest, daß entgegen herrschender Erwartung zuerst viele Heiden gewonnen wurden, so daß Israel erst nach ihnen das Heil empfangen kann. Doch Paulus bleibt davon überzeugt, daß Gottes Barmherzigkeit sein Volk nicht aus den Augen lassen wird. Was er verheißen hat, läßt er nicht fallen. Darum werden im 11. Kapitel die Themen wieder aufgenommen, die im 9. Kapitel bereits angeschlagen worden waren. Die drei Kapitel Rom 9-11 stellen mitnichten eine „im Grunde verzweifelte und abstruse Hypothese" dar23, sondern sind nach einer wohl durchdachten Ordnung komponiert worden. Hatte der Apostel sich zunächst darum gemüht, Israels Verharren im Unglauben auf Gottes Ratschluß zurückzuführen (9,6-29), und dann des näheren dargelegt, daß und warum das Gottesvolk, das sich dem Evangelium verweigert, für diesen seinen Ungehorsam verantwortlich ist (9,30-10,21), so werden nun beide Gedankengänge zum Abschluß gebracht, indem im ersten sowie im letzten Abschnitt des Kapitels erneut die Schrift auf das gründlichste befragt wird. Darum kann der Apostel dessen gewiß bleiben, daß die Zukunft Israels zum noch ausstehenden Ende hin offen ist und Gott aufgrund der Zusagen, die er seinem Volk gegeben hat, seine Verheißung verwirklichen wird. Mitnichten darf darum aus der harten Gegenüberstellung von Jakob und Esau, Lieben und Hassen (9,13) geschlossen werden, daß ein endgültiges Gerichtsurteil ergangen sei, in dem sich eine vorzeitliche doppelte Prädestination erfülle24. Denn wie in Rom 11 ausgeführt wird, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Gott durch die Proklamation des Evangeliums Juden und Griechen den Weg zum Heil eröffnen will. Dafür bürgt der heilige Rest, der in Gestalt der gläubig gewordenen Israeliten Gottes rettende Berufung angenommen hat (11,7f.). Gott kann daher sein Volk nicht endgültig verworfen haben, bezeugt doch Paulus durch seine eigene Person, daß er von Gott nicht verstoßen, sondern im Gegenteil als gläubiger Israelii zum Apostel der Völker berufen wurde (11,lf.). Mit diesen Worten spricht Paulus bewußt als Judenchrist, „der es für eine Auszeichnung ansieht, dem Volk Israel anzugehören"25. Wie Gott einst zur Zeit des Propheten Elia 7.000 getreue Israeliten bewahrt hat, die ihre Knie nicht vor dem Abgott Baal gebeugt haben, so hat er auch jetzt einen heiligen Rest nach seiner Gnadenwahl bewahrt (11,4-6). Paulus interpretiert mit diesen Worten mithilfe der Theologie der Rechtfertigung die Lehre von der göttlichen Erwählung. Das Zeugnis der Schrift läßt daher erkennen, 23 24 25

So Kuss, Rom III (s. Anm. 19), 810. Vgl. Montagnini, Elezione (s. Anm. 19), 78: „II testo di Malachia, perciö, non consente nessuna illusione nel senso di una praedestinatio ad poenam, ma vuol essere la proclamazione della divina bontä e libertä." Vgl. W. Schmithals, Der Römerbrief, Gütersloh 1988, 387.

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daß zwar Verstockung und Betäubung über viele gekommen sind, aber gleichwohl Gottes gnädige Erwählung sein geschichtliches wie auch sein eschatologisches Handeln bestimmt. Sind wider Erwarten Heiden gläubig geworden, so soll - nach dem Urteil des Apostels - Israel dadurch eifersüchtig gemacht werden, damit es gerettet werde. An die Heidenchristen aber richtet Paulus eine ausdrückliche Ermahnung, nicht hochmütig zu werden oder sich über die (noch) ungläubigen Juden zu erheben (11,17-24). Die aus den Völkern zusammengerufene Ekklesia darf darum nicht vergessen, was Melanchthon der Christenheit zu bedenken gibt: „Itaque ecclesia fit electione et per misericordiam, non propter naturalia dona aut merita"26. Gott hält an seinem Wort fest und „läßt der Welt sein Heil über Israel zukommen, das Erwählung und Gericht zuerst erfährt und in beidem der Treue Gottes gewiß sein kann"27. Was der Apostel über Gottes Gnadenwahl ausgeführt hat, ist von Anfang bis Ende von seiner Auslegung des Evangeliums durch die Rechtfertigungslehre bestimmt. Darum gebührt allemal der göttlichen Barmherzigkeit der Vorrang vor Verstockung und Verurteilung. Paulus kann daher am Ende die feste zuversichtliche Erwartung aussprechen, ganz Israel werde gerettet werden (11,26). Gottes Gnadengaben und seine Berufung werden nicht widerrufen (11,29). Das letzte Wort wird daher nicht etwa einer vorherbestimmten Verurteilung zukommen, sondern dem unergründlichen Erbarmen Gottes28. Hat doch - so schließt Paulus seine langen Ausführungen in Rom 9-11 ab - Gott alle, Heiden und Juden, unter den Ungehorsam beschlossen, um sich aller zu erbarmen (11,32). Fast könnte es den Anschein haben, als liefe die Argumentation des Paulus am Ende auf die Erwartung einer Allversöhnung hinaus (vgl. hierzu Apg 3,21). Doch auch hier ist ihm alles daran gelegen, den Triumph der Gnade Gottes herauszustellen. Hatte er in Kapitel 9 das Übermaß der göttlichen Barmherzigkeit vor dem dunklen Hintergrund von Gericht und Verstockung hervorgehoben, ohne dabei in Spekulationen über eine doppelte Prädestination zu verfallen, so rührt er in Kapitel 11 nahezu an die Vorstellung einer Wiederbringung aller. Doch weder dort noch hier entwirft Paulus ein Schema, in das sich seine Auslegung der Schrift fügen müßte. Gottes freie Erwählung hat vielmehr 26 27 28

Ph. Melanchthon, Römerbriefkommentar 1532, Ausgabe Gütersloh 1968, 260, zu Rom 9,7f. Schmithals, Rom (s. Anm,. 25), 401. Vgl. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (HThK 6), Leipzig 1999,197: „Im Kontext des Evangeliums steht dem Erbarmen Gottes nicht die grundlose Prädestination zu einer Unheilsrolle gegenüber, sondern das Gericht, das die Menschheit sich durch ihre unentschuldbare Mißachtung Gottes zugezogen hat (vgl. l,18ff.)."

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zur Folge, daß sein Erbarmen am Ende aller Wege steht, die Israel und die Völker gehen. In der Geschichte von Theologie und Kirche ist - wie eingangs dargelegt - verschiedentlich die Frage gestellt worden, ob Paulus in Rom 9 von der göttlichen Vorherbestimmung handle, nach der er „bestimmte Menschen zum Verderben und in seinem Erbarmen bestimmte Menschen zum ewigen Heil vorherbestimmt habe"29. Doch Paulus will mitnichten einer Lehre von der doppelten Vorherbestimmung das Wort reden, die auf der einen Seite Gottes freie Gnadenwahl, auf der anderen aber die Verantwortung des Menschen antasten würde. Vielmehr stellt er sich der besorgten Frage, ob Gott sein ungläubiges Volk etwa verstoßen haben könnte (Rom 11,1). Dagegen setzt Paulus ein deutliches Nein. Gott könnte freilich seine Freiheit durchaus auch zum Schaden ausschlagen lassen, hätte er doch allen Anlaß, über das Treiben der Menschen ein richterliches Urteil zu fällen. Doch „von endgültig gefallenen Entscheidungen Gottes über das Schicksal der Menschheit ist ... in diesen Kapiteln des Römerbriefs nicht die Rede, wohl aber davon, daß Gott solche Entscheidungen fällen kann und daß der Mensch als Gottes Geschöpf ihm das Recht dazu nicht bestreiten darf"30. Paulus gibt sich keinen Spekulationen hin über eine etwaige doppelte Prädestination - sei es zum Guten, sei es zum Bösen sondern er bleibt streng bei der Auslegung der von ihm herangezogenen Schriftstellen. Sie bezeugen: Wie Gott einst an den Vätern gehandelt hat, so handelt er auch hier und jetzt, indem er in hoheitsvoller Souveränität und unwandelbarer Treue zu seinem Wort steht. Mit Recht hat daher Martin Luther in seiner Vorlesung, die er als junger Professor 1515/16 in Wittenberg gehalten hat, seinen Studenten zugerufen: „Keiner stürze sich in diese Grübeleien hinein, dessen Geist noch nicht gereinigt ist, daß er nicht in den Abgrund des Grausens und der Verzweiflung falle, vielmehr reinige er zuvor die Augen seines Herzens mit der Betrachtung der Wunden Christi"31. Und diejenigen, die zweifeln oder ins Grübeln verfallen, ermutigt er: „Unser Gott ist nicht ein Gott der Ungeduld und Grausamkeit, auch nicht den Gottlosen gegenüber. Das sage ich denen zum Trost, die beständig von gotteslästerlichen Gedanken gequält werden und sich allzu sehr ängstigen"32. „Apostolus ... pulcherrimo ordine loquitur, quia dixerat secundum electionem Dei omnia fieri"33. 29 30 31 32 33

Vgl. W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen. Göttingen 1969, S. 207. Vgl. Kümmel, ebd. M. Luther: Vorlesung über den Römerbrief 1515/16. Lateinisch-deutsche Ausgabe II, Darmstadt 1960,160f. Ebd., 162f. Ebd., S. 164.

5.

Theologische Ethik im Römerbrief des Apostels Paulus* Das umfangreiche Schreiben, das der Apostel Paulus im Jahr 56 oder 57 n. Chr. in Korinth abfaßte und an die Christen in Rom schickte, stellt in mehrfacher Hinsicht ein Dokument von überragender Bedeutung für die Geschichte der frühen Christenheit dar. Die 16 Kapitel übertreffen durch die ausführliche Gründlichkeit ihrer Ausführungen sowie ihren weit ausholenden Umfang briefliche Texte der damaligen Zeit, die sich zum Vergleich heranziehen ließen, um ein stattliches Maß. Im Unterschied zu den Briefen, die der Apostel in den vorangegangenen Jahren an junge christliche Gemeinden geschrieben hat, die er wenige Jahre zuvor in Thessalonich, Philippi, Korinth und Galatien gegründet hatte, wendet er sich nun an Christen, denen er noch nicht hat begegnen können. Er sucht ihre zustimmende Unterstützung zu gewinnen, um mit ihrer Billigung und Hilfe seine künftigen missionarischen Unternehmungen auf den westlichen Teil des Römischen Reiches ausdehnen zu können. Bis zum Zeitpunkt der Abfassung des Römerbriefes hatte Paulus zwar an einigen Stationen seiner bisherigen Wirksamkeit dem einen oder anderen Christen begegnen können, der - wie die ausführliche Grußliste am Ende des Briefes ausweist1 - inzwischen in Rom seßhaft geworden war. Doch seinem Wunsch, selbst nach Rom zu kommen und sich mit den dort lebenden Christen zur Gemeinschaft des einhelligen Gotteslobes zusammenzufinden, war bis dahin die Erfüllung versagt geblieben. Jetzt aber soll feste Verbindung geknüpft werden, damit das einhellige Bekenntnis zum gekreuzigten, auferstandenen und zu Gott erhöhten Christus sie zu von allseitigem Vertrauen geleiteter Gemeinschaft zusammenschließen möge. Dem Apostel muß daher * 1

Vorgelegt in der ordentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen am 3 0 . 4 . 2004. Die Grußliste in Kap. 16 stellt weder einen ursprünglich nach Ephesus gerichteten Text noch eine spätere Zutat zu den Kapiteln 1-15, sondern einen integralen Teil des Römerbriefes dar. Zum Nachweis vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, bes. S. 51-53.

Theologische Ethik i m Römerbrief des A p o s t e l s P a u l u s

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dringend daran gelegen sein, den Christen in Rom als glaubwürdiger Zeuge des gemeinchristlichen Evangeliums gegenüberzutreten. Muß er doch nicht ohne Grund befürchten, daß mißgünstige oder auch polemisch gehaltene Berichte über seine an die Heiden gerichtete, gesetzesfreie Verkündigung auch den Christen in der Hauptstadt des Reiches zu Ohren gekommen sein könnten. Darum mußte mit aller Sorgfalt darauf Bedacht genommen werden, kritische Bedenken möglichst gar nicht erst aufkommen zu lassen und streitbare Ablehnung alsbald zu entkräften. Paulus hat daher den Römerbrief mit allem Scharfsinn der Gedankenführung entworfen und abgefaßt. Galt es doch, gleichsam Rechenschaft vom Evangelium abzulegen, wie es der Apostel vertrat und seinen Gemeinden verkündigte. Die Empfänger seines Schreibens sollten sich von der Lauterkeit und Vertrauenswürdigkeit sowohl seiner Person wie auch seines apostolischen Dienstes authentisch überzeugen können.2 Die Briefe, die der Apostel bis dahin geschrieben hatte, mag man zu Recht als Gelegenheitsschriften bezeichnen, weil sie durch Anfragen von Seiten der einen oder anderen Gruppe oder durch Besorgnis erregende Berichte, die zu Paulus über den Zustand der einen oder anderen Gemeinde gelangt waren, veranlaßt worden waren. Die Abfassung des Römerbriefes dagegen ist weder erfolgt, um etwa dem Apostel vorgetragene Probleme zu erörtern, noch sind Boten zu Paulus gekommen, die ihm über die Situation in der römischen Christenheit hätten nähere Auskunft geben können. Nicht auf Seiten der Adressaten, sondern ausschließlich beim Verfasser ist die Veranlassung zu suchen, daß der Römerbrief geschrieben und nach Rom gebracht wurde. 3 Der Apostel will darlegen, wie er die zentralen Themen christlichen Glaubens begreift und öffentlich vertritt und wie die rasch wachsende Christenheit sich allerorten auf das eine apostolische Evangelium gründet und seiner Botschaft glaubend vertraut. Im Unterschied zu den vorangegangenen paulinischen Gemeindebriefen wird man den Römerbrief daher nicht als Gelegenheitsschrift, sondern als einen Text zu beurteilen haben, der von grundsätzlicher Bedeutung sein und bleibend gültige Verläßlichkeit der apostolischen Predigt bezeugen sollte. Zwar bleibt die briefliche Form gewahrt und werden sowohl im Anfang wie auch vor allem im Schlußteil des Briefes dessen Empfänger wiederholt persönlich angesprochen. Doch 2 3

Vgl. L. Legrand, Rm. 1,11-15 (17): Proeminum oü Propositio?, NTS 49 (2003) 566572: „Paul a done peu de choses ä dire d'eux et beaueoup ä dire de lui-meme pour se representer se faire accepter" (567). Vgl. E. Lohse, Summa Evangelii - zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefs, NAWG 1993/3, Göttingen 1993.

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außerhalb dieser Rahmung, mit der Paulus seine lehrhaften Ausführungen versieht, werden zwar die Adressaten verschiedentlich durch persönliche Zuwendung angeredet; dabei sind aber keine Bezugnahmen auf spezielle römische Verhältnisse zu erkennen. Vielmehr ist die Argumentation so gehalten, daß sie zu wiederholten Malen hervorgenommen und bedacht werden möge, um einander zu verdeutlichen, woran Christen sich zu halten und wie sie ihre Lebensführung zu gestalten haben. Zu Beginn seines Schreibens stellt sich der Apostel seinen Hörern und Lesern persönlich vor und beruft sich dabei auf den ihm erteilten apostolischen Auftrag, Gottes frohe Botschaft auszurichten. Weil aber das Evangelium zu allen Völkern hinausgetragen werden soll, weiß Paulus sich auch den Christen in Rom im ihnen allen gemeinsamen Glauben verbunden. Wiederholte Hinweise auf das Evangelium als den Grund allen Glaubens und Handelns durchziehen den ganzen Römerbrief (vgl. Rom 1,1.9.16; 2,16; 10,15f.; 11,28; 15,16.19f.; [16,25]) und lenken die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Thematik, die die Ausführungen des Apostels von Anfang bis Ende bestimmt: daß im Evangelium Gottes Gerechtigkeit offenbar wird aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben (1,17). Diese thematische Aussage, die den langen Gedankengängen des Römerbriefs vorangestellt ist, wird in deren Verlauf mehrfach wiederholt, in ihrer grundsätzlichen Bedeutung unterstrichen und auf die verschiedenen Bereiche theologischer Reflexion bezogen.4 So heißt es im 3. Kapitel, daß nicht Gottes Zorngericht, sondern die Offenbarung seiner Gerechtigkeit als Kundgabe seiner in Christus uns zugewandten Barmherzigkeit das letzte Wort behält. Dabei wird ebenso wie im Präskript des Briefes sowohl der Bezug auf die heiligen Schriften Israels (3,21) wie auch das gemeinchristliche Bekenntnis (3,25.26a) mit dem Satz von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes verknüpft, um ihren grundlegenden Charakter und ihre universale Bedeutung herauszustellen. Das Schriftwort, daß die Rechtfertigung aus Glauben das Leben eröffnet - ein Leben, das kein Tod zu vernichten imstande ist (1,17 b) - , intoniert das Leitmotiv für die Kapitel 5-8. Ihre Ausführungen werden eingeleitet mit einer zusammenfassenden Folgerung, die die Konsequenzen aufzeigt, die aus der erfahrenen Rechtfertigung durch Gottes Gnadenerweis zu ziehen sind: „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn 4

Vgl. K. Haacker, The Theology of Paul's Letter to the Romans, Cambridge 2003.

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Jesus Christus" (5,1)· Auch die Frage nach dem Geschick Israels, die schon einmal zu Beginn des 3. Kapitels (3,1-8) kurz angesprochen wird, findet ihre Beantwortung aus der Perspektive, die von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes her eröffnet wird (9-11). Haben wider Erwarten Heiden, die nicht nach der Gerechtigkeit trachteten, Gerechtigkeit erlangt (9,30) und beharren die meisten Israeliten bei dem vergeblichen Versuch, mit Hilfe des Gesetzes ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten (10,3), so wird doch am Ende auch für ganz Israel der Erlöser kommen (11,26). Der Apostel legt das Evangelium, dessen universale Gültigkeit es aufzuzeigen gilt, so aus, daß er eine Frage, der er sich zuwenden will, jeweils zuerst kurz intoniert, dann aber erst später eingehende Überlegungen zu ihrer Beantwortung entfaltet (1,17 a: 3,21-4,25; 1,17 b: 5-8; 3,1-8: 9-11) So wird auch bereits im 6. Kapitel mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Glaubenden, die um Christi willen gerecht gesprochen sind, ihr Leben nach dieser schlechthin bestimmenden Orientierung auszurichten haben (6,1-23). Die sittliche Verpflichtung, die aus dem Evangelium von Gottes Gerechtigkeit erwächst, wird dann im letzten, umfangreichen Abschnitt des Römerbriefes (12,1-15,13) ausführlich bedacht. Der Zusammenhang, der dem Entwurf einer christlichen Ethik gilt, ist daher mitnichten als ein Appendix zu beurteilen, der am Ende noch an die lehrhafte Darlegung des Evangeliums angefügt worden wäre. Vielmehr wird christliche Ethik in diesen Kapiteln als Konsequenz der frohen Botschaft verstanden und ausgeführt. In den neutestamentlichen Schriften wird an keiner Stelle auf den Begriff „Ethik", der in der griechischen Philosophie geprägt und inhaltlich bestimmt worden war, Bezug genommen. Aristoteles hatte ihn mit dem ηθος (= Brauch, Sitte) in Zusammenhang gebracht, weil - wie er sagt - „klar ist, daß keine der sittlichen Tugenden unserer Natur eingegeben ist" (Eth.Nic. 1103a). In der Ethik ist zu erörtern, wie menschliches Handeln zu gestalten ist. Philosophische Überlegung, die auf begrifflich klare Aussagen zielt, hat sich seit Aristoteles darum bemüht, durch grundsätzliche Reflexion und konkrete Beschreibung im einzelnen darzulegen, wie urteilsfähige Menschen ihr Leben führen sollen. Wie die anderen neutestamentlichen Autoren verwendet der Apostel Paulus den Begriff der Ethik nicht. Die Aufgabe aber, über sittliche Lebensführung nachzudenken und jeweils anzugeben, wie ihr entsprechendes Handeln aussehen soll, hat Paulus klar und entschieden in den Blick gefaßt. In einigen seiner Briefe, die dem Römerbrief vorangegangen sind, hat Paulus bereits aufgezeigt, wie Wandel und Verhalten der Christen notwendig unter der durch die frohe Botschaft eröffneten Perspektive

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zu begreifen und zu gestalten sind (vgl. IThess 4,1-12; 5,13-22; Gal 5,13-6,10; Phil 4,1-9). In seinen nach Korinth gerichteten Schreiben greift der Apostel die verschiedenen Probleme, die strittig geworden sind, jeweils so auf, daß er am Ende jedes Gedankengangs die ethische Konsequenz deutlich aufweist. Im Römerbrief aber werden die verschiedenen Gesichtspunkte, die in den früheren Briefen bereits ausgesprochen wurden, nun in einen systematisch durchdachten und gestalteten Zusammenhang gebracht5, der christliche Ethik als verbindliche Folgerung aus der Lehre des Evangeliums verstehen lehrt. Diese vom Apostel im Römerbrief ausgeführten Zusammenhänge haben dann für die Autoren deuteropaulinischer Briefe als prägendes Vorbild gewirkt, so daß sowohl im Kolosserbrief wie auch im Epheserbrief einem ersten lehrhaften Teil ein zweiter, etwa gleich umfangreicher Teil an die Seite gestellt wird, der verantwortungsbewußte Lebensführung als Inhalt urchristlicher Unterweisung beschreibt (Kol 1-2/3-4; Eph 1-3/4-6). In seinen früheren Briefen hat Paulus durchweg nur eine kurz gefaßte theologische Begründung für die ethischen Weisungen angeführt, die er den Gemeinden gibt: sich untadelig zu verhalten (IThess 2,10; Phil 2,15; IKor 1,8 u.ö.) und würdig des Evangeliums zu leben (Phil 1,27), so daß ihnen auch von Außenstehenden ein gutes Zeugnis ausgestellt werden kann. Im Römerbrief argumentiert der Apostel jedoch nicht nur mit knappen Hinweisen, sondern legt er grundsätzliche Erwägungen zur Entfaltung christlicher Ethik vor. Die theologische Begründung, die für eine christliche Ethik im 6. Kapitel des Römerbriefes gegeben wird, ist daher zunächst zu bedenken. Dann aber sind nacheinander sowohl die allgemein gehaltenen Ermahnungen - als Paränese bzw. Paraklese bezeichnet - in den Kapiteln 12-13 als auch die speziellen Ausführungen zu betrachten, die in den Kapiteln 14,1-15,13 das Zusammenleben der Christen in der Gemeinde beschreiben sollen.

I. Im 6. Kapitel des Römerbriefes6 muß sich der Apostel gegen Schlagworte wehren, die von verschiedenen Seiten als Einwände gegen seine Theologie der Rechtfertigung erhoben wurden. Der Vorwurf geht da5 6

Vgl. G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Glaube und Geschichte II, Gesammelte Aufsätze IV (BEvTh 53), München 1971,120-139.130-135. Vgl. E. Lohse, Der Wandel der Christen im Zeichen der Auferstehung. Zur Begründung christlicher Ethik im Römerbrief, in: Resurrection in the New Testament. FS Jan Lambrecht (BEThL 165), Leuven 2002, 315-322.

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hin, aus der Botschaft von der Rechtfertigung könnte gefolgert werden, nun sei die Forderung ethischer Verpflichtung überflüssig geworden: Wo viel Sünde ist, da werde um so mehr Gnade sein. Paulus reagiert mit schroffer Zurückweisung: „Das sei ferne" (6,1). Vielmehr gilt, daß die Sünde nicht im sterblichen Leib der Christen herrschen darf (6,12), gehört ihr Leib doch dem Kyrios; denn Gott hat ihn auferweckt und wird dereinst auch uns erwecken durch seine Kraft (IKor 6,13). Von der Herrschaft der Sündenmacht befreit, sind die Glaubenden Knechte geworden der Gerechtigkeit, die in ihrem Wandel Gestalt gewinnen will (6,18). So unterschiedlich die kritischen Positionen gewesen sein mögen, die gegen die paulinische Theologie bezogen wurden, so redeten doch die einen wie die anderen einer „billigen Gnade" das Wort, die aber doch - wie dagegen zu stellen ist - alsbald zur Schleuderware verkommen würde.7 Der Apostel faßt seinen entschiedenen Widerspruch in die klare Feststellung: es komme überhaupt nicht in Betracht, etwa unter der Herrschaft der Sünde verbleiben zu wollen. Der Sünde - der Begriff wird im folgenden Gedankengang immer wieder aufgenommen (6,2.6-7.10.12) - ist vielmehr eine klare Absage erteilt, die es nun zu vollziehen gilt. Denn wir - Paulus schließt sich selbst ausdrücklich in einer bekenntnisartigen Aussage mit allen Christen zusammen - sind ja der Sünde bereits abgestorben. Bei der Sünde bleiben zu wollen, würde darum bedeuten, beim Tod zu verharren. Durch das Sterben aber, das wir mit Christus schon erfahren haben, ist dieser Sklaverei ein Ende bereitet. Zur Erläuterung dieser deutlichen Abgrenzung bezieht sich der Apostel auf die Einsicht, die den Lesern als Getauften längst bekannt ist:8 Wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, sind in seinen Tod getauft worden (6,3). In der Taufe hat somit ein Herrschaftswechsel stattgefunden, der einen definitiven Bruch mit der Vergangenheit bedeutet, die unter dem Regiment der Sünde gestanden hatte. Denn die Taufe begründet die Zugehörigkeit zum gekreuzigten und auferstandenen Christus, so daß sein Sterben für uns den definitiven Bruch mit der Sünde einschließt. Otto Merk hat in seiner sorgfältig gearbeiteten Untersuchung „Handeln aus Glauben" zu den „Motivierungen der paulinischen Ethik" diesen Charakter einer theologischen Begründung ethischer Unterweisung in den präzis formulierten Satz gefaßt: „Alles Begründen ethischer Weisungen ist für den Apostel nichts anderes als 7 8

Zur Gegenüberstellung von „teurer" und „billiger" Gnade vgl. D. Bonhoeffer, Nachfolge, München ">1971,13-27. Zur Wendung „wißt ihr nicht" zur Einleitung von den Gemeinden bekannten Einsichten vgl. Rom 6,16; 7,1; 11,2; I K o r 3,16; 5,6; 6,2f.9.15f.l9; 9,13.24 u.ö.

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die Entfaltung des rechtfertigenden und versöhnenden Handelns Gottes, ist die Bezeugung des Anspruches Gottes auf die ihm gehörende Welt und die Bekundung seiner Treue zu seiner Gemeinde, die von Ostern her lebt und auf ihren kommenden Herrn wartet." 9 Diese bereits vollzogene Absage an die Vergangenheit ist endgültig, wie das Begräbnis eines Verstorbenen die Realität des Todes besiegelt. Sagt der Apostel, wir seien nicht nur mit Christus gestorben, sondern auch mit ihm begraben, so bezieht er sich unverkennbar auf das gemeinchristliche Bekenntnis, das nicht nur den Kreuzestod, sondern ausdrücklich auch das Grab Christi nennt (IKor 15,4 ).10 Folgte man nun weiter den Worten des urchristlichen Credo, so könnte es sich nahelegen fortzufahren: „Und so sind wir auch mit ihm auferstanden"(vgl. Kol 2,12). Doch der Apostel argumentiert anders. Zunächst lehnt er sich wieder an geprägte Redeweise des Bekenntnisses an, indem er sagt, Christus sei durch die Herrlichkeit Gottes des Vaters auferweckt worden. Dieses Geschehen aber betrifft alle, die auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn getauft sind; denn er ist der lebendige Kyrios. Doch besagt das nicht, daß unsere Auferstehung schon geschehen wäre. Vielmehr steht das Leben der Christen unter der Herrschaft des erhöhten Herrn, mit dem wir einst bei der Auferstehung der Toten vereint werden sollen. Paulus zieht darum die Folgerung, daß die Getauften einerseits auf die schon geschehene Auferstehung Christi und andererseits auf unsere zukünftige Auferweckung blicken und daher ihr Leben „in der neuen Wirklichkeit des Lebens" zu gestalten haben (vgl. Rom 7,6). „Die künftige Auferstehung will also" wie Günther Bornkamm formuliert - „schon jetzt im Wandel der von der Sünde Befreiten offenbar werden." 11 Das Leben derer, die auf Christus getauft und seiner Herrschaft unterstellt sind, steht daher ganz im Zeichen der Auferstehung, der Neuschöpfung, die das Alte endgültig vergangen sein läßt (2Kor 5,17). Das aber bedeutet: Im Gegensatz zu einer schwärmerischen Bewertung der Taufe, die sie als Unterpfand bereits geschehener Auferstehung und Gegenwart göttlicher Heilskraft versteht (vgl. 2Tim 2,18), betont Paulus, daß unsere Auferstehung noch vor uns liegt und erst bei der zukünftigen Auferstehung der Toten verwirklicht werden soll. Der Wandel der Christen ist deshalb von dem in Christi Sterben und Auf9 10 11

Vgl. O. Merk, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik (MThSt 5), Marburg 1968, 247f. Außer in der Bekenntnisformel IKor 15,3-5 wird nur hier in Rom 6,4 das Begräbnis Christi in den paulinischen Briefen erwähnt - ein sicheres Indiz, daß ein bewußter Bezug auf das vorgegebene gemeinchristliche Bekenntnis vorliegt. Vgl. G. Bornkamm, Taufe und neues Leben bei Paulus, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien (BEvTh 16), München 51966, 34-50, hier 38.

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erstehen gewonnenen Sieg über die Gewalten dieses Äons geleitet und vollzieht sich im Zeichen der noch ausstehenden Auferstehung der Toten. In einer Studie über /(Christologie und Ethik bei Paulus" hat Knut Backhaus diese grundsätzliche Orientierung ethischer Verantwortung der Christen treffend mit den Worten charakterisiert: „Christliches Ethos ist für Paulus von der Zukunft des Kyrios her bestimmt." 12 Der von den Toten auferweckte Christus hat den unwiderruflichen Sieg über den Tod errungen. Diesem Herrn haben die Seinen als diejenigen gehorsam zu sein, die mit ihm gestorben sind, mit ihm leben sollen und daher ihm als dem allein wahren Kyrios zu dienen haben. Aus der ihnen geschenkten Christuszugehörigkeit können die Glaubenden nur die eine Folgerung ziehen, daß der befreiende und verpflichtende Herrschaftswechsel bereits ein für allemal vollzogen ist.13 Der Bruch mit der Sünde ist darum endgültig und darf auch nicht im geringsten relativiert werden. Denn das Leben derer, die mit Christus verbunden sind, gehört ungeteilt dem in Christus Jesus offenbaren Gott.14 Daher können und dürfen Leib und Glieder nicht mehr als „Waffen der Ungerechtigkeit" der Sünde Knechtsdienst leisten, sondern sie haben als Waffen der Gerechtigkeit Gott zur Verfügung zu stehen.15 Hat der Apostel im 6. Kapitel des Römerbriefes eine sorgfältig bedachte Begründung für eine theologisch verantwortete Ethik gegeben, so leitet er dann die lange Folge sittlicher Ermahnungen, die in den Kapiteln 12-15 entfaltet wird, durch eine Überschrift ein, die er dem Ganzen voranstellt.16 Darin nimmt er unverkennbar auf die Ausfüh12 13

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15

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Vgl. K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge Hans Hübner zum 70. Geburtstag, Göttingen 2000, 9-31, hier 24f. Zum Verhältnis von Indikativ und Imperativ in der paulinischen Ethik vgl. W. Schräge, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 21989, 170-175 sowie zur Kritik U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 629-635; und ders., Die Begründung und Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS Otto Merk (MThSt 86), Marburg 2003,109-117. Vgl. Bornkamm, Taufe (s. Anm.ll), 47: „Das Geschehen, von dem wir herkommen, ist die Taufe, d.h. der Tod; gegenwärtig ist der Glaube, zukünftig ist das Leben. Im Glauben, der auf das Geschehene sich gründet und nach dem Kommenden sich streckt, sind Tod und Leben in einem präsent." Das Bild der geistlichen Waffenrüstung ist in den Schriften der Gemeinde von Qumran vielfach verwendet worden, um den Streit der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis zu beschreiben. Er muß ausgefochten werden, um nicht den Bedrohungen zu erliegen, die von der bösen Welt ausgehen, und dem Gesetz treu zu bleiben. Diese bildliche Rede wird von der urchristlichen Unterweisung aufgenommen, nun aber nicht auf den Gesetzesgehorsam, sondern auf den rechten Dienst der Christen bezogen, um die Verpflichtung zu einem Lebenswandel zu charakterisieren, die der erfahrenen Berufung entspricht. Zur Bestimmung von 12,lf. als einer „Überschrift des ethischen Hauptabschnittes" vgl. zuletzt Schnelle, Begründung (s. Anm. 13), 126f.

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rungen des 6. Kapitels Bezug, die vom leiblichen Gehorsam im Waffendienst der Gerechtigkeit handeln, und fordert nun seine Leser und Hörer auf, ihre Leiber - d.h. sich selbst in all ihrem Handeln und Tun darzubringen als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, als ihren vernünftigen Gottesdienst (12,1). Die beiden ersten Verse des 12. Kapitels haben in einem kurzen, aber inhaltlich gewichtigen Aufsatz von Ernst Käsemann eine eindrucksvolle Interpretation erfahren, in der er diese Worte grundsätzlicher Orientierung durch den Ausdruck „Gottesdienst im Alltag der Welt" treffend bezeichnet.17 Der Apostel bedient sich hier kultischer Begriffe - heilig, Opfer, Gottesdienst - , versteht sie aber in einem Sinn, der jede kultische Bedeutung weit hinter sich gelassen hat. Die Unterscheidung von heilig und profan, die man überall in der alten Welt auf das sorgfältigste beachtete, ist zerbrochen. Nicht vom Tempel und geweihten Ort ist die Rede, sondern von der ganzen Fülle menschlichen Lebens, in dem es den Einsatz leiblichen Handelns zu leisten gilt. Es gibt keinen heiligen Bezirk, der als solcher ausgegrenzt und mit besonderer Würde einer Weihe- und Opferstätte ausgezeichnet wäre. Die ganze Welt ist vielmehr der Ort, an dem die Christen ihren Gottesdienst im Alltag ihres Tuns verrichten. Darum sollen sie sich - so fährt Paulus fort - nicht der formenden Gewalt dieses Äons unterwerfen, sondern sich bestimmen lassen durch die Erneuerung ihres verstehenden Urteilens, die sich an ihnen vollzieht (12,2). Durch die nüchterne Sicht der Welt, wie sie sich dem Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus erschließt, wird die Fähigkeit zu kritischem Wägen und Prüfen geweckt und geschärft. Da der Apostel seine theologische Begründung einer verantwortlichen christlichen Ethik mit dem Appell an das kritische Urteilsvermögen der Glaubenden verbunden hat, konnte zur Konkretisierung eines gehorsamen Lebensvollzugs an vielen Stellen auf alttestamentlichjüdische oder hellenistisch-stoische Sätze und Traditionen zurückgegriffen werden, um zu übernehmen, was sich als brauchbar erweist. Die Auswahl aber, die bei der kritischen Musterung des breiten Überlieferungsbestandes getroffen wird, ist von der Frage geleitet, was Gottes Wille sei, das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene (12,2). Wie dieser Wille Gottes zu erkennen und zu bestimmen ist, steht keineswegs von vornherein und ein für allemal fest; sondern in der konkreten Begegnung mit den gegebenen Verhältnissen muß jeweils geprüft und entschieden werden, was das Vernünftige ist, das als Gottes Wille zu erkennen und zu tun ist.

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Vgl. E. Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt (I960), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964,198-204.

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Wie vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Orientierung christliche Ethik Gestalt gewinnt, veranschaulicht der Apostel in den weit ausholenden Ausführungen des Römerbriefs von Kapitel 12,3-15,13. Von ihnen ist nunmehr des näheren zu handeln.

II. Was bedeutet die Botschaft des Evangeliums für die Lebensführung der Glaubenden? Der Apostel beantwortet diese Frage zunächst in den Kapiteln 12 und 13, indem er in einer langen Folge mancherlei Mahnungen und Anweisungen zusammenfügt, die man vielfach als allgemeine Paränese - d.h. allgemeine sittliche Unterweisung - zu bezeichnen pflegt. Daran schließt sich dann eine spezielle Paränese an, die in einem längeren Gedankengang in Kap. 14,1-15,13 darlegt, wie sich die sog. Starken und sog. Schwachen im Zusammenleben der einen christlichen Gemeinde von Juden und Heiden zu verhalten haben. In den Synagogen galt die Thora als kritische Norm, mit deren Hilfe über Aufnahme oder Veränderung überkommener ethischer Sätze zu befinden war. Karl-Wilhelm Niebuhr verdanken wir eine eingehende Analyse einschlägiger jüdischer Texte aus der Zeit der Spätantike, die er in seiner Monographie „Gesetz und Paränese" vorgenommen hat.18 Darin wird an markanten Beispielen aufgezeigt, auf welche Weise synagogale Unterweisung durch reihenartig aufgeführte ethische Weisungen darzulegen wußte, wie Gehorsam gegen das Gesetz als positive Norm für rechtes Handeln im Alltag zu gestalten ist. Denn durchweg gilt: „Das Gesetz ist Ausdruck des Gotteswillens für die praktische Lebensführung. "19 Diese Perspektive aber konnte für die Christenheit keine Gültigkeit mehr haben. Im gesamten paränetischen Teil des Römerbriefs wird der Begriff νόμος nur im kurzen Abschnitt 13,8.10 genannt, um die Liebe als Erfüllung des Gesetzes zu bezeichnen. In der speziellen Paränese dagegen wird nirgendwo auf das Gesetz Bezug genommen. Da Paulus in aller Deutlichkeit erklärt hatte, Christus sei des Gesetzes Ende (10,4), mußte er vom Evangelium ausgehen, um den gebotenen Wandel der Glaubenden zu beschreiben. Für ihr Verhalten ist nun nicht mehr eine kasuistische Beschreibung des jeweiligen Verhaltens maßgebend. Sondern es wird beispielhaft dargelegt, wie würdiger Wandel im Herrn zu vollziehen ist, indem vorgegebene Uberlieferungen kritisch gemustert 18 19

K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese. Katechismusartige Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur (WUNT II, 28), Tübingen 1987. Ebd., 241.

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werden. Dabei wird kein neues Gesetz aufgerichtet, das in Hinsicht auf einzelne Fälle ausgelegt werden müßte, indem das Muster der Argumentation von der einen oder anderen Gegebenheit ausgehen würde: „Wenn es sich so und so verhält, dann muß diese oder jene Schlußfolgerung gezogen werden." Die christliche Ermahnung will nicht zu einer Gerechtigkeit aus Werken anhalten, sondern die rechte Richtung für das Verhalten der Glaubenden angeben, die sie beharrlich, geduldig und beständig verfolgen sollen. Dabei schärft das Bekenntnis zu Christus als dem Kyrios die sachbezogene Urteilsfähigkeit, um angesichts der Fülle von Traditionen, hergebrachten Weisungen und Forderungen des Tages prüfen und entscheiden zu können, was als göttliches Gebot zu erkennen und zu tun ist. Seit Martin Dibelius in seinen grundlegenden Untersuchungen zur Formgeschichte des Neuen Testaments die Gattung der Paränese in eingehenden Untersuchungen beschrieben und aufgezeigt hatte, daß sie in großem Umfang ethische Weisungen aus der Umwelt der frühen Christenheit aufnahm20, ist verschiedentlich die vereinfachende Folgerung gezogen worden, in der urchristlichen sittlichen Unterweisung seien die konkreten Inhalte durch vorgegebene Überlieferung bestimmt, spezifisch christlich aber sei allein die grundsätzliche Motivation. Doch - wie noch an einigen Beispielen zu zeigen ist - trifft diese Beurteilung nur teilweise zu. Gewiß werden in größerem Umfang Traditionen aufgenommen, doch werden ihnen auch spezifisch christliche Weisungen an die Seite gestellt, die unmittelbar als Konsequenzen beschrieben werden, die aus dem Zuspruch der Christusbotschaft zu ziehen sind.21 Im Römerbrief handelt der Apostel zu Anfang der langen Kette seiner die Ethik betreffenden Ausführungen vom Zusammenleben und Zusammenwirken aller Glieder im einen Leib. Wenngleich die einzelnen Abschnitte in den Kapiteln 12,1-15,13 nur locker aneinandergefügt sind, so dürfte es doch bezeichnend sein, daß Paulus nicht mit individualethischen Weisungen, sondern mit einer Besinnung über die Gemeinschaft der Christen unter- und miteinander beginnt. Zuerst wird eine allgemeingültige These vorangestellt, für deren Begründung Paulus sich auf seine apostolische Autorität beruft. Will er doch nicht unverbindliche Ratschläge erteilen, sondern Anweisungen - Paraklese im Sinn tröstenden Zuspruchs und mahnender Aufforderung - geben, die 20

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Vgl. insbesondere M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1919 5 1 9 6 6 ; ders., An die Thessalonicher I.II; an die Philipper (HNT 11), Tübingen 1911 31937; ders., An die Kolosser, Epheser, an Philemon (HNT 12), Tübingen 1912 3 1953; ders., Der Brief des Jakobus (KEK 15), Göttingen 1921 "1959. Sorgfältige Differenzierung zeigt auf: W. Schräge, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961.

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zu befolgen sind. Denn für jeden gilt, „nicht über das hinaus zu sinnen, was zu sinnen sich gebührt, vielmehr darauf zu sinnen, besonnen zu sein - wie Gott einem jeden zugeteilt hat, nach dem Maß des Glaubens" (12,3) - eine kleine christliche Meditation über den Begriff der σωφροσύνη, die Besonnenheit, die Aristoteles bekanntlich zu den vier Kardinaltugenden zählt (Eth. Nie. 1117 b 13). Jeder einzelne Christ wird als Glied des Leibes, d.h. der Gemeinschaft angesprochen, der er angehört und zu dienen hat. Nachdem Paulus darauf hingewiesen hat, daß ein jeder seine unvertauschbare Funktion auszuüben hat, kann der Apostel sogleich zur Anwendung übergehen, die aus dem Bild zu gewinnen ist. Sie lautet, daß die vielen ein Leib sind in Christus. Vielfalt ist somit auf die Einheit bezogen, die durch die Christuszugehörigkeit begründet ist (12,3-8). Es hat nicht den Anschein, daß Paulus sich mit diesen Ausführungen etwa gegen bestimmte problematische Erscheinungen wenden wollte, die in Rom eingetreten sein könnten. Vielmehr spricht er in grundsätzlicher Argumentation, indem er einen Vergleich aufgreift, der in der spätantiken Popularphilosophie des öfteren herangezogen wird. Indem das Verhältnis der vielen Glieder zum einen Leib bedacht wird, läßt sich aufzeigen, in welcher Weise legitime Vielfalt im Gemeinwesen auf dessen Einheit bezogen werden soll.22 Die popularphilosophische Überlieferung, die der Apostel hier aufgreift, dürfte ihm über das Zwischenglied der hellenistischen Synagoge zugekommen sein. Im hellenistischen Judentum war man darum bemüht darzutun, daß ein von der Vernunft geleitetes Leben sich durchaus mit den Weisungen der Thora in Einklang befinde, so daß man sich bei der Auslegung des Gesetzes vielfach allgemein anerkannter Ansichten bedienen konnte, die die hellenistisch-römische Umwelt im Blick auf verantwortliche Lebensführung entwickelt hatte. Von der Anwendung des eben genannten Bildes geht Paulus zu einem neuen Abschnitt über, in dem unterschiedliche Traditionen zusammengebunden sind: Sätze alttestamentlich-jüdischer Weisheit sowie popularphilosophische Weisungen sind mit einigen Sprüchen verbunden, die unverkennbare Anklänge an einzelne Herrenworte aufweisen: „Segnet, die euch verfolgen; segnet und verflucht nicht" (12,14). „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem" (12,17). Und: „Rächt euch nicht selbst, Geliebte" (12,19). Diese Sätze rühren nicht aus der 22

Vgl. hierzu die berühmte Fabel des Menenius Agrippa (Livius, ab urbe condita II 32,8-12), durch die der sich empörenden Plebs klar gemacht wird, daß die Gemeinschaft aller nur dann bestehen kann, wenn jedes Glied am einen Leib die ihm übertragene Aufgabe an dem ihm zugewiesenen Ort erfüllt. Weitere Belege in: G. Strecker/U. Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein II, 1, Berlin/New York 1996, 185-187.

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Umwelt her, sondern lassen spezifisch christlichen Charakter erkennen. Vergleichbare Logien finden sich in den synoptischen Evangelien, die jedoch erst später als der Römerbrief aufgezeichnet worden sind.23 Vermutlich sind sie aus mündlicher Überlieferung der frühen Christenheit aufgenommen worden, die bereits fester geprägte Zusammenhänge katechismusartiger Unterweisung ausgebildet haben wird. Denkbar wäre freilich auch ein umgekehrter Weg urchristlicher paränetischer Tradition: daß anerkannte Sätze ethischer Belehrung zu Herrenworten erhoben sein könnten, um ihnen auf diese Weise unbestreitbare Autorität zu verleihen. Denn einem Wort des Kyrios eignet bindende Verpflichtung - mag es auf den historischen Jesus oder auf den erhöhten Herrn zurückzuführen sein. Die Reihe der in Rom 12 aneinandergelegten Mahnungen zeigt somit in aller Deutlichkeit, daß neben traditionelle Wendungen auch Logien gestellt wurden, die in der mündlichen Uberlieferung als Herrenworte weitergegeben werden und somit ohne Zweifel genuin christlichen Charakter tragen. Die theologische Begründung, die christlicher Ethik sowohl im 6. Kapitel sowie zu Anfang des 12. Kapitels im Römerbrief gegeben wird, eröffnet Recht und Freiheit zu sorgfältiger Musterung und Entscheidung, wo und wie Regeln aus der Umwelt übernommen werden sollen. Auf diese Weise zogen sich die kleinen urchristlichen Gemeinden nicht etwa aus ihrer Umgebung zurück, sondern konnten sich von Anfang an zu besonnenem und vernünftigem Handeln in der spätantiken Welt ermutigen. Von schlechthin bestimmender Bedeutung für ein spezifisch christliches Verständnis ethisch verantwortlicher Lebensgestaltung ist die entschiedene Betonung des Liebesgebots, wie sie in der paulinischen Paränese erfolgt. Der Apostel stellt darum der langen Kette von Einzelmahnungen den Satz voran, daß die Liebe ohne Heuchelei zu sein habe (12,9), und hebt am Schluß seiner allgemeinen Paränese zu Ende des 13. Kapitels noch einmal die über alles andere hinausgehende Verpflichtung hervor, einander zu lieben (13,8). „Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt", so daß die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist (13, 10). Thomas Söding spricht daher in seiner Untersuchung über „Das Liebesgebot bei Paulus"24 von der „alles überragenden Bedeutung der Nächstenliebe"25 und weist mit Recht darauf hin, daß Paulus „die 23

24 25

Vgl. P. Stuhlmacher, Jesustradition im Römerbrief?, ThBeitr 14 (1983) 240-250; J. Sauer, Traditionsgeschichtliche Erwägungen zu den synoptischen und paulinischen Aussagen über Feindesliebe und Wiedervergeltungsverzicht, ZNW 76 (1985) 1-28; N. Walter, Paulus und die urchristliche Jesustradition, NTS 31 (1985) 498-522. Vgl. hierzu vor allem Th. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik (NTA.NF 26), Münster Westf. 1995. Ebd., 256.

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überragende Bedeutung der Agape dadurch" unterstreicht, „daß er sie als Erfüllung des Gesetzes erklärt".26 „Denn" - so argumentiert der Apostel - „das Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht begehren, und welches Gebot es sonst gibt - das ist in diesem Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"(13,9). Urchristliche ethische Unterweisung, wie Paulus sie aufgreift und erläutert, bezieht sich somit auf das Liebesgebot, wie es in Ansätzen bereits im zeitgenössischen Judentum verschiedentlich anzutreffen ist, jedoch in der Verkündigung Jesu seinen entschiedensten Ausdruck gefunden hat. Die Liebe hat daher - um es mit Wolfgang Schräges Ethik des Neues Testaments zu sagen27 - als „das schlechthin maßgebende Kriterium der paulinischen Ethik" zu gelten.28 Unter diesem Vorzeichen des uneingeschränkt gültigen Liebesgebotes ist auch der viel diskutierte Abschnitt zu sehen, in dem der Apostel vom Verhalten der Christen gegenüber den staatlichen Behörden handelt. Darin führt er aus, jedermann - und daher auch die Christen habe sich übergeordneten Gewalten unterzuordnen (13,1-7). Durch diese Haltung wird Gottes gute Ordnung geehrt und dem friedlichen Zusammenleben der Menschen gedient. Seit langem hat die Aufmerksamkeit der Exegeten die nüchterne Sachlichkeit dieses Abschnittes hervorgehoben, in der diese Sätze gehalten sind. In ihnen fehlt jede Bezugnahme auf Christus. Immer wieder hat man daher versucht, den harten Brocken dieser Verse beiseite zu schieben, indem man sie als einen Fremdkörper innerhalb der paulinischen Ethik oder aber als einen später hinzugefügten nachträglichen Einschub meinte beurteilen zu dürfen. So hat erst kürzlich Eugen Biser in seiner Paulusdarstellung die Ansicht vertreten, dieses Plädoyer „für staatskonformes Verhalten" zerreiße den ursprünglichen Gesamtzusammenhang des Römerbriefs und sei als ein späterer Einschub anzusehen.29 Doch die handschriftliche Überlieferung bietet keinerlei Anhaltspunkt, der diese kritische Hypothese stützen könnte, so daß man die Probleme, die dieser Abschnitt aufgibt, nicht auf so einfache Weise forträumen könnte. Der Apostel greift - wie eine genauere Analyse des Abschnitts zeigt - eine Unterweisung auf, wie sie durch die hellenistische Synagoge ausgebildet worden ist, und fügt sie in die Reihe seiner Ermahnungen 26 27 28 29

Ebd., 265. Vgl. W. Schräge, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 21989, 219. Vgl. auch Schnelle, Begründung (s. Anm. 13), 131: „Die Liebe ist die Norm der paulinischen Sinngestaltung." Vgl. E. Biser, Der unbekannte Paulus, Düsseldorf 2003, 91.

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ein. Die unaufgeregte Nüchternheit, in der gerade diese Verse gehalten sind, führt in klaren Worten aus, daß die Christen genauso wie alle anderen Bürger sich gegenüber den staatlichen Behörden korrekt zu verhalten und die ihnen aufgegebenen Pflichten zu erfüllen haben. Ernst Käsemann betont daher zutreffend: „Auch der Gehorsam gegen die irdische Obrigkeit" werde „von Paulus als ein Stück des christlichen Gottesdienstes in der Profanität betrachtet."30 Paulus bedient sich in seinen Ausführungen der Gesichtspunkte, die ihm die hellenistische Synagoge vorgegeben hat. Denen, die politische Verantwortung tragen, ist ihre Herrschaft von Gott gegeben, der fragen wird, „wie sie handeln, und forschen, was sie ordnen" (Sap. Sal. 6,3). Die synagogale Unterweisung hält dazu an, für die Regierung zu beten. „Denn" - so sagte R. Chananja (um 70 n. Chr.) - „wenn es keine Furcht vor ihr gäbe, hätten wir einander lebendig verschlungen" (Pirqe Abot 111,2). Die Ermahnung, wie sie der Apostel im Rückgriff auf Tradition ausführt, entfaltet keine allgemeine Lehre vom gerechten Staat, sondern ist als paränetische Weisung an die Glaubenden gerichtet. Dabei wird nicht auf eine bestimmte Situation in der römischen Christenheit oder - wie verschiedentlich vermutet wurde31 - enthusiastische Bestrebungen angespielt, die sich leichtfertig über die Gegebenheiten des Alltags hätten hinwegsetzen wollen; sondern es wird ausgeführt, was schlechthin als Regel gilt, nach der Christen sich in ihrem Verhalten gegenüber staatlichen Behörden als gute Bürger zu erweisen haben. Die Betrachtung der ethischen Belehrung, wie sie in den Kapiteln 12 und 13 des Römerbriefs entfaltet ist, führt somit zu dem Ergebnis, daß der Apostel weder konkrete Fragestellungen, wie sie sich in Rom herausgebildet haben könnten, aufgreift, noch eine gesetzlich begründete ethische Belehrung bietet. Vielmehr soll die Folge von apodiktisch formulierten Exempeln, die auf reiche Erfahrung gegründet sind, Orientierungshilfe bieten, nach der jeweils im prüfenden Bedenken zu entscheiden ist, was der konkrete Wille Gottes fordert (vgl. 12,2). Der grundsätzliche Charakter des Gedankengangs beansprucht Gültigkeit zu jeder Zeit und an jedem Ort. Da alle Gebote, die aufgeführt werden, als Ausdruck des einen Gebotes der Liebe zu begreifen sind, wird in ihnen stets die eine Forderung laut, sich von der Selbstsucht abzukehren und dem Nächsten in der Liebe zuzuwenden. Was jeweils im einzelnen zu tun bzw. zu lassen ist, wird nicht durch kasuistische Interpretation eines vorgegebenen Gesetzes, sondern in der schöpferischen 30 31

Vgl. E. Käsemann, Grundsätzliches zur Interpretation von Römer 13 (1961), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 204-222, hier 207. So mit anderen vor allem E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 31974, 346f.

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Kraft der Liebe begriffen, die zu erkennen vermag, was der andere nötig hat. Die katechismusartige Aufreihung zahlreicher einzelner Mahnungen, die zu prüfendem Wägen und gehorsamer Entscheidung beispielhafte Anschauung bietet, erhält in 13,11-14 eine Art Unterschrift, die auf die Überschrift in 12,lf. Bezug nimmt und einen gewissen zusammenfassenden Abschluß markiert.32 „Und dies" - so leitet der Apostel sein Schlußwort ein und versteht bei seiner knappen Ausdrucksweise den Gedanken so, daß ein Imperativ „tut" zu ergänzen ist. Das Handeln der Glaubenden ist von einer bestimmten Erkenntnis geleitet, die den eschatologischen καιρός betrifft. Es ist - so wird der Inhalt dieser Einsicht charakterisiert - die Stunde da, vom Schlaf aufzustehen.33 Als Erklärung fügt Paulus - nun in der 1. Person Plural redend den Satz hinzu: Unsere Rettung ist näher als zu der Zeit, als wir gläubig wurden, d.h. der Botschaft des Evangeliums glaubend zustimmten und sie annahmen. Das rettende Heil bezieht sich, wo immer der Apostel diesen Begriff verwendet (vgl. 1,16; 10,1.10; 11,11; 2Kor 1,6; 6,2; 7,10 u.ö.), auf die Rettung am Ende der Tage. Diesem Ziel - das soll betont werden - sind wir, Paulus und die Adressaten des Römerbriefes, eine erhebliche Wegstrecke näher gekommen: unverkennbar eine kraftvolle Aussage starker Naherwartung. Diese Aussage enthält aber nicht nur eine zeitliche Komponente, sondern gründet in der Gewißheit, daß das eschatologische Geschehen schon angehoben und heilende Rettung bereits in unser Leben eingegriffen hat (8,24). Der Wandel, den die Christen im Zeichen der Auferstehung vollziehen, steht darum immer unter eschatologischem Vorzeichen, weil sie dem alten Aon bereits entrissen sind und sich deshalb seiner formenden Gewalt zu entziehen haben (12,2). Der Blick der Glaubenden ist darum nach vorn gerichtet auf die kommende Vollendung. Die Einsicht, daß die Nacht vorgerückt und der Anbruch des Tages nahe gekommen ist (13,12), verlangt, daß in der Lebensgestaltung der Christen eine entsprechende Konsequenz zu ziehen ist: Die Werke der Finsternis abzulegen und die Waffen des Lichtes anzulegen. Mit dieser Aufforderung wird - wie deutlich zu erkennen ist - wieder auf das in Kap.6 aufgenommene Motiv der geistlichen Waffenrüstung zurückgegriffen (6,13). Es gilt, die bereits getroffene Entscheidung zu vollziehen 32

33

Zum Abschnitt vgl. bes. A. Vögtle, Rom 13,11-14 und die Nah-Erwartung, in: ders., Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte. Neutestamentliche Beiträge, Freiburg 1985, 191-204; ders., Paraklese und Eschatologie nach Rom 13,11-14, in: ebd., 205-217. Das Bild vom Ende des Schlafs und der Stunde des Erwachens dient auch IThess 5,6 zur Aufforderung, nicht zu schlafen, sondern nüchtern zu sein, weil es Tag und nicht Nacht ist.

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das Ablegen des alten und das Anziehen des neuen Menschen das aber heißt: Der Christ wird an die in der Taufe bereits gefallene Entscheidung erinnert (vgl. 6,3 f) und aufgerufen, diese Entscheidung seinerseits zu realisieren und seinen gehorsamen Wandel im Zeichen der Auferstehung zu gestalten.

III. Hatte der Apostel in der allgemeinen Paränese, wie er sie in den Kapiteln 12 und 13 ausgeführt hat, sittliche Unterweisung in Sätze gefaßt, die unter Aufnahme vorgegebener Uberlieferungen allgemein gültige Regeln beschreiben, so setzt er mit dem Beginn von Kap. 14 neu ein und geht zur speziellen Paränese über. Diese bezieht sich nicht mehr auf überkommene Traditionen, sondern entfaltet nun spezifisch christliche Ethik, wie sie für das Zusammenleben in der einen Christenheit zu gelten hat. Nicht in kurzen Sätzen wie in den Kapiteln 12 und 13, sondern in weit ausholenden Ausführungen handelt Paulus nun von der bindenden Verpflichtung, daß alle Christen - auch bei nicht übereinstimmenden Ansichten oder verschiedener Herkunft - im Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Christus zusammenstehen und einmütig das Lob Gottes anstimmen sollen. Wie sollen Christen, die im Blick auf die Lebensführung unterschiedlich urteilen, miteinander auskommen, einander respektieren und einmütig das Gotteslob bezeugen? (14,1-15,13) Mag man die einen als schwach (im Glauben) bezeichnen, so stehen ihnen die anderen als wirklich oder auch nur vermeintlich - Starke gegenüber. Statt sich in streitige Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen, sollen sie fähig werden, einander zu achten, trotz nicht zu leugnender Verschiedenheiten einander annehmen und die Vielfalt möglicher Einstellungen auf die Einheit beziehen, wie sie im Bekenntnis zu Christus als dem Kyrios vorgegeben ist. Nicht nur in formaler Hinsicht unterscheidet sich die eingehende Argumentation von den beiden vorangegangenen Kapiteln, sondern auch ihrem Inhalt nach kommt nun ein spezifisch christliches Verständnis der Ethik zur Sprache, das des näheren erläutert wird. Der Apostel fordert seine Leser mit starkem Nachdruck dazu auf, sich der im Glauben Schwachen anzunehmen. 34 Dabei spricht er eine Charakterisierung aus, wie sie solchen Gliedern der frühen Christenheit beigelegt wurde, die sich nicht dazu bereit finden konnten, auf eine bestimmte asketische Verhaltsweise zu verzichten. Sie können sich 34

Der Singular in 14,1 ist in generischem Sinn zu verstehen.

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nicht dazu entschließen, sich über verschiedene Vorschriften hinwegzusetzen, die den Genuß von Speise und Trank betreffen. Während die einen keine Bedenken tragen, alles zu essen und zu trinken, sehen sich die anderen gehalten, nur Gemüse zur Speise zu nehmen. Doch damit nicht genug; sie achten auch darauf, bestimmte Tage durch sorgsame Beachtung auszuzeichnen (14,5). Und über die strikte Meidung von Fleischgenuß hinaus lehnen sie auch jeden Tropfen Weines ab (14,21). Um was für Leute könnte es sich dabei gehandelt haben? Obwohl zu bedenken ist, die Interpretation dieser Aussagen habe wie Ernst Käsemann in seinem Kommentar zum Römerbrief mit Recht fordert - „mit der gleichen Behutsamkeit zu verfahren, welche hier die Argumentation des Apostels bestimmt und ihn in Anspielungen sich äußern läßt"35, wird in den meisten Kommentaren - so auch von Ernst Käsemann - die Ansicht vertreten, daß Paulus Praktiken vor Augen habe, die innerhalb der römischen Christenheit von einem Teil ihrer Mitglieder eingehalten wurden. 36 Dabei werde vorausgesetzt, in Rom hätten sich zwei Gruppen gegenübergestanden, auf der einen Seite Anhänger einer freiheitlich-paulinischen Anschauung, auf der anderen Seite aber Vertreter gesetzlich-asketischer Ansichten.37 An diese Erklärung werden dann vielfach weitergehende Vermutungen geknüpft: Hatten nach Erlaß des sog. Juden-Edikts des Kaisers Claudius38 die meisten Judenchristen Rom verlassen müssen, so sei es ihnen nach dem Tod des Kaisers, durch den die von ihm ergangene Verfügung zunichte wurde, freigestellt worden, wieder in die Stadt zurückzukehren. Dadurch sei es dann zu Spannungen gekommen zwischen der heidenchristlichen Mehrheit, wie sie sich in der Zwischenzeit herausgebildet habe, und den sich wieder einfindenden Judenchristen. Während manche von diesen sich nach einer weiterhin gesetzlich orientierten Lebensweise verhielten, hätten die Heidenchristen, die eine freiere Position einnahmen, diesem Verhalten kein Verständnis entgegenbringen können, da sie sich im Sinn des Apostels Paulus zur Freiheit vom Gesetz berufen wußten. In seinem Brief habe daher Paulus die Christen in Rom auf konkrete Spannungen innerhalb ihrer Gemeinschaft angesprochen, in denen sie Gefahr liefen, der Liebe zuwiderzuhandeln.39 35 36 37 38 39

Vgl. Käsemann, Rom (s. Anm. 31), 353. Ebd. Vgl. P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer NTD 6), Göttingen 1989,195. Sueton, Vita Claudii 25. Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer III (EKK 6/3), Neukirchen-Vluyn 1982, 79. Vgl. ders., Über Abfassungszweck und Aufbau des Römerbriefes, in: ders., Rechtfertigung als Freiheit. Paulusstudien, Neukirchen-Vluyn 1974, 110-170, hier 169: Paulus wende sich „an die römische Gemeinde, um in die Spannungen zwischen den dortigen Heiden- und Judenchristen einzugreifen".

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Für die Interpretation des seelsorgerlichen Zuspruchs, mit dem der Apostel sich an die Christen in Rom wendet, bietet sich ein Vergleich mit seinen Ausführungen IKor 8-10 an, die eine nicht geringe Zahl ähnlicher Wendungen aufweisen, so z.B.40: Hier wie dort geht es um eine Gegenüberstellung von Schwachen und Starken. Ebenso wie die Christen in Korinth werden die in Rom dazu angehalten, dem Bruder keinen Anstoß zu bereiten, sondern auf seine Vorbehalte Rücksicht zu nehmen. Die Mahnung zielt an beiden Stellen darauf, sich so zu verhalten, daß der Auferbauung der Gemeinde gedient wird. Vermeintliche Unreinheit haftet nicht bestimmten Dingen an, sondern besteht nur im Urteil der schwachen Brüder, denen in der Liebe Christi zu begegnen ist. Die besondere Situation, wie sie in Korinth gegeben ist, läßt sich noch genauer bestimmen, wenn auch die Unterschiede beachtet werden, die zwischen der Argumentation des einen wie des anderen Briefes bestehen. Zwar geht es im IKorintherbrief wie auch im Römerbrief um die Frage etwaigen Verzichts, den die Starken um der Liebe willen zu leisten haben. Wichtige Stichworte, die im Brief an die Korinther eine Rolle spielen, fehlen jedoch in Rom 14/15, so Begriffe wie „Erkenntnis", „Gewissen", „Vollmacht", „Freiheit" u. a. Ist die Haltung der Starken in Korinth durch Überschwang hochfahrender Erkenntnis bedingt, in der sie die Skrupel der anderen einfach mißachten, so ist im Römerbrief die Aufmerksamkeit von Anfang an auf diejenigen gerichtet, die als schwach im Glauben gelten. Zwar stehen hier wie dort christliches Freiheitsbewußtsein auf der einen und besorgte Skrupulosität auf der anderen Seite einander gegenüber und wird an beiden Stellen dazu angehalten, behutsam mit den angefochtenen, schwachen Brüdern umzugehen. Ursachen und Gründe, die deren Besorgnis jeweils bestimmen, bleiben jedoch unterschiedlich. Stellt im IKorintherbrief die Frage, ob man Fleisch, das in heidnischen Tempeln geschlachtet wurde und daher mit Götzendienst in Verbindung geriet, essen darf oder zu meiden hat, das strittige Problem dar, so ist im Römerbrief keine Rede von Götzenopferfleisch, sondern geht es um das Problem, ob man als unrein geltende Speisen zu meiden und bestimmte Tage besonders zu achten hat oder nicht. Während deutlich zu erkennen ist, daß die Überlegungen, die der Apostel IKor 8-10 anstellt, auf eine konkrete Situation zielen, ist zu prüfen, ob im Römerbrief auch auf eine Lage unter den Empfängern des Briefes Bezug genommen wird, die sich genauer beschreiben ließe.41 40 41

Vgl. die Aufstellung bei Wilckens, Rom III (s. Anm. 39), 115. Manche Exegeten lassen ihre Phantasie spielen und versuchen, zwei oder sogar mehrere voneinander unterschiedene Gruppen in Rom auszumachen. So meint F.

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Aus den Angaben, die der Apostel in Rom 14 macht, ist zu ersehen, daß die Schwachen grundsätzlich Fleischgenuß meiden, nur Gemüse essen (14,2f.) und darüber hinaus keinen Wein trinken (14,21). Hinzu kommt, daß sie auf die Bewertung der Tage achten und die einen vor den anderen bevorzugen (14,5f.). Diese Charakterisierung ist im Unterschied zu IKor 8-10 recht allgemein gehalten. Weder weist Paulus auf das Gesetz Israels hin, noch nennt er den Sabbath. Zwar werden am Ende des Gedankengangs in Rom 15,7-13 Juden- und Heidenchristen als Glieder des einen Gottesvolkes angesprochen. Aber diese Gegenüberstellung darf nicht vorschnell mit der Unterscheidung von Schwachen und Starken gleichgesetzt werden. Paulus zählt sich als bewußter Judenchrist, der er ist und bleibt (vgl. Rom 11,1), unmißverständlich zu den Starken (15,1). Anders als im Galaterbrief, in dem er mit scharfer Entschiedenheit gegen Judaisten polemisiert, argumentiert er hier überaus vorsichtig und hält zu gegenseitiger Rücksichtnahme an, die er niemals jenen Lehrern zugestanden hätte, die unter dem Gesetz Rettung und Heil erlangen möchten. Zwar könnte die Tagewählerei dahin verstanden werden, daß man - wie in Galatien - Tage, Monate, Jahreszeiten und Jahre beachten wollte (Gal 4,10), so daß der Hinweis auf den Sabbath sowie den jüdischen Festkalender zu beziehen wäre. Doch die Bemerkung in Rom 14,5f. muß sich nicht unbedingt auf den Sabbath richten. Sie ließe sich auch mit manchen in der Spätantike verbreiteten Praktiken in Verbindung bringen, mit denen man den Lauf der Gestirne aufmerksam betrachtete und mithilfe astrologischer Beobachtungen Glück verheißende Zeiten von Tagen zu unterscheiden suchte, von denen schädliche Wirkung zu erwarten sein könnte. Weder in der Thora noch in jüdischer Gesetzesunterweisung werden asketische Forderungen erhoben, die mit bindender Verpflichtung zu befolgen wären. Der Sabbath ist als Tag des Herrn zu achten, und die Regeln sind einzuhalten, die Speise und Trank angehen. Doch werden nirgendwo Fleischgenuß oder Trinken von Wein grundsätzlich Watson, The two Roman Congregations: Romans 14:1-15:13, in: Κ. P. Donfried (Hg.), The Romans Debate, Peabody/Mass. 21991, 203-215, zwei voneinander unterschiedene Gemeinden in Rom ausmachen zu können. Paulus müsse sich mit zwei Gemeinden auseinandersetzen, „separated by mutual hostility and suspicion over the question of the law, which he wishes to bring together into one congregation" (206). Und P. Minear, The Obedience of faith. The purposes of Paul in the Epistle to the Romans, London 1971 möchte sogar bis zu fünf verschiedene Gruppen in Rom annehmen: zunächst die Schwachen, die die Starken verurteilen, und auf der anderen Seite die Starken, die sich entsprechend gegenüber den Schwachen verhalten; sodann einige Leute, die unentschieden in der Mitte stehen; und schließlich diejenigen, die die Starken nicht verurteilen, und die anderen, die dieses nicht gegenüber den Schwachen tun.

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untersagt. Um zwischen „rein" und „unrein" die rechte Unterscheidung zu wahren, konnte in kritischen Situationen, wie sie sich in heidnischer Umgebung einstellen konnten, gänzlich darauf verzichtet werden, Fleisch, das unrein sein könnte, und Wein zu sich zu nehmen, der mit Trankopfern in Berührung gekommen sein könnte, die Götzen dargebracht wurden. 42 Mochte solche Verhaltensweise für besonders schwierige Situationen gelten, um böswilligen Verleumdungen durch Ungläubige zu entgehen, so werden Empfehlungen dieser Art doch nirgendwo zu allgemein gültigen Regeln erhoben, die eine asketische Lebensweise schlechthin fordern würden. In Israel wurden vielmehr Gottes gute Gaben mit Dank gegen den Schöpfer aller Dinge entgegengenommen; über die Früchte des Feldes wurde ebenso wie über koscherem Fleisch sowie dem Gewächs des Weinstocks das übliche Gebet gesprochen, das die Güte Gottes ehrt und preist. Anders aber waren die Verhältnisse in der synkretistischen Welt der hellenistisch-römischen Gesellschaft. Astrologischer Aberglaube war weit verbreitet und ließ viele Menschen als schädlich oder aber als günstig betrachtete Zeit in scheuer Ehrfurcht ermitteln und beachten.43 Manche Leute, „die einen Sinn für Mäßigung" hatten, enthielten sich bestimmter Speisen, um „mit höchstem Genuß grünes Gemüse und Bauernfrüchte als Nebengericht zu essen".44 Wurde vielfach angeraten, sich von Ausschweifungen fernzuhalten und diszipliniert zu leben, so konnte dabei besonders betont werden, man solle Alkohol meiden und Gaumen und Bauch in ihre Grenzen weisen.45 Nach dem Vorbild ihres Meisters befleißigten sich die Pythagoreer einer asketischen Lebensweise: es gebe doch genug Lebensmittel ohne Blut. Pythagoras habe gelehrt, „es bestehe Verwandtschaft aller Lebewesen mit allen und ein Austausch der Seelen, weil sie bald in diese, bald in jene Körper eingingen".46 Diese Einsicht hatte zur Folge, sich „tierischer Nahrung zu enthalten".47 Zu diesen religionsgeschichtlichen Vorgaben48 könnten sich die knappen Andeutungen, die der Apostel in Rom 14 macht, durchaus fügen, so daß seine Angaben nicht notwendig auf jüdische Voraussetzungen bezogen werden müßten. Wieweit jedoch an synkretistische 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. Dan. 1,8-17; Tob. l,llf.; 2. Makk. 5,27; Josephus, Vita 3,14f.; Philo, Vit. Cont. 14 u.ö. Belege in: Strecker/Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein (s. Anm. 22), 212-214. So Philo, Provid 11,70; weitere Belege in: Neuer Wettstein 11,1, 212-214. So Seneca, Epist. 108,14f.; vgl. Neuer Wettstein 11,1, 213f. Seneca, ebd. 108,19. Seneca, ebd. 108,22. Weitere Angaben zu Übung und Motivation des Vegetarismus in der antiken Religionsgeschichte und Philosophie vgl. G. Bornkamm, ThWNT IV, 67.

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Vorstellungen und Praktiken der hellenistisch-römischen Umwelt zu denken sein könnte, bleibt unklar, da die gegebenen Hinweise zu allgemein gehalten sind. Welche Folgerungen sind aus der Betrachtung der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen von Rom 14 zu ziehen? Der Apostel setzt in seinen Ausführungen über rechte Lebensgestaltung der Christen sofort mit der Mahnung ein, den im Glauben Schwachen anzunehmen und sich nicht auf Streitereien über unterschiedliche Meinungen einzulassen (14,1). Erst dann schließen sich erläuternde Hinweise an, die am Beispiel vegetarischer Speiseregeln, der Tagewählerei sowie der Enthaltung von Fleisch und Wein verdeutlichen, in welchen Hinsichten davon gesprochen werden kann, einzelne Christen verhielten sich so, daß sie als schwach im Glauben bezeichnet werden könnten. Dieser Charakterisierung wird dann gegenübergestellt, wie sich diejenigen, die sich zu den Starken zählen, verhalten sollen: sorgfältig abwägendes Urteil und liebevolle Rücksichtsnahme, um miteinander in Wort und Tat das Lob Gottes anzustimmen und zu bezeugen. Anders als in der Auseinandersetzung um das Problem des sog. Götzenopferfleischs bezieht sich der Apostel in Rom 14 weder auf Anfragen, die schriftlich oder mündlich ihm zugegangen sein könnten (vgl. IKor 8,1), noch greift er Nachrichten auf, die ihn erreicht hätten (vgl. IKor 1,11). Nicht infolge einer von außen an ihn herangetragenen Veranlassung, sondern aufgrund eigener Initiative widmet er sich einer ausführlichen Erörterung der Frage, wie Schwache und Starke miteinander auskommen und zusammenbleiben können. Die Ausführungen sind im IKorintherbrief durchweg aktuell, im Römerbrief hingegen stärker thetisch gehalten.49 Die behutsame Art der Argumentation zeigt, „daß an Vertreter einer Irrlehre ... nicht zu denken ist". 50 Vielmehr bleibt Paulus von Anfang bis Ende seiner Ausführungen darum bemüht, gegenseitiges Verständnis zu wecken und zu erhalten, indem er dazu anleitet, einander nicht zu verurteilen, und von den Starken fordert zu respektieren, daß die Schwachen sich in ihrem Glauben zu ihrem Verhalten gebunden wissen.51 Bedenkt man, daß der Apostel den an die Christen in Rom gerichteten Brief in Korinth schreibt, so läßt sich verstehen, warum er das Problem von Schwachen und Starken aufgreift und als wichtiges Stück genuin christlicher Ethik eingehend bedenkt. Wie in den nach Korinth 49

50 51

Vgl. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 21981, 19; sowie ebd. Anm. 33: In IKor 8 - 1 0 ist das kritische Prinzip das Gewissen, in Rom 14f. der Glaube. Vgl. Bornkamm, ThWNT IV (s. Anm. 48), 68. Vgl. Bornkamm, ebd.

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gerichteten Darlegungen wird auch im Römerbrief das Christusbekenntnis als schlechthin bestimmendes Kriterium bezeichnet. Geht es doch dem Schwachen darum, „seinem eigenen Herrn zu stehen oder zu fallen" (14,4), wie auch das Verhältnis der Starken von der Uberzeugung geleitet ist, für den Herrn zu essen und Gott im Gebet zu danken (14.6). Von dieser Grundüberzeugung wird sowohl das Verhalten der Schwachen wie auch das der Starken geleitet, so daß die für alle bestimmende Verbindlichkeit des Christusbekenntnisses als die Klammer bezeichnet wird, die alle Glieder der Gemeinde zusammenschließt. Durch richtungweisende Imperative, einander anzunehmen (14,1), nicht urteilend zu richten (14,13), dem anderen keinen Anstoß zu bereiten (14, 13), die Sache des Friedens zu besorgen (14,19) und die Schwächen derer zu tragen, die sich nicht anders zu verhalten vermögen (15,1), werden insbesondere die Starken angesprochen. Dabei bezieht Paulus sich immer wieder auf Sätze gemeinchristlicher Überzeugung, die er aus urchristlicher Uberlieferung aufgreift, die vermutlich auch den Adressaten seines Briefes weitgehend bekannt gewesen sein wird. Gilt es doch, dem Herrn zu leben und ihm zu sterben (14,7-9) und sich bewußt zu halten, daß Christus auch für den anderen gestorben ist (14,15b). Als gültige Überzeugung kann festgestellt werden, „daß das Reich Gottes nicht Essen und Trinken ist, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist" (14,17).52 Auf das Christusbekenntnis wird wiederholt mit traditionellen Wendungen Bezug genommen (14,15; 15,3.8 u.ö.). Wird der Gedankengang immer wieder durch ausdrückliche Zitate auf Worte der Schrift gegründet (so 14,11 und 15,3), so wird am Ende mit einer gedrängten Folge biblischer Sätze dargetan, daß das Lob Gottes allerorten und von allen Völkern bekannt und gesungen wird (15,9-12). Durch diese überlegten Bezugnahmen verleiht der Apostel seinen Ausführungen eine feste und tragfähige Grundlage aus Schrift und Bekenntnis. Wiederholt gibt Paulus durch knappe Schlußfolgerungen an, welche Konsequenzen sich aus seiner Argumentation für seine Leser ergeben: „Also nun" (14,12), „folglich" (14,13), „also nun" (14,19), „darum" (15.7). An Klarheit seiner Weisungen läßt der Apostel es nicht fehlen, damit die Christen fähig werden, einander beim Tragen der Lasten behilflich zu sein (15,1; vgl. Gal 6,2) und dadurch die Solidarität zwischen Schwachen und Starken zu bewähren. Dabei wendet Paulus sich mehrfach speziell an die Starken; doch vornehmlich spricht er alle an, 52

Zum durch urchristliche Tradition vorgegebenen Begriff des Reiches Gottes bei Paulus vgl. G. Haufe, Reich Gottes bei Paulus und in der Jesustradition, NTS 31 (1985) 467-472: Sätze, in denen bei Paulus vom Reich Gottes die Rede ist, zeichnen sich als „Definitionssätze" bzw. durch „Lehrsatzstil" aus (469).

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wo sie auch stehen und wie sie im einzelnen auch denken und urteilen mögen53: einander anzunehmen (14,1; 15,7), da Gott einen jeden angenommen hat (14,3); einander nicht zu richten oder zu verurteilen (14, 13), nach der Liebe zu wandeln (14,15), Christus zu dienen (14,18), auf Frieden bedacht zu sein (14,19), statt den anderen sich selbst kritisch zu prüfen (14,22f.), die Schwächen anderer geduldig zu tragen (15,1) und einmütig Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, zu preisen (15,6). Die Ausführungen des Apostels machen an der Gegenüberstellung von Schwachen und Starken als einem Modell deutlich, wie Vertreter unterschiedlicher Herkunft und auseinandergehender Verhaltensweise miteinander zurechtkommen können. Offensichtlich nimmt Paulus dabei Erfahrungen auf, wie er sie in Korinth hat machen können, und leitet aus ihnen grundsätzliche Regeln ab, nach denen Christen miteinander umzugehen haben.54 Sind die Ausführungen des Apostels in Rom 14 in dieser Weise zu verstehen, dann bieten sie nicht einen Einblick in besondere Gegebenheiten in der römischen Christenheit und lassen sie keine Rückschlüsse auf spezielle, dort entstandene Probleme zu.55 Über die Befindlichkeit der Adressaten des Briefes sind nur der behutsam formulierten Einleitung (1,1-17) sowie dem ausführlichen Schluß des Schreibens (15,14-16,23) gewisse Anhaltspunkte zu entnehmen, die die römische Christenheit betreffen. Der Apostel beabsichtigt nicht, in deren innere Verhältnisse autoritativ einzugreifen, sondern er ist vor allem anderen daran interessiert, durch eine ausführliche Rechenschaft vom Evangelium vertrauensvolle Beziehungen zu den Christen in der Hauptstadt des Reiches zu begründen.56 Am Ende seiner Ausführungen veranschaulicht der Apostel an einem besonders wichtigen Beispiel, auf welche Weise sich seine grund53 54

55

56

Der Abschnitt 14,1-15,13 enthält insgesamt 13 Imperative: 14,1.3 (bis). 5.13 (bis). 15.16.19.20.22; 15,2.7. Vgl. R. J. Karris, Romans 14:1-15:13 and the Occasion of Romans, in: Donfried (Hg.), Debate (s. Anm. 41) 65-84, hier 72. Vgl. hierzu bes. Karris, ebd.: „Rom. 14:1-15:13 is a generalized adaptation of a position Paul had earlier worked out respecting actual known positions, especially in Corinth" (71); „Rom. 14:1-15:13 favors the view that Rom. 14:1-15:13 is a generalized expanded adaptation of the position and arguments which Paul developed especially in 1. Cor. 8-10" (77). Dieses Bedenken gilt auch gegenüber voreiliger Verknüpfung der Tagewählerei mit Sabbathobservanz. So auch H. Weiss, Paul and the Judging Days, ZNW 86 (1995) 137-153: "When Paul wrote ,one judges all days' he had in mind Christians who argued that all days were sabbath" (147) Die Angaben in Rom 14 lassen diese Schlußfolgerung kaum zu. Vgl. zuletzt M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, 41f.: Paulus schrieb einen „Evangeliumsbrief", „dessen Attraktivität für die Leser zudem darin bestand, dass diese sich in ihm wiederzufinden vermochten und aus ihm den Anstoß empfingen, in gegenseitiger Toleranz und Verzicht auf Verurteilung der Andersdenkenden in ihren Reihen sich selbst als Ekklesia Gottes zu begreifen".

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sätzliche Argumentation konkretisieren läßt. Mit einer zusammenfassenden Aufforderung, einander anzunehmen, wie Christus sie angenommen hat, formuliert Paulus eine abschließende Konsequenz (15,7) und leitet zugleich zur ihn ständig beschäftigenden Aufgabe über, das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen zu ermöglichen und zu erhalten. Dabei mag jeder aufmerksame Leser sich gewissenhaft prüfen und entscheiden, auf welche Seite er sich bei der Gegenüberstellung von Schwachen und Starken schlagen mag.57 Theologische Ethik, wie sie vom Apostel Paulus im Römerbrief dargelegt wird, entwirft nicht ein System allgemein gültiger Wahrheiten, sondern hat - wie die Kapitel 12,1-15,13 zeigen - ihren Ort im Zusammenhang von Predigt und Unterweisung der Gemeinden58: Daß die Christen das Gute und Rechte zu tun haben, ist ihnen mit auf den Weg gegeben. Was jedoch als das Gute und Rechte zu gelten hat, muß in sorgfältigem Fragen nach dem Willen Gottes und in umsichtiger Prüfung überkommener Lehre immer wieder aufs neue erhoben und entschieden werden. Ethische Sätze, die es vor, neben und nach Christus in vielgestaltigen Ausprägungen in der hellenistisch-römischen Gesellschaft gibt, sind darauf gerichtet, möglichst breite Zustimmung zu finden. Diese Zustimmung gewinnen sie auf Grund ihrer Überzeugungskraft, die das verstehende Urteil der Menschen anspricht. Sie müssen daher so gehalten sein, daß sie nicht nur denjenigen einleuchten, die sich einer bestimmten Gruppe oder einer geprägten Einstellung zurechnen, sondern in sich als schlüssig gelten können. Im Kontext urchristlicher Verkündigung und Lehre erhält das allgemein menschliche Phänomen des Ethischen eine wesentliche Vertiefung. Spricht doch die christliche Predigt den Menschen als von Gott begnadeten Sünder an, der nicht durch sein Tun, sondern allein durch die Barmherzigkeit Gottes den Sinn seines Lebens empfängt. Nicht durch seine Werke, sondern durch die Zusage des Evangeliums, das ihm um Christi willen die Freiheit eines neuen Lebens schenkt, gewinnt er den tragenden Grund für sein Handeln. Daraus folgt, daß der spezifisch christliche Charakter ethischer Unterweisung nicht in einer Vermehrung oder Steigerung von Geboten und Verboten besteht, sondern 57

58

Ihrem Aufbau nach lassen sich die Verse 15,7-13 mit dem vorhergehenden Abschnitt 15,1-6 vergleichen: Auf eine vorangestellte Aufforderung folgt eine Berufung auf das Zeugnis der Schrift, und den Schluß bildet jeweils ein kurzes Bittgebet. Doch in V. 7-13 geht es nicht mehr um die Schwachen und die Starken, sondern um das Verhältnis von Juden und Heiden, die miteinander einmütig Gott preisen. Damit wird eine konkrete Folgerung gezogen aus der allgemeiner gehaltenen Grundregel über gegenseitige Toleranz in der Reinheit des einen Volkes Gottes. Vgl. E. Lohse, Theologische Ethik des Neuen Testaments, Stuttgart 1988, 135.

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in der Konzentration auf das eine Grundgebot der Liebe, die aus der Erfahrung der empfangenen Barmherzigkeit Gottes ihre Kraft gewinnt. Die Liebe, die nicht das Ihre, sondern das des anderen sucht, orientiert sich mit kritischen Sinnen an den mannigfaltigen Überlieferungen ethischer Sätze, wie sie in exemplarischer Weise in der theologischen Ethik im Römerbrief aufgeführt sind. Dabei aber fühlt sie sich keineswegs von dem allgemeinen Erfordernis dispensiert, ethische Sätze durch rationale Evidenz für jedermann einsichtig zu machen. Der gute Ruf, den die Christen bei Außenstehenden genießen, ist Ausweis für den überzeugenden Eindruck, den die sittliche Unterweisung der Gemeinden und das an ihr sich orientierende Verhalten auf ihre Umwelt macht. Gilt doch die bindende Verpflichtung, wie sie der Apostel im Römerbrief beschrieben hat, zu jeder Zeit und an jedem Ort: daß die Glaubenden sich stets dessen bewußt zu sein haben, daß sie zum Leben in Christus berufen sind. Der Apostel Paulus führt daher seine im Römerbrief entfaltete ethische Unterweisung, der er grundsätzliche Bedeutung zumißt, am Ende zur konkreten Überlegung, wie Juden und Heiden im Zusammenleben in der einen Christenheit ungeachtet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede miteinander Gott loben und preisen mögen. Damit gibt er zum Abschluß seiner Ausführungen noch einmal das Ziel an, dem verantwortliche Lebensgestaltung zu dienen hat: sich nicht selbst zu rühmen, sondern dem barmherzigen Gott die Ehre zu geben.

6.

Herrenworte im Römerbrief 1. In seinem ausführlichen Schreiben an die Christen in Rom erwähnt der Apostel weder Jesu Verkündigung von der anbrechenden Gottesherrschaft noch seine Taten und Wunder.1 Wenn Paulus von Jesus Christus spricht, sagt er, er sei gekreuzigt und aus dem Tod auferweckt worden (8,34). Damit bezieht sich der Apostel auf das urchristliche Bekenntnis, wie es in der Predigt des Evangeliums ausgelegt und entfaltet wird. Der Inhalt des Evangeliums, wie er schon in vorpaulinischen judenchristlichen Gemeinden formuliert worden ist, nimmt Bezug auf Gottes Verheißungen, wie sie in den heiligen Schriften Israels bezeugt sind, und hebt hervor, dass diese Verheißungen in Christus Jesus erfüllt sind. Denn die gute Nachricht handelt von Gottes Sohn, „der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist der Heiligkeit eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten" (l,3f.). Gott offenbarte seine Barmherzigkeit, indem er seinen eigenen Sohn nicht schonte, „sondern ihn hingab für uns alle"(8,32). Wer immer auf diesen schlechthin bestimmenden Inhalt der frohen Botschaft vertraut, wird gerettet werden. Denn Gott will uns alles schenken in Christus. Christen sind darum überzeugt, dass nichts sie scheiden kann von der Liebe Gottes in Christus Jesus (8,38f.). Wenn Paulus auf diese zentrale Botschaft des Evangeliums hinweist, ist er sich stets dessen bewusst, dass Christus Jesus jüdischer Herkunft war und aus dem Volk Israel kam (9,5). Bezeichnet er ihn als Kyrios, so richtet er seinen Blick ebenso auf das irdische Leben Jesu wie auf den auferstandenen Herrn. Er wendet den Titel Kyrios ebenso auf den erniedrigten Christus an wie auf den erhöhten Herrn. Zitiert er ein Wort Jesu, so nennt er ihn Kyrios (vgl. IThess 4,15 u.ö.). Das bedeutet, 1

Als mögliche Ausnahmen können freilich zwei Verse in Betracht kommen: 1. wenn der Gebetsruf „Abba/Vater" (Rom 8,15) als Hinweis auf den Anfang des Vaterunsers aufgefasst wird; und 2. falls der Gebrauch des Begriffes „Herrschaft (bzw. Reich) Gottes" als Aufnahme der Verkündigung Jesu von der anbrechenden Gottesherrschaft beurteilt wird. Vgl. G. Haufe, Reich Gottes bei Paulus und in der Jesustradition, NTS 31 (1985) 467-472.

Herrenworte im Römerbrief

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dass nach dem Verständnis des Paulus Jesus sowohl im Blick auf seine irdische Wirksamkeit wie auch hinsichtlich der Autorität des Erhöhten als der eine Kyrios zu bekennen ist. Eben dieser Herr hat zu Paulus gesagt: „Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2Kor 12,9). 2. In seinen Briefen, die er an die Gemeinde in Korinth gerichtet hat, führt Paulus mehrfach ein Wort Jesu an (IKor 7,10.12; 9,14; 11,23). Er unterstreicht, dass Jesu Verkündigung unmittelbare Bedeutung für die Entscheidung ethischer Probleme zukommt, die unter Christen geklärt werden müssen. Aber in seinem Brief an die Christen in Rom führt Paulus an keiner Stelle einen Satz an, den er als ein Wort Jesu hervorheben und kenntlich machen würde. Der Leser könnte daher leicht übersehen, dass auch im Römerbrief durchaus Bezugnahmen auf Worte Jesu zu finden sind.2 Die sittlichen Belehrungen in Rom 12,1-15,13 sind unter die leitende Uberschrift gestellt, dass Christen „sich nicht dieser Welt gleich stellen, sondern sich ändern sollen durch Erneuerung ihres Sinnes" (12,lf.) und „dass die Liebe ohne Falsch sei"(12,9). Der Begriff „Agape" war zwar schon im klassischen Griechisch bekannt, aber er wurde nicht häufig gebraucht und fand keine Verwendung im Zusammenhang sittlicher Unterweisung. In der urchristlichen Verkündigung aber wurde das Liebesgebot ins Zentrum der Argumentation gerückt. Denn allein die Liebe und nichts anderes hat eine Lebensführung auszuzeichnen, die Gott gefällt. Daher wird die paulinische Paränese eingeleitet, indem der zentrale Begriff der „Agape" nachdrücklich betont wird, um zu zeigen, wie das Leben der Christen gestaltet sein soll. Was dieses Leitmotiv im einzelnen zu besagen hat, wird in den folgenden Abschnitten erläutert, in denen ebenso alttestamentliche Weisheit wie Sätze traditioneller Popularphilosophie zusammengefügt sind.3 Auch sie sind nun in einen spezifisch christlichen Zusammen2

Das Problem von Herrenworten im Römerbrief ist nicht nur in den einschlägigen Kommentaren zum Römerbrief, sondern auch in folgenden Arbeiten erörtert worden: H.-W. Kuhn, Der irdische Jesus bei Paulus als traditionsgeschichtliches und theologisches Problem, ZThK 67 (1970) 295-320; P. Stuhlmacher, Jesustradition im Römerbrief, ThBeitr 14 (1983) 240-250; N. Walter, Paulus und die urchristliche Jesustradition, NTS 31 (1985) 498-522; J. D. G. Dunn, Paul's Knowledge of the Jesus Tradition: The Evidence of Romans, in: Christus bezeugen. FS Wolfgang Trilling, Freiburg/Basel/Wien 1990, 193-205; D. Wenham, Paulus - Jünger Jesu oder Begründer des Christentums?, Paderborn/München/Wien/Zürich 1999 (engl. Original Cambridge 1995).

3

Vgl. B. Byrne, Romans, Collegeville/Minn. 1996, 375: „The content suggests that the passage taps a considerable variety of source material: the prophetic and wisdom traditions of the Old Testament, the Jesus tradition preserved in the early communities, ethical reflections and maxims of popular Greco-Roman philosophy."

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hang eingebracht und sollen darlegen, was christliche Liebe konkret bedeutet. Im Zusammenhang dieser Ausführungen finden sich einige Sätze, die nicht aus jüdischer oder griechischer Tradition übernommen sind, sondern die spezifische gute Nachricht aufnehmen, die das Evangelium von Jesus Christus entfaltet. Daher muß die ethische Unterweisung, wie sie im Römerbrief dargelegt wird, unter der Frage betrachtet werden, was solche spezifisch christliche Lehre von der „Imitatio Christi" zu sagen hat. 3. In der Abfolge der verschiedenen Lebensregeln stehen auch einige Sätze, die an bestimmte Herrenworte anklingen. Den ersten Vers dieser Art stellt der kurze Satz dar: „Segnet, die euch verfolgen; segnet und flucht nicht" (12,14). Äußere Bedrängnis und Verfolgung waren eine besondere Erfahrung, die die Jünger Jesu zu machen hatten. Ihr Herr wollte sie darauf vorbereiten, damit sie diese Bewährungsprobe bestehen könnten: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen" (Lk 6,27f.). Die Parallelstelle im Matthäusevangelium lautet: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen" (5,43). Als Paulus seinen Brief an die Christen in Rom schrieb, gab es noch keinen schriftlich aufgezeichneten Bericht über Jesu Worte und Taten. Die Bücher, die man dann „Evangelien" nannte, wurden erst später, nach dem Tod des Paulus abgefasst. Gleichwohl ist deutlich zu erkennen, dass der Apostel sich inhaltlich auf Worte Jesu bezieht. Jesu Verkündigung wurde durch seine Jünger und Nachfolger bewahrt und mündlich an die ersten christlichen Gemeinden weitergereicht. Dabei wurde der Wortlaut dieser Sätze nicht in eine unveränderliche, starre Form gefasst. Doch die in Pflicht nehmende Autorität, die man Worten des Herrn zuerkannte, wurde unterstrichen, indem man den zentralen Inhalt der Unterweisung Jesu festhielt: „Liebt eure Feinde." Zu diesem Gebot gibt es keine vergleichbaren Parallelen in jüdischer oder griechisch-hellenistischer Tradition der damaligen Zeit.4 Man wird daher sagen dürfen, dass in diesem Vers ein authentisches Wort Jesu enthalten ist. Paulus macht freilich nicht darauf aufmerksam, dass er ein solches Gebot des Herrn anführt, wie Jesus es seinen Jüngern gegeben hat. Wenn der Apostel alttestamentliche Zitate bringt, stellt er diesen Versen bisweilen eine einleitende Wendung voran, manchmal aber auch nicht. Er kann bei seinen Lesern Kenntnis und Fähigkeit voraussetzen, dass sie zu bemerken vermögen, wo ein bibli4

Vgl. D. Moo, The Epistle to the Romans, Grand Rapids/Cambridge UK 1996, 781: „It was Jesus himself who first accentuated this demand of the kingdom, and there is good reason to think that Paul deliberately alludes here Jesus' own saying."

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sches Wort aufgenommen wird, das für ihr Leben und Glauben von besonderer Bedeutung ist. So verhält es sich z.B. mit den abschließenden Sätzen am Ende von Rom 11 (V. 34f.); in ihnen sind verschiedene alttestamentliche Sätze zu einem christlichen Hymnus zusammengefügt, ohne dass etwas zu ihrer biblischen Herkunft gesagt wird. In ganz ähnlicher Weise hält Paulus es mit der Aufnahme von Herrenworten. Man darf annehmen, dass Christen, die eine gründliche Unterweisung erhalten hatten, in der Lage waren, ihrerseits erkennen zu können, wo der Apostel ein biblisches Zitat oder ein Herrenwort aufgenommen hat - und wo er kraft eigener Vollmacht sprach (vgl. IKor 7,10 und 7,12). 4. Daß in Rom 12,14 eine Bezugnahme auf ein überkommenes Herrenwort vorliegt5, lässt sich am Zusammenhang von Rom 12 verdeutlichen. Denn der Apostel fährt fort in seiner Belehrung, indem er ein weiteres Gebot spezifisch christlichen Inhalts hinzufügt: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem" (12,17). Hörer und Leser, die eine gute christliche Unterweisung erhalten haben, werden erkennen können, dass Paulus auch hier ein Herrenwort aufgreift, das in einen mehr oder weniger festgeprägten Satz gefasst ist. Denn zur Weisung, nicht eine böse Tat zu vergelten, gibt es gleichfalls keine vergleichbaren Parallelen in der antiken Umwelt. Es ist daher auch hier deutlich, dass Paulus wiederum ein Herrenwort aufgreift 6 . Seiner Aussage ist wiederum die synoptische Tradition gegenüberzustellen. So heißt es Lk 6,29-35: „Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar ... vielmehr liebt eure Feinde, tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft." bzw. Mt 5,38f. und 43f.: „Ihr sollt nicht dem Übel widerstreben, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar ... Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen." 7 Mit Rom 12,17 verhält es sich ganz ähnlich wie mit V. 14. Auch hier liegt nicht ein genauer, völlig gleich lautender Wortlaut der verschiedenen Sprüche vor, die auf ein Herrenwort Bezug nehmen. Sondern der zentrale Inhalt der Verkündigung Jesu wird ebenso vom Apostel wie von den Evangelisten unterstrichen. Jede Art von Wiedervergel-

5 6 7

Vgl. C. Ε. B. Cranfield, The Epistle to the Romans II, Edinburgh 1979, 640: "We have here a free reminiscence of the traditional dominical saying." Vgl. J. A. Fitzmyer, Romans, New York/London 1993, 656 argumentiert vorsichtig: „Paul's counsel of no retribution may echo the words of Jesus." Vgl. auch Mt 5,9: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen."

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tung wird schlechthin untersagt. 8 Paulus nimmt auch hier mündliche Uberlieferung auf - nicht schriftlich aufgezeichnete Tradition, die in eine fest fixierte Gestalt sittlicher Belehrung gebracht worden wäre. Im Fortgang seiner ethischen Ausführungen wiederholt Paulus noch einmal in V. 19f., dass Christen unter keinen Umständen sich selbst rächen dürfen. Denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr" (vgl. Dt. 32,31 und Prov. 25,21).9 An dieser Stelle bemerkt Paulus ausdrücklich, dass er ein biblisches Zitat anführt. Mit diesem Hinweis will er den verpflichtenden Charakter des Gebotes unterstreichen, das auch in Jesu Verkündigung ausgesprochen wird. 10 5. Diese Sätze in Rom 12, die offensichtlich Herrenworte aufgreifen, haben deutliche Parallelen in den Evangelien im Zusammenhang der Bergpredigt (Mt 5-7) bzw. der Feldrede (Lk 6,20-29). n Man wird deshalb vermuten dürfen, dass es bereits in der mündlich überlieferten Tradition eine mehr oder weniger genau fixierte Sammlung von Logien aus der Verkündigung Jesu gegeben hat. Der Apostel Paulus könnte von solcher fester gefügten Tradition von Herrenworten durchaus Kenntnis gehabt haben. Wir wissen aber leider nicht, ob dem Apostel auch andere Uberlieferungen von Herrenworten bekannt gewesen sind. Denn es finden sich keine deutlichen Hinweise, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass Paulus auch noch weitere Logien aus der Verkündigung Jesu hätte aufgreifen können. 12 Hinsichtlich der Aufnahme von Herrenworten im Zusammenhang ethischer Belehrung ist es aufschlussreich, einen Blick auf den Jakobusbrief zu werfen. 13 Der Verfasser dieses Schreibens nimmt verschiedentlich Worte Jesu auf, freilich ohne diese durch eine Zitationsformel einzuführen oder den Namen des Herrn zu nennen. Wie Jesus zu seinen Jüngern gesagt hat: „Ihr sollt nicht schwören, weder beim Himmel, 8

9 10 11 12 13

Vgl. J. Sauer, Traditionsgeschichtliche Erwägungen zu den synoptischen und paulinischen Aussagen über Feindesliebe und Wiedervergeltungsverzicht, ZNW 76 (1985) 1-28. Er bemerkt zutreffend, dass man nicht an eine vorpaulinische schriftliche Quelle zu denken hat (S. 21). Doch ist seiner These zu widersprechen, der paulinische Satz könnte den „traditionsgeschichtlichen Ausgangspunkt der viergliedrigen Reihe Lk. 6,27f." darstellen (28). Vgl. K. Stendahl, Hate, Non-Retaliation and Love, 1 QS X, 17-20 and Rom. 12:19-21, HThR 55 (1962) 137-149. Vgl. Byrne, Romans (s. Anm. 3), 381: „The contradiction of the lex talionis represents a Pauline form of the teaching of Jesus recorded in Matt. 5:38-41 and Luke 6:27-36." Vgl. J. D. G. Dunn, Romans 9-16 (WBC 38B), Dallas 1988, 745: „The Jesus tradition had evidently entered into the living stream of Christian parenesis." Vgl. den berechtigten Einspruch bei Walter, a.a.O., S. 503f. Vgl. Ε. Lohse, Glaube und Werke - zur Theologie des Jakobusbriefes, ZNW 48 (1957) 1-22 = ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 285-306.

Herrenworte im Römerbrief

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denn er ist Gottes Thron ... Eure Rede aber sei Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel" (Mt 5,34-37), - so heißt es Jak. 5,12: „Schwört nicht, weder beim Himmel noch bei der Erde noch mit einem andern Eid. Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein." Mt 7,7 wird folgende Regel genannt: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan." Und Jak. 1,5 lautet: „Wenn es aber jemandem an Weisheit mangelt, so bitte er Gott, der jedermann gern gibt und niemanden schilt; so wird sie ihm gegeben werden." Die Bergpredigt endet mit der Aufforderung, nicht nur Jesu Worte zu hören, sondern sie auch in die Tat umzusetzen (Mt: 7,2427). Und Jak. 1,22 wird die Weisung gegeben: „Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst." Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen, die parallele Aussagen einerseits in der Bergpredigt, andererseits im Jakobusbrief aufweisen. Doch die genannten Beispiele zeigen zur Genüge, dass in der sittlichen Unterweisung der frühen Christenheit des öfteren Herrenworte verwendet worden sind - meistens ohne ausdrücklich kenntlich zu machen, dass ein Zitat aus der Verkündigung Jesu angeführt und als christliche Lebensregel ausgelegt wird. Die frühe christliche ethische Belehrung wurde unter die bestimmende Weisung gestellt, das Leben „in dem Herrn" zu führen. Unter den verschiedenen Überlieferungen, die dabei aufgenommen und in urchristliche Lehre eingefügt wurden, wurden auch Herrenworte zitiert und ausgelegt. Auf diese Weise wurde den Gemeinden vor Augen gerückt, wie sie ihr Leben zu gestalten haben, das sie im Gehorsam gegenüber ihrem Herrn zu führen haben. Diese Ermahnungen sollten sie dazu ermutigen, seinen Namen zu bekennen und zu preisen, indem sie seinen Geboten Folge leisteten. Rom 12,9-21 ist auf ein frühes Stadium solcher mündlichen Tradition gegründet, die Herrenworte für die sittliche Belehrung aufgenommen und erläutert hat. In späterer Zeit wurden dann auch größere Zusammenhänge zusammengefügt, wie sie einerseits in der Feldrede, andererseits in der ausführlich gehaltenen Bergpredigt vorliegen. 6. Wenn Paulus die frühchristliche Unterweisung unter das Leitmotiv der Liebe stellt, folgt er der Verkündigung Jesu.14 Auf diese generelle Überschrift wird auch am Ende des langen Zusammenhangs von Rom 12-13 hingewiesen. Denn der Apostel schließt die ausführliche Ermahnung zu verantwortlicher christlicher Lebensführung ab, indem er 14

Vgl. Dunn, Romans 9-16 (s. Anm. 11), 779: „It must be judged almost certain that Paul is drawing here on the tradition that Jesus himself summed up in the law by reference to Lev. 19,18."

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noch einmal betont, dass das Gebot der Liebe von schlechthin bestimmender Bedeutung ist: „Und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.' (Lev. 19,18) Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung" (13,8-10). „Welches ist das höchste Gebot von allen?" In seiner Antwort, die Jesus auf diese Frage gab, formulierte er das Doppelgebot der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften - und Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mk 12,30f.). Wird das erste Gebot des Dekalogs in dem Sinn verstanden, dass es alle weiteren Gebote in sich schließt, dann ist klar, dass die Liebe zu Gott unter keinen Umständen den Nächsten übersehen kann und darf. Denn Gott wird die ihm gebührende Ehre erwiesen, indem dem Nächsten in Liebe gedient wird. Die frühe christliche Unterweisung hat daher das Liebesgebot, wie Jesus es gegeben hat, ins Zentrum aller sittlichen Belehrungen gerückt.15 Wenn Paulus eben dieses Gebot so nachdrücklich hervorhebt, bezieht er sich wiederum auf Worte des Herrn, wie sie in mündlicher Tradition überliefert und weitergegeben worden sind. Die überwältigende Kraft der Liebe wird durch keinerlei Begrenzung eingeschränkt. Sie wird weder von der Überlegung abhängig gemacht, ob die Leute der Liebe würdig sind oder nicht, noch wird der Kreis der Menschen, denen die Liebe zuzuwenden ist, irgendwie eingeengt. Urchristliche Ethik hielt mit aller Eindeutigkeit an Jesu Weisung fest, auch die Feinde zu lieben. Darum wiederholt Paulus am Schluß von Rom 13 das Gebot, wie es schon 12,14 ausgesprochen worden war: „Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht." Das hat zu besagen, dass das Gebot zu strikter Befolgung eingeschärft wird: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses" (13,10). Wie im einzelnen das Gebot der Liebe zu praktizieren ist, wird nicht im Voraus in kausuistischen Lebensregeln dargetan. Denn die Liebe ist als Leitmotiv für alles Leben und Handeln verstanden und gewinnt ihre Konkretion im Blick auf die jeweils gegebene Situation. Alle Gebote aber werden mit Bezug auf die schlechthin bestimmende Liebe begriffen; denn die Liebe bedeutet das ein für alle Mal gültige Gebot Gottes. Dieses Gebot gilt jederzeit und fordert allzeit gestaltende Erfüllung. Die Liebe prüft darum überkommene sittliche Regeln daraufhin, was sie hier und jetzt zu besagen haben. Denn sie versteht Gottes Willen als unbedingt bindende Verpflichtung und vermag somit die 15

Vgl. V. Furnish, The Love Command in the New Testament, Nashville 1972; Th. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik (NTA.NF 26), Münster Westf. 1995.

Herrenworte im Römerbrief

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einzelnen Weisungen in konkretes Handeln zum Wohl des Nächsten umzusetzen.16 Faßt man die aufmerksame Betrachtung der Herrenworte, wie sie im Römerbrief des Apostels anklingen, zusammen, so lässt sich sagen, dass Paulus offensichtlich mündliche Tradition aufgreift. Er hebt dabei nicht eigens hervor, dass diese von ihm zitierten Lebensregeln auf Weisungen Jesu gegründet sind. Doch gibt er die Herrenworte in ähnlicher Weise wieder, wie er es mit Zitaten aus dem Alten Testament oder jüdischer Weisheitsüberlieferung hält. Indem er Regeln und Gebote verschiedener Herkunft zusammenstellt, fügt er sie in den übergreifenden Zusammenhang urchristlicher Belehrung ein. Alle Weisungen aber werden als Konkretionen gehorsamer Lebensführung in Christus Jesus als dem Herrn aller Herren verstanden. Seine Autorität gilt schlechthin für alle, die der Botschaft des Evangeliums vertrauen und deshalb den Geboten Gottes folgen wollen. Wenn Paulus auf die Autorität des Herrn hinweist, macht er keinen Unterschied zwischen Logien, die auf die Verkündigung Jesu zurückgeführt werden können, und Worten, die der erhöhte Herr gesagt hat. Spricht Paulus davon, dass „er weiß und im Herrn dessen gewiß ist, dass nichts unrein ist an sich selbst - doch ist es für denjenigen, der es für unrein hält, unrein - " , so bezieht er sich nicht auf ein Wort Jesu, sondern spricht er seine eigene feste Uberzeugung aus (Rom 14,14). Gleichwohl ist es aufschlussreich, dass auch dieser Satz vollauf mit Jesu Verkündigung übereinstimmt (vgl. Mk 7,1-23 Par.). Wie verantwortliche Lebensführung der Christen auszusehen hat, wird somit immer wieder im Rückgriff auf Herrenworte beschrieben, die entweder ausdrücklich als solche kenntlich gemacht oder auch ohne Einführung in den jeweiligen Zusammenhang eingeordnet werden. Christliche Ethik wird als Auslegung des Evangeliums entfaltet, das den gekreuzigten und auferstandenen Christus als Kyrios und Gottessohn proklamiert. Wie rechte Lebensführung zu gestalten ist, kann daher zusammenfassend in der Weisung charakterisiert werden, einander anzunehmen, wie Christus uns angenommen hat (Rom 15,7). „Christus gemäß leben" (Rom 15,5) aber bedeutet nichts anderes als „Leben nach der Liebe" (Rom 14,15).

16

Vgl. auch 1. Petr. 3,9: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt."

7.

Apostolische Ermahnung in Rom 16,17-20 Der Apostel beendet seinen gedankenreichen Brief an die Christen in Rom mit einem ungewöhnlich umfangreichen Schlußteil1. Darin spricht er zunächst von seinen Plänen und Vorhaben für die nächste Zeit und läßt dann eine lange Grußliste folgen, durch die persönliche Kontakte verstärkt bzw. hergestellt werden sollen2. Diese Liste endet mit der Versicherung, daß alle Gemeinden Christi - das heißt offensichtlich die Hauskirchen im paulinischen Missionsgebiet - die Christen in Rom grüßen lassen. Dann aber wird von Vers 17 an eine letzte apostolische Ermahnung erteilt. Sie warnt davor, falscher Lehre anheimzufallen und sich auf einschmeichelnde Reden „sogenannter Leute" einzulassen, die doch in Wahrheit betrügerische Verführer sind. Dieser kurze Abschnitt wird mit einem Gnadenwunsch beendet, wie Paulus ihn auch sonst an das Ende seiner Briefe setzt. In den Versen 21-23 werden schließlich in einem kurzen Nachwort noch einige Grüße angefügt, die Mitarbeiter des Paulus nach Rom auf den Weg geben möchten3. Der unerwartete und abrupte Einsatz in Vers 17, der die Folge der Grüße jäh abreißen läßt und sich einem ganz anderen Thema zuwendet, hat seit langem den Auslegern Schwierigkeiten bereitet. Wie soll dieser erratische Block, der den Fluß der Rede so hart unterbricht, ein1 2

3

Zur Bewertung der Schlußabschnitte in den paulinischen Briefen vgl. M. Müller, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses (FRLANT 172), Göttingen 1997. In der älteren Exegese hat vielfach die Hypothese Zustimmung gefunden, Kap. 16 habe ursprünglich nicht zum Römerbrief gehört, sondern sei ein Schreiben, das nach Ephesus gerichtet war und erst sekundär mit Kap. 1-15 zum überkommenen Text von Rom 1-16 verbunden wurde. Mit überzeugenden Argumenten wird jedoch gegenwärtig überwiegend die Annahme vertreten, daß Kap. 16 von Anfang an integraler Teil des Römerbriefs gewesen ist. Aus der Fülle neuerer Untersuchungen seien hervorgehoben: W.-H. Ollrog, Die Abfassungsverhältnisse von Rom 16, in: Kirche. FS Günther Bornkamm, Tübingen 1980, 221-244; P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II, 18), Tübingen 21989; E. Lohse, Der Römerbrief des Apostels Paulus und die Anfänge der römischen Christenheit, Münster/W. 2003 = 102-114 in diesem Band. Dabei lautet das Prädikat der Sätze nicht wie in V 3-16a: „Richtet Grüße aus an ..." (άσπάσασθε), sondern es heißt wie in V 16b („Es lassen euch grüßen"): „Es grüßt euch ..." (ασπάζεται).

Apostolische Ermahnung in Rom 16,17-20

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geordnet und verstanden werden? Ein letztes Mal spricht der Apostel seine Leser mit ermahnenden Worten an (V 17-20): „Ich ermahne euch aber, Brüder, achtzugeben auf die, die Spaltungen und Ärgernisse anrichten entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab. Denn solche Leute dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch, und durch Schönrednerei und wohlklingende Rede täuschen sie die Herzen der Arglosen. Denn die Kunde von eurem Gehorsam gelangte zu allen. Über euch freue ich mich. Ich will aber, daß ihr weise seid zum Guten, unverdorben dem Bösen gegenüber. Der Gott des Friedens aber wird in Kürze den Satan unter eure Füße zermalmen. Die Gnade unseres Herrn Jesus sei mit euch."

I. Spannungen im Text Ohne verknüpfenden Übergang setzt der Apostel in Vers 17 neu ein und hält die Adressaten seines Briefes dazu an, sich von Irrlehrern fernzuhalten, die nur Spaltungen und Ärgernisse hervorrufen. Mit einigen abschätzigen Worten werden diese Leute kurz beschrieben; den Christen in Rom aber wird das gute Zeugnis ausgestellt, daß man allerorten von ihrem zuverlässigen Glaubensgehorsam weiß. Ein Wort verheißender Zusage4 versichert sodann, der Gott des Friedens werde den Satan in Kürze unter die Füße der Glaubenden treten. Der abschließende Gruß nimmt Bezug auf den im Eingang des Briefes ausgesprochenen Gnadenwunsch (vgl. Rom 1,7) und versichert den Lesern, die Gnade des Herrn Jesus werde bei ihnen bleiben (V 20). Späteren Abschreibern ist es verwunderlich erschienen, daß ein so gehaltvolles Schreiben mit einem so knapp gehaltenen Schlußgruß zu Ende geführt sein könnte. Daher setzten manche Handschriften den Gnadenwunsch von Vers 20b als Vers 24 ein, oder aber es wurde die vollklingende Doxologie, die aus liturgischer Tradition genommen wurde, als Verse 25-27 angefügt, um dem Römerbrief einen vermeintlich angemesseneren Abschluß zu verleihen. Die Verse 17-20, denen unsere besondere Aufmerksamkeit gilt, stellen - wie sich bei genauerem Hinsehen alsbald zeigt - keine geschlossene Einheit dar, sondern bieten in kurz gehaltenen Sätzen zuerst eine Warnung vor falschen Lehrern in Vers 17, für die in Vers 18 eine ungemein kurze Begründimg gegeben wird. Dann folgt in Vers 19 eine positive Feststellung, die den Lesern bescheinigt, daß ihrem bisherigen 4

Als ursprüngliche Lesart hat das Futurum (συντρίψει), nicht der Optativ (σύντριψαν) zu gelten.

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Verhalten ein uneingeschränkt gutes Zeugnis gegeben werden kann. In Vers 20 werden schließlich eine verheißungsvolle Zusage sowie der knappe Gnadenwunsch ausgesprochen. So unerwartet, wie diese kurze Satzfolge eingesetzt hat, endet sie dann auch mit dem apostolischen Gruß, dem nicht einmal ein bekräftigendes „Amen" folgt, mit dem alle miteinander sich diese Worte des Apostels hätten zu eigen machen können. Ist in diesen vier Versen wirklich die Stimme des Apostels zu erkennen? Oder könnte es sich ganz oder teilweise um sekundäre Ergänzungen handeln, die schon in früher Zeit im Stil der Pastoralbriefe formuliert und sekundär hinzugetan wurden 5 ? Wird in neuerer Zeit von den meisten Interpreten mit Recht an der Annahme festgehalten, das letzte Kapitel des Römerbriefes werde „völlig verständlich als regulärer Schluß des Briefes an die Römer"6, so bleibt das Urteil über die Verse 17-20 unsicher - könnte es doch eine Reihe von Indizien nahelegen, „in diesem Abschnitt eine nachpaulinische Interpolation zu erkennen"7. Abgesehen vom abrupten Einsatz, der keinerlei Überleitung von der vorangehenden Grußliste bietet (siehe oben), fällt auf, daß sich in diesen wenigen Versen etliche Wörter finden, die sonst in den paulinischen Briefen überhaupt nicht oder aber in anderer Bedeutung gebraucht werden. Hapaxlegomena sind: χρηστολογία und ακακος in Vers 18, άφικνεΐσθαι in Vers 19 sowie συντρίβειν und έν τάχει in Vers 20. Das Wort ευλογία (V 18) wird nur hier im Corpus Paulinum in der abschätzigen Bedeutung „Schönrednerei" verwendet; διχοστασία (V 17) kehrt nur noch im traditionsbestimmten Lasterkatalog in Gal 5,20 wieder. Und schließlich findet sich das Verbum έκκλίνειν bei Paulus nur noch in Rom 3,12 in einem alttestamentlichen Zitat. Nicht nur dieser Wortgebrauch, sondern auch die inhaltliche Argumentation weckt Fragen. Wenn Paulus sich sonst mit Gegnern oder Irrlehrern auseinandersetzt - im Galater- und Philipperbrief sowie in beiden Korintherbriefen tut er deren Position nicht mit wenigen 5

6 7

Vgl. J. Fitzmyer, Romans (AncB 33), New York 1993, 745: „The similarity of this paragraph to Phil 3:17-19 makes one think that these verses could have come from another fragment of Pauline epistolary correspondence"; vgl. auch Β. Byrne, Romans, Collegeville 1996, 456: „The case for regarding this warning as deuteroPauline ... remains strong." Hingewiesen sei auch auf Κ. P. Donfried (Hg.), The Romans Debate, Peabody 21991, 51, der auf die von J. Knox geäußerten Bedenken Bezug nimmt: „This paragraph (sc. V. 17-20), in view of the newness of the subject matter and the abrupt change of tone, raises as serious a question as to the original connection of this chapter with the letter to the Romans as does the preceding paragraph of greetings." Donfried selbst entscheidet sich jedoch mit vollem Recht dahin, „that chapter 16 was an integral part of Paul's original edition of Romans" (52). Vgl. Ollrog, Abfassungsverhältnisse (s. Anm. 2), 244. So ebd., 230.

A p o s t o l i s c h e E r m a h n u n g in R o m 16,17-20

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Worten ab, sondern führt er Gründe an, die er mithilfe des Rückgriffs auf die heiligen Schriften sowie auf die gemeinchristliche Botschaft des Evangeliums gewinnt. Anders wird in den Pastoralbriefen mit Häretikern umgesprungen, indem man sich nicht mehr die Mühe macht, sie eingehend zu widerlegen, sondern sie mit scharfer Polemik abweist und ihnen unmoralischen Lebenswandel vorwirft, der sie ohnehin als unglaubwürdig erscheinen läßt. Der Hinweis auf die rechte Lehre könnte eher - so scheint es - der Theologie der Pastoralbriefe nahestehen als den authentischen Paulusbriefen. Der plötzliche Wechsel der Tonart, in der die Verse 17-20 reden, läßt sich schwerlich mit der Erwägung hinreichend erklären, Paulus möge dem Schreiber Tertius „plötzlich die Feder aus der Hand genommen haben, um ein paar eindringliche Worte hinzuzufügen - dann gibt er sie ihm zurück, und fährt (mit V 21) ruhig wie vorher fort, Nachträge zu diktieren"8. So einfach läßt sich die Frage, die den Ort der Verse 17-20 am Ende des Römerbriefes angeht, nicht beantworten. Doch wollen die Beobachtungen, die gegen paulinische Autorschaft geltend gemacht werden, kritischer Prüfung unterzogen werden.

II. Vorgaben der Tradition Was läßt sich über die Position jener Leute ausmachen, vor deren Lehre und Treiben so nachhaltig gewarnt wird? Begreiflicherweise empfinden die meisten Exegeten eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber jenen kurzen Angaben, die in Vers 17f gemacht werden. Man urteilt daher vielfach mit vorsichtiger Zurückhaltung: Die „alte Ansicht, Paulus spiele auf die Beobachtung der Speisegesetze an und verhöhne dort die Judenchristen mit ihrem Gotte Bauch", behalte „die größere Wahrscheinlichkeit"9. „Die Leute, die Streit und σκάνδαλον (Anstoß) in Rom anstiften", seien „wohl Judaisten, die sich in Rom aufhalten"10. Es sei „anzunehmen, daß es eben die Judaisten sind, gegen deren Kritik seines Evangeliums Paulus die Gedankenführung des Briefkorpus mit konzipiert hat, um die römische Gemeinde von vornherein gegen mögliche Störversuche von jener Seite zu immunisieren"11. Der Vermutung, es sei an judaistische Irrlehrer zu denken, wird von anderen Gelehrten die Annahme entgegengestellt, es könnte sich 8 9 10 11

Vgl. H. Uetzmann, An die Römer (HNT 8), Tübingen "1933,127. J. Behm, Art. κοιλία, ThWNT III (1938) 786-789, hier 788. Vgl. E. Peterson, Der Brief an die Römer, hg.v. B. Nichtweiß, Würzburg 1997, 379. Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer III (EKK 6/3), Neukirchen-Vluyn u. a. 1982, 144.

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um gnostisierende Lehrer handeln. Die polemische Wendung, der Bauch sei ihr Gott (vgl. Phil 3,18), könne darauf hinweisen, daß an „libertinistische Enthusiasten" zu denken sei12. Daß die Versuche, jene Lehrer genauer zu bestimmen, so weit auseinandergehen, ist nicht verwunderlich. Denn offensichtlich hat Paulus sich bewußt mit jenen knappen Andeutungen begnügt, die er in Vers 17f macht. Die wenigen Hinweise lassen sich kaum mit der Überlegung erklären, in Rom hätten zumindest die ehemaligen Mitarbeiter darüber Bescheid gewußt, „was für Leute es sind, die da auf dem Wege nach Rom sind, bevor Paulus selbst dort eintreffen kann"13. Der Apostel kann sich offensichtlich mit so kurz gehaltener Polemik begnügen, weil er auch sonst gegen Ende seiner Briefe nur mit wenigen Worten noch einmal abschließend hervorhebt, auf welche Unterscheidung seine Gemeinden genau zu achten haben. So wird 1 Kor 16,22 eine scharfe Trennung mit den Worten markiert, wer den Herrn nicht lieb habe, der sei „Anathema" - das heißt von der Feier der Eucharistie ausgeschlossen, die nach Verlesung der apostolischen Belehrung gehalten werden soll14. Und am Ende des Galaterbriefs faßt - wohl mit eigener Hand schreibend - der Apostel noch einmal knapp zusammen, wie sich die Gemeinden gegenüber jenen Lehrern des Gesetzes verhalten sollen, die sich anschicken, sie von der Wahrheit des Evangeliums fortzulocken (Gal 6,11-18). Diesen abschließenden Warnungen folgt stets der Gnadenwunsch, der das letzte Wort des Apostels an seine Adressaten darstellt (vgl. 1 Kor 16,23; Gal 6,18; Rom 16,20 u.ö.). Da die Einladung, untereinander den heiligen Kuß auszutauschen, des öfteren in den letzten Sätzen der Apostelbriefe ausgesprochen wird (Rom 16,16; 1 Kor 16,20; 2Kor 13,12; 1 Thess 5,26; 1 Petr 5,14), kann aus diesen Hinweisen auf eine vorgegebene Zusammengehörigkeit geschlossen werden, die Apostelbriefe und Feier des Herrenmahls miteinander verbindet. Hat also „die Warnung vor den Irrlehrern und ihren Spaltungen schon in ältester Zeit ihre Beziehung zur Abendmahlsliturgie, so wird man auch dieselbe abrupt auftauchende Warnung Rom 16,17ff in diesen Zusammenhang rücken dürfen"15. 12 13 14 15

Vgl. W. Schmithals, Der Römerbrief, Gütersloh 1988, 560f, sowie die ausführliche Darlegung in: ders., Die Irrlehrer von Rom 16, StTh 13 (1959) 51-69 (= ders., Paulus und die Gnostiker, Hamburg 1965,159-173). Vgl. Wilckens, Rom III (s. Anm. 11), 144. Vgl. G. Bornkamm, Das Anathema in der urchristlichen Abendmahlsliturgie, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulus-Studien (BEvTh 16), München 51966, 123-132, hier 123. Vgl. Bornkamm, ebd., 129. - Beachtenswert ist zudem die Beobachtung, daß es antiker Rhetorik entsprach, gegen Ende einer Rede bzw. eines Briefes eine indignatio zu bringen, die „arouses anger and hostility against the opponent" (vgl. H.-D. Betz, The Literary Composition and Function of Paul's Letter to the Galatians, NTS 21

Apostolische Ermahnung in Rom 16,17-20

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Offensichtlich ist die Abfolge der am Ende des Römerbriefs ausgesprochenen Argumentation in stärkerem Maß, als zumeist gesehen, von traditionellen Vorgaben bestimmt. Das gilt zunächst für den Rahmen, in den der Gedankengang eingefügt ist. Die apostolische Ermahnung unterbricht keineswegs die noch nicht zu Ende geführte Grußliste, sondern schließt sich an die Aufforderung an, zum Zeichen der gegenseitigen Vergebung den heiligen Kuß einander zu gewähren 16 . Zugleich leitet sie über zum Gnadenwunsch, mit dem der Apostel seine Briefe stets abzuschließen pflegt. Nicht nur der Rahmen, wie er für den Briefschluß vorgegeben war17, sondern auch die Terminologie, deren Paulus sich in diesen Sätzen bedient, war zum nicht geringen Teil durch Tradition vorgegeben. Hierdurch erklärt sich sowohl die mehrfache Verwendung von Hapaxlegomena wie auch der deutlich zu erkennende Rückgriff auf ausgesprochen judenchristliche Überlieferung. Ihr sind sowohl die nachdrückliche Betonung rechter Lehre (V 17)18, wie auch die Gegenüberstellung von „Gut und Böse" (V 19)19 und die Begriffsverbindung „der Gott des Friedens" (V 20)20 zuzuordnen.

III. Paulinische Redaktion in apostolischer Paränese In welcher Weise hat sich der Apostel vorgegebener Uberlieferungen bedient, um die eindringliche kurze Ermahnung, die er an den Schluß seines Briefes setzt, zu formulieren? Er zitiert nicht ein geschlossenes Stück traditioneller Aussage, sondern nimmt einzelne Begriffe und Ausdrücke auf, um die ihm erforderlich erscheinende Abgrenzung zu markieren. Mit der kraftvollen Wendung παρακαλώ δέ υμάς, die er des öfteren an den Anfang besonders wichtiger Aufforderungen setzt (vgl.

16 17 18 19

20

(1974/75) 353-379, hier 357 [= ders., Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994, 63-97, hier 68]). Die in V. 21-23 angefügten Grüße stellen somit eindeutig einen Nachtrag dar, der als Postscriptum an den abschließenden Gnadenwunsch (V. 20b) angehängt wurde. Vgl. Müller, Schluß (s. Anm. 1), 217-219. Jüdisches Erbe wird daran erkennbar, daß die rechte Lehre „gelernt werden muß" (vgl. auch Phil 4,8). Vgl. O. Wischmeyer, Gut und Böse. Antithetisches Denken im Neuen Testament und bei Jesus Sirach, in: N. Calduch-Benages / J. Vermeylen (Hg.), Treasures of Wisdom. Studies in Ben Sira and the Book of Wisdom (BEThL 143), Leuven 1999,129-136. Mit Recht wird festgestellt: „In den weisheitlichen Schriften finden sich die meisten Belege für den Gut-Böse-Merismus in den Sprüchen, bei Kohälät und in Jesus Sirach" (133). Dieser Ausdruck findet sich bei Paulus wiederholt im Schlußteil seiner Briefe (vgl. Rom 15,33; 2Kor 13,11; Phil 4,19; 1 Thess 5,23; weitere Belege bei Ollrog, Abfassungsverhältnisse [so Anm. 2], 230).

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Rom 12,1; 15,30 u.ö.), leitet er den Abschnitt ein21 und spricht mit der ausdrücklichen Anrede „Brüder" (vgl. 1,13; 7,1.4; 8,12; 10,1; 11,25; 12,1; 15,14 u.ö.) noch einmal seine Adressaten mit betonter Hinwendung an. Gewichtige Gründe machen eine Trennung von falschen Lehrern, die von außen eindringen und sich einschmeicheln könnten, zwingend erforderlich. Zuerst wird auf Form und Inhalt ihrer Rede hingewiesen, die sich bei erstem Anschein freundlich und annehmbar zeigen mag. Doch wenden sie unredliche Mittel an, indem sie sich wohlklingender Rede bedienen 22 . Damit aber machen sie nur schöne Worte, denen dann keine entsprechenden Taten folgen23. Denn die Folge ihrer Wirksamkeit sind Spaltungen und Ärgernisse, die rechter Auslegung der christlichen Botschaft zuwiderlaufen und die Herzen der Arglosen täuschen. Mit diesen Worten betont der Apostel das entscheidende Kriterium, nach dem zu urteilen ist. Die Lehre, auf die sich Paulus hier bezieht, ist die „ fides quae creditur, welche in Gestalt fester Tradition mitgeteilt und empfangen wird" 24 . Diese Lehre ist im τύπος διδαχής (Rom 6,17) überkommen und weitergegeben worden 25 , so daß die Glaubenden wissen, woran sie sich zu halten und wie sie zu entscheiden haben. Indem Paulus dieses Kriterium so nachdrücklich geltend macht, hebt er noch einmal hervor, wie wichtig es ihm ist, nichts anderes zu verkündigen als die gemeinchristlichen Aussagen des Evangeliums, das er in seiner Theologie und Lehre auslegt. Insofern hat Paulus „in der Tat den Ansatz dazu geliefert, daß die Pastoralen von der ,gesunden Lehre' sprechen können und sich auf sie berufen" 26 . Wort und Tat stimmen bei den Vertretern falscher Lehre in keiner Weise überein. Der Apostel nennt keine Namen, sondern spricht nur 21 22 23 24 25

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Vgl. H. Schlier, Vom Wesen der apostolischen Ermahnung nach Rom 12,1-2, in: ders., Die Zeit der Kirche, Freiburg 1956, 74-89, hier 75-82. Zu den Begriffen χρησοτολογία und ευλογία vgl. J. L. North, ,Good Wördes and Faire Speaches' (Rom 16.18 AV): More Materials and a Pauline Pun, NTS 42 (1996) 600614, passim. Vgl. Κ. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig 1999,325. Vgl. E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 31974,401. Der Hinweis auf den τύπος διδαχής in Rom 6,17 ist nicht als sekundäre Glosse auszuscheiden (so R. Bultmann, Glossen im Römerbrief, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 278-284, hier 283f), zumal sich in der handschriftlichen Überlieferung des Römerbriefs keinerlei Hinweise finden, die auf einen sekundären Eintrag deuten könnten. Vgl. Käsemann, Rom (s. Anm. 24), 401. - G. Bornkamm, Zur Vorgeschichte des Zweiten Korintherbriefes, in: ders., Glaube und Geschichte II. Gesammelte Aufsätze IV (BEvTh 53), München 1971, 162-194 macht darauf aufmerksam, eine theologisch bedenkliche Richtung werde eingeschlagen, wenn sog. Irrlehrer mit Berufung auf die rechte Lehre kurz abqualifiziert werden: „Der summarischen apokalyptischen Etikettierung der Gegner entspricht ja zugleich eine Verfestigung der Glaubensbotschaft zur reinen Lehre, die zu keiner Auseinandersetzung mit dem Gegner mehr bereit ist" (184).

Apostolische Ermahnung in Rom 16,17-20

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geringschätzig von „jenen Leuten", die zwar vorgeben, wie der Apostel (vgl. Rom 1,1; 12,11; 2Kor 4,5; Phil 1,1; 2,22 u.ö.) dem Herrn Christus dienen zu wollen. In Wahrheit aber dienen sie nur ihrem eigenen Bauch27. Mit jener scharfen negativen Qualifikation nimmt Paulus einen Ausdruck auf, wie man ihn auch sonst in polemischen Auseinandersetzungen dem Gegner entgegenschleuderte, um ihn als moralisch verwerflich zu schmähen28. Die Wendung läßt sich gewiß nicht auf die sogenannten Schwachen beziehen, von denen man sich nicht abwenden, sondern denen man sich behutsam zuwenden soll (Rom 14,1-15,13). Die Ausdrucksweise bleibt jedoch in einer gewissen Unbestimmtheit in der Schwebe und läßt sich - im Bedarfsfall - sowohl gegen Judaisten, die ihr Vertrauen auf die Beschneidung setzen, wie auch gegen Libertinisten richten, die sich ausschweifendem Genuß hingeben. Paulus läßt keine weitere Charakterisierung jener Leute folgen, die sich umtriebig unter den Christen in Rom zeigen könnten. Er gibt nur seinen Adressaten in aller Kürze zu bedenken, auf welche Weise sie prüfen und entscheiden sollten, um notwendige Abgrenzungen vorzunehmen und an der rechten Lehre festzuhalten, wie sie sie gelernt haben. Diese Mahnung kann der Apostel mit der zuversichtlichen Feststellung verstärken, daß man allerorten29 vom guten Zustand der römischen Christenheit zu reden weiß. Wie durch die einleitende Wendung παρακαλώ δέ ΰμας (V 17) die Stimme des Apostels zu Gehör gelangt, so nun auch in der betont hervorgehobenen Aussage, Glaube und Gehorsam, Gehorsam und Glaube der Adressaten (vgl. Rom 1,5) seien überall bekannt (vgl. 1,8). Läßt Paulus zu Beginn seines Briefes durch Aufnahme judenchristlicher Tradition (l,3f) erkennen, daß er um die judenchristlichen Anfänge der römischen Christenheit weiß, so bedient er sich auch am Ende judenchristlicher Überlieferungen, die er mit Wendungen eigener Formulierung versieht. Fügt er den ausdrücklichen Wunsch hinzu, die Christen in Rom möchten „weise sein zum Guten und unverdorben gegenüber dem Bösen", so nimmt er auch mit diesen Worten judenchristliche Tradition auf30. Auf apokalyptische Vorstellungen deutet schließlich die auf die Zukunft gerichtete Verheißung, 27 28

29 30

Vgl. K. Berger, Die impliziten Gegner. Zur Methode des Erschließens von „Gegnern" in neutestamentlichen Texten, in: Kirche. FS Günther Bornkamm, Tübingen 1980, 373-400: „moralische Diffamierung" (379). Hellenistische Belege zur Verwendung ähnlicher Ausdrücke in polemischen Auseinandersetzungen in: Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus II/l hg. v. G. Strecker und U. Schnelle, Berlin/New York 1996, 230f. Mit εις πάντας (V. 19) sind „alle" gemeint, „die von euch gehört haben". S.o. S. 98 (Mitte der Seite) sowie Mt 10,16: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben."

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der Gott des Friedens werde den Satan niederwerfen unter die Füße der Glaubenden31. Dies ist die einzige Stelle im gesamten Römerbrief, an der der Satan bzw. Teufel überhaupt Erwähnung findet32. Ist die in Vers 20a ausgesprochene Zusage so gehalten, daß ihr Inhalt Juden und Christen gleicherweise angeht, so gibt der abschließende Gnadenwunsch der genuin christlichen Hoffnung Ausdruck, die die Adressaten und den Apostel zu fester Verbundenheit zusammenschließt. Bedrohung, die von außen kommen könnte - welcher Art sie auch sein mag -, und entschiedene Abwehr der von ihr ausgehenden Gefahren lassen Empfänger und Schreiber des Briefes nur um so fester zusammenrücken, indem sie bei der rechten Lehre bleiben und sich nicht auf nutzlose Debatten und Streitereien einlassen33. Die nachdrückliche apostolische Ermahnung zielt darauf, diese Festigkeit zu stärken und mit der zuversichtlichen Versicherung zu versehen: „Die Gnade unseres Herrn Jesus möge mit euch sein."34

31 32 33 34

Vgl. TestLev 18,12: Beliar werde in der kommenden Paradieseszeit gebunden und den Gerechten Gewalt gegeben werden, „auf die bösen Geister zu treten" (vgl. weiter Offb 20,1-10). Zu beachten ist, daß auch Rom 5,12ff, wo vom Eingang die Rede ist, den die Sünde durch Adams Ungehorsam in die Welt fand, die Gestalt des Satans nicht genannt wird. Vgl. Lampe, Christen (s. Anm. 2), 131. Als Prädikat ist εστω bzw. βσται zu ergänzen.

8.

Der Römerbrief des Apostels Paulus und die Anfänge der römischen Christenheit Aus der Reihe der Briefe des Apostels Paulus hebt sich der Römerbrief sowohl durch seinen beträchtlichen Umfang wie auch seinen schwergewichtigen Inhalt heraus. Während sich der Apostel sonst an Gemeinden gewandt hat, die aus seiner missionarischen Wirksamkeit hervorgegangen waren und nun guten Rat und weiterführende Belehrung von ihrem Gründer erfahren sollten, hat Paulus die Christen in Rom bisher noch nicht besuchen können. Die weit ausholende Darlegung über Inhalt und Gestaltungskraft des Evangeliums ist in einen brieflichen Rahmen gefasst, der in einer behutsam formulierten Einleitung und einem ungewöhnlich ausführlichen Schlußteil einigen Aufschluß über die Lage bietet, in der sich der Apostel befindet, und eine Reihe von Hinweisen gibt, die die Situation der römischen Christenheit - wenn auch nur in knappen Andeutungen - beleuchten. Ihnen sei mit einigen Beobachtungen nachgespürt, die dazu beitragen mögen, die Lage zu erhellen, in der sich einerseits der Verfasser und andererseits die Empfänger dieses inhaltsreichen Schreibens befanden. Dabei soll zuerst bedacht werden, welche Erwägungen den Apostel zur Abfassung seines Briefes veranlasst haben. Sodann ist zu skizzieren, was sich über die Anfänge der römischen Christenheit ausmachen lässt. In einem dritten Abschnitt ist das Problem zu diskutieren, ob dem Römerbrief - einschließlich des letzten Kapitels - literarische Integrität zuerkannt werden kann oder nicht. Und zuletzt ist zu klären, welche verläßlichen Angaben dem 16. Kapitel zu entnehmen sind hinsichtlich der Situation der römischen Christenheit zu dem Zeitpunkt, zu dem der Römerbrief verfasst wurde.

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Wo sich der Verfasser aufhielt und zu welchem Zeitpunkt er seine Gedanken zu schlüssiger Argumentation zusammenfasste, ist im Brief deutlich gesagt. Paulus empfiehlt am Ende seines Briefes den Christen in Rom eine tatkräftige Frau namens Phoebe, die sich in der Gemeinde von Kenchreae, dem östlichen Vorhafen Korinths, durch hilfreichen Dienst ausgezeichnet hat: sie möchten sie im Herrn aufnehmen, wie es der Heiligen würdig ist, und ihr beistehen, wo und wie sie dessen bedürfen mag (16,lf.). Der Apostel hielt sich demnach in Korinth in der Gemeinde auf, der er sich in Sorge und mancher leidvollen Erfahrung verbunden wusste, und schreibt von dort etwa um das Jahr 56/57 n.Chr. nach Rom. Er sieht seine Aufgaben, die ihm im missionarischen Wirken im östlichen Bereich des Imperium Romanum gestellt waren, als erfüllt an. In etlichen Städten hatte er christliche Gemeinden aufbauen können, denen er nun selbständige Verantwortung dafür geben möchte, das apostolische Werk weiterzuführen. Paulus traut diesen jungen Gemeinden zu, dass sie durchaus imstande sein werden, dieser ihnen aufgegebenen Verpflichtung zu entsprechen. Anders sieht hingegen die Lage im westlichen Teil des Reiches aus. Dort war die Kenntnis der griechischen Sprache weit weniger verbreitet als im hellenisierten Osten. Auch gab es im Westen kaum jüdische Gemeinden, in deren Synagogen man am Gottesdienst hätte teilnehmen und zur versammelten Gemeinde sprechen können, um ihnen zuzurufen, die Verheißungen der heiligen Schriften seien in Kreuz und Auferstehung des Christus in Erfüllung gegangen. Doch ehe Paulus sich hätte auf den Weg nach Rom begeben können, muß er zuvor nach Jerusalem ziehen, um in Begleitung mehrerer Mitarbeiter der dortigen, notleidenden Urgemeinde die Summe Geldes zu überbringen, die er in seinen Gemeinden eingesammelt hatte, um die feste Gemeinschaft zwischen Juden und Griechen im einen Volk Gottes zu bekräftigen. Nicht ohne Sorge sieht Paulus sich vor diese Aufgabe gestellt, muß er doch befürchten, als Apostel der Völker auf manche Kritik, ja vielleicht Feindschaft in Jerusalem zu stoßen. Darum erbittet er von den Christen in Rom fürbittendes Gedenken, er möge gerettet werden vor den Ungläubigen in Judäa und sein Dienst für Jerusalem möchte wohlgefällig sein bei den Heiligen (15,30-32). Paulus befand sich somit in einer von manchen Sorgen umstellten Situation, als er den langen, nach Rom gerichteten Brief diktierte, und musste befürchten, dass es ihm nicht mehr vergönnt sein werde, seine Vorhaben, eines nach dem anderen, zu verwirklichen.

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In einer gründlichen Untersuchung der Probleme, die mit der Abfassung des Römerbriefes verbunden sind, hat Angelika Reichert kürzlich die Überlegung vorgetragen, Paulus sei angesichts der in Jerusalem zu erwartenden Schwierigkeiten ungewiß gewesen, ob er seinen Plan eines Besuches in Rom werde wirklich ausführen können.1 Deshalb habe er den Christen in Rom einen so ausführlichen Brief geschrieben. Denn er habe sie dafür gewinnen wollen, sich künftig anstelle des Apostels für die Erfüllung des Auftrags verantwortlich zu wissen, den er bisher versehen hatte. Darum sei ihm daran gelegen gewesen, eine grundsätzliche Verständigung über das Evangelium herzustellen.2 Zwar ist einzuräumen, dass wir über die Erwägungen, die Paulus damals angestellt haben mag, nicht mehr in Erfahrung bringen können, als er selbst in seinem Schreiben zu erkennen gibt. Doch wird es durchaus als möglich gelten dürfen, dass den Apostel Gedanken solcher Art beschäftigt haben mögen. Zwar wurde durch seinen Märtyrertod, den er in Rom erlitt, sein Lebenswerk jäh abgebrochen. Doch sein Brief fand in der römischen Christenheit aufmerksame Aufnahme, so dass die vom Apostel bezeugte Wahrheit des Evangeliums ihre für alle Christen gültige Kraft in aller Welt entfalten konnte.

II. Wie war es zur Bildung der frühesten Christenheit - das ist nunmehr zu fragen - in Rom gekommen? Wie die Christusbotschaft in die Hauptstadt des Reiches gelangt ist, kann weder aus dem Römerbrief noch aus anderen Nachrichten in Erfahrung gebracht werden. Nirgendwo werden die Namen von Missionaren genannt, die als christliche Boten nach Rom gekommen sind. Auch der Apostel Petrus, der nach späterer Tradition der erste Bischof in Rom gewesen sein soll, wird im Römerbrief nicht erwähnt. Zwar wird es als historisch zutreffende Überlieferung angesehen werden dürfen, dass Paulus und Petrus kurze Zeit nacheinander in Rom das Martyrium erlitten haben3; aber keiner von beiden ist der Gründer einer Gemeinde in Rom gewesen. Die Anfänge der römischen Christenheit werden vielmehr auf namenlose, unbekannte Boten zurückgehen. Sicherlich sind schon sehr früh einzelne Christen von Jerusalem nach Rom gekommen (vgl. Act. 2,10),

1 2 3

Vgl. A. Reichert, Der Römerbrief als Gratwanderung. Eine Untersuchung zur Abfassungsproblematik (FRLANT 194), Göttingen 2001. Ebd., 221.248.321.333 u.ö. Vgl. H. Lietzmann, Petrus und Paulus in Rom, Bonn 1915 21927.

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die die Christusbotschaft dorthin trugen. Diese wird zuerst in jüdischen Kreisen Zustimmung, aber auch Ablehnung gefunden haben. Die Christusbotschaft muß alsbald Unruhe in das Leben der Synagogengemeinden gebracht haben. Darauf weist ein kurzer Satz in der Vita hin, die der Schriftsteller Sueton über den Kaiser Claudius verfaßt hat. Darin heißt es: Judaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit.4 Zwar scheint der geläufige Name Chrestus, mit dem auch viele Sklaven gerufen wurden, darauf hinzudeuten, dass man der Meinung war, in einem Träger dieses Namens den Urheber der Unruhen benennen zu können. Tatsächlich aber muß es sich um ein Missverständnis handeln und mit dem Christustitel - d.h. Gesalbter/Messias - der entscheidende Streitpunkt entstanden sein. Diese Vorgänge, nicht aber ein prinzipielles Verbot der einen oder anderen Religionsausübung, riefen die römischen Behörden auf den Plan, so dass sie eingriffen, um den bürgerlichen Frieden wiederherzustellen. Schwerlich wird man damals alle in Rom ansässigen Juden haben vertreiben wollen. Sollte es sich um ein Verbot von Versammlungen und damit auch Gottesdiensten gehandelt haben? Oder hat man sich darauf beschränkt, Vorsteher und Älteste auszuweisen? Am wahrscheinlichsten dürfte die Annahme sein, dass diejenigen betroffen wurden, auf die man den Streit zurückführte - d.h. vor allem Judenchristen, die das Evangelium in den Synagogen zur Sprache gebracht hatten. Nach dem Tod des Claudius im Jahr 54 n.Chr. erlosch dieses Dekret, so dass die ausgewiesenen Juden und mit ihnen auch Judenchristen zurückkehren konnten. Doch hatte dieses Edikt bewirkt, dass nach judenchristlichen Anfängen von nun an die Heidenchristen die größere Zahl der sich sammelnden Christenheit in Rom bildeten. Da viele von ihnen aus dem Umkreis der Synagogen gekommen waren, denen sie sich einst als Sympathisanten in lockerer Zugehörigkeit verbunden wussten, kann bei den meisten von ihnen eine gewisse Kenntnis der alttestamentlichen Schriften vorausgesetzt werden. Im Eingang seines Briefes greift der Apostel auf bekenntnisartige Aussagen zurück, die deutlich erkennen lassen, dass sie auf judenchristlichen Ursprung zurückgehen. Darin heißt es, Christus sei aus dem Samen Davids geboren nach dem Fleisch, aber zum Sohn Gottes in Kraft eingesetzt nach dem Geist der Heiligkeit (l,3f.). Die Hoheitstitel nehmen ebenso wie die Aussage, der Gesalbte Gottes sei als Sohn Got4

Vgl. Vita Claudii 25 sowie R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie (WUNT I, 71), Tübingen 1994, 1 3 9 180; H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius, Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert (Hermes 71), Stuttgart 1996 und Κ. P. Donfried/P. Richardson, Judaism and Christianity in First-Century Rome, Grand Rapids/Cambridge UK 1998, 93-111.

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tes inthronisiert worden, messianische Erwartungen auf, wie sie im damaligen Judentum ausgebildet worden waren. Paulus ist offensichtlich darüber informiert, dass die allerersten Anfänge der römischen Christenheit judenchristlich geprägt waren. Darauf weisen auch in der Argumentation des ganzen Römerbriefes die außergewöhnlich häufigen Bezugnahmen auf die Schriften des Alten Testaments hin, mit denen dargelegt wird, dass und wie die den Vätern zugesagten Verheißungen in Erfüllung gegangen sind. Zugleich aber steht Paulus deutlich vor Augen, dass die größere Zahl römischer Christen aus heidenchristlichen Kreisen kam. An sie kann er sich mit der dringenden Mahnung wenden, nur ja nicht hochmütig zu werden und zu meinen, sie könnten sich erhaben über andere dünken oder verächtlich reden über jüdische Nachbarn, die sich der Christusbotschaft nicht - oder noch nicht - geöffnet haben (11,17-24). Die weit ausholende Gedankenführung des Briefes wird jedoch ausdrücklich an alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom gerichtet5 - nicht nur an die eine oder andere Gruppe, sondern an alle Glieder des Volkes Gottes in der großen Stadt.6 Denn alle miteinander rufen sie den Namen des Herrn an, indem jeder und jede - keinen ausgenommen - mit fester Zuversicht darauf vertrauen, dass Gottes in Christus erwiesene Barmherzigkeit ihm und ihr gültig zugesagt und damit als Gabe rettenden Heils geschenkt ist.

III. Darf man den gesamten Text des Römerbriefes, wie er uns in der handschriftlichen Uberlieferung der ältesten Christenheit überkommen ist, als nach Rom gerichtet verstehen? Ober bleiben Zweifel hinsichtlich der literarischen Integrität, namentlich im Blick auf das letzte Kapitel? Diese Probleme seien nunmehr bedacht und soweit als möglich geklärt. Die weite Perspektive, die Denken und Reden des Apostels bestimmt, wird auch im ausführlichen Schlußteil eingehalten. Darin werden einige Mitteilungen gemacht, die Aufschluß über die Anfänge der Christenheit in Rom bieten. In der wissenschaftlichen Diskussion ist lange Zeit mit Gründen und Gegengründen erörtert worden, ob das letzte Kapitel des Briefes ursprünglich wirklich nach Rom gerichtet 5 6

Vgl. H. S. Hwang, Die Verwendung des Wortes πάς in den paulinischen Briefen, Diss. Theol. Erlangen 1985. Anders zuletzt J. G. Gager, Reinventing Paul, Oxford 2000, 101-143, der meint, Paulus habe im ganzen Brief primär die Heidenchristen im Blick „to clarify for gentile followers of Christ their relation to the law, Jews and Judaism" (107).

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war. Denn geht man die Reihe der Grüße durch, die der Apostel in einer langen Liste aufführt, so fällt auf, dass einige Namen, besonders die zu Beginn genannten, eher auf Ephesus als auf Rom hinweisen könnten. Das gilt sowohl von Epainetos, dem ersten Christen in Kleinasien, wie auch von Priska und Aquila, die einige Zeit zur Gemeinde in Ephesus gehört haben (Act. 18,26). Daher ist die kritische Frage - mit besonderem Nachdruck von dem englischen Gelehrten T. W. Manson7 - gestellt worden, ob man sich die Vorgänge etwa so vorzustellen habe: Phoebe habe sich von Korinth nach Rom auf die Reise begeben, sei über Ephesus gereist, habe dort eine Fassung der Kapitel 1-15 sowie die hinzugefügte Grußliste von Kapitel 16 abgegeben und dann ihre Reise nach Rom fortgesetzt und den dortigen Christen nur die 15 Kapitel des Römerbriefes ausgehändigt. So sei durch den Umweg über Ephesus dieses Schreiben erst sekundär auf 16 Kapitel angewachsen. Erwägungen dieser Art erhielten zusätzlichen Auftrieb, als die wertvolle Handschrift des Chester-Beatty-Papyrus P46 bekannt wurde, deren Niederschrift bis in die Zeit um 200 n.Chr. zurückreicht. Ihr Text ist daher als eines der ältesten Zeugnisse von besonderem Wert8 und bietet gerade hinsichtlich der Schlusskapitel des Römerbriefes einen Befund, dessen Beurteilung besonderer Sorgfalt bedarf. Ohne auf alle Einzelheiten eingehen zu können, sei im Blick auf unsere Überlegungen das wichtigste, zur Klärung anstehende Problem kurz beschrieben. Der in liturgischer Sprache gehaltene Lobpreis, mit dem der uns überkommene Text des Römerbriefes abgeschlossen wird, erweist dem allein weisen Gott durch Jesus Christus alle nur denkbare Ehre in alle Ewigkeit (16,25-27). Diese Verse sind, wie genaue Betrachtung von Sprache und Stil erweist, nicht vom Apostel selbst formuliert, sondern erst in nachpaulinischer Tradition geprägt und an das Ende des Römerbriefes gestellt worden. 9 Dieser feierliche Abschluß findet sich nun aber in der handschriftlichen Uberlieferung des Römerbriefes nicht nur an dessen Ende, sondern ist auch an anderen Stellen überliefert, um - wie deutlich erkennbar wird - schon an früherem Ort einen Abschluß zu markieren. Die auseinandergehende handschriftliche Überlieferung gibt nach Kurt Alands kundigem Urteil das schwierigste Problem auf, welches der neutestamentlichen Textkritik überhaupt gestellt ist.10 Der komplizierte Sachverhalt, der durch zahlreiche Varianten gebildet wird, ist von 7 8 9 10

Vgl. T. W. Manson, St. Paul's Letter to the Romans and others (1948, 1962), in: Κ. P. Donfried (Hg.), The Romans Debate, Peabody 2 1991,3-15. Vgl. K. und B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 21989, 67f. Zum einzelnen vgl. Aland, ebd., 298-300. Vgl. K. Aland, Der Schluß und die ursprüngliche Gestalt des Römerbriefes, in: ders., Neutestamentliche Entwürfe (TB 63), München 1979, 284-301, hier 284.

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Aland in überzeugender Weise entwirrt, geordnet und beurteilt worden. Unterzieht man die unterschiedliche Einordnung der Schlußdoxologie einer genauen Musterung, so bietet sich alsbald eine Erklärung dafür an, warum schon für frühe Zeit verschiedene Zweige der Überlieferung einen kürzeren Umfang von 15 - oder gar nur 14 - Kapiteln bezeugen. Die Unsicherheit dürfte bereits im 2. Jahrhundert n.Chr. in die handschriftliche Überlieferung gekommen sein und mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Marcion zurückgehen, der für den von ihm erstellten Kanon heiliger Schriften eine nach seinem Urteil gereinigte Fassung der paulinischen Briefe vorgelegt hatte. Ihm musste beschwerlich erscheinen, dass Christus ein Diener der Beschneidung genannt wird (15,8), zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen abermals eine Kette alttestamentlicher Zitate aufgeboten und gegen Ende des 16. Kapitels eine scharfe Polemik gegen Irrlehrer gerichtet ist (16,17-20), die man möglicherweise auch gegen ihn hätte geltend machen können. Daß Paulus seinen Lesern überdies den Plan ankündigt, nach Jerusalem reisen zu wollen (15,25-28), dürfte Marcion nicht sonderlich gefallen haben. Man wird deshalb von der Annahme auszugehen haben, dass Marcion eine Langfassung des Römerbriefes gekannt, sie aber bewusst gekürzt hat. Obwohl Marcion seiner gnostisch bestimmten Lehre wegen von der römischen Gemeinde ausgeschlossen wurde, ist offenbar seine den Text des Römerbriefes betreffende Entscheidung weiterhin von Einfluß geblieben, so dass eine nicht unbeträchtliche Zahl handschriftlicher Zeugen ihm darin gefolgt ist, die Schlußdoxologie an das Ende des 14. oder 15. Kapitels zu setzen. Doch diese Zuweisungen sind mit der hohen Wahrscheinlichkeit, wie sie textkritische Untersuchung überhaupt erreichen kann, eindeutig als sekundär zu beurteilen. Wird in manchen Handschriften schon am Ende des 15. oder gar des 14. Kapitels der Römerbrief abgeschlossen, so dürften vor allem liturgische Gründe den Ausschlag gegeben haben. Denn Reisepläne des Apostels und eine lange Grußliste eigneten sich nicht sonderlich zur Verlesung in der gottesdienstlichen Versammlung, so dass es sich anbieten konnte, den feierlichen Abschluß schon an eine frühere Stelle zu setzen. Dieses Urteil erfährt eine zusätzliche Stützung durch die Beobachtung, dass der Papyrus P46 zwar das 15. Kapitel mit der Schlußdoxologie beendet und damit für den liturgischen Gebrauch eine deutliche Zäsur markiert, dann aber gleichwohl das 16. Kapitel bringt. Aus diesem Befund darf geschlossen werden, dass trotz schwankender Bezeugung, namentlich der Schlußdoxologie, das 16. Kapitel fest zum Schreiben gehört, das der Apostel an die Christen in Rom gerichtet hat.

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Gründliche Untersuchungen, die in neuerer Zeit über die Vielzahl der in der Grußliste genannten Namen angestellt wurden - vor allem durch Peter Lampe11 haben zeigen können, dass ein ansehnlicher Teil der Namen sich als in Rom - vor allem, jedoch nicht ausschließlich, unter Sklaven und Freigelassenen - gebräuchlich nachweisen lässt. Allein aus der Aufzählung von Namen, wie sie in Rom 16 enthalten ist, lässt sich gewiß nicht mit hinreichender Sicherheit auf den Ort schließen, an dem ihre Träger jeweils anzutreffen waren. Doch sprechen keine zwingenden Gründe, die sich auf Angaben der Grußliste stützen ließen, für die Vermutung, diese könnte nicht nach Rom gerichtet sein. Paulus bittet ausdrücklich darum, den von ihm namentlich Genannten Grüße auszurichten. Auf diese Weise konnte der Apostel seinen Hörern und Lesern zeigen, dass er zwar bis dahin sie noch nicht hatte besuchen können, dass er jedoch etliche Leute in Rom kennt, die ihnen nähere Auskunft über ihn zu geben wissen und daher an ihrem Teil dazu beitragen können, Verbindungen zwischen dem Apostel und der Christenheit in Rom zu knüpfen. Man wird somit - ohne jedes verbleibende Bedenken - der Auffassung zustimmen, wie sie Wolf-Henning Ollrog am Schluß einer detaillierten Untersuchung der Abfassungsverhältnisse von Rom 16 formuliert hat: „Das letzte Kapitel des Rom wird völlig verständlich als regulärer Schluß des Briefes an die Römer." 12 In den meisten Kommentaren, die in jüngster Zeit zum Römerbrief vorgelegt wurden, wird daher mit vollem Recht das 16. Kapitel zum Ganzen des Briefes gezählt und der entgegenstehenden Hypothese, die sich früher stärkeren Zuspruchs hatte erfreuen können, der Abschied gegeben.

IV. Es bedurfte der soeben vorgetragenen Überlegungen, um hinlänglich begründen zu können, dass das letzte Kapitel des Briefes zu Recht daraufhin befragt werden darf, welche Auskunft es über die Anfänge der römischen Christenheit zu geben vermag. Die Frage, welche Situation in Rom bei Abfassung der Römerbriefes gegeben war, soll nun zum Schluß unserer Betrachtungen diskutiert werden, indem die Aufmerksamkeit insbesondere auf das letzte Kapitel gerichtet wird. Denn die inhaltsreichen theologischen Ausführungen des Briefes tragen grund11 12

Vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II, 18), Tübingen H989. Vgl. W.-H. Ollrog, Die Abfassungsverhältnisse von Rom 16, in: Kirche. FS Günther Bornkamm, Tübingen 1980, 221-244, hier 244.

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sätzlichen Charakter, um die allerorten zu bezeugende Gültigkeit des Evangeliums darzulegen. Was darüber zu sagen ist, gilt gewiß auch für und in Rom. Hinweise jedoch, die die dortige Situation näher beleuchten könnten, sind weder dem ausführlichen lehrhaften Teil, noch den ihm folgenden paränetischen Abschnitten zu entnehmen.13 Im Eingangs- und im Schlußteil des Briefes hat der Apostel in einigen Worten der römischen Christenheit ein gutes Zeugnis ausgestellt: Von ihrem Glauben sei überall die Rede (1,8) und man sei in Rom erfüllt von aller Erkenntnis und fähig, einander zu ermahnen (15,14). Darum könne man an Einsichten erinnern, die ihnen längst vertraut sind (15,15). Manchen in Rom lebenden Christen ist der Apostel an anderen Stätten seines Wirkens, zumal im östlichen Teil des Römischen Reiches, schon früher begegnet. Zum Beleg kann er eine stattliche Reihe von Namen aufführen, denen er Grüße auszurichten bittet (16,3-16). In neuerer Zeit ist diese Liste der Namen - vor allem durch eine umfangreiche Studie von Peter Lampe - genauerer Untersuchung unterzogen worden.14 Dabei hat sich ergeben, dass dieser Liste einige aufschlussreiche Hinweise über die Befindlichkeit der frühen römischen Christenheit entnommen werden können. Der Christin Phoebe, die den Brief des Paulus nach Rom überbringen und dort um freundliche Aufnahme nachsuchen sollte, waren mit den aufgeführten Namen einige Anhaltspunkte gegeben, wo und wie sie in der großen Stadt vertrauenswürdige Leute finden könnte, um sich an sie zu wenden. An erster Stelle wird das Ehepaar Priska und Aquila genannt. Sie hatten einst des Claudius-Ediktes wegen Rom verlassen müssen, dann in Korinth und Ephesus eine neue wirtschaftliche Existenz aufbauen können, die es ihnen ermöglichte, auch Paulus Arbeit und Verdienst des Lebensunterhalts bieten zu können (Act. 18,2.18.26). Nach dem Tod des Kaisers Claudius waren sie nach Rom zurückgekehrt und hatten es offensichtlich bald wieder zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Denn sie konnten in ihrem Haus einen Raum bereitstellen, der groß genug war, dass sich dort eine έκκλησία wie Paulus sagt - zum Gottesdienst zusammenfinden konnte. Der Begriff der έκκλησία, den Paulus im Eingang des Briefes nicht verwendet hatte, findet sich nun im 16. Kapitel zu wiederholten Malen. Von der Hausgemeinde, aus der Phoebe in Kenchreae bei Korinth kam (V. 1), war schon die Rede. Nun wird nicht nur die έκκλησία der Ehe13 14

Das gilt auch für den Abschnitt über die Schwachen und Starken (14,1-15,13), der gleichfalls nicht auf eine bestimmte Situation in Rom zielt, sondern grundsätzlichen Charakter trägt. S.o. zu Anm. 11.

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leute Priska und Aquila genannt (V. 5). Sondern es wird auch in der Mehrzahl von έκκλησίαι der Heiden gesprochen (V. 4) - vermutlich der kleinen Hausgemeinden, die an verschiedenen Stellen im paulinischen Missionsgebiet entstanden waren und untereinander Verbindung hielten.15 Darauf deutet auch der Gruß hin, der am Ende der Namensliste steht. Er wird von allen έκκλησίαι Christi den Brüdern und Schwestern in Rom ausgerichtet (V. 16). In diese Verbundenheit wird schließlich noch die ganze εκκλησία im Haus des Gajus einbezogen, der auch Paulus Unterkunft gewährte und der Gemeinde in Korinth wirksam diente (V. 23) Man wird aus dieser wiederholten Erwähnung kleiner Hauskirchen schließen dürfen, dass die frühe Christenheit in Rom noch keine eigenen Gebäude besaß, in denen sich die gottesdienstliche Gemeinde hätte versammeln können. Vielmehr wird es ähnlich wie in den kleinen Synagogen, die in verschiedenen Teilen der großen Stadt Rom bestanden, auch bei den Christen üblich gewesen sein, dass man sich in Häusern zusammenfand, die einzelne Christen zu öffnen und bereitzustellen in der Lage waren. Diese Annahme fügt sich zum bekannten Befund, dass die römische Christenheit bis zur Zeit des Kaisers Konstantin offensichtlich nicht über eine zentrale Versammlungsstätte verfügte. Die ältesten Kirchen, die bis heute im Zentrum der Stadt bestehen, werden - wie mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf - auf sehr alte Hauskirchen zurückzuführen sein. Erst Konstantin ließ an den Rändern der antiken Stadt mehrere große Basiliken errichten - S. Pietro, S. Paolo, S. Giovanni in Laterano, Sa. Croce, S. Lorenzo - , die an Größe bis dahin vorhandenen gottesdienstliche Räume bei weitem übertrafen. Der Apostel wendet sich mit seinem Brief nicht nur an die eine oder andere Hausgemeinde, sondern hebt im Eingang seines Briefes mit Betonung hervor, dass er alle - alle ohne Ausnahme - Geliebten Gottes und berufenen Heiligen ansprechen will (1,7). Unter anderen werden im 16. Kapitel diejenigen aus dem Haus des Aristobul genannt (V. 10). Da der Gruß an sie, aber nicht an ihren Besitzer und Herrn gerichtet wird, ist dieser offensichtlich nicht Christ, sondern - wie sein Name anzunehmen erlaubt - wahrscheinlich Jude gewesen.16 Werden im nächsten Satz „Diejenigen aus dem Haus des Narzissus" (V. 11) aufgeführt, so wird es sich gleichfalls um Sklaven ge15

16

Zu urchristlichen Hauskirchen vgl. bes. F. V. Filson, The Significance of the Early House Churches, JBL 58 (1939) 105-112; H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; ders., Die Hausgemeinde als Lebensform im frühen Christentum, MThZ 32 (1981) 1-15; M. Gielen, Zur Interpretation der Formel ή κατ' οίκον έκκλησία, Z N W 77 (1986) 109-125. Vgl. P. Lampe, Urchristliche Missionswege nach Rom: Haushalte paganer Herrschaft als jüdisch-christliche Keimzellen, Z N W 92 (2001) 123-127.

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handelt haben, die im Haus eines nicht-christlichen Herrn lebten, der immerhin so tolerant gewesen sein wird, seinen Leuten die Ausübung ihrer Religion zu gestatten. Der Name des Aristobul könnte auf Zugehörigkeit zur Familie des Herodes deuten, die bekanntlich engere Verbindungen nach Rom besaß und pflegte. Daher wäre denkbar, dass Aristobul von Palästina in die Hauptstadt des Reiches gezogen ist und einige christliche Sklaven mitgebracht hat, die dann alsbald begannen, zu anderen Menschen zu sprechen, und - zuerst wohl in einer jüdischen Synagoge - eine Art Brückenkopf bilden konnten, über den „das Judenchristentum in den 40er Jahren des 1. Jahrhundert n.Chr. aus dem syro-palästinischen Osten in die Welthauptstadt Rom vordrang". 17 Doch mit dieser Überlegung ist die Grenze dessen erreicht, was als begründete Vermutung gelten darf, ohne frei schweifender Phantasie zu verfallen. Was die Gemeinschaft der Christen untereinander betrifft, so fällt auf, dass bei der Erwähnung einzelner Namen auf besondere Funktionen Bezug genommen wird, die der eine oder die andere wahrnimmt, aber an keiner Stelle von fest geprägten und herausgestellten Ämtern die Rede ist. Dabei leisten neben den Männern auch Frauen ihren eigenständigen, der ganzen Gemeinde dienlichen Beitrag: So Phoebe als Schwester (άδελφή) und Vorsteherin (διάκονος) in der Gemeinde von Kenchreae (V. I)18 - Maria, die sich für die Gemeinde „gemüht" hat und darum Respekt verdient (V. 6)19 - oder eine Frau namens Junia, die zusammen mit Andronikos - vermutlich ihrem Ehemann - als Landsleute des Apostels bezeichnet werden, die einst mit ihm Gefangenschaft erlitten und sich unter den Aposteln besonders ausgezeichnet haben, die schon vor Paulus Christen waren (V. 7). Zu dieser Angabe ist auf ein kleines, vielfach hin und her gewendetes Problem hinzuweisen. Es betrifft die Angabe und Lesung des Namens, der dem des Andronikos an die Seite gestellt wird.20 Der Name 17 18

19 20

Vgl. Lampe, ebd., 127. Zum Problem vgl. zuletzt K. Romaniuk, Was Phoebe in Romans 16 a Deaconess? ZNW 81 (1990) 132-134; Μ. Emst, Die Funktion der Phoebe (Rom 16,lf.) in der Gemeinde von Kenchreai, Protokolle zur Bibel 1 (1992) 135-147; C. F. Whelan, Amica Pauli: The Role of Phoebe in the Early Church, JSNT 49 (1993) 67-85. Vgl. A. v. Harnack, κόπος (κοπιάν, οί κοπιώντες) im frühchristlichen Sprachgebrauch, ZNW 27 (1928) 1-10. Zur vielfach erörterten Frage, wie der Name der „Junia" bzw. des „Junias" zu verstehen ist, vgl. zuletzt P. Lampe, Junia/Junias: Sklavenherkunft im Kreise der vorpaulinischen Apostel (Rom 16,7), ZNW 76 (1985) 132-134; U.-K. Plisch, Die Apostolin Junia: Das exegetische Problem in Rom 16,7 im Licht von Nestle-Aland 27 und der sahidischen Überlieferung, NTS 42 (1996) 477-478; M.H. Burer/D.B. Wallace, Was Junia Really an Apostle? A Reexamination of Rom. 16,7, NTS 47 (2001) 76-91; Ε. J. Epp, Text-Critical, Exegetical and Socio-Cultural Factors Affecting the Junia/Junias Variation in Romans 16,7 (BEThL 161), Leuven 2002, 227-292.

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Ίουνία ist in der frühen Kirche - zu Recht - in femininer Bedeutung verstanden worden. Erst später wurde er in maskulinem Sinn akzentuiert, weil man sich nicht mehr vorstellen konnte, dass auch Frauen als Boten der guten Nachricht tätig gewesen sind. Da eine Kurzform von „Junianos" zwar philologisch möglich, jedoch nicht in der Antike gebräuchlich bezeugt ist, wird der Name auf eine Frau hinweisen, die vermutlich zusammen mit ihrem Mann im Dienst der Verkündigung gestanden hat - etwa in ähnlicher Weise wie das kurz vorher genannte Ehepaar Priska und Aquila oder Petrus und seine Frau, die zusammen mit ihm unterwegs gewesen ist (vgl. IKor 9,5). Die Jubiläumsausgabe des griechischen Neuen Testaments trägt dankenswerterweise den eben vorgetragenen Erwägungen Rechnung, indem sie den Namen, der neben dem des Andronikos steht, nicht mehr wie früher als Ίουνιαν, sondern als Ίουνίαν akzentuiert und durch diese kleine Korrektur eine wichtige Einsicht vermittelt, die die verantwortliche Mitwirkung von Frauen in der frühesten Christenheit betrifft.21 Wer sich tatkräftig für das Wohl der Gemeinde einsetzt, ist von ihr entsprechend zu achten und zu unterstützen (V. 12). Im Zusammenwirken der verschiedenen Funktionen, die der eine Geist wirkt, wird die Gemeinde auferbaut und gefördert. Am Ende der langen Folge von Grüßen wird - ehe darin die Feier des Herrenmahls sich anschließen konnte - dazu aufgefordert, untereinander den heiligen Kuß auszutauschen und dadurch einander gewährter Vergebung zu versichern.22 Da diese Aufforderung sich wiederholt am Schluß apostolischer Briefe findet (vgl. IThess 5,26; IKor 16,20; 2Kor 13,12; 1. Petr. 5,14), liegt die Annahme nahe, dass deren Verlesung vor der zum Gottesdienst versammelten Gemeinschaft erfolgte und dann die Feier des Herrenmahls gehalten wurde. Ohne Zweifel hat der Apostel größten Wert darauf legen müssen und wollen, dass der Inhalt seines Briefes öffentlich bekannt gemacht und dadurch die sachgemäße Zuverlässigkeit seiner Auslegung des gemeinchristlichen Evangeliums allgemeine Anerkennung finden sollte. Daher konnte und sollte der Römerbrief im Rahmen gottesdienstlicher Zusammenkünfte zum Vortrag kommen. Auf diesen Rahmen deutet nicht nur der eben erwähnte heilige Kuß hin, der allseitig ausgetauschte Vergebungsbereitschaft vor Beginn der eucharistischen Feier zu bekräftigen hatte. Sondern in diesen Zusammenhang fügt sich auch die schroff wirkende abschließende Ermahnung (16,17-20). Sie hält dazu an, achtzuhaben auf diejenigen, die Spal21 22

Vgl. Novum Testamentum Graece/Jubiläumsausgabe (1898-1998), Nestle-Aland 27. Auflage, 5. korrigierter Druck, Stuttgart 1998. Vgl. Κ. M. Hofmann, Philema hagion (BFChTh II, 38), Gütersloh 1938.

Die Anfänge der römischen Christenheit

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tungen und Ärgernisse anrichten und sich damit der rechten Lehre entgegenstellen. Diese Warnung entspricht dem kurzen Ruf des Anathema, wie er mehrfach als Einleitung zur Feier des Sakraments überliefert und bezeugt ist (vgl. IKor 16,22).23 Denn an der Eucharistie soll niemand teilhaben, der nicht zur Gemeinschaft der glaubenden und getauften Christen gehört. Es spricht daher hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch die entschiedene Abgrenzung, die falscher Lehre und Lebensweise gegenüber ausgesprochen wird, in den Verlauf gottesdienstlichen Handelns zu rücken ist, wie er für die frühe römische Christenheit vorausgesetzt werden darf.24 Den Plan, seinen angekündigten Besuch in Rom durchzuführen und von dort nach Spanien weiterzureisen, hat der Apostel nicht mehr verwirklichen können. Nur als Gefangener kam Paulus in die Hauptstadt des Römischen Reiches. Doch über die Vorgänge, die dort zu seinem Ende im Martyrium führten, gibt es nur legendäre Darstellungen. Die gedankenreichen Darlegungen jedoch, die er den Christen in Rom über die in aller Welt auszurichtende Verkündigung des Evangeliums zugesandt hatte, sind offensichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Ausführungen des Apostels wurden studiert und konnten gegenüber anderen Gemeinden als maßgebend geltend gemacht werden (vgl. lClem 35,5f.). Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. berief man sich in Rom - nicht ohne verhaltenen Stolz - auf das Beispiel der Apostel Petrus und Paulus, die hier Gefangenschaft und Märtyrertod erlitten und dadurch ein leuchtendes Vorbild der Geduld gegeben hatten (lClem 5,3-7). Und zu Anfang des 2. Jahrhunderts n.Chr. wurde - wie der Märtyrerbischof Ignatius von Antiochia bezeugt - der durch reiche Gaben begnadeten Kirche zu Rom der hohe Rang zuerkannt, in der werdenden katholischen Christenheit den Vorsitz in der Liebe zu führen (Ign. Rom inscr) - eine Würde, die nach den Worten des Ignatius zugleich gültige Verpflichtung für alle bedeutet, die zur mit Gottes Barmherzigkeit begnadeten Kirche gehören (ebd.). Der Römerbrief des Apostels Paulus ist somit - wie an der alsbald erkennbaren Nachwirkung abzulesen ist - nicht nur für die römische Christenheit ein gültiges Vermächtnis des Apostels geworden, sondern er wird von der Christenheit aller Zeiten und Orte als grundlegende Botschaft christlicher Verkündigung gehört.

23 24

Vgl. G. Bornkamm, Das Anathema in der Abendmahlsliturgie, in: ders., Das Ende des Gesetzes, Paulusstudien (BEvTh 16), München 1952 5 1966,123-132. Vgl. ebd., 129.

9.

Martin Luther und der Römerbrief des Apostels Paulus1 - Biblische Entdeckungen Fünfhundert Jahre sind ins Land gegangen, seit Martin Luther in das Erfurter Kloster der Augustinereremiten eintrat. Die Erinnerung an diesen folgenreichen Schritt im Leben des späteren Reformators führt uns auf der einen Seite vor Augen, wie weit sich der zeitliche Abstand vom „Damals" zum „Heute" dehnt. Auf der anderen Seite aber macht sie uns bewusst, dass es wie ehedem auch für uns gilt, uns für Entdeckungen mit der Bibel offen zu halten. Können wir doch von Martin Luther lernen, dass aufmerksames Studium der heiligen Schrift allezeit auf überraschende und beglückende Erfahrungen stößt. Wie diese Entdeckungen für Luther ausgesehen haben, wollen wir uns an einigen bezeichnenden Beispielen von ihm zeigen lassen und dabei ein gutes Stück gemeinsamen Weges mit ihm gehen. Der junge Student Martin Luther war am Mittwoch, den 2. Juli des Jahres 1505 in der Nähe des Dorfes Stotternheim, unweit von Erfurt, in ein starkes Gewitter geraten. Ein Blitzschlag, der in seiner Nähe niederging, löste großen Schrecken aus, so dass er in seiner Angst ausrief: „Hilf du, S. Anna, ich will ein Mönch werden." Luther hatte das Empfinden, von einem unüberhörbaren Ruf Gottes getroffen und in Todesnähe geraten zu sein. Vor den Schrecken göttlichen Gerichts gerettet zu sein, begriff er als eine Weisung, fortan sein Leben als Mönch führen zu sollen. Gegen mancherlei Einreden, die alsbald von seiten seiner Familie und mancher Studienfreunde geltend gemacht wurden, hielt er entschieden stand und erfüllte sein Gelübde, indem er am 17. Juli die Schwelle zum Augustinerkloster in Erfurt überschritt und seinem Entschluß folgte, fortan sein ganzes Leben lang Gott zu dienen.2

1 2

Vortrag beim 13. Jahrestreffen der „Gemeinschaft Evangelischer Zisterzienser-Erben in Deutschland", Loccum 18. April 2005. Zu diesem Lebensabschnitt Luthers vgl. weiter M. Brecht, Martin Luther - sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 1981, 55-58.

Martin Luther und der Römerbrief

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In seinem Dienst, den der Mönch Martin Luther im Kloster mit sorgfältiger Genauigkeit versah, hatte er täglich die heilige Schrift Alten und Neuen Testaments zu lesen, zu hören und zu studieren. Im regelmäßigen Stundengebet wurde ihm das Buch der Psalmen so vertraut, dass er deren lateinischen Wortlaut auswendig kannte. 3 Und die Briefe des Apostels Paulus hatte er wieder und wieder zu betrachten - vor allem, seit ihm die Professur für Bibelwissenschaft an der erst kürzlich gegründeten Universität Wittenberg anvertraut worden war. Von 1508/09 an hatte er regelmäßig Vorlesungen über Schriften beider Testamente zu halten. Dieser Aufgabe ist er bis an sein Ende nachgekommen und hat seine Theologie vornehmlich in der Auslegung der heiligen Schrift entfaltet und vorgetragen. Nicht ohne gewissen Stolz durfte und konnte er sich als Doktor der heiligen Schrift darauf berufen, dass er kraft des ihm übertragenen Amtes für die Wahrheit des biblischen Zeugnisses öffentlich einzustehen habe. Die Texte seiner großen Vorlesungen über die Psalmen, den Römerbrief, den Galaterbrief und den Hebräerbrief, die er in den Jahren von 1513 bis 1518 gehalten hat, lassen deutlich erkennen, wie Luther in diesen Jahren als Ausleger der heiligen Schrift sein theologisches Denken ausgebildet und entfaltet hat. Im Vordergrund seiner biblischen Studien stand für Luther stets der Römerbrief des Apostels Paulus. Doch verstand er dessen Botschaft von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes zunächst dahin, dass diese als Ausdruck seines richterlichen Handelns zu begreifen sei. Das aber musste bedeuten, dass ein Christ - und vor allen anderen ein Mönch sich darum zu mühen habe, auf gute Werke bedacht zu sein, die vor Gottes Richterthron würden bestehen können. 4 Im Rückblick, mit dem er später auf die Jahre seines monastischen Lebens zurückschaut, bewertet Luther gerade dieses Bemühen als Ausdruck sündiger Verlorenheit, in der man vergeblich der Bedrohung durch das göttliche Gericht zu entrinnen suchte. Nicht durch frommes Bemühen, Beten und Fasten, sondern durch aufmerksames Hören auf die Botschaft des Römerbriefs wurde Luther deutlich, dass und wie die befreiende Botschaft des Evangeliums Rettung und Heil u m Christi willen schenkt. Von dieser Entdeckung und ihren Folgen soll hier die Rede sein, indem wir auf Luthers Auslegung des Römerbriefs des Genaueren achten. Dabei ist zunächst seine in frühen Jahren gehaltene Vorlesung über alle sechzehn Kapitel dieses paulinischen Schreibens zu befragen. 5 Sodann will Luthers September3 4 5

Vgl. ebd., 71. Vgl. B. Lohse, Mönchtum und Reformation (FKDG 12), Göttingen 1963,296f. Luthers Vorlesung über den Römerbrief steht nicht nur in der Weimarer Ausgabe seiner Schriften (Bd. 56), sondern auch in einer handlichen Ausgabe zur Verfügung,

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bibel von 1522 beachtet werden, die nicht nur die Übersetzung des ganzen Neuen Testaments enthält, sondern auch gehaltvolle Vorreden zu den einzelnen biblischen Büchern bietet, so insbesondere auch zum Römerbrief. In manchen Briefen und Predigten, aber auch in seinen Tischreden ist Luther dann immer wieder auf die Auslegung des Römerbriefs zurückgekommen. 6 Luthers Entdeckungen, die er aus dem ständigen Umgang mit dem Römerbrief gemacht hat, sollen in vier Abschnitten beschrieben und gewürdigt werden. Dabei ist (1.) zuerst hervorzuheben, dass und in welchem Sinn für Luther die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders die bestimmende Mitte des ganzen Römerbriefes - und darüber hinaus der gesamten heiligen Schrift - ist, von der her sich das Verständnis der ganzen Bibel erschließt. 7 Sodann sind (2.) Luthers Verständnis von der rettenden Kraft des Glaubens und die sich daraus ergebenden Folgerungen darzustellen. Weiter ist (3.) von Gottes Erwählung und Gnadenwahl zu handeln, wie Luther sie nach seinem Studium des Römerbriefes zu begreifen suchte. Und schließlich ist (4.) zu beschreiben, wie Luther das neue Leben der Gerechtfertigten hinsichtlich des Verhältnisses von Gnade und Werken, Glauben und Handeln betrachtet.

I. Was wollte der Apostel Paulus den Christen in Rom vor allem anderen sagen? In seiner Vorlesung, die er im Jahr 1515 begann, antwortet Luther auf diese Frage: „Die Summe dieses Briefes ist: zu zerstören, auszurotten und zu vernichten alle Weisheit und Gerechtigkeit des Fleisches (mag sie in den Augen der Menschen, auch bei uns selbst, noch so groß sein), wie sehr sie auch von Herzen und aufrichtigen Sinnes geübt werden mag, und einzupflanzen, aufzurichten und großzumachen die Sünde (so wenig sie auch vorhanden sein mag oder so sehr man auch solches von ihr glauben mochte)." 8 „Magnificare peccatum" - die Sün-

6 7 8

die E. Ellwein besorgt hat: Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16, lateinisch-deutsche Ausgabe in 2 Bänden, Darmstadt 1960, im folgenden zitiert: M. Luther, Römerbrief. Lateinische Sätze Luthers werden durchweg ins Deutsche übersetzt; deutsche Zitate sind unter genauer Beachtung der Wortfolge heutigem Sprachgebrauch - durchweg nach Ellwein - angepasst, um die Verständlichkeit zu erleichtern. Einschlägige Äußerungen Luthers über den Römerbrief aus Briefen, Tischreden und Predigten sind übersichtlich zusammengestellt und geordnet in: E. Ellwein, Luthers Epistel-Auslegung. I. Der Römerbrief, Göttingen 1962. Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie, Göttingen 1995, 80f. WA 56,157 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,8f.

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de groß machen: Diese überraschende Wendung steht gleich zu Beginn der Auslegung des Römerbriefs. Denn nur wenn die Verlorenheit des Menschen nicht beschönigt oder entschuldigt, sondern in ihrer umfassenden Tiefe gesehen wird, kann ermessen werden, was Gnade und Barmherzigkeit Gottes bedeuten. Diese zu bezeugen und fest einzuprägen - darum mühten sich der Apostel und sein Ausleger. Denn es war ihn wahrlich hart angekommen, bis er nach langem und mühsamem Ringen begreifen konnte, was der Apostel meint, wenn er von der Gerechtigkeit Gottes handelt. Im Vorwort, das Luther 1545 dem ersten Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften vorangestellt hat, berichtet er zunächst, wie ihn einst die Frage gequält und beunruhigt habe, was denn die Worte von der Gerechtigkeit Gottes bedeuten.9 Er habe die Rede von der „iustitia Dei" gehasst, weil er sie nach philosophischem Verständnis als „iustitia formalis seu activa" begriffen habe, „kraft derer Gott gerecht ist und die Sünder bestraft". Da der Mensch als Sünder vor Gott stehe, müsse er in seinem Gewissen zutiefst erschüttert sein, könne er doch Gott niemals durch seine satisfactio versöhnen. Tag und Nacht habe er über die „connexio verborum" - die richtige Verknüpfung der Worte - nachgedacht, bis er durch Gottes Barmherzigkeit erkannt habe: Wenn es bei Paulus heiße, im Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbar und „der Gerechte lebt aus Glauben", so sei die Gerechtigkeit Gottes als diejenige zu begreifen, „durch welche der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt - nämlich aus dem Glauben". Es sei daher die Meinung des Apostels, „daß durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt". Und dann fährt Luther fort: „Hier meinte ich geradezu, ich sei wiedergeboren, die Türen hätten sich geöffnet und ich sei in das Paradies selbst eingetreten. Gleich darauf zeigte mir die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief darauf die Schrift, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und stellte bei anderen Begriffen Ahnliches fest, wie etwa: Werk Gottes, das heißt, das, was Gott in uns wirkt, Kraft Gottes, durch die er uns stark macht ... So wie ich vorher das Wort,Gerechtigkeit Gottes' gehaßt hatte, mit solcher Liebe pries ich jetzt den mir süßesten Begriff, so wurde mir diese Paulus-Stelle zur Pforte des Paradieses." Um seine Entdeckung kritisch zu prüfen, nahm Luther Augustins Schrift „De spiritu et littera" zur Hand und fand dort zur Bestätigung seiner Erkenntnis, „daß auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich versteht - nämlich als die, mit der Gott uns bekleidet, wenn er uns recht9

WA 54,185f. Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie (s. Anm. 7), 104-107.

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fertigt. Und obwohl das (von Augustin) noch unvollkommen gesagt ist u n d er nicht deutlich alles von der Zurechnung auslegt, gefiel es mir doch, daß (von ihm) die Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, durch die wir gerechtfertigt werden." 1 0 Diese fundamentale Entdeckung, die Luther im Studium des Römerbriefs machte, hatte weltgeschichtliche Wirkungen zur Folge. Denn die Botschaft von der Rechtfertigung ging in die ganze Christenheit der damaligen Welt hinaus u n d bewirkte vielerorts einen grundsätzlichen Wandel kirchlichen, aber auch weltlichen Lebens - eben die Reformation. Man könnte daher - mit ein wenig vereinfachender Übertreibung geradezu sagen, dass eine exegetische Entdeckung, die ein Professor in seiner Studierstube gemachte hatte, der Geschichte der Kirche eine neue Wendung brachte, wie sie kaum jemals sonst in vergleichbarerer Weise erfolgt ist. Unter gelehrten Historikern ist in intensivem Gedankenaustausch diskutiert worden, zu welchem Zeitpunkt Luther diese schlechthin entscheidende Entdeckung gemacht hat: ob bereits vor seinen frühen Vorlesungen oder in deren Verlauf oder sogar erst einige Jahre später bei seinem Aufbruch zu weittragender öffentlicher Wirkung. Wenngleich das Datum nicht mit letzter Genauigkeit fixiert werden kann, so wird man doch annehmen dürfen, dass bereits Luthers Vorlesung über den Römerbrief von 1515/16 diese grundlegende Einsicht voraussetzt. Das bedeutet, dass man etwa das Jahr 1514 für diese Entdeckung anzusetzen hat. 11 In seiner Vorlesung führt Luther zum ersten Kapitel des Römerbriefs aus: „Darum geht es, daß unsere Gerechtigkeit u n d Weisheit vernichtet u n d ausgerottet werde aus unserem Herzen u n d dem inwendigen Gefallen an u n s selbst vor unseren eigenen Augen ... Denn Gott will uns nicht durch unsere eigene, sondern durch fremde Gerechtigkeit u n d Weisheit selig machen, durch eine Gerechtigkeit, die nicht aus uns kommt u n d aus u n s erwächst, sondern von anderswoher zu uns kommt; die auch nicht unserer Erde entspringt, sondern vom Himmel kommt. So m u ß man also eine Gerechtigkeit lehren, die ganz und gar von außen kommt u n d eine fremde Gerechtigkeit ist. Darum muß zuerst die eigene, in uns heimische Gerechtigkeit ausgerottet werden." 12 In diesen Sätzen ist die rechte „connexio verborum", die rechte Zuordnung der Begriffe Gerechtigkeit und Gott, bereits eindeutig be-

10 11 12

Vgl. ebd., 104f. Ebd., 109. Vgl. auch H. Hübner, Rechtfertigung und Heiligung in Luthers Römerbriefvorlesung, Witten 1965,45-64. WA 56,158 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,10f.

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schrieben: Gottes schenkende und aufrichtende Gerechtigkeit wird dem Glaubenden zuteil. In seinen Tischreden ist Luther später wiederholt auf diese entscheidende Entdeckung, die er im Studium des Römerbriefs gemacht hatte, zurückgekommen, indem er sagt: In seiner im Turm befindlichen Stube habe er über diese Worte nachgesonnen: „Der Gerechte lebt seines Glaubens" und „Die Gerechtigkeit Gottes". „Da dachte ich alsbald: Wenn wir als Gerechte aus dem Glauben leben sollen und die Gerechtigkeit Gottes selig machen soll jeden, der da glaubt, dann wird sie nicht unser Verdienst sein, sondern Gottes Barmherzigkeit. So wurde mein Herz aufgerichtet. Denn die Gerechtigkeit Gottes ist die, durch die wir gerecht und selig werden durch Christus. Diese Worte wurden mir über die Maßen tröstlich. Die Schrift hat mir der Heilige Geist in diesem Turm geoffenbart." 1 3 Dieser Äußerung aus dem Jahr 1532 sei eine weitere aus dem Jahr 1538 an die Seite gestellt: „Ich war dem Paulus von Herzen feind, wenn ich las: ,Die Gerechtigkeit Gottes wird durchs Evangelium geoffenbart.' Aber hernach, als ich sah, wie es weiter ging, nämlich: ,Wie geschrieben steht: Der Gerechte wird seines Glaubens leben', und ich noch obendrein Augustin zu Rate zog, da ward ich fröhlich. Da erkannte ich, daß die Gerechtigkeit Gottes seine Barmherzigkeit ist, die uns für gerecht erachtet. Da ist mir in meiner Anfechtung eine Arzenei zuteil geworden." 1 4 Mit dieser Entdeckung, von der Luther immer wieder gesprochen hat, war für ihn die ganze heilige Schrift von Anfang bis Ende geöffnet und der volle Gehalt des Evangeliums aufgeschlossen. In seiner fortlaufenden Auslegung des Römerbriefs weist er seine Studenten unermüdlich auf diese Einsicht hin, von der ein Licht auf alle Teile der Botschaft des Apostels fällt: „Wer dem Evangelium glaubt, muß schwach und töricht werden vor den Menschen, daß er stark und weise sei in der Kraft und Weisheit Gottes." 1 5 Denn: „Einzig im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart (d.h. wer und auf welche Weise einer gerecht ist und wird vor Gott) ... Denn die Gerechtigkeit Gottes ist die Ursache des Heils. Wiederum darf man hier unter der Gerechtigkeit Gottes nicht die verstehen, durch die er selbst gerecht ist in sich selbst, sondern die, durch die wir von ihm her gerecht werden." 1 6 Dabei betont Luther ausdrücklich, was der dem Glauben geschenkte Freispruch bewirkt: Wen Gott gerecht gesprochen hat, der gilt nicht nur 13 14 15 16

TR 111,228. Vgl. Ellwein, Luthers Epistel-Auslegung I (s. Anm. 6), 15. TR IV,72f. Vgl. Ellwein, ebd. WA 56,171 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,40f. WA 56,171f. = ebd. I,42f.

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als gerecht, sondern der ist es.17 Denn es hat der selige Tausch stattgefunden, den Luther so beschreibt: „Gottes Sohn ist mit meinen Sünden beladen. Hernach ist er wiederkommen, gesund und verklärt, und hat die Sünden in der Hölle zurückgelassen. Wenn du glaubst, daß die Sünde für dich tot ist, und du hinwiederum der Sünde, dann bist und heißt du nicht mehr ein Sünder, um Christi willen, der deine Sünde (getragen) hat." 18 Es gilt daher mit aller entschiedenen Verlässlichkeit: „Wer an Christus glaubt, ... steht ruhig und sicher gegründet auf einem festen Fels ... Wer aber nicht an ihn glaubt, ... wird nicht entrinnen können, ... wenn ihn das Gericht bedrängt." 19 Zusammenfassend kann Luther daher sagen: „Der Tod Christi ist der Tod der Sünde und seine Auferstehung ist das Leben der Gerechtigkeit. Denn durch seinen Tod hat er für unsere Sünde genug getan und durch seine Auferstehung hat er uns seine Gerechtigkeit zugewandt. So bedeutet sein Tod nicht nur, sondern wirkt auch die Vergebung der Sünden als die allergenugsamste Genugtuung. Und seine Auferstehung ist nicht bloß ein Unterpfand unserer Gerechtigkeit, sondern bewirkt sie auch in uns, wenn wir an sie glauben und ist ihre Ursache." 20 „Denn Christus trägt alle Sünden, wenn sie uns nur mißfallen. Nun sind sie nicht mehr unsere Sünden, sondern die seinen, und hinwiederum ist seine Gerechtigkeit unser eigen geworden."21 Darum gilt, „daß mit der Gerechtigkeit Gottes die gemeint ist, durch die er (Gott in Christus) uns rechtfertigt, sowie mit der Weisheit Gottes die, durch die er uns weise macht." 22 Für seine Auslegung des Römerbriefs beruft sich Luther an vielen Stellen auf den Kirchenvater Augustin, der in seinem Orden besondere Verehrung und Hochschätzung erfuhr, und zitiert häufig dessen Verständnis des paulinischen Evangeliums, indem er sich vornehmlich auf die Schrift „De spiritu et littera" bezieht und deren Autor stets respektvoll als den „seligen Augustin" (beatus Augustinus) bezeichnet.23 Diese Berufung geschieht mit vollem Recht. Denn „tatsächlich dürfte es keine andere Schrift der gesamten alten und mittelalterlichen Kirche geben, die in den Aussagen über Gottes Gerechtigkeit und die Rechtfertigung 17

18 19 20 21 22 23

Vgl. K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, in: Luther. Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, Tübingen 6 1932, 111-154, hier 127: „Luther gibt iustificare in der Regel mit iustum reputare wieder, aber er verwendet es daneben unbekümmert auch in der Bedeutung von iustum efficere." Predigt am 19.7.1545 (WA 49,796). Vgl. Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 92. WA 56,411 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), II,186f. zu Rom 9,33. WA 56,296 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,312f. zu Rom 4,25. WA 56,267 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,252f. zu Rom 3,28. WA 56,262 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,242f. zu Rom 3,25. Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie (s. Anm. 7), 87.

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des Menschen Luthers reformatorischer Theologie so nahe kommt wie diese ... Schrift Augustins." 24 Hat Luther seine exegetische Einsicht durch die genaue Bestimmung der Begriffsverbindung „Gerechtigkeit Gottes" präzis gefasst und scharf zugespitzt, so weitet er in seiner Vorrede, die er in der Septemberbibel von 1522 dem Römerbrief voranstellt, die gewonnene Erkenntnis ins Grundsätzliche aus und betont, man müsse der Sprache kundig werden und wissen, „was Paulus meint mit diesen Worten: Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch, Geist und dergleichen". Die schlechthin bestimmende Bedeutung des Wortes „Gerechtigkeit" wird dabei mit besonderer Betonung versehen: Gerechtigkeit „heißt Gottes Gerechtigkeit oder die vor Gott gilt, darum, daß sie Gott gibt und als Gerechtigkeit um Christi unseres Mittlers willen anrechnet und den Menschen so macht, daß er jedermann gibt, was er schuldig ist ... Solche Gerechtigkeit kann Natur, freier Wille und unsere Kräfte nicht zuwege bringen." Auf der anderen Seite werden die Werke des Gesetzes, von denen der Apostel spricht, in dem umfassenden Sinn beschrieben, wie er dieser Redeweise in der paulinischen Theologie zukommt: „Des Gesetzes Werk ist alles, was der Mensch tut und tun kann am Gesetz aus seinem freien Willen und eigenen Kräften. Was aber unter und neben solchen Werken im Herzen Unlust und Zwang zum Gesetz bleibt, sind solche Werke alle verloren und nichts nütze."

II. Gottes schenkende Gerechtigkeit und seine unergründliche Barmherzigkeit sind darauf gerichtet, dass sie im vertrauenden Glauben angenommen werden sollen. In einprägsamen Worten hebt Luther hervor, was der Apostel unter diesem Glauben versteht, der zugleich als Gottes Geschenk und verantwortliche Entscheidung des Menschen zu begreifen ist. Von diesem Leitmotiv, wie es die Theologie Luthers durchzieht, sei nunmehr des Näheren gehandelt. Der Glaube kann gar nicht zu hoch eingeschätzt und laut gerühmt werden. Ist es doch „ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken ... Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe." So charakterisiert Luther in seiner Vorrede auf den Römerbrief in der Septemberbibel 24

Ebd.

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von 1522 den Glauben, der Gottes Gabe empfängt und damit Grundlegung eines neuen Lebens wirkt. Es gibt keinen anderen Weg, u m die überwältigende Gabe des göttlichen Geschenkes empfangen zu können, als den Glauben. „Denn Glaube u n d Verheißung gehören zuhauf. Darum, hört die Verheißung auf, so hört auch der Glaube auf, u n d ist die Verheißung abgetan, dann ist auch der Glaube hinfällig u n d umgekehrt." 25 Weil kein noch so beeindruckendes Werk, sondern nur der Glaube Gottes Gerechtigkeit empfangen kann, darum hebt Luther dieses „allein" auch in seiner Übersetzung des Römerbriefs mit starker Betonung hervor, u m mit dem Apostel zu sagen: „So halten wir n u n dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben" (Rom 3,28). Der Apostel hatte geschrieben, der Mensch werde gerechtfertigt nicht aus Werken, sondern aus Glauben. Luther aber hat die Aussage verschärft, indem er ein „allein" hinzusetzt, u m den Gegensatz zu betonen, der eine alternative Möglichkeit schlechthin ausschließt. In seinem „Sendbrief vom Dolmetschen" aus dem Jahr 1530 rechtfertigt sich Luther gegenüber seinen Kritikern und sagt, er habe sehr wohl gewusst, dass im lateinischen u n d griechischen Text das Wort „sola" nicht stehe. 26 Darüber bedürfe er keiner Belehrung: „Diese vier Buchstaben" - so führt Luther aus - „stehen nicht drinnen, welche Buchstaben die Eselsköpfe ansehen wie die Kuh ein neu Tor. Sehen aber nicht, daß gleichwohl die Meinung des Textes in sich hat, u n d wo man will klar u n d gewaltiglich verdeutschen, so gehört es hinein. Denn ich habe deutsch u n d nicht lateinisch noch griechisch reden wollen. Das ist aber die Art unserer deutschen Sprache: Wenn sie eine Rede begibt von zwei Dingen, deren man eines bekennt u n d das andere verneint, so braucht m a n das Wort ,solum' neben dem Wort (nicht oder kein). Als wenn m a n sagt: Der Bauer bringt allein Korn und kein Geld. Nein, ich habe wahrlich jetzt nicht Geld, sondern allein Korn. Ich habe allein gegessen u n d noch nicht getrunken. Hast du allein geschrieben u n d nicht überlesen? Und dergleichen unzählige Weise im täglichen Brauch." 27 Luther fügt hinzu, er habe sich bei der Wiedergabe von Rom 3,28 keineswegs nur nach der Redeweise gerichtet, wie sie durch den rechten Gebrauch der deutschen Sprache gefordert wird. Vielmehr fordere 25 26

27

WA 56,262 = M. Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,300f. zu Rom 4,14. Vgl. hierzu und zum Folgenden: E. Lohse, Martin Luthers Übersetzung der Bibel Sprache, Theologie und Schriftverständnis, in: S. Meurer (Hg.), „Was Christum treibet". Martin Luther und seine Bibelübersetzung, Bibel im Gespräch 4, Stuttgart 1996, 38-51, hier 44f. WA 30 II,636f.

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der Text selbst mit zwingender Notwendigkeit die Wiedergabe „durch den Glauben allein". Denn der Apostel verhandle an dieser Stelle „das Hauptstück christlicher Lehre, nämlich, daß wir durch den Glauben an Christus ohne alle Werke des Gesetzes gerecht werden. Und er schneidet alle Werk so rein ab, daß er auch spricht: Des Gesetzes (das doch Gottes Gesetz und Wort ist) Werke nicht helfen zur Gerechtigkeit - und setzt zum Exempel Abraham, daß derselbige sei so gar ohn Werk gerecht geworden, daß auch das höchste Werk, das dazumal geboten ward von Gott für und über allen anderen Gesetzen und Werken, nämlich die Beschneidung, ihm nicht geholfen zur Gerechtigkeit, sondern sei ohne die Beschneidung und ohne alle Werke gerecht geworden durch den Glauben, wie er spricht Kap. 4: ,Ist Abraham durch Werke gerecht geworden, so mag er sich rühmen, aber nicht vor Gott.' Wo man aber alle Werk so rein abschneidet, da muß ja die Meinung sein, daß allein der Glaube gerecht mache. Und wer deutlich und dürre von solchem Abschneiden der Werke reden will, der muß sagen: Allein der Glaube und nicht die Werke machen uns gerecht. Das zwingt die Sache selbst neben der Sprachen Art." 28 Luther hat hier mit sicherem Blick den Sinn der paulinischen Aussage richtig erfasst, treffend wiedergegeben und ihn gegen alle Einwände entschieden verteidigt. Die Bibelwissenschaft unserer Tage hat ihm inzwischen in seiner Interpretation recht gegeben - nicht nur evangelische, sondern gleicherweise auch katholische Exegeten.29 Es trifft in der Tat ohne Einschränkung zu, was Luther zusammenfassend feststellt: „Und wer S. Paulus lesen und verstehen will, der muß wohl so sagen und kann nicht anders. Seine Worte sind zu stark und leiden kein, ja gar kein Werk. Ist es kein Werk, so muß der Glaube allein sein."30 „Allein der Glaube ohn Werk macht fromm und reut mich, daß ich nicht auch dazu gesetzt habe ,alle und aller', also ,ohne alle Werke aller Gesetze', daß es voll und rund heraus gesprochen wäre." 31 In der Lutherbibel ist daher dieser Vers des Römerbriefes präzis und klar übersetzt: Nur durch Gottes Barmherzigkeit, die er uns in Christus zugewandt hat und die allein im Glauben und auf keine andere Weise empfangen werden kann, werden wir Gott recht. An Kritiken, die sich gegen Luthers Auslegung des Römerbriefs wenden, mangelt es auch heute - insbesondere in der angelsächsischen 28 29

30 31

WA 30 II,640f. Vgl. hierzu das zusammenfassende Urteil bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer I (EKK 6/1), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1978, 247 und E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 138; dort auch Nachweis zu neueren katholischen Kommentaren. WA 3011,642. WA 3011,643.

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Welt - nicht. So wird eingewandt: „Luthers Betonung des fiktiven, bloß zugerechneten Charakters der Gerechtigkeit ist ... einflußreich geworden, weil sie einem weitverbreiteten Gefühl der Sündhaftigkeit entspricht und mit ihrem individualistischen und introspektiven Akzent ein wesentliches Element des abendländischen Persönlichkeitsbegriffs bildet. Luther suchte und fand Entlastung von Schuld. Doch seine Probleme waren nicht die paulinischen, und wir interpretieren Paulus falsch, wenn wir ihn mit Luthers Augen sehen."32 Thema der paulinischen Theologie sei nicht: „,Wie kann der einzelne Mensch aus der Sicht Gottes gerecht sein?', sondern vielmehr: ,Wie ist es möglich, daß die Heiden in den letzten Tagen ins Volk Gottes aufgenommen werden?'" 33 Rückt man auf diese Weise missionstaktische und strategische Erwägungen in das Zentrum paulinischen Denkens, so wird die Theologie der Rechtfertigung aus der Mitte an den Rand der Theologie des Apostels geschoben und in den Hintergrund gedrängt. Doch damit wird verkannt, dass und wie der Apostel das gemeinchristliche Evangelium als Botschaft von der Rechtfertigung auslegt.34 Denn „die paulinische Rechtfertigungslehre ist ganz und gar Christologie, freilich eine von Jesu Kreuz her gewonnene und darum anstößige Christologie". Darum darf die paulinische Theologie der Rechtfertigung „nicht länger ausschließlich individualistisch interpretiert werden". 35 Gewiss wird jeder einzelne Mensch vom Zuspruch der göttlichen Barmherzigkeit getroffen und eingeladen, diese Botschaft in vertrauendem Glauben anzunehmen. Doch wäre dieses Verständnis grob verzeichnet, wenn man es darauf einengen wollte, als würde es lediglich dazu dienen, die verängstigte Seele des Einzelnen zu beruhigen. Vielmehr betont Luther immer wieder, dass diese Botschaft aller Welt gilt, allerorten ausgerufen und glaubend bekannt werden will. Es stellt daher eine oberflächliche Karikatur der Theologie Luthers dar, wenn man sie in ein vermeintlich individualistisches Schema hineinpressen wollte. Zweifelsohne trifft zu, dass es beachtliche und beachtenswerte Unterschiede zwischen Paulus und Luther gibt - vor allem, wie noch zu zeigen ist (s. S. 127, dort zu Anm. 71), hinsichtlich ihrer Anthropologie, d.h. ihrer Lehre vom Menschen. 32 33

34 35

Vgl. Ε. P. Sanders, Paulus - eine Einführung, Stuttgart 1995, 64f. (englische Originalausgabe: Paul, Oxford 1991). Ebd., 65. Ähnlich argumentieren: K. Stendahl, Paul among Jews and Gentiles, Philadelphia 1976 und J. G. D. Dunn, A. M. Suggate, Justice of God, A fresh Look at the old Doctrine of Justification by Faith, Carlisle 1993; jetzt auch in: J. G. D. Dunn, The New Perspective on Paul (WUNT 185), Tübingen 2005. Vgl. Ε. Käsemann, Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief, in: Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969 3 1993,108-139. Ebd., 130.

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Doch im Blick auf Mitte und Zentrum der Theologie stehen Paulus und Luther eng beieinander, indem sie das Evangelium als Botschaft von der befreienden Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes auslegen, durch die die knechtende Gewalt von Sünde, Gesetz und Tod gebrochen und die Wirklichkeit der neuen Schöpfung heraufgeführt worden ist. 36

III. Der dritte Abschnitt unserer Betrachtung, dem wir uns nun zuwenden, gilt der göttlichen Erwählung und Gnadenwahl, wie Luther sie verstanden und erklärt hat. Dabei stehen die Kapitel 9 - 1 1 des Römerbriefs im Vordergrund, in denen der Apostel die Frage erörtert, wie im Licht des Evangeliums das Geschick Israels zu begreifen ist. Doch während für uns heute das Problem, wie Israel und die Christenheit sich zueinander verhalten, von dringlicher Aktualität geworden ist, geht Luther in seiner Vorlesung, aber auch in weiteren Äußerungen zu diesen Kapiteln nur gelegentlich - fast wie beiläufig - auf die Frage ein, in welcher Weise die Wege Israels und die der Kirche aufeinander bezogen sind. U m diesen Befund zutreffend zu beurteilen, bedarf es besonderer Behutsamkeit und Umsicht. Ist doch Luthers Verhältnis zu den Juden im Lauf der Zeit verdüstert und verdunkelt worden, so dass er in seinen späteren Jahren gelegentlich Äußerungen von befremdender Schärfe gemacht hat. 37 In seiner Vorlesung über den Römerbrief 3 8 folgt Luther aufmerksam den Worten des Apostels und sucht deren Sinn so genau als möglich zu erfassen. Darum spricht er nicht - wie verschiedentlich in seiner Vorlesung über die Psalmen 3 9 - polemisch oder mit schmähenden Worten von den Juden, sondern folgt in seiner Auslegung dieser drei Kapitel mit Sorgfalt dem ihm vorgegebenen Text. Dabei betont er zunächst, dass Gottes Vorherbestimmung und Erwählung, nicht aber die Gerechtigkeit des menschlichen Willens der Grund des Heils ist. Darum trägt der Apostel Leid über die Verstockung der Juden und wäre bereit, u m

36 37

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Zur Auseinandersetzung mit der „New Perspective on Paul" vgl. weiter E. Lohse, Rom (s. Anm. 29), 140-145; dort weitere Literaturangaben. Zur schwierigen Problematik „Luther und die Juden" vgl. B. Lohse, Luthers Theologie (s. Anm. 7), 356-367 sowie P. v.d. Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub" (1530/31), Stuttgart 2002, mit umfangreichen Quellenangaben und eingehender Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur. Vgl. hierzu bes. v.d. Osten-Sacken, ebd., 76-82. Vgl. dazu v.d. Osten-Sacken, ebd., 47-74.

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seiner Brüder willen von Christus verbannt zu sein.40 Um der Verheißungen Gottes willen wünscht er „den Juden höchstes Heil, und damit sie dieses erlangten, wollte er gerne seines Heils verlustig gehen". 41 Die Juden sind - wie es zum 11. Kapitel heißt - gefallen zum Heil für die Heiden. Doch „das ist nicht ihr Endzweck, sondern sie sind gefallen, um dem Gut derer nachzueifern, die aufgestanden sind". 42 Den Kölner Theologen wird vorgeworfen, dass sie sich nicht schämen, „in ihren Artikeln, ja in ihren ganz ungereimten und albernen Machwerken die Juden Verfluchte zu heißen". 43 Weil auf Gottes Zusagen unbedingt Verlass ist, darum ist das ganze Volk der Juden „verehrungswürdig um der Auserwählten willen". 44 Zur Aussage des Apostels, dass Gottes Gaben und Berufung ihn nicht gereuen (Rom 11,29), bemerkt Luther: „Ein vortreffliches Wort. Durch keines Menschen Verdienst noch Mißverdienst wird der Ratschluß Gottes geändert. Es gereut ihn nicht seine Gabe und die Berufung, die er verheißen hat, weil jene (d.h. die Israeliten) jetzt unwürdig sind und ihr (d.h. die Heidenchristen) würdig seid. Er ändert sich nicht, wenn auch ihr euch ändert. Darum werden jene sich bekehren und endlich zur Wahrheit des Glaubens gebracht werden." 45 Über diese knappe Andeutung, die das künftige Geschick Israels betrifft, geht Luther nicht hinaus. Für ihn steht vielmehr die Frage im Vordergrund, wie der Apostel auch in den Kapiteln 9-11 seine Theologie der Rechtfertigung entfaltet und von Gottes Gnadenwahl handelt. In voller Übereinstimmung mit seiner Erklärung des ersten Teils des Römerbriefs sagt der Apostel auch hier: Das Gesetz - so wird zu Rom 10,15 bemerkt - „deckt die Sünde auf und macht den Menschen schuldig und krank, ja erweist ihn als den, der verdammt ist. Das Evangelium aber bietet die Gnade an und vergibt die Sünde, schafft der Krankheit Abhilfe und führt zum Heil." 46 Der Glaube, der diese Zusage vertrauend aufnimmt und so zur Gerechtigkeit führt, „gelangt nicht ans Ziel der Gerechtigkeit, nämlich zur Seligkeit, wenn er nicht zum Bekenntnis gelangt. Das Bekenntnis nämlich ist das vornehmlichste Werk des Glaubens, wo der Mensch sich selbst verneint und Gott bekennt." 47

40 41 42 43 44 45 46 47

WA WA WA WA WA WA WA WA

56,389 56,390 56,433 56,436 56,439 56,439 56,426 56,419

= = = = = = = =

Luther, Luther, Luther, Luther, Luther, Luther, Luther, Luther,

Römerbrief (s. Anm. 5), II,140f. zu Rom 9,3. ebd., II,142f. zu Rom 9,3. ebd., II,242f. zu Rom 11,12. ebd., 248f. zu Rom 11,22. ebd., 254f. zu Rom 11,27. ebd., 256f. zu Rom 11,29. ebd., 218f. zu Rom 10,15. ebd., 206f. zu Rom 10,10.

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In seiner Vorrede z u m Römerbrief, wie sie sich im Septembertestament v o n 1522 findet, spricht Luther in seiner Beschreibung des Inhalts ü b e r h a u p t nicht v o n Israel u n d d e n Juden, s o n d e r n lenkt die A u f m e r k s a m k e i t des Bibellesers ausschließlich auf die göttliche Vorsehung: „ d a ß d u deine S ü n d e u n d seine G n a d e erkennst, darnach mit der Sünde streitest, wie hier d a s erste bis achte Kapitel gelehrt haben. Darnach, w e n n d u in das achte g e k o m m e n bist unter das Kreuz u n d Leiden, das w i r d dich i m neunten, zehnten u n d elften Kapitel recht die Vorsehung lehren, wie fröhlich sie sei." Diese drei Kapitel zeigen, w a s es u m die ewige Vorsehung Gottes sei, „aus der es u r s p r ü n g l i c h fließt, wer glauben oder nicht glauben soll, v o n S ü n d e n los o d e r nicht los w e r d e n kann, damit es ja ganz aus unseren H ä n d e n g e n o m m e n u n d allein in Gottes H a n d gestellt sei, d a ß wir f r o m m w e r d e n . U n d d a s ist a u c h aufs höchste not; d e n n wir sind so schwach u n d u n g e w i ß , daß, w e n n es bei u n s stünde, w ü r d e freilich nicht ein Mensch selig." Der Apostel - so b e m e r k t Luther - rede in diesen drei Kapiteln in d u n k l e n Worten, so dass m a n n u r mit größter Vorsicht u n d unter Anleitung d u r c h die A u s l e g u n g der Kirchenväter diese Worte b e d e n k e n solle. 48 Die Botschaft v o n der Rechtfertigung des Sünders bietet auch hier hilfreiche Orientierung u n d weist die Richtung z u rechtem Verständnis: Alles N a c h d e n k e n ü b e r das Geheimnis der Vorherbestimm u n g m ü s s e d a h e r bei d e n W u n d e n Christi einsetzen; sonst w e r d e m a n in d e n A b g r u n d stürzen. 4 9 Luther lässt sich d a h e r nicht darauf ein, über Gottes e w i g e n Ratschluss spekulative V e r m u t u n g e n anzustellen. Seinen Studenten rät er vielmehr, n i e m a n d m ö g e sich in Grübeleien über die Frage v o n Gottes G n a d e n w a h l stürzen. Vielmehr solle m a n sich daran halten, dass u n s e r Gott nicht „ein Gott der U n g e d u l d u n d Grausamkeit ist, auch nicht d e n Gottlosen gegenüber". Das sei insbesondere d e n e n z u m Trost gesagt, „die beständig v o n gotteslästerlichen G e d a n k e n gequält w e r d e n u n d sich allzu sehr ängstigen". 5 0 In seinen Tischreden ist Luther wiederholt auf die Frage eingegangen, w a r u m Gott d e n einen erwählt, d e n anderen aber verhärtet u n d verstockt. Dabei weist er auf die unserer Erkenntnis u n d N e u g i e r d e gesetzten Grenzen h i n u n d bemerkt: „Jenes Wörtlein , w a r u m ? ' h a t viele Seelen z u g r u n d e gerichtet, w e n n sie höhere Dinge erforschen wollen. Gott sagt: W a r u m ich d a s tue, d a s weißt d u nicht. Aber sieh 48 49 50

WA 56,438 = Luther, ebd., 254f. zu Rom 11,27. WA 56,400. Vgl. Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 164 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), II,160f. zu Rom 9,14. WA 56,400f. = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), 11,160-163 zu Rom 9,16.19.

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aufs Wort, glaub an Christus und bete." 5 1 Denn Paulus „handelt nur davon, daß nur aus der Gnade Heil kommt". 5 2

IV. Ist das Leben der Glaubenden von dieser Zuversicht geleitet, so ist es von verlässlichem Trost getragen und gehalten. Damit charakterisiert Luther das neue Leben derer, die Gottes freisprechende und in Pflicht nehmende Rechtfertigung empfangen haben. Wie Luther die Wirklichkeit der neuen Schöpfung beschreibt, sei nunmehr im letzten Abschnitt unserer Darstellung seiner Auslegung des Römerbriefs dargetan. Das neue Leben der Gerechtfertigten ist von Grund auf unterschieden vom alten Leben, das nunmehr hinter ihnen liegt. Einprägsam wird von Luther die Hoffnung der Glaubenden beschrieben, indem er auf das Beispiel Abrahams hinweist. Er hatte der göttlichen Verheißung vertraut, indem er gegen alle Hoffnung auf Hoffnung glaubte (Rom 4,18). Unter Menschen übliche Hoffnung ist - wie Luther zum 4. Kapitel des Römerbriefes hervorhebt - in aller Regel auf Erwartungen gegründet, für deren Erfüllung sichere Möglichkeiten und Voraussetzungen bestehen. Die Hoffnung der Christen aber „ist unter lauter Nein gewiß. Denn sie weiß, daß kommen muß und nicht verhindert werden kann, was man hofft. Denn Gott kann niemand hindern." 5 3 Dieses neue Leben, das von festem Glauben und getroster Hoffnung getragen ist, vermag niemand sich selbst zu geben, sondern es wird als Gottes Gnadengabe empfangen und will in gehorsamem Handeln gelebt werden. Denn „nicht dadurch werden wir gerecht, daß wir recht handeln, sondern damit, daß wir gerecht sind, handeln wir recht. Also rechtfertigt die Gnade allein." 5 4 Gelegentlich geäußerter Vorwurf, als würde Luther mit seiner starken Betonung der gnadenweise geschenkten Rechtfertigung die ethische Verpflichtung nicht genügend beachten, trifft nicht zu. Denn auch hier kommt es auf die rechte „connexio verborum", die richtige Zuordnung der Begriffe, an. „Nicht aus den Werken und Taten kommt die Tugend, wie Aristoteles sagt, sondern aus den Tugenden entspringen die Taten, wie Christus lehrt." 5 5 Weiß jedermann, dass es eines guten Baumes bedarf, wenn man gute

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TR IV,643; vgl. Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 170. TR 1,235; vgl. Ellwein, ebd., 169. WA 56,295 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), I,308f. zu Rom 4,18. WA 56,255 = Luther, ebd., 224f. zu Rom 3,20. WA 56,364 - Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), II,82f. zu Rom 8,7.

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Früchte ernten möchte, so gilt: „Nicht aus den Früchten erwächst der Baum, sondern aus dem Baum kommen die Früchte." 56 Das Leben der Christen soll darum nicht in Ruhe verharren, sondern voller Bewegung sein. 57 Weil die neue Schöpfung, die aus der Barmherzigkeit Gottes lebt, nicht ruhender Besitz ist, sondern in tätigem Vollzug gelebt sein will, darum bedürfen wir - wie Luther in der Predigt sagt, die er kurz vor seinem Tod am 17. Jan. 1546 in Wittenberg gehalten hat - der ständigen Ermahnung, „auf daß wir nicht falsche Christen sind, die allein den Namen haben, sondern rechte, wahrhaftige Gläubige". 58 Niemand - so schärft Luther immer wieder ein - möge sich darüber täuschen, als könnte man durch noch so gute Werke, asketische Anstrengungen oder herausragende Leistungen die Seligkeit gewinnen. Wer darauf vertrauen wollte, w ü r d e nur u m so ärger sündigen, weil er der Barmherzigkeit Gottes nicht vertraut. Die durch Gottes Gnade gerechtfertigten Glaubenden stehen unter dem bestimmenden Imperativ, in der Liebe Christi zu handeln u n d Gutes zu tun an jedermann. So weist Luther in einer Predigt zu Rom 12 darauf hin, dass kein Christ sich dessen rühmen kann, „daß er mit Werken dazu gekommen ist, daß er ein Glied in Christo mit den andern Christen im gemeinsamen Glauben ist; u n d kann auch kein Werk tun, damit er ein Christ würde, sondern daher, daß er schon zuvor ein Christ geworden ist durch die neue Geburt im Glauben ohne alles Verdienst, daher tut er gute Werke, also daß es feststeht: Gute Werke machen nicht einen Christen, sondern Christen machen gute Werke." 59 Ein Christ soll fest im Gedächtnis halten, dass er in der Taufe dem Reich der Sünde, des Todes u n d des Teufels gestorben ist. Daraus aber folgt - so sagt Luther zu Rom 6 - : „Die Gnade wird nicht gepredigt, daß du ein Bube wirst, sondern daß die Sünde vergeben werde. Die Gnade ist wider die Sünde u n d frißt sie auf, aber sie stärkt sie nicht." 60 Mit dem Apostel erklärt Luther: „Darum, wenn du getauft wirst, gibst d u dich in unseres Herr Gotts Erwürgen u n d Töten u n d sprichst: Ich will (der Sünde) tot u n d begraben sein mit deinem Sohne, der für mich gestorben ist, u n d ich will ihm folgen durch die Taufe." 61 Und das bedeutet: „Darum sollt ihr nicht mehr sündigen, weil ihr (der Sünde) gestor-

56 57 58 59 60 61

WA 56,364 = Luther, ebd., 82f. zu Rom 8,7. WA 56,441 = Luther, ebd.,262f. zu Rom 12,2. Vgl. Holl, Luther (s. Anm. 17), 136. WA 51,124; vgl. Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 241. Aus der Fasten-Postille 1525 = WA 17 11,34 = Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 206f. Predigt am 4.7.1535 = WA 41,369 = Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 59. Ebd. = WA 41,370.

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ben seid. Darum willst du ein Christ sein und ein Geizhals bleiben, ein Ehebrecher u.s.w., wo du doch dem allen gestorben bist?" 62 Doch obwohl ein Christ sich dessen immer wieder bewusst wird, dass er durch sein Leben und Werk die Güte Gottes preisen und ihm allein die Ehre geben soll, macht er die bedrückende Erfahrung, dass die Sünde ihr Haupt aufs Neue erhebt und er hin und her gerissen wird zwischen dem Wollen des Guten und dem Missraten seines Handelns. Diese Erfahrung, wie Luther selbst sie in zahllosen Anfechtungen durchzustehen hatte, sieht er im Römerbrief des Apostels vorgezeichnet und deutet daher dessen Ausführungen über den Menschen, der unter der Tyrannei mächtiger Gewalten steht, auf die Situation des angefochtenen Christen, der zu Gott um Erlösung schreit. Im 7. Kapitel des Römerbriefes schildert der Apostel das Leben des unerlösten Menschen, der unentrinnbar unter der Herrschaft von Sünde, Gesetz und Tod steht. Indem Paulus von dieser Situation in der Form der Rede in der ersten Person Singular spricht, gewinnt die Schilderung anschauliche Nähe und zupackende Kraft: „Zwar stimme ich" - so heißt es - „dem Gesetz zu, daß es gut ist. Das Wollen liegt bei mir, das Bewirken des Guten aber nicht. Wenn es aber so ist, daß ich gerade das tue, was ich nicht will, dann bewirke nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt." Paulus setzt an das Ende dieser Schilderung den verzweifelten Ruf: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?" (Rom 7,24) In der Geschichte der Auslegung ist immer wieder darum gestritten worden, wer mit dem „Ich" gemeint sein könnte - möglicherweise der Apostel selbst, der sich in dieser bedrängenden Lage entweder einst befunden haben könnte - oder aber auch als Christ einen zutiefst entmutigenden Kampf hätte durchstehen müssen. Luther folgt in seiner Auslegung dieses Kapitels dem Vorbild Augustins, der das „Ich" auf den Christen Paulus bezog und daher auf den inneren Zwiespalt deutete, den der in den Kampf gestellte Christ auszuhalten habe. In seiner Vorlesung über den Römerbrief schließt Luther sich an Augustin an, spitzt aber die Schärfe der dem Christen aufgegebenen Auseinandersetzung noch stärker zu: Was bedeutet es, wenn es heißt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht?" Luther antwortet: „Ein und dieselbe Person ist Geist und Fleisch. Darum heißt es von ihm, daß er, was er dem Fleische nach tut, als ganzer Mensch tut." 63 Daher sei beides wahr: „daß er selber handelt und doch nicht er selbst."64

62 63 64

Ebd. = WA 41,371 - Ellwein, Epistel-Auslegung (s. Anm. 6), 60. WA 56,342f. = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), II,30f. zu Rom 7,20. WA 56,343 = Luther, ebd.

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Daraus folgt für Luther, „daß ein und derselbe Mensch geistlich und fleischlich ist, gerecht und sündig, gut und böse". 6 5 Dabei sei zu beachten: „Diese Worte ,Ich will' und ,Ich hasse' beziehen sich auf den geistlichen Menschen oder auf den Geist, ,Ich tue' aber und ,Ich handle' auf den fleischlichen Menschen oder das Fleisch ... So nämlich kommt es zu der Gemeinschaft der Eigenschaften, daß ein und derselbe Mensch geistlich und fleischlich ist, gerecht und sündig, gut und böse." 6 6 Stellt der Apostel die Begriffe „Fleisch" und „Geist" als die beiden Mächte einander gegenüber, die im Kampf miteinander liegen, so bezieht Luther diese Auseinandersetzung nicht auf Teilbereiche der Existenz, als wäre der Mensch zu einem Teil Fleisch, zum anderen aber Geist. Sondern „ein und derselbe Mensch ist zugleich Geist und Fleisch". 6 7 „Siehe d a " - so sagt Luther - , „ein und derselbe Mensch dient zugleich dem Gesetze Gottes und dem Gesetz der Sünde, er ist zugleich gerecht und ein Sünder." 6 8 Diese Charakterisierung hat jeweils den ganzen Menschen im Blick: „Die Heiligen sind zugleich, indem sie gerecht sind, Sünder; gerecht, weil sie an Christus glauben ... aber Sünder, weil sie das Gesetz nicht erfüllen." 6 9 In seiner Auslegung sucht Luther den inneren Widerstreit christlicher Existenz zu begreifen. Dabei wird von ihm hervorgehoben, dass unsere Gerechtigkeit immer Gottes uns zuteil werdende Gabe ist und niemals uns zur Verfügung stehender Besitz wird. Die Wendung „simul iustus et peccator" soll die Theologie der Rechtfertigung unter der Perspektive beschreiben, dass auch der Gerechtfertigte in seiner fleischlichen Existenz immer zugleich ganz und gar Sünder bleibt, der ungeteilt auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen ist. 70 An dieser Stelle wird deutlich, dass Paulus und Luther zwar die Botschaft von der Rechtfertigung übereinstimmend ins Zentrum ihrer Theologie rücken, daß sie aber unter unterschiedlicher Perspektive vom Menschen reden. 7 1 Der Apostel Paulus hat gleichfalls den Ge65 66 67 68 69 70 71

WA 56,343 = Luther, ebd., 32f. WA 56,343 = Luther ebd. WA 56,347 = Luther, ebd. 42f. zu Rom 7,25. WA 56,347 = ebd. WA 56,347 = ebd. 44f. zu Rom 7,25. WA 56,345 = ebd., 44f. zu Rom 7,25. Vgl. hierzu P. Althaus, Paulus und Luther über den Menschen, Gütersloh 1938 4 1963; R. Bultmann, Christus des Gesetzes Ende (BEvTh 1), München 1940 = ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, 32-58; W. Joest, Paulus und das lutherische simul iustus et peccator, KuD 1 (1955) 269-320; B. Lohse, Luthers Theologie (s. Anm. 7), 80-97; Ο. H. Pesch, LThK 3 IX (2000) 612-615; T. Schneider, G. Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen (Dialog der Kirchen 11), Freiburg/Göttingen 2001; M. Theobald, Concupiscentia im Römerbrief. Exegetische Bemerkungen anläßlich der lutherischen Formel „simul iustus et peccator", in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 250-276.

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schenkcharakter der Rechtfertigung betont, doch hebt er dabei die entscheidende Aussage über die Wirklichkeit der in Christus geschenkten Erneuerung hervor. Der Herrschaft des von der Sünde missbrauchten Gesetzes ist endgültig ein Ende gesetzt. Das heißt, dass Christus „das Ende eines Lebens ist, das ... die eigene Gerechtigkeit aufrichten will." 7 2 Während Paulus dieses Verständnis in Auseinandersetzung mit der Gesetzesfrömmigkeit seiner Tage entfaltet, setzt Luthers Theologie „eine Tiefe der Reflexion voraus, die erst in der christlichen Geschichte möglich geworden ist". 7 3 Über die Folgerungen, die sich aus der sog. Formel „simul iustus et peccator" für den ökumenischen Dialog mit römisch-katholischer Theologie ergeben - oder doch ergeben könnten - , ist in letzter Zeit intensiv nachgedacht worden. Diese Gespräche haben das gegenseitige Verständnis und die Interpretation sowohl der paulinischen wie auch der lutherischen Texte wesentlich gefördert. Luthers Auslegung stellt eine kraftvolle Neuinterpretation dar, die über die Sicht des Apostels hinausgeht. Doch auch von katholischen Exegeten kann erklärt werden, dass der Christ der Erinnerung an die Schwäche des Fleisches bedarf, „um demütig realistisch zu bleiben und alles Heil immer nur von Gott zu erhoffen; er bedarf der Erinnerung an die Stärke des Gekreuzigten, um hoffnungsvoll realistisch zu werden, dass er eine ,neue Schöpfung' ist (Gal 6,15, 2Kor 5,17)". 7 4 Die Wendung „simul iustus et peccator" will nicht isoliert als eine starre Formel, sondern im weiteren Kontext der Theologie Luthers betrachtet und ausgelegt werden. Denn Luther kann denselben Sachverhalt auch auf andere Weise bezeichnen: so durch das Bild, dass der Christ wie ein Kranker anzusehen ist, der aufgrund der Zuwendung des Arztes seiner Heilung gewiss ist. 75 „Es ist wie mit einem Kranken" - so bemerkt Luther zu R o m 4,7 - , „der dem Arzt, der ihm aufs gewisseste die Gesundheit verspricht, Glauben schenkt und in Hoffung auf die versprochene Genesung seinem Gebote gehorcht und sich inzwischen dessen enthält, was ihm verboten ist, daß er nicht die verheißene Gesundung gefährde und die Krankheit steigere, bis der Arzt erfüllt, was er versprochen hat. Ist dieser Kranke nun etwa gesund? Nein, er ist zugleich krank und gesund. Krank in Wirklichkeit, gesund aber kraft der gewissen Zusage des Arztes, dem er glaubt, der ihn schon gleich72 73 74

75

Vgl. Bultmann, Christus (s. Anm. 71), 18 = 48. Vgl. Bultmann, ebd., 17 = 47. Vgl. T. Söding, Die Rechtfertigung der Sünder und die Sünden der Gerechtfertigten. Anmerkungen zum Streit um „simul iustus et peccator" im Lichte paulinischer Theologie, in: Ökumenische Klärungen (s. Anm. 71), 30-81, hier 81. Vgl. O.H. Pesch, Simul iustus et peccator, in: ebd., 146-167, hier 151; ferner Theobald, Concupiscentia (s. Anm. 71), 253.

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sam für gesund rechnet, weil er dessen gewiß ist, daß er ihn heilen wird; denn er hat schon begonnen, ihn zu heilen, und er rechnet ihm darum die Krankheit nicht zum Tode an."76 Die Wendung „simul iustus et peccator" will mithin „den Stolz auf jede eigene Gerechtigkeit" brechen „und die unabgeschlossene Kampfsituation des Christseins" heraustellen.77 Gilt es doch, einen lebenslangen Kampf gegen die Sünde zu führen und durchzustehen.78 Dabei wird jedoch mitnichten „eine Gleichrangigkeit von Sünde und Gerechtigkeit behauptet".79 Denn an der Gültigkeit neuer Schöpfung wird nichts abgestrichen, wenn „auch die Getauften sündigen gemäß ihrer bleibenden gottwidrigen Begehrlichkeit". Denn es gilt die Zusage: „In Christus hingegen, in dem ihr Glaube gründet, sind sie iusti und wahrhaft gerecht vor Gott."80 Der Römerbrief bietet - so kann Luther in der Vorrede der Septemberbibel von 1522 zusammenfassend sagen - „aufs allerreichlichste, was ein Christ wissen soll". Hat doch der Apostel in dieser Epistel gleichsam in Kürze „die ganze christliche und evangelische Lehre verfassen und" - so wird besonders betont - „einen Eingang bereiten wollen in das ganze Alte Testament. Denn ohne Zweifel, wer diese Epistel wohl im Herzen hat, der hat des Alten Testaments Licht und Kraft bei sich". Darum ist diese Epistel „das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welche wohl wert ist, daß sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot der Seele; denn sie kann nimmer zu viel und zu wohl gelesen und betrachtet werden. Und je mehr sie gehandelt wird, je köstlicher wird sie, je besser schmeckt sie."81 76 77 78 79 80 81

WA 56,272 = Luther, Römerbrief (s. Anm. 5), 1,262-265 zu Rom 4,7. Pesch, Simul (s. Anm. 75), 153. Ebd., 154. Vgl. Ökumenische Klärungen (s. Anm. 71), 435. Ebd., 455. Als humanistisch gebildeter Exeget ist Luther ebenso wie bei seiner Auslegung der alttestamentlichen Bücher auch bei der Erklärung des Neuen Testaments stets auf den Urtext zurückgegangen. Sobald ihm das Griechische Neue Testament in der Ausgabe des Erasmus zugänglich wurde, hat er dessen griechischen Text seinem Studium zum Römerbrief zugrunde gelegt. Gelegentlich konnte er dabei sogar eine Bemerkung zu einer handschriftlichen Variante des Textes beisteuern: so zu Rom 12,11: „Etliche Bücher haben ,Dienet dem Herrn', weil auf Griechisch ,kairo' und ,kyrio' fast gleich lauten, und eines heißt ,Zeit', das andere ,Herr'. Ich weiß auch nicht, welches das Beste ist. Es paßt wohl gut:,Dienet der Zeit', das ist,Schickt euch in die Zeit', aber auch das paßt nicht übel: ,Dienet dem Herrn.' Ein jeglicher nehme, welches ihm gefällt. ,Dem Herrn dienen' ist so viel gesagt (wie): Alles, was ihr tut, das laßt euch nicht anders dünken, als tätet ihr's dem Herrn selber und dienet ihm damit. Und sucht nicht eure Ehre darinnen und (unter)laßt es auch nicht aus Furcht

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V. Summary Martin Luther and the Epistle to the Romans Martin Luther interpreted the Epistle to the Romans in 1515/16 to his students in Wittenberg. Thinking about Rom 1:17 he learnt that God's Justice means his gracious gift by which a new life is opened for all who trust in his word. This understanding became relevant for the interpretation of the whole letter, but also for all books of the Holy Scripture. Luther's understanding which he developed in later writings is sometimes critized also in NT exegesis. But it is still important for careful reading of the Epistle to the Romans.

vor den Menschen oder um ihrer Gunst willen." WA 17 11,47 - E. Ellwein, EpistelAuslegung (s. Anm. 6), 218.

10.

„Heilsgeschichte" im Römerbrief Zur Interpretation des Römerbriefs durch Erik Peterson „Diese Epistel ist das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welche wohl würdig ist, dass sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot der Seele; denn sie kann nimmer zu viel und zu wohl gelesen und betrachtet werden. Und je mehr sie gehandelt wird, je köstlicher wird sie, je besser schmeckt sie." Wer immer sich mit der Interpretation des Römerbriefs beschäftigt, wird, ohne zu zögern, diesen Worten zustimmen, die Martin Luther im Septembertestament von 1522 seiner Übersetzung des Römerbriefs vorangestellt hat. Zu Recht kann gesagt werden, dieses gewichtigste unter den Schreiben des Apostels sei „seit jeher ein besonderer Prüfstein für die Auslegungskunst der Exegeten, und seine unterschiedlichen Interpretationen markierten oft Wendepunkte und tiefe Einschnitte in der Theologie- und Kirchengeschichte" 1 Einen solchen Wendepunkt stellen die Vorlesungen dar, die Erik Peterson in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Bonn gehalten hat. Seine Vorlesungen über den Römerbrief waren vom Autor seinerzeit nicht zum Druck gegeben worden. Doch nun liegen sie in einer umsichtig besorgten Ausgabe des handschriftlich überkommenen Textes vor. Sie gründlich studieren zu können, ist nicht nur für die Darstellung der Theologie Petersons, sondern auch zum Verständnis der theologischen Diskussion der damaligen Zeit von besonderem Wert.

1

So B. Nichtweiß, Einleitung, in: E. Peterson, Der Brief an die Römer, Würzburg 1997, IX.

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Eduard Lohse I.

Diese Auslegung des Römerbriefs sei nunmehr unter einer besonderen Perspektive - der Frage nach der Auffassung von Geschichte und „Heilsgeschichte" - betrachtet, durch die auch die beachtliche Wirkungsgeschichte in den Blick genommen werden kann, die von ihr ausgegangen ist. Zu der kleinen Schar der damals um Peterson versammelten Hörer gehörten sowohl der evangelische Theologe Ernst Käsemann wie auch der katholische Theologe Otto Kuß. Beide haben sie später je einen wissenschaftlichen Kommentar zum Römerbrief von hohem Rang vorgelegt. Und beide bringen sie mit eindrucksvollen Worten den Dank zum Ausdruck, den sie ihrem Lehrer schulden. E. Käsemann stellt seinem Kommentar mit dem ihm eigenen Pathos den Satz voran: „Als ich am dritten Tag meines ersten Semesters im Mai 1925 neugierig in Erik Petersons Vorlesung über den Römerbrief geriet, wurde damit über den Weg meines Studiums und, wie das einem Theologen geziemt, in gewisser Weise auch meines Lebens entschieden: Das grundlegende Problem war gestellt."2 O. Kuß führt wenige Jahre später drei Voraussetzungen an, unter denen - durch E. Peterson auf den Weg gebracht - die Exegese des Römerbriefs zu vollziehen sei: „1. Es gibt Offenbarung im Sinne einer außerordentlich auf anderen Wegen durchaus unerreichbaren Kundgabe des göttlichen Willens; die Quellen dieser ,Offenbarung' sind ,Schrift' und ,Tradition' ... Gehorsam oder Ungehorsam dieser göttlichen Offenbarung' gegenüber entscheiden über ewiges Heil oder ewiges Unheil der angesprochenen und aller Menschen." Wahrlich ein Anspruch unvergleichlicher Art, zu dem die folgenden Anforderungen hinzuzufügen sind: „2. Diese ,Offenbarung' wird ,durch die Kirche' vermittelt; allein ,die Kirche' erkennt Schrift und Tradition im ganzen und im einzelnen als singular ,offenbarungsträchtig', als gültig und verbindlich." Und schließlich: „3. Die durch ,die Kirche' promulgierte ,Offenbarung' kann nicht durch die Werkzeuge wissenschaftlicher Forschung, durch allgemein faßbares Einsichtigmachen angeeignet werden, sie fordert vielmehr unausweichlich ,Glauben'." Mit diesen drei Thesen dürfte zutreffend beschrieben sein, von welcher Überzeugung Peterson geleitet war, als er seine Vorlesungen über den Römerbrief hielt. Historische Forschung und philologische Gelehrsamkeit allein genügen nicht, um die letzte Frage beantworten zu können, die O. Kuß durchaus im Sinn Petersons so formuliert: „Wie beeinflussen Kenntnis und Erkenntnis ζ. B. dieses Dokuments ,Römerbrief' 2

E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 31974, Vorwort.

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mein Leben jetzt und im Blick auf meinen Tod?" Diese Herausforderung aber sei nur in der Weise „dogmatisch gebundener Theologie" zu erfüllen, die darum bemüht ist, die Aufgabe einer sach- und sinngemäßen Textinterpretation zu erfüllen. Denn Theologie habe im strengen Sinn „kirchliche" Theologie als „gebundene" Theologie zu sein.3 Von Petersons Theologie, wie er sie damals vorgetragen hat - so bezeugt O. Kuß ein halbes Jahrhundert später - , sei eine bis heute spürbare Wirkung ausgegangen, empfinde man doch immer noch die spannungsgeladene Atmosphäre des damaligen Augenblicks, „in dem man unmittelbar und wie neu zu erfahren meinte, was eigentlich ,Dogma' und was eigentlich ,Theologie' sei, etwa: dass das ,Dogma' in der Verlängerung des Redens Christi, des fleischgewordenen Logos, von Gott liege, und zwar so, dass es eine von Christus der Kirche übertragene Lehrgewalt gebe, in der das Dogma vorkomme, denn das Evangelium sei keine frohe Botschaft, die sich ,an alle' richte ..., sondern ein positiver Rechtsanspruch Gottes, der in dem faktischen Vollzug von Christi Tod und Auferstehung gründe und der sich in Dogma und Sakrament hinein fortsetze" 4 .

II. Wird durch gewichtige Worte, wie sie eben angeführt wurden, das neugierige Interesse des fragenden Theologen geweckt, so müssen ehe die Thematik „,Heilsgeschichte' im Römerbrief" des näheren abgehandelt wird - zwei Problemkreise kurz skizziert werden, die für Petersons Interpretation des Römerbriefs von entscheidender Bedeutung waren. Deren erster geht das grundsätzliche Verständnis an, das Peterson als die der Theologie gestellte Aufgabe entwickelt hat. Dass der Interpret sich des Rüstzeugs zu bedienen hat, wie es die historischkritische Exegese bereitstellt, stand für Peterson außer Zweifel. Um sich gegenüber dieser Forderung hinlänglich auszuweisen, bezieht er sich des öfteren auf H. Lietzmanns Kommentar, dem in dieser Hinsicht reiches Material zu entnehmen ist.5 Doch hält er sich nicht lange bei Überlegungen auf, die Sammlung und Wertung solchen Materials betreffen. Mit spürbarer Ironie kann er bemerken, das wirkliche und letzte Verständnis des Textes könne man nicht auf der Universität lernen. So anerkennenswert es sein mag, religionsgeschichtliche Untersuchungen anzustellen - wie Peterson selbst es in seiner großen Mo3 4 5

O. Kuß, im Vorwort zu: Der Römerbrief III, Regensburg 1978, bes. V. Ebd., XII. H. Lietzmann, An die Römer (HNT 8), Tübingen 1933.

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Eduard Lohse

nographie über „Heis Theos" in vorbildlicher Weise getan hatte6 - , so werde doch damit keineswegs der Aufgabe einer sachgemäßen Auslegung der Schrift Genüge getan7. Nur durch eine charismatische bzw. prophetische Interpretation könne der eigentliche Gehalt der biblischen Schriften erfasst und dargelegt werden.8 Mit diesen Äußerungen redet Peterson keineswegs einer von Enthusiasmus oder Gnosis geleiteten Deutung der biblischen Botschaft das Wort. Er rückt vielmehr den Exegeten in die Folge apostolischer Tradition, die letztlich auf Christus selbst zurückzuführen sei. Denn der auferstandene Christus habe in der Endzeit, in der er verkündigt habe, gestorben und auferstanden sei, die Apostel als öffentliche und autorisierte Boten ausgesandt, „die den Heroldsruf ausstoßen und die Hörer zum Glauben auffordern, damit diese den Namen des Kyrios des neuen Äons anrufen und gerettet werden und nicht mit dem alten Aon zugrunde gehen" 9 . Dieser Ursprung der biblischen Botschaft bestimmt die Lehre der Kirche, wie sie diese im Lauf ihrer Geschichte bis auf diesen Tag ausgerichtet hat. Das aber bedeutet, „dass sich die LogosOffenbarung ins Dogma hinein ausgeprägt hat" 10 . Christus selbst habe vor seiner Himmelfahrt seine Autorität an die Kirche delegiert, so dass infolgedessen jede Theologie, „die sich vom Gehorsam gegenüber dem kirchlichen Lehramt, d.h. von der Rückbindung an das Dogma dispensiert", sich damit von der Offenbarung löse, „die in und durch Christus konkret zum Ausdruck gekommen sei" 11 . Zwar hat der Exeget den Gedanken des Textes genau zu folgen, gleichwohl wird er es jedoch nicht verschmähen, sich hier und da auch einer allegorischen Deutung zu bedienen. Ob diese angemessen ist oder nicht, lässt sich an der „Bindung an das konkrete Dogma der Kirche" als einem nachprüfbaren Kriterium erkennen. Umgekehrt biete „die allegorische Deutung ein objektives Kriterium dafür", „ob der Interpret tatsächlich die Heiligkeit der Schrift ernst nehme und sich vom Geist Gottes in ihrem Verständnis leiten lasse"12. Im Blick auf die Erklärung des Römerbriefes folgt aus dieser grundsätzlichen Orientierung, dass „die Weissagungen des Alten Bundes" „nicht aus der natürlichen, der Weltzeit heraus verstanden werden, sondern perspektivisch in Bezie-

6 7 8 9 10 11 12

E. Peterson, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, Göttingen 1926. Vgl. Β. Nichtweiß, Erik Peterson, Freiburg u.a. 2 1994, 572. Vgl. ebd. 578f. Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 309. Nichtweiß, Erik Peterson (s. Anm. 7), 591. Ebd., 591. Ebd.

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hung auf die übernatürliche, auf die eschatologische Zeit gelesen werden"13. Peterson bleibt bei der Betrachtung des ganzen Römerbriefs nicht wie mancher Professor irgendwo auf der Strecke hängen, so dass nur ein Fragment von Erklärung entsteht, sondern er fasst den gesamten Brief von Anfang bis Ende in den Blick und sucht seine schlechthin gültige Botschaft Kapitel für Kapitel und Vers für Vers zu erheben. Anders als sonst zumeist üblich übergeht er die Erörterung sog. Einleitungsfragen und beginnt unverzüglich mit der Sache selbst, der Erklärung des Textes, wie der Apostel ihn aufgezeichnet hat. Unbeschadet der Eigenständigkeit, die seine Auslegung auszeichnet, lässt sie sich in dieser Hinsicht durchaus mit K. Barths Römerbrief14 oder der durch A. Schlatter vorgenommenen Auslegung vergleichen15 bzw. später dem Kommentar zum Johannesevangelium von R. Bultmann.16 Nur ganz selten jedoch nimmt Peterson auf Barths Erklärung, des Römerbriefes Bezug, da er sich offensichtlich von ihm in keiner Weise - weder im Pro noch im Contra - abhängig machen will. In seinem Verständnis des Römerbriefs grenzt sich Peterson wiederholt von Luthers Erklärung ab. Ihm sei es viel zu sehr auf eine Applikation an den einzelnen Christen angekommen, der Trost und Zuspruch in der Beichte suchte. Nicht nur im Blick auf die Theologie der Rechtfertigung, sondern gerade auch gegenüber einem enger gefassten Prinzip „sola scriptura" erhebt Peterson Einwände gegen die reformatorische Theologie. Für ihn kann niemals gelten, dass allein aus der Schrift die Botschaft des Evangeliums zu erheben sei. Für ihn gehören Schrift und Tradition zusammen und kann angemessene Auslegung nur - wie gezeigt - in entschiedener Bindung an das Dogma vollzogen werden. „Über dem Alten und Neuen Testament" -so sagt Peterson - „steht nach christlicher Auffassung die Kirche mit ihrer pneumatischen Auslegung beider Testamente. Das ist aber darum der Fall, weil die Kirche als Künderin der frohen Botschaft von der Thronbesteigung Christi sich vom Gesetz des Buchstabens frei weiß und nun aus dem Pneuma heraus über Recht und Unrecht aller Schriftauslegung entscheidet."17

13 14 15 16 17

Ebd., 579. K. Barth, Der Römerbrief, Zürich 1919, 2. Aufl. in neuer Bearbeitung 1921 - zahlreiche spätere Auflagen. A. Schlatter, Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief, Stuttgart 1935 mehrere spätere Auflagen. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen 1941 - etliche spätere Auflagen. Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 11.

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Eduard Lohse III.

Welches Verständnis von Geschichte und Heilsgeschichte wird nun das ist die zweite grundsätzliche Erwägung, die es anzustellen gilt - im Vollzug der Exegese des Römerbriefes entfaltet? Auffallender Weise sprach Peterson von einer Heilsgeschichte nur sehr selten.18 Statt von einer Heilsgeschichte zu reden, verwendete er seinerseits weit eher die Begriffe einer „theologisch bestimmten Geschichte" bzw. „Offenbarungsgeschichte". Allein die „spezifisch theologisch bestimmte Geschichte" verdiente in seiner Sicht überhaupt „den Namen Geschichte" 19 . Weil in Christus die schlechthin bestimmende Äonenwende geschehen ist, ist von diesem Geschehen her nach dem Sinn aller Geschichte zu fragen. Das aber bedeutet: „den Zusammenhang zwischen Eschatologie und Aion-Theologie zu entfalten"20. Mit dieser Rede von einer theologisch bestimmten Geschichte „meinte" - wie B. Nichtweiß treffend zusammenfasst - „Peterson nicht die Vorstellung von einer Höherentwicklung der Menschheitsgeschichte unter der Einwirkung Gottes oder der glaubenden Menschen, auch nicht nur eine besondere Beleuchtung der profanen Ereignisse der Weltgeschichte, sondern einen in der Offenbarung Gottes begründeten geschichtlichen Zusammenhang" 21 . Hieraus aber folgt: „Das Zentrum dieser theologisch bestimmten Geschichte ist die Person Jesu Christi; seit ihrem Auftreten gibt es nach Petersons Konzeption nur noch Endgeschichte."22 Ähnlich wie die dialektische Theologie war auch Peterson der Meinung, dass unter dem Christusgeschehen in erster Linie nicht Auftreten und Verkündigung des sog. historischen Jesus zu begreifen sei. Das Privatleben Christi, „das, was Paulus den Christus nach dem Fleisch nennt", bleibt für den Theologen vollkommen uninteressant23. Die christliche Botschaft muss öffentlich ausgerufen werden. Denn wie Adams Ungehorsam eine öffentliche Tat war, die die Öffentlichkeit eines ganzen Äons bestimmt, so meine der Apostel Paulus dann, wenn er von der offenbar gewordenen Gerechtigkeit spricht, „die die Öffentlichkeit des neuen Äons bestimmende neue Gerechtigkeit"24. Wird die paulinische Theologie im Licht dieser Äonenwende betrachtet, die allem Geschehen der Geschichte die bestimmende Richtung verleiht, dann kann die Theologie des Apostels unmöglich auf die 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Nichtweiß, Erik Peterson (s. Anm. 7), 479f. Ebd. Ebd., 483. Ebd., 480. Ebd., 481. Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 135. Ebd.

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individuelle Frage eingeengt werden, wie ich - das Individuum - einen gnädigen Gott kriege. Der universale Horizont, wie ihn der Apostel durch seine Verkündigung des Evangeliums aufreißt, kann nur von der in Christus geschehenen Äonenwende her begriffen werden. Soweit in diesem Sinn von einer Heilsgeschichte zu sprechen ist, würde Peterson kaum Einwände erheben. E. Käsemann hingegen, der einst durch Petersons Vorlesungen über den Römerbrief tief beeindruckt wurde, geht über dieses von Peterson entworfene Verständnis von Geschichte bzw. theologisch bestimmter Geschichte hinaus, indem er, ohne zu zögern, den Begriff einer Heilsgeschichte verwendet. Einer Alternative zwischen Rechtfertigung und Heilsgeschichte widerspricht er entschieden; denn „Theologie kann nicht beim Individuum beginnen und enden, wo Weltgeschichte als die christliche Aufgabe erscheint und diese Aufgabe in apokalyptischem Horizont gesehen" werden muss25. Mit Leidenschaft widerspricht Käsemann der von R. Bultmann entfalteten Auslegung paulinischer Theologie, indem er sagt: „Historisch wie sachlich schlechterdings falsch ist es, paulinische Theologie am Individuum zu orientieren."26 Dagegen lasse sich der heilsgeschichtliche Horizont der paulinischen Theologie ernsthaft nicht bestreiten.27 Der Apostel aber verstehe Geschichte „nicht als kontinuierlichen Entwicklungsprozess, sondern als das Gegeneinander der beiden Bereiche Adams und Christi" 28 . Einen spürbaren Anklang an Petersons Gedanken meint man heraushören zu können, wenn es heißt: „Das Eschatologische bricht realiter in die Erde ein und greift deshalb wie in Sakrament, Kirche und christlichem Leben sogar historisch Platz." 29 Da Peterson - anders als später Käsemann - nur selten von Heilsgeschichte redet, ist man gut beraten, diesen Begriff in Anführungszeichen zu setzen. Doch kann mit seiner Hilfe deutlich gemacht werden, dass Peterson den weltweiten Horizont des ganzen Römerbriefes ins Auge fassen will - nicht nur die Kapitel 1-8, sondern auch die Kapitel 9-11 sowie 12-16.

25 26 27 28 29

Vgl. E. Käsemann, Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969 3 1993,108-139, hier 116f. Ebd., 117. Ebd., 118. Ebd., 119. Ebd., 121.

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Die Aufgabe, „Heilsgeschichte" im Römerbrief zu betrachten, soll nun in drei Gedankenschritten vollzogen werden, indem zuerst nach dem Verhältnis von Eschatologie und Geschichte, sodann nach dem Gegenüber von Juden und Heiden und schließlich nach der von Peterson beschriebenen Theologie der Rechtfertigung gefragt wird. Mit einer gewissen Monotonie bestimmt Peterson in seiner Erklärung des Römerbriefs den Inhalt des urchristlich/paulinischen Evangeliums als die Kundgabe der Thronbesteigung Christi. Die Auferweckung Jesu von den Toten gehe „nicht mehr in der historischen Zeit vor sich", sondern sei „ein Ereignis der Endzeit"30. "Jetzt wird nicht mehr aus eigener Gerechtigkeit geherrscht, sondern Gottes Gerechtigkeit herrscht im neuen Reich und einem neuen Kosmos." 31 Es stehen sich daher auf der einen Seite der alte Äon mit Gesetz, Sünde und eigener Gerechtigkeit und auf der anderen der neue Aon mit Christus, der Gnade und der Gerechtigkeit Gottes gegenüber.32 Da jedoch die künftige Auferweckung der Toten noch aussteht und erst am Ende aller Zeit erwartet werden kann, leben die Christen unter einem „eschatologischen Vorbehalt", weil noch vor den Augen verborgen ist, dass der alte Aon bereits endgültig abgetan und der neue Aon schon angebrochen ist.33 Was den religionsgeschichtlichen Hintergrund dieser Bestimmung des Begriffs Evangelium angeht, so macht Peterson in seiner Vorlesung über den Römerbrief nur kurze Andeutungen. Ist die Äonenwende von apokalyptischen Voraussetzungen her zu verstehen, so deutet die Rede von der Thronbesteigung Christi auf Zusammenhänge mit dem antiken Herrscherkult. Diese werden zwar nicht des Näheren erörtert; da Peterson jedoch der Thronbesteigung Christi auf Grund ihres Gegensatzes zur Thronbesteigung des Kaisers entsprechende politische Dimension beimisst34, wird er dabei vornehmlich an die Gegenüberstellung zum Herrscherkult gedacht haben. Doch fehlt eine Besinnung darüber, dass in der göttlichen Verehrung des Herrschers, wie sie vor allem im Orient ausgebildet worden war, von mehreren „Evangelien" gesprochen wurde - beginnend mit der Geburt des Herrschers, über seine Mündigkeitserklärung bis zu seinen siegreichen Taten und dem Triumph seines Königtums. Die urchristliche Verkündigung spricht dagegen mit 30 31 32 33 34

Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 307. Ebd. Ebd., 299. Ebd., 324 u.ö. Ebd., 10 u.ö.

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eindeutiger Entschiedenheit nur von dem einen, schlechthin gültigen Evangelium, das den gekreuzigten und auferstandenen, den erniedrigten und erhöhten Christus als den Kyrios aller Kyrioi proklamiert.35 Da diese Zusammenhänge von Peterson nirgendwo genauer bstimmt werden, verschwimmen zu einem guten Teil die religionsgeschichtlichen Konturen. Müsste doch die alttestamentliche Komponente, die vor allem bei Deuterojesaja und in den Psalmen zu finden ist, stärker berücksichtigt werden. Gleichwohl ist deutlich, was Peterson unter Thronbesteigung Christi versteht: eben jene den Lauf wie auch das Ende bestimmende Wende vom alten zum neuen Aon. Es hat den Anschein, dass dabei das stärkere Gewicht auf die Apokalyptik fällt. So wird verständlich, dass später E. Käsemann diesen von Peterson nur angedeuteten Zusammenhang zu der vergröbernden These fortentwickelte, die Apokalyptik sei geradezu als Mutter der christlichen Theologie zu begreifen.36 Denn - so bemerkt Käsemann wiederum in unverkennbarer Anlehnung an Peterson: „Die apokalyptische Frage, wem die Weltherrschaft gehört, steht hinter der Auferstehungstheologie des Apostels wie hinter seiner Paränese, die sich in der Forderung des leiblichen Gehorsams konzentriert."37 Indem die christliche Gemeinde sich zum erhöhten Christus als dem Herrn aller Herren bekennt, erschallt dieser Ruf durch den ganzen Kosmos und zeigt sich, „dass im vollen Ernst an einen neuen Äon mit Christus als seinem Herrn gedacht ist" 38 . Auferweckung und Thronbesteigung Jesu Christi ist ein, ja das Ereignis der Endzeit.39 Das aber bedeutet: „Die Universalität der apostolischen Predigt ist bedingt durch die Universalität des Begriffes der Thronbesteigung Christi."40 Als die in der Endzeit ausgesandten öffentlichen und autorisierten Boten stoßen die Apostel den Heroldsruf aus, Jesus sei der Kyrios, und fordern die Hörer zum Glauben auf.41 Wer sich diesem Anruf versagt, wird mit dem alten Äon zugrunde gehen; wer aber den Namen des Kyrios anruft, wird gerettet werden. Damit aber muss die Entscheidung über Rettung oder Verlorenheit fallen. Denn „wer jetzt nicht zu dem guten König hält, nachdem er den Thron bestiegen hat, wer jetzt dem neuen

35 36 37 38 39 40 41

Vgl. insbesondere G. Friedrich, ThWNT II, 7 0 5 - 7 3 5 , bes. 722. Vgl. E. Käsemann, Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, in: ZThK 59 (1962) 257-284 = ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 105-131 - hiernach im folgenden zitiert. Ebd., 129. Der Brief an die Römer (s. Anm.l), 304. Ebd., 307. Ebd., 311. Ebd., 309.

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König nicht loyal Kyrios zuruft, geht zugrunde" 42 . „Vergessen wir also nicht" - so ruft Peterson seinen Hörern zu - , „der Universalität der apostolischen Verkündigung geht die Universalität des eschatologischen Geschehens voraus. Niemand kann sich diesem universalen hen, am wenigsten schehen ist. "43

Geschehen und dieser universalen Predigt entzienatürlich die Juden, in deren Mitte das alles ge-

V. Welche Folgerungen werden nun aus dieser Bestimmung des Evangeliums von der Thronbesteigung Christi im Blick auf das Verhältnis von Juden und Christen gezogen, von dem der Apostel in den Kapiteln 9-11 seines Römerbriefs handelt? Mit betontem Nachdruck bezeichnet es Peterson als eine der wichtigsten Aufgaben der Theologie der Gegenwart, „sich über die Bedeutung Israels theologisch klarzuwerden" 44 . Es klingt wie eine Vorahnung der unermesslichen Leiden, die wenig später über die Juden hereinbrechen sollten, wenn Peterson gleichwohl die Überzeugung ausspricht, keine Macht der Welt werde das Judentum ausrotten können; denn die Synagoge werde bis zum Jüngsten Gericht stehen bleiben45. An diesen Sätzen ist abzulesen, dass die Frage nach dem Geschick Israels für Peterson auf das Engste mit dem Verständnis der Eschatologie, des Laufs der Geschichte und seines Endes bei der Wiederkunft Christi verknüpft ist. Ekklesia und Synagoge „gehören zusammen, nicht aus historischen Gründen, sondern um dieser Endgeschichte willen". Doch wenn - so fährt Peterson fort - „wir im Gottesdienst über unsere Erlösung frohlocken, stehen an den Mauern Jerusalems heute jüdische Frauen und klagen über die Zerstörung der heiligen Stadt. Rahel weint über ihre Kinder. Das gehört unauflöslich zusammen: das Weinen der Juden und das Frohlocken der Christen." 46 Peterson ist daher überzeugt: „Alle Versuche, von der politischen Seite oder von einer Theorie der Rassen aus mit der Judenfrage fertigzuwerden, sind gescheitert" ...; weil „nur im Kreuz und in der Aufer-

42 43 44 45 46

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

305. 311. 277. 292. 292f.

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stehung Christi und im Mysterium des Gottesreiches die wirkliche Lösung der Judenfrage gegeben ist47. Was kann der Exeget des Römerbriefs auf die Frage nach dem Geschick Israels antworten? „Hat Gott wahrhaftig Israel zu seinem Volk erwählt? Sind die Juden wirklich die Kinder Gottes gewesen?" - so wird gefragt und geantwortet: „Ja, das ist alles wahrhaftig und wirklich der Fall gewesen." 48 Zu beachten ist freilich, dass hier im Tempus der Vergangenheit gesprochen wird. Denn es bestehe - so erläutert Peterson - ein „Gegensatz zwischen dem neuen Volk Gottes, das sich in der Ekklesia konstituiert hat, und dem alten Volk Gottes, das ... in der Synagoge existiert"49. Zwar ist die Geschichte Israels noch nicht an ihr Ende gelangt, doch für die Gegenwart gilt, dass die Kirche „das wahre Israel" ist, „nicht auf Grund der natürlichen Ordnung der Fortpflanzung ..., sondern auf Grund der übernatürlichen Auswahl, die sich in der Berufung der Söhne Gottes zum Heil und ihrer übernatürlichen Geburt in der Taufe und der Totenauferstehung bekundet". Das Judentum hingegen bleibe trotz seiner Erwählung „im wesentlichen doch in der natürlichen Ordnung, in der es Völker gibt, bestehen" 50 . Wenngleich nicht verkannt wird, dass Gottes Wort über Israel nicht hinfällig geworden ist, so bleibt doch - wie F. Hahn zutreffend bemerkt hat - Petersons Sicht des Judentums „nicht ohne Probleme, sofern er konsequent davon ausgeht, dass das Christentum das Judentum als Gottesvolk abgelöst habe" 51 . Doch steht dieser gewissen Einschränkung die nachdrückliche Betonung gegenüber, dass sowohl die Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge wie auch die Judenfrage nur als theologisches Problem sachgerecht betrachtet werden können. Wird auf der einen Seite festgestellt, das Judentum sei in der überkommenen natürlichen Ordnung geblieben, so „dass der Synagogenverband zugleich der politische Verband ist" 52 , so heißt es auf der anderen Seite: Die Kirche sei das geistige und nicht das leibliche Israel, mithin „das pneumatische Volk Gottes" 53 . Gott hat sich aus Juden und Heiden ein neues Volk berufen. Die Kirche aber hat im Gegensatz zum fleischlichen Israel „die eschatologische Doxa als das Volk Gottes im Gegensatz zum fleischlichen Israel" 54 . 47 48 49 50 51 52 53 54

Ebd., 277f. Ebd., 274. Ebd., 279. Ebd., 279f. F. Hahn, Exegetische und theologische Aspekte der Römerbriefvorlesungen, in: E. Peterson, Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), XIV-XXIII, hier XXI. Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 280. Ebd. Ebd., 291.

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Sein Geschick aber kann nur übernatürlich von der Eschatologie her verstanden werden. Der Unglaube Israels ist „eines der größten und wichtigsten Mysterien in der christlichen Theologie" zu nennen55; denn „ohne die endgültige Bekehrung Israels hängt der christliche Glaube in der Luft. Ohne die Bekehrung Israels gibt es weder eine zweite Ankunft Jesu noch eine Auflösung in der Problematik des Zwischenzustandes zwischen Christi erster und zweiter Ankunft" 56 . Aus dieser gegenseitigen Bezogenheit folgert Peterson, wie Christus nur zu den Juden gekommen sei, so könne er auch „nur zu den Juden wiederkommen". Es habe daher einen tieferen Sinn, „wenn die Alte Kirche als den Ort der zweiten Ankunft Jesu sich Jerusalem gedacht hat" 57 . Stellt die Frage nach dem Geschick Israels eines der größten Mysterien überhaupt dar, so bleibt es Grund für ein grenzenloses Erstaunen, dass Gott sich ein Volk erwählt hat, „dass er dieses Volk erlösen will und ihm seinen Sohn schickt". Dieses Volk aber hat der Sendung des Sohnes widerstanden und ihn gekreuzigt. Doch Gott benutzt in seiner Weisheit diese Durchkreuzung seiner Absichten dazu, „um seine Pläne noch gewaltiger und sein Erbarmen noch überwältigender zu bekunden. Er beruft die Heiden zur Kirche, um sein Volk zu reizen, um es eifersüchtig zu machen ...Er lässt das Heil der Welt in der Schwebe, er wartet mit dem Kommen Christi, mit der endgültigen Aufrichtung des Reiches, mit der Auferstehung der Leiber, bis auch Israel vom Erbarmen Gottes gefasst wird und dem Gott die Ehre gibt, aus dem und durch den und von dem alle Dinge sind; dem Gott, der größer ist als unser Herz, größer als das Herz des Juden, als all sein Eifer. Der größer ist, weil er barmherzig ist und durch seine Barmherzigkeit mit allen -selbst mit seinem Volk -fertig wird".58

VI. Steht Gottes Barmherzigkeit am Ende aller Wege, die er mit Israel und der Kirche geht, dann ist schließlich zu bedenken, was aus dieser Erwartung für das Verständnis der Theologie der Rechtfertigung folgt. Auch im Blick auf diese Frage ist von bestimmender Bedeutung, dass Peterson stets das Evangelium als Botschaft von der erfolgten Thronbe-

55 56 57 58

Ebd., 329. Ebd. Ebd., 328. Ebd., 330.

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Steigung Christi bestimmt.59 Für den Apostel sei - so führt Peterson aus - Evangelium „wirklich noch Kunde von der Thronbesteigung Christi und nicht etwa ein Bulletin über die Stimmung Gottes uns gegenüber". Das Evangelium aber „bezieht sich für ihn wirklich noch auf einen kosmisch-eschatologischen Vorgang und nicht auf die Regelung der privaten Beziehungen zwischen Gott und Mensch". Oder anders gesagt: Es „bezieht sich eben nicht auf die Einzelsünde und ihre Vergebung, sondern auf die kosmische Sünde Adams und ihre Überwindung durch den neuen Adam" 60 . Was im Evangelium verkündet wird, ist daher „mehr als das Evangelium des armen Sünders, den man auf das Schaffott führt" 61 . Der neue Aon ist „kein Todesäon, sondern ein Lebensäon" 62 . Diese frohe Kunde muss nun in Beziehung gesetzt werden zur Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes. Diese kann weder nur eine Eigenschaft Gottes bezeichnen noch zur Herstellung rechten Seelenfriedens des Einzelnen dienen. Vielmehr bedeutet Gottes Gerechtigkeit „die von Gott ausgehende Rechtsordnung, durch deren Befolgung man vor Gott gerecht wird" 63 . Einen Nachklang dieser Gedanken meint man in der von E. Käsemann mit Leidenschaft vertretenen Polemik gegen ein primär auf den einzelnen Glaubenden gerichtetes Verständnis der Rechtfertigung zu vernehmen, wenn er sagt: „Die paulinische Rechtfertigungslehre ist nie am Individuum orientiert gewesen ... Sie sprach nicht bloß von der Gabe Gottes an den einzelnen Menschen. Dann wären die kosmischen Horizonte von Rom 1,18-3,20; 5,12ff; 8,18ff, insbesondere aber Rom 9-11 unbegreiflich" 64 . Bezeichne Paulus doch die Gottesgerechtigkeit als Macht, „welche nach unserem Leben greift, um es sich gehorsam zu machen" 65 . Anders als Peterson hält Käsemann jedoch entschieden an dem paulinisch-reformatorischen „sola fide" fest - wie hier jedoch nicht weiter zu erörtern ist. Peterson betont immer wieder, gerecht geworden zu sein, sei „Folge einer großen Umwälzung im Kosmos, durch die ein alter Äon der Ungerechtigkeit zerstört und von einem neuen Äon der Gerechtigkeit abgelöst worden ist" 66 . Glaube bedeute daher „das Fürwahrhalten des von Paulus verkündeten Kerygma. Wer diese Botschaft von der Thronbesteigung Christi glaubt und wer - was notwendig zu diesem Glau59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., 10 u.ö. Alle Zitate ebd., 13. Ebd., 15. Ebd., 148. Ebd., 26. Käsemann, Paulinische Perspektiven (s. Anm. 25), 132. Ebd. Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 87.

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ben mit hinzugehört - dann sich taufen läßt, der wird damit auch gerecht, denn er ist aus dem früheren status im alten Aon in den neuen status im neuen Äon übergetreten" 67 . Glaube bedeutet demnach, dass man „an die Thronbesteigung Christi glaubt" 68 . Die damit eingetretene Wende ist als wirkliche Veränderung zu begreifen. Der zu dieser Botschaft gehörige Glaube bedeutet nicht „den beständigen Vollzug des Glaubensaktes", sondern „durch die Taufe, also durch den sakramentalen Vollzug" ist der „Übergang aus dem status im alten Äon zu dem status im neuen Äon" vollzogen69. Der Christ kann und darf der geschehenen Rechtfertigung gewiss sein, weil die Taufe „die Garantie dieses Vorgangs" ist. „Sie garantiert unsere Taufauferweckung, sie garantiert aber auch die Gemeinschaft der Leiden mit Christus, ohne die überhaupt niemand das Reich Gottes sehen wird" 70 . Durch die Taufe - so legt Peterson Rom 6 aus - ist die reale „Auflösung des Lebensverbandes mit der Sünde" vermittelt, „die eine Verpflanzung in Christus und damit in seinen Tod darstellt"71. Damit ist die Frage, wann wir die Rechtfertigung empfangen, beantwortet. Denn „bei der Rechtfertigung wird [...] die Sünde nicht nur erlassen und vergeben, sondern auch substantiell getilgt"72. Die Rechtfertigung hängt demnach mit einer realen Tilgung der Sünde" zusammen. „Wir sind der Sünde gestorben, unser alter Mensch ist mit Christus gekreuzigt."73 In der alten Kirche wussten die Christen, „daß, wenn sie ins Wasser tauchten, sie in Christus hineintauchten und speziell in seinen Tod. Zwischen Christus und dem Wasser und Christus und dem Brot und Wein besteht eine notwendige Beziehung. Wer in dieses Wasser untertaucht, der taucht in Christus ein. Er taucht in das Wasser ein, das Wasser schlägt über ihm zusammen und dann taucht er wieder auf." Die Taufe ist daher weit mehr als „bloß Symbol, sondern sie ist Sakrament, Mysterium in dem Sinne, dass das Mysterium des Sterbens und Auferstehens Christi den Getauften sakramental vermittelt wird" 74 . Wer auf diese Weise in Christus eingetaucht wurde, der ist dem alten Äon entrissen und lebt fortan im neuen Äon. In ihm zu leben aber 67 68 69 70 71 72 73 74

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

93. 18. 94f. 147. 176. 177. 178 f.

Heilsgeschichte" im Römerbrief

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bedeutet, „dass das neue Leben nicht einfach ein moralisch neues Leben bedeutet, sondern das neue Leben ist das Leben, das mit der Auferstehung der Toten zusammenhängt und mit der Auferstehung Jesu Christi begonnen hat" 75 . Ist dem Christen somit die Gabe der Gottesgerechtigkeit als Begründung des Lebens im neuen Äon zuteil geworden, so hat er diese Gabe schon jetzt empfangen, „während wir die ... Leibesauferstehung erst in der Zukunft empfangen"76. Die Gerechtigkeit des Christen ist keine am Individuum haftende Qualität, „sondern sie ist eine Bestimmtheit des neuen - von Gott heraufgeführten - Äons, dem er angehört. Sie ist also keine Qualität des menschlichen Charakters, sondern eine metaphysische Bestimmtheit des neuen Kosmos und in ihm des Menschen" 77 . Wird Rechtfertigung in diesem Sinn verstanden, dann wird begreiflich, dass Peterson der reformatorischen Paulusinterpretation nicht zustimmen kann. Sei diese doch bei Weitem zu stark auf den einzelnen Christen bezogen, der allein durch den Glauben die Gabe der göttlichen Freisprechung empfängt.78 Ebenso wenig wie Peterson dem reformatorischen Verständnis „sola scriptura" folgen kann79, vermag er das diesem Verständnis entsprechende „sola fide" anzuerkennen. Denn für den Apostel sei Rechtfertigung mitnichten nur ein forensischer Akt, dem dann ein zweiter Schritt der Heiligung folgen müsse. „Für Paulus ist vielmehr Rechtfertigung und Heiligung dasselbe" - so erklärt Peterson mit Nachdruck und fährt fort: „Mit der Rechtfertigung muss also alles das geschehen, was der Apostel hier bei den gerechtfertigten Subjekten voraussetzt. Damit aber wird eine rein deklaratorische und forensische Rechtfertigungslehre unmöglich gemacht ... Wer nur als ein Gerechter angesehen wird, während er von der Lebensmacht der Sünde nicht freigemacht ist, von dem kann nicht gesagt werden, dass er der Sünde gestorben ist. "80 Das objektive Geschehen, das sich im Vollzug des Sakraments ereignet, verbürgt dem Christen die ihm widerfahrene Rechtfertigung, durch die er dem alten Äon gestorben und in den neuen hineinversetzt ist. Mit dieser Auslegung der paulinischen Theologie der Rechtfertigung hat Peterson unzweideutig ein Verständnis entfaltet, durch das er sich wenig später im Gewissen genötigt sah, den Schritt der Konversion zu 75 76 77 78 79 80

Ebd., 180. Ebd., 181. Ebd., 299. Ebd., 95. Vgl. Nichtweiß, Erik Peterson (s. Anm. 7), 213ff. Der Brief an die Römer (s. Anm. 1), 175.

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tun, die evangelische Kirche zu verlassen und sich der römischkatholischen anzuschließen. Was Peterson in seiner Vorlesung über den Römerbrief hinsichtlich des Verhältnisses von Eschatologie und Geschichte, der Gegenüberstellung von Juden und Christen sowie im Blick auf die Theologie der Rechtfertigung zu sagen hat, kann den heute zu führenden ökumenischen Dialog in reichem Maß anregen und fördern. Denn es will beachtet sein, dass die skizzierten Gedanken von Peterson vorgetragen wurden, als er sich der Evangelisch-theologischen Fakultät zugehörig wusste. Später jedoch hat er als Glied der katholischen Kirche nichts von dem widerrufen, was er einst gelehrt hatte. Als evangelischer Theologe aber hatte er manche Gedanken entfaltet, die weit eher katholischer als reformatorischer Theologie nahe standen, ohne sich jedoch in eine Vorgabe der einen oder anderen Seite ganz einzufügen. Beide Partner im ökumenischen Dialog haben sich daher zu fragen, wem seine mit tiefem Ernst entfaltete Auslegung des Römerbriefs mehr zu sagen und an wen sie gewichtigere Anfragen zu stellen hat. Miteinander aber werden sich katholische und evangelische Theologen darum bemühen, in kritischer Auseinandersetzung mit Petersons Paulusverständnis die biblischen Texte selbst zu befragen und ihre heute laut werdende Botschaft weiterzusagen. Dabei ist der Grad der Gemeinsamkeit heute weit größer geworden als einst. Denn in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung, die am Reformationstag des vergangenen Jahres in Augsburg feierlich unterzeichnet wurde, heißt es: „Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken."81

81

Artikel 15.

11.

Joachim Jeremias als Ausleger des Römerbriefes* Wer das umfangreiche Lebenswerk von Joachim Jeremias aufmerksam betrachtet, wird alsbald erkennen, daß das Schwergewicht seiner unermüdlichen Arbeit auf der Interpretation der synoptischen Evangelien und der in ihnen bezeugten Verkündigung Jesu liegt. Gilt es doch, die authentische Stimme Jesu - seine ipsissima vox - zu Gehör zu bringen. Denn - das ist die leitende Überzeugung - „niemand als der Menschensohn und sein Wort kann unserer Verkündigung Vollmacht geben". 1 Jeremias hat jedoch auch den anderen Teilen des Neuen Testaments in seinen Vorlesungen und Seminaren, aber auch in manchen Veröffentlichungen große Aufmerksamkeit zugewandt. Dabei war er in vorbildlicher Weise darauf bedacht, die Theologie des Neuen Testaments so abzuhandeln, daß alle Schriften, die in der Sammlung des Kanons vereint sind, zur Darstellung gelangten. Gerade in diesem Kolleg nahm die Theologie des Paulus breiten Raum ein und wurde - unverkennbar durch Einsichten reformatorischer Theologie geleitet - von der zentralen Stellung der in Christus gewirkten Erlösung her aufgeschlossen. Die im Aufsatzband „Abba" versammelten Beiträge legen Zeugnis ab von Breite und Tiefe der exegetischen Studien, die sich auf alle Teile des Neuen Testaments erstreckten.2 Denn Jeremias war daran gelegen, die Verkündigung Jesu als den schlechthin entscheidenden Ruf zu begreifen, auf den der vielstimmige Chor der urchristlichen Zeugen mit dem Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Christus Antwort gibt.3 Als kraftvollste und gewichtigste Stimme hebt sich aus dem Chor der urchristlichen Zeugen die des Apostels Paulus heraus. Für den * 1 2 3

Referat anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel für Joachim Jeremias an seiner früheren Wohnstätte Göttingen, Brüder-Grimm-Allee 26 So im Vorwort zu seinem wiederholt aufgelegten Buch Die Gleichnisse Jesu, Göttingen '»1984,5. Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966. Vgl. die Festschrift, die seine Schüler ihrem Lehrer zum 70. Geburtstag darbrachten: Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, Göttingen 1970.

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Ausleger, der sich heute ans Werk macht, stellt sich die grundsätzliche Frage, wo der Schlüssel zum rechten Verständnis der Theologie des Apostels zu finden ist. Hierüber Klarheit zu gewinnen, ist vor allem von hoher Bedeutung für die Interpretation des Römerbriefes, des Schreibens, in dem Paulus mit besonderer Sorgfalt darum bemüht ist, die leitenden Motive und Inhalte seiner Verkündigung so darzulegen, daß auch Leser und Hörer, die nicht zu den von ihm gegründeten Gemeinden gehörten, auf seine Ausführungen mit der Zustimmung eines bekräftigenden „Amen" antworten würden. Suchen wir in gebotener Kürze darzutun, wie Jeremias den Römerbrief ausgelegt hat, so ist von dieser Frage nach der Mitte paulinischer Theologie auszugehen.

I. In einer kleinen, aber überaus bedenkenswerten Schrift hat Jeremias ausgeführt, wo nach seinem Urteil der Schlüssel zur Theologie des Apostels zu finden sei.4 Paulus ist in hellenistischer Umgebung aufgewachsen. Nicht nur die Ortsangabe der Stadt Tarsus, sondern in unübersehbarer Weise auch die Gedankenführung in den paulinischen Briefen deutet darauf hin, daß Paulus sich vertraut zeigt mit der stoischen Philosophie und Sprache und Stil der kynisch-stoischen Diatribe verwendet. Doch was sich an hellenistischem Gut bei Paulus findet, gehe - so führt Jeremias aus - auf den Assimilationsprozeß zurück, den das Diasporajudentum damals durchgemacht habe, das heißt: „Es ist ihm durch das hellenistische Judentum vermittelt." Dennoch sei die Geisteswelt von Tarsus „keinesfalls der Schlüssel zur paulinischen Theologie".5 Vom hellenistischen Judentum wendet sich der Blick nach Jerusalem, der heiligen Stadt der weit zerstreuten Judenschaft. Im Brief an die Philipper sagt Paulus, er sei Hebräer, abstammend von Hebräern (3,5) eine Aussage, die wohl dahin verstanden werden darf, daß er mehrsprachig gewesen ist und neben dem Gebrauch des Alten Testaments in der griechischen Übersetzung der Septuaginta wiederholt auch Kennntnis des Urtextes erkennen läßt.6 Aus der Diaspora war der Jude Paulus zum Studium nach Jerusalem gegangen und hatte er sich den Pharisäern angeschlossen. Hier erlernte er „die exegetische Metho-

4 5 6

Der Schlüssel zur Theologie des Apostels Paulus (CwH 115), Stuttgart 1971. Ebd., 11. Ebd., 12.

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dik der damaligen jüdischen Theologie", die er später souverän zu beherrschen wußte.7 Diese Kenntnisse und Fähigkeiten zeigen sich des öfteren in der im Römerbrief entfalteten Argumentation, die sich auf Sätze der heiligen Schriften bezieht. Den Schluß vom Geringen auf das Größere verwendet Paulus z.B. in dem Satz: „Aber nicht wie die Übertretung, so auch die Gnadengabe. Denn wenn infolge der Übertretung des Einen (sc. Adams) die Vielen gestorben sind, so ist um so mehr die Gnade Gottes und das gnädige Geschenk des einen Menschen Jesus Christus zu den Vielen gekommen" (Rom 5,15)8 Der diesem Satz vorangehende Gedankengang von Rom 5,6-10 wird „erst verständlich, wenn man sich klar macht, daß Paulus an diesen Stellen nicht vom Geringen auf das Größere, sondern umgekehrt folgert: ... Gott hat uns, sagt Paulus hier, eine schlechthin unbegreifliche Liebe geschenkt: Christus gab für uns sein Leben hin, obwohl wir Gottlose und Sünder waren. Ist es da nicht eine blanke Selbstverständlichkeit, daß wir als Gerechtfertigte, als mit Gott Versöhnte von ihm im letzten Gericht gerettet werden?" 9 Erweist sich an diesen und anderen Stellen, daß Paulus mit den Grundsätzen der Schriftinterpretation, wie sie der berühmte Schriftgelehrte Hillel in den von ihm formulierten sieben Auslegungsnormen zusammenfaßte, auf das beste vertraut war, so ist daran unschwer zu erkennen, daß Paulus in jüdischer Frömmigkeit und jüdischer Theologie tief verwurzelt war.10 Gleichwohl bietet auch Jerusalem nicht den Schlüssel für die paulinische Theologie. „Schließlich war Paulus ja doch Christ!"11 Auf urchristliche Überlieferung, wie sie sich schon in allererster Zeit im frühesten Christentum, insbesondere in Antiochia, herausgebildet hatte, hat sich der Apostel in seinen Briefen wiederholt bezogen. Dennoch gilt die lapidare Feststellung: „Weder Tarsus noch Jerusalem noch Antiochia bieten uns den Schlüssel, den wir suchen." 12 Vielmehr gibt es „nur einen Schlüssel zur paulinischen Theologie. Er heißt Damaskus." 13 Hatte der Jude Paulus zunächst die Gemeinde der Christen verfolgt, so widerfuhr ihm dann plötzlich die für sein ganzes Leben entscheidende Wende „in der Schau des Lichtglanzes des Herrn". 14 Seit 7 8 9 10 11 12 13 14

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.

14. 16. Vgl. weiter Rom 5,17; 11,12 u.ö. 17. 19. 20.

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dieser Stunde versteht Paulus sich als „Sklave Jesu, des Heilands" (Rom 1,1).15 „Neue Realitäten schaffen neue Sprache ... ,Charis' wird zu einem Zentralbegriff der Theologie des Apostels."16 Das bedeutet: „Nicht auf menschliches Wollen und menschliche Anstrengungen kommt es zuletzt an, sondern allein auf Gottes Erbarmen."17 In der Stunde seiner Berufung durch den Kyrios wurde Paulus „zum Sendboten bevollmächtigt".18 Sucht man die Ergebnisse dieser grundlegenden Studie in ihrer Bedeutung für die Auslegung des Römerbriefes zusammenzufassen, so treten - neben anderen - vor allem drei leitende Gesichtspunkte hervor, die nach wie vor für die Interpretation der paulinischen Theologie von erheblicher Bedeutung sind: 1. Der religionsgeschichtliche Hintergrund des paulinischen Denkens ist im zeitgenössischen Judentum zu finden, wobei besondere Aufmerksamkeit auf dessen hellenistische Ausprägung zu richten ist. Allerdings dürfen die Unterschiede zwischen Diaspora und Mutterland nicht zu scharf gezogen werden. Sind doch auf der einen Seite auch Palästina und Jerusalem vom weit ausgreifenden Prozeß der Hellenisierung erfaßt worden. Auf der anderen Seite aber fanden Gedanken und Vorstellungen des palästinischen Judentums - wie sie insbesondere durch die Texte von Qumran bekannt geworden sind - rasch auch in Kreise des hellenistischen Judentums Eingang. 2. Indem der feste Zusammenhang zwischen der Berufung und Bestellung des Paulus zum Apostel und dem zentralen Inhalt seiner Verkündigung betont hervorgehoben wird, wird der Zuspruch der in Christus erwiesenen Barmherzigkeit Gottes als Mitte der paulinischen Theologie bestimmt, zu der der öffnende Schlüssel den Zugang auftut. Die Lehre von der Rechtfertigung stellt mithin den zentralen Inhalt dar, der in den Briefen des Apostels entfaltet und auf unterschiedliche Gegebenheiten in den einzelnen Gemeinden angewendet wird. Und 3. Wird mithilfe des Schlüssels zur Theologie des Apostels Paulus dessen zentrale Mitte bestimmt, dann kann nicht mehr die Rede davon sein, in der Abfolge der Briefe lasse sich eine sog. Entwicklung seiner Gedanken beobachten, in deren Folge sich erst allmählich die Predigt von der Rechtfertigung des Gottlosen herausgebildet habe. Vielmehr stellen Denken und Verkündigung des Paulus vom frühesten seiner uns überkommenen Briefe - dem IThessalonicherbrief - bis zum

15 16 17 18

Ebd. Ebd., 22. Ebd., 23. Ebd., 26.

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letzten Schreiben - wahrscheinlich dem Römerbrief - eine übergreifende gedankliche Einheit dar.

II. In mehreren Vorträgen und Aufsätzen hat Jeremias einzelne Abschnitte des Römerbriefes genauer analysiert. Aus der Reihe dieser Studien sei zuerst diejenige genannt, die die Gedankenführung im Abschnitt Rom 1,22-32 beleuchtet.19 Zunächst wird auf das leitende Strukturprinzip hingewiesen, das dreimal die von Gott verfügte „adäquate Vergeltung" hervorhebt.20 Gottes Zorngericht ergeht über die Völker bzw. die Heiden, die die Erkenntnis und den Willen Gottes leichtfertig übergingen, und trifft sie eben da, wo sie sich verfehlt haben. „Darum hat Gott sie dahingegeben in den Begierden ihrer Herzen an Unreinheit, daß ihre Leiber geschändet würden durch sie selbst. Haben sie doch die Wahrheit Gottes verkehrt in den Trug und Verehrung und Dienst erwiesen der Schöpfung statt des Schöpfers" (l,24f.). Sodann führt Jeremias aus, daß - was in der vorangehenden Forschung noch nicht wahrgenommen worden war - dieser „Gedanke der adäquaten Vergeltung Gottes auch dem palästinischen Judentum bekannt war". 21 Ein Vergleich mit Sätzen aus den Zwölfertestamenten (Test. Naphth. 3,2-3) macht deutlich, daß Paulus bis in die Einzelheiten der Wortwahl einem vorgegebenen Topos folgt. Dann aber legt sich die Folgerung nahe, daß sich in Rom 1,18-3,20 „Diskussionen in den Synagogen widerspiegeln, ebenso weithin in den folgenden Kapiteln bis Kap. 11, die von analogen Einwänden durchzogen sind". 22 Diese straff durchgeführte Studie darf als charakteristisch gelten für Jeremias' Arbeitsweise. Kein unnötiges Wort wird verloren. In kurzen Gedankenschritten, die in logischer Folge aneinander anschließen, werden auf wenigen Seiten neue Einsichten formuliert. Dabei wird besondere Sorgfalt auf Beobachtungen zum Detail gerichtet und mithilfe der zusammengetragenen Argumente zu Form und Inhalt des erörterten Gedankengangs neues Licht auf dessen Bedeutung geworfen. Exegetische Beobachtungen zu scheinbar geringen Einzelheiten lassen immer wieder die Fähigkeit erkennen, durch Zusammensetzen kleiner Steine das Gefüge des ganzen Baus verständlich zu machen. Beispielhaft sei hierzu die Studie „Zur Gedankenführung in den pauli19 20 21 22

Zu Römer 1,22-32, ZNW 45 (1954) 119-121 = Abba (s. Anm. 2), 290-292. Vgl. E. Klostermann, Die adäquate Vergeltung in Rm 1,22-31, ZNW 32 (1933) 1-6. Vgl. Abba (s. Anm. 2), 291. Ebd., 292.

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nischen Briefen" genannt.23 Darin wird beschrieben, wie der Apostel seine Argumentation des öfteren in lebendig geführter dialogischer Auseinandersetzung entfaltet. Er unterbricht seine Rede durch Einwände und reagiert mit knappen Antworten, die dann jeweils genauere Begründung erfahren. Mit dieser Einsicht ist ein wichtiges Hilfsmittel zum Verständnis der Gedankenführimg im Römerbrief treffend bezeichnet. Betrachtet man unter diesem Vorzeichen die Ausführungen des Apostels über die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, so zeigt sich: „Kaum hat Paulus 3,21 begonnen, die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit, die für Juden wie Heiden der einzige Weg zum Heil ist (3,29f.) zu entfalten, so erhebt sich sofort wieder ein Einwand ...: damit hebst du das Gesetz auf (3,31a)! Alles, was jetzt folgt, 3,31b-4,25, dient dem Versuch, diesen schwerwiegenden und ständig wiederholten (vgl. Apg 21,21) Einwand durch Schriftbeweis zu widerlegen."24 Aus dieser Beobachtung aber ergibt sich die Konsequenz: „Der Gedankengang des Römerbriefes dürfte sich erst voll erschließen, wenn man beachtet, in wie starkem Maße er Gesprächscharakter trägt."25 Hinsichtlich der nun folgenden Schriftbegründung in Rom 4,1-12 wird dargelegt, daß der Apostel - wie bereits erwähnt - offensichtlich die von Hillel formulierten Auslegungsnormen kannte und auch seinerseits verwendete. Eine dieser Regeln besagt, „daß identische (oder gleichbedeutende) Wörter, die an zwei verschiedenen Schriftstellen vorkommen, sich gegenseitig erläutern".26 So weist Paulus darauf hin, „daß Abraham die Gerechtigkeit gnadenweise und nicht auf Grund eines Anspruchs zugerechnet worden sei".27 Eben dieses Wort „Zurechnen" findet sich dann auch in dem folgenden zweiten Schriftzitat aus Ps 32,lf.: „Selig der Mann, dem der Herr Sünde nicht zurechnet." Da an der einen wie der anderen Stelle von Gottes gnädigem „Zurechnen" die Rede ist, legen sie sich gegenseitig aus. Der Apostel kann sich daher auf das Zeugnis der Schrift berufen, wie es sowohl in der Thora wie auch in den Psalmen (und auch in den prophetischen Schriften) verbürgt ist. Scharfsinnige Genauigkeit leitet auch die Abhandlung über „Chiasmus in den Paulusbriefen".28 Darin wendet Jeremias sich gegen die verbreitete Ansicht, Chiasmus sei im Neuen Testament selten, und 23 24 25 26 27 28

Zunächst erschienen in: Studia Paulina in honorem Johannis de Zwaan, Haarlem 1953,146-154; wiederabgedruckt in: Abba (s. Anm. 2), 269-276. Ebd., 270. Ebd., 271. Ebd. Ebd., 272. ZNW 49 (1958) 145-156; wieder abgedruckt in: Abba (s. Anm. 2), 276-290.

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überrascht den Leser mit einer Fülle von Beispielen, in denen sich eindeutig zeigt, daß Paulus immer wieder „einzelne Worte, Satzteile oder ganze Sätze nach dem Schema A b/b a anordnet". 2 9 Etliche dieser Beispiele finden sich im Römerbrief - Sätze, deren Struktur und Aussage um so deutlicher hervortreten, je klarer der chiastische Aufbau erkannt und für die Exegese berücksichtigt wird. Einige Zitate aus dem Römerbrief seien zum Beleg angeführt. So heißt es Rom 9,2: „Meine Trauer (a) ist groß (b), unablässiger (b) Schmerz (a) in meinem Herzen". 3 0 In R o m 6,3 ist zu lesen: „Die wir getauft sind (a) auf Christus Jesus (b), sind in seinen Tod (b) getauft worden."31 Auch die These, die das Thema des ganzen Briefes angibt, ist in chiastischer Wortfolge formuliert: „Gottes Gerechtigkeit (a) ist in ihm (sc. dem Evangelium von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes) offenbart (b) ...; denn offenbart (b) ist der Zorn Gottes (a)." Wiederholt findet sich bei Paulus die Kombination von Chiasmus und Satzfolge mit Chiasmus der Wortstellung, so R o m 10,9f.: „Wenn du mit deinem Mund (a) bekennst: Herr ist Jesus, und in deinem Herzen (b) glaubst, daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden. Denn mit dem Herzen (b) glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund (a) aber bekennt man zur Rettung." Ein letztes Beispiel aus der Fülle der beigebrachten Belege sei noch genannt mit R o m 11,22: „Sieh nun auf Güte (a) und Strenge Gottes (b): gegen die Gefallenen Strenge (b), über dich aber Güte Gottes (a)." Die zahlreichen Belege, die zusammengetragen werden, fügen sich zu einem geschlossenen Bild zusammen und zeigen, daß Paulus „teils u m des gefälligeren Klanges oder der Betonung willen", gelegentlich aber „auch aus inhaltlichen Gründen" sich chiastischen Aufbaus seiner Sätze bedient. 3 2 Die Gedankenführung des Paulus dürfte sich daher „erst erschließen, wenn m a n erkennt, daß die Ausführungen des Apostels ständig durch Einwände unterbrochen werden, die aus der Missionserfahrung kommen". 3 3 Im ökumenischen Arbeitskreis, den der Abt des Klosters St. Paul vor den Mauern in R o m eingeladen hatte, in regelmäßigen Abständen am Grab des Apostels zusammenzukommen und sich u m ein gemeinsames Verständnis der Botschaft des Paulus zu bemühen, war Jeremias von Anfang an ein aktives Mitglied und hat bis zuletzt dieser schönen 29 30 31 32 33

Abba (s. Anm. 2), 276. Ebd., 277. Ebd., 279. Ebd., 276. Ebd., 287.

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Aufgabe die Treue gehalten. In der gemeinsamen exegetischen Arbeit, deren Erträge vom Kloster als Berichtsbände über das Colloquium Paulinum veröffentlicht wurden, nahm der Römerbrief einen besonderen Platz ein. Bereits im ersten Band findet sich eine gewichtige Betrachtung, die Jeremias vorgetragen hatte: „Die Gedankenführung in Rom 4 - zum paulinischen Glaubensverständnis".34 Indem er an Einsichten anknüpft, die er über die Gedankenführung in Rom 3,21-4,25 bereits vorgelegt hatte35, legt Jeremias nun den Nachdruck auf die inhaltlichen Aussagen. Denn „nirgendwo hat Paulus so präzise gesagt, was er unter ,glauben' verstand wie in Rom 4".36 Dem Vorwurf, er sei vom Glauben der Väter abgefallen und löse das Gesetz auf, begegnet der Apostel mit der Gegenthese: „Das sola fide ist nicht Aufhebung, sondern Aufrichtung der Tora."37 Zur Begründung bietet Paulus seine Interpretation der Schrift auf, indem er Gen 15,6 und Ps 32,lf. aufeinander bezieht und einem Verständnis, nach dem „Gott nur den Frommen rechtfertigt", die These entgegenstellt: „Vor Gott sind alle gottlos und auf Gnade angewiesen."38 Rechtfertigung ist daher „Vergebung, nichts als Vergebung".39 Auf diesen Zuspruch setzte Abraham sein Vertrauen, obwohl er „nur das verheissende Wort" hatte, „nichts sonst". „Er klammert sich an das Wort. Er glaubt, ohne sich beirren zu lassen." Dieser „glaubende Abraham ist nicht nur eine Gestalt der Geschichte, sondern zugleich Urbild des Christen".40 Was Paulus Rom 4 über den Glauben sagt, wird am Ende dahin zusammengefaßt: „Glaube, wie Abraham ihn der Christenheit vorgelebt hat, ist angefochtener Glaube, der das Dennoch wagt, weil er dem vertraut, der aus dem Tod Leben schafft."41 Nicht nur die ersten acht Kapitel des Römerbriefs wurden in den Sitzungen der Colloquia Paulina eingehend bedacht, sondern mit geschärfter Aufmerksamkeit auch die so gewichtigen Kapitel 9-11. Darüber gibt der Band „Die Israelfrage nach Rom 9-11" umsichtig dokumentierten Bericht.42 Seine Auslegung der abschließenden Perikope, die er zum gemeinsamen Vorhaben beigesteuert hat, hat Jeremias in der ihm eigenen Bescheidenheit überschrieben als „Einige vorwiegend sprachliche Beobachtungen zu Rom ll,25-36".43 Wieder wird ausge34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. Foi et Salut selon S. Paul (Epitre aux Romains 1,16) (AnBib 42), Rom 1970, 51-58. S.o. zu S. 151f. Ebd., 51. Ebd., 52. Ebd., 53. Ebd., 54. Ebd., 57. Ebd., 58. Vgl. L. de Lorenzi (Hg.), Die Israelfrage nach Rom 9-11 (SMBen.BE 3), Rom 1977. Ebd., 193-205.

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gangen von der Erörterung grammatischer Probleme und der den Sätzen gegebenen Struktur, um die feste Überzeugung des Paulus aufzuzeigen: „Israel wird zum Glauben kommen, Israel wird heimfinden." 44 Der Apostel begründet diese seine Sicht der Frage nach dem künftigen Geschick Israels mithilfe eines Schlusses vom Größeren auf das Geringere: „Das Größere hat Gott schon getan (er hat die Heiden herbeigeführt), wieviel mehr wird er Israel in den Normalzustand zurückführen." 45 Dann aber setzt Paulus eine zweite Erläuterung hinzu: „Gott hat über Israel eine teilweise Verstockung verhängt, bis es so weit ist, daß die Fülle der Heiden eingegangen sein wird." 46 Dabei liegt dieser Aussage offensichtlich die Vorstellung vom eschatologischen Maß Gottes zugrunde, „das erfüllt sein muß, damit das Ende kommen kann". 47 „Immer ist mit dem eschatologischen Maß zweierlei gesagt: 1) Gott setzt das Maß, und 2) sein Vollwerden bedeutet das Eintreffen der Weltenwende." 48 Für Paulus steht daher fest, „daß der Einzug der Repräsentanten der Völker der Beginn der Weltvollendung ist. Genauer: daß wir es an unserer Stelle mit der Vorstellung von der eschatologischen Völkerwallfahrt zur Anbetung im Weltheiligtum auf dem Zion zu tun haben, die in der prophetischen Verkündigung ihren festen Platz ... hat." 49 Der dreiteilige Gottesspruch, den Paulus anführt, ist daher „folgendermaßen zu übersetzen: Teilweise Verstockung hat Gott Israel auferlegt, bis das Vollmaß der Heiden eingegangen sein wird, und solcherart wird ganz Israel gerettet werden." 50 Die Verstockung Israels ist zeitlich begrenzt, aber „durch ihr Vergehen kam das Heil zu den Völkern (das ist gemein-urchristliche Überzeugung!), weil Gott sie (Israel) eifersüchtig machen wollte (das ist das Neue!)".51 Aller Nachdruck wird auf die schlechthin tragende Begründung gelegt: „Die Zuverlässigkeit Gottes ist der archimedische Punkt christlicher Heilsgewißheit." 52 Darum wird Gottes grenzenloses Erbarmen, das ebenso wie Israel auch den Völkern gilt, am Ende durch die 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

193. 196. 196f. 197f. 199. 201. 202.

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Doxologie gepriesen, die alles Ringen und Fragen zur Ruhe kommen läßt, indem Gott allein die Ehre erwiesen wird.53

III. In die Reihe der gewichtigen Beiträge, die Jeremias zum Verständnis des Römerbriefes vorgelegt hat, ist zum Schluß noch ein Abschnitt in seiner gelehrten Untersuchung der „Abendmahlsworte Jesu" einzufügen. Auf nur drei Seiten, die mit gewichtigen Argumenten bis zum Rand gefüllt sind, wird ausgeführt, welch zentrale Bedeutung für Denken und Reden des Apostels der ihm vorgegebenen Botschaft des Evangeliums zukommt. Mit treffsicheren Beobachtungen wird dargetan, daß am Anfang von 1 Kor 15 die grundlegende Botschaft des Evangeliums zitiert wird, die Paulus überkommen ist und von ihm an seine Gemeinden weitergegeben wurde.54 In diesen Sätzen, die von Kreuz und Auferstehung des Christus handeln, liegt unverkennbar nichtpaulinischer Sprachgebrauch vor. Daraus läßt sich folgern, daß die Formulierung dieser allen Christen gemeinsamen Aussage des Bekenntnisses Paulus vorgegeben war (1 Kor 15,3b-5). Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann darüber hinaus gezeigt werden, daß das Kerygma Übersetzung eines semitischen Urtextes ist.55 Dabei steht dahin, ob dieser ursprünglich in aramäischer oder in hebräischer Sprache abgefaßt war. Es läßt sich jedoch vermuten, daß „das Kerygma ... aus der aramäisch redenden ältesten Gemeinde stammt". 56 Wie Paulus 1 Kor 15 von der bestimmenden Aussage aller christlichen Verkündigung ausgeht, um die strittige Frage nach der Auferstehung der Toten schlüssig zu beantworten, so bezieht er sich mit nicht weniger gewichtigen Worten im Eingang des Römerbriefes auf die ihm aufgetragene Botschaft des Evangeliums. Dessen Inhalt wird wiederum mit einer überkommenen Formulierung angegeben, die den Nachdruck auf Christi Niedrigkeit und seine von Gott gewirkte Erhöhung legt, also einen anderen Wortlaut bietet als 1 Kor 15,3b-5. Gemeinsam ist jedoch beiden Stellen, daß der Begriff des Evangeliums - gemeinchristlichem Verständnis folgend - streng auf das Christusgeschehen bezogen wird, das als Erfüllung aller Verheißungen der heiligen Schriften zu begreifen ist. Diese ihm vorgegebene und ihm aufgetragene frohe 53 54 55 56

Ebd., 203-205. Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 4 1967, 95-97. Ebd., 96. Ebd., 97.

Joachim Jeremias als Ausleger des Römerbriefes

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Kunde hat Paulus, der zum Apostel Christi Jesu bestellt wurde, allerorten zu verkündigen. Den Vollzug dieser seiner Verkündigung begreift Paulus daher in aller Bestimmtheit als Entfaltung der einen guten Nachricht und legt deren Bezeugung den Christen in Rom in seinem ausführlichen Schreiben dar. Im Jahr 1963 hat Jeremias an verschiedenen angelsächsischen Theologischen Fakultäten einen Zyklus von vier Vorlesungen vorgetragen unter der leitenden Überschrift „The Central Message of the New Testament". 57 In diesen vier Kapiteln bietet Jeremias nicht weniger als eine knappe und höchst konzentrierte Fassung seines Verständnisses von der Theologie des Neuen Testaments. Der dritte Abschnitt dieser Ausführungen handelt von der paulinischen Theologie und ist überschrieben „Justification by Faith". Dieses Kapitel sei - gleichsam als zusammenfassende Darstellung zur Theologie des Apostels - abschließend kurz gewürdigt. Der für Paulus so wichtige Begriff der Gerechtigkeit Gottes - so heißt es - müsse wiedergegeben werden als „God's Salvation" und das zugehörige Verb durch „to find God's grace".58 Mit Luthers Übersetzung wird Rom 3,28 wiedergegeben durch: „We conclude that a man is justified by faith only." 59 Das bedeutet: „Sola fide! Faith is the only way to find God's grace." 60 Die zentrale Bedeutung, die der Lehre von der Rechtfertigung in den paulinischen Briefen zukommt, beschreibt Jeremias mit den einprägsamen Sätzen: „Justification ... is the beginning of a new life, a new existence, a new creation through the gift of the Holy Spirit. As Luther put it: ,Where remission of sin is, there is life and salvation'." 61 Aus diesen Einsichten wird am Ende die Folgerung gezogen, daß Paulus wie kein anderer die Botschaft Jesu verstanden und in seine Terminologie übersetzt hat. Nicht an der Zahl ausdrücklich kenntlich gemachter Zitate von Herrenworten, sondern an der Wiedergabe der zentralen Aussagen der Verkündigung Jesu durch die von ihm geprägte theologische Begrifflichkeit ist zu erkennen, daß Paulus die Predigt Jesu durch seine Theologie der Rechtfertigung zutreffend wiedergegeben hat.62 Denn die Lehre von der Rechtfertigung ist nichts anderes als die allein sachgerechte Wiedergabe der Verkündigung Jesu von Gottes Erbarmen mit den Sündern63, so daß mit vollem Recht Paulus als „faithful interpreter of Jesus" bezeichnet werden darf.64 57 58 59 60 61 62 63 64

J. Jeremias, The Central Message of the New Testament, London 1965. Ebd., 55. Ebd. Ebd., 56. Ebd., 64. Ebd., 69. Ebd., 69. Ebd., 70.

12.

Heinrich Schliers Kommentare zu den Paulinischen Briefen In seinem gelehrten Lebenswerk, das er in seinem langen akademischen Wirken zu einer eindrucksvollen Rundung hat bringen können, hat sich Heinrich Schlier mit ungewöhnlicher Intensität mit der Theologie des Apostels Paulus sowie deren Auswirkung in die frühe Christenheit hinein und ihrer Bedeutung für die heutige theologische Urteilsbildung auseinandergesetzt. Zwar verdanken wir ihm mancherlei wertvolle Studien, die den Evangelien und den übrigen Schriften des Neuen Testaments gewidmet sind. Doch das Schwergewicht seiner exegetischen Studien und systematischen Betrachtungen liegt auf der paulinischen Theologie, die er in immer neuen Anläufen auf das gründlichste bedacht und in drei umfangreichen wissenschaftlichen Kommentaren zum Galater-, Epheser- und Römerbrief ausgelegt hat. Die vornehme Gesinnung, in der Schlier seine wissenschaftliche Forschung betrieben hat, läßt seine sprachlich geschliffenen Ausführungen frei sein von jeder Polemik, die sich gegen andere Meinungen richten oder diese beiseite tun würde. Zwar wird stets deutlich, wie Schlier in voller Kenntnis der breiten exegetischen Diskussion seinerseits Position bezieht und sich dadurch von anderen Ansichten - vielfach nicht unerheblich - unterscheidet. Doch werden die Arbeiten anderer in aller Regel herangezogen, um von anregenden Gesichtspunkten, die sich in ihnen finden, zu lernen und im Gespräch mit der fortgehenden Forschung das eigene Urteil umsichtig zu begründen und zu vertiefen. Die Lektüre von Schliers exegetischen Arbeiten schenkt daher dem Leser nicht nur eine Fülle wertvoller Belehrungen, sondern bereitet ihm auch einen nicht geringen ästhetischen Genuß. Nicht anders als in hohem Respekt vor der herausragenden wissenschaftlichen Leistung, die Schliers Paulusinterpretation darstellt, kann daher der Versuch unternommen werden, seine Kommentare zu den Paulinischen Briefen zu würdigen.1 1

Zur Würdigung von Schliers Lebenswerk vgl. grundsätzlich R. von Bendemann, Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie

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I. Der hermeneutische Ansatz Ehe wir uns dem ersten seiner Kommentare, der Erklärung des Galaterbriefes zuwenden, sei aufgezeigt, von welchem hermeneutischen Ansatz her Schlier die paulinische Theologie aufzuschließen sucht. Durch seine religionsgeschichtlichen Untersuchungen zu den Briefen des Ignatius von Antiochia2 - seine bei Rudolf Bultmann angefertigte Marburger Dissertation - war Schlier auf das beste gerüstet, die Welt der frühen Gnosis genau zu studieren und vor ihrem Hintergrund neutestamentliche Texte zu interpretieren. In seiner - vorbildlich knapp gehaltenen - Habilitationsschrift über „Christus und die Kirche im Epheserbrief"3 stellte er sich die Aufgabe, die mythologische Sprache des Epheserbriefes zu untersuchen, um diesen aus dem Denken und Reden seiner Zeit zu verstehen. Der Verfasser des Epheserbriefes hat das arbeitet Schlier an einzelnen zentralen Themen dieser Schrift heraus - sich dieser Sprache bedient, um seine Botschaft den Menschen seiner Zeit nahezubringen. Wie schon der Titel seiner Untersuchung anzeigt, weist Schlier auf, daß Christus und die Kirche im Epheserbrief in ganz anderer Weise verbunden und aufeinander bezogen sind wie in dem paulinischen Mythus. „In der Beschreibung der Heilstätigkeit Christi tritt die Kirche in eigentümlicher Weise immer mit auf." 4 Christus erlöst die Gläubigen, indem er als der auffahrende Herr die Seinen mit sich führt und zum vollkommenen Menschen macht, der er selbst ist.5 Während das Bild des Leibes und seiner vielen Glieder bei Paulus dazu dient, die Einheit der Christgläubigen in einem Geist bei aller Vielfalt der Charismen aufzuzeigen,6 ist im Epheserbrief Christus der Anthropos, dessen Leib die Gläubigen sind, dessen Haupt er selbst ist.7 Wer zur Kirche gehört, gehört damit ohne weiteres zu Christus, ist in Christus, im Leib des Christus, der in den Himmeln wohnt.8 Gnostische Vorstellungen werden damit in einer Weise aufgenommen, daß sie nun der Aufgabe dienstbar gemacht werden, die untrennbare Zusammengehörigkeit von Christus und Kirche aufzuzeigen. Der

2 3 4 5 6 7 8

(BEvTh 115), Gütersloh 1995; sowie H. Hübner, Der katholische und evangelische Heinrich Schlier. Zu R. von Bendemanns Schlier-Monographie, KuD 46 (2000) 2 6 5 301. H. Schlier, Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu den Ignatiusbriefen (BZNW 8), Gießen 1928. H. Schlier, Christus und die Kirche im Epheserbrief (BHTh 6), Tübingen 1930. Ebd., 2. Ebd., 32. Ebd., 41. Ebd., 45. Ebd., 54.

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zum Himmel auffahrende Herr überwindet die feindlichen kosmischen Mächte und durchbricht die Grenzmauer, die die Welt von dem göttlichen Reich trennte. Als Haupt des Leibes bringt er seine Glieder empor, schafft er den neuen Menschen und baut seinen Leib auf zum himmlischen Bau seiner Kirche. „Das ist" - so faßt Schlier das Ergebnis seiner Studie am Ende zusammen - „der Vorstellungskreis, aus dem heraus der Verfasser des Epheserbriefs über Christus und die Kirche spricht. Dieser Vorstellungskreis ist identisch mit dem mythologischen Gedankengut, das bestimmte gnostische Kreise zur Darstellung ihrer Spekulationen verwenden. ... In Hinsicht auf die Vorstellungen und die Sprache ist der Epheserbrief also ein Erzeugnis der hellenistischorientalischen (syrischen) Umwelt."9 Es braucht hier nicht erörtert zu werden, wieweit diese religionsgeschichtliche Bestimmung als zutreffend gelten kann oder aber modifiziert werden müßte. Denn ohne Zweifel ist die enge Zusammengehörigkeit von Christus und Kirche - wie sie im Epheserbrief dargetan wird - zutreffend beschrieben worden. Im Blick auf Schliers Paulusverständnis aber ist festzuhalten, daß diese Zusammengehörigkeit von Christus und Kirche für ihn die immer wieder hervortretende Mitte paulinischen Denkens darstellt. Denn ob der Epheserbrief als deuterooder aber protopaulinisch einzuordnen ist - im Lauf der Jahre hat Schlier diese Frage unterschiedlich beurteilt -, das Thema der Ekklesiologie nimmt in jedem Fall auf, was den Apostel in seinen Gemeindebriefen immer wieder beschäftigt. In zwei inhaltsschweren Vorlesungen, die er 1949 und 1951 in der Zeitschrift „Evangelische Theologie" veröffentlicht hat, sucht Schlier herauszuarbeiten, im lKorintherbrief sei die „Erbauung der Kirche" als leitende Thematik anzusehen.10 Setzt sich der Apostel dabei mit Enthusiasten auseinander, die sich in Korinth als Schwarmgeister laut zu Wort gemeldet haben, so läßt der Interpret durchblicken, jene Auseinandersetzung sei gerade für die kirchliche und theologische Situation der evangelischen Kirche von besonderer Aktualität. Denn in ihr sei ein Teil des Mißverständnisses der korinthischen Enthusiasten weit verbreitet und als das rechte Verständnis von Kirche im Prinzip verteidigt.11 Indem man Kirche als enthusiastische Kirche theologisch zu rechtfertigen suche, setze man sich über die vom Apostel ausdrücklich

9 10

11

Ebd., 75. H. Schlier, Über das Hauptanliegen des 1. Briefes an die Korinther, EvTh 8 (1948/49) 462-473 (wiederveröffentlicht in: ders., Die Zeit der Kirche, Freiburg 5 1972,147-159); ders., Kerygma und Sophia. Zur neutestamentlichen Grundlegung des Dogmas, EvTh 10 (1950/51) 481-507 (wiederveröffentlicht in Die Zeit der Kirche, 206-232). EvTh 6 (1948/49) 462^73, hier 463.

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begründeten Prinzipien der kirchlichen Ordnung hinweg.12 Deshalb sei vor allem anderen zu bedenken, daß das prinzipielle Mißverständnis des Evangeliums als Sophia der eigentliche Grund des drohenden Schismas der Kirche in Korinth gewesen sei.13 Wie setzt nun demgegenüber der Apostel zur Korrektur eines enthusiastischen Kirchenverständnisses an? Schlier antwortet: Indem er das Kerygma als die Proklamation des geschehenen und fortwirkenden Ereignisses des Todes und der Auferstehung Christi Jesu herausstellt.14 Dieses Kerygma wird mit apostolischer Autorität ausgerichtet und zielt auf glaubende Annahme. Glaube aber - so unterstreicht Schlier mit Bultmann - ist Gehorsam, doch dann geht er über Bultmann weit hinaus, indem er formuliert: „Der Glaube aber ist die Unterwerfung unter die Verfügung der in der Auferweckung Christi Jesu von den Toten neuen Begründung des Daseins, eine Verfügung, die im Kerygma ergeht." 15 Dieses Kerygma aber findet seine jeweilige präzise Entfaltung im Dogma, in dem sich die Wahrheit wieder dem Erkennen überliefert.16 Glaubende Annahme vollzieht sich daher durch „die gehorsame Annahme der im Kerygma bzw. im Dogma an die Hand gegebenen ,Weisheit' Gottes in Christus Jesus an Stelle eigenen Erkennens."17 Das Ergebnis seiner Analyse der Konfrontation von Kerygma bzw. Dogma und Sophia kann Schlier dann in deutlicher Aufnahme einer Begrifflichkeit, wie sie in der Philosophie Martin Heideggers ausgeprägt ist, so zusammenfassen: „Nach dem Apostel Paulus gehört die Erkenntnis Gottes und damit die Erkenntnis überhaupt zum ursprünglichen Wesen des Menschen. Das Geschöpf, dessen verstehender Blick auf dem Seienden ruht, erblickt von ihm gewiesen den Schöpfer und in seinem Licht die Welt und sich selbst als Schöpfung. Der Mensch hat also seinem ursprünglichen Wesen nach erkennenden Zugang zum unverborgenen Sein des Seienden, zum Seienden in seinem Sein und zum Grund des Seienden und des Seins, zur Wahrheit. Erkenntnis der Wahrheit gehört also zum ursprünglichen Wesen des Menschen. In diesem Wesen", - so fährt Schlier fort - „das, kann man auch sagen, Anwesen im Ansehen Gottes ist, kommt der Mensch aber nicht vor. Vielmehr existiert er immer schon in einer Gott abgeneigten und sich selbst und seiner Welt zugeneigten Weise, in einem Dasein, das sich Gott nicht verdanken und nicht in seinem, sondern im Ansehen des Eigenen leben will. Daher versteht er den Grund und das Sein des 12 13 14 15 16 17

Ebd., EvTh Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

464. 10 (1950/51) 481-507, hier 497. 490. 494. 506. 506.

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Seienden von diesem her. Aber das ursprüngliche Sein des Seienden ist ja nicht aufgehoben, sondern nur in der Selbstbefangenheit des undankbaren Geschöpfes niedergehalten. So drängt sich eben dieses Sein, die unverborgene Wirklichkeit der Dinge, ständig zur Wahrnehmung und der Mensch bleibt ihm daher inmitten ständiger Vereitelung auf der Spur." 18 Demgegenüber aber deckt das Kerygma die neue Wirklichkeit auf, die in gehorsamer Antwort des Glaubens empfangen und in der Zugehörigkeit zur Kirche angeeignet und gelebt wird. „Nur dort", - so betont Schlier mit allem Nachdruck - „wo das Kerygma die neue Wirklichkeit im Wort offenbart, beginnt der Glaube und das Handeln und das Denken neu. Denn nur in seiner Proklamation ist die neue Wirklichkeit präsent. Nur im Kerygma tritt die Wahrheit wieder als Grundsatz zu Tage. Mit dem Kerygma taucht also eine bestimmte, neue geistige Größe in der Welt auf und wird zum Zeichen dieser neuen Weltsituation."19 Erinnert die starke Betonung des Kerygmas als der alles verwandelnden Botschaft an die Theologie seines Lehrers Rudolf Bultmann, so hebt sich Schlier von dieser deutlich ab, indem er den unlöslichen Zusammenhang von Dogma, Gehorsam und Kirche herausstellt. Diese Thematik bildet für ihn unverkennbar die Mitte der paulinischen Theologie, deren Aussagen er nun im einzelnen in seinen großen wissenschaftlichen Kommentaren nachspürt.

II. Der Kommentar zum Galaterbrief Schliers Kommentar zum Galaterbrief, den er in den schweren Jahren der Kriegszeit und der bitteren Enttäuschungen während des Kirchenkampfes unter großer äußerer und innerer Bedrängnis erarbeitet hat, erschien in der Reihe des Meyerschen Kommentars in erster Auflage 1949, dann in einer 3., noch einmal gründlich überarbeiteten Auflage 1962, und erreichte seine 5. Auflage 1971. Sein Werk widmete Schlier seinem Lehrer Rudolf Bultmann mit den Worten: „Der Kommentar ist dem Manne gewidmet, der meinen wissenschaftlichen Lebensweg seit dem ersten Referat in seinem Neutestamentlichen Seminar bis heute lehrend und klärend begleitet hat und dessen großes Wissen, unbestechliche Kritik und theologische Energie Ansporn und Hilfe für eine ganze Generation von Theologen ist. Möge er das Buch, wenn auch mit 18 19

Ebd., 504f. Ebd., 505.

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ein w e n i g Kopfschütteln, freundlich als Zeichen des Dankes annehmen." Dieses Zeichen bleibender V e r e h r u n g ist zugleich v o m Klang einer leisen W e h m u t begleitet, d a ß trotz intensiven G e d a n k e n a u s tausche, d e n sie d u r c h viele Jahre miteinander gepflegt hatten, die Wege a m Ende a u s e i n a n d e r g i n g e n . Doch bleibt in der Interpretation des Textes, wie Schlier sie v o r n i m m t , Seite f ü r Seite erkennbar, aus welcher ausgezeichneten Schule er k a m u n d wie er ihr d a n k b a r verpflichtet blieb. Die sogenannten Einleitungsfragen w e r d e n k u r z u n d treffend abgehandelt. Der Brief ist „aller Wahrscheinlichkeit nach an verschiedene, untereinander in V e r b i n d u n g stehende, d e n gleichen Einflüssen ausgesetzte C h r i s t e n g e m e i n d e n in der Landschaft Galatien geschrieben." 2 0 Die Gegner, gegen die der Apostel sich w e n d e n muß, sind judenchristlicher Richtung z u z u w e i s e n ; doch bestreiten sie zugleich mit m a s s i v e m Angriff die apostolische Autorität des Paulus. Dieser weist deren Kritik scharf z u r ü c k u n d faßt d a h e r seine A n t w o r t „wie meist,prinzipiell'." 2 1 Z u r - zugleich kritischen - W ü r d i g u n g dieses K o m m e n t a r s seien in gebotener Kürze drei Gesichtspunkte herausgehoben. Dabei k a n n es sich nicht u m eine vollständige W ü r d i g u n g der h e r v o r r a g e n d e n Leist u n g handeln, die diese Interpretation des Galaterbriefs darstellt. W o h l aber soll versucht w e r d e n , einige charakteristische Gesichtspunkte aufzuzeigen, die zugleich geeignet sein können, ein w e i t e r f ü h r e n d e s Gespräch a u f z u n e h m e n . Zunächst w i r d (1) deutlich, d a ß auch in der Interpretation des Galaterbriefes f ü r Schlier d e r Frage nach d e m Verständnis der Ekklesiologie besondere B e d e u t u n g z u k o m m t . Hierzu ist vornehmlich auf die Ausleg u n g des 2. Kap. h i n z u w e i s e n . W a r u m zog Paulus nach Jerusalem hinauf, u m d e n dortigen Autoritäten das v o n ihm verkündigte Evangelium vorzulegen? I n d e m er die Linien der paulinischen A r g u m e n t a t i o n verstärkend auszieht, f ü h r t Schlier aus: Für Paulus gebe es n u r eine Kirche u n d n u r ein Evangelium. Wenngleich er fest d a v o n ü b e r z e u g t war, daß es n e b e n d e m Evangelium, wie er es bezeugt, kein a n d e r e s gibt, so w a r er doch a u c h d a v o n überzeugt, „ d a ß die Jerusalemer Apostel ebenfalls das Evangelium besaßen u n d Apostel Jesu Christi w a r en" 22 . D a r u m w a r eine A u s s p r a c h e zwischen Paulus u n d d e n „alten u n d ordentlichen A p o s t e l n " z w i n g e n d geboten. Der Zweck der Reise des Paulus nach Jerusalem ist daher, „eine Ü b e r e i n s t i m m u n g ü b e r d a s paulinische Evangelium h e r b e i z u f ü h r e n " . Die Jerusalemer Autoritäten

20 21 22

Zitate nach Der Brief an die Galater (KEK 7), Göttingen '1962, 17. Ebd., 24. Ebd., 66.

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sind für Paulus „die entscheidende Instanz"23. Paulus berichtet daher den von ihm gegründeten Gemeinden, „daß er der Jerusalemer Kirche bzw. den Aposteln sein Heiden-Evangelium dargelegt habe." 24 Es stehe dahin, ob sich aus dem Text herauslesen läßt, daß Paulus in den Leitern der Urgemeinde als den ersten und ursprünglichen Aposteln wirklich eine Lehrinstanz gesehen hat, der er Rechenschaft abzulegen und seine Predigt gleichsam zur Begutachtung vorzutragen hatte. Doch ist ohne Zweifel zu Recht betont, daß Paulus von der Besorgnis geleitet war, umsonst zu laufen oder gelaufen zu sein, wenn es nicht gelingen würde, eine Verständigung über die rechte Verkündigung der Frohen Botschaft zu erreichen und dadurch die Einheit der Kirche zu wahren. Paulus sei dabei - so wird nochmals von Schlier unterstrichen - „an dem Aufbau der Kirche orientiert." „Denn die Kirche wird nur durch das eine Evangelium mittels des einen Apostolates erbaut." 25 Das positive Ergebnis der in Jerusalem stattgehabten Begegnung aber wird dahin zusammengefaßt: „Die Einheit der Kirche stellt sich ein kraft der gemeinsam entdeckten Wahrheit des Evangeliums und des einen Apostolates durch das Urteil der Autoritäten der Kirche." 26 „Auf Grund" - so faßt Schlier seine Erklärung zusammen - „der Einsicht in das Evangelium und in die apostolische Gnade des Paulus konnte nun die Entscheidung der Jerusalemer positiv gefällt werden: die führenden Apostel als die zugleich repräsentierenden Organe der Jerusalemer Kirche bekräftigen die Einheit des Apostolates. " 27 Gegen diese mit Nachdruck hervorgehobene Verbindung von ursprünglichem Apostolat und autoritativer Entscheidung über rechte Predigt des Evangeliums wird das Bedenken bleiben, ob mit dieser gedanklichen Verbindung nicht die paulinische Argumentation überinterpretiert wird. Denn die Wahrheit des Evangeliums, die der Apostel zu vertreten hat, wird von ihm keiner vorgegebenen oder gar übergeordneten Lehrinstanz zur Begutachtung unterbreitet, sondern sie erweist ihre Wahrheit, indem die allein angemessene Konsequenz, die aus der Frohen Botschaft zu ziehen ist, in der Theologie der Rechtfertigung entfaltet und selbst gegenüber dem Fehlverhalten des Petrus in Antiochia mit aller Festigkeit verteidigt wird. Gewiß steht dem Apostel dabei vor Augen, daß ein Zerbrechen der kirchlichen Gemeinschaft zwar nicht die Wahrheit des Evangeliums aufheben, aber doch die Folge haben würde, bei allem Bemühen am Ende doch vergeblich zu 23 24 25 26 27

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

67. 67f. 68. 69. 78.

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laufen. Eben darum ist der Apostel so sichtlich erleichtert, daß die Jerusalemer Autoritäten seiner gesetzesfreien Verkündigung des Evangeliums - wenn auch vermutlich nicht leichten Herzens - zugestimmt haben. Der besondere Rang der Ekklesiologie steht (2) Schlier auch vor Augen, wenn es gilt, die Bedeutung des Sakraments - im Galaterbrief insbesondere der Taufe - aufzuzeigen. Was gibt und schenkt die Taufe? In ihr - so lautet die Antwort - wird der Mensch „in den Erweis der Gerechtigkeit Gottes, in Tod und Auferstehung Christi aufgenommen und ihm mit der Tilgung seines bisherigen Menschen ein neuer Ursprung geschaffen ... Er wird ... in der Taufe sakramental gerechtgemacht." 28 Rechtfertigung und Sakrament werden durch diese Erklärung nicht nur auf das engste miteinander verklammert, sondern auch dahin verstanden, daß in der Taufe die Rechtfertigung geradezu als eine seinshafte Veränderung zugeeignet wird. Das Gerechtsprechen „ist ein Gerechtmachen durch Gottes wirksames Wort, in dem der Gerechtgemachte nun freilich über seine Gerechtigkeit nicht anders als im Glauben vor Gott verfügt, aber eben doch so ein Gerechter in Ursprung und Existenz ist."29 Dieses Verständnis der Taufe wird von Schlier an mehreren Stellen seines Kommentars mit Nachdruck wiederholt und vertieft. Die Taufe wirke nach dem Neuen Testament - so hebt Schlier in einem Aufsatz zur kirchlichen Lehre von der Taufe hervor - „als signum instrumentale das, was sie bezeichnet, durch ihren Vollzug, ex opere operato" 30 . In der Taufe bin ich mit Christus gestorben. Dieses Geschehen aber „ist ein mit dem Tode Christi Zusammenwachsen und darunter eine reale, wenn auch verborgene Tilgung des bisherigen Menschen und seiner von der Sünde durchherrschten Lebensbasis. Es ist zugleich die Erschaffung eines neuen Lebensgrundes, in dem der Mensch in Christus Jesus für Gott geöffnet ist."31 Damit aber wird ein neues Seinsverhältnis zu Christus begründet. „Es bezeichnet den Beginn der (gemeinsamen) Anteilhabe am Sein Christi." 32 Denn „Christus gehören meint, daß einer (als Glied seines Leibes!) Christus seinsmäßig zugeordnet oder eingeordnet ist."33 Doch wird dieser starken Betonung einer seinshaften Erneuerung das Bedenken entgegenzuhalten sein, ob nicht auch hier

28 29 30 31 32 33

Ebd., 89f. Ebd., 91. Vgl. H. Schlier, Zur kirchlichen Lehre von der Taufe, ThLZ 72 (1947) 326 (wiederveröffentlicht in: ders., Die Zeit der Kirche [s. Anm. 10], 113 ). Der Brief an die Galater (s. A n m . 20), 99f. Ebd., 173. Ebd., 175.

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die paulinischen Gedankenlinien überinterpretiert und damit verschoben worden sind. Wie lebt der auf diese Weise in ein neues Sein versetzte Christ? Zu dieser Frage sei (3) noch kurz auf Schliers Erklärung des Verhältnisses von Indikativ und Imperativ bei Paulus eingegangen. Paulus sieht - so folgert Schlier aus den die Taufe betreffenden Aussagen - den Christen, den er ermahnt, in einem neuen Sein, „in das ihn die Taufe versetzt hat, das er nun aber in seinem Handeln bewahren und insofern immer neu gewinnen muß." Der neue Ursprung, den er empfangen hat, eröffnete dem Christen „ein neues Sein, das er sich in einer neuen Seinsweise, d.h. in einer neuen Existenz erschließt". „Der Christ ist also als Getaufter, aber einen anderen gibt es ja nach Paulus nicht - sofern er im Glauben steht, gerade nicht simul justus et peccator."34 Auf die komplizierte Debatte, ob und wieweit die Formel „simul justus et peccator" die einerseits in Rom 7, andererseits in Gal 5 geschilderte Konfliktsituation des Menschen exegetisch zutreffend wiederzugeben vermag, kann hier nicht näher eingegangen werden. Doch ist zuzugestehen, daß Luthers Formel vom „simul iustus et peccator" eine kraftvolle Neuinterpretation darstellt, die über Paulus hinausgeht. Für Paulus ist in Christus die Herrschaft der Sünde gebrochen und hat der Christ dem Imperativ der Aneignung der ihm zugesprochenen Gerechtigkeit Gottes in glaubendem Lebensvollzug zu folgen. Doch fragt sich, ob diese neue Situation mithilfe von ontologischen Begriffen wirklich zutreffend beschrieben wird - Begriffen, die nicht mehr von eschatologischem Geschehen, sondern von sakramentaler Veränderung reden. 35 Die respektvolle Anerkennung der hervorragenden wissenschaftlichen Leistung, die Schlier mit seinem Galaterkommentar erbracht hat, verbietet es, klischeehafter Kritik zu folgen, wie sie mit dem Vorwurf sog. katholisierender Tendenzen geäußert worden ist36 - ganz abgesehen davon, daß man sich die Aufgabe entschieden zu leicht machen würde, wenn man denn von katholisierenden Tendenzen meint sprechen zu können, diese dann von vornherein negativ zu qualifizieren. Der Vorwurf, aus der Umwelt des antiken Judentums sei das Leistungsprinzip in die Interpretation des Galaterbriefes eingetragen worden, geht sicher an der Sache vorbei.37 Doch wird bei ruhiger Überle34 35 36 37

Ebd., 267. Zur Kritik vgl. die abgewogene Rezension bei E. Dinkier, Der Brief an die Galater, in: ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 270-282, hier 275f. So S. Schulz, Katholisierende Tendenzen in Schliers Galaterkommentar, KuD 5 (1959) 23-41. So Schulz, ebd., 27.

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gung die Frage zu stellen sein, ob die starke Hervorhebung der Ekklesiologie sowie die sakramental-ontologische Deutung von Rechtfertigung und Taufe, die den Christen in ein neues Sein versetzt haben, die Linien der paulinischen Argumentation einseitig verschiebt. Gleichwohl bleibt überaus aufschlußreich, daß für Schlier der Übergang von den Proto- zu den Deuteropaulinen mitnichten einen Bruch, sondern vielmehr eine legitime Fortentwicklung darstellt, die es erlaubt, auch ein Dokument wie den Galaterbrief von den späteren Schriften des Corpus Paulinum her zu beleuchten und zu betrachten.

III. Der Kommentar zum Epheserbrief Diese Sicht bestimmt nun in besonders charakteristischer Weise den Kommentar zum Epheserbrief, den Schlier zum ersten Mal 1957 hat vorlegen und bis 1971 in insgesamt 7 nur geringfügig veränderten Auflagen herausbringen können. Dieses Werk wird man mit Fug als die wohl bedeutendste gelehrte Leistung bezeichnen dürfen, die Schlier für die neutestamentliche Wissenschaft erbracht hat. Sagt der Autor doch selbst, der Brief an die Epheser habe ihn sein ganzes theologisches Leben lang begleitet.38 Hier wird in der Tat die Ekklesiologie in das Zentrum der Gedankenführung gerückt und auf das engste mit der Christologie verklammert. Die Kirche - so wird die Theologie des Epheserbriefes aufgeschlüsselt - , die als Leib Christi dem über ihr stehenden Haupt zugeordnet ist, ist den einzelnen Gläubigen vorgegeben.39 In der Taufe ist der Christ in diesen Leib hineinversetzt worden, so daß wir mit Christus auferweckt und geradezu in die Himmel, in das Sein in Christus hineingenommen wurden.40 „Wir sind in Christus, wir haben unser Sein in Christus ... Dieses Sein wird existent im Vollzug dessen, auf das es ausgerichtet, für das es geschaffen worden ist. Unser neues Sein (in Christus) ist angefordert von der neuen Existenz, die es begründet." 41 Juden und Heiden sind miteinander dem einen Haupt zugeordnet, so daß alle Trennwände niedergerissen sind und sie fortan im einen Christusleib zusammengehören. Als das Sakrament der Einheit läßt die Taufe „durch ihren Vollzug die ehemaligen Heiden schon seinsmäßig in die Einheit aufgenommen sein." 42 Seinen „Dienst am Evangelium" 38 39 40 41 42

Vgl. von Bendemann, Heinrich Schlier (s. Anm. 1), 184. Seitenangaben hier und im folgenden nach der 1. Aufl. von 1957, hier 95. Ebd., 118. Ebd. Ebd., 188.

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aber, „durch das die ehemaligen Heiden dem Leibe Christi eingefügt wurden, verdankt der Apostel der ihm von Gott gegebenen Gnade" 43 . Diese Einheit der Kirche aber „ist nicht nur vorgegeben, 4,4-6, sie muß nicht nur bewahrt werden, 4,1-3, sondern sie ist auch das Ziel der mannigfachen , Gaben', der Dienste und Dienstwalter, die Christus zum Aufbau des einen Leibes gegeben hat." 44 Die Erbauung des Leibes Christi, „der Kirche, die mit Hilfe der dazu von Christus gegebenen Träger und Walter der Charis geschieht, vollzieht sich in einem immer tieferen Erschließen der Dimension Christi"45. Dieser Vorgang des Wachstums des Leibes aber „ist ein, oder besser: der Vorgang der Liebe" und ist tendenziell darauf gerichtet, daß er den ganzen Kosmos erfaßt, über den - wenn auch noch verborgen vor den Augen dieser Welt - Christus als das Haupt regiert und seine Herrschaft zur Entfaltung bringt.46 Als sein Leib ist die Kirche der „Christus prolongatus". 47 Die Sprache des gnostischen Mythus bietet daher die angemessene Ausdrucksweise, um im Bild des „hieros gamos" anzuzeigen, daß die „ekklesia" der Erlösten die „gynee" des Erlösers ist.48 Nach Schliers Verständnis ist das ekklesiologische Thema der Kirche aus Juden und Heiden für Paulus immer schon das eine große Thema gewesen, das nun im Epheserbrief zur vollen Entfaltung gelangt. Damit ist gleichsam der Höhepunkt der paulinischen Theologie erreicht, den der Apostel stets als Mitte seines theologischen Denkens angesehen und nun im Alter zur vollen Entfaltung gebracht habe. Denn im Unterschied zur Beurteilung, die er einst in seiner Habilitationsschrift zur Frage nach dem Verfasser gegeben hatte, sucht Schlier nun die Abfassung durch Paulus selbst zu verteidigen. Der Apostel schreibe den Epheserbrief gegen Ende seines Lebens, als er in Rom gefangen saß.49 Dabei schreibe er „als ein in das Geheimnis Eingeweihter in feierlicher und geheimnisvoller Sprache, belehrend und beschwörend den Lobpreis des Mysteriums entfaltend, seine Weisheitsrede in seinem Brief an die jungen fremden Gemeinden Phrygiens nieder, am Rande seiner Tage." 50 Dieses die sogenannten Einleitungsfragen betreffende Urteil wird schwerlich nur als eine unvermeidliche Konzession an das vorkonziliare Lehramt zu bewerten sein, das damals noch die engen Urteile der 43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., 151. Ebd., 195. Ebd., 202. Ebd., 208. Vgl. v. Bendemann, Heinrich Schlier (s. Anm. 1), 175 u.ö. Der Brief an die Epheser (s. Anm. 39), 189. Ebd., 27. Ebd., 28.

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Bibelkommission meinte festhalten zu müssen. Denn für Schlier stellt in der Tat der Epheserbrief nicht weniger als die krönende Zusammenfassung der paulinischen Theologie insgesamt dar, in der Ekklesiologie und Christologie zu einer festen Einheit zusammengeführt sind, die Rechtfertigung sakramental durch die Taufe vermittelt ist und die Kirche nach der Welt ausgreift, damit am Ende Christus alles in allem sei. Ernst Käsemann hat seinerzeit Schliers Epheserbrief in einer ausführlichen Rezension gewürdigt, die wichtige Hinweise zu kritischer Beurteilung bietet.51 Leise Enttäuschung und verhaltene Bewunderung kommen zum Ausdruck, wenn zu Recht festgestellt wird: „Die Schule, der Schlier entwuchs, darf auf dieses Werk stolz sein, das mindestens in der Strenge der Arbeitsweise und Geschlossenheit des Entwurfs unverwechselbar ihre Züge trägt." 52 Es trifft ohne Zweifel zu: „Die Thematik des Briefes kommt der Intention des Interpreten entgegen ... Denn die Lehre von der Kirche und ihren notae bildet das eine Thema des Eph." 53 Indem Schlier jedoch die im Epheserbrief angelegten Linien mit erheblicher Verstärkung weiterführt und auszieht, macht er ihn zu einem Zeugnis für die letzte Altersreife des Apostels, der „sich der Form einer Mysterien- oder besser Weisheitsrede bedient." 54 Doch indem Schlier mit solchem Nachdruck die paulinische Verfasserschaft verteidigt, erhält seine Argumentation eine empfindliche Schwachstelle.55 Denn - wie inzwischen weithin als Konsens in der neutestamentlichen Wissenschaft gilt - man wird mit Recht einwenden, „daß nicht bloß die Altersreife des Apostels, sondern eine veränderte kirchliche Lage sich im Briefe spiegelt."56 Die Kirche aber wird von Schlier als „nicht nur sakramental begründete und charismatisch sich äußernde, sondern auch rechtlich verfaßte Körperschaft" verstanden.57 Das räumlich bestimmte Denken der Gnosis, die den religionsgeschichtlichen Hintergrund darstellt, vor dem der Epheserbrief seine Theologie entfaltet, wird direkt auf seine Theologie übertragen. Das räumliche Denken der Gnosis drücke daher „adäquat ,den ontologischen Charakter jener inneren Bewegung' aus, die den ,religiös-glaubensmäßigen Aufbau' der Kirche bestimme." 58 Ja mehr, der erhöhte Christus sucht als das Haupt seinen Leib, die Kirche, 51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. E. Käsemann, Das Interpretationsproblem des Epheserbriefes, ThLZ 86 (1961) 1 8 = ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 253-261 - hiernach im folgenden zitiert. Ebd., 253. Ebd., 253f. Ebd., 255. Ebd. Ebd., 256. Ebd., 257. Ebd., 259.

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so aufzubauen, „daß in ihm und durch ihn und im Vollzug seines Wachstums auch das All sich zu Christus hin erhebt" 59 . Der große Kommentar zum Epheserbrief läßt die engagierte Hingabe des Interpreten überall erkennen und verdient als bedeutende wissenschaftliche Leistung hohe Anerkennung. Doch bleibt die Frage, ob die Theologie dieses Briefes wirklich als Zeugnis der Altersweisheit des Apostels sachgemäß gelesen werden kann, durch die er über seine früher dargelegte Position hinausgewachsen sei. Verhält es sich wirklich so, daß im Epheserbrief Christologie, Eschatologie und Anthropologie vollständig der Lehre von der weltumspannenden Kirche untergeordnet sind und ihre eigene Aussagekraft aufgegeben haben? Tritt der Glaube als gehorsame Antwort auf das zugesprochene Evangelium ganz zurück zugunsten einer sakramental-ontologischen Zueignung des Heils in der Taufe? Und ist die paulinische Lehre von der Rechtfertigung, die im Epheserbrief durchaus aufgenommen und weitergeführt wird, so weit in den Hintergrund gerückt, daß sie mit Lehre und Vollzug des Sakraments verschmilzt? „Hat die Kirche" - so mag man am Ende mit Käsemann fragen - , „deren Heiligkeit einzig ihr Herr und sein Handeln sein kann, eine Heiligkeit ihrer selbst?"60 Die Reihe der Fragen ließe sich verlängern; doch mögen die eben genannten Überlegungen andeuten, wie fruchtbar das eingehende Studium dieses bedeutenden Kommentars ist.

IV. Der Kommentar zum Römerbrief Nimmt man zuletzt Schliers großen Kommentar zum Römerbrief zur Hand, der zum ersten Mal 1977 in der Reihe des Herderschen Kommentars erschien, 1979 in 2. Auflage und 1987 in 3. Auflage herausgebracht wurde, so meint man gleichsam in eine andere Welt einzutreten. Während im Kommentar zum Epheserbrief große Sorgfalt darauf verwandt wurde, die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen zu klären, spielen in der Auslegung des Römerbriefs religionsgeschichtliche Fragen nur eine geringe Rolle. Die Interpretation geht vielmehr Satz für Satz und Vers für Vers mit gespannter Aufmerksamkeit am Text entlang und sucht - wie es im Vorwort heißt - „darzulegen, was ich aus diesem Brief gehört habe. Das mag subjektiv erscheinen. In Wahrheit ist diese Subjektivität' nur die einer jeden Begegnung." 61

59 60 61

Ebd., 260. Ebd., 259. So im Vorwort zur 1. Aufl. 3. VII - nach dieser auch im folgenden zitiert.

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Im stattlichen Band findet sich nur ein einziger Exkurs, der ein religionsgeschichtliches Problem aufgreift und das Verständnis Adams bei Paulus erörtert.62 Als Ergebnis der umsichtigen Überlegungen wird am Ende festgehalten: „Adam ist für den Apostel Paulus der Mensch hinsichtlich seiner einen, gemeinsamen Herkunft, die ihn immer schon bestimmt, die er jeweils in seinem Leben austrägt, in der er sich unentrinnbar aufhält. Adam ist das menschliche Dasein in seiner Konzentration, aus dem der Mensch kommt, das er vollzieht und in dem er verweilt."63 Der Römerbrief ist dadurch charakterisiert, daß er Evangelium darbietet, „genauer: einführendes und vorbereitendes Evangelium, mit dem sich der Apostel den römischen Christen vorstellt"64. Das aber heißt - wie Schlier im folgenden ausführt -: „Der Römerbrief ist ein doktrinärer, aktueller, parakletischer Evangeliumsbrief sui generis an die überwiegend heidenchristliche Gemeinde in Rom."65 Im Evangelium aber „als der den Glaubenden rettenden ,Macht Gottes' tritt ,die Gerechtigkeit Gottes' zutage" (l,16f.). „Das Evangelium zu verkündigen, das ist, meint der Apostel, die Dynamis Gottes, seine Dynamik, könnte man sagen, wirksam werden zu lassen. Denn es läßt Gottes dikaiosynee, Gottes kritisches Gerechtigkeitshandeln, dem Menschen, der glaubt, gegenwärtig werden und so an und unter den Glaubenden Gottes Gerechtigkeit, die Heil gewährt, realisieren, indem sie gerecht macht."66 Die Begriffsverbindung der Gerechtigkeit Gottes wird - ohne daß das Problem näher diskutiert würde - dahin erklärt, „daß es sich primär, also nicht ausschließlich, um einen Gen subj. handelt."67 Daraus folgt: „Das Evangelium ist deshalb ein Machterweis Gottes, weil in seiner Verkündigung durch den Apostel sich Gottes eschatologisches Gerechtigkeitshandeln im voraus so enthüllt, daß es erfahren wird."68 Das Evangelium ist also nach Uberzeugung des Apostels „ein Machterweis Gottes, der jeden, der glaubt, ohne Unterschied von Jude und Heide, zur Rettung und zum Heil wird."69 Mit diesen Sätzen vertritt Schlier eine Exegese, die in der neutestamentlichen Wissenschaft weitgehend konsensfähig ist, und faßt seinerseits deren Einsichten, die er eingehend berücksichtigt, zu einer eindrucksvollen Auslegung des Textes zusammen - wiederum in einer 62 63 64 65 66 67 68 69

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

179-189. 189. 7. 9. 12. 44, Anm. 28. 44. 46.

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Sprache, die die starke innere Beteiligung in eine disziplinierte Redeweise faßt und in der vornehmen Gesinnung des Interpreten auf Polemik nahezu gänzlich verzichtet, indem nur hier und da für notwendig erachtete Abgrenzungen vorgenommen werden. Zu 3,28 wird angemerkt, Luthers Übersetzung „allein durch den Glauben" sei sachlich durchaus zutreffend, nur müsse man die Konfrontation, in der das gesagt ist, genau beachten. Denn - so fährt Schlier fort - „nicht das Tun als solches ist zur Rechtfertigung unbrauchbar, sondern eine bestimmte Art von Tun, die freilich jeder Mensch von seiner Herkunft mitbringt: das selbst-süchtige und eigengerechte Handeln, in dem die Selbsterbauung des ,Rühmens' wirksam ist."70 Auf kontrovers bestimmte Auslegung einzelner Stellen, die für den ökumenischen Dialog von besonderem Belang sein könnten, geht Schlier jedoch nirgendwo ein, so daß man den Eindruck gewinnt, dieser für eine katholische Kommentarreihe abgefaßte Band stehe gleichsam über den Konfessionen. Und in der Tat führt er vor Augen, wie weit katholische und evangelische Exegese gerade des Römerbriefs aufeinander zugegangen und sich einander angenähert haben - ein ökumenisch relevanter Vorgang, an dem Heinrich Schlier wesentlichen Anteil hat durch seine gründliche theologische Arbeit, die er sowohl als evangelischer wie auch als katholischer Theologe in bewunderswerter Konsequenz seines Denkens durchgeführt hat, ohne daß irgendwo eine Bruchstelle erkennbar würde. Ulrich Wilckens kann daher seine eingehende Besprechung des Kommentars mit vollem Recht mit Worten hoher Anerkennung abschließen: „In diesem Werk haben wir einen zweiten großen katholischen Römerbriefkommentar von Rang neben dem (bislang - so 1978 - leider unvollständig gebliebenen) von Kuss erhalten. Daß er jeden aufmerksamen Benutzer vielfach belehrt, anregt und erfreut, ist ebenso hervorzuheben, wie daß er ihn trotz seiner ruhigen, unaufdringlichen, liebevoll am Detail orientierten Darstellungsart auch im Grundsätzlich-Theologischen vielfach zu Zustimmung oder eben Widerspruch provoziert. Wir Jüngeren haben dem verehrten Altmeister dafür sehr zu danken."71 Diesem Urteil ist in ungeteilter Zustimmung beizupflichten. Heinrich Schlier war der Überzeugung, seine exegetische Arbeit am Neuen Testament und insbesondere an den Paulinischen Briefen habe seinen Weg zur katholischen Kirche bestimmt. Das urchristliche Kerygma - so wird er nicht müde zu betonen - weise bereits Wesenszüge

70 71

Ebd., 117. Vgl. U. Wilckens, Zum Römerbriefkommentar von Heinrich Schlier, ThLZ 103 (1978) 849-856, hier 856.

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des Dogmas auf. 72 „Das Dogma aber bedeutet nicht das Ende des Bedachten, sondern die Erhebung des Bedachten in das unbestreitbar u n d unverlierbar Denkwürdige. Es bedeutet für die Biblische Theologie die Anweisung des natürlich immer in vorläufiger Form endgültig Durchdachten zu neuer Erhellung des ursprünglichen Glaubensdenkens." 73 Doch läßt sich - so bleibt zu fragen - wirklich eine gerade Linie vom ursprünglichen Kerygma z u m späteren Dogma ziehen? Wird es so sein können, daß nicht nur für Schlier, sondern auch für andere Exegeten die Arbeit am Neuen Testament zur katholischen Kirche, der römisch-katholischen Kirche vor dem Konzil, führt? Bei aller gebotenen Hochachtung, die dem Gelehrten u n d Theologen Heinrich Schlier gebührt, wird zu bezweifeln sein, ob das Neue Testament u n d insbesondere die paulinische Theologie einer bestimmten Konfession mehr gehören könnte als den anderen. Ernst Käsemann hat seinen massiven Einspruch bekanntlich in die Worte gefaßt: „Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d.h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen. Die Variabilität des Kerygmas im Neuen Testament ist Ausdruck des Tatbestandes, daß bereits in der Urchristenheit eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander vorhanden war, aufeinander folgte, sich miteinander verband u n d gegeneinander abgrenzte." 74 Mit diesen Worten ist das Problem gewiß überscharf formuliert, dann jedoch zutreffend mit der Forderung verknüpft worden, innerhalb des Kanons die gebotene Unterscheidung der Geister vorzunehmen. Dabei wird für das weitergehende u n d weiterführende ökumenische Gespräch der Kanon den Rahmen abzugeben haben, innerhalb dessen miteinander nach der Wahrheit des einen Evangeliums zu fragen ist. Denn zu Recht faßt Käsemann die gestellte Aufgabe in den kurzen Satz, daß allein das Evangelium die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten begründet. 7 5 Als Urkunde dieses einen Evangeliums aber ruft das ganze Neue Testament alle, die auf seine Worte hören u n d sie prüfend bedenken, im Bemühen u m ökumenische Verständigung nicht nachzulassen. Diese Verständigung wird es durchaus tragen u n d 72 73

74 75

Vgl. v. Bendemann, Heinrich Schlier (s. Anm. 1), 245. Vgl. H. Schlier, Biblische und dogmatische Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975, 425-437, hier 434 (wiederveröffentlicht in: ders., Besinnung auf das Neue Testament, Freiburg 1964, 25-34). Vgl. E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 214-223, hier 221. Ebd., 223.

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ertragen können, daß es weiterhin über manche - auch durchaus wichtige - Fragen unterschiedliche Meinungen geben wird, wie es diese ja auch innerhalb der einen oder anderen Konfession durchaus gibt. Doch wird das gemeinsame Bemühen darauf zielen, in der glaubenden und gehorsamen Annahme des einen Evangeliums, neben dem es kein anderes gibt, zu einem tragfähigen, alle Christen miteinander verbindenden Grundkonsens zu gelangen.

13.

Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefes Einem Gelehrten steht es wohl an, seiner Lehrer in Dankbarkeit und Verehrung zu gedenken und sich bewusst zu halten, wieviel er seinem akademischen Meister, der ihn einst zu Promotion und Habilitation angeregt und begleitet hat, zu verdanken hat. So bietet heute - zum 6. Januar, dem Tag des Epiphaniasfestes - der hunderste Geburtstag des einstigen Professors für Neues Testament Otto Kuss Veranlassung, auf sein Lebenswerk zurückzublicken und sich dabei zu verdeutlichen, welch reiche Belehrung wir - die eine Generation später das anvertraute Werk neutestamentlicher Wissenschaft weiterführen durften und dürfen - aus dem Wirken empfangen haben, das Otto Kuss in Wort und Schrift entfaltet hat. Von seinem Studium und insbesondere seiner Promotion an hat sich Otto Kuss der Theologie des Apostels Paulus intensiv zugewandt. Von Friedrich Wilhelm Maier wurde er einst „durch dessen Römerbriefvorlesung im Wintersemester 1925/1926 in Breslau in die paulinische Theologie eingeführt" 1 . Von ihm - so sagt Kuss - „haben seine Schüler lernen dürfen, daß die Schrift Quelle, Ursprung, Urgestein ist; von seiner Leidenschaft fortgerissen, haben sie erfahren, daß sie ... einem Ozean vergleichbar ist, der nicht ausgeschöpft wird". 2 Doch konnten sie auch mit ihrem Lehrer empfinden, welch persönliche Belastungen aus der Aufgabe wissenschaftlicher Schriftauslegung erwachsen können. Ihr Lehrer hatte einst als junger Gelehrter einen Kommentar zu den synoptischen Evangelien nach der zweiten Lieferung abbrechen müssen, weil er - entgegen den Auffassungen des damaligen römischen Lehramtes - die sog. Zweiquellentheorie vertrat. Maier hatte sich in Loyalität dieser Auflage gebeugt und sich fortan vornehmlich auf die mündlich vorgetragene Lehre konzentriert, in der er - wie Josef Gewiess von ihm im Lexikon für Theologie und Kirche sagte - , sich „als ein tiefschürfender Forscher und ein akademischer

1 2

O. Kuss, Der Römerbrief II (Rom 6,11-8,19), Regensburg 21963, VI. Ebd., Vif.

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Lehrer" erwies, „in dem sich strenge Akribie und mitreißende Kraft der Rede zu einer Einheit verbanden". 3 Im Sommersemester 1925 hatte Otto Kuss in Bonn Erik Petersons Vorlesung über den Römerbrief besuchen können. Unter der kleinen Hörerschar befand sich damals auch Ernst Käsemann.4 Seit der Text von Petersons Vorlesung in der durch Barbara Nichtweiß auf das beste betreuten Ausgabe vorliegt5, lässt sich deutlich erkennen, dass Peterson auf seine Hörer einen starken Eindruck gemacht haben muss, der in Käsemanns Erklärung des Römerbriefs noch nachhaltiger zu spüren ist als bei Otto Kuss, der ebenfalls von Peterson bleibende Anregungen empfangen hat. Durch Friedrich Wilhelm Maier ermutigt, widmete Otto Kuss schon seine Erstlingsarbeit der paulinischen Theologie und legte eine Studie vor „Rom 5,12-21. Die Adam-Christus-Parallele exegetisch und biblisch-theologisch untersucht"(1931). Für die Reihe des Regensburger Neuen Testaments verfasste er eine - im vorgegebenen Rahmen knapp und konzentriert gehaltene - Erklärung der Briefe an die Römer, Korinther und Galater (1940). In verschiedenen kleineren Studien behandelte er Probleme der Paulusexegese sowie deren gegenwärtiger Bedeutung und fasste diese später in drei Bänden Gesammelter Aufsätze zusammen.6 In Paderborn seit 1946 und in München seit 1960 lehrte Otto Kuss bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 neu testamentliche Wissenschaft. Dabei stand für ihn die paulinische Theologie an erster Stelle. Die verschiedenen Arbeiten, die in diesen Jahren entstanden, fasste Otto Kuss dann in seinem großen Lebenswerk zusammen, der Neubearbeitung des Kommentars zum Römerbrief. War zunächst geplant, diese Neugestaltung für das Regensburger Neue Testament vorzusehen, so wuchsen Stoff und Umfang der Ausarbeitungen alsbald über das einzuhaltende Maß beträchtlich hinaus. Im Einvernehmen mit dem Verleger entschloss sich Kuss daher, diesen neuen großen Kommentar - unabhängig von der Reihe - gesondert herauszubringen.7 Wie er im Vorwort zur ersten Lieferung seines Kommentars bemerkt, bleiben dabei bestimmte Merkmale des Regensburger Neuen Testaments bestehen: Dem fortlaufenden Text der Auslegung wurden keine Anmerkungen beigegeben. Ausgewählte wichtige Literatur wurde im Textteil 3 4 5 6 7

J. Gewiess, LThK3 VI (1961) 1291. E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 31974, Vorwort, III. E. Peterson, Der Brief an die Römer, Würzburg 1997. O. Kuss, Auslegung und Verkündigung I, Regensburg 1963; II, 1967; sowie III, 1971: Paulus. Die Rolle des Apostels in der theologischen Entwicklung der Urkirche. O. Kuss, Der Römerbrief, 1. Lieferung Rom 1,1-6,11, Regensburg 1957, 21963; 2. Lieferung Rom 6,11-8,19,1959,21963; 3. Lieferung Rom 8,19-11,36,1978.

Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefes

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bzw. am Ende der Exkurse aufgeführt. Griechische Wörter wurden regelmäßig in Klammern vermerkt und allermeist übersetzt. So sollte ungeachtet des schwergewichtigen Inhalts - „die Lesbarkeit des Ganzen auch für den der griechischen Sprache Unkundigen hoffentlich nicht allzu sehr beeinträchtigt" werden.8 Um Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefes angemessen zu würdigen, ist vor allen anderen Veröffentlichungen sein großer Kommentar zum Römerbrief zugrunde zu legen. Zur Ergänzung sind verschiedene Aufsätze zu berücksichtigen, deren Inhalt zumeist in den Kommentar eingegangen ist, vor allem jedoch auch die umfangreiche Paulusdarstellung, in der sich ein eigenes Kapitel über den Römerbrief findet.9 Da die drei von 1957-1978 erschienenen Lieferungen des Kommentars eine fortlaufende Paginierung aufweisen, können Bezugnahmen auf bestimmte Stellen oder Abschnitte durch Hinweis auf die jeweilige Seitenzahl zureichend belegt werden. Die nunmehr vorzutragenden Ausführungen sollen in vier Abschnitten entfaltet werden: 1. die leitende Thematik des Römerbriefs in der Sicht von Otto Kuss, 2. der Vollzug der Exegese, wobei einige ökumenisch relevante Stellen besonders hervorzuheben sind, 3. die zahlreichen Exkurse, die der Kommentar enthält, und 4. das Verhältnis von wissenschaftlicher Exegese und Verantwortung für die kirchliche Lehre, wie sie jedem Theologen und daher auch dem Exegeten aufgegeben ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Otto Kuss trotz seines beharrlichen und unermüdlichen Einsatzes für die Erklärung des Römerbriefs seinen großen Kommentar nur bis zum Ende des 11. Kapitels hat durchführen können. Es fehlen sowohl eine Erörterung der sog. Einleitungsfragen - Ort und Zeit der Entstehung, literarische Integrität, Thematik und deren Durchführung, Situation der Briefempfänger u. dgl. - wie auch die Auslegung des umfangreichen paränetischen Schlußteils des Briefs. Was diese Fragen angeht, so können frühere Arbeiten sowie die den Kommentar vorbereitenden und begleitenden Aufsätze wertvolle Ergänzung bieten.

I. Die leitende Thematik des Römerbriefs Zuerst sei nun vom Verständnis, das die theologische Arbeit von Otto Kuss am Römerbrief leitet, sowie seiner Charakterisierung des gesamten Briefs gehandelt. In den kurzen Vorworten, die Kuss jeder der drei 8 9

Vorwort, V. Kuss, Paulus (siehe Anm. 6), 163-204.

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Lieferungen vorangeschickt hat, lässt er den Leser an den grundsätzlichen Entscheidungen teilnehmen, denen sich der gewissenhaft vorgehende Exeget für die Durchführung seiner Aufgabe verpflichtet weiß. Ihm ist - so sagt Kuss im Vorwort zum ersten Band seiner Gesammelten Aufsätze - aufgetragen, den Sinn des Schriftzeugnisses mit aller gebotenen Sorgalt zu erheben. Um eine sachgerechte Auslegung vornehmen zu können, kommt der sog. historisch-kritischen Methode grundlegende Bedeutung zu. Man könne von ihr in gewissem Sinne sagen, „historisch-kritisch" bedeute letztlich nichts anderes als „redlich", „anständig" und „wahrhaftig", auch wenn man zugeben müsse, dass hier oder da Übertreibungen zur Verstimmung Anlass geben können. Die Verkündigung der Kirche bleibe auf sorgfältige Exegese der Schrift angewiesen, diese aber ziele letztlich eben auf die sachgerechte Verkündigung der frohen Botschaft.10 Indem die Schrift daraufhin betrachtet wird, was „dasteht", ist dem vorgegebenen und aufgegebenen Text auch die Fremdheit, das nicht Angepasste und damit die Offenheit für die Zukunft zu erhalten. Im Zusammenwirken mit allen anderen Disziplinen der Theologie hat der Exeget der biblischen Texte sich darum zu mühen, „daß die Schrift ihr Wort in die Gegenwart hineinsprechen kann".11 Geht es doch in der Schrift letztlich um nicht weniger als „Heil und Unheil".12 Was nun insbesondere die Auslegung des Römerbriefs betrifft, so spricht Kuss mit aller Deutlichkeit aus, dass es gelte, „sich um einen schwierigen Text" zu mühen - und „um eine nicht weniger schwierige Sache".13 Dem Verfasser sei es daher nicht darauf angekommen, „einen bequemen Kommentar zu schreiben, sondern in einem angemessenen Rahmen so gründlich, als es ihm die Kräfte erlauben, sich selber und seine Leser an ein Verständnis des komplizierten Textes und der gemeinten Sache' heranzuführen". 14 Dabei könne die gebotene Ehrfurcht vor Gottes Wort „gerade in der entsagungsvollen Arbeit stecken ..., welche ,historisch-kritische' Exegese genannt wird".15 Das Ziel der exegetischen Arbeit am Römerbrief kann daher in ebenso schlichten wie klaren Worten angegeben werden, sie habe sich zu mühen „um das Verständnis dessen, was Paulus den römischen Adressaten seines Briefes sagen wollte".16 10 11 12 13 14 15 16

O. Kuss, Auslegung und Verkündigung I, Regensburg 1963, VIII. O. Kuss, Exegese als theologische Aufgabe, in: ders., Auslegung und Verkündigung I (s. Anm. 10), 1-24, hier 24. Auslegung und Verkündigung II, Regensburg 1971,13. Kuss, Römerbrief, 2. Lieferung (s. Anm. 7), Vorwort III. Ebd., Illf. Ebd., VII. Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), VII.

Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefes

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In seinem theologischen Denken, das der Apostel am ausführlichsten und gründlichsten im Römerbrief entfaltet hat, geht er „von der harten Tatsache des Kreuzestodes Jesu und dem Glauben aus, daß Gott durch diesen Kreuzestod das entscheidende Heil gewirkt hat".17 Das aber bedeutet, dass „in dem Heilsereignis Jesus Christus" „Gottes Güte, Gottes Gnade, Gottes Barmherzigkeit, Gottes Liebe offenbar geworden"18 ist. Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium verkündet und mit dem Aufruf zum Glauben verbunden. Wer aber „von Gott gerecht gesprochen wird, weil er sich glaubend die Frucht von Gottes Heilstat durch Jesus Christus zueignet, der ist wirklich gerecht".19 „Heil ist dem Menschen, allen Menschen, Juden wie Heiden, allein auf Grund von Gottes Handeln durch Jesus Christus zuteil geworden".20 Die gedankliche Mitte des Römerbriefes ist daher in Kap. 3,21-31 zu finden - dem Abschnitt, dessen Auslegung durch Dieter Zeller besonders gewürdigt wird.21 „Das zentrale Ereignis der Heilsgeschichte ist der blutige Tod Jesu am Kreuze ... Im weiteren Sinne umfaßt es den ganzen Heilsweg Jesu Christi. Die entscheidende Deutung dieses Hinrichtungstodes ist die Auferweckung, die dem Glaubenden den göttlichen Sinn des Todes deutlich vor Augen stellt."22 Mit dieser Auslegung kommt Kuss dem reformatorischen Verständnis des Römerbriefes nahe und weiß er Luthers Auslegung ausdrücklich zu würdigen. So bemerkt er, das „sola fide" sei als Wiedergabe des von Paulus Gemeinten an sich „vollkommen genau". Und hinsichtlich der Übersetzung des Satzes 3,28 - „der Mensch werde (allein) durch Glauben gerecht gesprochen" - hebt er hervor, die Übersetzung „allein durch den Glauben" sei im Sinne der paulinischen Theologie „die einzig mögliche".23 Die feinen Unterschiede des Verständnisses, die insbesondere die inhaltliche Bestimmung des Begriffes Glaube betreffen24, weiß Kuss als katholischer Theologe umsichtig zu beschreiben. Doch wird der Auftrag, sich um ein klares Verständnis der zentralen paulinischen Texte auf das gewissenhafteste zu bemühen, Otto Kuss dazu veranlasst haben, der ökumenischen Zusammenarbeit hohen Rang beizumessen und von 1950-1960 im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen engagiert mitzuarbeiten.25 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd., 118. Ebd., 117. Ebd., 122. Ebd., 109. Vgl D. Zeller, Gottes Gerechtigkeit und die Sühne im Blut Christi. Neuerlicher Versuch zu Rom 3,21-31, in J. Hainz (Hg.), Unterwegs mit Paulus. Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 57-69 = 22007. Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), 276. Ebd., 134. Ebd., 135-139. Vgl. hierzu insbesondere seine Münchener Antrittsvorlesung „Exegese als theologische Aufgabe", in: ders., Auslegung und Verkündigung I (s. Anm. 10), 1-24.

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Das Interesse des Apostels ist bei seiner Geschichtsbetrachtung „lediglich darauf gerichtet, das, was durch Jesus Christus geschehen ist, als das schlechthin entscheidende Ereignis der Geschichte zu begreifen". 26 Die bestimmende Bedeutung der Christologie wird entschieden herausgestellt. Daher wird vom Glauben an das Heilshandeln Gottes in Jesu Tod und Auferweckung her begriffen, welche Rolle und Bedeutung „heilsgeschichtlich wesentliche(n) Gestalten und Fakten auf Jesus hin" zukommt.27 „Von Kreuz und Auferweckung aus wird alles einzelne und wird auch das Ganze neu bestimmt." 28 Der Römerbrief gibt - so führt Otto Kuss in seiner großen Paulusdarstellung zusammenfassend aus - „einen fast systematisch zu nennenden Einblick in die Fundamente des Glaubens und der theologischen Überlegungen des Apostels". 29 Seine Grundbotschaft lautet: „,Das Evangelium' ist ,Kraft Gottes' und schafft Rettung allen Glaubenden, und zwar gleicherweise dem Heiden wie dem Juden." 30 Denn Gott hat sich „heilschaffend aufgemacht, er allein hat die Initiative ergriffen, und diese entscheidende Initiative Gottes heißt: Jesus Christus. Es gibt hier keine Alternative, weder vorher noch nachher" 31 . Der Römerbrief stellt somit eine „grundsätzliche Besinnung des Paulus auf die theologische Thematik" dar, „die ihn immer und überall beschäftigte". 32 Weil der Exeget Otto Kuss mit großer Entschiedenheit und Klarheit Zentrum und Mitte der theologischen Argumentation des Paulus in den Ausführungen sieht, die der Apostel über die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und die dem Glaubenden zugeeignete Rechtfertigung macht, weist er kritischen Einspruch zurück, wie er einst einerseits von William Wrede und andererseits von Albert Schweitzer geltend gemacht wurde. Mitnichten kann die zentrale Bedeutung der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Zweifel gezogen werden weder durch die Annahme, sie stelle nur eine Kampfeslehre des Paulus dar und bilde daher nicht das Zentrum, sondern gleichsam nur einen Nebenkrater in der Lehre des Apostels, noch durch die These, in einer sog. Christusmystik sei die die Einheit der paulinischen Theologie begründende Mitte zu finden.33 Die paulinische Theologie bestehe vielmehr nicht „in dem lückenlosen, logisch einwandfreien und durchsich26 27 28 29 30 31 32 33

Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), 287. Ebd. Ebd., 286. Paulus (s. Anm. 6), 163. Ebd., 164. Ebd., 167. Ebd., 203. Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), 130f.

Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefes

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tigen Zusammenhang ihrer Elemente, sondern zuerst und zuletzt in der Wirklichkeit Jesus Christus, die sie in lebendigem Verbundensein mit der Uberlieferung immer wieder und immer neu auf mannigfache Weise in Worte und Begriffe zu fassen sucht". 34 Ist die Mitte des paulinischen Denkens „Gottes Heilstat in Jesus Christus"35, so wird die Frucht dieser Heilstat „dem Menschen dadurch zuteil, daß er sie durch Glauben annimmt". 36 Denn „der einzige und notwendige Weg, das durch Jesus Christus erworbene Heil zu gewinnen, ist der Glaube". 37 Erst vom in Christus empfangenen Heil her kann die totale Verlorenheit des Menschen vor und ohne Christus begriffen werden.38 Die von Gott geschenkte Gerechtigkeit kann und darf niemals „ruhender Besitz" werden. „Sie muß sich vielmehr unaufhörlich in Tun umwandeln." 39 Mitnichten hat daher der Apostel die verpflichtende Bedeutung der Ethik in Zweifel ziehen wollen. Vielmehr sind die Gerechtigkeit als Gabe und die Gerechtigkeit als gelebtes Leben eng „miteinander verbunden" - „die eine ist Wurzelboden der anderen". 40 Es verwundert nicht, daß Kuss die Kapitel 1-8 des Römerbriefs als deren wichtigsten Teil ansieht, der „die eigentlich beherrschenden Gedanken" enthält. Lege er doch „das Fundament der Theologie des Apostels Paulus". 41 Die Kapitel 9-11 werden hingegen als ein „sehr ausführlicher Annex" beurteilt: „Wie ist im Zusammenhang der in der Schrift offenbaren göttlichen Heilspläne die Ablehnung der Glaubensbotschaft von Jesus Christus durch die überwiegende Mehrheit des jüdischen, des zuerst und mit vielen Auszeichnungen berufenen Volkes zu begreifen?" 42 Die Auslegung dieser drei Kapitel hat Kuss - wie noch zu zeigen sein wird - mancherlei Schwierigkeiten bereitet. Den letzten Teil, der in 12,1-15,13 „praktische Weisungen für das sittliche Leben der Gemeinde" entfaltet, hat Kuss nicht mehr zur Erklärung bringen können. Ist dem Werk der letzte Abschluss versagt geblieben, so sind doch in den vorliegenden drei Lieferungen des Kommentars die bestimmenden Linien so deutlich aufgewiesen worden, dass es unschwer möglich ist, sie bis zum Ende auszuziehen. Der gelehrte umfangreiche Kommentar aus der Feder von Otto Kuss gehört deshalb zu den blei-

34 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.

131. 131f. 133. 127. 129. 26.

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bend herausragenden exegetischen Werken, die der Auslegung des Römerbriefes gelten.

II. Der Vollzug der Auslegung Wie vollzieht Otto Kuss nun im Einzelnen die Erklärung des vorgegebenen Textes? Diese Frage sei in einem zweiten Teil unserer Ausführungen des näheren bedacht. Der Leser wird angenehm berührt durch die ruhig und überlegt voranschreitende Auslegung, die ihm dargeboten wird. Die verschiedenen und z.T. unterschiedlichen Versuche, wie sie in der Geschichte der Auslegung vorgenommen wurden, werden umsichtig gewürdigt, indem sie daraufhin abgehört werden, was sie jeweils zum rechten Verständnis des Römerbriefs beizutragen vermögen. Dabei verzichtet der Autor auf jedwede Polemik, sondern berichtet in beispielhafter Fairness über die verschiedenen Beiträge seiner Vorgänger und weiß aufmerksam auf die Stimmen der vielen Ausleger zu hören und sie zu gewichten. Die Interpretation setzt, ohne grundsätzliche Erwägungen voranzuschicken, mit der Auslegung des ersten Verses ein und schreitet mit bedacht gesetzten Schritten voran. Weder Überlegungen zur Gliederung noch einleitende Erörterungen werden dem Kommentar vorangeschickt, sondern es wird sogleich mit dem aufmerksamen Hinhören auf den Text begonnen. Die bestimmende Gedankenführung wird jeweils durch vorangestellte kurze Ausführungen zum Fortgang des Gedankenflusses treffend beschrieben. Liegt in 1,1-17 der Briefeingang vor, der zur Angabe des den Brief leitenden Themas hinführt, so reicht der erste große Hauptteil des Römerbriefes von 1,18-8,39: Er entfaltet „Das Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes allein auf Grund von Glauben an Jesus Christus mit seinen grundsätzlichen theologischen Folgerungen". Dessen erster Abschnitt, der von 1,18-3,20 reicht, wird überschrieben als „Das Offenbarwerden von Gottes Zorn über Heiden und Juden". Diesem negativ ausgerichteten Zusammenhang wird dann der positiv argumentierende zweite Abschnitt gegenübergestellt: „Der Kern des Evangeliums: Die Gerechtsprechung auf Grund der Erlösung in Christus Jesus geschieht , geschenkweise' allein durch den Glauben; schon dem Abraham wird allein der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet" (3,21^,25). Der dritte Abschnitt umfasst 5,1-21: „Theologische Hinweise auf die aus dem Glauben an die Heilstat Gottes in Jesus Christus erwachsene Vollendungshoffnung." Von 6,1-8,39 reicht sodann der vierte

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Abschnitt, der so überschrieben wird: „Die aus der gegenwärtigen zwischenzeitlichen Situation sich ergebende theologische Problematik des sittlichen Lebens der Glaubenden, der von Sünde, Gesetz und Tod Befreiten, die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geiste Wandelnden." Im zweiten Hauptteil des Römerbriefs, der die als Annex verstandenen Kapitel 9-11 umfasst, erörtert der Apostel die ihn umtreibende Frage: „Wie ist im Zusammenhang der in der Schrift der Juden offenbaren göttlichen Heilspläne die Ablehnung der Glaubensbotschaft durch die überwiegende Mehrheit des jüdischen Volkes zu begreifen?" Die behutsam wägende Sorgfalt, mit der Kuss seine exegetische Arbeit betreibt, lässt ihn hypothetischen Erwägungen oder bloßen Vermutungen sehr zurückhaltend begegnen. Das gilt einerseits für Überlegungen, die sog. vorpaulinische Traditionen betreffen. So hält es - vorsichtig urteilend - der Verfasser für möglich, dass der Apostel sich gleich zu Anfang bei der inhaltlichen Bestimmung des ihm aufgetragenen Evangeliums auf Tradition bezieht, um gleichsam seine Rechtgläubigkeit unter Beweis zu stellen.43 Doch wird nicht der Versuch unternommen etwa vorgegebene formelhafte Rede des näheren zu rekonstruieren. Zu 6,3 - „Oder wißt ihr nicht, daß wir alle, die wir in Christus Jesus getauft wurden, in seinen Tod getauft wurden?" - wird kein „zwingendes Argument" gesehen, die Tauftheologie des Mitsterbens und Mitauferstehens aus einem „vorpaulinischen hellenistischen Christentum" herzuleiten.44 Wenngleich Paulus eine ihm bereits vorgegebene Tauftheologie voraussetzen konnte, so müsse er doch „im wesentlichen aus sich selbst erklärt werden".45 Auf der anderen Seite bleibt Kuss auch skeptisch gegenüber Vermutungen, hier oder da könnten sekundär kurze Glossen in den Text eingedrungen sein. Mit Erwägungen dieser Art, wie sie insbesondere Rudolf Bultmann angestellt hat46, setzt sich der Exeget jeweils kritisch auseinander. Lediglich zum Ende des 7. Kapitels, in dem Paulus „von dem Menschen vor Christus und ohne Christus" spricht und vom Standpunkt des Geretteten aus argumentiert47, hält Kuss es für erwägenswert48, die abschließende Bemerkung „Folglich diene ich selber 43 44 45 46 47 48

Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), 4.8. Ebd., 297. Ebd., 317. R. Bultmann, Glossen im Römerbrief (1947), in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967,278-284. Römerbrief, 2. Lieferung (s. Anm. 7), 461. Ebd. So wird z.B. die Wendung „τύπος διδαχής" nicht einer sekundären Glosse zugewiesen, sondern als ein „kurzes Taufbekenntnis" beurteilt, das die Lehre bezeichnen soll, wie sie im „in Worte und Begriffe gefaßte(n) Evangelium" enthalten ist, das als Ganzes „sittliche Antriebskraft" ist. Ebd., 390.

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also mit der Vernunft dem Gesetze Gottes, mit dem Fleische aber dem Gesetz der Sünde" könnte als „Glosse eines Lesers oder Abschreibers in den Text geraten" sein.49 In aller Regel hält sich jedoch der Ausleger an den vorgegebenen Text und sucht aus diesem zu erheben, was der Apostel den Christen in Rom habe sagen wollen. Auf einige Beispiele sei in Kürze hingewiesen, um die umsichtige Auslegung des Textes durch Kuss zu belegen und zu veranschaulichen. Zum Abschnitt 2,12-16, der von der sittlichen Verantwortung der Heiden vor Gottes Gesetz handelt, wird treffend bemerkt: „Es gibt vor und neben dem positiven, durch ausdrückliche Offenbarung Gottes gegebenen sittlichen Gesetz ein jedem Menschen eingeschriebenes sittliches Gesetz, ein natürliches Normbewußtsein, das mehr oder minder bewußt als ,göttliche', unbedingte Forderung empfunden wird."50 Daher steht „jeder Mensch" - Jude wie Heide - „unablässig vor einer sittlichen Forderung".51 Hinsichtlich der ersten Worte des 5. Kapitels bleibt Kuss bei der handschriftlich überwiegend überlieferten Fassung des Satzes „Wir wollen Frieden halten mit Gott" und versteht den Satz als eine Aufforderung, wie sie im theologischen Denken des Apostels der Gegenüberstellung des Indikativs der Heilszusage und des Imperativs der Aufforderung entspricht.52 Denn das Fundament des Heiles der Glaubenden ist das Heilswerk Jesu Christi, vor allem also sein Tod.53 Zum zweiten Teil des 5. Kapitels, über dessen Bedeutung Otto Kuss immer wieder nachgedacht hat54, führt er aus: „Von Christus her zurückblickend, erkennt Paulus, daß es für Christus in der Geschichte ... nur eine einzige adäquate Parallele gibt: das ist Adam, der erste Mensch, der Stammvater des Menschengeschlechtes. Was durch Jesus Christus geschehen ist, kann in seiner grundsätzlichen Bedeutung nur mit dem parallelisiert bzw. kontrastiert werden, was durch Adam geschehen ist."55 Zwar wird auch von Kuss die viel verhandelte Frage, ob und in welcher Hinsicht religionsgeschichtliche Vorbilder für die Gegenüberstellung von Adam und Christus gefunden werden können, gründlich bedacht. Im Ergebnis wird jedoch überaus vorsichtig geurteilt und die vorliegende Aussage des Apostels - gewiss zu Recht - als ein von ihm entworfenes Bild verstanden: „Die Zeit von Adam bis zu 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., 461. Ebd., 76. Ebd., 79. Ebd., 200. Ebd., 201f. Vgl. seine oben (S. 182 [Mitte der Seite]) genannte Breslauer Dissertation. Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), 280.

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Jesus Christus ist die Zeit der Herrschaft von Sünde und Tod ... durch Adam sind Sünde und Tod in die Welt gekommen." 56 Die Botschaft, wie der Apostel sie begreift57, kann im Gegensatz zum jüdischen Heilspartikularismus nur universal, als an alle Menschen ohne Ausnahme gerichtet verstanden werden.58 Ist das Problem - um zu diesem Punkt hinüberzuspringen - , ob der Text zu Beginn des 8. Kapitels in Ordnung ist, nach wie vor umstritten, so bleibt Kuss bei der überkommenen Fassung und nimmt nicht etwa Zuflucht zur verbreiteten Annahme, es könnte eine spätere Glosse in den Text eingedrungen sein.59 Den ersten Vers bezeichnet er treffend als „eine zusammenfassende Konklusion aus den vorangehenden Darbietungen" 60, die zugleich den neuen Gedankengang einleitet. Hinsichtlich des hymnischen Abschlusses, mit dem das inhaltsreiche 8. Kapitel beendet wird, gibt der Exeget zu bedenken, der heutige Leser müsse gewissenhaft prüfen, ob er in den Jubelruf, nichts, schlechterdings gar nichts vermöge uns zu scheiden von der Liebe Gottes in Jesus Christus unserem Herrn, guten Gewissens einstimmen könne.61 Doch auch der kritisch denkende Leser werde nicht leugnen können, dass in den Worten des Apostels „ein Bewußtsein von,Tiefe', von Hintergründen', von Rätselhaftigkeit', von logischer ,Unauflöslichkeit' dieser Welt, in welcher der Mensch zu leben gezwungen wurde, durchscheint, das auch den ,modernen', den aufgeklärten' Menschen bedrückt und für das er kaum bessere, einleuchtendere Erklärungen' anzubieten hat." 62 Denn „daß ,Gott' ,liebt', ist ein Gedanke, welchen Menschen, die sich nur einigermaßen über diese Welt ohne Selbsttäuschung ins Bild setzen, von sich aus nicht denken können; es ist ein verwegener, ein ausufernder, ein überschwenglicher Gedanke, es ist, um es einmal so auszudrücken, ein ,offenbarter' Gedanke, er ist nicht , Eigentum' des illusionsfreien Menschen, er entwickelt sich nicht allmählich, mit zunächst impliziten, schließlich expliziten universalen Tendenzen". 63 Zum kurzen Satz, Christus sei des Gesetzes „telos" (10,4), sind in der neueren Diskussion verschiedene Erwägungen angestellt worden, um die scharfe Entschiedenheit dieser Bemerkung etwa dahin abzuschwächen, Christus sei des Gesetzes Ziel, so dass die Geschichte des 56 57 58 59 60 61 62 63

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd.,

284. 284. 2. Lieferung (s. Anm. 7), 489. 3. Lieferung (s. Anm. 7), 658. 659.

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alten Bundes zum von Gott gesetzten Ziel gebracht werde.64 Nachdem jedoch die verschiedenen Versuche abmildernder Wiedergabe genau referiert und bedacht worden sind, bleibt der Ausleger mit guten Gründen bei der entschiedenen Feststellung stehen und sagt abschließend: „Der alles verändernde neue Anfang, der durch Jesus Christus und mit ihm gegeben ist, bedeutet das Ende und zugleich die Erfüllung alles dessen, was bisher als der gültige Heilsweg angesehen wurde." Halte doch der Apostel an der Überzeugung fest, dass der in Christus eröffnete Heilsweg einen jeden, „welcher an die Gültigkeit und Wirksamkeit des von Gott durch Jesus Christus Gewirkten glaubt, und zwar jeden Glaubenden ohne Ausnahme, also Juden wie Heiden unterschiedslos, zur Gerechtigkeit führt, die nichts anderes bedeutet als Vollendung, Erfüllung, ,Heil im umfassendsten Sinne". 65 Spürt der Leser im Studium des Kommentars zu den ersten acht Kapiteln des Römerbriefs, dass der Ausleger keine Schwierigkeiten hat oder sieht, dem Gedankengang des Apostels zustimmend zu folgen, so ändert sich das Bild zu Beginn der Erklärung des großen Abschnitts Römer 9-11. Es ist, als lägen dunkle Schatten über diesem Teil des Briefs, den der Exeget als Appendix meint beurteilen zu sollen. Paulus denkt und schreibt als Jude, der um das Geschick seines Volkes Israel zutiefst beunruhigt ist. „Die Frage nach Israels Stellung im Heilsplan Gottes" - so wird einleitend treffend bemerkt - , „nach der Rolle des sich versagenden Israel vor allem, war für Paulus und für das früheste Christentum überhaupt ein theologisches Problem ersten Ranges." 66 Paulus sucht Antworten zu finden, indem er mehrmals neu ansetzt. Die Gedankenführung dieser drei Kapitel erreicht dann ihren Höhepunkt in den abschließenden Sätzen des 11. Kapitels: „Ganz Israel wird gerettet werden" (11,26). Der Ausleger hat immer wieder - das bleibt dem Leser nicht verborgen - erhebliche Mühe, sich mit der Gedankenführung des Apostels zusammenzufinden. Paulus schreibt als antiker Mensch, als Jude, der die Denkvoraussetzungen der alten Welt teilt. Doch diese sind von den unseren so weit entfernt, dass es immer schwerer erscheint, aus dem großen Abstand der Zeit zur Vergegenwärtigung der paulinischen Aussagen zu gelangen. Kuss hält sich an vielen Stellen an eine nach wie vor wichtige und hilfreiche Studie seines Lehrers Friedrich Wilhelm Maier: Israel in der Heilsgeschichte nach Rom 9-11, Münster 1929. Zu vielen Stellen, die dem Ausleger nicht leicht zu lösende Probleme auf-

64 65 66

Ebd., 751. Ebd., 753. Ebd., 665.

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geben, zitiert er in kürzeren oder auch längeren Stücken, was sein Lehrer einst ausgeführt hat - als wollte er sich auf dessen Autorität stützen. Welche Schwierigkeiten des Verstehens sich für ihn ergeben, spricht Otto Kuss in aller Offenheit aus: Während der Apostel fast durchgehend nicht von den Juden67, sondern von Israel als dem Volk des ungekündigten Bundes spricht, legt Kuss den Ton nicht auf diese Charakterisierung, sondern handelt weithin eben von den Juden und dem jüdischen Volk. Ja, das Alte Testament wird immer wieder nicht als Bestandteil der heiligen Schriften der Christenheit, sondern als „Schriften der Juden" benannt.68 Und der Gott, der in den Worten eben dieser Schriften spricht, wird immer wieder als „Gott-Jahwe" bezeichnet - als handle es sich um einen anderen, uns fremden Gott. Was für eigentümlich erscheinende Gedanken - so spricht der Ausleger erschrocken aus - entfaltet der Apostel in diesen drei Kapiteln. „Phantastische Thesen" stellt er auf.69 Was der Apostel über die göttliche Erwählung sagt, muss für „einen unabhängigen Betrachter, welchem die ideologischen Voraussetzungen solchen Denkens fremd sind und bleiben", in vieler Hinsicht als „abstruse, ja abenteuerliche Vorstellungen" erscheinen, „welche hier die Grundlinien einer ,Heilsgeschichte' bestimmen". 70 Absonderliche Vorstellungen, die überdies durch eine uns fremd anmutende Art gestützt werden, alttestamentliche Texte zu verwenden. „Das kann" - seufzt der Verfasser - „für einen heutigen Ausleger freilich kein Motiv sein, sich nicht - aus Gründen schlichter Redlichkeit und intellektueller Fairness - gegen eine solche willkürliche und - mit unseren Maßstäben gemessen - pseudofromme Art von ,Exegese' deutlich abzusetzen." 71 Hatte Otto Kuss sich vorgenommen herauszuarbeiten, was Paulus den Christen in Rom hat sagen wollen, so lässt er ihn beim Studium der Kap. 9-11 des Öfteren nicht ausreden, sondern fällt ihm immer wieder ins Wort - als müsste man den Apostel bedauern, dass er von einer historisch-kritischen Methode der Schriftauslegung noch nichts gewusst hat. Der Exeget schüttelt immer wieder über eine „absonderliche Vorstellung des Paulus" 72 den Kopf und richtet sein Nachdenken am Ende nicht auf die Frage nach dem Geschick Israels, sondern in einem 67

68

69 70 71 72

Nur Rom 9,24 und 10,12 verwendet Paulus in den Kapiteln 9-11 die geläufige Wendung „Juden und Heiden", bzw. „Juden und Griechen", um die ganze Menschheit zu bezeichnen. Sonst spricht er immer von Israel als dem erwählten Volk Gottes. So im Vorwort zur 3. Lieferung, IX-XI, in dem von der schwierigen Frage gehandelt wird, wieweit das Alte Testament als heilige Schrift der Christenheit zu gelten vermag; ferner 672.700 u.ö. Ebd., 800. Ebd., 806. Ebd., 816. Ebd., 818.

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langen, überlangen Exkurs von mehr als 100 Seiten auf „Die Problematik um die ,Prädistination'". 73 Der aufmerksame Leser aber fragt sich am Ende, ob die Interpretation der Kap. 9-11, die dem Ausleger einen so hohen Krafteinsatz abgefordert hat, ihn entmutigt haben könnte, mit der Auslegung des Römerbriefes fortzufahren, so dass der große Kommentar mit dem Ende von Kap. 11 unvollendet abbricht.

III. Die Exkurse des Kommentars In einem dritten Teil unserer Überlegungen seien die vielen Exkurse gewürdigt, die Kuss seiner fortlaufenden Erklärung des Römerbriefs beigegeben hat. Zu Recht hat er ausgeführt, der Römerbrief sei - im Unterschied zu den anderen paulinischen Gemeindebriefen - nicht durch Fragen aus der Gemeinde oder in ihr aufgetretene Probleme veranlasst, sondern stelle sich „wie eine grundsätzliche Besinnung des Paulus auf die theologische Thematik" dar, „die ihn immer und überall beschäftigte". 74 Insofern können die vielen Exkurse, mit denen Kuss die grundsätzlichen Ausführungen des Römerbriefes erläutert, geradezu als Beiträge zu einer Theologie des Apostels Paulus überhaupt studiert und gewertet werden. Ausführungen über „Tod und Auferweckung Christi", „Die Gerechtigkeit Gottes", „den Glauben", die Begriffe „Fleisch" und „Geist" und etliche andere Exkurse handeln von den zentralen Inhalten paulinischer Theologie. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, aus den inhaltsreichen Exkursen eine Theologie des Paulus zusammenzufügen. Mit wenigen Hinweisen seien einige bezeichnende Punkte aus den Exkursen hervorgehoben. Zur „Gotteserkenntnis der Heiden" wird ausgeführt, im hellenistischen Judentum werde die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis gesehen und Paulus wurzele mit seiner Argumentation in Rom 1 „in dem Denken des hellenistischen Judentums". 75 Doch Paulus unterscheidet sich von Gedankengängen, wie sie sich im hellenistischen Judentum finden, dadurch, dass er „mit besonderer Strenge die Schuld der Heiden herausarbeitet".76 Zu Rom 5 beschäftigt sich Kuss eingehend mit dem Problem der Lehre von der Erbsünde und charakterisiert die paulinischen Aussagen in ihrer grundlegenden Bedeutung mit folgenden Worten: „Von Jesus Christus her begreift Paulus auf der Basis atl Erkenntnisse die den 73 74 75 76

Ebd., 828-935. Paulus (s. Anm. 6), 202f. Römerbrief, 1. Lieferung (s. Anm. 7), 44. Ebd.

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Menschen in seinen Fundamenten bestimmenden und bewegenden Wirklichkeiten Tod und Sünde, aber Tod und Sünde von Jesus Christus her begreifen heißt zuletzt: glauben, daß sie nunmehr dem von Gott geschenkten Leben und der von Gott geschenkten Gerechtigkeit gegenüber nicht mehr ernsthaft in Betracht kommen." 77 Zu Rom 6 werden Erwägungen der älteren religionsgeschichtlichen Schule aufgenommen und wird mit Zustimmung die These angeführt, die Wilhelm Heitmüller einst in den Satz gefasst hatte, die Taufe wirke „ex opere operato" (im eigentlich katholischen Sinne).78 Und hinsichtlich des mehrfach verhandelten Problems, wie sich die paulinischen Aussagen über die Taufe zu antiken Mysterienreligionen verhalten, wird bemerkt, Paulus habe die Evangeliumsbotschaft mit Ausdrucksmitteln seiner Zeit ausgesagt. Das aber bedeutet: „Die Mysterienkulte ... konnten dem Apostel für die Konzipierung seiner Sakramentstheologie von großem Nutzen sein, einmal, indem sie als Ausdruck der Zeit und bestimmter tiefer religiöser Sehnsüchte der Zeit einen Anknüpfungspunkt boten, um dem Glaubenden klarzumachen, daß er in dem von Gott durch Jesus Christus geschenkten Heil eine wirkliche und gültige Antwort auf eben diese seine Frage erhalten habe, und zweitens, indem dieses besondere Verständnis des Sakraments zugleich - in einem gewissen Grade - zu einer weiteren Erhellung dessen führen konnte, was durch Jesus Christus geschenkt war." 79 Im Exkurs über „Heilsbesitz und Bewährung" wird zum Verhältnis indikativischer Aussagen zu Imperativischen Aufforderungen festgestellt: „Es ist klar, daß die indikativischen Heilszusagen unbedingt den Primat haben." 80 Dieses aber bedeutet mitnichten, dass eine Geringachtung der Ethik vorliege; vielmehr fordert der Indikativ der Heilszusage unbedingt den „Imperativ der sittlichen Verwirklichung".81 Zum Gedankengang, den der Apostel über die Gefangenschaft des „Ich" unter die Zwangsherrschaft von Sünde und Gesetz entfaltet, wird die facettenreiche Geschichte der Auslegung genau dargestellt und am Ende bemerkt: der Apostel schildere „aus jüdischem Blickwinkel", „was früher oder später auf irgendeine Weise jeder Mensch wahrnimmt: daß er in sich selbst zerrissen, zwiespältig ist" ... Erst der „durch Jesus Christus Gerettete" aber könne das Unheil ganz erkennen, „von dem er befreit wurde". 82

77 78 79 80 81 82

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

274(. 2. Lieferung (s. Anm. 7), 331f. 375. 410. 397. 484.

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Die bis heute umstrittene Frage, wie im Vers Rom 9,5 die Doxologie zur Christologie in rechte Beziehung zu setzen sei, hat Otto Kuss in einer sorgsam abwägenden Studie bedacht, die er zur Festschrift beisteuerte, die Ernst Käsemann zu seinem 70. Geburtstag dargebracht wurde.83 Diese Untersuchung führt zu dem Ergebnis, der Lobspruch stehe auf jüdischem Grund und es liege daher nahe, „eine Danksagung an den spendenden Gott anzunehmen".84 Hätte man erwarten mögen, der kurze Exkurs, der im Regensburger Neuen Testament zum urchristlichen Bekenntnis „Kyrios Jesus" dargeboten wurde, würde im Kommentar zum Römerbrief ausführlicher gestaltet und hinsichtlich seiner religionsgeschichtlichen Implikationen genauer betrachtet werden, so bleibt dieser Platz leer.85 Möglicherweise hatten die vielen bedrängenden Probleme den Exegeten an die Grenze seiner Kraft kommen lassen, so dass er sich diesem Fragenkomplex nicht mehr zuwenden mochte. Zu einer kleinen Monographie ist der letzte ausführliche Exkurs angewachsen, der der Problematik der „Prädestination" gilt. Nicht nur dem Exegeten, sondern gewiss auch dem systematischen Theologen wird die sorgfältig erstellte umfangreiche Materialsammlung hochwillkommen sein, bringt sie doch eine Fülle wörtlicher Zitate aus der Theologiegeschichte bis hinein in die jüngste Vergangenheit.86 In diesem Zusammenhang werden auch die Beiträge reformatorischer Theologie eingehend gewürdigt und in die Urteilsbildung einbezogen.87 Es versteht sich, dass im großen Chor der zu Gehör gebrachten Stimmen überaus unterschiedliche Positionen vertreten werden, die sich nicht auf klare Ergebnisse zusammenbringen lassen. Jeder Theologe - so heißt es am Schluss - müsse sich bemühen, zu diesem Problembündel „einen eigenen, vielleicht neuen Weg" zu suchen. Denn „die" Lösung, „welche stets, überall und jedem einsichtig zu machen wäre, gibt es nicht, und es wird sie niemals geben".88

IV. Wissenschaftliche Exegese und kirchliche Lehre Mit wachsender Eindringlichkeit bedenkt Otto Kuss in seiner fortlaufenden Exegese des Römerbriefs die gewichtige Frage, in welchem 83 84 85 86 87 88

O. Kuss, Zu Römer 9,5, in: J. Friedrich/W. Pöhlmann/P. Stuhlmacher (Hg.), Rechtfertigung. FS Ernst Käsemann, Tübingen/Göttingen 1976, 291-303. Römerbrief, 3. Lieferung (s. Anm. 7), 696. Ebd., 761. Ebd., 828-935. Ebd., 848-889. Ebd., 934.

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Verhältnis die exegetische Arbeit zu der dem Theologen aufgegebenen kirchlichen Verantwortung steht. Von diesem Problemkreis sei in einem letzten Teil unserer Ausführungen gehandelt. Wird doch jeder Exeget sich von dieser weit über die Grenzen dieser oder jener Kirchenzugehörigkeit hinausreichenden Problematik zutiefst berührt wissen. Was für ein eigentümliches Dokument bildet der Kanon der biblischen Schriften, unvergleichlich und einzigartig, doch zugleich vielfach sperrig sich dem fragenden Ausleger zu vorschnellem Zugriff versagend. Man mag es nachempfinden, dass gegen Ende seines großen Kommentarwerkes Otto Kuss gleichsam bekümmert bemerkt, die Bibel sei doch ein mehr als seltsames „Konglomerat von Erzeugnissen so vieler Jahrhunderte, Kulturen, Völker, Gemeinden, Schreiber und Schriftsteller".89 Wiederholt bringt Kuss seinen hohen Respekt gegenüber dem Einsatz und den gewonnenen Einsichten protestantischer Bibelwissenschaft zum Ausdruck. Doch verschweigt er nicht das ihn beunruhigende Bedenken, angesichts einer nur noch schwer zu übersehenden Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit der Meinungen könne es kaum noch möglich sein, die Schrift allein als wegweisende Orientierung für die Kirche anzusehen. Dürften doch Theologie und Kirche sich nicht von diesen oder jenen Ansichten der Exegeten abhängig machen. Vielmehr müsse man die Grenzen der auf die Exegese gerichteten Bemühungen beachten und zugestehen, „daß die begriffliche Präzisierung und Verfestigung in den verschiedenen Lehraussagen der Kirche nach ihrem Selbstverständnis nicht einfach und lediglich auf Grund exegetischer Arbeit, sondern mit Hilfe neuer und dem Historiker und Philologen als solchem nicht zugänglicher Erkermtnismittel geschieht".90 Als römisch-katholischer Theologe, der sich dem Lehramt seiner Kirche verpflichtet weiß, spricht Kuss angesichts dieser beschwerlichen Last, wie sie einem verantwortungsbewussten Exegeten auf die Schultern gelegt ist, sich dafür aus, dass das übergeordnete Lehramt der Kirche letztlich festzulegen hat, was als Inhalt kirchlicher Lehre zu gelten hat - und was nicht. In seinen ausführlichen Exkursen stellt er wiederholt die Frage, in welchem Verhältnis die von Exegeten gewonnenen Aussagen des Neuen Testaments zu Dogma und Verkündigung der Kirche stehen, und meint in seiner Münchener Antrittsvorlesung zusammenfassend sagen zu können: „Daß sachlich allein die Lehre der gegenwärtigen katholischen Kirche - auf das Wesentliche gesehen mit dem im Neuen Testament Gemeinten identisch ist, kann nach den 89 90

Ebd., 916. Ebd., 583.

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geltenden Voraussetzungen nicht in Frage gestellt werden; es ist hier von einem Erkenntnisweg die Rede."91 Die bewusst bejahte Position römisch-katholischen Verständnisses vom Lehramt der Kirche ist freilich von Kuss nicht so gemeint, als könne der Exeget die ihm obliegende theologische Verantwortung fortgeben und anderen die schwierige Aufgabe überlassen, zu prüfen und zu entscheiden. In seinen immer wieder mit bohrendem Ernst erhobenen Fragen wusste sich vielmehr Otto Kuss in hohem Maß in Pflicht genommen als Diener und Lehrer der Kirche. Konnte er sich dankbaren Sinnes darüber freuen, daß in ökumenischen Gesprächen zwischen evangelischen und katholischen Exegeten sich vielfach ein hohes Maß an übereinstimmenden Einsichten finden ließ, so bleibt er doch weiterhin von der Frage beunruhigt, ob die aus gründlichem Studium der Schrift gewonnenen Einsichten in der gegenwärtigen Verkündigung und Rede der Kirche hinlänglich Beachtung finden. Die Frage, wo die Schrift ihren ihr zustehenden eigentlichen Platz im Leben der Kirche finde, konnte er mit dem schönen Satz beantworten: „Der eigentliche Ort für die heilige Schrift ist von Anfang an die feiernde Gemeinde. Im Gottesdienst soll das Wort Gottes vorgelesen und gehört werden."92 Was dessen rechtes Verständnis angeht, so konnte er einmal formulieren, es sei Wahrheit letztlich „durch Autorität garantiert". Die einzige Autorität aber, die hier in Betracht kommt, sei „die Autorität der lehrenden, auslegenden und in Streitfällen entscheidenden - annehmenden oder verwerfenden - Kirche".93 Gleichwohl weiß Kuss diesen Feststellungen hinzuzufügen, auch dem, „der die Lehrautorität der Kirche anerkennt", werde es nicht versagt werden dürfen, „aus dem glaubenden Wissen von der späteren die Schriftaussagen in existentieller' und kirchlicher' Interpretation klärenden und präzisierenden - Entwicklung" auf die genuin paulinischen Aussagen hinzuweisen und die einen von den anderen zu unterscheiden.94 Steht doch dem Exegeten die Einsicht vor Augen: „Es leidet keinen Zweifel, daß im Laufe der Dogmengeschichte viel, sehr viel, auch zu viel festgestellt worden ist, weil viel, sehr viel, zu viel gefragt worden ist."95 Gleichwohl mag es für den katholischen Exegeten auch ein wenig tröstlich sein, wenn es heißt: „Kirchliche Glaubenserkenntnis ist nach ihrem Selbstverständnis auf die Schrift allein nicht angewiesen."96 91 92 93 94 95 96

Auslegung und Verkündigung I (s. Anm. 10), 22 Anm. 9. Auslegung und Verkündigung II (s. Anm. 12), 13. Ebd., XVIII. Römerbrief, 2. Lieferung (s. Anm. 7), 583f. Ebd., 584. Ebd., 594.

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Mit diesen Sätzen wird freilich mitnichten einer Haltung das Wort geredet, die die aufgegebene Verantwortung einfach abgeben und anderen überlassen könnte. Liest man nacheinander die gehaltvollen Vorworte zu den drei Lieferungen des Kommentars, so wird man mitempfinden, wie die bohrenden Fragen den Theologen nicht haben zur Ruhe gelangen lassen, sondern in ihm die Besorgnis wachgerufen haben, ein feinfühliger Exeget könnte am Ende zu einem Außenseiter werden. Angesichts der drückenden Fülle aufgegebener Probleme stellt Kuss in rückhaltloser Ehrlichkeit fest: „Die sowohl der Verfassung als auch der Lehre nach bisher weitgehend ,monolithisch' verstandene ,Einheit' der römisch-katholischen Kirche ist in eine Krise geraten ... In solcher Situation sieht sich ,die katholische Exegese', die nunmehr ihre eigene Tradition weitgehend verleugnen und vergessen muß, in einer gänzlich neuen Situation."97 Wie der große Kommentar von seinem Verfasser nicht zu Ende geführt werden konnte, so entlässt das Studium seiner eingehenden Interpretation den Leser mit offenen Fragen. Mehr als je zuvor aber wird die Bemühung, verlässliche Antworten zu suchen, zu finden und zu geben, nur in ökumenischer Gemeinschaft vorangebracht werden können. Bleibt es doch am Ende wahr, was Martin Luther in seiner Vorrede, die er dem Römerbrief in der Septemberbibel von 1522 vorangestellt hat, sagt und dem Leser aufgibt: dass diese Epistel das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium sei. Ein Christenmensch möge sie daher nicht allein von Wort zu Wort auswendig wissen, sondern täglich damit umgehen als dem täglichen Brot der Seele. Denn diese Epistel könne nimmer zu viel oder zu wohl gelesen oder betrachtet werden. Und je mehr sie gehandelt werde, um so köstlicher werde sie und um so besser werde sie schmecken.

97

Paulus (s. Anm. 6), 256f.

14.

Die Theologie des Apostels Paulus aufs neue betrachtet. Zu einigen jüngst vorgelegten gelehrten Abhandlungen E. Biser, Der unbekannte Paulus, Patmos-Verlag, Düsseldorf 2003, 310 Seiten; U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, W. de Gruyter, Berlin/New York 2003, 765 Seiten; C. K. Barrett, On Paul. Essays on His Life, Work and Influence in the Early Church, Τ. & Τ. Clark, London/New York 2003, 250 Seiten; S.Vollenweider, Paulus, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 6, Tübingen "2003, Sp.1035-1065; K.Haacker, The Theology of Paul's Letter to the Romans. Cambridge University Press, Cambridge 2003,183 Seiten. Das Interesse für die Theologie des Apostels Paulus läßt nicht nach und hat in verschiedenen Untersuchungen aufs neue kraftvollen Ausdruck gefunden - ein gutes Zeichen für Theologie und Kirche. Denn wo immer man sich den Briefen des Apostels der Völker zuwendet, bekommt man es mit dem Zentrum urchristlicher Verkündigung zu tun. Eugen Bieser, von 1974-1986 Inhaber des Guardini-Lehrstuhls für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie in München, hat sich zeit seines Lebens immer wieder mit dem Apostel Paulus beschäftigt. Nun hat er noch einmal zusammenfassend dargestellt, was der Apostel Paulus damals wie heute der Christenheit zu sagen hat. Den „unbekannten" Paulus möchte er so beschreiben, daß sein Wort in der Gegenwart zu Gehör kommt. Unbekannt wird er genannt, weil er entweder wenig beachtet oder aber falsch verstanden wird. Dabei kann nach Uberzeugung des Verf. sorgfältiges Studium seiner Lehre wichtige Einsichten zur Lösung gegenwärtiger Probleme erschließen. Inwiefern der Botschaft des Apostels gerade heute besondere Aktualität zukommt, wird im Lauf der Darstellung immer wieder betont. Zu Recht darf festgestellt werden: „Nach Jesus hat keine der neutestamentlichen Gestalten so stark in die Geschichte hineingewirkt wie Pau-

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lus" (S. 7f.). Der eminent dialogische Charakter seiner Lehre läßt Paulus „zum Fürsprecher der Absage an alle Repression und Gewalt, insbesondere aber des Dialogs als Prinzip der einzig menschenwürdigen Konfliktlösung werden" (S. 8). „Paulus ist, das lehrt die geschichtliche Stunde, heute wie kaum einmal zuvor ,an der Zeit'" (S. 211). Kein anderer könne der Suche nach Frieden deutlicher die Richtung weisen als er. Nichts sei dringlicher geboten „als der Versuch, den Frieden, seiner schirmenden und bewahrenden Funktion gemäß, dem öffentlichen Bewußtsein einzustiften" (S. 212). „Was zur Realisierung des Friedens verhilft, ist die Wandlung des Menschen zum Gotteskind. In ihm müssen die Wände niedergelegt und die Konflikte bezwungen werden, wenn der Friede Macht über die politischen Entscheidungen gewinnen und dadurch verhindern soll, daß diese im Sinne von Rache- und Vergeltungsaktionen getroffen werden" (S. 215). Kein anderer kann wirksamer als Paulus den Versuch befördern, „das Christentum auf seine Mitte zurückzunehmen und diese Mitte in offensiver Strategie nach außen zu kehren ... Notwendig ist ... eine kämpferische Anamnese" (S. 248f.). Die Ausführungen des Verf. sind so gestaltet, daß wörtliche Zitate aus Texten des Apostels stets deutlich hervorgehoben und dann daraufhin betrachtet werden, worin ihre Bedeutung für die Gegenwart zu finden ist. Der Verf. hat sich in der neueren Paulusforschung eingehend umgesehen und sucht ihre Einsichten für seine Darstellung fruchtbar zu machen. Kritischen Stimmen wird ebenso wie altkirchlichen Äußerungen Respekt bezeugt, so daß ein großer Chor von Zeugen versammelt wird. Dabei gelangen auch Gegner des Apostels aus Geschichte und Gegenwart zu Gehör - besonders häufig Friedrich Nietzsche. Hat gerade dieser Philosoph dem Apostel leidenschaftlich widersprochen, so will doch die Fasziniation beachtet werden, die auch für ihn von Paulus ausgegangen ist. Denn „die wachsende Animosität in Nietzsches Verhältnis zu Paulus läßt auf eine unterschwellige Affinität zu diesem schließen, die es nahelegt, den Apostel in eine gleichsinnige Konstellation zu seinen Briefen zu bringen" (S. 154). Nietzsches Satz „Flamme bin ich sicherlich" kann auch auf Paulus angewendet werden, in dem sich „unnachsichtige Strenge oft mit einer verblüffenden Großzügigkeit und Toleranz" verbindet (S. 234). Starkes persönliches Engagement zeichnet aber auch den Verf. aus, der dem Kirchenvater Chrysostomus beipflichtet, wenn dieser sagt: „So oft ich aus den Briefen des heiligen Paulus vorlesen höre ..., gerate ich in Entzücken und erglühe vor Sehnsucht. Denn es kommt mir vor, als sähe ich den im Sprechen begriffenen Apostel leibhaftig vor mir" (S. 187).

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Welche der überkommenen Briefe als authentische Texte Paulus selbst zugeschrieben werden können, erfährt der Leser erst in der Mitte des Buches, wo fast beiläufig der kritische Konsens neuerer Paulusforschung mit Zustimmung aufgenommen wird: „Nach heutigem Forschungsstand reduziert sich ... der Bestand der als authentisch geltenden Paulusbriefe auf den Ersten Thessalonicherbrief, den Galaterbrief, die beiden Korintherbriefe, den Philipperbrief, den Römerbrief und den Philemonbrief, während der Kolosser- und der Epheserbrief als Schöpfungen der Paulusschule und die Pastoralbriefe als Werke der Paulusepigonen zu gelten haben" (S. 154). Dieser nüchternen Zusammenfassung wird im Blick auf die Deuteropaulinen die treffende Beobachtung hinzugefügt, in der Entstehung der als deuteropaulinisch geltenden Briefe der Paulusschule zeige sich ein wichtiges Stück der paulinischen Wirkungsgeschichte. Vornehmlich dem Verfasser des Kolosserbriefes sei es gelungen, „sich überzeugend in die Rolle des Apostels hineinzuspielen" (S. 182). Aber auch innerhalb der authentischen Briefe finden sich nach Meinung des Verf. nichtpaulinische Vorgaben oder Zutaten. So erklärt er zu Rom 13, 1-7, dieser ihm ärgerlich erscheinende Abschnitt sei als nichtpaulinischer späterer Eintrag anzusehen (S. 218 sowie 91), und greift er zu IKor 13 die schwerlich zutreffende Meinung auf, dieser Text müsse von Paulus schon vor seiner Lebenswende bereits in seiner Jugendzeit verfaßt worden sein (S. 22). Inhaltliche Spannungen in den Ausführungen des Paulus sollen dadurch verständlich gemacht werden, daß man zwischen exoterischer und esoterischer Schicht im paulinischen Denken differenzieren möge (S. 226. 288 u.ö.). Zu unterscheiden sei „zwischen einer exoterischen, der Missionspredigt des Apostels entnommenen Schicht und einer esoterischen Tiefenschicht ..., in der anstelle der dort dominierenden rechtlichen Kategorien nur noch von der Verbundenheit der Gläubigen mit Christus die Rede ist" (S. 238). Mithilfe dieses - kaum überzeugenden - Kriteriums geht der Verf. an die Texte heran, um zwischen der eigentlichen Botschaft und uneigentlichen Rahmenelementen zu unterscheiden und sich ganz auf die Aussagen zu konzentrieren, die die in der Tiefenschicht aufzuspürende Meinung des Apostels wiedergeben. Ins Zentrum seiner Ausführungen rückt der Verf. die paulinischen Aussagen über „Christus in mir" und „Ich in Christus" (vgl. Gal 2,20). Paulus habe sich dem „von ihm Besitz ergreifende(n) Uber-Ich des Gottessohnes" unterworfen (S. 46). Diese Christusgemeinschaft aber habe er in seiner Verkündigung so aussagen wollen, daß die Hörer sich in diese Zugehörigkeit hineingenommen wissen sollten. Der Glaubensakt werde letztlich als ein mystischer Vorgang verstanden (S. 79). Denn

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der Glaube finde „seinen letzten Gewissheitsgrund in der von Christus eröffneten und erfüllten Innerlichkeit des Glaubenden" (S. 80). Mit diesem Gedanken habe Paulus eine grundlegende Erkenntnis ausgesprochen: die der Gotteskindschaft (S. 276). Christus lebe in den Seinen fort. Ist Paulus in der Damaskusstunde der Sohn Gottes offenbart worden, so ist fortan Thema seiner Verkündigung „der ihm ins Herz gesprochene Gottessohn" (S. 94). Diese Erfahrung wie auch das Zentrum der paulinischen Predigt sei daher als mystisch zu bezeichnen und zu begreifen. Auf diese Charakterisierung legt der Verf. starken Nachdruck und kommt auf dieses Verständnis der paulinischen Theologie immer wieder zurück. Dabei ist er sich freilich dessen bewußt, daß der paulinischen Mystik eine besondere, eigenständige Bedeutung eigne. Mit der Wendung „Christus in uns" schlage Paulus den Grundakkord aller christlichen Mystik an. Doch: „Im Unterschied zur außerchristlichen Verschmelzungsmystik ist das eine ausgesprochene Einwohnungsmystik, die das Subjekt des Mystikers nicht auslöscht und ,im namenlosen Meer der Gottheit' aufgehen läßt, sondern in der Dialogbeziehung mit dem überhandnehmenden Uber-Ich des Einwohnenden wahrt" (S. 99). Hält man diese wichtige Abgrenzung fest, so könnte man darüber streiten, ob der Begriff „Mystik" angemessen ist oder nicht. Der Apostel hat in der Tat in seinen Briefen höchst unterschiedliche Ausdrucksweisen aufgegriffen und dazu benutzt, seine Botschaft in mehreren Verstehenskategorien auszusagen. Dem Verf. aber ist mit der Kennzeichnung als „Mystik" keineswegs nur an der Verwendung eines bestimmten Begriffs gelegen, der im Zusammenhang des paulinischen Denkens seine unverwechselbare Prägung erfährt. Vielmehr möchte er mithilfe dieser Bestimmung sowohl das eigentliche Zentrum der paulinischen Theologie kennzeichnen wie auch die Brücke zur Gegenwart schlagen, um die aktuelle Bedeutung der paulinischen Theologie zu beschreiben. Um die Bedeutung paulinischer Mystik des näheren zu charakterisieren, greift der Verf. immer wieder auf johanneische Texte zurück, die ihm als den paulinischen Aussagen verwandt erscheinen. Ihm wäre der Gedanke sympathisch, der im vierten Evangelium wiederholt genannte Lieblingsjünger könne kein anderer als Paulus sein (S. 104-108). Doch läßt sich - wie auch dem Verf. klar ist - eine solche Verbindung nicht beweisen. Ein geistiger Zusammenhang erscheine jedoch als möglich, zumal in der johanneischen Theologie die Gegenüberstellung „Christus in uns" - „wir in Christus" verschiedentlich anzutreffen ist. Man wird jedoch sicher nicht einen direkten Zusammenhang zwischen paulinischer und johanneischer Theologie annehmen können. Deshalb

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sollte man zurückhaltend bleiben und nicht voreilig paulinische Gedanken durch johanneische Aussagen erläutern - und umgekehrt. Das mit temperamentvollem Schwung geschriebene Buch kommt weithin ohne polemische Abgrenzungen gegenüber anderen Darstellungen aus. In einem Punkt aber bedient sich der Verf. wiederholt polemischer Schärfe in Abgrenzung gegen Ansichten, die sich von der seinigen unterscheiden: nämlich dort, wo die Charakterisierung der paulinischen Theologie als Mystik in Zweifel gezogen wird (S. 10, 103 u.ö.). Ist der Verf. doch der Ansicht, nur dann, wenn Paulus als Mystiker verstanden werde, könne die wahre Bedeutung seiner Theologie recht erfaßt werden. Wenngleich der Verf. sich dessen bewußt ist, daß es keiner Interpretation jemals gelingen könne, den Apostel „ganz zum Vorschein zu bringen" (S. 11), so erklärt er doch, es sei zu einer Überlebensfrage des Christentums geworden, „daß das Motiv der Einwohnung Christi seiner Vergessenheit entrissen und wieder ins Zentrum des Glaubensbewußtseins gerückt wird" (S. 293). Um diese seine Hauptthese abzusichern, folgt der Verf. jener Minorität unter den Paulusforschern, die der Theologie der Rechtfertigung keine zentrale Bedeutung im Denken des Apostels zuzuerkennen bereit sind. Es handle sich um einen „Nebenkrater" der paulinischen Heilsbotschaft, eine Position, die für Paulus lediglich dazu diene, Irrlehre abzuwehren. Aus streitbaren Auseinandersetzungen sei einst die paulinische Theologie der Rechtfertigung entstanden. Gehören jedoch diese Auseinandersetzungen inzwischen längst der Vergangenheit an, so verliere auch die Rechtfertigungslehre ihre Bedeutung. In seiner Darstellung streift der Verf. nur gelegentlich das Thema der Rechtfertigung. Die einschlägigen paulinischen Texte werden nur spärlich und mit bezeichnenden Auslassungen zitiert. So wird zwar auf Phil 3 Bezug genommen, aber mit auffallenden Auslassungen der die Rechtfertigung betreffenden Hinweise (S. 39, 49 u.ö.). Seine Theologie, die die Gedankenführung in allen Briefen leitet, hat der Apostel am deutlichsten im Römerbrief dargelegt und entfaltet. In diesem gewichtigen Schreiben formuliert Paulus mit besonderer Sorgfalt seine Rechenschaft vom Evangelium. Das Evangelium als gemeinchristliche Botschaft aber wird als Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes begriffen, die in Christi Tod und Auferstehung gründet und als frohe Botschaft den Glaubenden zugesprochen wird. Dieses Thema, das die gesamte Gedankenfolge des Römerbriefes bestimmt, wird in den einzelnen Abschnitten des Schreibens immer wieder aufgenommen und entfaltet. Wenn der Verf. dagegen behauptet, Relikte, die sich in den paulinischen Briefen aus dem Kampf mit judaistischen Gegnern finden, müßten bei einer kritischen Paulusinterpretation abgeworfen

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werden (S. 298), so läuft diese Aufforderung darauf hinaus, auch auf die Rechtfertigungslehre als ein Stück veralteter und nicht mehr für die Gegenwart relevanter Theologie zu verzichten (ebd.). Wer den unbekannten Paulus der Vergessenheit entreißen und seine allen Christen zugewandte Verkündigung für die Gegenwart erheben will, kann und darf die Theologie der Rechtfertigung nicht so gering schätzen, wie der Verf. es meint tun zu können. Zwar folgt der Leser gern der Aufforderung, den unbekannten Paulus zu studieren und seine Lehre aus verbreiteter Vernachlässigung herauszuholen. Die Lektüre dieses schwungvoll geschriebenen Buches lädt jedoch nicht nur zu gründlichem Studium, sondern insbesondere auch zu kritischer Auseinandersetzung ein. Ein stattliches und gründlich gearbeitetes Lehrbuch über Leben und Denken des Apostels Paulus wird dem in Halle lehrenden Professor für Neues Testament Udo Schnelle verdankt. Mit großer Sorgfalt wird die ganze Breite gegenwärtiger Forschung nicht nur verzeichnet, sondern auch zur Darstellung gebracht und kritisch aufgearbeitet. Der Leser wird dabei auf das beste über die Fülle neuerer Diskussionsbeiträge unterrichtet und darüber ins Bild gesetzt, wo der Verf. besondere Schwerpunkte setzen möchte. Der erste, umfangreiche Teil des Buches (S. 27-431) handelt vom Lebensgang des Apostels und beschreibt jeweils die besonderen Entstehungsverhältnisse der einzelnen Briefe. Dabei wird zunächst mit durchweg überzeugenden Begründungen festgehalten, was weithin als Konsens der neueren Forschung gelten kann. Paulus hat als Bürger von Tarsus römisches Bürgerrecht besessen (S. 44-47). Er hat das Gewerbe eines Zeltmachers erlernt (S. 47), vor allem aber eine gründliche Ausbildung als jüdischer Schriftgelehrter erfahren (S. 49-71). Er stammte aus städtischer Mittelschicht in der jüdischen Diaspora (S. 48). Das theologische Denken des Paulus „wurzelt in Grundüberzeugungen des hellenistischen Judentums seiner Zeit" (S. 56). Seine Bibel war daher die griechische Übersetzung der Septuaginta (S. 100-104). Als Jude war er ein Eiferer um das Gesetz und verfolgte daher das frühe Christentum. Doch als er vor Damaskus die entscheidende Wende seines Lebens erfuhr, gewann er die bestimmende Einsicht: „Jesus starb nicht als ein am Holz Verfluchter, sondern er gehört auf die Seite Gottes, er ist Gottes Repräsentant, dauernder Träger der Herrlichkeit Gottes."(S. 92) Die Theologie des Kreuzes stellt daher für sein gesamtes Wirken die zentrale Mitte dar, so daß „Paulus den einstigen Anstoß zu einem Zentrum seiner Verkündigung machte" (S. 74). Damit aber wurde Paulus „der maßgebliche Exponent der Herausbildung des frühen Christentums als

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eigenständige Bewegung" (S. 174). Ihm „kommt das Verdienst zu, innerhalb der spannungsreichen Geschichte des frühen Christentums die wegweisende theologische Interpretation des Christusgeschehens vorgelegt zu haben" (S. 174f. Anm. 125). Mit Recht geht der Verf. von der Einsicht aus, eine Darstellung des paulinisehen Lebens und Denkens müsse „chronologisch aufgebaut sein" (S.18). Nachdem er nach Erörterung der verschiedenen Gesichtspunkte, die für die Herstellung eines zeitlichen Rahmens beachtet werden wollen, „die Chronologie des paulinisehen Wirkens" erhoben hat (S. 40), wendet er sich dann der Darstellung der verschiedenen Abschnitte in Leben und Wirken des Paulus zu und bestimmt jeweils Ort und Zeit, in denen die als authentisch geltenden Apostelbriefe abgefaßt worden sind. An die erste Stelle wird mit überzeugenden Gründen der IThessalonicherbrief gerückt und als Zeugnis sog. frühpaulinischer Theologie gewertet (S. 200). Da in seinem Zentrum „Gottes rettendes Handeln steht", bildet er „die Basis aller Paulusbriefe" (ebd.). Es folgt die Besprechung der beiden Korintherbriefe, die jeweils als Einheit beurteilt werden (S. 262). Leben und Botschaft des Paulus erscheinen „als Exponent der Kreuzestheologie" (S. 283), wobei Paulus seine Theologie vollständig entfalten kann, ohne auf die Thematik der Gerechtigkeit Gottes zurückzugreifen (S. 353). Lediglich IKor 15,56 blitzt in einer sentenzartigen Zwischenbemerkung schlaglichtartig auf, „was im Römerbrief explizit behandelt wird: das Verhältnis Sünde - Gesetz/Tora Tod" (S. 247). Erst im Galaterbrief entfaltet der Apostel seine Theologie der Rechtfertigung. Um diese Thematik chronologisch einordnen zu können, setzt der Verf. die Entstehung des Galaterbriefes erst nach den Korintherbriefen an (S. 294) und wertet seinen Inhalt als Reaktion des Apostels auf die galatische Krise. In polemischer Auseinandersetzung mit Lehrern des Gesetzes entwickelt Paulus - nach Meinung des Verf. erst hier - seine Lehre von der Rechtfertigung. Diese trägt daher polemischen Charakter. Obwohl der Verf. die Situationsbedingtheit der Rechtfertigungslehre aufzeigen möchte, erkennt er an, sie sei „nicht ohne Voraussetzungen innerhalb der paulinisehen Theologie" (S. 328). Diese werden vornehmlich innerhalb der Aufnahme urchristlicher Taufüberlieferungen durch den Apostel gesehen (ebd.). Doch während Paulus von Anfang an die hohe Bedeutung der Taufe für die Partizipation am Christusgeschehen hervorhebt, habe er zum ersten Mal Gal 2,16 seine Lehre von der Rechtfertigung formuliert (S. 301). Die Abfassung des Galaterbriefes wird zeitlich und sachlich in die Nähe des Römerbriefes gerückt (S. 294 u.ö), wobei freilich die unterschiedliche Situation ihrer Entstehung

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beachtet werden müsse: polemische Auseinandersetzung im Galaterbrief, im Römerbrief hingegen lehrhafte Entfaltung. Der Philipperbrief, in dem gleichfalls die Lehre von der Rechtfertigung einen gewichtigen Platz einnimmt, wird zeitlich erst nach dem Römerbrief angesetzt und seine Entstehung in der Zeit der römischen Gefangenschaft angenommenes. 408) Diese Entscheidungen, die hinsichtlich der Abfassung der paulinischen Briefe getroffen werden, haben zur Folge, daß die drei Briefe, in denen vor allem die Rechtfertigungslehre ausgeführt wird, allesamt relativ spät und in kurzer Abfolge entstanden sein sollen. Zwar wird nicht in Zweifel gezogen, daß in allen Briefen des Apostels die Christologie und die Theologie des Kreuzes die Mitte seines Denkens und seiner Lehre bilden (S. 283). Aber die Theologie der Rechtfertigung könne nicht als deren Zentrum beurteilt werden. Die Datierung der verschiedenen Briefe hat - wie deutlich zu erkennen ist - zugleich erhebliche theologische Implikationen. Ohne die Bedeutung der Rechtfertigungslehre abwerten zu wollen, wird sie doch vom Verf. ins zweite Glied gerückt. Im Vordergrund aber steht nach seiner Ansicht die Partizipation der Glaubenden am grundlegenden Christusgeschehen (S. 464 u.ö.). Diese Teilhabe wird in erster Linie durch die Taufe empfangen, aber auch im Zuspruch des Evangeliums erfahren. Die Taufe ist „der grundlegende Statuswechsel der Christen vom Bereich der Sünde in den Bereich der Gerechtigkeit" (S. 529). An dieses Verständnis der Taufe konnte dann später auch die Lehre von der Rechtfertigung angeschlossen werden, so daß für den „späten" Paulus Taufe und Rechtfertigung eng aufeinander bezogen sind. Für diese Einordnung der Rechtfertigungslehre in die gesamte Wirksamkeit des Apostels macht der Verf. geltend, daß sich bestimmte „Wandlungen" im Lauf seiner Wirksamkeit eingestellt haben - so ζ. B. in der Eschatologie, da Paulus zunächst erwartet hatte, die Parusie werde noch zu seinen Lebzeiten eintreten, später aber damit rechnete, er werde vorher sterben. Gleichwohl hält der Apostel unverändert an der Naherwartung fest, denn „der Herr ist nahe" (Phil 4,5). Deutlicher sind voneinander die Aussagen über Israel und die Juden unterschieden, die im IThessalonicherbrief eine scharfe Polemik enthalten (IThess 2,14-16). Im Römerbrief aber wird ungeachtet des Hinweises auf schuldhaftes Versagen Israels der Hoffnung Ausdruck gegeben, am Ende werde ganz Israel gerettet werden (Rom 9-11; 11,26). Dabei will auch hier die höchst unterschiedliche Situation beachtet sein, aus der und in die hinein der Apostel spricht: im IThessalonicherbrief in polemischer Auseinandersetzung, im Römerbrief aber unter der grundsätzlichen Perspektive, daß auch das Geschick Israels im Licht des Evangeliums zu begreifen ist.

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Ob man im Blick auf den relativ kurzen Zeitraum von etwa sechs bis sieben Jahren, in den vom IThessalonicherbrief bis zum Römerbrief die uns erhaltene paulinische Korrespondenz einzuordnen ist, von so tiefgreifenden Wandlungen sprechen kann, daß eine frühe Phase paulinischer Theologie von einer späteren deutlich abgehoben werden kann, bleibe dahingestellt. Auch der Verf. hält mit guten Gründen daran fest, die Theologie des Apostels als ein Ganzes darzustellen, das von der Christologie als seiner Mitte her aufzuschließen ist. Die Nachordnung der Rechtfertigungslehre hinter die schlechthin bestimmende Partizipation hat nicht geringe Konsequenzen. Den Begriff der Mystik, wie ihn einst Albert Schweitzer verwendet hat, läßt der Verf. stehen, bemerkt jedoch mit vollem Recht, daß dieser Begriff nicht mißverstanden werden darf: Die mystisch klingenden Formulierungen „zielen nicht auf eine Aufhebung des Subjekts des Glaubenden, es findet auch kein Subjektwechsel statt, sondern das Subjekt wird durch den Geist zu seinem Selbst geführt" (S. 310). Was aber den Rang der Lehre von der Rechtfertigung betrifft, so pflichtet der Verf. dem Urteil Albert Schweitzers bei, in ihr handle es sich um eine Kampfeslehre, wie sie in der Auseinandersetzung um die Bedeutung des Gesetzes ausgebildet worden sei. Die Lehre von der Rechtfertigung sei „ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet" (S. 536). Doch im Unterschied zu Schweitzer und Wrede setzt der Verf. die Bedeutung der Rechtfertigungslehre entschieden höher an: „Innerhalb der paulinischen Sinnbildung formuliert die Rechtfertigungslehre bis heute geltende fundamentale Erkenntnisse. Ihr Ausgangspunkt ist die Einsicht in den Geschenkcharakter allen Seins" (ebd.). Gesteht der Verf. zu, daß die Lehre von der Rechtfertigung auf deutliche Voraussetzungen gegründet ist, wie sie - auch ohne die spezifische Terminologie der Gerechtigkeit u.s.w. - bereits im IThessalonicherbrief und dann in der Kreuzestheologie der Korintherbriefe ausgesprochen sind, so dürfte es möglich sein, die zunächst recht unterschiedlich erscheinenden Positionen der jeweiligen Beurteilung einander anzunähern. Denn mit Nachdruck wird die fundamentale Einsicht betont: „Nicht das Tun definiert das Menschsein, sondern allein das Verhältnis zu Gott" (S. 537). Diese fundamentale Einsicht kann in der paulinischen Theologie in unterschiedlicher Terminologie dargelegt und dann auch in polemischen Auseinandersetzungen scharf artikuliert werden. Sie hält sich aber von Anfang bis zum Ende des Corpus Paulinum durch und wird von der Mitte her entfaltet, wie sie mit der Christologie als bestimmender Auslegung des gemeinchristlichen Evangeliums begründet und ausgeführt wird.

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Die kritischen Rückfragen, wie sie hier im Blick auf die Beurteilung der Rechtfertigungslehre ausgesprochen wurden, zeigen beispielhaft, wie fruchtbar das Gespräch mit dem Verf. ist. Das gilt nicht minder für andere Themen der paulinischen Theologie, die stets sachkundig und mit besonnenem Urteil abgehandelt werden. Wer Schritt für Schritt die mehr als 700 Seiten dieses Lehrbuchs durcharbeitet, wird stets zuverlässig informiert und zu eigener Urteilsbildung instand gesetzt. Sowohl die Disziplin der sog. Einleitung in das Neue Testament wie auch die einer Theologie des Paulus im Rahmen einer Theologie des Neuen Testaments werden umfassend bedacht. Wer immer sich künftig mit Leben und Werk des Apostels Paulus beschäftigen will, wird stets das ansehnliche Lehrbuch aus der Feder von Udo Schnelle zu Rate ziehen und aus seinem Studium gut dokumentierte Unterrichtung empfangen. Bei einem erfahrenen Meister geht in die Schule, wer den jüngst erschienenen Band „On Paul" des emeritierten Professors für Neues Testament in Durham/U.K. aufschlägt. Als reife Frucht eines langen Gelehrtenlebens legt C. K. Barrett „Essays on His Life, Work and Influence in the Early Church" vor. Die darin versammelten Studien sind größtenteils zuvor an anderen, meist entlegenen Stellen erschienen. Jeder Exeget der paulinischen Briefe wird dankbar sein, diese überaus anregenden Abhandlungen nun in dieser ansprechenden Sammlung beieinander zu haben. Die verschiedenen Aufsätze sind zu zwei Abteilungen zusammengefaßt, die einerseits den „Foundations", andererseits den „Developments" gelten. Im ersten Teil werden verschiedene Fragen bedacht, die der Wirksamkeit des Apostels gelten, wie sie in seinen Briefen als authentischen Quellen dargestellt ist - von Bekehrung und Berufung des Paulus bis zu seinem Ende in Rom. Im zweiten Teil aber wird des näheren ausgeführt, wie sich in der nachpaulinischen Zeit das Bild des Apostels der Völker darstellt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie in den Jahren zwischen 70-100 n. Chr., über die uns nur relativ spärliche Nachrichten überkommen sind, über Paulus gedacht und geurteilt wurde. Mit sicherer Hand zeichnet der Verf. die verschiedenen Motive und Gedankenlinien nach, die sich den paulinischen Briefen und der nachpaulinischen Literatur entnehmen lassen. Dabei bleibt der Verf. jeweils eng am Duktus der Texte selbst, weicht nicht in Mutmaßungen oder hypothetische Erwägungen aus, sondern weiß in umsichtiger Beachtung der Texte und ihrer Aussagen den Gang seiner Gedanken in flüssiger Darstellung zu entfalten, die nicht durch einen großen Anmerkungsapparat belastet wird. Auf diese Weise versteht er es, den Leser

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zum Mitdenken einzuladen und in die vorgetragenen Überlegungen einzubeziehen. In wohltuender Besonnenheit wahrt der Verf. in stets vornehm dargelegter Kritik gegenüber modischen Trends mancher neuerer Studien Distanz. Wird bisweilen die Behauptung vertreten, der Apostel sei mehr ein auf praktisches Handeln bedachter Missionar als ein konsequent denkender Theologe gewesen, so wird hier mit aller Klarheit festgestellt: Der Satz „Paul was not a theologian; he was a missionary" sei in keiner Weise begründet - „because there is no Christian theology that is not, in the broadest sense, kerygmatic theology; and it is wrong as a matter of fact, because the historical Paul wrote as a theologian and worked as a missionary" (S. 55). Das Evangelium, das Paulus zu verkündigen hatte, war zugleich Botschaft und Theologie: „a theological message and a kerygmatic theology" (S. 61). Nur wenn die untrennbare Einheit von Theologie und Mission im Blick gehalten wird, wird das Denken des Apostels richtig verstanden. Beide Bereiche, denen der Apostel zu dienen hatte, bestimmen die Gedankenführung in seinen Briefen. Denn: „Paul is both: it is hardly possible to read a page of his letters without recognizing him in both roles. As missionary he had a message that was a theology, as theologian, a theology that demanded to be communicated" (S. 72). Von dieser klar bezeichneten Position aus wird die innere Geschlossenheit der paulinischen Theologie entfaltet. Dabei gebührt dem reformatorischen Verständnis der Rechtfertigung „allein aus Gnade"/„allein aus Glauben" zentrale Bedeutung. Gegen mancherlei Kritik, die neuerdings in verschiedenen angelsächsischen Publikationen an Luthers Paulusverständnis geübt wird, wird in überzeugender Weise die Frage erörtert: „Did Luther understand or misunderstand Paul?" (S. 228) Obwohl Paulus und Luther in ganz unterschiedlichen Verhältnissen lebten und dachten, sind die von ihnen dargelegten Auffassungen von Gottes gnädiger Barmherzigkeit ganz nah beieinander (S. 239f.). Für Luther wie für Paulus gilt: „The doctrine and the mission ran side by side, each supporting and deepening the other" (S. 240). Bei voller Beachtung der unterschiedlichen Voraussetzungen, die vom jeweiligen Lebensweg bestimmt sind, gilt für den einen wie für den anderen: „Justification by faith is a basic principle of God's dealing with his creatures" (S. 240). Will man die scharfen Konturen der paulinischen Theologie erfassen, so bietet es sich an, jeweils auf die Auseinandersetzungen zu achten, die Paulus mit Kritikern und Gegnern seines Denkens durchzustehen hatte. Mit den Autoritäten in Jerusalem war der Apostel darin einig, daß das Evangelium die Botschaft von Kreuz und Auferstehung

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Jesu Christi zum Inhalt hat (S. 81). Doch mußte Bestrebungen entschieden widersprochen werden, die von Heiden, die zur christlichen Gemeinde kamen, verlangen wollten, sie müßten zunächst Juden werden, um dann Christen werden zu können. Der drohenden Gefahr, daß die werdende Christenheit in zwei voneinander getrennte Kirchen hätte zerfallen können - hie Judenchristen, dort Heidenchristen - trat Paulus mit Entschiedenheit entgegen. Wäre es nicht gelungen, die Einheit der Kirche zu bewahren, wäre nach Überzeugung des Apostels alles Mühen umsonst gewesen.(S. 11 u.ö.) Einem Kompromiß, wie ihn das sog. Aposteldekret darstellt (Act. 15, 27-29), hätte Paulus schwerlich zugestimmt. In der Gegenüberstellung der beiden Berichte von Gal 2 und Act. 15 zeigt sich deutlich, daß der Bericht des Paulus für den Historiker die Primärquelle darstellt. Act. 15 hingegen wird rund eine Generation später abgefaßt worden sein und ist durch einen Verfasser niedergeschrieben, der mit durchaus erkennbarer Sympathie von Paulus spricht, dessen Darstellung aber als Reflex der Nachwirkung des Apostels zu beurteilen ist. Gerade wenn man den Quellenwert einerseits der Apostelgeschichte, andererseits der paulinischen Briefe abschätzen will, bietet sich als Kriterium die Frage an, wie das Verhältnis des Paulus zu den Jerusalemer Autoritäten zu beurteilen ist. Dieser Frage ist der ausführliche Essay gewidmet, der als „Introduction" den folgenden Einzelstudien vorangestellt ist: „Paul and Jerusalem" (S. 1-26) - eine ungemein lehrreiche Abhandlung, die zugleich einen Schlüssel zum Verständnis aller folgenden Einzelstudien enthält. Die Apostelgeschichte einerseits und die Briefe des Apostels andererseits entwerfen zwei voneinander unterschiedene und zu unterscheidende Bilder. Vergleicht man sie miteinander, so ist es nicht angebracht, vorschnelle Harmonisierungen vorzunehmen, um sie in Einklang zu bringen. Zwar haben sie „much in common" (S. 23). Doch während der Autor der Apostelgeschichte ein Bild zeichnet, das einer Sicht entspricht, wie Paulus einem Autor erschien, der rund 30 Jahre nach dem Wirken des Apostels schrieb, geht aus den Briefen selbst hervor, daß der Apostel durchaus in einem spannungsvollen Verhältnis zu Jerusalem stand. „Lukas" läßt starke Sympathie für Paulus erkennen, Paulus selbst hingegen argumentierte stets vom Zentrum seiner Theologie her. Man mag es „Lukas" nachsehen, daß er kein voll zureichendes Verständnis der paulinischen Theologie gehabt hat. Denn wer könnte schon sagen, er habe ihn wirklich verstanden? Rechte Einsicht in die Beziehungen zwischen Paulus und Jerusalem aber wird nur dann gewonnen, wenn es gelingt „to gain as clear a picture as possible of Paul" (S. VII).

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Die gelehrten Studien, die der Verf. „On Paul" zusammengestellt hat, schaffen wesentliche Voraussetzungen, um dem Ziel näher zu kommen, die Geschichte der frühen Christenheit schreiben zu können, wie sie vornehmlich durch das Werk des Apostels Paulus bestimmt und gestaltet wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang die mehrfach ausgesprochene Anregung, die nachpaulinischen Schriften nicht zu gering einzuschätzen. Denn durch ihr Vorhandensein ist es möglich geworden, den authentischen Paulus zu bewahren und die theologischen Gedanken scharf herauszuarbeiten, die sein Handeln geleitet haben (S. 107 u.ö.). Der Apostel aber will von seiner Theologie her verstanden werden, die weder in pragmatischer Missionstaktik noch in mystischer Unbestimmtheit verschwimmen darf. Denn mit vollem Recht stellt der Verfasser fest:,„Christ in me', like ,1 in Christ' is not mysticism but eschatology, an anticipation of the life that lies beyond death and resurrection and can be known only by faith" (S. 98). Folgt man den inhaltsreichen Gedankengängen, die dieser Band enthält, aufmerksam, so wird man dem Verf. dankbaren Respekt bezeigen. In der exegetischen Arbeit an den neutestamentlichen Schriften wird man immer wieder dieses inhaltsreiche Buch zur Hand nehmen und reichen Gewinn davon haben. Aufmerksame Beachtung verdient der umfangreiche Artikel „Paulus", den der Züricher Exeget Samuel Vollenweider in der im Erscheinen begriffenen 4. Auflage des bewährten Nachschlagewerkes der „Religion in Geschichte und Gegenwart" vorgelegt hat (Band 6; Sp. 1035-1065). Seine Darstellung reiht sich in bester Weise an die bedeutenden Vorgänger an, die in den vorangegangenen Auflagen die Übersicht über Leben und Lehre des Apostels verfaßt hatten: 1. Aufl.: Wilhelm Bousset; 2. Aufl.: Rudolf Bultmann; 3. Aufl.: Günther Bornkamm. Es ist reizvoll, Vergleiche zu den früheren Auflagen anzustellen. Dabei fällt nicht nur auf, wie es dem Verf. gelungen ist, die weit verzweigte Paulusforschung der letzten Jahrzehnte zu einer eindrucksvollen Gesamtdarstellung zusammenzufassen. Unterschiedliche Ansätze und Versuche werden jeweils daraufhin befragt, wo und wie sie zu Korrekturen älterer Auffassungen beitragen und heute entsprechende Berücksichtigung verdienen. Im Unterschied zu den früheren Paulus-Artikeln ist hier erstmals auch der Wirkungsgeschichte der paulinischen Theologie gebührende Beachtung geschenkt worden (Sp. 1054-1065): zuerst den PaulusSchulen, wie sie innerhalb des neutestamentlichen Kanons in den deuteropaulinischen Briefen sowie der Apostelgeschichte und den übrigen Briefen faßbar werden. Dabei wird die Paulusrezeption der nachapos-

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tolischen Zeit mit den Stichworten „Fortschreibung, Relektüre und Kontextualität" treffend charakterisiert (Sp. 1054). Haben doch die deuteropaulinischen Texte „mit ihrer Referenz auf die Paulustradition das entscheidende Korrektiv, die paulinischen Briefe selbst, ins Spiel" gebracht (Sp. 1056). In der späteren Wirkungsgeschichte wird Paulus „als Identifikationsfigur, als apostolischer Text und maßgeblicher Lehrer der Kirche rezipiert" (Sp. 1058). Besondere Hervorhebung erfährt Augustins Paulusinterpretation, die mit ihrem „Rekurs auf Gottes Alleinwirksamkeit ... der Theologie des Paulus an einem entscheidenden Punkt gerecht geworden" ist (Sp. 1063). In der Reformationszeit erlangte die Paulusrezeption weltgeschichtliche Wirkung: „Luther ist als Schriftausleger zum Reformator geworden; er beruft sich dafür auf seine befreiende Erkenntnis des wahren Sinns der Gottesgerechtigkeit von Rom 1, 17" (Sp. 1064). „Die reformatorische Pauluslektüre hat bis heute ihre Aktualität bewahrt, weil sie trotz ihrer Einseitigkeiten den zentralen Nerv des paulinischen Evangeliums in einem veränderten geschichtlichen Kontext zur Geltung bringt" (ebd.). In neuerer Zeit ist sowohl durch Karl Barths Römerbrief als auch durch Rudolf Bultmanns Paulusinterpretation „die Frage nach dem Sachanliegen der paulinischen Texte ins Zentrum" gerückt (Sp. 1065). Zwar werden die Ausführungen über die Wirkungsgeschichte erst nach der gründlichen Darstellung von Person und Werk des Apostels dargeboten. Gleichwohl steht es frei, mit ihrer Lektüre zu beginnen und daraus ein Bild von der bleibend aktuellen Bedeutung der paulinischen Theologie zu gewinnen. Diese über die älteren Vorbilder hinausgehende Erweiterung der Paulusinterpretation um die Geschichte der Auslegung und Wirkung stellt eine hoch zu schätzende Bereicherung dar. Die Entfaltung von Person und Werk geht von der zutreffenden Feststellung aus, daß „die Vielfalt der geschichtlichen Paulusporträts zeigt, wie sich jede Epoche ihr Verständnis christlicher Identität zu guten Teilen im Blick auf die kontroverse Gestalt des Völkerapostels erarbeitet" (Sp. 1035). Hinsichtlich der zugrunde zu legenden Quellen wird neben den unbestrittenen Paulusbriefen (Rom, l/2Kor., Gal, Phil, 1 Thess., Phlm.) auch der Apostelgeschichte zu Recht nicht geringer Quellenwert zuerkannt, denn sie bietet „nicht nur ein verläßliches chronologisches Gerüst, ohne das die Rekonstruktion der Biographie des Apostels nicht möglich wäre, sondern greift zudem auf zahlreiche historisch wertvolle Personaltraditionen, Gemeindeüberlieferungen und Mitarbeiterberichte zurück" (Sp. 1036).

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Im Blick auf die Biographie des Paulus wird mit Recht der Tradition zugestimmt, nach der Paulus römisches Bürgerrecht besessen habe; „da seine Überführung nach Rom sonst nur schwer zu erklären ist" (Sp. 1037). Auch wird der lukanische Hinweis, Paulus habe in Jerusalem bei Rabbi Gamaliel studiert, als „nicht unglaubwürdig" bewertet (Sp. 1038). Hinsichtlich seiner Bekehrung, die zugleich als Berufung zum Völkerapostel verstanden wird, werden Versuche psychologischer Zugänge positiv bewertet, obwohl diesen entgegengesetzt wird, daß Paulus selbst seine Erfahrung „als Ereignis göttlicher Gnade schlechthin" deutet (Sp. 1039). Für den weiteren Lebensgang des Paulus muß die Gemeinde in Antiochia wichtige Bedeutung gehabt haben; denn Paulus hat „von der antiochenischen Gemeinde nicht nur eine Fülle urchristlicher Traditionen empfangen, sondern diese auch maßgeblich mitbestimmt" (Sp. 1040). Die Briefe des Apostels „entstanden in den gut sechs Jahren seiner eigenständigen Missionsarbeit" (Sp. 1041), in der unterschiedliche „komplexe Herausforderungen" entsprechende Reaktionen des Paulus erforderlich machten. Deswegen bleibt der Verf. aus gutem Grund zurückhaltend gegenüber immer wieder erwogenen Hypothesen „von Wandlungen oder gar Entwicklungen in der paulinischen Theologie" (Sp. 1043). Eine Sonderstellung hat der Römerbrief zu beanspruchen „aufgrund seiner Adressierung an eine fremde Gemeinde wie seiner ins Grundsätzliche gehenden Reflexion" (Sp. 1041). Zusammengehalten sind die Briefe durch eine christologische Zentralperspektive, die das paulinische Denken grundlegend bestimmt (Sp. 1042). Im Bemühen, möglichst der ganzen Breite gegenwärtiger Paulusforschung gerecht zu werden, sucht der Verf. der „New Perspective on Paul" so weit als möglich entgegenzukommen. Daher müsse die Bindung des Paulus an Israel besonders herausgestellt werden und sei „die theologische Kontinuität wie Differenz zwischen Paulus und dem Frühjudentum auf möglichst hohem Niveau zu rekonstruieren" (Sp. 1043). Doch wird mit Recht ein gewichtiger Einwand ins Auge gefaßt: steht doch der sog. „New Perspective" das schwerwiegende Bedenken entgegen: „die Konversion von genuin theologischen zu soziologischen Themen" müsse daraufhin befragt werden, ob „nicht das einzigartige hermeneutische Potential des paulinischen Denkens verspielt wird" (Sp. 1043). Vielleicht hätte dieser Vorbehalt noch ein wenig stärker gewichtet werden können, um sich nicht zum Vorbehalt drängen zu lassen, „die vom lateinischen Abendland privilegierte Rechtfertigungslehre" dürfe „keine exklusive Position beanspruchen" (Sp. 1047). Der christologische Ansatz, von dem her die verschiedenen Themen, die in der paulinischen Theologie erörtert werden, sich erschlie-

Die Theologie des Apostels Paulus - aufs neue betrachtet

209

ßen, wird in deren Darstellung konsequent festgehalten und dann zutreffend ausgeführt, das paulinische „Verständnis des Evangeliums von der rettenden Alleinwirksamkeit Gottes" komme „am prägnantesten in seiner Rechtfertigungslehre zur Sprache" (Sp. 1049). Gleichwohl zeigt sich der Verf. bereit, auch das Stichwort „Mystik" aufzunehmen, wenn es gilt, charismatische und ekstatische Erfahrungen zu beschreiben. Doch wird einschränkend zu Recht hinzugefügt, Paulus wolle „seine einmalige Christusbegegnung, die ihn zum Apostel machte", „scharf davon geschieden wissen". Außerdem relativiere Paulus pneumatische Erfahrungen „zugunsten der Gemeinschaft oder seiner eigenen Schwäche, in der er wiederum an Christus partizipiert" (Sp. 1048). Der gehaltvolle Artikel in der RGG4 will gründlich studiert werden, bietet er doch in beeindruckender Weise eine umsichtig gezeichnete Zusammenfassung der ganzen Breite gegenwärtiger Paulusinterpretation. Manche Gesichtspunkte, die hier nicht wiedergegeben werden konnten, sind näheren Bedenkens wert; so ζ. B. die zutreffende religionsgeschichtliche Einordnung des Paulus in den weiten Raum des hellenistischen Judentums (Sp. 1037f. sowie 1044f.). Die mit vorbildlicher Fairness gezeichnete Darstellung bietet auf der einen Seite eine höchst informative Übersicht und kann auf der anderen Seite dem Exegeten eine ausgezeichnete Grundlage für eigene Studien geben. Der an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal lehrende Neutestamentler Klaus Haacker hat ein gehaltvolles Buch geschrieben, das speziell der Theologie des Römerbriefs gewidmet ist. Es nimmt seinen Platz ein in einer Reihe von Darstellungen, die jeweils der Theologie den Entstehungsverhältnissen sowie der ausgeführten Botschaft - der einzelnen Schriften des Neuen Testaments gelten. Dabei sind die Ausführungen so gestaltet, daß sie nicht nur fachkundige Theologen ansprechen, sondern insbesondere auch den größeren Kreis gebildeter Leser, die nähere Auskunft über den besonderen Charakter der einzelnen neutestamentlichen Texte erhalten möchten. Der Verf., der in einem gepflegten englischen Stil schreibt, verwendet gelehrte Anmerkungen nur sparsam. Sie beziehen sich fast ausschließlich auf Sekundärliteratur, die in englischer Sprache abgefaßt ist. Eine am Ende aufgestellte Literaturliste möchte ebenso wie die in den einzelnen Kapiteln gegebenen Hinweise dazu anregen, weitere eigene Arbeit an das Verstehen des Neuen Testaments zu wenden. Damit wird ein Buch vorgelegt, wie man es sich wünscht, um auch einer größeren Öffentlichkeit zu zeigen, daß die Bibelwissenschaft für Kirche

210

Eduard Lohse

und Theologie eine wesentliche Aufgabe zu erfüllen hat und dabei auch die Gegenwartsbedeutung der Texte zu erheben vermag. Die Ausführungen sind in neun Kapitel gegliedert, die von einleitenden Bemerkungen bis zur aktuellen Botschaft des Römerbriefs reichen. Dabei werden nicht nur die übergreifenden Gedankengänge und die jeweils leitenden Begriffe aufgewiesen und erläutert, sondern wird auch nach der Erörterung exegetischer Probleme zu den einzelnen Abschnitten die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte in den Blick genommen - vom 1. Clemensbrief bis zu Karl Barth (S. 150-161). Es empfiehlt sich, der kundigen Anleitung des Verf. zu folgen und die neun Kapitel eines nach dem anderen zu lesen. Doch bleibt es dem Leser unbenommen, auch das eine oder das andere Kapitel für sich zu betrachten oder mit Hilfe der übersichtlich gestalteten Indizes erwünschte Auskunft zu einzelnen Fragen einzuholen. Der Verf. ist den Exegeten vom Fach durch zahlreiche Beiträge zur paulinischen Theologie sowie einen wissenschaftlichen Kommentar zum Römerbrief (1999, 2. Aufl. 2002) auf das beste bekannt. Studien, die im Lauf langer Jahre vorgelegt wurden, faßt er nun zusammen und wertet sie zu einer in sich gerundeten Darstellung aus. Zu Beginn werden Angaben zu Fragen gemacht, die in der neueren Forschung weithin übereinstimmend beurteilt werden: Paulus, römischer Bürger (S. 3) und Pharisäer (S. 5), erfuhr vor Damaskus die entscheidende Wende seines Lebens. Diese bietet zugleich den Schlüssel zum Verstehen seiner Theologie (so mit Joachim Jeremias, S. 9). Der Römerbrief stellt ein Dokument dar, das in überlegter Gedankenführung theologisch argumentiert und entfaltet, wie der Apostel seinen Auftrag begreift, die Botschaft des Evangeliums auszurichten (S. 44 u.ö.). Dabei wird dieses Hauptthema in verschiedenen Gedankengängen entfaltet, die jeweils durch bestimmte Begriffe gekennzeichnet sind. In der einleitenden Perikope (1,1-7) ist die Theologie des Römerbriefes gleichsam wie in einer Nußschale bereits auf knapp gehaltenen Ausdruck gebracht (S. 211-229). In der weiteren Darstellung nimmt der Verf. jeweils einzelne Leitmotive auf und legt deren Bedeutung sowohl vor dem Hintergrund der damaligen Zeitgeschichte wie auch unter Beachtung heutiger Problemstellungen dar. Der aufmerksame Leser weiß sich stets zum Mitdenken eingeladen und erhält sorgfältig überlegte Auskunft, die ihn instandsetzt, sich sein eigenes Urteil bilden zu können. Unter den zentralen Begriffen, wie sie von Paulus im Römerbrief verwendet werden, mißt der Verf. dem Wort „Frieden" besondere Bedeutung zu. Dabei hebt er zunächst hervor, wie innerhalb des Gedankengangs im Römerbrief vom Frieden gehandelt wird (S. 45-53): Frie-

Die Theologie des Apostels Paulus - aufs neue betrachtet

211

den mit Gott, Frieden zwischen Juden und Heiden, Frieden zwischen Christen und ihrer Umwelt sowie Frieden in den christlichen Gemeinden. Damit ist zweifellos ein wichtiger Gedankenstrang im Römerbrief aufgewiesen. Doch so beachtenswert diese Thematik ist, so muß sie doch dem bestimmenden Leitmotiv „Evangelium und Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes" zugeordnet werden. Der Verf. geht daher mit vollem Recht nach seinen Ausführungen zur Friedensthematik dazu über, von Rechtfertigung und Ethik zu handeln (S. 53-55). Damit wird deutlich, wie die leitenden Stichworte und Begriffe in den Ausführungen des Apostels fest miteinander verknüpft sind. Aus zeitgenössischen hellenistisch-römischen Texten kann der Verf. aufzeigen, in welch hohem Maß die damalige Welt von tiefer Sehnsucht nach Frieden erfüllt war und die Hoffnung hatte, Augustus möchte es gelingen, ein Reich des Friedens zu schaffen und zum Wohl aller Menschen zu regieren (S. 116-119). Mit Umsicht und Sorgfalt achtet der Verf. auf Themen, die in der zeitgenössischen hellenistischrömischen Literatur Vorstellungen und Erwartungen kennzeichnen, wie sie in der damaligen Umwelt verbreitet waren und daher auf Seiten der Empfänger des Briefes vorausgesetzt werden können. So wird aufgezeigt, in welchem Sinn römische Leser und Hörer Begriffe wie Frieden, Gerechtigkeit, Gesetz, Schuld, Sühne, Verfehlungen, Übertretungen der Gebote u. a. verstanden haben mögen, so daß sie entsprechende Gedankenverbindungen zwischen paulinischer Lehre und ihnen geläufigen Vorstellungen herstellen konnten (S. 116-119). Anhand dieser Stichworte soll beschrieben werden, wie missionarische Kontextualisation im Römerbrief vollzogen wird, d.h.: daß der Apostel gleichsam „den Römern ein Römer" wurde. Mit dieser Thematik hat der Verf. eine neue Seite in der langen Geschichte der Auslegung des Römerbriefes aufgeschlagen, die zugleich eine Brücke zu heute aktuellen Fragestellungen abgibt. Denn der Sehnsucht nach Frieden kommt auch in der heutigen Gesellschaft großes Gewicht zu (S. 168-171). Es fragt sich freilich, ob auf diesem Weg ein spezifisch römischer Zug aufgewiesen werden kann oder ob nicht vielmehr bestimmte Motive beschrieben werden, die für die damalige Gesellschaft überhaupt relevant gewesen sind. Die vorgetragenen Beobachtungen können jedoch verdeutlichen, in wie starkem Maß Paulus in der Gedankenwelt der hellenistisch bestimmten Zeit und Umwelt beheimatet war - vornehmlich in Kreisen des hellenistischen Judentums, das manche Züge und Begriffe griechischen Denkens aufnahm. Sie wurden dazu verwendet, um die Botschaft der heiligen Schriften mithilfe antiker Themen und Vorstellungen so auszulegen, daß die Israel

212

Eduard Lohse

anvertraute Botschaft als Antwort auf die Fragen und Erwartungen der damaligen Welt interpretiert werden konnte. Der Leser wird auch darüber informiert, welche Stellung der Römerbrief sowohl innerhalb des paulinischen Briefkorpus wie auch im Kreis der übrigen neutestamentlichen Schriften einnimmt (S. 135-149). Dabei wird schlüssig dargetan, daß Paulus nicht etwa ein zweiter Gründer des Christentums war, sondern ein „follower of Jesus", der sich als Diener dieses seines Herrn verstand (S. 149). Es ist zu wünschen, daß das Beispiel, wie der Verf. es mit seiner Darstellung der Theologie des Römerbriefes gegeben hat, nicht nur in der angelsächsischen Welt weite Verbreitung findet, sondern auch hierzulande beachtet wird, um in ähnlicher Weise kundige Anleitung zu selbständiger Bibellektüre zu geben. Dem Verf. ist für sein anregend geschriebenes Buch dankbare Anerkennung zu bezeigen. Jede der Abhandlungen, die hier zu würdigen waren, bestätigt an ihrem Teil die Erfahrung, die Martin Luther in seinem Septembertestament von 1522 dem Römerbrief - und damit zugleich der paulinischen Theologie insgesamt - vorangestellt hat: „Sie nimmer kann zu viel oder zu wohl gelesen und betrachtet werden."

Quellenverzeichnis Die in diesem Band zusammengestellten Studien sind zuerst erschienen: 1. 2.

3. 4. 5.

6.

7. 8.

9. 10. 11. 12. 13. 14.

Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 92 (2001) 169-184. „Für alle Zeiten zur Erinnerung" - Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur, Festgabe für Franz Mußner zum 90. Geburtstag (SBS 209), Stuttgart 2006, 255-263. (Bisher unveröffentlicht.) Weg und Weite - Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg 2001, 71-80. Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen I. Philologisch-historische Klasse Jahrgang 2004, Nr. 6, Göttingen 2004. Überarbeitete deutsche Fassung von: Dominical Sayings in St. Paul's Epistle to the Romans, Hagia Graphe kai synchronos anthropos, Festschrift für Johannes D. Karavidopoulos, Thessaloniki 2006, 547-554. Die bleibende Gegenwart des Evangeliums, Festschrift für Otto Merk (MThSt 76), Marburg 2003,101-108. Gekürzte und überarbeitete Fassung von: Bericht der Hermann Kunst-Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen Textforschung für die Jahre 1998-2003, Münster W. 2003, 29-47. Kerygma und Dogma 52 (2006) 106-125. B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit, Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson, Münster W. 2000, 85-100. Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 93 (2002) 279-287. W. Löser/C.Sticher (Hg.), Gottes Wort ist Licht und Wahrheit, Zur Erinnerung an Heinrich Schlier, Würzburg 2003, 83-103. Unterwegs mit Paulus, Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 40-56 = 22007. Göttingische Gelehrte Anzeigen 256 (2004) 23-38.

Bibelstellenverzeichnis* Altes Testament Gen.

5,38f.

83

3,1-8

31

5,43f.

82

3,21-31

179

15,6

7,7

85

3,28

118f., 157,

7, 24-27

85

13,52

2

3,29

9,152

25,154

Ex. 33,19

32,49

Lev. 19,18

86

Dt.

3,31-4,25

152,154

Mk.

4,1-12

152

7,1-23 Par. 87

4,7

128

12,30f.

4,14

118

4,17

48

86

Lk.

32,31

84

6,27f.

82

6,29-35

83

Ps. 32,lf.

152,154

Prov. 25,21

84

172,179

Act.

4,18

124

4,25

25

5,1

56f., 149

5,6-10

149

5,12-21

176

2,10

99

6,1-23

58-61,144

15

205

6,3

153,183

18,2.18

105

7,7-25

126-129,166

18,26

3,102-105

7,25

183f.

8,31-39

25

8,32

80

9-11

13,29-42,121-

Jes. 2,2-3

41

Rom.

6,9f.

43

1-8

181

10,22

32

1,1-7

210

1,1 1,2-4

150 7,95,100,156

9,1-5

22f., 30

1,7

3,89

9,2

153

1,8

21

9,5

190

l,16f.

8,171

9,6-29

44f„ 48-50

1,17

113-115,130,

10,4

63

153

10,9f.

153

10,15

122

Hos. 32

2,25

Mal. 1,2

33,45

124,154f„ 181188

Neues Testament Mt.

1,22-32

151f.

1,25

22

11,1-7

51

5,34-37

2,12-16

184

11,17-24

101

85

In Auswahl solche Stellen, zu denen sich nähere Ausführungen finden.

Bibelstellenverzeichnis 11,22 11,25-32

153 34f„ 52,154f.

11,29 11,32

122 9

11,33-36 12-15 12,1-2 12,3-8 12,9-21 12,14 12,17

24 16-19,54-79 62 65 85 82f„ 86 83 84 17,67 17,86 86

12,19f. 13,1-7 13,8-10 13,10

14,1-15,13 18f., 68-79 14,14 87 87 14,15 15,8f. 15,25-28 15,30-32 16,1 f. 16,3-15 16,7

16,17-20 16,25-27

11,23-25 11,23 15,3-5 15,4 16,22

Eph.

27f„ 102

4,1-3 4,4-6

81

Phil.

18,73 108 81 156 81 7,156f.

3,5f. 3,9 3,18

60 92,109

2. Kor. 12,9

1,6-9

103

1,6 2,1-10 2,5.14 4,10 6,11-18

7 8 205 8 73 92

168 168

148 9 92

1. Thess. 1,5 4,15

8 80

2. Tim 2,18

81

Gal.

26,87 98 98 3f„ 102-109 107£.

88-96

1. Kor. 7,10.12 8-10 9,5 9,14

215

60

Jak. 1,5 1,22 5,12

85 85 85

1. Petr. 3,9

87

Autorenregister Aland, Κ.

4,102f„ 108

Aletti, J.-N.

11

Althaus, P.

127

Epp, E. J.

107

Ernst, M.

107

Filson, F. V.

106

Backhaus, Κ.

61

Fitzmeyer, J.

90

Barrett, C. Κ.

203-206

Friedrich, G.

Barth, Κ.

135

Bendemann, R. ν. Berger, K.

11, 92

Gager, J. G.

101

Gewiess, J.

175f.

Beyer, H.-W.

21

Gielen, M.

Billerbeck, P.

21f.

Gnilka, J.

Biser, E.

59

Bornkamm, G.

19,50,58,60f., 74f„ 92,94

Brecht, M.

100

110

Bultmann, R.

Haacker, Κ. Hahn, F.

11,13

Correns, D.

Deichgräber, R. Dinkier, Ε.

21, 23-25

17, 29

Donfried, Κ. P. Dunn, J. D. G.

Hübner, H.

44,114,159

Hwang, Η.

6,101

Jeremias, Jo.

43,147-157, 210

Jeremias, Jö.

35

Joest, W.

127

4f„ 12,17, 90,100 2, 81, 84f., 120

Käsemann, E.

Ellwein, E.

21 46 112, 115f., 124f., 126,130

16, 21, 24, 62, 68, 71, 94,

120,132,137,139,143,169f., 173, 176 Karris, R. J. Keller, W.

Elliger, K.

108

116

64 33, 45,47,166

Dodd, C. Η.

Elbogen, I.

189

10, 75

22

Dibelius, M.

76, 80

Hofmann, Κ. M.

47

Conzelmann, H.

52,56, 94, 209-212

141

Heitmüller, W. Holl, K.

Classen, C. J.

15

Haufe, G.

11,44, 50, 94,127f„ 135,

137,159,162 Calvin, J.

106 43

Gräßer, Ε.

194-199

Bonhoeffer, D. Botermann, H.

86

158,167f. 173

95

Betz, H.-D.

139

Furnish, V.

77 15

Klauck, H.-J. Klein, G.

12,106

3

Klostermann, E.

151

Autorenregister Kuss, Ο.

23,29, 48, 51,132f., 175-193

Lampe, P. 4,88,104,106f. Legrand, L. 55 Lietzmann, H. 4, 91, 99,133 Lindemann, A. 33,45 Lohmeyer, E. 7 Lohse, B. 111-113,116f., 121,127 Lohse, E. 7, 23, 25, 54f., 58, 78, 84, 88, 118f. 121 Luther, M. 53f„ 110-130,166,193 Maier, F. W. 175,186 Manson, T. W. 4,102 Melanchthon, P. 52 Merk, O. 59f. Metzger, B. 23 Minear, P. S. 18, 73 Montagnini, F. Moo, D. 82

48f.

Müller, M. 88, 93 Nichtweiß, B. 131,134,136,145 Niebuhr, K.-W. 63 North, J. L.

94

Ollrog, W.-H. 88,90,104 Osten-Sacken, P. v. 121 Pesch, Ο. H. 127-129 Peterson, Ε. 46, 49, 91,131-146,176 Plisch, U. K. 107 Reichert, A. 99 Richardson, P. 5,100 Riesner, R. 100 Röhser, G. 48 Romaniuk, K. 107

217

Sanders, Ε. P. 5,120 Sauer, J. 66, 84 Schlatter, A. 135 Schlier, H. 22, 94,158-174 Schlink, E. 24, 27f. Schmithals, W. 17, 34, 51f., 92 Schnelle, U. 61, 65, 67, 74,199-203 Schräge, W. 23,64 Schweitzer, A. 180, 202 Schulz, S. 166 Söding, T. 66, 86, 128 Stendahl, K. 84 Strecker, G. 8, 65, 74 Stuhlmacher, P. 66, 71, 81 Suggate, Α. M. 120 Theobald, M. Vögtle, A.

20, 77,127

69

Vollenweider, S.

206-209

Wallace, C. F. 107 Walter, N. 81, 84 Watson, F. 73 Wedderburn, A. J. M. 17 Weiss, H. 77 Wenham, D. 81 Whelan, C. F. 107 Wilckens, U. 71f., 91f., 119,172 Wilk, F. 44 Wischmeyer, O. 93 Wrede, W. 180, 202 Wuellner, W. 12 Zeller, D.

179

Sachregister Apokalyptik Apostel

139

Indikativ/Imperativ

163f.

Astrologie

Israel

74

Kanon

173f„ 191

Kuß, heiliger Bekenntnis Briefe

61,173,184,189

13-16, 2 9 ^ 2 , 1 4 0 - 1 4 2 108

10

1,12, 55f„ 93, 99

Lehramt Liebe

Chiasmus

191f.

63f„ 66f„ 71, 78f„ 81f„ 86

152f. Maß, eschatologisches

Dialog, ökumenischer

146,172f.,

Mystik

155

196-198, 202, 206, 209

192f„ Dogma

134,161,193

Doxologien

Prädestination Qumran

Ekklesiologie Erwählung

5, 32f„ 45f„ 61

159-161,163f„ 167f. 29^2

Eschatologie Ethik

43-53,190

20-28

Rechtfertigung

33f., 41,50f„ 69

16-19,54-79

Evangelium

7-40, 56, 80,156f., 164

8f„ 19,27,52,113-117,

120f., 127,142,144f., 150,154,157f„ 179,202, 204 Reich Gottes

76

Reinheit/Unreinheit Frieden

Rhetorik

210f.

Gemeinde

3f., 105f.

Gerechtigkeit

19, 40, 63f., 68f., 71, 73,

113-117,120f., 127,171 Gesetz

63f., 68£., 71, 73

Glaube

117-124,143,154,157,161

Gnadenwahl Grußliste

29-42,121

Sakrament 96

Staat

17,67f.

Starke/Schwache

17-19, 27, 70-79

65, 74,148

Synkretismus

74

4f. Taufe

Hausgemeinden

5, 105f.

Heilsgeschichte

136-140

Herrenmahl

108f.

Herrenworte Hoffnung

144,165

Satan

Stoa

72

llf.

124

66,80-87

59f., 144f„ 165-167,183

Thronbesteigung Waffenrüstung

138f., 142f., 61

Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006* 2000 760. 761. 762. 763. 764. 765. 766.

767. 768. 769.

Portugiesische Übersetzung von „Umwelt des Neuen Testaments": Contexto e Ambiente do Novo Testamento, San Paolo 2000. Umwelt des Neuen Testaments, 10. Aufl. Das Neue Testament als Urkunde des Evangeliums, FRLANT 192, Göttingen 2000. Zum ökumenischen Charakter des Römerbriefs, in: Glaube und Gemeinschaft, Festschrift für P. W. Scheele, Würzburg 2000, 163-172. Zur ökumenischen Bedeutung des Augsburgischen Bekenntnisses, in: Ökumene vor neuen Zeiten, Für Theodor Schneider, Freiburg 2000,159-171. Gott ist auch in der Tiefe des Meeres, in: Idea Spektrum 34, 23. August 2000, 24 Rez. von A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums, herausgegeben und kommentiert von T. Rendtorff, Gütersloh 1999, in: Luth. Monatshefte / Die Zeichen der Zeit 3 (2000), 47. Rez. von Κ. P. Donfried / P. Richardson (Hrsgg.), Judaism and Christianity in First Century Rome, Grand Rapids 1998, in ThR 65 (2000), 226-228. Rez. von M. Hengel, Judaica et Hellenistica I - Judaica, Hellenistica et Christiana II, WUNT 90 und 109, Tübingen 1996/99, in: ThLZ 125 (2000), 627-630. Rez. von J. Painter, Just James - The Brother of Jesus in History and Tradition, Minneapolis 1999, in ThR 65 (2000), 482-483.

Die Aufstellungen setzen die Bibliographie 1948-1987 fort, die erschienen ist in: K. Aland/S. Meurer (Hg.), Wissenschaft und Kirche - zum 65. Geburtstag von Eduard Lohse (TAzB 4), Bielefeld 1989, 371^104. Sie folgen derselben Ordnung wie dort auf S. 371 angegeben, sowie: Bibliographie Eduard Lohse 1988-2000, in: E. Lohse, Das Neue Testament als Urkunde des Evangeliums (FRLANT 192), Göttingen 2000, 250-262.

220

Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006

2001 770. 771. 772. 773. 774.

775.

776.

777.

778. 779. 780. 781.

Die Entstehung des Neuen Testaments, 6. Aufl. Stuttgart 2001. „Prüfet alles, und das Gute behaltet" (IThess 5,21), in: R. Niemann (Hrsg.), Du stellst meine Füße auf weiten Raum, Kirchentag 2001, Hannover 2001,185-189. Zum Geleit, in: K. D. Fricke / S. Meurer (Hrsgg.), Die Geschichte der Lutherbibelrevision von 1850-1984, Stuttgart 2001, l l f . Geleitwort zu: B. Schaller, Fundamenta Judaica, Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, StUNT 25, Göttingen 2001, 7. Doppelte Prädestination bei Paulus?, in: Weg und Weite, Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg 2001, 71-80. „Heilsgeschichte" im Römerbrief. Zur Interpretation des Römerbriefes durch Erik Peterson, in: B. Nichtweiß (Hrsg.), Vom Ende der Zeit. Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson, Münster 2001, 85-100. Auslegungen von Markus 1,21-28; 1,29-39 und 1,40-45, in: J. Hasselhorn (Hrsg.), Dein Wort macht Leib und Seele gesund. Heilungen und Wunder Jesu, Stuttgart 2001, 16-17. 20-21. 26-27. Wilhelm Bousset - Walter Bauer - Joachim Jeremias - Hans Conzelmann, in: Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1750-2001, Göttingen 2001, 352, 406, 542, 656. Das Evangelium für Juden und Griechen - Erwägungen zur Theologie des Römerbriefes, ZNW 92 (2001), 168-184. Rez. von: P. Richardson, Herod - King of the Jews and Friend of the Romans, Edinburgh 1999, in: ThR 66 (2001), 136-138. Rez. von: H. Räisänen, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 186, Stuttgart 2000, in: ThLZ 126 (2001), 535. L. Thuren, Derhetorizing Paul. A Dynamic Perspective on Pauline Theology and the Law, WUNT 124, Tübingen 2000, in: ThLZ 126 (2001), 644.

2002 782.

Joachim Jeremias als Ausleger des Römerbriefes, in: ZNW 93 (2002), 279-287.

Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006

783.

784. 785. 786.

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Der Wandel der Christen im Zeichen der Auferstehung. Zur Begründung christlicher Ethik im Römerbrief, in: Resurrection in the New Testament, Festschrift J. Lambrecht, BEThL CLXV, Leuven 2002, 315-322. Göttinger Laudationes: Joachim Jeremias, in: Göttinger Jahrbuch 50 (2002), 197-199. Rez. von: Lutherische Kirche in der Welt, Jahrbuch des Martin Luther-Bundes, Folge 31-47, Erlangen 1984-2000, in: ThR 67 (2002), 119-121. Rez. von: J. Fitzmyer, The Letter to Philemon, New York 2000, in: ThLZ 127 (2002), 283.

2003 787. 788. 789. 790. 791.

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Der Brief an die Römer, Meyers Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament Bd. 4, Göttingen 2003. Heinrich Schliers Kommentare der Paulinischen Briefe, in: W. Löser / C. Sticher (Hrsgg.), Gottes Wort ist Licht und Wahrheit. Zur Erinnerung an Heinrich Schlier, Würzburg 2003, 83-103. Theologia Magistra, in: E.-M. Becker (Hrsg.) Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen / Basel 2003, 9-17. Apostolische Ermahnung in Rom 16,17-20, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums, MThSt 76, Marburg 2003, 101-108. Der Römerbrief des Apostels Paulus und die Anfänge der römischen Christenheit. Bericht der Hermann-Kunst-Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen Textforschung für die Jahre 1998-2003, Münster W. 2003, 29-47. Die ökumenische Botschaft des Römerbriefes, in: Teologia i Czlowiek, Theologische Zeitschrift Tonin Nr. 2 (2003), 69-86. Rez. von M. Theobald, Studien zum Römerbrief, WUNT 136, Tübingen 2001, in: ThRv 99 (2003), 1-2. Rez. von J. Fitzmyer, The Dead Sea Scrolls and Christian Origins, Grand Rapids / Cambridge U.K. 2000, in: ThLZ 128 (2003), 1034-1035. Rez. von H. Apel, Volkskirche ohne Volk, Gießen 2003, in: Zeitschrift für Recht und Politik 4 (2003), 215f. sowie Idea / Evangelische Nachrichtenagentur Nr. 146, 6. Dez. 2003, lf.

222

Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006

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2005 803. 804. 805. 806.

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Ubersetzung und Vorwort zu: R. Cohen, Regen und Auferstehung - Talmud und Naturwissenschaft im Dialog mit der Welt, Göttingen 2005. Reformationstag 1945, in: Η. H. Tiemann (Hrsg.), Erinnerung an Hans-Jürgen Quest, Münster W. 2004, 87. Theologiestudium in Jerusalem, in: Zeitzeichen - Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 6 (2005), 58-59. „Warmherzige Brüderlichkeit": Johannes Paul II. hinterläßt ein verpflichtendes ökumenisches Vermächtnis, Katholische Nachrichten-Agentur, Ökumenische Information Nr. 14, 5. April 2005, 3-4. Was wirklich wichtig war, in: M. Käßmann, Wurzeln, die uns Flügel schenken, Glaubensreisen zwischen Himmel und Erde, Gütersloh 2005,155. Theologie im Bischofsamt, in: Sine vi sed verbo, Wenzel Lohff zum 80. Geburtstag, Leipzig 2005, 29-44. Carl Bertheau, in: Johanneum. Sonderheft des Vereins ehemaliger Schüler der Gelehrtenschule des Johanneums zu Hamburg, Hamburg 2005,139.

Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006

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Rez. von F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I/II, Tübingen 2002, in: ThLZ 130 (2005), 40-44. Rez. von E. Peterson, Offenbarung des Johannes und politischtheologische Texte, Würzburg 2004, in ThLZ 130 (2005), 396-298. Rez. von H.-J. Rauer, Abbrüche - Umbrüche - Aufbrüche. Erinnerungen an einen Berufsweg, Norderstedt 2004, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 102 (2004), 389-391.

2006 813.

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815. 816.

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Otto Kuss als Ausleger des Römerbriefs, in: Unterwegs mit Paulus, Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 40-56 = 22007. Doxologien im Römerbrief des Apostels Paulus, in: „Für alle Zeiten zur Erinnerung", Festgabe für Franz Mußner zum 90. Geburtstag, SBS 209, Stuttgart 2006, 255-263. Martin Luther und der Römerbrief des Apostels Paulus, KuD 52 (2006), 106-125. Dominical Sayings in St. Paul's Epistle to the Romans, in: Hagia Graphe kai synchronos Anthropos, Festschrift für J. D. Karawidopulos, Thessaloniki 2006, 547-554. Schwache und Starke - Exegetische Erwägungen zum 14. Kapitel des Römerbriefs, in: Diakonia - Leiturgia - Charisma, Festschrift für G. Galitis, Athen 2006, 365-375. Rez. von G. Lüdemann, Primitive Christianity. A Survey of Recent Studies and Some New Proposals, London / New York 2003, in: ThLZ 131 (2006), 278-279. Rez. von U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments I, 1-4, Neukirchen 2002-2005, in: DtPfrBl 106 (2006), 186-187. Rez. von E. Peterson, Lukasevangelium und Synoptica, Ausgewählte Schriften 5, Würzburg 2005, in: ThLZ 131 (2006), 858-860.

Im Druck 821. 822.

Freude des Glaubens / Die Freude im Neuen Testament Die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift - Rückblick und Ausblick in ökumenischer Perspektive

224

823. 824. 825.

Bibliographie Eduard Lohse 2000-2006

Aus der Gründungszeit der Deutschen Bibelgesellschaft - Arbeit für die Bibel als Dienst für Kirche und Gesellschaft Der Sohn Davids als Helfer und Retter Rez. von E. Peterson, Der erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien, Ausgewählte Schriften 7, Würzburg 2006, in: ThLZ Stand: 31. Dezember

2006